Herbert Ziergiebel
Die andere Welt Phantastischer Roman
(c) Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) • 1966 7. Auflage L...
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Herbert Ziergiebel
Die andere Welt Phantastischer Roman
(c) Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) • 1966 7. Auflage Lizenz-Nr. 444 - 300/85/77 • 7001 Printed in the German Democratic Republic Schutzumschlag und Einband: Rolf F. Müller Gesamtherstellung: Druckerei Märkische Volksstimme Potsdam Best.-Nr. 638.395 9 DDR 4,80 M
Das Buch Seit mehr als neun Monaten sind drei Männer und eine Frau in ihrem Raumfahrzeug eingeschlossen. Sie waren Zeugen ihre eigenen Beerdigung, haben keine Chance, die Erde wiederzusehen, Ameisen auf einem Korkstück, das auf den Wellen des Ozeans treibt. Die vier Überlebenden ahnen, nicht, daß man sie sucht. Doch auch die kleine Rettungsexpedition ist den gnadenlosen Naturgewalten ausgesetzt. Das ist der dramatische Konflikt dieses Romans. Wir werden konfrontiert mit der ganzen Skala menschlicher Empfindungen, mit Leidenschaften, Furcht und Schwäche, aber auch mit Wagemut und ergreifender Menschlichkeit. Dem Leser wird nichts geschenkt; doch er wird auch über die letzte Zeile hinaus Anlaß zum Nachdenken haben.
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Für Silvia und Jürgen
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»Die ›gute alte Zeit‹ - gut ist die alte Ja stets - sie ist dahin; die Gegenwart Möcht’ immerhin es sein, wenn sie nur wollte; Gar Großes ist geschehen und geschieht. Zu Größrem fehlt’s nur an der Menschen Willen: Ein weitrer Raum, ein grüner Feld ist denen. Die ›ihre Streiche vor dem Himmel‹ spielen. Ob auch die Engel weinen, weiß ich nicht. Allein die Menschen haben schon genug Geweint - weshalb? Um wiederum zu weinen.« Aus: »Das eherne Zeitalter« von Lord Byron
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I Der Raum maß vier Schritte in der Länge und drei Schritte in der Breite. Cedrice Stuart hatte diesen Weg unzählige Male gemessen; er befand sich erst einundzwanzig Tage in diesem modernsten Gefängnis, das es auf der Erde im letzten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts gab. Der Raum hieß »Fok 2« und war eine Metallkammer mit einem runden Fenster. Es gab einen Liegesitz darin, eine Tafel mit Instrumenten, Sendern und Oszillographen, Steueranlagen und Radargeräte. Ringsum war das All mit seiner Stille, seiner uferlosen Weite, seiner Schwärze und seiner erhabenen Schönheit. Eine Meßtafel zeigte die Geschwindigkeit der »Fok 2« an. Sie betrug 2,6 km/s. Theoretisch hatte der junge Mann bereits viele Millionen Kilometer zurückgelegt. In Wahrheit jedoch bewegte er sich keinen Zentimeter von der Stelle. Alles, was ihn umgab, war Imitation, war Lüge. Die Meßinstrumente logen, und die Bordsender betrogen ihn. Die Sterne hinter dem Bullauge waren keine fünf Meter von ihm entfernt. Die ganze Einrichtung diente zur Aufrechterhaltung einer Täuschung. Cedrice Stuart wußte das. Er hatte sich diesem Test in der »Fok 2« freiwillig unterzogen, und er war entschlossen, die drei Monate Einsamkeit und geisterhafte Stille mit aller Willenskraft zur Selbstdisziplin durchzustehen. Es war ein Test der Nerven und wohl auch der vorher nicht zu bestimmenden Charaktereigenschaften. Nur wer einen solchen Test erfolgreich bestand, hatte Aussicht, irgendwann einmal mit einem richtigen Raumschiff das Schwerefeld der Erde verlassen zu können. Gut war dieser Raum der »Wahrheitsfindung« imitiert worden. Am Bordfenster zogen vertraute Planeten vorüber, Sternbilder wechselten ihre Position, und die Erde gab dem Eingeschlossenen ihre Kugelgestalt preis. Nur sehr selten wurden die Stille und die Einförmigkeit durch Anordnungen von draußen unterbrochen. Der Prüfling mußte mit den Problemen, die auf ihn zukamen, selbst fertig werden, und es waren ungeahnte Probleme, die er zu bewältigen hatte. Es gab keinen Tag mehr und keine Nacht, die Uhr zeigte zwar die Stunde, aber kein 6
Datum an. So kam es, daß Cedrice Stuart sein Bordtagebuch bereits falsch datiert hatte. Er wähnte sich schon dreißig Tage in der »Fok 2«. Anfangs hatte Cedrice viel gelesen, doch die Stille machte ihn immer hellhöriger. Das Ticken der Armbanduhr störte ihn, und selbst das Umblättern der Buchseiten nahmen seine empfindlich gewordenen Sinne wahr. Je mehr er sich nach dem Ende des Testes sehnte, desto mehr dehnte sich die Zeit. Nach jeweils drei Stunden hätte er Gymnastik treiben müssen, - mit diesen Übungen nahm er es schon seit Tagen nicht mehr so genau. Auch das Schlafen bereitete ihm Schwierigkeiten. Dieses natürliche Bedürfnis, das zum selbstverständlichen Lebensrhythmus gehört, empfand er unter diesen Bedingungen immer weniger. Cedrice Stuart verspürte nicht mehr jene wohltuende Müdigkeit, die den Schlaf forderte. Die zunehmende Schlaffheit seines Körpers ließ ihn in den Ruhestunden mehr dahindämmern als schlafen. Nicht anders verhielt es sich mit den Mahlzeiten. Er besaß einen Vorrat an Konserven mit einer Spezialnahrung, aber er aß ohne Appetit und genauso unregelmäßig, wie er alle vorgeschriebenen Arbeiten verrichtete. Cedrice Stuart bildete in seinem Verhalten durchaus keine Ausnahme. Jeder der zukünftigen Kosmonauten, hinter denen sich in diesem Raum die Tür für Monate schloß, wußte, daß er sich keinen Millimeter fortbewegte und daß man Willensstärke und Selbstdisziplin von ihm erwartete. Und jeder, der diesen Raum betrat, nahm sich vor, immer daran zu denken, sich keine Blöße zu geben. Doch spätestens nach zwanzig Tagen hatte auch der pedantischste Prüfling das Zeitgefühl verloren. Fast alle unterlagen der Fiktion, sich in einem wirklichen Raumschiff zu befinden, und mit dem Verlust des Zeitempfindens verlor sich auch früher oder später der Wille zur Disziplin. Am schlimmsten wirkte sich die Stille aus. Außer den geisterhaft am Bordfenster vorbeischwebenden Planeten oder dem lautlosen Pendeln einiger Meßinstrumente rührte sich mitunter tagelang nichts. Die überreizten Nerven forderten die Phantasie heraus und regten zu wirren Träumen an. Draußen an dien Bildschirmen beobachteten Ärzte und andere Spezialisten jede Bewegung und Äußerung des
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Eingeschlossenen. Zeigten sich krankhafte Symptome, so erfolgten über Lautsprecher Ermahnungen, in schweren Fällen wurde der Test abgebrochen. Bei Cedrice Stuart erwiesen sich Ermahnungen vorerst noch nicht als erforderlich, wenngleich seine Akte bereits eine Anzahl von Minuspunkten aufwies. Sie bezogen sich vor allem auf seine mangelnde Bereitschaft zur Hygiene und zu den Gymnastikübungen. Er hatte sich seit Tagen nicht mehr rasiert; sein blonder Bart wucherte üppig, und im Gegensatz zu den Ärzten außerhalb der Testkammer zeigte Cedrice sichtliches Vergnügen, das tägliche Wachstum seines Bartes zu überprüfen. Cedirice hatte etwas Nahrung zu sich genommen und gab sich nun redlich Mühe zu schlafen. Nach wenigen Minuten hatte er das Empfinden, bereits Stunden in der Ruhelage verbracht zu haben. Er stand wieder auf und fing an, auf und ab zu wandern. Vier Schritte hin, vier zurück. Es ist doch kurios, kam es ihm in den Sinn, da gibt es Menschen, die werden mit Gefängnis bestraft. Sie bekommen abwechslungsreicheres Essen als ich, und sie dürfen auch einmal täglich an die frische Luft. Und ich bewerbe mich um die Ehre, ein Vierteljahr eingesperrt sein zu dürfen. Immerhin, bald liegt die Hälfte der Zeit hinter mir… Er gähnte und fühlte sich durch den kurzen, unruhigen Schlaf müder als zuvor. Abermals legte er sich hin und schloß die Augen. Wer weiß, vielleicht bin ich sogar schon viel länger hier? sinnierte er, manch einer hat sich schon zu seinen Gunsten geirrt. Auf jeden Fall bin ich noch nicht nervös, und nach dem Test gibt es Ferien, acht lange Wochen nur Wasser und Wald und Anne… Unzählige Male hatte Cedrice sich alles ausgemalt: den See im hohen Norden, das Blockhaus, ein Boot und dazu sein Mädchen. Es war die günstigste Jahreszeit, sie konnten hinausschwimmen und wie die Steinzeitmenschen kampieren. Er schwelgte in den Träumen künftiger Freuden, sah das Blockhaus vor sich, das sein Vater einst mit einigen Waldarbeitern gebaut hatte, und er dachte an die kleine Bucht, die der dichte Schilfgürtel freigab. Fast ein Jahr war er nicht
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mehr dort gewesen - zum letzten Male mit dem Vater wenige Wochen vor der Katastrophe. Der Sprung in die Vergangenheit, die nun neun Monate zurücklag, staute sich wie eine Hürde vor ihm auf, und wohin auch seine Gedanken eilten, die Bilder jener Stunden waren so lebendig in ihm, als hätte sich die Katastrophe erst vor wenigen Augenblicken abgespielt. Cedrice wollte nicht daran denken. Vor dem Test hatte ihn der Arzt gewarnt und ermahnt. Na ja, dachte Cedrice jetzt, der hat leicht reden, er sitzt draußen mit seinen Kollegen. Woran soll ich sonst denken, wenn nicht an die »Darwin«, die zertrümmert in der Nähe des Kraters Klutarch liegt? Ich möchte wissen, ob die Besatzung jemals gefunden und zur Erde gebracht werden kann. Versprochen hatte man es. Was für ein Versprechen… Cedrice stand auf und trat ans Bordfenster. Er konnte den künstlichen Mond beobachten. Deutlich hoben sich die dunklen und hellen Ebenen voneinander ab. Irgendwo lagen dort die Trümmer der »Darwin« und die sechs Raumfahrer, bedeckt vom Staub einer anderen Welt. Die Suche nach ihnen war aufgegeben worden. Nur ich allein bin jetzt interessant, ging es Cedrice durch den Kopf, ein Versuchstier in einem Glaskasten. Ein Summton ließ ihn zusammenzucken. An der Schalttafel leuchtete eine Schrift auf: »Sie haben seit vierzehn Stunden keine Gymnastik getrieben.« Cedrice las den Satz und dachte: Na und? Wieso seit vierzehn Stunden? Habe ich nicht erst vorhin an den Expandern gehangen? Seitdem sollen vierzehn Stunden vergangen sein? Er überlas seine letzte Eintragung im Bordtagebuch. Von Gymnastik kein Wort, aber Cedrice entsann sich genau, die Eintragung unmittelbar nach den Übungen gemacht zu haben. Er stand vor einem Phänomen und ahnte, daß etwas mit seinem Zeitgefühl nicht in Ordnung war. Dennoch fühlte er sich durch diesen Hinweis erleichtert, denn demnach mußte seit seiner letzten Eintragung ins Bordtagebuch fast ein ganzer Tag vergangen sein. An der Wand waren Expander angebracht, mit denen er seine Bein- und Armmuskulatur kräftigen konnte. Der Gedanke, daß bereits ein Drittel seiner freiwilligen Gefangenschaft hinter ihm lag, beflügelte seinen Eifer. Zehn Minuten lang spannte er die Federn
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der Expander, bis er erschöpft innehielt. Als er sich hinlegte, um etwas auszuruhen, übermannte ihn nach wenigen Augenblicken tiefer Schlaf. Die Tage an Bord des »Gespensterschiffes« schlichen träge dahin, und mit jeder Stunde wurde der Eingeschlossene unruhiger. Es können wirklich nur noch wenige Tage sein, sagte er sich, zwei, höchstens drei. Ich schaffe es, ich will es schaffen. In Erwartung der bevorstehenden Freiheit wurde Cedrice heiter. Er begann zu pfeifen und zu singen, hielt vergnügte Selbstgespräche oder versuchte, am Bordfenster die projizierten Sterne zu zählen. Es wäre besser für ihn gewesen, Gymnastik zu treiben, doch daran dachte er nicht mehr. Es lohnte nicht. Einige Male hatte er versucht zu lesen, aber die Lektüre langweilte ihn. Er sehnte sich nach einer körperlichen Tätigkeit, nach etwas Sinnvollem. Draußen am Bildschirm wurde sein Verhalten beobachtet und registriert. Auch daran dachte Cedrice nicht mehr. Er empfand wie ein gefangenes Tier, ging auf und ab oder stand am Bordfenster oder auch vor den Bordinstrumenten, wo die Zeiger der Meßgeräte pendelten. Diese sinnlosen Bewegungen störten ihn. Mitunter verspürte er das unbändige Verlangen, auf diese Meßuhren einzuschlagen. »Luftdruck, Luftfeuchtigkeit, Geschwindigkeit, Koordinaten«, murmelte er dabei, »alles Imitation, alles nur, um mich zu ärgern…« Er fuhr herum, als es im Lautsprecher knackte. Eine trockene sachliche Stimme hallte durch die Kammer. »Cedrice Stuart, nehmen Sie sofort Ihre Gymnastikübungen auf!« Einen Moment zögerte Cedrice. Ihm lag eine scharfe Antwort auf der Zunge, doch er beherrschte sich. Wozu aufregen? Man soll diesen Pedanten ihren Willen lassen. Unwillig trat er an die Expander und machte lustlos ein paar Übungen. Nach zwei Minuten hielt er inne und nahm seinen Platz am Bordfenster wieder ein. Jetzt werden sie mir wieder ein paar Minuspunkte geben, ging es ihm durch den Kopf. Wennschon, ich pfeife darauf. Schließlich habe ich den Test bis jetzt mit Anstand durchgehalten, und in ein paar Tagen bin ich draußen. Ich werde Anne sofort anrufen, sie soll alles für die Reise fertigmachen. Nur weg von hier. Am Näsisee werde ich Bäume fäl-
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len und das Dach vom Blockhaus reparieren. Und schwimmen werden wir, jeden Tag. Das Leben kann wirklich schön sein, und am schönsten ist es, wenn man richtig arbeiten kann. Ich freue mich auf Anne… Wieder summte es am Schaltpult. Eine Lampe leuchtete auf. Cedrice überlegte und brauchte eine Weile, ehe er begriff, was dieses Summen zu bedeuten hatte. Er bewegte einen Schalter und meldete sich. Undeutlich und verzerrt forderte ihn eine Stimme auf, Angaben über den Sauerstoffgehalt und die Luftfeuchtigkeit in der »Fok 2« zu machen. »Lächerlich!« rief er zurück, »seid nicht so pedantisch, ich komme ohnehin in wenigen Stunden ’raus.« Unlustig gab er die geforderten Meßwerte durch, dann fügte er hinzu: »Hören Sie, Doktor Nierenz, ich habe durchgehalten und alles getan, was Sie von mir wünschten. Ich denke, es ist jetzt genug. In diesen letzten Stunden möchte ich weder Gymnastikübungen machen noch solche albernen Zahlenwerte durchgeben. Um ehrlich zu sein, mir reichen die drei Monate. Ich bin heilfroh, endlich wieder wie ein Mensch leben zu können. Ende.« Er lauschte und wartete auf Antwort. Als sich niemand meldete, trat er zum Bordfenster. Es ärgerte ihn, daß man seinen Kommentar ohne Widerspruch hinnahm; er hätte sich gern etwas unterhalten. Nach einer Pause sagte er laut: »Höflichkeit wird hier offenbar klein geschrieben. Ich lege mich jetzt aufs Ohr und bitte darum, rechtzeitig geweckt zu werden, wenn meine Zeit um ist. Nicht eine Minute länger bleibe ich in diesem Käfig.« Cedrice kam nicht dazu, den Sitz herunterzudrücken. Die Stimme des Arztes hallte durch den Raum. Sie war so klar und deutlich zu vernehmen, als stünde der Doktor neben ihm. »Cedrice Stuart, hören Sie mir gut zu. Was ich Ihnen jetzt sagen werde, sollen Sie in aller Ruhe aufnehmen. Sie haben das Zeitgefühl verloren. Es handelt sich nicht um wenige Stunden, die Sie noch in der ›Fok 2‹ verbringen müssen, sondern um genau einundvierzig Tage, acht Stunden und vier Minuten. Besinnen Sie sich jetzt auf Ihre Aufgaben, und befolgen Sie meine Anweisungen. Sie wiederholen jetzt Ihre Gymnastikübungen, ist das klar? Anschließend nehmen Sie das Abendessen ein. Danach füllen Sie das Bordtagebuch aus, schreiben Sie Ihre Gedanken hinein, dazu die üblichen Meßwerte. Wenn Sie das getan haben, werden
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Sie sich rasieren. Das wäre vorerst alles - haben Sie mich verstanden?« Cedrice Stuart hatte verstanden, aber nichts begriffen. Mit dem Ausdruck höchsten Erstaunens betrachtete er den Lautsprecher, aus dem die Stimme gekommen war. »Was will er von mir?« murmelte er. »Wieviel Tage soll ich noch hierbleiben?« Plötzlich lächelte er, denn ihm kam der Gedanke, die Worte des Arztes müßten ein Trick gewesen sein. Man wollte am Ende des Testes lediglich noch einmal seine Reaktion überprüfen. Dieses Vergnügen wollte Cedrice dem Arzt gern machen. Er wandte sich zum Mikrophon und sagte gelassen: »Ich habe Sie ausgezeichnet verstanden, Doktor, aber auf mich wirken solche Tricks nicht. Lassen Sie Ihre psychologischen Experimente, ich bin schließlich kerngesund, und ich weiß sehr genau, daß meine Zeit abgelaufen ist. Was das Rasieren anbelangt, so werde ich mir den Bart nach einem heißen Bad abnehmen lassen. Goodbye, Doktor, grüßen Sie Alexander Wulko von mir.« Er lächelte triumphierend. Es dauerte nicht lange, als abermals eine Stimme erklang. Diesmal war es der Chefausbilder, Alexander Wulko, mit dem Cedrice befreundet war. »Hör zu, Cedrice«, sagte Wulko, »was dir der Doktor eben sagte, entspricht der Wahrheit. Du hast noch knapp anderthalb Monate vor dir, daran ist nicht zu rütteln. Nimm dich zusammen. Junge, du schaffst es. Beschäftige dich, lies, schreibe oder dichte meinetwegen, und befolge vor allem die Anordnungen des Arztes. Und jetzt fange mit der Gymnastik an. Ein zweites Mal können wir ein solches Gespräch nicht führen.« Die Worte des Chefausbilders erdrückten ihn fast. Er wußte, daß Wulko die Wahrheit sprach. Verstört setzte er sich und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. »Anderthalb Monate noch«, flüsterte er, »das ist nicht möglich«, und er dachte: Das halte ich nicht durch, niemals. Ich werde verrückt in dieser Stille, ich kann nicht mehr, ich will ’raus… Und während er dies dachte, wurde ihm bewußt, daß alles zu Ende war, wenn er jetzt nicht den Anordnungen des Doktors Folge leistete. Einige Minuten lang regte er sich nicht. Dann siegte der Wille in ihm.
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Er erhob sich und begann mit den Übungen. Was danach folgen sollte, hatte er bereits vergessen. Während er die Expander auseinanderzog, bemühte er sich, die Worte des Doktors ins Gedächtnis zurückzurufen, aber er erinnerte sich nur daran, das Zeitgefühl verloren zu haben. Nach zehn Minuten stellte Cedrice seine Übungen ein. Die Stille fraß in seinem Gehirn; das sinnlose Sternengeflimmer hinter dem Bordfenster erschien ihm wie Hohn. Das Pendeln der Meßinstrumente brachte sein Blut erneut in Wallung. Er klopfte gegen die Glasscheiben. Als das nichts half, schlug er mit der Faust dagegen. Gleich darauf kam aus dem Lautsprecher die Aufforderung, unverzüglich das Essen einzunehmen und dann das Bordtagebuch weiterzuführen. »Zum Teufel, was denn für Eintragungen!« schrie er wütend zurück. »Bin ich ein Dichter? Habe ich etwas erlebt? Wollt ihr ein Poem auf die ›Fok2‹? Es ist zum Kotzen, ich schreibe nichts. Und Hunger habe ich auch keinen. Laßt mich jetzt endlich in Ruhe!« Er stieß noch ein paar Verwünschungen aus und warf sich stöhnend auf den Liegesitz. »Eintragungen ins Bordtagebuch«, brabbelte er vor sich hin, »jeden Tag das gleiche - wozu? Feuchtigkeit normal, Luftdruck normal, Kraftübungen gemacht, Gummilösung gefressen - Theater ist das alles, nichts als Theater…« Er stierte gegen das Deckenpolster. Sein Bart fiel ihm ein. Vielleicht sollte ich mich doch rasieren? kam es ihm in den Sinn, vielleicht beruhigen sie sich dann. Aber wozu, wenn ich doch noch ein Leben lang hier zubringen muß? Nein, nun gerade nicht, dachte er widerspenstig, über meinen Bart bestimme ich, von Kosmetik war nicht die Rede beim Einstieg in diesen Affenkäfig. Die Stunden verrannen, ohne daß sich etwas rührte. Allmählich wurde sein Kopf klarer. Er stand auf, nahm das Bordtagebuch und blätterte darin. Die wenigen beschriebenen Seiten enthielten nur Stichworte und Zahlen. Gut, dachte Cedrice, ich werde etwas einschreiben. Keine Zahlen und keine Luftfeuchtigkeit. Er überlegte einen Augenblick, dann schrieb er: »Auf der Kruste dieses herrlichen Planeten gibt es nichts Vollkommeneres als den Menschen. Keine Kreatur gleicht ihm. Er allein, dieser Homo sapiens, ist sich seines
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Daseins auf der Erde und im All bewußt. So ist er auch das Maß aller Dinge. Viele wunderbare Eigenschaften hat der Mensch an sich selbst gepriesen: seinen Schöpfergeist, seinen Edelmut, seinen kühnen Gedankenflug, sein unaufhaltsames Vorwärtsstreben, sein Wissen um die geheimnisvollen Zusammenhänge des Universums und zahlreiche andere Attribute. Ich kenne jedoch noch zwei Eigenarten, die man gar nicht oder nur sehr selten und schamhaft erwähnt. Sie sind auch durchaus nicht geeignet, ihn mit dem Glorienschein der Allmacht und Vollkommenheit zu umgeben. Aus tiefster Überzeugung nenne ich die erste dieser Eigenschaften: Es ist dies der ewige Irrtum, der ihm auf den verworrenen Wegen seiner Geschichte folgte. Jeden dieser Irrtümer hat der Mensch mit Blut und Tränen bezahlt. Waren nicht auch die ›Charles Darwin‹ und ihr Flug ein Irrtum? Welch ein Weg von den wahnwitzigen Kriegen des Altertums und der Neuzeit bis zu diesem Sternenflug! Wie dem auch sei, aus den Irrtümern erwuchsen dem Menschen der kritische Verstand und damit die zweite Eigenart: seine Zweifel. Sie haben die Allmacht des Aberglaubens gebrochen und der Wissenschaft den Weg geebnet…« Cedrice dachte einen Moment nach, dann fügte er hinzu: »Erst diese Vorrechte, sich zu irren, seine gewonnenen Erkenntnisse immer wieder zweifelnd zu überprüfen, geben ein gerechtes Bild vom Menschen. Ich weiß nicht, ob es für mich der richtige Weg ist, den ich gewählt habe…« Er klappte das Buch zu und legte es auf das Schreibpult zurück. Dann nahm er eine Konserve aus dem Schrank, schluckte widerstrebend einen Löffel voll von dem Brei hinunter und legte sich schlafen. Doch er fand keine Ruhe. Es konnte Abend oder Morgen sein. Cedrice wußte es nicht, und es interessierte ihn auch nicht. Er konnte sich auch nicht besinnen, wie lange er gelegen hatte. Ein stechendes Läuten ließ ihn zusammenschrecken. Er nahm sich vor, ruhig zu bleiben, doch das Läuten ließ nicht nach. Endlich sprang er auf und schaltete die Klingel ab. Dann griff er zum Telefonhörer. Der Apparat durfte nur in ganz besonde-
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ren Fällen in Anspruch genommen werden, zum Beispiel bei einer plötzlich auftretenden Krankheit. Cedrice trommelte auf die Taste. »Hören Sie, Doktor Nierenz!« rief er in die Muschel, »ich kann das verfluchte Geläute nicht mehr hören, begreifen Sie? Ich will meine Ruhe haben. Im Weltall läutet es auch nicht, was soll also der Unsinn? Ich lasse nicht auf meinen Nerven herumtrampeln!« Die Verbindung wurde unterbrochen. Er ahnte nicht oder war nicht mehr fähig, zu begreifen, daß es schlecht um ihn stand. Man hatte ihm, dem Sohn des tödlich verunglückten Kosmonauten Roger Stuart, manches zugute gehalten. Jetzt jedoch war auch bei Cedrice Stuart das Maß voll, seine Disziplinlosigkeit hatte die Norm des leichten Raumkollers überschritten. Es war reine Formsache, wenn der Test noch einige Minuten andauerte und dem Eingeschlossenen sogar noch eine Prüfung auferlegt wurde. Vorerst hatte er jedoch einen Augenblick Ruhe. Für Cedrice war diese Ruhe alles andere als Erholung. Das Schweigen machte ihn konfus. Als er am Bordfenster den Mond wieder auftauchen sah, wurde die Erinnerung an die »Darwin« in ihm geweckt. »Ein feines Grab«, sagte er, »ein exklusives Grab. Wenn der Schatten über sie hinwegstreicht, liegen sie in einem Kühlschrank von minus hundertfünfzig Grad Celsius, und wenn die Sonne kommt, liegen sie in einem Backofen von plus hundertzwanzig Grad. Ich möchte nicht dort liegen. Aber ich weiß genau, wie alles kam…« Sein Selbstgespräch wurde wieder durch anhaltendes Läuten unterbrochen. Erschrocken blickte er auf den Oszillographen, auf dem sich Kurven abbildeten. Gleichzeitig leuchteten Lampen auf. Es war ein Warnsignal, er hätte jetzt den Kurs der »Fok 2« ändern müssen. Doch Cedrice tat nichts. Er schaltete das Läuten ab, griff zu dem Tagebuch und schrieb hinein: »Ein Meteorit kommt auf mich zu. Es ist zu Ende, wir stürzen auf den Mond. Warum hält man mich hier seit Monaten gefangen? Und weshalb verursachen die Aufseher immer wieder störenden Lärm vermittels einer elektrischen Glocke? Ich wünsche, mit dem Direktor zu sprechen…« Cedrice hatte nicht bemerkt, daß die Tür geöffnet worden war. Doktor Nierenz und Ale-
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xander Wulko wollten den Prüfling aus seiner Einsamkeit befreien. Als Cedrice sich umwandte und die beiden bemerkte, nickte er. »Gut, daß ihr kommt.« Er deutete auf das Bordfenster. »Wenn ich ein starkes Glas hätte, könnte ich euch die sechs zeigen.« Er zog Doktor Nierenz zum Fenster. »Sehen Sie dort die dunkle Stelle, Doktor? Das ist die ›Darwin‹…« Alexander Wulko sagte begütigend: »Gehen wir hinaus, Cedrice, der Test ist beendet.« Beim Klang der Stimme horchte Cedrice auf. Aufmerksam sah er Wulko an, aber er begriff nicht, was vor sich ging. Er redete auf Wulko ein und erinnerte ihn an Szenen, die mit dem Absturz der »Darwin« zusammenhingen. Doktor Nierenz unterbrach Cedrices Redeschwall. Er rüttelte ihn derb an der Schulter. »Sie sind frei, Stuart, gehen Sie hinaus.« Cedrice trat einen Schritt zurück. »Ihre Tricks kenne ich, Doktor, aber diesmal legen Sie mich nicht mehr herein. Ich habe ein lückenloses Gedächtnis.« Und abermals rekonstruierte er die Katastrophe der »Darwin«, als wäre er selbst an Bord gewesen. Der Arzt nickte Wulko zu. »Er kommt von allein zu sich, es ist nicht weiter schlimm.« Sie gingen hinaus und löschten das Licht in der »Fok 2«. Nur von draußen drang durch die geöffnete Tür ein Lichtschein in die Kammer, die für den Eingeschlossenen lange Zeit eine fremde, eine andere Welt gewesen war. Für Cedrice Stuart war diese Prüfung zu früh gekommen. Sein Aufenthalt in dieser einsamen Kammer hatte Erinnerungen in ihm geweckt, mit denen er noch nicht fertig werden konnte. Auf ihm lasteten das Unglück mit der »Charles Darwin« und der damit verbundene Tod seines Vaters. Hätte der Test angedauert, so würde er sich vermutlich selbst mit einem der Insassen des verunglückten Raumschiffes identifiziert haben. Doch das war nun vorbei; die Gesprächsfetzen, die von außen in die Kabine drangen, riefen den jungen Mann bald in die Wirklichkeit zurück. Seine wirren Träume waren wieder Geschichte geworden, Geschichte, die zwar einen Anfang hatte, aber kein Ende. Denn zu derselben Stunde, da Cedrice Stuart die langwierige Prozedur ärztlicher Untersuchungen über sich ergehen lassen mußte, wurde an einem anderen
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Ort das Raumschiff »Charles Darwin« zum Gegenstand einer erregten Debatte.
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II Auf der Westseite Sumatras, wenige Kilometer vom erloschenen Vulkan Indrapura entfernt, stand auf einem großen Felsplateau in dreitausend Meter Höhe das Observatorium Manik Maya. Es wurde seit drei Jahren von Professor Shagan geleitet, einem vitalen, etwas eigenbrötlerischen Wissenschaftler. Er war vierundsechzig Jahre alt und galt als Fachmann für Asteroidenforschung. Zu seinen Mitarbeitern gehörten drei Assistenten. Außerdem lebte auf Manik Maya noch die pausbackige Köchin Kantjil, vor deren Mundwerk sich Professor Shagan genauso fürchtete wie Kantjil vor den Geistern, die in den Schluchten und erloschenen Kraterhöhlen ihr Unwesen trieben. Ein- bis zweimal in der Woche versorgte ein Hubschrauber das Observatorium mit Zeitschriften, Filmen, Büchern und Lebensmitteln und brachte wissenschaftliches Material von Manik Maya zurück in die Stadt. Es war erst wenige Tage her, da zwei Assistenten das Observatorium auf diesem Wege verlassen hatten. Einer der beiden war in seiner Freizeit bei einer Kletterpartie abgestürzt und hatte sich ein Bein gebrochen. Der andere, Damar Wulan, Shagans rechte Hand, mußte den Verletzten ins Tal begleiten. Er hätte am nächsten Tag zurück sein müssen, doch statt dessen kam ein Telegramm von ihm, in dem er um einige Tage Urlaub bat. Er wollte zur Insel Flores, seine erkrankte Mutter besuchen. So blieben auf Manik Maya nur die beiden Frauen und der Professor zurück. Eine dieser beiden Frauen war die schon erwähnte Köchin, die andere Shagans Assistentin, ein junges Mädchen namens Nanga. Die Köchin nannte sie Engelchen, Sternchen oder auch schwarzhaariges Prinzeßchen. Kantjil war eine einfache, biedere Frau aus dem Dorfe, und ihr gefielen solche schmückenden Attribute. Es gab jemanden auf Manik Maya, der Nanga auch gern so genannt hätte. Doch Damar Wulan war viel zu schüchtern, um seine Gefühle für das Mädchen so offen kundzugeben, und Nanga gab ihrem Kollegen auch wenig Anlaß, diese
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Schüchternheit abzustreifen. Sie überhörte seine versteckten Werbungen. Nun war sie allein mit dem knurrigen Professor, und das war gewiß kein Vergnügen, denn mit dem wortkargen Shagan ließ sich nur selten eine Unterhaltung führen, die andere Themen als seine Forschung berührten. Es war Nanga nicht einmal unangenehm, daß sie ihren Chef in den letzten Tagen nur selten sah. Shagan hockte unablässig in der Kuppel des Observatoriums, beobachtete, rechnete und photographierte. Sie wertete seine Aufnahmen aus, eine ermüdende Tätigkeit. Die Negative mußten auf einen kleinen Bildschirm projiziert werden. Kantjil, die ab und zu ihr schwarzhaariges Prinzeßchen besuchte, glaubte, alle Sterne der Welt seien auf diesen Platten abgebildet. Doch Nangas Aufmerksamkeit galt einem Lichtpunkt, genauer einem winzigen Lichtstreifen, nach dem sie seit Tagen vergeblich suchte. Am Nachmittag des vierten Tages kam Professor Shagan zu ihr. An ihm war nichts von der Würde eines Professors. Im Halbdunkel des Arbeitszimmers sah seine Gesichtshaut aus wie ungegerbtes Leder; das struppige Haar hing ihm ungepflegt in die Stirn. Seine Bewegungen waren schlaksig, sein Kittel war längst nicht mehr weiß, und rasiert hatte er sich schon seit Tagen nicht. Und genauso hörte sich auch sein Gruß an, als er eintrat; brummig und abwesend. Er griff eines der Negative heraus und hielt es gegen das Licht. Nanga unterrichtete ihn vom Resultat ihrer Bemühungen. Er nickte. »Ich weiß«, sagte er, »Sie brauchen nicht weiter zu suchen. Er ist nicht mehr auf seiner Bahn. Ich habe vorhin von zwei anderen Observatorien Nachricht erhalten. Man hat dort die Suche ebenfalls eingestellt.« »Er«, das war ein kleiner Himmelskörper, ein Asteroid, der auf Manik Maya entdeckt worden war und die Bezeichnung »Rhe 37« erhalten hatte. Man kannte seinen Bahnverlauf und seine Geschwindigkeit, und er hätte in diesen Tagen wieder in ihr Blickfeld treten müssen. Es war keine Tragödie, daß er nicht wieder aufgetaucht war, aber Shagan tat, als habe er einen nahen Verwandten verloren. »Er ist
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nicht mehr auf seiner Bahn«, wiederholte er, und nach einer Pause: »Eine unangenehme Sache. Ich hätte wer weiß was darum gegeben, dieses Trümmerstück wiederzufinden.« Der Ernst, mit dem er das sagte, machte sie stutzig. Zwar waren ihr seine Unruhe und Verbissenheit, mit der er in den letzten Tagen gearbeitet hatte, aufgefallen, aber sie hatte das auf das Fehlen der beiden Assistenten zurückgeführt. Die Besorgnis um einen verlorengegangenen Asteroiden wollte nicht zu ihm passen. Etwas verwundert sagte Nanga: »Es wäre nicht das erste Mal, daß wir einen Asteroiden aus den Augen verlieren. Was ist daran außergewöhnlich?« Er sah sie abwesend an, als habe er ihre Frage nicht verstanden. Vielleicht wollte er auch nicht antworten. Er machte kehrt und sagte: »Ich erwarte Sie heute im Salon. Wir haben Mittwoch, und es sind neue Bänder aus Europa eingetroffen.« »Gewiß«, sagte Nanga und bereute sogleich ihre Zustimmung. Die Mittwochabende waren die einzige Entspannung, die Shagan sich und seinen Mitarbeitern gönnte. Es waren Konzertabende, Professor Shagan hatte ein umfangreiches Archiv klassischer und moderner Musik auf Tonbändern eingerichtet. Jetzt, da zwei Mitarbeiter fehlten, verspürte Nanga nicht viel Neigung, einen Abend mit dem knurrigen Professor allein zu verbringen. Ihr lag eine Entschuldigung auf den Lippen, doch Shagan hatte bereits die Tür geöffnet. Er kam nicht weit, denn draußen erwartete ihn die Köchin. Der Professor wollte das Weite suchen, doch Kantjil ließ ihn nicht fort. Sie beklagte sich. Sie hatte immer etwas zu klagen und meist nicht ohne Grund. Geduldig hörte er sich die Vorwürfe der Köchin an. Sie beschwerte sich, weil er seit Tagen ihr Mittagessen verschmähte und weil er den Kittel nicht wechselte. Kantjil durfte sich solche Worte erlauben und ihn auch auf den Stoppelbart und die ungepflegten Fingernägel aufmerksam machen. Nanga konnte den Monolog bis in ihr Arbeitszimmer hören. Später beklagte sich Kantjil bei ihr. »Was ist mit dem alten Knurrhahn, Sternchen? Ist er krank?« »Nein«, sagte Nanga, »ein Asteroid ist nicht mehr auf seiner Bahn, das ist alles.«
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»So - und das ist wichtig?« erkundigte sich Kantjil argwöhnisch. Nanga schüttelte den Kopf. »Nein, Kantjil, es ist nicht wichtig.« In der Abgeschiedenheit unterm Sternendach waren Schallplattenoder Tonbandkonzerte für alle eine angenehme Entspannung. Es war üblich, sich an diesen Abenden umzukleiden; Kantjil sorgte für schmackhafte Überraschungen, der Professor, ein Weinkenner, suchte selbst einige Flaschen aus. Über seiner wissenschaftlichen Arbeit konnte er das Essen, die Morgentoilette und sogar das Schlafen vergessen - diese Mittwochabende vergaß er nicht. Nanga hatte das Empfinden, als wenn er auch hierin eine Art Arbeit erblickte, wobei er die Musik offenbar in mathematische Gleichungen auflöste. An diesem Abend war Nanga weder an Musik noch an einer Unterhaltung mit ihm gelegen. Lustlos betrat sie den kleinen Salon, der zu Shagans Arbeitszimmer gehörte. Der Professor erwartete sie bereits. Er hatte sich die Ermahnungen seiner Köchin zu Herzen genommen, war rasiert und sah in seinem Tropenanzug recht feierlich aus. Auf dem Tisch standen wie immer Gläser und Wein. Heiter und zuvorkommend bot er Nanga einen Platz an. »Kantjil hat heute wohl kein Verlangen nach Musik?« Die Frage klang mehr wie ein Wunsch. »Ich glaube nicht«, sagte Nanga. »Sie ist ein Lästermaul«, knurrte er, »man muß froh sein, daß ihre Zunge angewachsen ist. Bei dem Gedanken, es könnte Wanderzungen geben, überläuft es mich kalt.« Nanga lächelte pflichtschuldig und schwieg. »Also hören wir uns an, was ihnen eingefallen ist.« Shagan schaltete das Tonband ein. Das Crescendo einer modernen Komposition füllte den Raum. Nanga bemühte sich, die Musik zu erfassen, doch sie konnte sich nicht konzentrieren. Der mandeläugige Damar kam ihr in den Sinn und der verletzte Kollege, und sie fand dieses Beisammensein allein mit dem Professor fade. Es ärgerte sie, daß er nicht ein Wort für die beiden abwesenden Assistenten fand. Die Musik erschien ihr scheußlich, und sie dachte bei sich: Kantjil hat recht, er ist ein knurriger Egoist, unhöflich und taktlos. Sie beobachtete ihn verstohlen. Es kam ihr vor, als wäre seine Ruhe nur gespielt. Seine Bemerkung über den Asteroiden Rhe 37 fiel ihr wieder
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ein. Vor einigen Jahren hatte Shagan ein Buch über diese kleinen Himmelskörper veröffentlicht und darin eine recht umstrittene Theorie vertreten. Nach seiner Ansicht stammten all diese Trümmerstücke einschließlich der Meteoriten, die in die Atmosphäre der Erde gelangten, von einem ehemaligen Planeten, der zur Zeit des Tertiärs, also vor sechzig Millionen Jahren, aus unerforschter Ursache zersprungen sei. Im Lautsprecher brummte ein Baßsolo. Einen Augenblick bemühte sich Nanga zuzuhören. Dann erfaßte ihr Blick eine Karte an der Wand. Noch nie hatte Shagan diese Karte hier aufgehängt. Auf ihr waren verschiedene Bahnen von Asteroiden abgebildet; einige hatten sie auf Manik Maya entdeckt. Sie versuchte, das Gewirr der Linien zu verfolgen. Plötzlich war Stille. Der Professor hatte das Band gestoppt. »Gefällt Ihnen die Musik nicht?« fragte er. »Nein«, sagte sie. »Warum nicht?« »Ich weiß es nicht.« »Auf jeden Fall haben wir den gleichen Geschmack. Sie wollen alle etwas Neues schaffen, aber bei dieser neumodischen Musik werde ich immer wieder an einen Hühnerhof erinnert, auf dem ein Knallfrosch explodiert ist.« Er sah, daß Nanga nur zerstreut zuhörte, und schwieg. Nach einer Pause nahm er die Weinflasche und füllte die Gläser. Sie sagte: »Bitte nicht für mich.« Shagan achtete nicht auf ihren Einwand. Er schob ihr das Glas zu. »Vielleicht sind wir der Kunst gegenüber ungerecht«, spann er seinen Gedanken weiter, »ein wirklich schöpferischer Künstler, gleich, ob Maler, Dichter oder Komponist, kann sich nicht vor den Problemen unserer Zeit verstecken. Wir auf Manik Maya suchen nach Asteroiden, photographieren Nebelflecke, analysieren Spektralaufnahmen - eine verhältnismäßig geregelte Tätigkeit. Ein Künstler dagegen, der unsere Wirklichkeit erfassen und wiedergeben will, wird von ungezählten positiven und negativen Erscheinungen beeinflußt. Die jammervollen Geräusche, die wir eben hörten, sind das beste Beispiel dafür…« Er wartete auf eine Antwort, doch Nanga nickte nur. Sie war mit ihren Gedanken woanders. Shagan ging ein paar Schritte auf und ab.
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»Ich weiß«, sagte er schließlich, »es ist nicht sehr vergnüglich für Sie, mit dem alten Shagan allein zu sein.« Er winkte ab, als sie seine Bemerkung zurückweisen wollte. »Mir fehlen unsere beiden Kollegen auch, Nanga, aber ich habe Sie heute nicht nur der Musik wegen zu mir gebeten. Ich möchte etwas mit Ihnen besprechen. Vielleicht ist es ein Fehler, meine Vermutungen auszuplaudern, einerlei - ich möchte mich wenigstens mit Ihnen darüber unterhalten.« Das war ein neuer Ton bei ihm, und es mußte schon etwas Wichtiges sein, wenn er auf ihrer Anwesenheit beharrte. Er nahm einige Dokumente aus der Rocktasche und breitete sie auf dem Tisch aus. »Um Ihnen meine Überlegungen zu erklären, muß ich die Zeit um neun Monate zurückdrehen. Vor neun Monaten ereignete sich die Katastrophe mit der ›Charles Darwin‹.« Professor Shagan nahm aus den Dokumenten einen Zeitungsausschnitt heraus und las: »Nach sorgfältiger Prüfung aller von Fachkommissionen und Experten zusammengestellten Unterlagen über die Katastrophe gelangt die Untersuchungskommission zu dem Schluß, daß die ›Charles Darwin‹ am 1. November des vergangenen Jahres mit einem unbekannten Himmelskörper zusammengestoßen sein muß. Es ist anzunehmen, daß die automatische Steuerung des Raumschiffes versagte. Die Kollision erfolgte etwa zwei Sekunden nach achtzehn Uhr neunundzwanzig Minuten Weltzeit. Das Raumschiff befand sich in diesem Augenblick in AR = 197° 2’, D = 18° 21’. Mehrere astronomische Stationen konnten dreieinhalb Stunden später unweit des Kraters Plutarch eine starke Staubentwicklung beobachten und photographieren. Es muß nach allen Berechnungen als erwiesen gelten, daß diese Staubentwicklung von dem abgestürzten Wrack der ›Darwin‹ herrührte. Die Untersuchungskommission gelangte zu der einmütigen Ansicht, daß die sechs an Bord befindlichen Raumfahrer Opfer dieses tragischen Unglücks geworden sind…« Professor Shagan faltete den Ausschnitt zusammen und legte ihn zu den Papieren zurück. »Die weiteren Angaben sind im Augenblick nicht wichtig - ich habe die Zahlen über Geschwindigkeit, Umlaufbahn und so weiter im Kopf.« Er schlürfte einen Schluck Wein und
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stand dann auf. »Und jetzt möchte ich Ihnen etwas zeigen, Nanga. Bitte, kommen Sie mit zur Karte.« Verwundert folgte sie ihm. Shagan zeichnete mit einem Bleistift eine langgestreckte Ellipse nach. «Das ist die Bahn unseres Asteroiden Rhe 37. Hier, an dieser Stelle, erfolgte die Kollision mit der ›Darwin‹. Und nun sehen Sie sich die Umlaufzeit unseres Trümmerstücks an, und vergleichen Sie die Daten der Untersuchungskommission.« Sie beugte sich vor, um die Zahlen und den Bahnverlauf aus dem Gewirr von Strichen, Linien und Punktierungen herauszufinden. Dann stieß sie einen Ruf der Überraschung aus. »Die ›Darwin‹ kollidierte mit unserm Asteroiden!« Er nickte. »So könnte es gewesen sein. Ich kam durch Zufall in diesen Tagen darauf, weil ich seinen Bahnverlauf noch einmal nachrechnete.« »Aber weshalb kam damals nicht die Untersuchungskommission auf den gleichen Gedanken?« »Weil wir erst seit heute wissen, daß sich der Asteroid nicht mehr auf seiner Bahn befindet. Die Kommission konnte kaum zu einem andern Schluß gelangen. Phantastisch, nicht wahr? Eins zu hundert Millionen und mehr ist die Chance einer derartigen Kollision - aber einmal passiert es eben…« Shagan deutete auf die Karte. »Betrachten Sie die Flugrichtung beider Körper.« In diesem Augenblick wurde ihr klar, worauf seine Überlegungen hinausliefen. Beide Körper, das Raumschiff und der Asteroid, hatten für eine winzige Strecke die gleiche Flugrichtung. Nach dieser Darstellung konnte das Trümmerstück Rhe 37 nicht frontal mit der »Darwin« zusammengeprallt sein, sondern mußte das Raumschiff am Heck getroffen haben. »Ich begreife es nicht ganz«, sagte Nanga verwirrt, »wenn Ihre Zeichnung richtig ist, dann könnte die ›Darwin‹ nicht auf den Mond gestürzt sein. Sie wäre ins All geschleudert worden.« »Und wer sagt Ihnen, daß sich die Katastrophe nicht so abgespielt hat? Das Photo besagt gar nichts. Die Staubentwicklung kann durch Bruchstücke des Asteroiden hervorgerufen worden sein. Man sagt,
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die automatische Steuerung und die Beschleunigung hätten wahrscheinlich versagt. Was aber, wenn sie nicht versagt haben? Wir kennen annähernd die Geschwindigkeit von Rhe 37. Sie war hier, in Sonnennähe, besonders groß. Nehmen wir an, der Asteroid wurde vom Radar des Raumschiffes erfaßt. Nehmen wir weiter an, daß die automatische Beschleunigung nicht versagt hat - weshalb eigentlich auch? Sie ist hundertfach ausprobiert und hat sich immer glänzend bewährt. In diesem Falle könnte sich folgendes ergeben haben - ich sage ausdrücklich: könnte -: Das Raumschiff steigert seine Geschwindigkeit, aber dieser zunehmende Schub reicht nicht aus, um dem hinterherrasenden Asteroiden zu entgehen. Das Trümmerstück setzt auf das Heck auf. Der Anprall ist nicht stark genug, um die ›Darwin‹ zu zerstören, aber er reicht aus, um die Antriebsaggregate zu beschädigen. Folglich kann die zuvor aufgenommene Geschwindigkeit nicht mehr gedrosselt werden. Die ›Darwin‹ würde manövrierunfähig aus der Erdwirkungssphäre entweichen und zu einem Planetoiden der Sonne werden.« Sie hatte auf einmal das Verlangen nach einem Schluck Wein. Was ihr Shagan soeben auseinandergesetzt hatte, erschien ihr so phantastisch, daß sich alles in ihr sträubte, diesen Gedanken weiterzuentwickeln. Nanga kannte die Einzelheiten der Katastrophe. Sie hatten auf Manik Maya darüber gesprochen, waren nicht mehr und nicht weniger bestürzt und erschüttert gewesen als alle anderen, die von diesem Unglück erfuhren. Nach den nüchternen Darlegungen des Professors gewann jedoch das Schicksal der sechs Menschen eine ganz andere Bedeutung für sie. Hier auf Manik Maya war Rhe 37 entdeckt und seine Umlaufbahn errechnet worden. Die »Darwin« und alles, was über die Vorgänge geschrieben und gesprochen worden war, berührte auf einmal ihre private Sphäre. Nanga hatte Platz genommen. Sie blätterte in Shagans Zeitschriften und Unterlagen. Tagelang war die Besatzung von der Leitstation gerufen worden. Tagelang immer wieder der gleiche Satz: »Hier Station drei, wir rufen die ›Darwin‹, meldet euch!« Dabei war die Hoffnung, die Verbindung wiederherstellen zu können, bereits nach wenigen Stunden gesunken. Dreieinhalb Stunden nach Unterbrechung der Funkverbindung trafen Photos in der Leitstation ein, die das
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Schlimmste befürchten ließen. Mehrere Observatorien hatten in der Nähe des Kraters Plutarch eine ungewöhnlich starke Staubentwicklung beobachtet und photographiert. Zunächst glaubten die Astronomen an einen Meteoraufschlag. Der Staub, so hieß es übereinstimmend in allen Berichten, sei mehrere Kilometer hochgewirbelt worden. Durch die Sonnenstrahlung sah es aus, als enthielte die Wolke alle Farben des Spektrums. Als sich die »Darwin« nach mehr als vierundzwanzig Stunden noch immer nicht gemeldet hatte, zweifelte niemand mehr an einer Katastrophe. Automatische Raumsonden wurden gestartet, und der Flug eines bemannten Suchraumschiffes wurde vorbereitet. Die Bemühungen blieben ohne Erfolg; der Erdtrabant gab sein Geheimnis nicht preis. Einzig die Photos blieben als Beweis des Aufschlages, und die Berechnungen der Wissenschaftler stimmten mit den Beobachtungsergebnissen überein. Nach diesen Berechnungen mußte das Raumschiff bei der Kollision zermalmt worden sein. Dabei waren Teile des Raumschiffes infolge der Geschwindigkeit noch eine beträchtliche Strecke weitergeflogen und auf einer spiralenförmigen Flugbahn schließlich in der Nähe des Plutarch Tagelang niedergegangen. hatte die Presse über diese Katastrophe berichtet. Dann überschatteten andere Ereignisse das Geschehene. Nur einmal noch, dreieinhalb Monate nach dieser Tragödie, erinnerten kurze Nachrichten an die »Darwin« und ihre sechs Opfer. In der Nähe des Ortes, an dem der Start erfolgt war, hatten sich Wissenschaftler, junge Kosmonauten und die Angehörigen der Verunglückten versammelt. Ansprachen waren gehalten worden, Gedenkreden, und schließlich hatte man einen schlichten Obelisk enthüllt. Er enthielt die Inschrift: »Solange Menschen zu den Sternen streben, wird man ihrer gedenken. Sie werden immer mit uns sein.« Auf den sechs Grundflächen des Obelisken waren die Namen der Verunglückten eingemeißelt: Michael Kowtun, Sonja Kamirsky, Dsching Hiao Khungtaidschi, Roger Stuart, Dahli Shitomir, Nemeth Gyula. Professor Shagan hatte ebenfalls Platz genommen. »Ich weiß«, sagte er, »meine Überlegungen klingen phantastisch - vielleicht sind sie es auch - wer weiß. Was ist Ihre Meinung?«
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Nanga holte tief Luft, dann erwiderte sie: »Ich finde, Ihren Überlegungen liegen zu viele Zufälle zugrunde. Wenn der Zusammenprall so erfolgte, wie Sie es vermuten, dann hätten die sechs Besatzungsmitglieder wenigstens noch einige Minuten am Leben sein müssen. Es wäre also Zeit gewesen, eine Meldung an die Station durchzugeben, wenigstens einen Satz oder einen Hilferuf. Aber sie haben geschwiegen. Nein, Professor, Ihre These kann nicht stimmen.« »Schön, sie ist zumindest ungewöhnlich«, gab Shagan zu, »es sind auch nur ganz private, nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Überlegungen. Aber der Zufall ist nun einmal ein mathematisch nicht erfaßbares Ding. Nehmen wir an, der Asteroid wäre zersplittert und hätte dabei die Antennen der ›Darwin‹ abrasiert. Sie können nicht mehr senden und nicht mehr empfangen. Es können auch Defekte in den Sendern aufgetreten sein - wer will das feststellen? Ist Ihnen bekannt, daß sich an Bord der ›Darwin‹ ein Labor befand, in dem durch Assimilation verschiedene Kohlehydrate erzeugt wurden?« Sie bejahte stumm. Die Gelassenheit, mit der er das Unglück auf seine Weise rekonstruierte, verwirrte sie. »Ein interessanter Gedanke«, fuhr Shagan fort, »überlegen Sie: Das Labor befand sich in der Spitze des Raumschiffes. Sollte es intakt geblieben sein, dann könnten die sechs sogar noch leben. Nicht sehr üppig, aber es reichte. Außerdem besaßen sie noch andere Lebensmittelvorräte. Verhielte es sich so, dann wären sie in der Lage, hochinteressante Forschungen durchzuführen.« Seine Worte empörten sie. »Sie sind ein Zyniker!« sagte sie wenig freundlich. »Wie können Sie so reden? Zum Glück entwickeln Sie jetzt Phantastereien, die nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen.« Ihre Empörung erheiterte ihn. Belustigt erwiderte er: »Natürlich ist es bequemer, die Toten in Ruhe zu lassen. Nur richten sich Tatsachen nicht nach Glauben oder Unglauben. Gewiß, ich kann keinen Beweis für meine Überlegungen erbringen - aber ist die andere, die offizielle Version bewiesen? Solange wir sie nicht vom Mond heruntergeholt haben, so lange bleibt auch die offizielle Erklärung eine unbewiesene These. Beenden wir das Thema.« Shagan nahm einige Papiere vom Tisch und verbarg sie sorgsam in der Rocktasche. Sie sagte: »Wenn
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Sie sich Ihrer Sache so sicher sind - warum fassen Sie dann Ihre Überlegungen nicht schriftlich ab und übergeben sie der Obersten Raumbehörde?« »Ich bin mir meiner Sache eben nicht sicher«, antwortete er. »Es spricht einiges dafür, mehr nicht. Und das ist wohl zuwenig für eine wissenschaftliche Debatte in der Obersten Raumbehörde.« »Und wenn nun doch etwas Wahres daran ist?« Shagan hob die Schultern. »Es ist mein Privatvergnügen, solche Kombinationen anzustellen. Ich danke Ihnen, daß Sie mir zugehört haben, vergessen Sie dieses Gespräch.« Er verbeugte sich linkisch und schlurfte hinaus.
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III Nanga vergaß dieses Gespräch nicht. Im Gegenteil, der Gedanke, Shagan könnte mit seinen Überlegungen tatsächlich auf einer richtigen Spur sein, ließ sie nicht zur Ruhe kommen. Waren es wirklich nur private, nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Ideen, die er ihr entwickelt hatte? Sie kannte diesen eigensinnigen Gelehrten lange genug. Shagan mochte vielleicht einen völlig anderen Grund haben, sich nicht an die Oberste Raumbehörde zu wenden. Im Präsidium dieser Behörde saß Birger Sjögren. Zwischen ihm und Shagan hatte es vor Jahren einen wissenschaftlichen Streit gegeben, in dem Shagan unterlegen war. Bei diesen Auseinandersetzungen hatten wohl auch persönliche Antipathien eine Rolle gespielt, und Shagan war nie darüber hinweggekommen. Nun hatte er etwas entdeckt. Vielleicht war es nicht weniger fragwürdig als seine frühere Theorie über den angeblich zersprungenen Planeten »Pränuntius«, wie er ihn genannt hatte, ein Planet, der einmal zwischen der Mars- und Jupiterbahn existiert haben sollte. Aber eine Theorie über einen zersprungenen Planeten zu entwickeln blieb immer noch Theorie; was er jetzt über die mögliche Existenz der »Darwin« sagte, wog schwerer. Shagan tat, als spiele er nur mit solchen Überlegungen - in Wahrheit jedoch war er mehr davon überzeugt, als er sich eingestehen wollte. Fürchtete er eine neue Niederlage? Nanga war überzeugt, daß Shagan nichts wünschenswerter gewesen wäre als ein wissenschaftlicher Erfolg. Er fürchtete sich, noch mehr von seinem Prestige als Wissenschaftler einzubüßen. Waren das die Gründe? Je länger Nanga darüber nachdachte, desto überzeugter wurde sie, daß es solche Motive waren, die ihn von einer Veröffentlichung abhielten. Doch sie war sich selbst unschlüssig. Es gab Lücken in seinen Gedankengängen, und es schien überhaupt absurd, nach einem dreiviertel Jahr noch an die Existenz von sechs Verunglückten glauben zu wollen. Aber hinter den Zahlen und der trockenen These stand etwas anderes. Wenn nun doch etwas Wahres daran war? Die29
ses »Vielleicht« rief Emotionen in ihr wach; sie hatte das Bedürfnis, mit jemandem darüber zu sprechen, doch auf Manik Maya war nur noch Kantjil, der sie sich hätte anvertrauen können. Am Nachmittag, als sie im Observatorium Aufnahmen von Sonnenflecken machte, gesellte sich die Köchin zu ihr. Kantjil kam öfter in das Kuppelgebäude - weniger, weil sie sich für die Forschungsarbeiten interessierte; sie wollte nur ein wenig schwatzen. An diesem Nachmittag war sie sogar sehr vergnügt. »Hast du bemerkt, Prinzeßchen«, rief sie frohlockend, »meine Moralpredigt hat Wunder gewirkt. Der alte Knurrhahn hat einen schneeweißen Kittel angezogen, sein Hemd ist ebenfalls rein. Ich bin sehr zufrieden. Gegessen hat er heute für zwei. Du siehst, mein Täubchen, so muß man mit den Männern umgehen. Merk dir das für später, wenn du einmal heiratest.« »Ich will es mir merken«, versicherte Nanga lächelnd. Kantjil betrachtete die Sonnenscheibe auf dem Schirm. »Was machst du jetzt, Goldengelchen?« »Ich photographiere die Sonnenflecken, Kantjil.« »Aha, diese kleinen Punkte sind also Sonnenflecken. Und was habt ihr davon, wenn ihr sie endlich auf der Platte habt? Könnt ihr sie beseitigen?« Nanga mußte lachen. »Nein, Kantjil, beseitigen können wir sie nicht, aber studieren kann man sie. Außerdem sind diese kleinen Punkte hundertmal größer als die Erde. Und wenn es zu viele von ihnen gibt, wirkt sich das nachteilig auf den Funkverkehr und viele andere Dinge aus.« »Ja«, antwortete die Köchin bieder, »Reinlichkeit ist alles. Ich weiß das von meinem Vater. Er hat im Steinkohlenbergwerk gearbeitet. Jeden Tag mußte er baden. Er konnte keinen Schmutz ausstehen.« Nanga beendete ihre Arbeit. Während sie die Kuppel schloß, fragte sie unvermittelt: »Wurde deine Familie schon einmal von einem Bergwerksunglück betroffen?« »Schon mehrere Male«, versicherte Kantjil, »aber es ist immer gut ausgegangen - wenigstens für Vater.« »Also waren es nur leichte Unglücksfälle?«
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»Wenn du das Lebendig-Begrabensein leicht nennst. Einmal hat es eine Explosion gegeben. Sie waren fünfhundert Meter unter der Erde - niemand konnte zu ihnen. Die Schächte waren fast alle verschüttet. Einige hat man durch Bohrungen herausgeholt. Dann war alles still. Es gab keine Klopfzeichen mehr, und soviel man auch bohrte - in den Schächten schienen nur noch Tote zu liegen. Eine Kommission beriet und kam zu dem Schluß: Es lebt keiner mehr. Das war nach vierzehn Tagen. Die größten Bohrgeräte waren schon abtransportiert, nur ein paar Probebohrungen wurden noch gemacht. Am achtzehnten Tag drangen durch eine solche Probebohrung Hilferufe. Es war der Schacht, in dem sich auch mein Vater aufhielt…« »Und ihr? Hattet ihr noch gehofft, als man die Arbeiten einstellte?« Zögernd antwortete Kantjil: «Meine Mutter hat noch gehofft, sie hat immer daran geglaubt, daß er noch lebt. Ich war damals noch zu klein, ich wußte nicht, was sterben ist. Heute würde ich auch hoffen, bis zuletzt…« Kantjil redete und redete, und Nanga war bis in ihr Innerstes getroffen. Die schlichte Darstellung der geschwätzigen Alten hatte ihrer Phantasie neue Nahrung gegeben. Shagan hatte sich hinter seinem Schreibtisch in ausländische Fachzeitschriften vertieft, als Nanga anklopfte und eintrat. »Gut, daß Sie kommen«, sagte er erfreut, als habe er seine Assistentin erwartet. »Sie haben sich mit arabischer Grammatik beschäftigt. Ich habe hier das Jahrbuch der Asteroiden’ von diesem Hassan Dschamburi im Original. In seinen graphischen Darstellungen hat er auch unsern Rhe 37 berücksichtigt. Ich komme nur nicht mit der Übersetzung zurecht, helfen Sie mir bitte.« »Professor, ich will Ihnen gern behilflich sein«, sagte Nanga ebenso freundlich, »aber ich möchte zuerst etwas anderes mit Ihnen besprechen.« Shagan schob die Zeitschrift zur Seite, wechselte seine Brille und sah Nanga abwartend an. Sie nahm Platz und fuhr fort: »Ich bin zu der Überzeugung gekommen, daß Sie Ihre These nicht für sich behalten dürfen.«
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»Sie meinen meine Phantastereien - so klassifizierten Sie doch gestern meine Überlegungen.« Nanga wurde einen Schein dunkler. »Es war nicht so gemeint, bitte verzeihen Sie. Sie haben recht, man soll nicht vorschnell ein Urteil fällen. Was auch immer an Ihren Überlegungen richtig oder falsch sein mag. Sie müssen sie schriftlich abfassen und der Obersten Raumbehörde übergeben.« »So?« sagte er heiter, »ich muß? Warum muß ich?« »Das wissen Sie selbst am besten.« Shagan erhob sich. Er ging ein paar Schritte auf und ab, überlegte und sagte schließlich weniger freundlich: »Gar nichts weiß ich, gar nichts. Ich sagte Ihnen gestern bereits, daß es mein Privatvergnügen war, die Katastrophe noch einmal auf andere Weise zu rekonstruieren. Lassen wir es dabei.« Sie ließ sich durch seinen barschen Ton nicht beirren. »Ich habe viel darüber nachgedacht, Professor. Wenn Sie nun doch recht hätten? Wenn die ›Charles Darwin‹ wirklich noch existierte und die Besatzung…« Sie sprach ihren Gedanken nicht zu Ende. Er winkte ab. »Das mit dem ›Überleben‹ war gestern nur so eine Bemerkung von mir. Und das andere? Eine Spekulation; man würde meiner These niemals zustimmen. Aber etwas anderes könnte eintreten. Man wird sagen: Zuerst hat er einen Planeten berechnet, der nicht mehr existiert, und nun wartet er mit einer neuen Sensation auf. Nein, Nanga, ich gehe kein Risiko mehr ein, ich möchte meinen Ruf als Wissenschaftler nicht verlieren - begreifen Sie das?« »Nein«, sagte sie. »Dann lassen Sie es«, knurrte er. Ruf als Wissenschaftler, dachte sie, als wenn es in einem solchen Fall um irgendwelche Ehrbegriffe ginge. Wie oft hatten sich Menschen bei der Erforschung der Erde verirrt, waren von der Außenwelt abgeschnitten worden. Niemals hatte man sie aufgegeben, selbst nach Toten war gesucht worden. Ihr fielen Beispiele ein, die sie aus der Literatur kannte, und! sie erzählte davon. Erstaunt über ihren Eifer, hörte er zu, und für einen Augenblick schien es, als stimmten ihn diese Beispiele nachdenklich. »Es mag schon stimmen, was Sie da von vergangenen Expeditionen erzählen«, erwiderte er bedächtig, »nur haben Sie vergessen, daß
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es im All weder Inseln noch Packeis, noch ein rettendes Seil gibt. Nehmen wir einmal den extremsten Fall an. Nehmen wir an, sie wären durchgekommen, ihr Labor intakt geblieben. Nach meinen Berechnungen, die zwar hypothetisch, aber nicht ausgeschlossen sind, müßte sich die ›Darwin‹ der Sonne bis auf hundert Millionen Kilometer nähern. In dieser Entfernung bewegt sich die Venus auf ihrer Bahn.« Shagan sah sie bedeutungsvoll an, dann fügte er hinzu: »Das ist die eine Seite, was sich jedoch niemals ermitteln lassen wird, das ist der Bahnverlauf selbst. Sie melden sich nicht, und das spricht zunächst gegen meine These, sie bleiben unsichtbar und unhörbar…« Schweigen. Der Professor hatte die Hände auf den Rücken gelegt und wanderte auf und ab. Nanga lag eine Erwiderung auf den Lippen. Sie wußte, daß er recht hatte, daß es kaum eine Überlebenschance für die sechs gab, doch darum ging es ihr in diesem Augenblick gar nicht mehr. Warum gab Shagan seine Überlegungen nicht weiter? Es war ja nicht nur Gedankenspielerei, auch wenn er so tat, als sei die Angelegenheit für ihn längst erledigt. Und wenn seine These stimmte - hatten Tote kein Recht auf die Erde? Nanga trat auf ihn zu. »Bitte, Professor Shagan, unternehmen Sie etwas.« »Was? So lassen wir doch endlich das Thema.« »Sie haben Angst, das ist der wirkliche Grund.« Er sah sie betroffen an. »Wovor sollte ich Angst haben?« »Sie fürchten die Auseinandersetzung, Sie denken an Professor Sjögren, dem Sie vor Jahren in einer anderen Sache unterlegen waren. Warum nehmen Sie diese Geschichte noch immer so persönlich?« Nanga hatte ins Schwarze getroffen. »Ich nähme das persönlich?« rief er erbost. «Hat nicht Sjögren die Sache damals auf eine persönliche Ebene gebracht? Es kommt die Zeit, da wird meine Theorie vom ›Pränuntius‹ anerkannt werden, warten Sie, bis die Raumfahrt weiterentwickelt ist. Ceres, Pallas, Juno, Vesta, Eros - und wie sie alle heißen -, diese Planetoiden werden den Beweis erbringen. Die nächste Generation wird mich rehabilitieren.« In einer anderen Situation hätte Nanga sein komisches Pathos belustigt, jetzt erweckte sein gekränkter Ehrgeiz nur ihren Ärger. Sie
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antwortete kühl: »Sollte sich Ihre These über die ›Charles Darwin‹ als richtig erweisen, dann wird die kommende Generation Ihren Namen gewiß nicht mit Achtung aussprechen.« »Gut«, sagte er knurrig, »denken Sie, was Sie wollen. Für mich ist das Thema beendet.« Nanga erhob sich ebenfalls. Ruhig, als verkünde sie die selbstverständlichste Sache von der Welt, sagte sie: »Bitte, nehmen Sie zur Kenntnis, daß ich hiermit meine Stellung auf Manik Maya kündige. In einer halben Stunde erhalten Sie diese Kündigung schriftlich.« »Der Teufel hole Sie!« schrie er, »gehen Sie, heute noch, aber zu Fuß!« Nanga machte kehrt. Als sie die Türklinke schon in der Hand hatte, rief er sie zurück. »Was fällt Ihnen ein?« Sie hob die Schultern und blieb unschlüssig stehen. »Was ist in Sie gefahren?« knurrte er. »Bitte die Gründe für Ihre Kündigung, ich möchte sofort die Begründung hören!« Sie hatte Angst, er könnte das Pochen ihres Herzens hören. Der Gedanke, Manik Maya zu verlassen, beschäftigte sie schon seit Monaten. Ihn jedoch grade jetzt auszusprechen, war eine Art Notwehr gegen seinen Gleichmut, und sie wußte, daß sie nun nicht mehr zurück konnte. Aufatmend sagte sie: »Sie kennen meine Begründung, Professor Shagan. Was ist eine Wissenschaft noch wert, wenn sie die Gesetze der Moral und Humanität mißachtet? Wenn Sie diese Entdeckung verschweigen, habe ich hier nichts mehr zu tun.« »Großer Mimen Donnerwort«, brummte Shagan, »ein wahrer Götterspruch, es ist zum Lachen. Das mit der Kündigung ist doch nicht Ihr Ernst?« »Mein voller Ernst.« »Das ist Erpressung«, sagte er, »warum habe ich nicht den Mund gehalten? Ich habe Vertrauen zu Ihnen gehabt. Ich bin enttäuscht von Ihnen, Nanga, bitter enttäuscht.« Seine Klagen beruhigten sie, und sie mußte unwillkürlich lächeln, als Shagan anfing, über das gute Arbeitsverhältnis auf Manik Maya zu sprechen. So verlockend, wie er es darstellte, war es durchaus nicht. Als er auf seine Ausführungen keine Antwort bekam, forderte
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er sie brummig auf, Platz zu nehmen. »Wie stellen Sie sich die Sache eigentlich vor?« Sie sagte: »Ganz einfach. Sie fliegen mit der nächsten Maschine nach Prag zur Obersten Raumbehörde und tragen dort Ihre These vor.« »Ja, natürlich, das ist ganz einfach«, spöttelte er, »ich fliege ein paar tausend Kilometer zu einem Schwatz nach Prag. Wie sich das in Ihrem Köpfchen so darstellt…« Er war konsterniert und suchte nach Worten. »Sagten Sie nicht einmal, daß ein ehemaliger Studienfreund von Ihnen der Obersten Raumbehörde angehört?« Shagan nickte. »Studienfreund - das ist lange her. Wir haben uns eine Ewigkeit nicht gesehen. Aber Dschingis-Khan versteht etwas von Festigkeitswerten. Ich meine natürlich Doktor Boros - er hieß bei uns immer Dschingis-Khan. Seine Kenntnisse sind für meine Theorie ganz unwesentlich, denn ich bin überzeugt, daß sich die ›Darwin‹ selbsttätig beschleunigt hat. Immerhin…« Er vollendete den Satz nicht. »Wann werden Sie fliegen?« »Davon war überhaupt nicht die Rede«, äußerte er unwillig. »Dann werden Sie ohne mich auskommen müssen«, sagte sie. Einen Moment sah es aus, als wollte er wieder aufbrausen, doch dann blieb er resigniert vor ihr stehen. »Sie haben den Zeitpunkt klug gewählt. Einer im Krankenhaus, der andere auf Krankenbesuch. Und ich hier allein. Nanga, das können Sie mir nicht antun…« Nanga wußte, daß sie ihren Willen durchgesetzt hatte. Sie ließ sich nichts anmerken und sagte ruhig: »Es liegt bei Ihnen, Professor, ob ich bleibe.« Shagan murrte noch eine Weile. In Wahrheit jedoch war er mit dieser Wendung gar nicht so unzufrieden. Nanga hatte einen Teil seiner Zweifel beseitigt und seinen Ehrgeiz geweckt. Er holte die angefangene Weinflasche und zwei Gläser aus dem Schrank und sagte seufzend: »Sie sollen Ihren Willen haben, ich werde Ihnen zuliebe den Don Quichotte spielen, aber Sie übernehmen die Rolle des Sancho Pansa, Sie werden mich begleiten.« Sein Vorschlag überraschte Nanga nicht; sie hätte ihm sogar ihre Unterstützung angeboten. Befriedigt sagte sie: »Sie können auf mich rechnen, Professor Shagan.«
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»Das werden wir sehen«, brummte er und füllte die Gläser. »Sobald einer der beiden Urlauber zurück ist, fliegen wir. Bis dahin werden wir noch etwas rechnen.« Shagan hob das Glas. »Trinken wir auf Ihren Optimismus.« Als sie mit ihm anstieß, fügte er hinzu: »Und auf meinen Irrtum.«
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IV Damar Wulan, der mandeläugige Assistent Shagans mit dem knochigen Gesicht und den wulstigen Lippen, war nach Manik Maya zurückgekehrt. Er kam mit einer traurigen Nachricht wieder; seine Mutter war gestorben. Noch wußte der trauernde Damar nichts von den phantastischen Überlegungen seines Chefs, und er war jetzt auch nicht in der Stimmung, andere Probleme aufzunehmen. Aber Professor Shagans und Nangas Koffer waren bereits gepackt, die Plätze für den Flug gebucht. Nanga sprach ihrem Kollegen Trost zu, und der Professor philosophierte über das Leben und gab weise Sprüche von sich. Doch es half alles nichts, sie mußten ihn von ihrem Vorhaben unterrichten, und Shagans These konnte ihn vielleicht etwas von seinem privaten Kummer ablenken. Bevor Damar als Astrophysiker nach Manik Maya kam, war er selbst ein Jahr lang Kosmonaut gewesen. Er hatte in einem physikalischen Observatorium auf einer Kreisbahn gearbeitet. Damar wäre gern bei dieser Tätigkeit geblieben, aber er fügte sich den Bitten seiner Mutter, die bei jedem Aufstieg um das Leben ihres Sohnes gebangt hatte. So konnte Damar wie kein anderer auf Manik Maya die Überlegungen des Professors beurteilen. Als Shagan ihn von seiner Entdeckung unterrichtete, schüttelte der stille Polynesier nur den Kopf, als weigere er sich, dem Gedankenflug seines Chefs zu folgen. Shagan breitete die Karte aus, verlas Zahlen und Daten und demonstrierte den Verlauf der Katastrophe auf dem Papier. Damar sagte eine Weile nichts. Man war auf Manik Maya diese Ruhe von ihm gewohnt. Ungeduldig fragte Shagan: »Was meinen Sie dazu, Damar? Sie halten diese These auch für unsinnig, nicht wahr?« Damar starrte auf die Zahlen und Kurven. Endlich sagte er leise: »Ja, ich halte sie für unsinnig.« »Sehen Sie, Nanga!« rief Shagan, »und er versteht mehr von dieser Materie.« 37
Erstaunt wandte sich Damar an seine Kollegin. »Du glaubst daran?« Nanga erwiderte: »Ich halte sie für wichtig genug, um sie zur Debatte zu stellen.« »Ich nicht«, bemerkte Shagan, »aber sie hat mir mit Kündigung gedroht, ich bin erpreßt worden.« Damar vertiefte sich erneut in Shagans Berechnungen. Fast eine halbe Stunde rührte er sich nicht. »Was spricht eigentlich dagegen?« unterbrach Nanga das Schweigen. Damar sagte: »Es ist schwer, darüber etwas zu sagen. Wer will das heute noch nachprüfen? Hoffentlich behalten sie unrecht, Professor Shagan.« »Ich habe jede Lust verloren, nach Prag zu fliegen«, murrte dieser. Nanga verteidigte seine These. »Wenn sie in allen Punkten richtig ist, gäbe es sogar noch die Chance, sie zu retten…« Damar stand auf und wanderte ein paar Schritte hin und her. »Wenn sich die These als richtig erweisen sollte, dann wäre die ›Darwin‹ ein Sarg. Das Labor nützt ihnen gar nichts. Essen und Trinken sind nur das eine. Aber wie könnten sie über Monate in einer absoluten Lautlosigkeit leben? Wie könnten sie existieren ohne Morgen und Abend - und ohne Arbeit. Und dann das Wissen, niemals wieder zurück zu können…« »Aber du hast auch Wochen auf einer Kreisbahn zugebracht«, wandte Nanga ein. »Gewiß«, antwortete Damar, »auf einer Kreisbahn. Von dort aus kann man die Städte und Wälder, die Flüsse und Seen erkennen. Auf diesen Kreisbahnobservatorien gibt es Radio und Telefon, und man kann jederzeit zur Erde zurück. In der ›Darwin‹ aber würde die Zeit Ewigkeit werden. Sie wäre sinnlos geworden. Und sie könnten die Erde nur noch als Stern unter Sternen sehen. Nein, Professor Shagan, wenn Ihre Überlegungen richtig sind, dann kann man nur noch nach Toten - oder Wahnsinnigen suchen…« »Dann muß man eben nach Toten suchen«, sagte Nanga beherrscht. Aus dem Tal drang das Brummen des Hubschraubers zu ihnen. »Machen wir uns fertig, Nanga.« Professor Shagan ging hinaus.
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Nanga wollte ihm folgen, aber Damar bat sie, noch einen Augenblick zu bleiben. Er ergriff ihre Hand. »Ich werde oft an dich denken, Nanga, wenn du in Europa bist.« Sie erwiderte nichts. »Warst du schon einmal dort?« »Nein«, sagte sie, »es wäre mir auch lieber gewesen, unter anderen Voraussetzungen dort zu sein.« Sie entzog ihm ihre Hand; es war ihr unangenehm, jetzt mit ihm allein zu sein. Damar kramte ein kleines Buch aus den Papieren seiner Aktentasche. »Ich habe es unterwegs gekauft - lies es auf der Reise.« »Danke«, sagte sie und verbarg das Buch. Sie wußte, woran er jetzt dachte. Der Hubschrauber befreite sie von seinen Werbungen. Sie waren in Djakarta in eine Stratosphärenmaschine gestiegen, die bis Prag durchflog. Als die Wolken unter ihnen lagen, sagte Shagan verdrossen: »Nun haben Sie Ihren Willen endgültig durchgesetzt, jetzt gibt es kein Zurück mehr. Doktor Boros wird das Telegramm schon in den Händen halten, und morgen oder übermorgen lacht man mich aus, und alles verdanke ich nur Ihnen.« Er gefiel sich in diesen düsteren Prophezeiungen, und Nanga ließ ihn reden. Sie sah zum Bordfenster hinaus. Über ihnen war es strahlend hell. Die Stewardeß servierte Kaffee und Gebäck. Professor Shagan überflog eine Tageszeitung. »Sie haben zwei Mann hochgeschickt«, sagte er. Nanga sah ihn verständnislos an. »Wer hat hochgeschickt?« »Gestern«, sagte Shagan und deutete auf eine Überschrift in der Zeitung, »die Amerikaner. Sie probieren ein neues Raumschiff aus. ›Darling of Stars‹ - Liebling der Sterne - bescheiden waren sie in der Namensgebung noch nie.« »Wollen sie etwa zum Mond?« erkundigte sich Nanga. »Bewahre. Sie wollen über die Mondbahn hinaus. Liebling der Sterne…« Der Name belustigte ihn. Eine ganze Weile schwiegen sie. Shagan trank, in Gedanken versunken, seinen Kaffee und malte sich die bevorstehende Begegnung aus. Ihm war noch immer nicht wohl bei dieser Reise und ihrem Vorhaben. Nanga hatte das kleine Buch hervorgeholt, das ihr Damar als Reiselektüre mitgegeben hatte. Es enthielt Gedichte. Als sie die Seiten durch die Finger gleiten ließ, fiel ihr eine Strophe auf, die Damar mit einem Bleistift dick angestrichen hatte:
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Im Morgentau, den die Sonne zum Diamanten gemacht. Ist das Ahnen kommender Freude. Sie spürten wir beide. Seine Reinheit strahlt wie der Glanz deiner Augen, Seine Frische ist die Grazie deiner Gestalt. Dahin eilt die Zeit, der Schatten wird kürzer; Und Sehnen und Freude verdorren in sengender Glut. Nanga klappte das Buch zu und verbarg es in der Reisetasche. Damars Hartnäckigkeit beunruhigte sie. Sie flogen in zwanzig Kilometer Höhe. Shagan hatte sich in sein Polster vergraben und bereitete sich auf seine Aufgabe vor, und je mehr Zeit verstrich, desto unruhiger wurde er. Er blinzelte zu Nanga hinüber, die mit geschlossenen Augen vor sich hin träumte. »Schlafen Sie?« erkundigte er sich leise. Sie wandte den Kopf. »Nein. Sind wir schon angelangt?« »Es dauert noch ein Weilchen.« Er wollte sich ablenken und sprach von den bevorstehenden Aufgaben auf Manik Maya. »Hoffentlich hat Damar nicht vergessen, die Aufnahmen im Gygnusbogen vorzubereiten. Im Alatau-Gebirge warten sie seit Wochen darauf.« Nanga antwortete nicht. Sie war in Gedanken schon in Prag und dachte: Ich wünschte, man könnte seine Theorie ad absurdum führen, dann wäre wenigstens diese gräßliche Vorstellung aus der Welt. »Die Arbeit wird ihm guttun«, fuhr Shagan fort, »so kommt er leichter über sein Unglück hinweg. In einer Woche sind wir wieder zu Hause. Vielleicht finden Sie Zeit, sich in Europa etwas umzusehen…« »In einer Woche? Dazu brauchte ich wohl ein Jahr.« »Das könnte Ihnen passen«, brummte Shagan, »aber was würden Sie zu einigen Ausflügen sagen? Es gibt in Europa viel zu sehen. Prag allein schon vermittelt einen Hauch vergangener Jahrhunderte. Von dort ist es nur ein Sprung nach Budapest. Und Weimar sollte man gesehen haben…« »Es wäre herrlich!« rief sie überschwenglich. Sie hatte es nicht gewagt, diese Wünsche zu äußern, und war ihm dankbar, daß er sich nun selbst anbot, sie zu führen. Als er ihre naive Freude bemerkte, wurde er ironisch. »Natürlich«, spöttelte er, »Sie gehören zu den
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Menschen, denen beim Anblick des nächtlichen Sternenhimmels Gedichte in den Sinn kommen, das kenne ich von Manik Maya…« »Was haben Sie gegen Gedichte?« »Nichts«, antwortete er, »aber Kantjil erscheint mir mitunter realistischer als Sie. Bei unserer Abreise hat sie zwar Europa mit dem Nordpol verwechselt und mir allerlei Hausmittel gegen Erkältung empfohlen, aber bei ihr bleiben die Emotionen wenigstens in einem gesunden Verhältnis zur Vernunft. Warum haben Sie nicht Literatur- oder Kunstgeschichte studiert, Nanga?« Verstimmt antwortete sie: »Weil es mir ein Bedürfnis war, an Ihrer Seite arbeiten zu dürfen. Aber vielleicht hole ich dieses Studium nach.« Es machte Shagan Vergnügen, seine Assistentin ein wenig zu irritieren. Möglich, daß er sich selbst ablenken wollte, der tiefere Grund jedoch war ihre Kündigung, mit der sie ihm so unvermutet gedroht hatte. Shagan kompensierte seine Verstimmung darüber auf seine Weise. »Ja«, fuhr er ironisch fort, »Sie gehören zu den Menschen, die bei den Gebeinen der toten Weisen melancholische Sprüche zitieren und bei den Klängen der Neunten Symphonie das kindliche Bild der umschlungenen Brüder vor Augen haben. Sie passen eigentlich gar nicht so recht in diese Welt…« »Ja, ich weiß«, sagte sie, »um so besser passen Sie hinein. Sie sind eine Anhäufung von Molekülen und mathematischen Gleichungen.« Sie zog demonstrativ Damars Gedichtband hervor. »Danke, schwarzhaariges Goldengelchen. Es war gut, daß Sie mitgekommen sind. Sie werden Ihre Naivität früh genug verlieren - spätestens in zwei, drei Tagen. Ich bin neugierig, was Sie dann sagen werden. Sehen Sie zum Bordfenster hinaus, wir haben die Grenze erreicht. Europa liegt unter uns.« Nanga folgte seinem Blick, konnte jedoch nur Wolkenfetzen erkennen, zwischendurch eine eintönige, graue Fläche. »Ein schönes Gefühl, nicht wahr?« spöttelte Shagan weiter. »Das Land der Weisen, ein ganzes Buch ließe sich mit erlauchten Namen füllen. Der Vollständigkeit halber müßte man dann jedoch auch die andere Seite erwähnen, den Faschismus zum Beispiel. Bringen Sie das einmal zusammen: Ihre angebeteten Dichter und Komponisten
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auf dem goldenen Thron der Ewigkeit - und zu deren Füßen die Ruinen der Gaskammern, die Berge von Knochen und Menschenasche. Denken Sie daran, wenn Sie vor den Grabkammern der Weisen stehen.« Sie sagte: »Es sind nicht nur in Europa Kriege geführt worden. Ihre Bemerkungen treffen auch auf andere Kontinente zu. Der größte Feind des Menschen war immer der Mensch selbst.« »Eben, immer. Auch heute noch, Prinzeßchen.« »Bitte nennen Sie mich nicht so«, sagte sie streng. »Im übrigen wissen Sie so gut wie ich, daß die Feindschaft der Menschen untereinander keine Charaktereigenschaft ist, sondern mit den Besitzverhältnissen zusammenhängt.« »Das ändert nichts an Ihrer Feststellung«, antwortete er, »und wenn wir jemals mit vernunftbegabten Wesen von anderen Planeten in Berührung kommen sollten und sie uns die Geschichte ihrer Entwicklung erzählen, so werden wir vermutlich unsere eigene Geschichte hören.« »Sie meinen, daß die Entwicklung des Lebens überall ähnlich verlaufen müßte?« »Ja, immer und überall«, erwiderte er überzeugt, »ich bin lediglich skeptisch, ob es je zu einer Begegnung mit außerirdischen vernunftbegabten Lebewesen kommen wird.« »Weshalb sollte die Entwicklung auf anderen Planeten in anderen Welten nicht anders, friedfertiger verlaufen?« Shagan antwortete lächelnd: »Sie haben mich vorhin eine Anhäufung von Molekülen genannt - darin steckt ein richtiger Gedanke. Ehe sich nämlich die Menschen, eben diese Komplikation der Materie, ihrer sozialen Lebensform bewußt werden, müssen sie auch das ganze Dilemma der Entwicklung und Reife dieser völlig amoralischen Materie durchmachen. Am Anfang steht das Gesetz der Erhaltung der Art - das finden Sie schon beim alten Darwin -, ohne diesen Trieb kann sich kein Lebewesen entwickeln.« »Trotzdem, die Tiere töten sich nicht gegenseitig«, wandte Nanga ein, »wenigstens nicht ihre eigene Art. Weshalb sollte das nicht auch auf anderen Planeten bei höher entwickelten Lebewesen möglich sein?« Shagan verzog das Gesicht. »Am liebsten würde ich jetzt laut
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auflachen. Wie könnten sich die Tiere gegenseitig vernichten? - Hat doch ihr Gehirn nur eine primitive Entwicklungsstufe erreicht. Sie fallen sich nur dann gegenseitig an, wenn sie Hunger haben. Wären sie in der Lage, sich Werkzeuge zu schaffen, so würden sie schnell danach trachten, jemanden zu finden, der diese Werkzeuge bedient. Von diesem Schritt zur ersten kleinen Fabrik ist es dann nicht mehr weit. Diese Entwicklung war notwendig - ohne sie befänden wir uns noch heute in der Steinzeit. Und damit verbunden ist die gesamte Kulturgeschichte der Menschheit; sie basierte auf der Herrschaft des Menschen über den Menschen - und das ist zu einem Teil noch heute so. Jahrtausende haben wir im Tierreich gelebt, und die barbarischen Gesetze der Wildnis haben die Völker bis ins zwanzigste Jahrhundert beherrscht. Wann Kriege auch immer geführt wurden - es waren stets materielle Interessen, die sie auslösten. Doch das wissen Sie selbst, Nanga.« Nanga wollte antworten, doch sie schwieg, als sie sein spöttisches Lächeln bemerkte. Es war seine Art, alles, selbst seine eigenen Erkenntnisse, mit ironischer Skepsis zu betrachten. Er konnte mitunter geistreich sein oder eine erstaunliche Logik entwickeln, doch immer hatte sie das Empfinden, daß er weder sich noch seine Umwelt ernst nahm. So war es auch jetzt, als er nach einer Pause bemerkte: »So ist das, Goldengelchen, und das alles hat weder etwas mit Moral noch mit Ethik zu tun. Der Weg aus dem Tierreich ist verdammt langwierig; zurück wäre es bedeutend einfacher. Ein neuer Weltkrieg - und die Menschheit springt ins Tierreich zurück. Die ganze in Jahrtausenden entwickelte Moral wäre zum Teufel…« »Widerspräche das nicht allen Entwicklungsgesetzen der Natur?« »Sie besitzen ein ausgeprägt entwickeltes Wunschdenken«, spöttelte Shagan. »Es mag Leute geben, denen diese Deutung nicht paßt, aber gerade dieses ›Es wird alles nicht so schlimm werden‹ ist in unserm Zeitalter, da wir kosmische Energien auf der Erde fesseln, die gefährlichste von allen Illusionen. Nein, Prinzeßchen, eine auch nur zum Teil radioaktiv verseuchte Erde läßt die Menschheit in wenigen Jahren aussterben…« Shagan schwieg und sah auf den Höhenmesser der Maschine.
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Der Zeiger drehte sich langsam. »Wir sind angekommen, machen Sie jetzt ein etwas freundlicheres Gesicht, denn in fünf Minuten stelle ich Ihnen Doktor Boros vor.« Die Fluggäste wurden aufgefordert, sich anzuschnallen.
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V Ein verlorengegangener Tropfen des großen Feuers - daraus wurde die Erde. Als die Elemente sich zusammenfügten, wurde aus dem Feuer das Leben, aus dem Leben der Mensch. Das Feuer ist in ihm geblieben; er grub, forschte, analysierte und schuf sich, was ihm nützlich dünkte: Werkzeuge und Waffen, Häuser und Schiffe, Giftgas und einen Gott nach seinem Bilde, Tabakspfeifen und Brillengläser und auch Seife, um sich vom Schmutz zu reinigen. Doch da ist noch etwas in ihm, was der Reinigung bedarf, und dafür gibt es keine Seife. So ist er noch immer, was er von Anbeginn war: nicht gut, nicht schlecht, ein Stück Dreck, ein Stück Natur, ein Teil der Materie, groß wie ein Riese, klein wie die winzigste Mikrobe, furchtsam wie ein Wurm, todesverachtend hoffend und verzweifelnd, Teufel und Gott, Sklave, Herrscher und Aufrührer. Ein Suchender, zu schwach, um seine Begierde zu bezähmen, zu stolz und zu stark, um auf seine naturgegebenen Vorrechte zu verzichten. Ein Tropfen Kain, ein Tropfen Abel. Der Mensch ist Natur wie die interstellare Materie, wie die Protuberanzen der Sonne, doppelgesichtig wie das Proton, das Elektron und all die anderen kreisenden Teilchen, von deren Existenz nur er allein Kenntnis besitzt. Er ist ein Stück Natur wie die Maus, wie die Spinne, der Waschbär, der Sperling oder auch der Wasserfloh. Und doch ist er anders. Der Mensch haßt und liebt und fragt: Warum? Der Mensch mißt und rechnet und fragt: Wieviel? Der Mensch sucht. Er sucht auf der Erde, in der Luft, auf dem Meeresgrund und in den Weiten des Kosmos; und er findet immer wieder das gleiche: Teile seiner selbst. Er hört nicht auf zu suchen, denn von Anbeginn bis zum Ende sucht er sich selbst, seinen Ursprung und sein Ebenbild. Und das ist mehr als Kinder zeugen oder essen und trinken. Und darum ist er mehr als Dreck, mehr als nur Materie, mehr als die Mikrobe, die Maus, die Spinne, der Waschbär, der Sperling, der Wasserfloh; mehr 45
als das doppelgesichtige Proton, die interstellare Materie und die Protuberanzen der Sonne. Denn er kann rechnen und messen, wiegen und denken, und das höchste Denken besteht im Erkennen seiner selbst. Er wird nicht aufhören zu suchen, bis er das Echo seiner Stimme, sein Spiegelbild gefunden hat. Die Oberfläche aller sechs Kontinente ist ein Gewirr von Drähten, von geometrischen Formen und geheimnisvollen Zeichen. Nahe dem Städtchen Aulie Ata, auf dem Hochplateau des AlatauGebirges, erstreckt sich auf einer Gesamtlänge von siebzehn Kilometern eines der Hauptzentren für Radioteleskopie. Zwei Wasserkraftwerke speisen die Sende- und Empfangsanlagen, die teils aus Antennensystemen, teils aus beweglichen Paraboloiden bestehen, deren größter einen Durchmesser von einhundertachtundneunzig Metern besitzt. Die Impulse, die mit diesen Anlagen gesendet werden kommen aus einem kleinen, weißgetünchten Haus, und sie laufen auch hier beim Empfang von Signalen zusammen. Auf einigen Dutzend Meßinstrumenten geben lautlos pendelnde Zeiger, Lichtkurven und punkte die empfangenen Zeichen an. Nur ein Sprung von diesem Gehirnhaus entfernt, wohnen die beiden Leiter dieser Verbindungszentrale zwischen Erde und Kosmos, Bert Bergensen und Wassili Afonin. Seit Monaten arbeiteten die Mitarbeiter dieses Radiozentrums mit spannungsgeladener Energie. Seit Monaten waren sie angefüllt mit mystischer Hoffnung und wissenschaftlicher Neugier. Neue Radioquellen waren im Kosmos entdeckt worden. Sie hatten Zeichen empfangen, die vielleicht von vernunftbegabten Wesen gesendet worden waren. Es gab Hunderte solcher Radioquellen - war ihre Existenz eine Laune der Natur, ein Zufall? Die riesigen Radioteleskope waren auf den Kosmos gerichtet, und in jeder Sekunde wurden Tausende Zeichen registriert und aufgezeichnet. Das Hauptzentrum für Radioteleskopie war ein gigantisches Ohr - das größte der Welt, hätte Afonin gern gesagt, doch in North Carolina, auf der anderen Seite der Erdkugel, befand sich ein ebenso großes Lauschgerät, und auch dort waren die Wissenschaftler Tag und Nacht bereit, endlich aus dem
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rätselhaften Gemurmel des Alls Stimmen der Vernunft herauszuhören. Bis jetzt war keines der empfangenen Zeichen entziffert worden. Die Empfangsgeräte pendelten auf den Wellenlängen zwischen drei und zehn Zentimetern, doch was empfangen wurde, erwies sich als unentzifferbar und hatte mit einer Willenskundgebung fremder Lebewesen nichts zu tun. Aus den Tiefen des Universums drang die Stimme des Chaos zur Erde. Diese Stimme erzählte vom Aufbau der Materie und von der Flucht der Sterne. Vergeblich suchten Afonin und Bergensen in den Zeichen, die singend und krächzend, pochend, dröhnend und kratzend aus dem Kosmos kamen, die Vernunft herauszuhören. Sie lauschten und warteten auf Signale, die kundtaten: Wir leben! Wir denken! Wir wohnen auf einer Himmelskugel ähnlich der euren! Wir kennen den Aufbau der Materie und wissen, daß ihr seid, wie wir selbst sind! Wir haben eure Signale empfangen, antwortet uns. Die beiden glichen dem Dichter, der suchend und grübelnd zum Firmament aufsah und dabei die Worte fand: All meine Pulse lauschen, Ob mir nicht ein hoher Wille - Ein Geheimnis dieser Erde, Nicht ein Rätsel vom Entstehen - Und vom Werden und Vergehen - Irgendwie erschließen werde… Es waren Zeichen aufgefangen worden, die hoffen ließen. Jeden Tag konnten neue Impulse ankommen, deutlicher vielleicht, klarer. Afonin und Bergensen glaubten an die Duplizität der Vernunft. Auch sie hatten Zeichen ausgesendet, vor Jahren schon. Sie konnten noch in einer Sphäre von neun Lichtjahren aufgefangen werden. Die ausgesandten Impulse waren simpel und gleichförmig und stellten keine außergewöhnlichen Anforderungen an den erhofften Intellekt der Adressaten. Sie ergaben, entschlüsselt, einfache geometrische Figuren und mathematische Zeichen, die im ganzen Universum Gültigkeit besaßen. In neun Lichtjahren Entfernung befanden sich einige Sterne des »Großen Hundes«. Alles deutete darauf hin, daß der Sirius von Planeten umkreist wurde. Waren sie bewohnt? Die Erde hatte sich gemeldet, aber die Antwort aus dem Weltenraum blieb aus. Afonin und Bergensen waren nicht zu erschüttern. Einmal, daran glaubten
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sie fest, würden die elektronischen Aufzeichnungen ein sinnvolles Diagramm ergeben. Einmal - wann? Es konnte täglich geschehen, heute oder morgen… Mitten in der Nacht wurde Afonin aus dem Schlaf gerissen. Als er den Telefonhörer abnahm, meldete sich der diensthabene Ingenieur. North Carolina wünschte zu sprechen. Am Ende der Leitung war sein amerikanischer Kollege Gregg Duggan, mit dem er gut befreundet war. Sie kannten sich von zahlreichen Kongressen und tauschten regelmäßig ihre Erfahrungen und Beobachtungen aus. Nachdem sich die beiden Wissenschaftler begrüßt und die übliche Frage nach dem Wetter gestellt hatten, kam Duggan auf sein Anliegen zu sprechen. In North Carolina waren Signale auf einer Frequenz von 640,3 Megahertz empfangen worden. Duggan wollte nun von Afonin wissen, ob diese Signale von einer alten Raumsonde stammen könnten, die, mit Sonnenbatterien ausgerüstet, auf dieser Frequenz sendete. Im amerikanischen Verzeichnis der Sonden und Raumschiffe war diese Frequenz unbekannt. Es gab auf beiden Seiten Forschungssonden, deren Starts nicht offiziell bekannt waren. Afonin war sicher, daß er den Absender der Signale finden würde. Es wäre auch nicht das erste Mal gewesen, daß ein vor vielen Jahren gestarteter Sputnik auf eine Sonnenbahn gelangte und dann nach einem Umlauf in Erdnähe wieder automatisch seine Impulse ausstrahlte. Theoretisch konnte sich das in regelmäßigen Abständen jahrhundertelang wiederholen. Im Verzeichnis waren einige Dutzend solcher künstlichen Satelliten eingetragen. Doch zu seiner Verblüffung stellte Afonin fest, daß keiner von ihnen auf dieser Frequenz senden konnte. Er teilte das Ergebnis Duggan mit. »Ein Phänomen«, sagte Duggan, »vielleicht bekommen wir Besuch aus dem Weltenraum.« Das war ein Witz, aber Afonins Interesse war geweckt. Er ließ sich die Koordinaten angeben und beauftragte die Ingenieure seiner Station, in diesem Gebiet zu suchen. Dann weckte er seinen Kollegen Bergensen und begab sich zur Empfangsstation. Dort waren inzwischen alle Vorbereitungen getroffen worden, doch im Verstärker knackte und raschelte es nur. Bergensen kam auf Filzpantoffeln in die Zentrale. Er gähnte und sagte müde: »Wer weiß,
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was Duggan gehört hat. Sie sollten lieber ihren Amateurfunkern das Experimentieren verbieten.« Eine ganze Weile war nur das Rauschen und Knacken zu hören. »Ich habe neulich gelesen, daß ein bedeutender Elektro-Konzern eine Vierstufenrakete zusammengebaut und auf eine Kreisbahn gebracht hat«, brummte Bergensen. »Es wird höchste Zeit, daß man diese Privatforschungen unterbindet. Jede Firma ihren eigenen Sputnik - und alles funkt fröhlich durcheinander.« »Aber es gibt keinen Sender, der auf dieser Frequenz ausstrahlt«, murmelte Afonin, »das ist das merkwürdige an der Sache.« Bergensen zeigte sich wenig interessiert. »Wenn sich etwas auf der Wellenlänge zwischen drei und zehn Zentimetern bemerkbar macht, kannst du mich wieder wecken.« Er gähnte erneut laut und anhaltend und wollte hinausschlürfen, als ihn ein Ausruf Afonins zurückeilen ließ. In dem Rauschen, das aus dem Verstärker drang, waren schwach Signale zu hören. Ein Tonband nahm die Zeichen auf. Fast eine Minute lang waren die Signale wahrnehmbar, dann wurden sie von den atmosphärischen Störungen überdeckt. Sie blieben bis zum Morgengrauen in der Zentrale. Auch Duggan, den sie in der Nacht noch einmal verständigt hatten, wußte nichts Neues zu sagen. Er hatte sie ebenfalls noch einmal empfangen. Erneut überprüften sie alle in Frage kommenden Satelliten und Sonden - nirgendwo gab es einen Sender, der auf dieser Frequenz ausstrahlte. Es war rätselhaft, denn aus den Tiefen des Alls konnten die Signale nicht kommen. Sie mußten in Erdnähe, wenigstens aber innerhalb des Sonnensystems ausgestrahlt worden sein, es sei denn, ein unbekanntes Raumschiff näherte sich der Erde. Doch dieser Gedanke war absurd, denn ein Raumschiff, aus fernen Welten kommend, hätte andere Möglichkeiten gehabt, sich bemerkbar zu machen. Das Suchen blieb auch in den folgenden Tagen erfolglos. Vergeblich photographierte man mit Spezialkameras Grad um Grad der betreffenden Himmelsgegend, vergeblich waren auch die Nachforschungen der Kreisbahnobservatorien. Die Rechenzentren hatten aus den empfangenen Zeichen ein paar Buchstaben übersetzt - niemand konnte etwas damit anfangen. So kamen die beiden Wissenschaftler
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und auch ihr amerikanischer Kollege zu der Schlußfolgerung, einer Täuschung unterlegen gewesen zu sein. Bergensen schrieb später für die Fachzeitschrift »Apsiden« einen kleinen Artikel darüber, in dem er auf Echosignale hinwies, deren Ursprung wahrscheinlich auf der Erde selbst zu suchen war. Man vergaß die Zeichen und die schlaflose Nacht. Afonin und Bergensen konzentrierten sich weiter auf ferne Radioquellen, auf Stimmen der Vernunft aus dem All und auf eine Antwort aus der Sphäre des Sternbildes »Großer Hund«. War dieses Bemühen sinnlos? Ein halbes Jahrtausend zuvor hatte Kopernikus den religiösen Wahn, die Erde sei der Mittelpunkt des Weltalls, mit seiner Logik zerstört. Drei Jahrhunderte später war es Darwin, der dem Menschen seinen Platz in der Entwicklungsgeschichte der Natur zurückgab. Die Frömmler, die Makler der Angst und der Dummheit, sind still geworden. Nein, es ist undenkbar, daß die Erde in diesem unermeßlichen Sternenmeer der einzige bewohnte Planet ist. Einmal werden die Radioteleskope den Beweis dafür erbringen. Die Stimme, die Vernunft fremder Lebewesen wird zu uns dringen, warnend vielleicht - oder auch belehrend und uns ein neues, besseres Wissen vermitteln. Brüder im Geiste am Firmament. Die Zeichen, die Afonin, Bergensen und Dugan in jener Nacht empfangen hatten, sollten wenige Tage später noch ungeahnte Bedeutung erhalten.
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VI Shagans Überlegungen hatten bei Doktor Boros keine Begeisterung erwecken können, und Kantjil schien recht gehabt zu haben, als sie den Nordpol mit Europa verwechselt hatte. Das europäische Klima bekam Shagan nicht. Der Gelehrte von Manik Maya hustete jammervoll, er hatte Fieber und wollte zu seinen Bergen zurück. Doch die bevorstehende Sitzung in der Obersten Raumbehörde ließ sich nicht mehr rückgängig machen. Nanga floh vor dem dräuenden Alten, ließ sich von Doktor Boros die goldene Stadt zeigen. Sie hatten nicht viel Zeit, hasteten durch die engen Straßen der Altstadt, verweilten in der Teynkirche vor der Grabplatte Tycho Brahes, vor der Uhr am alten Prager Rathaus und vor anderen Kulturdenkmälern. Doktor Boros kannte alle geschichtlichen Daten und alle Geheimnisse dieser Stadt, in den Gassen spukten Geschichten und Sagen. Manches blieb Nanga fremd wie der Satz: »Servit je vúl«, den jemand an eine alte Häuserwand gekritzelt hatte, und die wenigen Stunden reichten nicht aus, um ein rechtes Bild von diesem Zentrum Mitteleuropas zu erhalten. Im Hotel bemühte sich Shagan, seine Erkältung mit Kognak zu kurieren. Er war recht heiter, als Nanga zurückkehrte, und wollte auch sie zu diesem »göttlichen Gesöff« animieren. Sie weigerte sich und machte ihrem Chef bittere Vorwürfe, wollte schließlich einen Arzt holen, aber Shagan fühlte sich durch seine Radikalkur gesund und verkündete zuversichtlich: »Ich werde wie Galilei vor dem Tribunal stehen und ausrufen: Und sie bewegt sich doch! Ich werde Sjögren mit meiner Logik zermalmen.« Nachdem er noch einige Gläser getrunken hatte, schimpfte er auf Doktor Boros, der ihn nicht unterstützte, klagte Nanga an, und endlich tat die »Medizin« ihre Wirkung. Er schlief ein. Es war ein wenig glücklicher Beginn. Die Oberste Raumbehörde, das Zentrum für Raumforschung, bestand erst wenige Jahre. Ihre Einrichtung war notwendig geworden, 51
denn die immer höher gesteckten Ziele der Raumfahrt konnten von einem Land allein nicht mehr finanziert werden. Die Erforschung des nahen kosmischen Raumes verschlang Milliarden und aber Milliarden. So war neben der westlichen Raumfahrtbehörde die Prager Forschungsgemeinschaft entstanden. Der Beitritt zu dieser Raumbehörde stand jedem Lande offen, sofern es bereit war, entsprechend seiner Wirtschaft einen jährlichen Unterstützungsbeitrag zu leisten. Es gab regelmäßige Vollversammlungen der Mitgliedstaaten, wissenschaftliche Symposien, Arbeitsgemeinschaften für spezielle Forschungsaufgaben und andere gemeinsam verwaltete wissenschaftliche Einrichtungen. Auch der Start der »Charles Darwin« war von dieser Obersten Raumbehörde geplant und finanziert worden. Geleitet wurde diese internationale Vereinigung von einem Präsidium, dem Wissenschaftler aus fünf Ländern angehörten. Nach jeweils zwei Jahren mußte dieses Präsidium erneut gewählt werden. Als sich Nanga und Professor Shagan im Sitzungssaal der Raumbehörde einfanden, wurde das Präsidium von Professor Sokolnikow geleitet. Ihm gehörten an die Wissenschaftler Doktor Boros aus Ungarn, Birger Sjögren aus Schweden, Doktor Fischer aus Prag und der Inder Professor Sankarat. Doktor Boros hatte bereits zwei Tage zuvor die Unterlagen überreicht. Die Mitglieder dies Präsidiums waren übereingekommen, noch einige Experten hinzuzuziehen. Nun saßen sie im Sitzungssaal, Nanga besorgt, Shagan nach seinem Rausch vom Vortage ernüchtert und in noch schlechterer gesundheitlicher Verfassung. Er hatte Kopfschmerzen, und das Fieber war auf achtunddreißig-fünf geklettert. Doch Shagan wollte keine Verschiebung, er hatte nur den Wunsch, die Angelegenheit so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Vielleicht hätte Kantjil, die Köchin, mit ihrer gefürchteten Zunge und ihrem einfachen bäuerlichen Verstand ihren Chef mit einem kräftigen Wörtchen von seiner Resignation befreien können, denn sie kannte nicht nur die Kraft gewisser Kräutlein gegen Fieber, Husten und Zehenjucken, sondern vermochte ihren Willen auch mit Donnerstimme durchzusetzen. Seltsamerweise mußte Shagan gerade jetzt,
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da Sokolnikow das Gespräch eröffnete, an Kantjil denken und besonders an eine Szene. Die Köchin war damals gerade auf Manik Maya angekommen, und Shagan hatte sie auf dem Observatorium etwas herumgeführt und ihr dieses und jenes erläutert. Kantjil zeigte sich sehr interessiert, und durch irgendeine Äußerung hatte sich Shagan veranlaßt gesehen, ihr etwas über die Entstehung des Lebens und die Entwicklung der Menschheit zu sagen. »Sehen Sie, Kantjil«, erläuterte er, »mit der Menschengemeinschaft ist es ähnlich wie mit der Musik, die ja aus vielen einzelnen Tönen besteht. Ein solcher Ton, auf einem Instrument angeschlagen, bleibt ein Ton für sich. Werden jedoch mehrere Töne zu einem Akkord vereint, so gibt jeder von ihnen sein Privatleben auf. Die Töne haben sich dann gegenseitig so durchdrungen, daß man nicht mehr sagen kann: Hier ist fis und dort ist a. Sie bilden gemeinsam eine neue Einheit von viel höherer Art, reicher und tiefer in ihrem Wesen. Ist das verständlich?« »Natürlich«, versicherte Kantjil eifrig, »das ist wie bei uns im Kampong. Dort sind wir auch eine Gemeinschaft.« »Sehr gut«, sagte Shagan befriedigt, »aus euerm Einzeldasein habt ihr euch zu einer höheren Einheit vereinigt!« Das war alles klar, aber nach einer Pause fragte Kantjil nachdenklich: »Eines verstehe ich doch nicht ganz. Allein habe ich einen Kopf. Wo bleibt denn der nun, wenn ich auf einmal vereinigt bin?« »Deinen Kopf behältst du natürlich«, schmunzelte Shagan, »auch die Gemeinschaft braucht einen Kopf. Nur ist es jetzt nicht mehr ein einzelner, sondern es sind mehrere, die diesen Kopf bilden.« Nachdem Kantjil über die weisen Worte des Professors nachgedacht hatte, meinte sie zögernd: »Alles ganz schön und gut, Professor, aber einen Haken hat die Sache doch, denn von Zeit zu Zeit möchte man sich ja auch einmal am Kopf kratzen können.« Diese Szene ging Shagan durch den Kopf, als die Sitzung eröffnet wurde. Er wünschte sich jetzt Kantjils Zunge und ihre Wunderkräuter. Shagans Erkältung war gewiß nicht schuld daran, wenn seine Argumente nicht ausreichten, um die Mitglieder des Präsidiums und die anwesenden Experten zu überzeugen. Die mangelhafte Bereitschaft,
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seine These anzuerkennen, kam vor allem deswegen, weil fast zehn Monate seit dem Unglück verstrichen waren. Dafür konnte er nichts, denn erst das Ausbleiben des Asteroiden Rhe 37 hatte ihn zu diesen Überlegungen geführt. Hinzu kam, daß der herbeigeholte ägyptische Asteroidenforscher Hassan Dschamburi, mit dessen »Jahrbuch der Asteroiden« sich Shagan noch vor der Abreise ausgiebig beschäftigt hatte, nachweisen konnte, daß die Umlaufzeit des umstrittenen Asteroiden unterschiedlich war und er schon mehrere Male um Stunden später an dem vorausberechneten Ort gesichtet wurde. Es gab einen Streit darüber zwischen Dschamburi und Shagan, denn wenn der Ägypter recht hatte, dann wäre auch ein Zusammenstoß mit der »Darwin« unmöglich gewesen. Sokolnikow schlichtete die Auseinandersetzung und ließ einen Raumfahrer zu Worte kommen, der aus der Sicht seiner Praxis darüber berichten sollte, was sich an Bord eines Raumschiffes nach einer solchen Kollision abspielen könnte. Frazer Janeil, so hieß der Kosmonaut, war bereits einmal in Mondnähe gewesen. »Die Theorie«, begann er, »ist eine Sache, aber in der Praxis sieht das etwas anders aus.« »Junger Mann!« unterbrach ihn Shagan grollend, »am Anfang war das Denken! Mit der Spitze seiner Feder hat Leverrier den Neptun entdeckt, und die Bahnen, auf denen Sie mit Raumschiffen reisen, wurden ebenfalls nicht mit dem Bandmaß ausgemessen. Unterlassen Sie gefälligst Ihre abfälligen Äußerungen über die Theorie!« Der junge Mann berichtigte sich, er sei nicht gegen die Theorie, dann erzählte er, wie es gewünscht wurde, sachlich von seinem ersten Flug zum Mond einer Reise, die sieben Tage gedauert hatte. »Natürlich haben wir uns während dieses Fluges auch die Frage gestellt, was wohl bei einem Zusammentreffen mit einem Meteoriten mit uns geschehen würde. Man kann einen kleinen Riß reparieren - vorausgesetzt, daß er gefunden wird und man nicht zuviel Sauerstoff verliert. Im übrigen weicht ein Raumschiff einer Meteoritengefahr automatisch aus…« »Auch winzigen Bruchstücken von Erbsgröße?« fragte jemand.
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»Nein, aber solchen wie dem hier genannten Asteroid Rhe 37. Wenn es dennoch zu einer Kollision kommt, begreife ich nicht, wer das überleben soll…« »Das ist Ihr Manko«, krächzte Shagan dazwischen. »Was soll das? Mit dem Begreifen oder Nichtbegreifen des jungen Mannes können wir wenig anfangen.« »Entschuldigen Sie, Professor Shagan«, sagte Janeil hastig, »ich wollte zunächst nur die Meinung meiner Kameraden und auch meine eigene Ansicht wiedergeben. Gehen wir einen Schritt weiter, und nehmen wir an, es verhielte sich so, wie Sie vermuten. Wie sollten die sechs weiterleben? Wie könnte ein Mensch auf unbestimmte Zeit außerhalb der Erde existieren…?« »Das steht nicht zur Debatte«, unterbrach Shagan ihn abermals. »Bis zu einem gewissen Grade schon, verehrter Kollege«, wandte Sankarat ein, »zu wissen, daß sechs Menschen noch gerettet werden könnten, ergäbe natürlich einen ganz anderen Aspekt.« »Diese Frage zu klären ist unmöglich«, sagte Sokolnikow. Doktor Boros meldete sich. Er sagte: »Meiner Ansicht nach lassen sich beide Dinge nicht voneinander trennen. Sie haben bei Ihren Unterlagen die Festigkeitswerte des zum Bau der ›Darwin‹ verwendeten Materials. Wenn sich die Kollision so abgespielt hat, wie es Professor Shagan vermutet und wie sie theoretisch auch möglich wäre, dann bestünde auch eine Überlebenschance. Ich möchte unseren Praktiker der Raumfahrt fragen: Haben Sie sich einmal ernsthaft in die Lage Ihrer sechs Kameraden versetzt? Was würden Sie tun, wenn Sie und einige andere eine solche Katastrophe überlebten? Würden Sie nicht bis zur letzten Sekunde auf Rettung hoffen?« Janeil hob die Schultern. »Daran zu denken ist einfach unmöglich«, sagte er nach einigem Überlegen. »Wenn Sie in ein Flugzeug steigen, denken Sie vermutlich auch nicht an einen Absturz.« »Das ist keine Antwort«, antwortete Doktor Boros. »Ich stelle fest, daß sich die These Professor Shagans nicht beweisen läßt; aber ist die Feststellung der Untersuchungskommission vor neun Monaten bewiesen?«
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»So ist es«, brummte Shagan zufrieden. Sein Gesicht hatte sich gerötet, das Fieber war ihm anzusehen. Birger Sjögren räusperte sich. Er hatte bis jetzt, schweigend und Dampfwolken verbreitend, an seiner Pfeife gesogen. Jetzt legte er sie beiseite, nahm sein Notizbuch und wartete, bis ihm Sokolnikow zunickte. »Ich halte den Verlauf unseres Gespräches für unbefriedigend«, begann er. »Professor Shagan hat recht, über Glauben und Nichtglauben zu debattieren ist wenig fruchtbar. Kommen wir auf die These unseres geschätzten Kollegen zurück.« Der geschätzte Kollege beugte sich zu Nanga und flüsterte: »Passen Sie auf, gleich wird er messerscharf beweisen, daß ich weiße Mäuse gesehen habe.« Sjögren fuhr fort: »Ich stelle fest: Es gibt keinen Beweis dafür, daß Rhe 37 die Kollision verursacht hat, denn in diesem Punkt widersprechen sich die Ansichten zweier Fachleute. Weiter. Professor Shagan beruft sich darauf, daß sich dieser mysteriöse Asteroid nicht mehr auf seiner Bahn befindet, folglich kann nur er den Zusammenprall hervorgerufen haben. Ich frage Professor Dschamburi: Kommt es vor, daß kleinere Himmelskörper einige Jahre beobachtet werden und dann plötzlich nie wieder auftauchen?« Ali Hassan Dschamburi erhob sich und redete so schnell, als wolle er den ganzen Inhalt seines »Jahrbuches für Asteroiden« bekanntgeben. Heraus kam, daß in der Tat viele dieser kleinen Himmelskörper auf ihren Wanderungen von der Sonne oder einem Planeten angezogen wurden, auf sie stürzten oder in ihrer Atmosphäre verglühten. »Warum sollte also dem Asteroiden Rhe 37 nicht ein ähnliches Schicksal beschieden gewesen sein?« fragte Sjögren. »Nach dem offiziellen Ergebnis der Untersuchungskommission zerschellte die ›Darwin‹ auf dem Mond. Professor Shagan dagegen möchte unbedingt die Trümmer seines Asteroiden dort wissen…« Shagan flüsterte: »Ich fürchte, Sie hatten recht, Nanga, ich hätte doch einen Arzt aufsuchen müssen. Mein Schädel brummt, als wäre ich selber mit dem Asteroiden zusammengeprallt.« Nanga erschrak über sein glühendes Gesicht. »Bitten Sie um Unterbrechung der Sitzung«, flüsterte sie zurück. »Ich denke nicht daran.«
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»Eine Bemerkung, Professor Sjögren«, bat Doktor Boros. »Mit wem ist Ihrer Meinung nach die ›Darwin‹ zusammengeprallt?« »Vielleicht mit einem Meteoriten«, versetzte Sjögren, »woher soll ich das wissen?« »Natürlich«, spöttelte Shagan, »mit irgendeinem Meteoriten. Nach allen Berechnungen ist es wahrscheinlich, daß es Rhe 37 war, doch er darf es Ihrer Meinung nach nicht sein. Das nenne ich Logik.« Sjögren stopfte sich bedächtig seine Pfeife und setzte sie ebenso bedächtig in Brand. Dann sagte er: »Lieber Kollege Shagan, wir werden die Ursache der Katastrophe hier niemals ergründen können. Doch nehmen wir einmal an, es wäre so gewesen, wie Sie es in Ihrem Bericht darstellen. Vor einem dreiviertel Jahr befand ich mich auf einer Schiffsreise im Indischen Ozean. Ich zündete mir damals so wie jetzt die Pfeife an. Das Zündholz warf ich ins Meer. Ort: der Golf von Bengalen, etwa auf dem neunzigsten Längen- und dem achtzehnten Breitengrad. Zeit: elf Uhr zehn. Bitte, meine Herren, suchen wir das Zündholz. Die Strömungen sind bekannt, die Inseln, das Festland. Ich denke, Sie verstehen meine Geschichte. Nach diesem Zündholz zu suchen und es möglicherweise zu finden wäre ein Kinderspiel gegen eine Suche nach der ›Darwin‹. Wir kennen nicht die Beschleunigung und nicht die Flugrichtung der ›Darwin‹. Und unsere Ozeane sind ein Wassertropfen gegen den Raum des Sonnensystems.« Sjögrens Beweisführung hinterließ einen nachhaltigen Eindruck bei seinen Zuhörern. Selbst Shagan, der den Kopf in beide Hände stützte, schwieg und grübelte oder war vielleicht auch durch sein Fieber nicht mehr bei der Sache. Wahrscheinlich war in diesem Augenblick nur Nanga mit der Logik des Nordländers einverstanden. Ihre Augen wanderten über die Gesichter der Versammelten, und sie wartete auf Widerspruch. Doch das Schweigen hielt an. Und in dieses Schweigen sagte sie auf einmal: »Ich finde Ihr Beispiel nicht sehr glücklich, Professor Sjögren.« Die unerwartete Frauenstimme weckte sogar Shagan aus seiner Versunkenheit. Erstaunt betrachtete er seine Assistentin.
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Sjögren legte die Pfeife weg und fragte interessiert: »Was gefällt Ihnen an meinem Beispiel nicht?« »In der These Professor Shagans geht es nicht um Streichhölzer, sondern um Menschen.« Sjögren stutzte. »Natürlich geht es um Menschen«, stimmte er zu, »meine Streichholzgeschichte war auch nur allegorisch gemeint. Aber sagen Sie mir bitte, woher wissen Sie, daß diese Menschen, um die es Ihnen - und uns allen - geht, noch am Leben sind?« »Ich weiß es nicht, aber ich hoffe es«, erwiderte Nanga, »und niemand darf diese Hoffnung zerreden, niemand hat ein Recht dazu.« Sie verstummte verwirrt, weil sie nun aller Augen auf sich gerichtet sah. Da Sjögren jedoch nicht sogleich antwortete und da man offenbar noch weitere Ausführungen von ihr erwartete, kam es leise von ihren Lippen: »Ich wollte nur sagen, daß in der Entdeckung Professor Shagans eine große Hoffnung liegt. Was wäre eine Wissenschaft wert, wenn sie nicht alles versuchte, die Wahrheit zu finden, und wenn sie nicht die Möglichkeit in Betracht zöge, daß vielleicht sechs Menschen auf Rettung harren.« »Deshalb sind wir hier«, sagte Sokolnikow. Sjögren entgegnete in väterlichem Tone: »Verehrte Kollegin, das ist alles schön und gut, aber Wissenschaft ist das System des Wissens von der Natur und ihren Gesetzen. Es ist müßig, nach fast einem Jahr über das Sein oder Nichtsein der ›Darwin‹ zu debattieren. Oder wollen Sie noch einmal Menschenleben aufs Spiel setzen und in irgendwelchen unbekannten Tiefen des Weltenraums nach einem Gespensterschiff suchen? Jahrelang haben wir das Marsprojekt vorbereitet. Milliarden stecken bereits in diesem Unternehmen. Und nun kommt jemand mit einer unbeweisbaren These und fordert uns auf, die Johannes Kepler’ irgendwo anders hinzuschicken. Bitte, wenn uns jemand klipp und klar beweist: Dort und dort muß sich das Raumschiff ›Darwin‹ aufhalten - dann brauchten wir nicht zu debattieren.« Es war klar, Shagans These konnte keine Zustimmung finden; auch dann war die Ablehnung gerechtfertigt, wenn sich einmal herausstellen sollte, daß Shagan von richtigen Überlegungen ausgegangen war. Es gab noch eine Reihe von Einzelheiten, auf die Shagans These keine Antwort gab.
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So befanden sich an Bord eines jeden Raumschiffes sogenannte SOS-Bojen. Sie waren mit automatischen Sendern ausgestattet und konnten im Unglücksfall hinauskatapultiert werden. Niemals wurde eine solche Sonde gesichtet oder gehört. Es war später noch viel über diese Sitzung in der Obersten Raumbehörde gesprochen und orakelt worden. Leichtfertigkeit konnte man den Teilnehmern nicht vorwerfen. Und schließlich war es Shagan selbst, der seine eigenen Überlegungen immer mehr anzweifelte. Als sie auseinandergingen, durchaus nicht unfreundlich - der Präsident bedankte sich sogar bei Shagan -, kam Frazer Janell, der junge Kosmonaut, auf Shagan zu. Er entschuldigte sich noch einmal für die Bemerkung über die »Theorie«, und er bat Shagan um eine Unterredung. Doch Shagans Gesundheitszustand forderte einen Doktor, und dem Gelehrten stand auch nicht der Sinn nach einer Unterhaltung mit dem jungen Mann. Doktor Boros und Nanga begleiteten ihn ins Hotel zurück. Im Sitzungszimmer der Obersten Raumbehörde erinnerten nur noch ein paar Rauchschwaden aus Sjögrens Tabakspfeife und einige halbgeleerte Mineralwassergläser an die Erörterungen, die noch einmal die Katastrophe der »Charles Darwin« heraufbeschworen hatten. Niemand konnte zu diesem Zeitpunkt wissen, welche Bedeutung Shagans These wenige Tage später erlangen sollte, selbst der knurrige Gelehrte von Manik Maya nicht. Der Arzt hatte neununddreißig-fünf Fieber gemessen und ein Wispern zwischen den Rippen gehört. Das war der Beginn einer Lungenentzündung. Shagan weigerte sich, ins Krankenhaus zu gehen. Es wurde eine Krankenschwester bestellt, die ihn im Hotel pflegte. Im Vorzimmer warteten Nanga und Doktor Boros. Als die Krankenschwester für einen Augenblick herauskam, um noch einige Medikamente zu holen, hörten sie ihn rufen: »He, Dschingis-Khan, komm herein!« »Da haben Sie den Patienten«, sagte Nanga, »so ist er immer, er macht, was er will.« Shagan saß mit gerötetem Gesicht im Bett. »Ich will zurück!« zeterte er. »In diesem verfluchten europäischen Klima muß man ja
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krank werden. Und alles verdanke ich Ihnen, Nanga.« Sie schwieg verletzt. »Schlag dir die Reise aus dem Kopf«, sagte Boros, »und leg dich gefälligst hin, du hast Temperatur.« Shagan blieb störrisch sitzen. »Natürlich bin ich krank. Ich hätte niemals hierher fahren dürfen, und ich wollte es auch nicht. Aber da wird einem mit Kündigung gedroht, da wird man erpreßt. Mit dreiundzwanzig Jahren ist man klüger als so ein alter verknöcherter Professor…« »Du gehst zu weit«, unterbrach ihn Boros. »Nanga hat das Beste gewollt. Die Umstände sind gegen deine Auffassung - vor neun Monaten wäre das alles noch diskutabel gewesen.« Shagan hustete. Als er sich beruhigt hatte, sagte er: »Ich war nie so richtig von dieser Geschichte überzeugt. Aber sie konnte das alles nicht eilig genug an die große Glocke hängen. Oder lag Ihnen nur an der Reise? War Ihnen Manik Maya auf die Dauer zu langweilig?« Nanga war einen Schein dunkler geworden. Sie ging zur Tür. »Nehmen Sie’s ihm nicht übel, Nanga«, rief Boros ihr nach, und zu Shagan gewandt: »Ich nehme an, du redest im Fieber.« »Ich bin so klar wie vorhin während der Sitzung und wie gestern. Aber ich gebe zu, ich bin ein alter Esel, sonst wäre ich nicht auf diese Gefühlsduseleien hereingefallen!« Shagan schimpfte weiter auf seine Assistentin und auf Europa, und Boros wußte nicht recht, ob er diesen Zornesausbruch auf die Krankheit zurückführen sollte oder ob Shagans Anklagen ernst zu nehmen waren. Nanga war empört auf ihr Zimmer gegangen. Sie hätte jetzt am liebsten die Koffer gepackt und die Rückreise angetreten. Auch wenn Shagan nur im Fieber gesprochen hatte, es blieb gesagt und würde immer zwischen ihnen stehen. Für sie war das, was er Erpressung genannt hatte, nun unausbleibliche Notwendigkeit geworden. An ihrer Tür klopfte es. Nanga glaubte, Doktor Boros suche sie auf. Als sie jedoch die Tür öffnete, stand sie Frazer Janeil gegenüber.
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VII Der Näsisee, einer von mehreren gleichen Namens im hohen Norden, war den größten Teil des Jahres mit einer Eisschicht bedeckt. Nur in den Monaten Juli bis Anfang Oktober stieg die Temperatur bis auf dreißig Grad Celsius an. Ein dichter Schilfgürtel um den See machte es dem Fremden schwer, einen Zugang zum Wasser zu finden. An den wenigen schilffreien Buchten des Nordufers befanden sich einige kleine Dörfer, in denen Fischer, Fallensteller, Jäger und Waldarbeiter wohnten. Am Südufer hatte Roger Stuart, der Erste Ingenieur der »Darwin«, vor Jahren sein Blockhaus errichtet. Die Umgebung war romantisch, ein Eldorado für Naturliebhaber. Dichter Wald umgab den See, weit hinten die Umrisse einer Hügelkette, und das Wasser war so klar und rein wie die Luft. Im Juli und August schien die Natur alles auf einmal nachholen zu wollen, was der lange Winter verhindert hatte. In den endlosen Wäldern trieben Farne; Gräser und Sträucher wucherten, das ganze Land duftete nach Blüten und wilden Früchten. Nur die Nächte blieben auch zu dieser Jahreszeit noch empfindlich kühl. Cedrice Stuart hatte seine Träume, die ihn während des Testes in der »Fok 2« so oft beschäftigten, Wirklichkeit werden lassen. Seit acht Tagen genoß er in dieser Einsamkeit mit seiner Freundin Anne seinen Urlaub. Er jagte oder photographierte, unternahm mit ihr ausgedehnte Spaziergänge oder fuhr mit dem Kahn hinaus, um zu angeln. Selbst die kühlen Nachtstunden vermochten seinen Hunger nach Abwechslung nicht einzudämmen. Dieser Sternenhimmel über ihnen war keine Projektion, und er hatte ihn nie so tief erlebt wie nach den anstrengenden und zermürbenden Tagen in der »Fok 2«. Er wollte alles vergessen, doch wenn er allein hinausfuhr, dann kamen Augenblicke, in denen die endlose Zeit in der Testkammer in ihm wieder lebendig wurde. In dieser Abgeschiedenheit sah alles einfacher aus, und er begriff nicht mehr, weshalb er die paar Tage nicht noch durchgehalten hatte. Cedrice war entschlossen, den Versuch zu 61
wiederholen; die »Darwin« sollte dann keinen Platz mehr in seinem Denken finden. Doch vorerst war nicht daran zu denken, und er gab sich Mühe, die Ratschläge der Ärzte zu befolgen und sich nur seinen Ferien zu widmen. Anne studierte Kunstgeschichte, und sie hatten sich beide in einer Ausstellung kennengelernt. Sie war das Gegenteil von Cedrice und brachte seinen nüchternen beruflichen Plänen nur geteilte Aufmerksamkeit entgegen. Anne sah die Sterne lieber von der Erde aus, und Cedrice bereitete es Vergnügen, die romantische Begeisterung zu hören, die der Sternenhimmel am Näsisee in Anne auslöste. Er hatte sich längst daran gewöhnt, mit diesen Bildern Entfernungen oder physikalische Vorgänge zu verbinden. Für Anne blieb der Mond eine stimmungsvolle, geheimnisvolle Kugel, auf die man Lieder sang und Gedichte machte. Für Cedrice war er eine natürliche Station im Raum, und er war das Grab seines Vaters. Zehn Tage nach ihrer Ankunft fehlten einige Vorräte, und Anne war froh, einen Bummel in der Stadt machen zu können. Vom anderen Ufer konnte man mit dem Bus in einer Stunde dorthin gelangen. Cedrice schlief noch, als Anne in aller Frühe aufstand, um das Boot klarzumachen. Dabei beobachtete sie zum ersten Male den Sonnenaufgang. Sie lief zum Blockhaus zurück und weckte Cedrice. »Was ist passiert?« erkundigte der sich schlaftrunken. »Du sollst dir den Sonnenaufgang betrachten - außerdem mußt du mir helfen, das Boot segelklar zu machen.« Das Boot war längst klar, und Cedrice nahm von dem Sonnenaufgang wenig Notiz. »Du bist barbarisch, Anne«, sagte er, »nur weil die Sonne aufgeht, weckst du mich mitten in der Nacht.« »Sie sieht aus wie ein Riese, der aus dem Wald aufsteigt.« »Ja, wie ein Riese«, murmelte er belustigt, »das Fräulein stand am Meere und seufzte lang und bang - es rührte sie so sehre, der Sonnen - in diesem Falle - aufgang…« »Du bist gräßlich poesielos, und wenn du jetzt nicht still bist, stoße ich dich ins Wasser.«
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»Das bringst du fertig«, sagte er und deklamierte weiter: »Mein Fräulein, sei’n Sie munter, das ist ein altes Stück, dort hinten geht sie unter, und dort kommt sie zurück…« Er wollte davonlaufen, als Anne auf ihn zukam, doch sie war schneller und machte ihre Drohung wahr. Er verlor das Gleichgewicht und fiel ins Wasser. »Hexe!« schimpfte Cedrice, »gemeines Biest! Das Wasser ist kälter als Eis!« Anne lachte, daß es weit über den See schallte. Ehe er heraus war, hatte sie sich selbst die Kleider abgestreift und sprang ebenfalls vom Steg hinunter. Sie schwammen ein Stück hinaus. Anne wollte am Nachmittag zurück sein. Cedrice hatte sein Angelzeug im Kahn verstaut, nahm einen Schluck heißen Tee aus der Thermosflasche und stieß sich vom Ufer ab. Im nahen Schilfgürtel gluckerte es, über den See segelten Fischreiher. Cedrice legte sich in die Riemen. Das Rudern tat ihm gut. Er blieb in der Nähe des Röhrichts. Von weit her rief Anne seinen Namen. Er antwortete nicht und bemühte sich, die Ruder möglichst lautlos ins Wasser zu tauchen. Vor ihm lichtete sich der Schilfgürtel. Cedrice ließ sich durch das Schilf treiben, hinter dem sich eine kleine Bucht auftat. Hier war seine Angelstelle. Er steckte das Boot fest. In seiner Nähe räuberten Hechte und Welse. Ein Schwarm heringsgroßer Plötzen jagte über die Wasseroberfläche; dicht dahinter schoß pfeilschnell ein dunkler Schatten. Das Wasser gurgelte. Cedrice lachte lautlos. Das Jagdfieber hatte ihn gepackt, und das Getümmel um ihn herum sah erfolgversprechend aus. Hastig montierte er einen mittleren Blinker an die Wurfrute. Überall war das große Frühstück im Gange, es sah aus, als koche der See an einigen Stellen. Er warf die Rute aus. Das Surren der Rolle war ein neuer Ton in dieser Stille. Weit draußen klatschte der Blinker ins Wasser. Cedrice drehte langsam zurück. Der Blinker blitzte, doch die Haken blieben unberührt. Nach dem dritten Wurf hatte sich ein kleiner Barsch festgebissen. Unglaublich ist die Raubgier und Freßlust dieser Tiere. Das Maul des Räubers war kleiner als der Haken, dennoch hatte er die drei Spitzen fast verschluckt. Die nächsten Würfe brachten auch nicht viel mehr, und dann, als er schon nicht mehr an einen Erfolg glaubte, ging unerwartet ein Ruck durch
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die Wurfrute. Sein Herz pochte laut, als weit vor ihm das Wasser aufgepeitscht wurde. An der Gegenkraft konnte Cedrice das Gewicht seines Fanges abschätzen. Vergeblich mühte sich der Fisch, vom Haken freizukommen. Ein Wels hatte das blinkende Stück Metall mit einem Weißfisch verwechselt. Es war ein großes Tier, das Cedrice Kraft und Geschicklichkeit abforderte. Er bremste die Rolle, doch der Fisch zog Meter um Meter davon. Wenn die Schnur abgelaufen war, mußte sie zerreißen. Mit der Linken löste Cedirice das Boot. Als der Wels mit dem Boot und dem Angler davonzog, rollte Cedrice die Schnur wieder auf. Dann wechselte der Fisch die Richtung und versuchte, im Schilf zu entkommen. Cedrice zog und ruckte und hatte Angst, der Wels könnte im Schilf den Haken lösen. Der Wels wechselte erneut die Richtung. »Immer zieh nur, Schnurrbärtiger«, murmelte Cedrice, »mach dich müde. Ein Prachtbursche bist du, das nenne ich einen Glückstag. Die Plötzen werden dich nicht vermissen, Brüderchen. Siehst du, so findet jeder seinen Meister…« Irgendwo auf dem Wasser tuckerte ein Motorboot. Cedrice hatte keine Zeit, danach Ausschau zu halten. Zu dieser Stunde waren auch die Fischer unterwegs. Der Wels entwickelte die Kraft eines Elefanten und die Zähigkeit einer Raubkatze. Das Tier wußte, daß es um sein Leben ging. Cedrice trat der Schweiß auf die Stirn. Die zum Zerreißen gespannte Schnur tanzte auf dem Wasser. Dann und wann peitschte der Wels mit dem Schwanz das Wasser auf, machte Luftsprünge und schien hundert Leben zu haben. Jedesmal, wenn Cedrice ihn in der Nähe des Bootes hatte, bäumte er sich erneut auf und zog davon. Cedrice gab Schnur, rollte sie wieder auf und ließ abermals nach. Das Schilf lag weit hinter ihnen. Nach einer Stunde waren Jäger und Tier ermüdet. Widerstandslos ließ sich der Wels herandrillen. Cedrice befestigte die Schnur am Boot. Mit einem Gefühl des Triumphes betrachtete er seine Beute. »Hast du es aufgegeben, Schnurrbart?« fragte er vergnügt. »So ist das, wenn man keinen Verstand hat. Wärest du nicht so gierig gewesen, könntest du dich jetzt noch im Wasser tummeln. Jetzt werde ich dich photographieren.
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Bleib schön ruhig, Bärtiger, ich ziehe dich zum Blockhaus…« Regungslos, wie ein Baumstamm ließ sich der Wels abschleppen. Als Cedrice am Bootssteg anlegte, kam wieder Leben in den Fisch. Die Schnur spannte sich, Cedrice vermochte sie nicht mehr rechtzeitig zu lösen. Die Schnur riß. »Du Himmelhund!« Er stieß noch weitere Flüche aus und sprang ins Wasser. Für Augenblicke stand der Fisch unbeweglich; es sah aus, als verrichte er ein Dankgebet. Cedrice griff mit beiden Händen zu, doch das Tier entglitt ihm und schwamm langsam und majestätisch davon, die abgerissene Schnur hinter sich herziehend. Fassungslos starrte Cedrice dem Schatten nach. Sekunden stand er verärgert und hilflos im Wasser. Dann stutzte er. Hinter ihm am Ufer hatten Zweige geknackt. Schritte wurden hörbar, das Rascheln eines Kleides. Ohne sich umzudrehen, sagte Cedrice: »Du kommst zu spät, Anne, er ist weg. So einen großen Burschen kann man allein nicht landen…« In diesem Moment fiel ihm ein, daß Anne eigentlich gar nicht am Ufer sein konnte. Verblüfft wandte er den Kopf. Am Bootsteg, fünf Schritte von ihm entfernt, stand ein Mädchen. Aber dieses Mädchen war nicht Anne. »Guten Tag«, sagte Nanga, »ich hoffe, Sie machen nicht mich für das Mißgeschick verantwortlich.« Sie konnte sich eines Lächelns nicht erwehren, denn Cedrice, der noch immer im Wasser stand, ähnelte ein wenig dem Fisch. Sein Mund war leicht geöffnet, und er sah Nanga mit ungläubigem Erstaunen an. »Sie haben mich sicher verwechselt«, fuhr sie fort, »ich heiße Nanga und bin die Assistentin von Professor Shagan. Er leitet das Observatorium Manik Maya auf Sumatra - Sie haben diesen Namen vielleicht schon einmal gehört.« Cedrice stakte aus dem Wasser. Sie spricht, dachte er, also habe ich keine Halluzinationen; und Sumatra kann auch stimmen, denn aus dieser Gegend scheint sie zu kommen. Aber was sucht sie hier? Er verbeugte sich und nannte seinen Namen. »Entschuldigen Sie, die Hand gebe ich Ihnen lieber nicht. Ich nehme an. Sie haben sich verlaufen?«
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»Nein«, antwortete Nanga, »ich habe mich nicht verlaufen. Ich wollte zu Ihnen. Ihre Adresse habe ich von Alexander Wulko erfahren.« Cedrice wies zum Blockhaus. Während er voranging, überlegte er, was dieser eigenartige Besuch bedeuten könne. Vielleicht war sie Journalistin? Ihre fremdartige Erscheinung steigerte seine Neugier noch mehr. Nanga trug das Ishyang, ein hochgeschlossenes, enganliegendes Kleid, das seitlich geschlitzt war, darüber einen bunten Sledang, das in ihrer Heimat übliche Schultertuch der Frauen. Er öffnete die Tür und bat sie, Platz zu nehmen. Während Cedrice sich nebenan wusch und die Kleidung wechselte, betrachtete Nanga seine Behausung. Die rohen Holzwände verliehen dem Raum etwas Anheimelndes. In die Wände waren zusammenklappbare Betten eingelassen, einen Teil der Trennwand zum Nebenraum bildete ein rauchgeschwärzter Kamin. Auf einem kleinen Bücherregal standen ein Tonbandgerät und ein paar Kerzen. An der gegenüberliegenden Wand erweckten zwei gerahmte Photos ihre Aufmerksamkeit. Auf dem einen war ein Mann abgebildet. Es war Cedrices Vater. Das andere Photo zeigte eine Mondaufnahme. Deutlich war darauf die Staubwolke zu erkennen, die nach dem Absturz der »Darwin« von mehreren Observatorien photographiert werden konnte. Nebenan summte ein Rasierapparat. Dieses Summen erinnerte sie an ihr Hotelzimmer in Prag, wenn sich im Nebenzimmer einer der Gäste rasiert hatte. Das alles lag nun weit hinter ihr, und sie war froh, Professor Shagan für einige Tage nicht sehen zu müssen. Seine beleidigenden Worte saßen noch immer in ihr. Und jetzt hatte er sogar noch mehr Anlaß, ihr Reiselust oder ein Bedürfnis nach Zerstreuung vorzuwerfen, denn Nanga war ohne Wissen des Alten hierhergereist. Den Anlaß dazu hatte jener Frazer Janeil gegeben. Dem jungen Mann waren nach der Sitzung in der Obersten Raumbehörde Zweifel gekommen. Ursprünglich wollte er mit Shagan darüber sprechen. Er hatte die Frage aufgeworfen, ob es nicht zweckmäßig sei, einige von den Hinterbliebenen der Darwinbesatzung mit der Shaganschen The-
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se vertraut zu machen. Es war im Grunde eine undiskutable Idee, Professor Shagan wäre nie darauf eingegangen, aber Janeil nannte einige Namen, die einen guten Ruf in der Wissenschaft besagen. Bei diesem Gespräch fiel auch der Name Cedrice Stuart. Janell kannte Cedrice aus dem Ausbildungszentrum, und er wußte, daß dieser dort einen Test absolvierte und daß er mit Alexander Wulko befreundet war. Nanga war dann der Gedanke gekommen, Janells Anregung aufzugreifen. Dabei spielte vor allem ihr Wunsch eine Rolle, dem erkrankten Professor nicht mehr begegnen zu müssen, mit dem sie seit dem Streit kein Wort mehr gewechselt hatte. Sie hätte auch nach Manik Maya zurückfliegen können, doch dort wäre sie mit Damar Wulan allein gewesen, und das erschien ihr noch unangenehmer. Doktor Boros, dem sie von ihrer Absicht erzählte, riet ab. Er warnte sie sogar, denn gelangte diese These in die Öffentlichkeit, konnte es zu Skandalen kommen. Aber Nanga wollte von Shagan fort, und mit ihrem Plan verband sich auch etwas Hoffnung, daß dieser Weg vielleicht doch noch zu einem Erfolg führen könnte. Sie fuhr allen Warnungen Doktor Boros’ zum Trotz zum Ausbildungszentrum, das Cedrice schon acht Tage zuvor verlassen hatte. Von Wulko erhielt sie seine Adresse. Nanga flog nach Tampere, reiste mit dem Autobus weiter und gelangte schließlich zum Nordufer des Näsisees, von wo sie der Fischer mit einem Motorboot zum Blockhaus übersetzte. Cedrice trat ein. Er hatte sich ein buntes Hemd übergeworfen und helle Shorts angezogen. »Ich habe Wasser aufgesetzt - was trinken Sie lieber, Tee oder Kaffee?« »Tee«, sagte sie. Cedrice eilte in die Küche und kam zwei Minuten später mit Tee und Zucker zurück. »Sie erwähnten vorhin den Namen Professor Shagan. Ist das derselbe Professor, der einmal diese umstrittene Theorie über einen Planeten aufgestellt hat, der angeblich zwischen Mars- und Jupiterbahn existiert haben soll?« »Ja, dieser Professor ist es. Er leitet Manik Maya.« Cedrice servierte den Tee. »Was ist Manik Maya?«
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»Dieser Name ist eigentlich der Titel eines Gedichts«, erläuterte Nanga. »Es soll noch aus dem Kawi stammen, der alten Literatursprache Javas. Der Verfasser dieses Gedichtes ist unbekannt, aber sein Inhalt beschäftigt sich mit kosmogonischen Vorgängen. Wahrscheinlich war es dies, was die Erbauer des Observatoriums bewog, es Manik Maya zu nennen.« »Und Sie kommen direkt von Sumatra in diese Wildnis?« Nanga zögerte. Ihr Blick fiel auf die beiden Photos. Er bemerkte es und erklärte: »Das ist mein Vater, und die Aufnahme daneben kennen Sie sicher - das Grab der ›Charles Darwin‹…« » Deswegen bin ich zu Ihnen gekommen.« Cedrice stutzte. »Weswegen?« »Um mit Ihnen über die ›Darwin‹ zu sprechen.« »Ach so«, sagte er enttäuscht, »ich hätte es mir denken können. Eine Art Interview. Wahrscheinlich wollen Sie einen Artikel schreiben. Aber ich kann Ihnen nicht viel mehr sagen, als bereits veröffentlicht wurde.« »Ich will nicht darüber schreiben. Ich möchte mit Ihnen über das Schicksal der ›Darwin‹ sprechen.« Verwundert sah er, wie Nanga ein Manuskript aus ihrer Reisetasche nahm. Sie reichte es ihm. »Bitte lesen Sie das, es enthält mehr, als ich Ihnen zu schildern vermag.« Er las die ersten Sätze und hielt inne. »Was soll das?« fragte er verständnislos, »eine Schilderung der Katastrophe?« »Lesen Sie«, bat Nanga, »es ist eine neue Deutung der Vorgänge. Professor Shagan hat diese These aufgestellt. Sie war Gegenstand einer langen, ergebnislosen Debatte in der Obersten Raumbehörde.« Cedrice las, und seine Verblüffung schlug in Bestürzung um. Der Tee wurde kalt, die Grabesstille der »Fok 2« schien sich auf einmal herabzusenken. Es dauerte eine Zeitlang, bis er das Gelesene erfaßt und begriffen hatte. Fassungslos sah er Nanga an. »Es ist nur eine These«, wiederholte Nanga, »es könnte sich so abgespielt haben. Bitte, urteilen Sie jetzt nicht nach dem Gefühl…« »Und wonach urteilen Sie?« fragte er. »Sie sagten, die Debatte darüber verlief ergebnislos. Also abgelehnt?
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Aber Sie und Professor Shagan glauben doch daran. Er hat Sie geschickt…« »Nein«, unterbrach ihn Nanga, »Professor Shagan weiß nichts von dieser Reise - außerdem liegt er krank im Bett. Ich kam aus eigenem Interesse - bitte, fragen Sie mich nicht, warum. Bis jetzt sind Shagans Überlegungen auf Ablehnung gestoßen. Und das ist nicht einmal verwunderlich, es liegen immerhin zehn Monate dazwischen.« »Zehn Monate«, wiederholte Cedrice. »Ich kann jetzt nicht nur mit dem Verstand urteilen, das werden Sie begreifen, Nanga. Wenn Professor Shagan recht hat - dann könnten sie noch am Leben sein. Verstehen Sie, was dieser Gedanke für mich bedeutet? Und wenn nur ein Teil davon wahr wäre…« Er ging auf und ab und blieb schließlich vor ihr stehen. »Sie wissen gar nicht, was Sie angerichtet haben…« Bestürzt antwortete sie: »Ich wollte gar nichts anrichten. Cedrice, vielleicht war ich voreilig. Es war von mir mehr…« Sie sprach den Gedanken nicht zu Ende, denn sonst hätte sie sagen müssen: Es war von mir mehr eine Gefühlsregung als eine Sache klarer Überlegung, eine Flucht vor der Rückkehr, vor dem knurrigen Alten und vor Manik Maya. Er hatte sich neben sie gesetzt. In ihm war ein Hoffnungsschimmer geweckt worden. Nangas Mission wäre nun beendet gewesen, doch er bat sie inständig zu bleiben. Cedirice wollte mit ihr und Anne zum Ausbildungszentrum fahren. Alexander Wulko, der Leiter dieser Institution, war ein Freund seines Vaters gewesen. Auf seine Unterstützung hoffte Cedrice. Es erschien ihm selbstverständlich, daß Wulko sich ebenfalls für Shagans These einsetzte. Nanga ließ sich gern überreden. Was hätte sie jetzt auch in Prag am Krankenbett verloren? Und nach Manik Maya zurückzufliegen, mit Damar allein auf dieser Oase, wäre ihr auch unangenehm gewesen. Sie willigte ein, Cedrice zum Ausbildungszentrum zu begleiten. Cedrice kam nicht los von dem Thema; je mehr er sich damit beschäftigte, desto optimistischer wurde er. Am Nachmittag ließ sie ihn allein, machte einen Spaziergang und sonnte sich auf dem Bootssteg.
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Das klare, kühle Wasser lockte zum Baden. Sie schwamm ein Stück hinaus. Anne ließ sich mit ihrem Einkauf Zeit. Es war längst dämmrig geworden, doch sie hielten vergeblich nach einem Segel Ausschau. Sie saßen im Blockhaus. Er wollte Licht machen, doch Nanga bat ihn, damit zu warten. »Ich mag diese Abendstimmung«, sagte sie verträumt. »Auf Manik Maya sieht es nach dem Sonnenuntergang aus, als ob die Sterne herabgefallen wären. Im Tal ist es dann dunkel, und nur unsere Gipfel sind noch in Helligkeit getaucht.« »Als ob die Sterne herabgefallen wären«, wiederholte er. »In der Testkammer habe ich dieses Bild anders gesehen. Die Sterne waren oben und unten und vor mir und hinter mir. Aber das waren Spiegelfechtereien, eine Illusion.« »Und in Wirklichkeit? Sie sind doch schon aufgestiegen.« »Ja, ich war oben, einen halben Erddurchmesser von der Erde entfernt. Da war unter mir die Erde. Ich sah die Meere und Kontinente und auch diese Abenddämmerung, aber man beobachtete das mit geteilter Aufmerksamkeit.« Cedrice hatte auf einmal das Bedürfnis, sich auszusprechen. Er erzählte ihr von seinem Test, dann von frühen Kindheitserinnerungen aus seiner irischen Heimat, von seinem Vater, der zuerst Testpilot gewesen war. »Er besaß ein kleines Sportflugzeug. Ich hatte noch nicht einmal richtig Laufen gelernt, als er mich schon in sein Flugzeug verpackte und mir die Welt von oben zeigte. Als später die Prager Raumbehörde ins Leben gerufen wurde, war er einer der ersten, der sich dort als Kosmonaut bewarb.« »Und Ihre Mutter? Was sagte sie?« »Nichts.« Nanga stutzte und schwieg. Nach einer Weile fragte er: »Haben Sie den Namen Häolinen schon einmal gehört?« »Wenn Sie die Pianistin meinen, dann kenne ich sie. Wir haben auf Manik Maya viele Aufnahmen von ihr.« »Sie war meine Mutter», sagte er. Es war dunkel geworden. Nanga hörte, wie er aufstand und im Regal etwas suchte. »Mögen Sie Musik?«
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»Ja«, sagte sie. Cedrice schaltete ein Tonbandgerät ein. Als die ersten Klänge der C-Dur-Sonate den kleinen Raum anfüllten, wußte sie, daß es seine Mutter war, die am Flügel saß. Das alles kam so überraschend für Nanga, und die eigenartige Stimmung tat ein übriges, daß ihr alles wie ein Traum vorkam. Sie versuchte, sich Cedrices Mutter vorzustellen, aber sie mußte wohl ganz anders aussehen als er. Diese Musik und diese etwas herbe Romantik schienen gar nicht zu ihm zu passen. Als die letzten Töne verklangen, sagte er: »Das ist die einzige Erinnerung, die meine Mutter mir hinterlassen hat. Sie war immer auf Konzertreisen, auch als das Unglück mit der ›Darwin‹ passierte. Sie hat damals nicht einmal ihre Tournee abgebrochen. Vielleicht verstehen Sie jetzt, was mir mein Vater bedeutet hat. Er war immer bei mir, und wir haben uns immer verstanden. Dort, wo Sie jetzt sitzen, hat er oft gesessen und gelesen oder von seinen Plänen erzählt. Er wäre am liebsten schon in diesem Jahrhundert zu den Sternen geflogen.« Sie hörte, wie er das Gerät zurückschob und dann wieder Platz nahm. Nanga wollte etwas sagen, aber alles, was ihr in den Sinn kam, erschien ihr banal. Er sagte nach einer Weile: »Jetzt könnte Anne aber wirklich zurückkommen.« »Vielleicht hat sie sich auf dem Wasser verirrt?« »Am Bootssteg ist Licht«, antwortete er und etwas später: »Man sagt immer: Gegensätze ziehen sich an; ich glaube, das trifft wohl nur in der Physik zu. Menschen mit gegensätzlichen Empfindlungen bleiben sich ihrem innersten Wesen nach immer fremd. Vater und Mutter waren noch sehr jung, als sie sich kennenlernten. Liebe auf den ersten Blick - was für ein Unsinn, wenn einer dem andern nichts nachempfinden kann und man sein ganzes Leben zusammenbleiben will.« In die Stille drang das Knirschen von Schritten. Sie wußten beide, daß Anne zurückkam, aber sie rührten sich nicht. Dann öffnete sich die Tür. Das Licht wurde eingeschaltet. Der grelle Lichtschein zerriß die Stimmung dieses Abends und alle Empfindungen, die ihre Unterhaltung hatte aufkommen lassen.
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VIII Das neue Ausbildungszentrum nahe dem nördlichen Polarkreis existierte erst wenige Jahre. Es war eine kleine Stadt, die sich nur dadurch von anderen Orten unterschied, daß es hier keine Fabriken gab. Hier lebten Wissenschaftler mit ihren Familien, Kosmonauten, und hier arbeitete auch Alexander Wulko. Auf dem Schreibtisch des Chefausbilders lag seit achtundvierzig Stunden ein Fernschreiben. Es enthielt die Namen der Anwärter auf einen Platz in einem Raumschiff, das in absehbarer Zeit die Reise zum Mars antreten sollte. Dieses Raumschiff war die »Johannes Kepler«. Alexander Wulko mußte zu jedem Kandidaten eine ausführliche Charakteristik schreiben. Dazu waren Aussprachen mit den Ärzten und den anderen Ausbildern erforderlich, denn nur sechs von mehr als zwanzig Anwärtern konnten mit der »Johannes Kepler« aufsteigen. Sechs Auserwählte sollten zum ersten Male mehrere Monate unterwegs sein, um den »roten Planeten«, wie der Mars von alters her hieß, und seine beiden rätselhaften Monde aus nur wenigen hunderttausend Kilometern Entfernung zu studieren. Seit achtundvierzig Stunden beschäftigte sich Alexander Wulko mit nichts anderem. Weder er noch seine Kollegen ahnten, daß sich in diesen Stunden, vierhunderttausend Kilometer von der Erde entfernt, eine dramatische Entdeckung ankündigte… Cedrice und die beiden Mädchen trafen am späten Nachmittag im Ausbildungszentrum ein. Wulko befand sich noch immer auf einer Besprechung. Anne war im Hotel zurückgeblieben; sie verstünde nichts von diesen Dingen und störe nur. An dieser Behauptung war sicher etwas Wahres, aber Anne hatte noch andere Gründe, sich aus dieser Geschichte herauszuhalten. Sie hielt Shagans Theorie für absurd und hatte deswegen bittere Vorwürfe von Cedrice über sich ergehen lassen müssen. Seitdem schwieg sie und verbarg, so gut es ging, ihren heimlichen Groll gegen das fremde Mädchen, das sie um ihre Ferien gebracht hatte. 72
Nanga und Cedrice brauchten nicht lange zu warten. Wulko war zufrieden, seine Sitzung unterbrechen zu können. Er erkundigte sich nach Professor Shagan und fragte interessiert, wie es am Näsisee aussähe, denn Wulko kannte diesen idyllischen Urlaubsort. Cedrice reichte ihm die Unterlagen. »Hast du dort einen Roman geschrieben?« erkundigte sich Wulko belustigt. »Professor Shagan hat es geschrieben«, antwortete Cedrice ernst, »aber wenn du schon einen literarischen Ausdruck wählst, würde ich es eher eine Tragödie nennen.« Wulko überflog ein paar Zeilen, dann sah er Cedrice fragend an. »Soll das ein Scherz sein?« Er erhielt keine Antwort. Wulko setzte sich an den Schreibtisch und las weiter. Nanga und Cedrice warteten geduldig. Es dauerte eine Weile, bis Wulko die Lektüre beendet hatte. »Was sagst du dazu?« fragte Cedrice. Wulko hob die Schultern. Er blätterte erneut in den Papieren. Nanga berichtete vom Verlauf der Sitzung in Prag. »Und was soll ich dabei tun?« erkundigte sich Wulko. »Ein halbes Dutzend Experten haben die These verworfen - sie ist unhaltbar…« Nanga sagte: »Vielleicht findet man neue Anhaltspunkte…« »Außerdem geht es um sechs Menschen«, ergänzte Cedrice, »gleichgültig, ob sie noch am Leben sind oder nicht. Einer von diesen sechs war einmal dein Freund.« Wulko erwiderte: »Es geht zunächst um Beweise, um nichts anderes. Ich möchte wissen, wie diese Beweise erbracht werden sollen.« Cedrice nahm die Unterlagen. »Es hat keinen Sinn, Nanga, ich habe mich geirrt. Diese Argumente kennen Sie bereits…« Wulko nahm ihm die Unterlagen aus der Hand. »Ich möchte mir alles noch einmal in Ruhe durchlesen. Und du mach bitte nicht so ein Märtyrergesicht, Cedrice.« Er legte versöhnend die Rechte auf Cedrices Schulter. »Sei nicht töricht. Du warst einige Male vor der Haustür unseres Planeten und weißt am besten, welche Probleme sich auftürmen, wollte man auf bloßen Verdacht hin die Konsequenzen aus Shagans These ziehen.« Wulko schloß die
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Unterlagen in seinen Schreibtisch ein. »Gehen wir, Nanga«, sagte Cedrice. Er machte ein finsteres Gesicht. »Wir hätten uns diesen Weg ersparen können.« Wulko versuchte nicht, sie zurückzuhalten. Als sich Cedrice kühl verabschiedete, erinnerte er ihn an den Test. »Ich werde ihn dann wiederholen, wenn Shagans These anerkannt wird«, antwortete Cedrice. »Sollte eine Expedition gestartet werden, dann möchte ich dabeisein.« »Ich möchte dir deine Hoffnungen nicht nehmen«, versetzte Wulko, »und Ihnen auch nicht, Nanga. Es tut mir leid, wenn ich Sie enttäuscht habe.« »Wann erhalte ich die Unterlagen zurück?« fragte sie ruhig. »Morgen, kommen Sie morgen in aller Frühe zu mir.« Als sie das Verwaltungsgebäude verließen, dunkelte es bereits. Über der Stadt ballten sich Regenwolken, doch Cedrice hatte kein Verlangen, gleich ins Hotel zurückzukehren. Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander. Nanga beklagte ihren voreiligen Entschluß, der in ihm Hoffnungen erweckt hatte, die sich nicht erfüllen konnten. Dabei sah noch bei ihrer Abreise alles so einfach aus. Seine Überzeugung an Wulkos Bereitschaft, Shagans Ansichten zu teilen, hatte ihr die Gewißheit gegeben, alles sei nun in guten Händen. Um so heftiger hatte Wulkos Reserviertheit beide getroffen. Cedrice blieb stehen und ergriff ihre Hand. »Danke für alles, Nanga. Sie haben sich viel Mühe gemacht.« »Es war sicher alles falsch. Was soll nun weiter werden?« Er ließ ihre Hand los. »Nichts. Es ist sinnlos. Wenn sich einer dafür hätte einsetzen können, war er es. Vielleicht überwiegt bei uns doch zu sehr das Gefühl. Und ich kann nicht gegen Sturheit oder auch Administration kämpfen. Es ist ein Kampf gegen Windmühlenflügel.« Ihr fiel die Unterhaltung mit dem Professor auf Manik Maya ein. Er hatte damals ähnlich gesprochen. Sie sagte: «Warten wir bis morgen, Cedrice.« »Nein, nein«, murmelte er, »ich möchte mir nicht noch einmal falsche Hoffnungen machen. Werden Sie noch einige Tage bleiben?«
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»Nein«, erwiderte Nanga, »ich bin schon viel zu lange fort.« Abermals blieb er stehen. »Es ist schade, daß Sie abreisen, Nanga, Sie waren sehr nett und…« Er biß sich auf die Lippen, ärgerte sich über seine Schüchternheit. »Ich wollte sagen, daß ich Sie gern mag.« »Ich mag Sie auch gern«, entgegnete sie unbefangen. Er zog sie auf einmal an sich und küßte sie. Sie ließ es geschehen, dann erwiderte sie seine leidenschaftlichen Küsse, und sie merkten nicht, daß die ersten Tropfen fielen. Erst als ein greller Blitz und ein heftiger Donnerschlag das Gewitter unmittelbar über ihnen anzeigten, gingen sie ein paar Schritte weiter und stellten sich unter einen Baum. Eine Weile lauschten sie dem Regen, der auf das Blätterdach trommelte. Dann fragte sie: »Was nun, Cedrice? Ist wirklich alles vorbei?« »Ja«, sagte er, »ich will nicht mehr daran denken. Ich will vergessen. Wie schön du bist…« Ihr wurde schwindlig, als er sie an sich zog. Sie klammerte sich an ihn, und sie waren allein in diesem Park und allein auf der Erde. »Du mußt hierbleiben, Nanga, bei mir. Ich würde alles für dich tun, ich würde auf alles verzichten, wenn du es wolltest…« Für Sekunden waren beide in einem Taumel der Verzückung, und sie glaubte seinen Worten. Es war ein Vergessen, eine Flucht vor dem Abschied. Der Regen war heftiger geworden. Die kalten Schauer kühlten nicht sein Verlangen, und als seine Hand ihre Brüste berührte, zuckte sie zusammen. In diesem Moment wurde jene Szene in ihr lebendig, da sie im Blockhaus saßen und Anne plötzlich eintrat. Sie sah das schlanke, blonde Mädchen wieder, und sie kam sich auf einmal vor wie eine Diebin. Der Gedanke ernüchterte Nanga. Sie entwand sich seinen Zärtlichkeiten. Als sie sein bestürztes Gesicht sah, sagte sie leise: »Im Hotel wartet jemand auf dich, Cedrice. Wir wollen diese Augenblicke vergessen, sie dürfen nie»Ich gewesen werdesein…« dich nie vergessen«, sagte er, »ich werde immer an diese Minuten denken, und du wirst genauso daran denken.« Sie verließ den schützenden Baum. Er folgte ihr. Über ihnen zuckten Blitze. »Ich werde dich nie vergessen«, wiederholte er. Nanga schwieg. Er legte seinen Arm um ihre Hüfte. »Warum willst du fort?
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Bleib, Nanga, wenigstens noch ein paar Tage…« Sie schüttelte den Kopf. »Wann willst du zurückfliegen?« »Morgen abend.« »Also noch vierundzwanzig Stunden«, sagte er resigniert, »einen Tag noch. Und du glaubst, alles wäre dann wieder so, wie es einmal war? Nein, Nanga, es wird nie wieder so sein. Ich werde hierbleiben, im Ausbildungszentrum. Ich werde mit Alexander reden, vielleicht gibt es eine Möglichkeit, den Test vorzeitig zu wiederholen. Manchmal ist es gut, wenn man sich einsperren lassen kann - das Vergessen fällt dann vielleicht leichter…« Er zog sein Jackett aus und legte es um ihre Schulter. »Diese Elektronengehirne haben uns gegenüber einen großen Vorteil. Man kann in ihnen Erfahrungen und Erlebnisse speichern, und man kann sie mit einem Knopfdruck wieder löschen.« »Du wirst dich erkälten, Cedrice«, sagte sie, »gehen wir schneller.« Er sagte nichts mehr. Es goß in Strömen. Cedrice und Nanga konnten nicht wissen, in welch beklemmender Stimmung sie Alexander Wulko zurückgelassen hatten. Von den Besatzungsmitgliedern der »Charles Darwin« hatte Wulko drei gut gekannt. Als das Unglück passierte, traf es ihn nicht weniger schwer als die Angehörigen der sechs. Mit Katastrophen in der Raumfahrt war immer zu rechnen, und dieses Unglück war nicht größer als der Absturz eines Flugzeuges, nicht entsetzlicher als ein Zugunglück oder eine Staubexplosion in einem Bergwerk. Im Ausbildungszentrum war das Training härter geworden. Das Unglück, einmal geschehen und genau analysiert, hatte sich ins Bewußtsein eingeordnet, es war unwiderruflich, und nichts konnte die sechs Abgestürzten wieder zum Leben erwecken. Übriggeblieben war die Hoffnung, auch dieses Gebiet des Mondes eines Tages einmal betreten zu können. Nun waren Cedrice und Nanga gekommen, hatten Papiere auf seinen Schreibtisch gelegt, und diese Papiere schlossen sogar die Möglichkeit ein, daß die sechs noch am Leben waren. Wulko las und grübelte und wußte am Ende selbst nicht mehr, was er glauben sollte. In Gedanken ließ er seine Bekannten zu der phantastischen These Stellung nehmen, und er fand, daß nicht einer von ihnen sich hierfür einsetzen
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würde. Professor Shagans Entdeckung kam um neun Monate zu spät. Wulko saß noch am späten Abend in seinem Büro, unentschlossen und müde. Es wäre ihm lieber gewesen, die beiden hätten ihn mit ihrem Besuch verschont. Nun erwarteten sie von ihm ein Wunder, das er nicht vollbringen konnte. Widerstrebend wählte er eine Telefonnummer. Wenn Nanga und Cedrice die Unterlagen abholten, wollte er wenigstens sagen können, daß nicht nur er eine weitere Prüfung der Shaganschen These für überflüssig hielt.
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IX Anne hatte einen kurzen Spaziergang durch die Stadt gemacht. Viel zu sehen gab es hier nicht. Überall wurde noch gebaut, und die meisten Bewohner hatten irgend etwas mit der Fliegerei oder mit der Raumfahrt zu tun. Hubschrauber brummten über den Dächern, und aus größeren Höhen kam das Echo strahlgetriebener Flugkörper. Der Lärm trieb sie rasch wieder ins Hotel zurück. Sie langweilte sich. Als es dunkel wurde und Cedrice und Nanga noch immer nicht zurückgekehrt waren, läutete sie Wulkos Büro an. Die zwei hätten das Verwaltungsgebäude längst verlassen, erklärte die Sekretärin. Sie werden noch in ein Cafe gegangen sein, beruhigte sich Anne. Dann fing es an zu regnen, und inmitten des Unwetters tauchten die Erwarteten, bis auf die Haut durchnäßt, in der Hotelhalle auf. Während Nanga und Cedrice sich umzogen, bestellte Anne das Abendessen. Nachdenklich wartete sie. Vom Büro bis zum Hotel waren es keine fünf Minuten Fußweg. Der Hotelportier trat an ihren Tisch. Er gab ihr einen Brief für Nanga. Ein Eilbrief aus Prag. Einen Augenblick später kam Cedrice. »Scheußliches Wetter«, sagte er. Er nahm den Brief und las den Absender. »Doktor Boros. Ich kann mir denken, was er schreibt.« »Vielleicht geht es dem Professor nicht gut.« »Vielleicht.« »Warum seid ihr so naß geworden, Cedrice? Habt ihr Pilze gesucht?« »Ja«, sagte er, »aber wir haben keine gefunden. Anne biß sich auf die Lippen. »Entschuldige, wenn ich gefragt habe. Willst du mir nicht erzählen, wie die Unterredung verlaufen ist?« »Ach, Unterredung. Wulko hält nichts von der Sache.« »Das habe ich geahnt.« »Ja, du hattest gestern schon Bedenken! Er faltete eine Papierserviette zu geometrischen Formen. »Habt ihr euch gestritten?« »Eigentlich nicht. Lassen wir das, es ist aussichtslos.« 78
»Es tut mir leid, Cedrice«, sagte Anne und berührte seine Hand. »Ich hätte euch Erfolg gewünscht.« »Danke, Anne, ich weiß.« Sie gab es auf, ihn zu einer Unterhaltung anzuregen. Er sagte: »Entschuldige, ich bin etwas gereizt. Mir ist der Appetit vergangen.« Er sah sich um, - der Speisesaal hatte sich gefüllt. An den Tischen saßen Flugschüler und junge Raumfahrer in Uniformen. In der Ferne grollte das abziehende Gewitter. Nanga kam. Er reichte ihr den Brief. »Hoffentlich eine gute Nachricht über Professor Shagan…« Sie öffnete das Schreiben und las. Anne beobachtete sie verstohlen und dachte: Wäre ich ein Mann, würde sie mir gefallen. Und sie möchte wohl auch gefallen, sie hat schon wieder anderen Schmuck angelegt… Nanga reichte Cedrice das Schreiben. »Es wird Sie interessieren.« Cedrice las: »Liebe Nanga, es tut mir leid, daß ich Ihnen etwas Wermut in den Becher Ihrer Hoffnungen schütten muß - aber ich habe Sie gewarnt. Einen Tag nach Ihrer Abreise verließ Ihr Brummbär das Krankenbett. Das Fieber war zurückgegangen, und bis auf etwas Husten scheint er tatsächlich wieder auf dem Damm zu sein. Natürlich mußte ich ihm Ihre Abwesenheit erklären. Ich habe ihm die Wahrheit gesagt. Er war, vorsichtig ausgedrückt, recht ungehalten. Am Abend hatte er eine Unterredung mit Sokolnikow und Doktor Fischer. Ergebnis: großes Mea culpa. Er wird Ihnen selbst seinen Standpunkt mitteilen. Dies zu Ihrer Information. Sie müssen nun selber wissen, wie Sie zu handeln haben. Vielleicht hatten Sie Erfolg, wenn nicht, lassen Sie alles auf sich beruhen. Ich hoffe auf eine Nachricht von Ihnen und verbleibe mit freundschaftlichen Gefühlen Ihr Boros Imre.« »Großes Mea culpa«, murmelte Cedrice, »erst setzen sie ein Kind in die Welt, und dann verleugnen sie die Vaterschaft.« Der Ober servierte das Essen und füllte die Weingläser. Nanga sagte: »Die Schuld trifft mich allein. Ich habe ihn dazu getrieben, seine Entdeckung nicht zu verheimlichen. Er hat die ganze Entwicklung vorausgesehen.« »Er hat daran geglaubt, sonst wäre er niemals nach Prag gefahren.«
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Sie schwieg und fühlte seinen forschenden Blick. Dann sah auch Nanga ihn an, und sie vergaben in diesen Sekunden Shagan und die »Darwin«, und sie dachten auch nicht daran, daß noch ein dritter am Tisch saß. Das Verhältnis zwischen Anne und Cedrice war mehr als nur freundschaftlich gewesen, wenngleich über Liebe oder eine dauernde Verbindung nie gesprochen worden war. Zum ersten Male fand Anne nun Anlaß, über ihre Beziehungen zu Cedrice nachzudenken; und es lag nahe, daß Nanga bei diesem Nachdenken eine wichtige Rolle spielte. Es war ein Strom von plötzlich erwachten Empfindungen, der sie an diesem Abend in die dritte Etage des Hotels trieb, wo sich Nangas Zimmer befand. Nanga saß angekleidet auf dem Bett, als es klopfte. Sie erwartete Shagans Telegramm und war erstaunt, Anne eintreten zu sehen. Sie glaubte zu ahnen, was Anne zu diesem Besuch bewog, und machte sich darauf gefaßt, Vorwürfe zu hören. Doch Anne schien weit davon entfernt zu sein, solche Empfindungen laut werden zu lassen. Sie entschuldigte sich freundlich für den späten Besuch, Shagans These lasse ihr keine Ruhe. Erst später, als Nanga ihre Ansicht noch einmal dargelegt hatte, sagte Anne: »Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie ernsthaft daran glauben, Nanga. Sie haben nur Verwirrung damit angerichtet, weiter nichts.« Nanga erwiderte: »Sie haben recht, Anne, aber ich tat es in guter Absicht. Neue Ideen stiften immer erst Verwirrung. Und wen ginge diese These mehr an als die Hinterbliebenen?« »Schön«, sagte Anne, »in guter Absicht. Aber nun ist Ihre gute Absicht fehlgeschlagen. Niemand will etwas von dieser merkwürdigen These wissen - selbst Ihr Professor nicht, wie ich aus dem Gespräch mit Cedrice entnehmen konnte. Ich denke, es ist jetzt genug damit.« Unbewußt hatte Annes Stimme einen anderen Tonfall bekommen; etwas Herausforderndes war darin. »Sie haben recht«, wiederholte Nanga, »ich weiß jetzt, daß wir keine Unterstützung zu erwarten haben. Das ist schade…« »Sie hoffen noch immer auf Wulkos Hilfe?«
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»Ein bißchen, ja«, gestand Nanga, »wenn er sich einsetzte, gäbe es vielleicht doch noch eine Hoffnung.« Nach einer Pause fügte sie hinzu: »Es hat Bergwerksunglücke gegeben, bei denen Menschen eingeschlossen wurden. Und gegen die Ansichten von Fachkommissionen haben Menschen an ein Überleben geglaubt. Und sie haben recht behalten.« Fast schroff antwortete Anne: »Cedrice hat nie daran geglaubt, erst Sie haben ihn durcheinandergebracht. Ich kenne Cedrice besser als Sie. Er hat Geologie studiert, und er wäre zu diesem Beruf zurückgekehrt - besonders nach dem mißlungenen Test. Jetzt wird er alles daransetzen, seine Zukunft in der Raumfahrt zu sehen. Sein Vater hat diese Zukunft bereits eingebüßt - wofür? Vielleicht zum Ruhme der Wissenschaft oder des Fortschritts? Ich will Ihnen etwas sagen: Mir sind diese Phrasen vom Heldentum und von der Pionierarbeit im Kosmos unerträglich; ich begreife den Amoklauf zu den Sternen nicht, und ich werde alles tun, um Cedrice zu beeinflussen. Er soll auf der Erde bleiben und nicht den Weg seines Vaters gehen. Mögen andere dieses Schauspiel spielen, sich feiern lassen, ich empfinde die Menschen, die sich hinaufschießen lassen, weder als Helden noch als Pioniere. Sehen Sie sich doch um, wieviel Not es gibt, gehen Sie durch die Krankenhäuser und durch die Elendsviertel dieser Erde. Dort sehen Sie nicht nur Unglück und Jammer, sondern auch Helden, denen weder die Mitwelt noch die Nachwelt Ruhmeskränze flicht. Jede neu errichtete Kinderkrippe, jede neu erbaute Straße, jedes Stück Land, das dem Meer abgerungen wird, ja selbst jedes in die Erde gesteckte Weizenkorn ist unendlich wertvoller als dieses sinnlose Abtasten des Nichts.« Verwirrt ließ Nanga diese Flut von Belehrungen und Anklagen über sich ergehen. Sie war darauf gefaßt gewesen, Vorwürfe zu hören, die ihre Beziehungen zu Cedrice betrafen; diesen leidenschaftlichen Ausbruch hatte sie nicht erwartet. Anne kompensierte ihr persönliches Mißfallen auf eine Weise, die jedem vordergründigen Verdacht einer Eifersucht aus dem Wege ging. »Ich weiß, daß Sie in diesen Fragen anderer Meinung sind«, fuhr Anne fort, »doch das berechtigt Sie nicht, Cedrice in die lächerliche Rolle eines zeitgenössischen
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Helden zu drängen. Ich jedenfalls habe eine andere Auffassung von Heldentum. Und ich finde es schauderhaft, wenn Menschen am Sternenhimmel nur noch physikalische Einheiten erblicken, wenn sie bei ihren schrecklichen Testversuchen dressiert werden, alles aufzuspeichern, sogar Dinge, die ihnen in Wahrheit fremd sind, ein Gedicht, ein Bild, ein Violinkonzert, wenn ihnen Schönheit nur noch die gleichförmige Bewegung im Raum oder die Präsizion einer Quarzuhr ist. Es gibt bessere Beschäftigungen, als Formeln in sich hineinzustopfen und im Weltenraum die Elementarteilchen pro Kubikzentimeter zu messen oder Rekorde für den Aufenthalt in der Schwerelosigkeit aufzustellen. Aber ihr seid ja alle so fortschrittlich, und wer andere Gedanken entwickelt, der gilt bei euch als reaktionär. Doch meinetwegen denken Sie von mir, was Sie wollen.« Anne hatte die letzten Worte mit nachdrücklicher Betonung gesprochen. Nach einer Pause fügte sie hinzu: »Das wollte ich sagen, ich denke. Sie haben mich verstanden.« Sie machte eine Wendung zur Tür und blieb dann unschlüssig stehen. Nanga hatte diese Redeflut so verwirrt, daß sie im ersten Augenblick kein Wort hervorbrachte. Dann faßte sie sich und sagte: »Sie haben recht, Anne, ich bin anderer Meinung als Sie, aber deswegen würde ich Sie niemals reaktionär nennen. Sind Sie zu mir gekommen, um mit mir über die Zweckmäßigkeit der Raumforschung und über Heldentum zu sprechen?» »Das hängt wohl alles miteinander zusammen«, erwiderte Anne. »Auf jeden Fall bin ich überzeugt, daß Sie in Ihrem Observatorium nützlichere Arbeit verrichten können als hier.« Sie wollte die Tür öffnen und ohne Gruß hinaustreten, als ein Klopfen sie zusammenfahren ließ. Unwillkürlich trat sie einen Schritt zurück und sah Nanga forschend an. »Öffnen Sie ruhig«, sagte sie beherrscht. »Sie bekommen Besuch. Haben Sie keine Bedenken, ich werde Sie nicht stören.« Wieder klopfte es. Als Nanga öffnete, stand ein Bote vor ihr. Der reichte ihr ein langes Kuvert und sagte: »Ein dringendes Telegramm für Sie. Bitte, haben Sie die Liebenswürdigkeit, den Empfang zu bestätigen.« Sie ließ den Boten eintreten, suchte umständlich nach ihrem Federhalter und unterschrieb. Als sie aufsah, war Anne nicht mehr
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im Zimmer. Nanga las nur den Absender des Telegramms. Es kam aus Manik Maya. Benommen setzte sie sich auf ihr Bett. Eine Sekunde lang kam ihr der Gedanke, Anne nachzulaufen und ihr zu sagen, daß ihre Befürchtungen grundlos seien. Doch sie blieb sitzen und wußte, es wäre eine Lüge gewesen. Nur dies hätte sie Anne sagen können: In wenigen Stunden wird es keinen Grund mehr zur Beunruhigung geben. Sie öffnete das Telegramm. Shagan schrieb: »Der Schritt, den Sie ohne mein Wissen und ohne meine Zustimmung unter Ausnutzung meines Krankheitszustandes unternommen haben, findet meine höchste Mißbilligung. Ich erwarte von Ihnen, daß Sie augenblicklich zum Observatorium zurückkehren. Zu Ihrer Information sei gesagt, daß ich meine These als unhaltbar zurückgenommen habe; das Präsidium der OR ist davon unterrichtet. Ich habe Ihr Gepäck nach Manik Maya kommen lassen und erwarte Sie in den nächsten vierundzwanzig Stunden. Shagan.« Dem Telegramm war eine Nachricht beigefügt; sie stammte aus Damars Feder. Er schrieb: »Liebe Nanga, nimm dem alten Knurrhahn das Geschimpfe nicht übel. Du kennst ihn ja und weißt, wie er es meint. Ich freue mich auf das Wiedersehen, ohne Dich ist es einsam hier. Damar.« Nanga hatte Ähnliches erwartet, sie war durch Doktor Boros’ Brief vorbereitet gewesen, und doch schockierte sie diese Mitteilung. Es wäre ihr begreiflich gewesen, wenn er sich stillschweigend zurückgezogen hätte; diese nachträgliche Zustimmung zum Prager Beschluß fand sie würdelos. Der Gedanke, jetzt zum Observatorium zurück zu müssen und an seiner Seite weiterzuarbeiten, erschien ihr absurd. Und noch schlimmer für sie war die Vorstellung, daß Damar Wulan auf ihre Ankunft wartete und daß er in seiner Ahnungslosigkeit ihr erneut nachstellen würde. Sie nahm den Telefonhörer und erkundigte sich nach einer Flugverbindung. Die nächste Maschine, erfuhr sie, flog um sieben Uhr in der Frühe. Nanga ließ einen Platz buchen.
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X Cedrice war noch vor Tagesanbruch erwacht. Die Hoffnung, Wulko könnte doch noch anderen Sinnes geworden sein, war ihm bis in den Schlaf gefolgt. Und je mehr er daran dachte, desto stärker wurde in ihm diese Hoffnung. In diesen Minuten wußte er noch nicht, daß seine Träume Wirklichkeit werden sollten. In wenigen Stunden würde die Welt von einer neuen Auferstehung erfahren. Es gab keine »Wunder« mehr auf der Erde. Die Logik, die kühle Vernunft hatten den Aberglauben in die Klöster verbannt, und er wurde täglich aufs neue in den Laboratorien zerstört. »Wunder« ließen sich mathematisch errechnen und im Mikroskop sichtbar machen. In den Schulen demonstrierten die Lehrer ihren Schülern die Zellkernteilung und den geheimnisvollen Vorgang der Photosynthese im Blattgrün der Pflanzen. Bereits Verstorbene verließen, wieder zum Leben erweckt, den Operationssaal; die Vernunft duldete keine Wunder mehr. Zweitausend Jahre lang hatte das rührende Märchen vom Zimmermannssohn, der nach drei Tagen dem Grabe entstiegen war, die Dichter, Maler, Bildhauer und Mythologen inspiriert. Nach dem Willen seiner menschlichen Schöpfer war er ins Paradies eingegangen. Niemand vermochte zu sagen, wo sich dieses Paradies befand. Und die sechs in der »Charles Darwin«? Wenn sie noch am Leben waren - hatten sie das Paradies gesehen? Noch lag der Schleier des Schweigens über dem Unglücksraumschiff; doch wer wollte es Cedrice verargen, wenn Hoffnung und Glauben an die Richtigkeit der Shaganschen These immer wieder seine Zweifel verdrängten und wenn er in diesem Glauben an die Auferstehung eines geliebten Menschen so etwas wie ein kleines Wunder erblickte? Er kannte die Formel für die Entweichgeschwindigkeit, und er kannte die Bewegungs- und Entwicklungsgesetze, doch die Logik ist ohne Poesie, und Cedrices entflammte Phantasie ließ wenig Raum für syllogistisches Denken.
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Er war es gewohnt, früh aufzustehen, kalt zu duschen und Frühsport zu treiben. Es gehörte zum Tagesablauf, den Tag mit einem Waldlauf zu beginnen. Cedrice schlüpfte in den Trainingsanzug. Er kannte das Gelände und lief ein paar Kilometer über vertraute Waldwege. Es wäre nicht ausgeschlossen gewesen, daß er unterwegs Alexander Wulko getroffen hätte. Doch der Chefausbilder war an diesem Morgen nicht zu sehen. Als Cedrice zurückkam, traf er Nanga in der Hotelhalle. Er sah ihre Reisetasche. Nanga sagte: »Ich habe einen Brief beim Empfang für dich zurückgelassen, Cedrice.« »Dann gute Reise«, erwiderte er. Sie nahm im Vestibül auf einer Couch Platz. Etwas unentschlossen setzte er sich ebenfalls. Eine Weile fiel kein Wort zwischen ihnen. Dann erwähnte sie das Telegramm. »Ist das der wirkliche Grund?« fragte er. Als sie keine Antwort gab, sagte er: »Ich finde, es gibt nichts Unanständigeres, als anständig sein zu wollen. Wem wärst du Rechenschaft schuldig?« »Shagan«, antwortete sie. »Gerade seinetwegen solltest du noch bleiben. Auf die Antwort von Alexander könntest du warten. Und Professor Shagan braucht sicher auch die Unterlagen.« »Wulko soll sie nach Manik Maya schicken«, antwortete sie, »es hat Zeit damit. Der Professor hat sich offiziell von seiner These distanziert. Er hat eingesehen, daß sie unhaltbar ist.« Sie brachte es fertig zu lächeln. Cedrice blickte sie erstaunt an. »Daß sie unhaltbar ist?« wiederholte er. »Was ist unhaltbar? Wie kann etwas unhaltbar sein, was er schwarz auf weiß bewiesen hat? Vielleicht ist er bei seinen Überlegungen von falschen Voraussetzungen ausgegangen, das wäre denkbar. Aber er hat doch diese These geboren, und man kann sie nur durch Beweise widerlegen. Was ist das für ein Mensch, dein Professor Shagan?« »Er war von Anfang an unsicher«, sagte sie. Cedrice fuhr fort, als spräche er für sich; »Ich sehe ein, daß ich mich zweimal zu falschen Hoffnungen habe verleiten lassen, und ich bin mir nicht mehr sicher, was schmerzhafter ist. Du gehst also nach Manik Maya zurück. Schade, ich käme gern mit. Ich möchte diesem Shagan einmal gege-
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nüberstehen, und ich möchte ihm etwas sagen…« Der Professor von Alanik Maya war für Cedrice ein willkommener Anlaß, um seiner Enttäuschung über ihre plötzliche Abreise Luft zu verschaffen. »Was für ein Held«, grollte er weiter, »wer hat ihn gezwungen, seine Überlegungen zu widerrufen? Wollte man ihn wie Giordano Bruno auf dem Scheiterhaufen verbrennen? Hätte er sich in Schweigen gehüllt das wäre begreiflich gewesen. Bestelle doch deinem Professor einen schönen Gruß von mir, sage ihm, daß er ein kleiner, schäbiger Opportunist ist. Ja, das ist das richtige Wort, das ist die große Krankheit, an der die Menschen zu allen Zeiten gelitten haben. Den Krebs, die Tuberkulose können wir heilen, aber dieses Geschwür sitzt offenbar in der Erbmasse, und kein Doktor kann es herausoperieren. Manchmal frage ich mich, ob es nicht besser wäre, in einem Satelliten um die Sonne zu kreisen. Dort wäre dann zwar auch alles so eingeteilt wie hier, die tägliche Wissenszunahme, die tägliche Kalorienkost, das ganze eintönige Einerlei - aber dort gäbe es wenigstens keine abgesteckten Grenzen für Zivilcourage.« Er verstummte, als einige Gäste in ihre Nähe kamen. »Ich kann dich also nicht zurückhalten?« fragte er etwas leiser. Sie sah ihn an, und er las aus ihren Augen die Antwort. Bis zum Flugplatz waren es nur zehn Minuten Fahrt. Cedrice konnte noch immer nicht begreifen, daß alles zu Ende sein sollte. Er hatte ihre Hand ergriffen; Worte und Bitten lagen ihm auf der Zunge, aber er schwieg. Als der Wagen zum Flughafen einbog, küßte sie ihn. »Ich werde dich nicht vergessen, Cedrice«, flüsterte sie, »trotzdem will ich mir Mühe geben, nicht an dich zu denken.« Sie stieg aus. Cedrice wartete nicht, bis sich das Flugzeug vom Boden abgehoben hatte. In der Hotelhalle wartete Anne. Als sie Cedrice sah, wußte sie, daß mit Nangas Abreise sich nichts geändert hatte. Sie frühstückten zusammen, und Anne stellte ein paar Fragen, auf die er lustlos antwortete. Als er aufstehen wollte, um Wulko aufzusuchen, hielt sie ihn
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zurück. »Willst du mir nicht sagen, was weiter geschehen soll, Cedrice?« Er zuckte die Schultern. »Was soll geschehen, Anne? Die Ferien sind vorbei. Ich werde hierbleiben, aber darüber muß ich mit Alexander sprechen.« »Und Nanga?« fragte sie. »Ich weiß, daß du sie liebst - ich wußte es eigentlich vom ersten Tage an. Wirst du sie wiedersehen?« »Ich weiß es nicht«, sagte er, »ich glaube nicht…« Er brach ab; Alexander Wulko war ins Restaurant getreten und kam auf sie zu. Cedrice machte ihn mit Anne bekannt. Wulko nahm Platz und bestellte einen Mokka. Er war unrasiert und sah übernächtig aus. Auch war er eigenartig wortkarg. Es hätte sich gehört, ein paar Fragen an Anne zu richten, doch Wulko schien sie überhaupt nicht zu bemerken. Cedrice unterbrach das Schweigen und unterrichtete Wulko von Nangas Abreise und Shagans Telegramm. Zu seiner Verblüffung lächelte Wulko darüber. »Das ist Pech für den Professor«, antwortete er, »seine These dürfte sich als richtig erwiesen haben.« Cedrice starrte ihn entgeistert an. »Ich habe die Nacht am Hundeohr verbracht«, fuhr Wulko fort und fügte für Anne erklärend hinzu: »Wir nennen das Hauptzentrum für Radioastronomie so, weil sie eine Zeitlang das Sternbild des Großen Hundes belauscht haben. Um es kurz zu machen, Cedrice - ich suchte gestern abend mit den Unterlagen einen Bekannten von mir auf. Er ist der Herausgeber der Zeitschrift ›Apsiden‹. In der vorletzten Nummer dieser Zeitschrift hatte Professor Bergensen, einer der Leiter des Hundeohrs, einen interessanten Artikel veröffentlicht. Die Überschrift lautete ›Echosignale‹. Vor einiger Zeit waren merkwürdige Funksignale aufgefangen worden, deren Herkunft nicht identifiziert werden konnte. Man vermutete zunächst, diese Signale stammten von einer alten Raumsonde aus den sechziger Jahren. Doch es gab keine Sonde, deren Sender mit einer solchen Frequenz arbeitete. So entstand dieser Aufsatz.« »Und welche Frequenz hatte der Sender?« fragte Cedrice. Er bemühte sich, ruhig zu bleiben, doch er konnte seine Erregung nicht verbergen.
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Wulko ließ sich Zeit mit der Antwort. Der Kellner brachte den Mokka; Wulko trank einen Schluck, dann sagte er: »Es lag nahe, daß man nur die noch auf einer Umlaufbahn befindlichen Raumkörper in Betracht zog. Auf die ›Darwin‹ kam man natürlich nicht, denn sie galt ja als nicht mehr existent. Und jetzt stellte sich heraus, daß die aufgenommenen und nicht entzifferbaren Signale mit der Frequenz eines Senders der ›Darwin‹ übereinstimmten. Karew und ich haben mit Afonin und Bergensen gesprochen, und wir haben uns auch die auf Tonband festgehaltenen Signale angehört. Es ist nicht ganz verständlich, weshalb sie nie wieder gehört wurden. Auf jeden Fall hat Shagans These jetzt einiges Gewicht bekommen, denn wenn es keine Echosignale waren, wenn Bergensen sich geirrt hat, dann könnten die Signale tatsächlich von der ›Darwin‹ stammen.« Cedrice vermochte sich nicht mehr zu beherrschen. Er sprang auf. »Was heißt: könnten!? Wie kannst du jetzt noch zweifeln, Alexander? Sie leben, sie haben sich gemeldet - und wir sitzen hier und debattieren. Was geschieht denn nun weiter? Soll das Präsidium jetzt vielleicht erneut zusammentreten und wieder beraten?« »Was dachtest du? Natürlich wird man erneut beraten. Es ist sinnlos, jetzt etwas zu überstürzen. Bekommt Shagan recht, so wird das Marsprogramm abgeblasen werden müssen. Die Rechenzentren werden auf Grund der vorhandenen Fakten die möglichen Bahnen berechnen. Wir können jetzt nur abwarten. Spätestens morgen wird das Präsidium zusammentreten.« »Sie leben«, murmelte Cedrice, »sie leben.« »Hoffen wir es.« Wulko erhob sich. »Ich bin todmüde. Habt ihr heute etwas vor?« Da Cedrice keine Antwort gab und noch immer, von der Nachricht überwältigt, über diese unerwartete Wendung nachdachte, antwortete Anne: »Wir sind den ganzen Tag hier erreichbar.« »Gut«, sagte Wulko, »meine Sekretärin wird zwei Passierscheine ins Hotel schicken. Im Kambo-Talkessel wird heute die ›Johannes Kepler‹ für einen kleinen Kreis zur Besichtigung freigegeben.« »Ich will keine ›Kepler‹ sehen«, sagte Cedrice, »sie sieht nicht anders aus als die ›Darwin‹.«
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»Aber ich möchte sie gern einmal aus der Nähe betrachten«, sagte Anne »ich habe noch nie eine Rakete von nahem gesehen.« »Rakete«, brummte Wulko, »das ist für meine Ohren schlimmer, als wenn Sie mit einer Gabel auf einem Teller kratzen. Cedrice sollte Ihnen mehr darüber erzählen. Also seht euch heute nachmittag den Kasten an; ihr könnt mit meinem Wagen fahren.« »Ich mag nicht«, murrte Cedrice, »begreifst du nicht, Alexander, ich kann überhaupt nicht mehr denken nach dem, was du erzählt hast. Du tust so, als wäre das die simpelste Sache von der Welt.« »Ich weiß schon, was ich tue, Cedrice. Diese Besichtigung wird dich etwas ablenken. Außerdem ist es noch aus einem anderen Grunde wichtig, daß du die ›Kepler‹ etwas unter Augenschein nimmst. Oder wolltest du dich nicht um eine Teilnahme an der Expedition bewerben?« »Natürlich will ich das«, versicherte Cedrice hastig. Wulkos Eröffnung war zu schnell für ihn gekommen. In seinem Kopf geisterten die geheimnisvollen Signale und die sechs, die irgendwo auf einer unbekannten Bahn durch den Raum zogen. »Ich will unbedingt dabeisein«, stammelte er verwirrt, »aber mein Test? Wann kann ich ihn wiederholen?« »Darüber werde ich heute nachmittag mit Doktor Nierenz verhandeln«, versetzte Wulko. Er unterdrückte ein Gähnen. »Ich lege mich jetzt ein paar Stunden schlafen. Bringen Sie ihn auf andere Gedanken, Anne, gehen Sie spazieren, oder spielen Sie Schach mit ihm. Um halb eins ist der Wagen hier.« Er verabschiedete sich und ließ sie allein. Anne war von dieser Unterredung nicht weniger überwältigt als Cedrice. In ihr wurde so etwas wie Schuldbewußtsein wach, denn sie hatte von der ersten Sekunde an gezweifelt. Noch im Blockhaus hatte Anne die Shaganschen Überlegungen als absurd bezeichnet. Impulsiv ergriff sie Cedrices Hand. »Ich freue mich für dich, Cedrice, es war dumm von mir, so voreilig zu urteilen…« Er dachte längst nicht mehr daran. »Laß es gut sein, Anne«, erwiderte er versöhnlich, »es haben ganz andere Leute falsch geurteilt,
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sogar der alte Shagan ist kleinlaut geworden. Bitte entschuldige mich, ich muß jetzt einen Augenblick allein sein, ich will an Nanga telegraphieren, sie muß zurückkommen…« Sie sah ihm nach; ihr war zum Weinen zumute.
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XI Die Geschichte der Erfindungen und Entdeckungen ist reich an Duplizitäten. Im vergangenen Jahrhundert hatte sich beispielsweise der französische Mathematiker Leverrier in seine Studierstube zurückgezogen, um ein Phänomen zu ergründen. Es war nämlich vielen Astronauten unerklärlich, weshalb der Planet Uranus immer wieder seinen Bahnverlauf um die Sonne geringfügig änderte. Ein halbes Jahr lang rechnete Leverrier, dann war er dem Rätsel auf die Spur gekommen: jenseits der Uranusbahn mußte sich ein weiterer Planet befinden. Zur gleichen Zeit hatte in Berlin der Astronom Galle einen Teil des Sternenhimmels vermessen und eine Sternkarte angefertigt. Leverrier setzte sich mit Galle in Verbindung. Wenn es tatsächlich einen weiteren Planeten gab, dann konnte er sich auf der neuen Sternkarte nicht mehr auf seinem alten Platz befinden. Leverrier behielt recht. Er hatte tatsächlich mit der Schreibfeder einen neuen Planeten entdeckt. Sein Name: Neptun. Es ließen sich viele solcher Beispiele anführen. In dem Streit um die Theorie des knurrigen Alten von Manik Maya führte eine dramatische Entdeckung zu einer Wende. Doch es waren nicht die Funksignale, die den Ausschlag gaben. Professor Shagan selbst war es gewesen, den Nanga auf eine Pressemeldung hingewiesen hatte: Vom amerikanischen Kontinent war ein Raumschiff aus der »Prometheus«-Versuchsserie gestartet worden. Die »Darling of Stars« besaß ein neues Antriebs- und Lenksystem, zwei Astronauten erprobten es. Seit fünf Tagen bewegte sich das Raumschiff weit außerhalb der Mondbahn. Die Berichte der beiden Astronauten waren vielversprechend. Das neue Antriebssystem bewährte sich, die Techniker konnten sich auf den nächsten Schritt vorbereiten. An Bord befanden sich der sechsunddreißigjährige Robert Ardsley, von Beruf Sportsmann und Flieger, Vater eines elfjährigen Mädchens, und der fünfundvierzigjährige David Hunter, unverheiratet, 91
bewährt als Testraumfahrer, ein Mensch, dem seine Kameraden nachsagten, er habe keine Nerven. Er leitete diesen Flug, hielt Verbindung mit der Leitstation und testete, was die Wissenschaftler von ihm verlangten. Dazu gehörten immer wieder neue Bahnkorrekturen und der Ein- und Ausstieg aus dem Raumschiff. Am neunten Tage ihres Fluges wurde der Test beendet. Sie erhielten den Befehl zur Rückkehr. Zu dieser Zeit befand sich die »Darling of Stars« vierhundertsiebzigtausend Kilometer von der Erde entfernt. Neun Tage im Kosmos waren nicht viel, dennoch zeigten sich beide befriedigt über die Anweisung zur Rückkehr. Dieser Rückflug erfolgte mit einer automatischen Programmsteuerung. Hunter und Ardsley hatten nicht mehr viel zu tun. Sie benutzten diese Mußestunden, um einen privaten Auftrag zu erfüllen, für den sie sich bei dem Chef der Leitstation, Doktor Cowper, die Genehmigung eingeholt hatten. Zwei Zeitschriftenredaktionen wollten Photos und Zeichnungen von ihnen. Während Hunter eine partielle Erdfinsternis mit dem Zeichenstift festzuhalten suchte, filmte und photographierte Ardsley und bedauerte, daß sie noch keiner alten Raumsonde begegnet waren. Ein solches Zusammentreffen mit den ersten unbemannten Satelliten blieb ein seltenes Schauspiel; viele von ihnen waren längst in der Erdatmosphäre verglüht, andere zogen auf langgestreckten Bahnen um die Sonne und waren selbst bei Annäherung schwer zu orten. Ardsley blickte seinem Gefährten über die Schulter. Für einen Maler bot das All keinen sehr abwechslungsreichen Hintergrund. »Ich würde mit dem Zeichnen warten, bis wir auf dem Mond die erste Stadt errichtet haben…« »Das erleben wir beide nicht mehr«, antwortete David Hunter. Er hatte ein Schutzfilter vor das Bordfenster gezogen und skizzierte sorgsam das seltene Schauspiel, das Mond und Erde boten. »Diese Mondtrauben, Bob, hängen nicht nur verdammt hoch«, fuhr er fort, »sie sind sogar wirklich sauer. Und die ersten Häuser werden wohl eine starke Ähnlichkeit mit den Iglus der Eskimos haben. Nur daß es dort…« Er verstummte und blinzelte angestrengt durch das Schutzfilter. »Was ist los?« erkundigte sich Ardsley, »kommen die Marsbewohner?«
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»Es sah aus, als krieche eine Laus über die Mondscheibe. Merkwürdig - habe ich einen Sehfehler?« »Nein«, sagte Ardsley, »du hast richtig gesehen. Es ist zwar keine Laus, aber so eine alte Sonde habe ich mir schon lange gewünscht.« Tatsächlich bewegte sich nicht weit von ihnen ein winziger Körper, der durch die Lichtverhältnisse außerordentlich hell, wie ein Stern erster Größe, leuchtete. Ardsley richtete die Bordkamera auf die Sonde. »Du siehst, David«, rief er vergnügt, »es gibt einen Weihnachtsmann - er muß meinen Wunsch gehört haben.« »Vermutlich haben wir einen alten Explorer entdeckt - die Größe könnte stimmen - oder täuscht die Entfernung?« »Wahrscheinlich«, sagte Ardsley und machte einige Schnappschüsse. David Hunter betrachtete die Sonde. »Nein, Bob, die Sonde ist ziemlich nahe bei uns, aber…« »Was aber?« »Ich sehe drei Antennen, und auf der Kugel steht ein Wort.« »Was für ein Wort?« »Darwin.« »Darwin?« fragte Ardsley verwundert. »Die drüben hatten vor rund einem Jahr eine ›Darwin‹ gestartet - aber sie liegt auf dem Mond.« »Darwin«, wiederholte David Hunter, »die Sonde hat einen Durchmesser von höchstens fünfundzwanzig Zentimetern.« »Vielleicht ein Spion«, mutmaßte Ardsley, »sie spionieren uns nach. Wer weiß, wie lange uns diese Sonde schon verfolgt.« »Sie kommt uns entgegen«, sagte Hunter, »und für einen Spion wäre sie reichlich primitiv.« Er rief die Leitstation und berichtete von ihrer Entdeckung. Nach einer Pause klang es durch den Lautsprecher: »Versuchen Sie eine Annäherung, und holen Sie die Sonde an Bord.« Als Ardsley durch das Teleskop sah, war von der Aufschrift nur noch der Buchstabe »D« zu sehen. Es lag an der Eigenbewegung, die der kleine Körper auf seiner Reise durch den Weltenraum ausführte. Ähnlich wie bei einem drehenden Kreisel taumelte seine Achse. Die Erde vollführte eine ähnliche Drehung, und die Astronomen nannten diese Erscheinung »Präzession«. Doch die Präzession der
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Erde wurde von der Sonne, dem Mond und den Planeten ausgelöst. Schuld daran war ihre nicht ganz einwandfreie Kugelgestalt, die unterschiedliche Anziehungseffekte hervorrief. Bei der kleinen Sonde ließ sich das merkwürdige Drehmoment nur dadurch erklären, daß sich im Innern Gegenstände befinden mußten, die ungleichmäßig gelagert waren. »Vielleicht ist es eine Nachrichtensonde der ›Darwin‹«, meinte Hunter, »sie können sie vor dem Absturz hinauskatapultiert haben.« Ardsley antwortete nicht. Er ließ keinen Blick von der Sonde. Das neue Lenk- und Antriebssystem der »Darling of Stars« war für einen solchen Bergungsversuch ausgezeichnet geeignet. Sie hatten den Bahnverlauf der kleinen Sonde annähernd bestimmt und schalteten nun ihren eigenen Antrieb ein. Dabei entfernten sie sich zunächst um mehrere hundert Kilometer, bis sie sich ungefähr auf der Bahnhöhe der Sonde befanden. Die Geschwindigkeit der kleinen Kapsel war enorm groß. Ardsley und Hunter folgerten daraus, daß sich das Raumschiff - falls diese Sonde wirklich von der »Darwin« stammen sollte - mit extrem hoher Geschwindigkeit bewegt haben mußte. Fünf Stunden manövrierten sie, geleitet von den Hinweisen der Leitstation, dann schwebte die Sonde in nur hundert Metern Entfernung über ihnen. Es vergingen weitere Stunden, bis dieser Abstand auf fünfzehn Meter zusammengeschmolzen war. Noch näher heranzumanövrieren wäre ein Risiko gewesen, denn ein Zusammenprall mit diesem winzigen künstlichen Himmelskörper konnte diesem einen unerwünschten Schub verleihen, der ihn dann erneut davongetrieben hätte. Robert Ardsley machte sich für den Ausstieg fertig. Sein Gefährte erläuterte den Wissenschaftlern auf der Station, was an Bord vor sich ging. »Ardsley ist in den Raumanzug gestiegen«, erklärte er, »wir überprüfen Druck, Sauerstoffgehalt, Heizung, Sendeanlage. Alles okay. Ardsley klettert jetzt in die Schleuse…« Was dort geschah, konnte David Hunter nicht sehen, doch diese Ein- und Ausstiege waren von beiden hundertmal in der Praxis geübt worden. Der Druck in der Schleuse wurde abgelassen, der Sauerstoff entwich, es herrschten in der Schleuse die gleichen Bedingungen wie im Raum. Nun
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konnte der Ausstieg erfolgen. Fünf Minuten später sah David Hunter seinen Gefährten durch das Bordfenster. »Bob ist ausgestiegen«, berichtete er der Station, »er rollt die Leine ab und entfernt sich. Er taumelt. Hallo Bob, alles okay?« »All right«, kam es zurück. Robert Ardsley winkte. Er hatte seine Kamera mitgenommen und machte einige Aufnahmen. Dann war er dicht vor der Sonde. Er griff vorsichtig nach einem Antennenstab und zog die Kugel an sich. Die Antennen ließen sich einschieben. Hunter beobachtete, wie sein Gefährte sich am Seil zum Raumschiff zurückzog. David Hunter hörte seinen Kameraden einsteigen. Das Raumschiff schepperte, als Robert Ardsley die Luke zuklappte und verschraubte. Der Sauerstoff zischte in die Schleuse. Wenige Augenblicke später zeigten die Druckmesser wieder für beide Räume den gleichen Luftdruck an. Robert Ardsley konnte sich seines unförmigen Raumanzuges entledigen und zu seinem Gefährten zurückkriechen. »Es war kinderleicht«, sagte er aufatmend, »jetzt bin ich gespannt, was wir aufgefischt haben.« Auf der Bodenstation erwartete man das Ergebnis mit nicht geringerer Spannung. Es war unzweifelhaft eine Nachrichtensonde, deren Inneres ein Geheimnis barg. David Hunter öffnete den Verschluß. Die kleine Kugel klappte auseinander. Ein gefaltetes Stück Papier lag obenauf, darunter eine Metallkassette. Ardsley nahm das Papier heraus und faltete es auseinander. Mehr für sich als für die Station las er den Text, der darauf stand, Worte, von Hand geschrieben: »Wir leben, rettet uns! Wir haben bereits eine Sonde hinauskatapultiert. Wenn wir nicht innerhalb der nächsten sieben Monate gerettet werden, kommt jede Hilfe zu spät!« Unter diesem Hilfeschrei standen vier Namen. Darunter Zahlen und Daten, die den Bahnverlauf der »Darwin« angaben. Hunter und Ardsley blickten sich an. »Eine Office Ordre aus dem Himmel«, murmelte Ardsley. »Oder aus der Hölle.« Die Station rief. Man wollte den Text und die Zahlenangaben noch einmal hören. »Der Teufel muß seine Hand im Spiele haben«, sagte Ardsley und bekreuzigte sich. Er schlug vor jedem Einstieg in ein Raumschiff ein Kreuz. »Heilige Jungfrau Maria, seit neun oder zehn Monaten ver-
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mutet man sie zerschmettert auf dem Mond! Wie ist das nur möglich?« »Bob«, flüsterte Hunter, »vielleicht sind sie sogar in unserer Nähe? Die Sonde ist dreiundzwanzig Tage unterwegs.« David Hunter blickte durch das Bordfenster, als könnte dort jeden Augenblick die »Darwin« auftauchen. Sie hätten auf Grund der angegebenen Daten leicht feststellen können, daß sich das verunglückte Raumschiff nicht in ihrer Nähe befinden konnte. Doch sie waren jetzt nicht in der Lage, eine Berechnung durchzuführen. Es überraschte sie auch nicht, als sich der Sprecher der Leitstation meldete und ihnen sagte, daß sich nach den Daten die »Darwin« ungefähr hundertdreißig Millionen Kilometer von ihnen entfernt befand. Das war fast die Entfernung Erde-Sonne. Die beiden starrten auf die Zahlen und verstanden kaum den Sprecher der Leitstation. Der ermahnte sie, auf die Instrumente zu achten und ihren eigenen Bahnverlauf zu kontrollieren. Dann erkundigte er sich nach dem weiteren Inhalt. Ardsley hatte die Kassette herausgenommen und geöffnet. Es lag ein Tonband darin. Sie waren beide so überwältigt, daß der Sprecher der Leitstation seine Frage mehrmals wiederholen mußte. »Die Worte von Toten«, sagte Ardsley, »ich begreife das nicht, man hat ihnen ein Denkmal gesetzt, sie wurden offiziell begraben - sogar von uns war eine Delegation anwesend. Nach der offiziellen Verlautbarung liegen die sechs mit den Trümmern ihres Raumschiffes auf dem Mond - wie ist das hier möglich?« David Hunter sah auf das Tonband, als hätte er eine Giftspinne vor sich. »Verdammt!« stieß er hervor, »sie leben und hoffen, und wir können ihnen nicht helfen!« Er rief die Station und berichtete wirr, was er fühlte. Zum ersten Male schien David Hunter die Nerven verloren zu haben. Noch nie hatte Ardsley seinen Gefährten in einer solchen Verfassung gesehen. »Sie werden sterben!« rief Hunter bedrückt. »Wer soll sie in so kurzer Zeit erreichen?« »Immerhin sieben Monate, David«, meinte Ardsley. »Hundertdreißig Millionen Kilometer - wie soll man dorthin gelangen? Nein, man kann sie nicht retten…« Er stöhnte auf über diese plötzliche Erkenntnis. »Laß es gut sein, David«, sagte Ardsley tröstend, »irgend
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etwas wird man schon unternehmen. Es hätte uns genauso treffen können. Was nützt ihnen jetzt ihr modernes Raumschiff? Ich möchte nicht in ihrem Kasten sitzen. Und ich werde zwanzig Rosenkränze beten, wenn wir erst wieder festen Boden unter den Füßen haben.« David Hunter wollte das Band auflegen, aber er war zu aufgeregt. Ardsley nahm ihm die Arbeit ab. »Gleich werden wir Näheres erfahren, David, aber vielleicht sollten wir das Band erst unten anhören. Ich habe kein gutes Gefühl hier draußen. Man weiß nie, wann es einen trifft…« »Schalte ein, Bob«, befahl Hunter. Ardsley koppelte das Abhörgerät mit der Sendeanlage. Jetzt konnte die Station mithören. Er nickte seinem Gefährten zu und schaltete ein. Das Band lief. Sekunden war nichts zu hören, dann klangen Wortfetzen auf. Jemand sagte: »Das Band läuft, sprich jetzt.« Nach einer Sekunde wurde ein tiefer Atemzug vernehmbar, dann eine Frauenstimme. Es war ein ungewohnter Ton zwischen ihren Metallwänden, aber er war so deutlich zu hören, als stünde die Sprecherin unmittelbar neben ihnen. Die Frau sagte: »Hier spricht Sonja. Meine Worte werden die Erde nicht mehr erreichen; dennoch will ich sie dir, Liebster, widmen. Wir haben durchgehalten, solange es möglich war. Ich habe dich nicht vergessen, immer waren meine Gedanken bei dir. Ich weiß, Liebster, daß du mich für tot hältst. Es ist wahr, dieses Dasein ist kein Leben mehr. Unser Raumschiff wurde zu einem Stern unter Sternen, eine andere Welt mit ihren eigenen Gesetzen und Moralbegriffen. Wenn dich meine Worte je erreichen sollten und wenn du unser kleines Büchlein noch hast, in dem wir so oft unsere Gedanken niedergeschrieben haben, so füge diesen letzten Gruß von mir hinzu: ›Ein Funke waren wir und wollten entflammen; der Wind trug uns in die Ewigkeit. Aus dem Funken wurde ein Stern, allen sichtbar und allen gut.‹ - Leb wohl, Liebster, lebt wohl, Menschen. Uns ist nur die Erinnerung geblieben, das einzige Paradies, aus dem uns niemand vertreiben kann.« Ardsley und Hunter hörten mit zusammengepreßten Lippen zu; sie wagten kaum zu atmen. Die Frauenstimme war verklungen, aber in ihren Ohren hallten die erschütternden Worte nach. Aus dem Laut-
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sprecher klang ein Räuspern, dann meldete sich eine dünne, hohe Männerstimme: »Hier spricht Dschi. Es wird Zeit, daß etwas zu unserer Rettung unternommen wird. Ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben. Theoretisch müßte die Sonde eins in etwa dreißig bis vierzig Tagen in Erdnähe gelangen. Es hat jetzt keinen Sinn, viele Worte zu machen. Vater, Mutter! Ich grüße euch. Weint nicht um mich. Ich habe gern gelebt, aber ich würde immer wieder diesen Weg gehen, den Weg zu den Sternen… Lebt wohl, lebt alle wohl. Wenn ich noch einen Wunsch aussprechen darf, so diesen: Haltet Frieden auf der Erde - es gibt keinen besseren Planeten im All…« Wieder wurde es still. Plötzlich war ein leiser Wortwechsel zu vernehmen. Irgend jemand lachte, ein anderer ermahnte ihn zur Ruhe, bis eine Männerstimme alles übertönte: »Gyula spricht. Verfluchtes Raumschiff! Verdammtes Universum! Ich will ’raus aus diesem Schrotthaufen! Warum habt ihr uns aufgegeben? Wollt ihr Versuche mit uns durchführen? O du elendes Hundeleben!… Ich halte es nicht mehr aus, ich will ’raus… Sonja, ich kann nicht mehr…« Ein Schluchzen unterbrach die Aufnahme. Robert Ardsley sah unwillkürlich auf seinen Gefährten, doch dieses Schluchzen kam aus dem Lautsprecher. David Hunter saß unbeweglich und starrte mit geweiteten Augen auf das Tonband. Eine Frau redete tröstend auf den Sprecher ein. Dann erklang eine Männerstimme, erneut klar und deutlich. Der Mann sagte: »Es spricht Roger Stuart. Unsere Nahrung reicht noch für etwas mehr als sieben Monate. Vielleicht wird man diese oder eine andere Raumsonde rechtzeitig finden. Diese Hoffnung erhält mich am Leben. In der letzten Sonde, die wir hinauskatapultieren werden, befindet sich mein Tagebuch. Es ist nicht für eine Veröffentlichung bestimmt. Ich hinterlasse diese Aufzeichnungen dem Institut für Raumforschung. Sollte mein Sohn Cedrice noch am Leben sein, wenn dieses Tonband auf die Erde gelangt, so bitte ich, diese Worte als mein Vermächtnis aufzufassen: Cedrice, mein lieber Junge, wir haben uns bis zur letzten Sekunde gegen das Sterben gewehrt. Nutze den Traum, den wunderschönen Traum, den wir Leben nennen; es gibt in diesem Universum nur dieses eine Leben, und es ist nur auf der Erde sinnvoll. Erfreue dich mit wachen Sinnen an al-
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lem, was die Erde dir zu bieten hat. Jetzt erst weiß ich, was wir verloren haben. Meine Hoffnung ist gering. Ich füge mich wie meine Gefährten dem unbarmherzigen Zufall. Möge anderen, die nach uns kommen, eine solche Reise erspart bleiben. Ich umarme dich, mein Junge, meine Gedanken sind bei dir…« Das Band war abgelaufen, der schmale Streifen flatterte um den Teller, bis Ardsley das Gerät abschaltete. Eine Weile war Stille. Überwältigt von dieser atemlosen Klage, von dem verzweifelten Aufschrei, hockten die beiden erschüttert in ihrer Kabine und fanden keine Worte. Im Lautsprecher sagte eine Stimme: »Wir haben alles mitbekommen - ist noch mehr auf dem Band, oder waren es wieder nur diese vier?« Ardsley unterrichtete die Station. Zu seinem Gefährten gewandt, sagte er: »Nimm’s mir nicht übel, David, aber ich werde unruhig bei dem Gedanken, daß uns etwas Ähnliches zustoßen kann.« »Wenn man ihnen nur helfen könnte«, sagte Hunter, »ich wäre bereit, noch einmal aufzusteigen. Was müssen sie ausgehalten haben!« Von der Station trafen die Daten für die Programmsteuerung ein. Sie hatten sich durch die Bergungsaktion weit von ihrem vorausberechneten Kurs entfernt. Die »Darling of Stars« würde erst in zehn Tagen auf der Erde landen. »Zehn Tage noch«, wiederholte Ardsley. David Hunter gab keine Antwort. Sie mußten sich jetzt ihren eigenen Problemen zuwenden, denn ihr Raumschiff entfernte sich noch immer von der Erde, die ihnen in dem Schweigen ihrer Nacht den Weg wies. Als sie zehn Minuten später die Triebwerke einschalteten und die »Darling of Stars« auf eine neue Bahn manövrierten, waren ihre Augen unablässig auf die Bordfenster gerichtet. Sie hatten beide die gleichen Gedanken, doch ein zweites Lebenszeichen von der »Charles Darwin« trat nicht in ihr Blickfeld.
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XII Der Kambo-Talkessel bestand aus zwei großflächigen Tälern. Davon nahm der Startplatz den kleineren Teil ein, er maß anderthalb Kilometer Durchmesser. In der davorgelagerten größeren Ebene befanden sich die Verwaltungsgebäude, Wohnräume, Reparaturwerkstätten, unterirdische Treibstofflager und die Startzentrale. Das ganze Tal wurde von steil aufragenden Felsen umschlossen, die einen guten Schutz gegen unerwünschte Witterungseinwirkungen boten. Der Startplatz befand sich eintausendachthundert Meter über dem Meeresspiegel. Von hier war die »Charles Darwin« aufgestiegen. In der Nähe dieses Startplatzes befand sich auch der Obelisk, der an die Tragödie der »Darwin« erinnerte. Antennenmaste und Kräne ragten in den wolkenlosen Himmel, Tankwagen rollten über das Gelände, und Arbeiter in hellen Anzügen eilten geschäftig zwischen den Kränen hin und her. In der Mitte des Startplatzes befand sich die Rampe. Zwei schlanke Türme hielten einen zylindrischen Körper, der oben wie ein Bleistift zugespitzt war und alles überragte. Dieser BleistiftGigant war die »Johannes Kepler«. Die wenigen Auserwählten, die das Raumschiff aus angemessener Entfernung betrachten durften, bedienten sich des Feldstechers, um Einzelheiten erkennen zu können. Sie sahen, daß der mächtige Metallkörper im oberen Drittel mit handflächengroßen Lamellen bedeckt war, die im Sonnenlicht wie eine Spiegelfläche glitzerten. Die Funktion dieser beweglichen Lamellen war den Zuschauern klar, und wer sie noch nicht kannte, der erfuhr es aus dem Munde des Leitenden Ingenieurs, der darauf aufmerksam machte, daß man nun die Lamellen langsam aufklappte. Der Effekt war verblüffend. Die Spiegelfläche verschwand, übrig blieb ein dunkelbrauner Belag, der das ganze Raumschiff überzog. Mit dieser einfachen mechanischen Handhabung ließ sich je nach Erfordernis das Sonnenlicht reflektieren, und das ermöglichte eine gewisse Wärmeregulierung von außen. Der Ingenieur erläuterte. - »Die Gesamtlänge des Raumschiffes be100
trägt achtzehn Meter, sein Durchmesser fünfeinhalbe. Die ›Johannes Kepler‹ wurde hinsichtlich ihrer Ausmaße wie auch technischer Einzelheiten gegenüber ihrem Schwesterschiff, der ›Charles Darwin‹, vergrößert und etwas verändert. Bitte beachten Sie jetzt einen Vorgang, wie er sich etwa vollzieht, wenn sich das Raumschiff auf seiner vorausberechneten Bahn befindet.« Er sprach ein paar Worte ins Mikrophon. Sekunden später geschah etwas Faszinierendes. Das Raumschiff schien plötzlich zu schweben. Der Zylinder spreizte sich in drei Teile. Es sah aus, als spanne sich ein Regenschirm. Gleichmäßig hoben sich die drei Speichen ab, bis sie zu der Mittelachse einen rechten Winkel bildeten. »Nun brauchen Sie sich nur noch vorzustellen, daß sich diese Speichen in acht Sekunden einmal um ihre Achse bewegen«, fuhr der Ingenieur fort, »dadurch entsteht in den äußeren Kabinen eine Fliehkraft, die ein Gewicht erzeugt, das etwa dem der Gegenstände auf der Erde entspricht. Nur in dem verbliebenen starren Teil des Raumschiffes herrscht weiter Schwerelosigkeit. Dort befinden sich das Laboratorium, Steuerungs- und Signalanlagen, die Kommandozentrale und später nach dem Zusammenbau auf der Kreisbahn das Kern-Wärmeaustauschtriebwerk.« Die drei Speichen senkten sich wieder. Sekunden später war der Rumpf geschlossen und besaß wieder wie vordem die Form eines Zylinders. Unter den Zuhörern befanden sich auch Cedrice und Anne. Sie hielten sich etwas abseits. Cedrice, dem Raumschiffe nichts Neues waren, zeigte wenig Interesse für die Vorführung. Er hatte die »Darwin« mehrmals gesehen, die sich im Prinzip nicht von dieser etwas größeren »Johannes Kepler« unterschied. Um so beeindruckter war Anne. »Es ist überwältigend«, sagte sie begeistert, »man kann sich kaum vorstellen, daß sich dieser Koloß von der Erde abheben soll.« Cedrice gab einen Seufzer von sich. »Auf jedem Photo siehst du mehr«, brummte er. »Jetzt fehlt nur noch, daß jemand aus der ›Kepler‹ herausklettert und sich verneigt.« Anne lauschte aufmerksam den Worten des Ingenieurs, der das wissenschaftliche Programm und die voraussichtliche Flugbahn in Richtung Mars erläuterte. »Im Durchschnitt ergeben sich alle sieben-
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hundertachzig Tage Möglichkeiten zu einem solchen Flug«, erklärte er gerade. »Dabei wird sich das Raumschiff dem Mars auf einer Berührungsellipse nähern und in etwa dreihundertfünfzigtausend Kilometer Entfernung an dem Planeten vorbeifliegen. Das entspricht etwa der Entfernung Erde-Mond.« »Wenn der wüßte«, murmelte Cedrice. »Jetzt beraten sie über Shagans These. Der Alte wird Augen machen. Nanga hätte sich die Reise sparen können.« Er sonderte sich von der Gruppe ab. »Komm, Anne, mehr zeigen sie ohnehin nicht, und mir fehlt die Ruhe für eine solche Besichtigung.« Als sie gehen wollten, kam ein Mann auf sie zu, und an seinem Gebärdenspiel konnten sie erkennen, daß er etwas von ihnen wollte. Er war vollschlank, Mitte Vierzig, und sein Gesicht wurde von einem dunklen Backenbart umrahmt. Sie waren ihm bereits zuvor unter den Zuschauern begegnet, wo er sich Notizen gemacht hatte. Er kam herangeschlendert, die Rechte in der Jackentasche vergraben, zeigte ein vertrauliches Lächeln und sagte: »Ihnen geht es offenbar wie mir, ich kann an diesen öffentlichen Führungen auch keinen Gefallen finden. Man kommt sich vor wie in einem Museum…« Er ahmte leise die Stimme des Ingenieurs nach: »Und hier, meine Damen und Herren, sehen Sie ein Bildnis des Archimedes. Er sitzt im Vorgarten seines Hauses und denkt intensiv darüber nach, wie sich die Quadratur der Ellipse ermitteln läßt. Haha! Ich sehe. Sie haben sich auch sattgesehen?« »Ja«, sagte Cedrice. »Sie sind vom Rundfunk?« »Nein.« »Dann sind Sie sicher von der Zeitung«, sagte Anne. »So etwas Ähnliches«, antwortete der Bärtige, »ich beschäftige mich mit Literatur. Ich schreibe ein Buch über diese Probleme. Natürlich nicht über die ›Kepler‹. Das sehe ich mir hier nur an, um gewisse Eindrücke zu erhalten - Sie verstehen. Nein, mein Thema behandelt gewissermaßen die Enkel der Keplerbesatzung.« »Also einen utopischen Roman«, meinte Anne. Der Gefragte wiegte den Kopf. »Nun ja, so könnte man es nennen, aber was ist heute noch utopisch? Die ›Kepler‹ fliegt zum Mars; es dauert nicht mehr
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lange, dann ist es der Alpha Centauri, und dann eine Reise zum Andromedanebel oder zu anderen Galaxen - die Entwicklung ist schneller als unsere Phantasie.« »Nie werden wir andere Sonnensysteme erreichen«, sagte Cedrice. »Woher wollen Sie das wissen, junger Mann?« fragte der Bärtige. »Weil es Grenzen gibt, und diese Grenzen lassen sich bereits heute abstecken. Sehr viel mehr als ›Kepler‹ wird die Zukunft nicht mehr bringen.« »Das nenne ich bescheiden.« Der Bärtige machte eine leichte Verbeugung. »Mein Name ist übrigens Honore R. Ich habe einige Bücher geschrieben, nichts Welterschütterndes - na ja, es ist kein Versäumnis, wenn man meine Werke nicht gelesen hat.« Weder Cedrice noch Anne konnten sich erinnern, diesen Namen jemals gehört zu haben, aber Cedrice sah sich nun gezwungen, seinen Namen ebenfalls zu murmeln. Er verspürte nicht die geringste Lust, mit diesem Literaten zu plaudern. Um so mehr frohlockte Honore R. »Welch ein glücklicher Zufall!« rief er erfreut, »Stuart, Roger Stuart, Ihr Vater war Erster oder Zweiter Ingenieur der ›Darwin‹ - habe ich recht?« Als Cedrice nur stumm nickte, ereiferte er sich weiter: »Wissen Sie, diese Katastrophe hat mich damals schrecklich aufgeregt. Lange Zeit habe ich überlegt, ob dieses tragische Unglück nicht Gegenstand eines Romans sein könnte. Aber ich habe die Finger davon gelassen. Mir liegen Tragödien nicht. Nun, andere haben es versucht und Schiffbruch dabei erlitten. Sie kennen sicher das Buch von Antonius del Merlin ›Sie kehrten nicht zurück‹. Wie finden Sie es?« »Idiotisch«, sagte Cedrice und dachte: Was will er von mir? Er redet wie ein Wasserfall. Es war ihm unangenehm, ausgerechnet jetzt an das Unglück erinnert zu werden. Am liebsten hätte er kehrtgemacht, doch Honore R. war nicht mehr zu bremsen. Unverdrossen redete er weiter. »Im Grunde genommen ist die Raumfahrt der Gegenwart wenig interessant. Abenteuerlich wird die Sache erst, wenn man der Zeit um einige Jahrtausende vorauseilt. Stellen Sie sich vor, wir bekommen plötzlich Besuch von andren Lebewesen. Aber die sind derart groß, daß sie uns nur durch ein Vergrößerungsglas erken-
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nen können. Das wäre durchaus nicht angenehm. Womöglich halten sie uns für Krankheitserreger und desinfizieren die Erde erst einmal. Hahaha! Interessant ist übrigens auch, wenn man in der Zeit um zweieinhalbtausend Jahre zurückgeht. Haben Sie Hesekiel aufmerksam gelesen?« »Ich kenne keinen Hesekiel«, brummte Cedrice mißvergnügt. »Sie sollten ihn lesen!« rief Honore R. pathetisch und zitierte: »›Und siehe, es kam ein ungestümer Wind von Mitternacht her mit einer großen Wolke voll Feuer, das allenthalben umher glänzte; und inmitten des Feuers war es lichthell…‹ Merken Sie was? ›Und darin war es gestaltet wie vier Tiere, und dieselben waren anzusehen wie Menschen. Und ihre Flügel waren oben zerteilt…‹ Und jetzt der Augenzeuge persönlich: ›Und ich hörte die Flügel rauschen wie große Wasser. Wenn sie aber stillestanden, so ließen sie die Flügel nieder…‹ Na, hören Sie, wenn das nicht die Beschreibung von Heliokoptern ist, dann weiß ich nicht. Da ist von Rädern die Rede, die ›Wirbel‹ genannt werden, von Feuerschweifen und dergleichen. Sie müssen Hesekiel lesen, ich bin sicher, daß unsere Erde schon einmal Besuch hatte.« Cedrice sah ungeduldig auf die Uhr. Hol ihn der Teufel mit seinem Hesekiel. Womöglich ist Nanga schon wieder zurück. Honore R. fuhr unbeirrt fort: »Sie finden Hesekiels Angaben übrigens bei Jesaja und bei Johannes bestätigt. Wenn aber fremde Lebewesen zu uns kommen können, dann ist es auch von unserer Seite möglich, in die Tiefen des Raumes vorzudringen. Mich würden Ihre Ansichten zu diesen Problemen interessieren. Glauben Sie nicht auch, daß wir einmal mit Lichtgeschwindigkeit reisen können? Sie waren doch im Kosmos. Wie ist das nun wirklich mit der Einsamkeit? Man faselt soviel davon, und die offiziellen Berichte sind wenig interessant. Wie kann man die Einsamkeit ertragen? Welche Gefühle bewegen die Raumfahrer, wenn sie in diese Konservenbüchse klettern?« Cedrice sah sich hilfesuchend um, doch Anne schien diese Fragen ganz natürlich zu finden. Widerstrebend antwortete er: »In der Fachliteratur finden Sie Antwort auf solche Fragen. Ich hatte Ihnen meine Meinung dazu bereits angedeutet. Es ist undenkbar, daß wir uns auch
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nur mit annähernder Lichtgeschwindigkeit bewegen werden - das ist mathematisch beweisbar -, es sei denn. Sie schicken vorher eine Straßenreinigung ins All. Was die Einsamkeit anbelangt, so ist es ein Problem. Ich kann dazu nichts sagen, denn ich habe keine längere Praxis. Was noch? Gefühle der Raumfahrer? Auf jeden Fall haben sie keine Furcht. Sie sind neugierig, das ist alles.« Er fühlte sich versucht, einfach davonzulaufen. Honore R. wiegte zweifelnd den Kopf. »Nun ja, gewiß, das sind wohl doch mehr Ansichtssachen«, murmelte er, »aber was halten Sie von den beiden Marsmonden Phobos und Deimos? Die bevorstehende Expedition wird ja nun das Rätsel wohl endgültig lösen…« »Was für ein Rätsel?« erkundigte sich Anne. »Der Mond Phobos ist höchstwahrscheinlich ein künstlicher Himmelskörper«, erklärte Honore R. »Das ist nicht nachweisbar - wenigstens bis heute noch nicht«, widersprach Cedrice. »Ich bitte Sie!« rief Honore R. »daran gibt es doch keinerlei Zweifel. Sechzehn Kilometer Durchmesser hat dieser angebliche Mond, und in nur knapp zehntausend Kilometer Entfernung kreist er über der Marsoberfläche. Wie erklären Sie sich, daß seine Geschwindigkeit zunimmt?« »Das weiß ich nicht«, antwortete Cedrice. »Das wissen Sie nicht? Nein, nein. Sie wissen sehr gut, daß Phobos durch die Marsatmosphäre gebremst wird. Das wäre bei einem festen Körper niemals in diesem Maße möglich. Folglich muß es sich um einen Hohlkörper handeln. Ich verstehe sogar, daß wir es hier mit einem Raumschiff von einer fremden Galaxis zu tun haben. Wahrscheinlich hat das Steuerungssystem bei einem Landeversuch versagt. Denken Sie an Hesekiel und Jesaja. Es wäre doch möglich, daß es dieselben Lebewesen waren, die auch die Erde besucht hatten. Oder halten Sie das für übertriebene Phantasie?« »Ja«, sagte Cedrice. »Wissenschaftler haben ähnliche Thesen aufgestellt. Sehen Sie, mein Fräulein«, wandte sich Honore R. an Anne, »das sind Probleme, die mich bewegen. Es wird die Aufgabe der Literatur sein, darüber zu schreiben.« Anne war froh, daß sich dieser Musensohn so
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ungeniert aufdrängte und Cedrice in diese Unterhaltung verwickelte. Als sie sah, daß Cedrice Anstalten machte, das Gespräch abzubrechen, stellte sie selbst einige Fragen und wollte wissen, an welchem Thema er arbeitet und ob die Menschen in seinem Werk auch noch irdische Empfindungen hätten. »Ganz und gar nicht«, antwortete Honore R. »Mit irdischen Empfindungen meinen Sie offenbar solche veralteten Rudimente wie Haß oder Liebe und dergleichen. Aber was soll das? Was ist das, Liebe? Die Wissenschaft erklärt dieses Phänomen mit sehr exakten Formeln. Man hat Menschen mit künstlicher Besamung in der Retorte erzeugt, ganz ohne Liebe. Die Biophysiker haben den gesamten menschlichen Körper einschließlich des Gehirns in seine Grundelemente zerlegt. Auf dreihundertzwanzig Seiten Dünndruck können Sie Ihre Philosophie von den Gefühlen in mathematischen Gleichungen wiederfinden. Wir wissen, wie sich die Atome und Moleküle verhalten, wenn bestimmte Reizvorgänge, präziser: Bioströme, auf sie einwirken. Diese Strömungen sind meßbar, auch bei dem Balzvorgang, den man Liebe zu nennen pflegt. Er beginnt bei den Augen und wird dann über das Gehirn zu den Genitalien geleitet - das ist alles. Alles, mein Fräulein, ist bekannt. Die Aminosäuren sind registriert, die Zellkerninformationen sichtbar gemacht, und jeder Doktoraspirant der Molekulargenetik ist heute in der Lage, in Ihnen die Struktur der Nukleo-Proteide so zu verändern, daß Sie statt eines rothaarigen Buben einen blonden oder auch schwarzen Krauskopf zur Welt bringen. Wenn Sie also etwas über Liebe lesen wollen, dann gehen Sie am besten in eine Fachbuchhandlung »Das ist entsetzlich«, für angewandte sagte AnneChemie.« empört, »wie können Sie mit einer solchen Einstellung schreiben, noch dazu schöngeistige Bücher?« »Ach du lieber Gott«, sagte Honore R. und strich sich über seinen Backenbart. »In meinen Büchern gibt es keine Liebesprobleme mehr. Meine Helden sind alle chemisch gereinigt und haben einen leichten Karbolgeruch. Sie essen nicht mehr, sondern führen sich Energie in Form von Konzentraten zu. Das gibt es übrigens heute schon - noch ein wenig unvollkommen, aber der Mensch ist erfinderisch. Er wird sich eines Tages mit Schaudern an seine Vorfahren zurückerinnern,
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die sich ihre Eiweiße aus den Schlachthäusern holten und mit Behagen ein Eisbein mit Sauerkraut verzehren konnten. Die Menschen, die ich darstelle, durchstreifen das All - das ist die Odyssee unserer Zeit. Die Zeit der seelenvollen Romane am trauten Kaminfeuer ist vorbei, das Elektron regiert.« Cedrice dachte an die »Darwin«, und er hätte dem Bärtigen jetzt am liebsten eine Grobheit gesagt. Mit einem Unterton von Verachtung antwortete er: »Auf den neuen Homer warten wir schon seit langem. Wenn die ›Kepler‹ in acht oder zwölf Wochen aufsteigen wird, dann werden sich in ihr ein paar geistig zurückgebliebene Wesen befinden, die noch von primitiven Gefühlsregungen beherrscht werden. Es mag Ihnen eine Genugtuung sein, daß sich dieser Blechkasten sogar noch den Gesetzen der Himmelsmechanik unterordnen muß und daß man sich damit nur in unmittelbarer Nähe der Erde bewegen kann. Seien Sie getröstet; diese zurückgebliebenen Wesen in der ›Kepler‹ sind schon genug gestraft, denn sie werden während ihrer langweiligen Reise auf die spannende Lektüre Ihrer nach Karbol riechenden Helden verzichten müssen.« Cedrice machte kehrt und ging grußlos davon. Anne blieb an seiner Seite. »Das war richtig, Cedrice, er hat eine noch viel schärfere Antwort verdient.« Er erwiderte nichts. Er wollte das Geschwätz vergessen, aber dieser Honore R. hatte ihn durcheinandergebracht, und seine Gedanken kehrten immer wieder zu diesem Phantasten zurück. Als sie im Auto saßen, sagte er: »Natürlich ist er verrückt. Weiß der Teufel, ich würde lieber heute als morgen bis an die Grenzen unseres Sonnensystems fliegen. Aber wie kann man einen Menschen mit seinen tausend Empfindungen wie ein Stück Seife analysieren?« »Ob es wirklich einmal eine solche Zeit geben wird?« fragte sie. »Vielleicht - wenn auch nicht so, wie er es sich denkt. Alle Gefühle in mathematische Gleichungen umsetzen zu können bedeutet nicht, sie auszulöschen. Im Gegenteil: Die Menschen, die nach uns kommen, werden tiefer empfinden - vielleicht so, wie es die wenigen Großen in der Musik vorausgeahnt haben. Manchmal denke ich, daß diese Musik das einzige ist, was mit in eine ferne Zukunft einfließen
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wird - vielleicht ist sie sogar schon ein Stück dieser Epoche, die wir mit der Vernunft noch gar nicht erfassen können.« Sie sagte: »Als er so kaltschnäuzig von seinen Bioströmen redete, mußte ich an die sechs denken und an die Frau, die bei ihnen ist.« »Ich auch«, sagte Cedrice. Er sah sie an und lächelte. »Anne, du sollst nicht denken, daß ich alles, was zwischen uns war, vergessen hätte. Es ist nur so, ich - wie kann man das erklären?« Er stockte auf einmal und wußte nicht weiter. »Man kann es nicht erklären, Cedrice, denn wenn man es erklären wollte, klänge es banal. Und du mußt es mir auch gar nicht sagen.« Er drückte ihre Hand. »Willst du, daß ich noch bleibe - wenigstens bis alles geklärt ist und du wieder in diese scheußliche Kammer gehen mußt?« »Ja, bleibe solange«, sagte er. Die Nachricht von der Entdeckung der beiden Astronauten David Hunter und Robert Ardsley überraschte die Wissenschaftler der Obersten Raumbehörde inmitten der Auswertung der geheimnisvollen Funksignale. Drei Wissenschaftler aus den USA waren eingetroffen; sie hatten eine Kopie des Tonbandes mitgebracht. Die »Darling of Stars« befand sich noch auf der Kreisbahn um die Erde; Hunter und Ardsey sollten in vierundzwanzig Stunden zur Landung ansetzen. Mit diesem Fund hatte Shagans These ihre Bestätigung erhalten. Die angegebenen Bahndaten wurden nach Zemu, dem größten Rechenzentrum, weitergeleitet. Hier mußte der günstigste Starttermin für die »Johannes Kepler« ermittelt werden, und hier wurden auch der künftige Bahnverlauf des Raumschiffes und seine Geschwindigkeit programmiert. Die Zahlenangaben der sechs Verunglückten waren klar und unmißverständlich. Jedoch nur vier hatten unterzeichnet und auf Tonband gesprochen. Zwei fehlten. Warum? Waren diese zwei nur erkrankt? Es wäre wichtig gewesen, dies zu wissen, denn die »Kepler« mußte genau berechnete Mengen an Nahrungsmitteln, Medikamenten und Sauerstoffvorräten mitnehmen. Diese Ungewißheit führte zu dem Beschluß, die künftige Keplerbesatzung von sechs auf vier Teilnehmer zu reduzieren.
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In dieser Situation machte Dr. Cowper einen unerwarteten Vorschlag. Er bat um die Teilnahme eines amerikanischen Astronauten an der Rettungsaktion. Sein Anerbieten fand ungeteilten Beifall. Nun waren noch drei Kosmonauten zu bestimmen - drei von Tausenden… Cedrice war ahnungslos, als er mit Wulko zusammentraf. Man war übereingekommen, ihn das erschütternde Tonband erst nach dem Start der »Kepler« abhören zu lassen. Es wäre jetzt eine zu große Belastung für ihn gewesen. Doch auch das handschriftliche Lebenszeichen war überwältigend genug. Er las die Abschrift wieder und wieder und konnte minutenlang kein Wort hervorbringen. Als er sich endlich gefaßt hatte, lautete seine erste Frage: »Wann werden wir starten?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Wulko, »vielleicht in acht Tagen, vielleicht auch erst in einigen Wochen oder Monaten. In achtundvierzig Stunden werden die elektronischen Berechnungen vorliegen. Aber ich muß dir noch etwas sagen, Cedrice: die Amerikaner werden einen Mann mit hochschicken. Das ist recht und billig, aber es bedeutet, daß von unseren Bewerbern nur drei ausgewählt werden können. Ob du dabei sein wirst, entscheide nicht ich.« »Und wer ist der Astronaut von der anderen Seite?« »Henry Jephson. Durch ihn erhält die Rettungsaktion zusätzliches Gewicht. Bis heute gab es, von kleineren Aktionen abgesehen, keine nennenswerte Zusammenarbeit, jetzt steigen wir gemeinsam auf. Dieser Flug könnte zu einer Demonstration werden. Irgendwann müssen wir begreifen, daß wir uns nicht bis in alle Ewigkeit mit der Bombe gegenüberstehen können.« Cedrice erwiderte skeptisch: »Ob einer von ihnen mitfliegt oder nicht - die sozialen Probleme werden dadurch nicht gelöst.« »Gewiß nicht«, gab Wulko zu, »aber einmal muß man anfangen, die Vernunft walten zu lassen.« Cedrice nickte zerstreut. Ihm war jetzt nicht danach zumute, über solche Probleme zu debattieren. Er dachte an die »Johannes Kepler«, sah sie in Gedanken aufsteigen, höher und höher, bis sich der leuchtende Punkt im Blau des Himmels verlor. Noch achtundvierzig Stunden dauerte es, bis Starttermin und
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Bahnverlauf errechnet worden waren, zwei Tage - für Cedrice schienen es die längsten zwei Tage seines Lebens zu werden.
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XIII Als Nanga auf Manik Maya eintraf, war hier von dem Auffinden der Nachrichtenkapsel noch nichts bekannt. Auch von den geheimnisvollen Funksignalen wußte Shagan nichts. So empfing er Nanga, wie sie ihn in Prag verlassen hatte: unwirsch, gekränkt und verletzt. Nanga rechtfertigte sich nicht, für sie war ihr Arbeitsverhältnis auf Manik Maya beendet. Sie überreichte ihm die schriftliche Kündigung, und diesmal nahm er sie ohne Widerspruch an. Sie mußte noch im Observatorium bleiben, weil der Versorgungshubschrauber kurz vor ihrer Ankunft abgeflogen war. Sonderbarerweise erhielt sie weder Cedrices Telegramm noch seinen Eilbrief. Den Grund dafür erfuhr sie erst, als auf Manik Maya die Depesche von dem aufsehenerregenden Fund eintraf. Nanga war auf ihrem Zimmer, als Damar eintrat. Er war ihr während der letzten Tage aus dem Wege gegangen, und ihr war es nur recht gewesen, daß er keine Fragen gestellt hatte. Jetzt kam er zu ihr, ohne anzuklopfen, und stammelte überglücklich: »Sie haben die ›Darwin‹ gefunden! Nanga, es war nicht vergebens. Die ›Darwin‹ existiert!« Nanga begriff zunächst kein Wort. Dann trat auch Shagan ein. Er wiederholte genauso enthusiastisch, was sie eben von Damar gehört hatte. Dann fügte er hinzu: »Meine Ansicht hat sich als richtig erwiesen. Jetzt möchte ich Sjögrens Gesicht sehen! Ist das ein Triumph! Der alte Shagan weiß, was er will. Sie konnten mich kleinkriegen, meine These zerreden - aber die Logik ist stärker…« Er sprach und sprach, und sein Gesicht glühte vor Stolz. Es kam ihm gar nicht in den Sinn, daß er, nach allem, was vorgefallen war, in diesem Moment komisch wirken könnte. Damar unterbrach ihn. »Darf ich Sie daran erinnern, Professor Shagan, daß Sie Ihrer These abgeschworen hatten und daß Nanga es war, die bis zum Schluß daran geglaubt hat?« Shagan tat, als wäre nichts vorgefallen. »Streiten wir nicht, meine lieben Freunde«, krächzte er, »lassen wir das Geschehene geschehen 111
sein. Sie wissen, Nanga, ich war nicht auf dem Posten. Entscheidend allein ist der Erfolg. Und das mit der Kündigung ist natürlich Unsinn - wir bereden das später in Ruhe.« Nanga sagte kein Wort. Als Shagan das Zimmer wieder verlassen hatte, meinte Damar: »Er ist natürlich ein Egoist, aber in diesem Punkt hat er recht. Nanga. Du darfst uns nicht verlassen.« »Ich werde nicht hierbleiben«, antwortete sie ruhig, »ich gehe weg, sobald der Hubschrauber eintrifft.« Betroffen sah Damar sie an. »Das kann doch nicht dein Ernst sein, Nanga. Hast du vergessen, daß du promovieren wolltest? Ich habe mich vorbereitet und will dir dabei helfen. Bitte, bleib…« An ihrem Gesicht konnte er ihre Antwort ablesen. Er trat einen Schritt auf sie zu. »Bitte, bleib mir zuliebe, du weißt, daß ich dich mag, du weißt es seit langem.« Er hatte sie an sich gerissen und versuchte sie zu küssen. Sie wehrte sich, stieß ihn weg. »Was fällt dir ein, Damar! Bitte geh!« Er machte ein so unglückliches Gesicht, daß sie verstummte. »Nanga«, murmelte er hilflos, »laß mich nicht allein.« Erschreckt über seine Liebeserklärung, fand Nanga kein Wort der Erwiderung. Plötzlich ergriff er ihre Hand und stammelte heiße Liebesbeteuerungen. Alles brach aus ihm heraus, als er sah, daß sie ihm für immer zu entgleiten drohte. »Um Himmels willen, Damar«, flüsterte sie, »sprich nicht weiter, sei endlich still!« Er sah sie an, verwirrt und traurig, und es schien, daß er sich wieder in der Gewalt hatte. Dann sagte er in einem Ton der Verbitterung: »Ich weiß, du magst mich nicht, und ich weiß auch, wer es ist, der dich nicht zu bitten braucht. Fliege zu ihm, er erwartet dich mit großer Freude.« Damar griff in die Rocktasche und holte einen Brief und zwei Telegramme hervor. Er legte die Post auf den Tisch und trat wortlos hinaus. Es war Cedrices Post. Er hatte sie geöffnet. Das letzte Telegramm war erst eine Stunde alt. Es lautete: »Ich erwarte dich in Sintang, im Hotel Simalu, Cedrice.«
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Etwas mehr als acht Minuten benötigt das Photon, um die Entfernung Erde - Sonne zu überbrücken. Für eine Reise zum Alpha Centauri, unserer Nachbarsonne, braucht das Photon vier Jahre. Mit unseren Gedanken dagegen durchstreifen wir solche Entfernungen in Bruchteilen von Sekunden; unsere Phantasie besiegt Zeit und Raum, denn das Spiegelbild der Unendlichkeit nimmt in unserm Hirn nur wenige Quadratzentimeter ein. Darum können wir in Gedanken mit der Beharrlichkeit einer Ameise den Weltenraum durchstreifen und alle Abenteuer der antiken Helden erfolgreich bestehen. Für Cedrice waren die letzten Tage ein solcher Traum gewesen. Er war unzählige Male mit der »Kepler« aufgestiegen, hatte alle Abenteuer durchlebt, die mit der Bergung der sechs Verunglückten verbunden waren. Dann kam die nüchterne Meldung der Wissenschaftler: Das Raumschiff mußte in genau siebenundzwanzig Tagen starten. Obwohl seine Teilnahme noch nicht beschlossen war, gehörte er zum Kreis der Anwärter und mußte deshalb an den Vorbereitungen teilnehmen. Drei Tage bleiben ihm noch. Zwei Meilen hinter Sintang füllt der Papuasfluß zahlreiche Kanäle. Sie versorgten die Plantagen und Brandrodungsfelder mit Feuchtigkeit. Die Uferstreifen dieser Kanäle sind mit hohem Alang-AlangGras bedeckt, vereinzelt neigen sich Palmengruppen über das Wasser. Sie gingen dicht am Ufer entlang. In dem träge dahinfliegenden Fluß tanzten die Spiegelbilder der Sterne; im Gras raschelten Tjitjaks, kleine, grünschimmernde Eidechsen. Nanga und Cedrice bemerkten sie nicht, und sie wußten auch nicht, wohin sie gingen. Sie liefen über den unbekannten Pfad, erfüllt von ihrem Glück. Manchmal küßten sie sich. Er hatte noch kein Wort darüber gesagt, warum er so plötzlich gekommen war. Nanga fragte auch nicht; in diesen Minuten erschien ihr alles selbstverständlich. Einmal fragte er: »Du bist vor mir geflohen, Nanga, ist es so?« »Ja«, sagte sie, »ich wollte vor dir fliehen, und ich wollte nicht mehr an dich denken, aber ich konnte es nicht.«
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»Warum auch?« antwortete er. »Du siehst, ich bin dir gefolgt, und ich hätte dich auch im Urwald gefunden.« Sie gingen weiter und kamen auf eine Lichtung. Cedrice trampelte unter einem Baum das Gras nieder; die Kanten dieser hohen Gräser waren scharf wie Rasierklingen. Dann setzten sie sich. Er wollte ihr von den letzten Tagen im Ausbildungszentrum erzählen, aber als er seinen Arm um sie legte, schwieg er. Sie fühlte seine tastende Hand und war glücklich unter seinen Berührungen. Durch das Blättergewirr schimmerten die Sterne, die stummen Zeugen ihrer Leidenschaft. Dann lagen sie beieinander, schweigend und erfüllt von ihrer Gegenwart. Er fing an zu erzählen, aber ihre Nähe lenkte ihn immer wieder ab. Als er sie küßte, war alles vergessen. Ihre Hände fühlten seine Kraft. »Liebster«, hauchte sie, »Cedrice…« Später sagte sie: »Manchmal habe ich Furcht, daß alles nur ein Traum sein könnte.« Er küßte ihre Augen und ihren Mund. Ihre Lippen waren warm und feucht. Dann bemerkte er, daß sie weinte. »Warum weinst du?« fragte er bestürzt. Nanga lächelte unter Tränen. »Ich weine nicht, Cedrice, ich bin nur glücklich.« Er küßte ihre Tränen fort. Eine Weile schwiegen sie. Dann sagte Nanga: »Du wolltest mir die Geschichte vom Ausbildungszentrum erzählen.« »Ich liebe dich«, sagte er. Er küßte ihre Brüste, ihren Leib und ihren Schoß. Er kam nicht dazu, ihr die Geschichte zu erzählen. In der Glut ihrer Liebe verrann die Zeit; die Sterne wurden blasser. Sie beschenkten sich mit allem, was ihnen Lust und Freude brachte, und wurden nicht müde, immer wieder von diesen Quellen zu trinken. Sie blieben in Sintang. Nanga wollte mit Cedrice zum Ausbildungszentrum fahren und die wenigen Wochen bis zum Start der »Kepler« in seiner Nähe verbringen. Sie wußten, daß sie sich in dieser Zeit nicht sehen konnten. Achtundvierzig Stunden gehörten ihnen noch - eine Ewigkeit. Der südliche Stadtrand mit seinen langgestreckten Hügelketten bot ihnen ein willkommenes Ausflugsziel. Die Berge blühten, - an den Hängen wucherte die Bougainvillea, im Hintergrund zog sich die grüne Mau-
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er des Urwaldes durch die Landschaft. Sie kletterten über Sträucher und Felsen, und manchmal nahm Cedrice Nanga in seine Arme und trug sie, bis ihnen ein günstiger Platz ein geschütztes Lager bot. Dort ruhten sie und träumten vor sich hin. »Erinnerst du dich, Nanga, einmal habe ich eine große Dummheit gesagt…« »Du hast nie eine Dummheit gesagt, Liebster.« »Doch, im Blockhaus, als wir beide allein waren. Ich sagte, Liebe auf den ersten Blick sei Unsinn oder so ähnlich.« »Ja, das hast du gesagt, ich erinnere mich.« Sie sah ihn an und lächelte. »Und du hast auch recht gehabt.« »Das wagst du mir zu sagen!« rief er. »Noch ein Wort, und ich werfe dich den Abhang hinunter.« Er wollte sie küssen, aber sie schmiegte sich fest an ihn und sagte: »Ich glaube, Liebe auf den ersten Blick ist nur ein Finden dessen, wonach man lange gesucht hat. Bitte, lache nicht, Cedrice, aber ich liebte dich schon, bevor wir uns jemals gesehen hatten. Ich glaube, jeder Mensch trägt in sich das Bild eines anderen, und er sucht diesen anderen. Manchmal findet er ihn, manchmal nicht. Dann zerbricht die Liebe, und er sucht weiter. Wir waren so weit voneinander entfernt, aber der Zufall hat uns zusammengeführt. Bin ich sehr altmodisch?« »Was für eine Frage. Altmodisch. Mode mag sich ändern, aber die Liebe? Es kommt wohl nur darauf an, wie tief man sie empfindet…« Die Sonne brannte heiß. Sie suchten sich eine schattige Stelle. Als sie wieder beieinander lagen, sagte Cedrice: »Ich habe ein wenig Gewissensbisse.« Sie blickte ihn fragend an. »Vor wenigen Tagen noch dachte ich an nichts anderes als an die ›Kepler‹ und an die ›Darwin‹. Dann trafen die Berechnungen ein, der Starttermin stand fest, und ich konnte nichts mehr tun als warten. Seitdem ist mir manchmal, als hätte ich alles vergessen. Nur du lebst in mir, und immer habe ich dein Gesicht vor Augen.« Sie schloß die Augen und empfing seine Küsse, überwältigt von dem Gefühl des Glücks. Unter ihnen lagen die Stadt und der glitzernde Fluß, der sich weit hinten im Blättergewirr des Rimbu verlor. Zwischen den leuchtend weißen Häusern der Stadt gruppierten sich die Dajakhütten aus Bam-
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bus und Palmblattstreifen. Am Stadtrand dehnten sich Plantagen; in Reihen standen die Pfefferbüsche, nicht weit davon reiften Ananaskulturen und neu angelegte Kaffeeplantagen. Das vielschichtige Grün sah aus wie ein Teppich. Die beiden bemerkten von diesem Bild nichts. Der Gedanke an die bevorstehende Trennung erfaßte sie wie ein Rausch, und jede Sekunde wurde ihnen zu einem kostbaren Augenblick, den sie bis zur Neige auskosten wollten.
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XIV Wollte man den Ursachen nachgehen, die das Zusammentreffen zwischen Nanga und Cedrice bewirkt hatten, so ergäbe dies eine ansehnliche Kette von scheinbaren Zufällen. Die These Professor Shagans zum Beispiel war ein Anlaß; Frazer Janell, der später die Anregung gab, sich mit den Hinterbliebenen zu verständigen, ein anderer. Doch der knurrige Alte von Manik Maya hätte seine Theorie niemals aufstellen können, wäre nicht der Asteroid Rhe 37 ausgeblieben. Die Ursachen ließen sich ins Uferlose nachspüren. In diesem Gewirr verliefen auch die Schicksalsfäden Damar Wulans. Der schweigsame und besonnene Damar, den Professor Shagan sehr schätzte, war nach jener Szene mit Nanga in stummer Verzweiflung auf sein Zimmer gegangen. Er schrieb ihr einen Brief, in dem er sie um Verzeihung bat und andeutete, daß er ebenfalls Manik Maya verlassen wolle, um zu seinem alten Beruf zurückzukehren. So kam es, daß Damar trotz aller Proteste des Professors Manik Maya nur wenige Tage nach seiner Kollegin das Observatorium verließ. Er bewarb sich bei der Obersten Raumbehörde um seine frühere Tätigkeit auf einem der Observatorien, die sich auf erdnahen Kreisbahnen bewegten. Seine Bewerbung kam zu einer Zeit, da sich die Kommission noch immer mit der Zusammensetzung der Keplerbesatzung beschäftigte, und die Unterlagen stellten ihm das beste Zeugnis aus. Er besaß Raumpraxis, gediegene wissenschaftliche Kenntnisse und war bekannt als ein ausgeglichener und besonnener Charakter. Es überraschte ihn selbst am meisten, als ihm vorgeschlagen wurde, am Vorbereitungstraining für die Expedition teilzunehmen. Er stimmte, ohne zu zögern, zu. So führten scheinbare Zufälle ihn nun mit jenem Mann zusammen, der ungewollt seine Träume zerstört hatte. Inzwischen war eine Vorauswahl getroffen worden. Von den zwölf Kandidaten durften sich fünf Hoffnungen machen. Das waren außer 117
dem bereits nominierten Henry Jephson Cedrice, Georg Massimu aus Transsilvanien, Andre Gilko aus Litauen, der Physiker Berto Kämmerer und schließlich Damar. Diese sechs bereiteten sich in völliger Abgeschiedenheit auf den Start in die Tiefen des Alls vor. Ihr letzter Aufenthaltsort auf der Erde war ein einsam gelegenes Haus. Das Gelände wurde von Posten abgeschirmt, kein noch so findiger Journalist vermochte in diese Sphäre einzudringen. Bei den sechs wohnten Ärzte, Naturwissenschaftler, Techniker und verschiedene Ausbilder, die direkt oder indirekt mit dem Flug zu tun hatten. Die ersten Stunden waren ein zwangloses Beisammensein. Sie lernten sich kennen, und es war ganz natürlich, daß zunächst Cedrice im Mittelpunkt stand. Jeder wußte, was der Start der »Kepler« für ihn bedeutete, und jeder versicherte ihm seine Zuversicht. Auch Damar Wulan tat das. Er konnte seine Zusammenarbeit mit Professor Shagan und Nanga nicht verschweigen, und so berichtete er eingehend von seiner Tätigkeit auf Manik Maya. Mit keiner Silbe und mit keiner Bewegung verriet Damar, welche Gefühle er für Nanga hegte. Es hatte den Anschein, als habe er einen Schlußstrich unter seine unglückliche Liebe gezogen. Cedrice empfand den Umstand, einen ehemaligen Kollegen Nangas in seiner Nähe zu wissen, als besonders glücklich. Er versäumte nicht, Damar ausführlich nach Einzelheiten über Manik Maya zu fragen, und da Damar bereitwillig Auskunft gab, neigte Cedrice sogar dazu, dem brummigen Professor Shagan gewisses Verständnis entgegenzubringen. Henry Jephson zeigte sich anfangs ein wenig zurückhaltend. Er kam aus Minneapolis, war Vater von zwei Buben und glücklich verheiratet. Man hatte Jephson sehr kurzfristig das Angebot unterbreitet, an dieser Expedition teilzunehmen. Er war sofort darauf eingegangen. Jephson wäre auch zum Neptun mitgeflogen, hätte man es ihm angeboten. Ihn reizten die sportliche Leistung, das einmalige Abenteuer und zu einem Teil auch wissenschaftliche Neugier, denn er war Ingenieur und hatte sich längere Zeit mit Raketentechnik beschäftigt. Bei seinen neuen Gefährten war Jephson nicht unbekannt - wenn auch nur aus Presseberichten. Ein Jahr zuvor hatte er von sich reden
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gemacht, als nach einigen Erdumkreisungen die Bremsvorrichtungen seines Raumschiffes versagt hatten, in dem er sich mit zwei Kameraden befand. Tagelang umkreisten sie die Erde, bis Jephson den Fehler notdürftig behoben hatte. Doch statt auf dem Festland landeten sie wie die früheren amerikanischen Raumschiffe im Atlantik. Von dieser Reise erzählte Jephson mit grimmigem Humor und bekannte, noch nie so viel geflucht zu haben wie nach dieser unvorhergesehenen Wasserlandung. Sie kamen sich in diesem einsamen Haus sehr schnell näher, denn die Probleme und Gedanken vor einem Aufstieg in den Kosmos waren hüben wie drüben die gleichen. Es wurde viel gescherzt, und man belachte Witze, von denen Jephson einen genauso großen Vorrat mitgebracht hatte wie an Kaugummis, die er großzügig verteilte. Wie es die Ärzte, Psychologen und Techniker erwartet hatten, herrschte in diesem Team bereits nach wenigen Stunden ein vertrautes Verhältnis. Vor ihnen lag der viele Monate währende Flug ins Unbekannte, eine Reise, die sie auf Gedeih und Verderb zusammenschloß. Dieser Reise nahmen sie schon jetzt etwas voraus. Alle sechs wohnten und schliefen in einem Gemeinschaftsraum des Hauses. In diesem kahlen Raum standen sechs Betten, sechs kleine Schränke, sechs Stühle und ein Tisch. Es gab keine Bilder an den Wänden, und als Henry Jephson ein gerahmtes Familienphoto über seinem Bett befestigte, wurde er von den Ärzten gebeten, es wieder abzunehmen. Jeder sollte sich schon jetzt an die bevorstehende Trennung gewöhnen - Erinnerungen waren nur hinderlich. Der einzige »Schmuck« in diesem Raum waren ihre Raumanzüge. Sie hingen, jeder mit einer Nummer versehen, wie Rüstungen nebeneinander an der Wand. Der kleine Saal besaß zwei winzige Fenster, die in Form und Größe den Bordfenstern der »Kepler« ähnelten. Schalldicht isolierte Wände sorgten dafür, daß sie sich schon jetzt auf die kommende Stille ihres Fluges vorbereiten konnten. In den ersten Tagen kamen sie nicht dazu, Briefe zu schreiben. Später, als ihr Tagesablauf etwas geregelter war, schrieb Cedrice an
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Nanga: »Mein liebes Mädchen, wie beruhigend und bedrückend zugleich ist der Gedanke, Dich in meiner Nähe zu wissen. Bedrückend deshalb, weil wir nur wenige Minuten weit voneinander entfernt sind und dennoch nicht beisammen sein dürfen. Von Alexander weiß ich, daß er Dir eine Stellung im Ausbildungszentrum vermittelt hat. So werden Dir die wenigen Wochen rascher vergehen. Wenige Wochen. Die Zuversicht meiner Kameraden ist beruhigend für mich, aber sie macht mir meine Rolle als ›erster Ersatzmann‹ nicht gerade leichter. Ehrlich gesagt: Ich beneide sie. Es fällt mir schwer, zu hören, wie sie von dem Flug sprechen oder wenn sie sich ausmalen, wie die Rettungsaktion sein wird. Meine Gedanken eilen so oft voraus… Schon hundertmal habe ich die Begegnung mit der ›Darwin‹ erlebt… Weißt Du übrigens, daß sich unter den Kandidaten auch ein ehemaliger Mitarbeiter von Manik Maya befindet? Du kennst Damar Wulan. Er ist ein sympathischer und besonnener Mensch, wenn auch sehr schweigsam. Ganz anders Henry Jephson. Es ist immer heiter und unbekümmert. Ich wünschte, ich könnte so sein. Aber das liegt wohl auch an dem Abstand, den er und auch die andern zu diesem Unternehmen haben. Wenn wir vormittags in die ›Johannes Kepler‹ klettern, um uns wieder und wieder mit den technischen Einzelheiten vertraut zu machen, findet Henry alles ›okay‹ oder ›allright‹, und man glaubt ihm, wenn er sagt, daß er mit der ›Kepler‹ bis zum Neptun fliegen würde. Beim Betreten dieses Raumschiffes ist mir jedesmal zumute, als hätte ich die Erde bereits verlassen. Es liegt etwas Berauschendes in dem Gedanken, daß ein Funksignal genügt, um sich mit diesem Giganten von der Erde zu lösen; und doch werde ich beim Anblick der zahlreichen Apparaturen eine gewisse Beklemmung nicht los. Man ist dieser Technik auf Gedeih und Verderb ausgeliefert; und all unsere Fähigkeiten werden auf mechanische Tätigkeiten reduziert. Ich glaube, nirgendwo empfindet man das Wirken der Naturgesetze, die unheimliche Gewalt der Materie mehr als in den Kabinen eines Raumschiffes, wenn es die Erde verlassen hat. Und doch ist es ein stolzes Gefühl… Nanga, Liebste, manchmal träume ich davon, mit
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Dir allein zu fliegen. Doch daran bist nur Du schuld - oder wir beide. Leb wohl, bald sehen wir uns. Ich umarme Dich. Cedrice« Einen Tag später erhielt er Post von Nanga. Sie schrieb: »Liebster, wie sehr unsere Empfindungen übereinstimmen! Ich wäre glücklich, Dich bald wieder bei mir zu wissen. Andererseits wünschte ich Dir von ganzem Herzen die Teilnahme und die erfolgreiche Heimkehr. Wie oft streben meine Gedanken mit Dir in die Zukunft, suchen nach dem Bild, das wir so oft erträumten… Es wird Wirklichkeit werden, Cedrice. Als ich Deinen Brief las, sah ich Dich plötzlich mit diesem technischen Wunderwerk in den Himmel aufsteigen. Ich hatte Furcht. In diesem Augenblick fühlte ich, wie nah Du mir bist. Keine Zeit und keine Entfernung könnten uns voneinander trennen. Gibt es etwas Größeres als dieses Wunder unserer Liebe? Liebster, es wird Dich freuen, zu hören, daß ich seit zwei Tagen auch ein wenig mit Deiner Tätigkeit und dem Start der ›Kepler‹ zu tun habe. Wir rechnen noch einmal alle Flugbahnen der bekannten Asteroiden durch ein Gebiet, das mir nicht fremd ist… Heute abend werde ich noch einmal die C-Dur-Klaviersonate von Brahms hören, und Du wirst mir gegenübersitzen wie damals. Ich freue mich auf unser Wiedersehen und auf Deine Umarmung. Nanga« Es war für Damar nicht schwer, den Absender der Briefe, die Cedrice erhielt, zu erraten. Keiner ahnte, was in dem schwermütigen Indonesier vorging. Zwar wunderte sich Cedrice anfangs, weil Damar allen Gesprächen über Manik Maya auswich und auch darüber, daß Nanga keinen Gruß an ihren ehemaligen Kollegen richtete. Er stellte allerlei Vermutungen an, doch auf den wirklichen Sachverhalt kam er nicht. Die ereignisreichen Tage ließen ihm auch nicht viel Zeit, sich den Kopf darüber zu zerbrechen. Dann trat etwas ein, womit keiner gerechnet hatte: ihre Kameraden Kämmerer und Gilko erkrankten. Krank ist vielleicht nicht das richtige Wort, denn sie litten lediglich an einer leichten Darmverstimmung. Für die Kommission war dies jedoch ein ausreichender Grund, beide aus dem Team herauszunehmen. Einen Tag später stand die endgültige Nominierung der künftigen Keplerbesatzung fest. Massi-
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mu wurde zum Kommandanten ernannt, Damar zu dessen Vertreter. Das alles erfolgte eine Woche vor dem Start. Am frühen Vormittag, zehn Stunden vor dem Start, traf Alexander Wulko ein. Cedrice hatte ihn seit seiner Isolierung nicht mehr gesehen. Sie gingen im Park vor dem Haus spazieren. »Nun ist dein Wunsch doch noch in Erfüllung gegangen, mein Junge«, sagte Wulko, »wie fühlst du dich?« »Gut«, antwortete Cedrice. »Wie hat es Nanga aufgenommen?« Wulko lächelte vielsagend. »Bis jetzt glaubte ich immer, sie sei nur aus wissenschaftlichem Interesse und aus Neugier hier. Ich will mich nicht in deine privaten Angelegenheiten mischen, Cedrice, aber ich hoffe, daß dein Verhältnis zu ihr tiefer ist, als deine Beziehungen zu Anne es waren.« »Ich liebe Nanga«, antwortete Cedrice. »Frage sie selbst, was sie zu deiner Nominierung sagt. Ich habe sie mitgebracht. Nanga wartet am Tor auf dich. Ihr habt dreißig Minuten Zeit.« Cedrice sah auf die Uhr. »Zweiundreißig Minuten«, korrigierte er und eilte zum Tor, vor dem zwei Posten standen, die Nanga den Einlaß verwehrten. Erst als Wulko ihnen Anweisung gab, durfte sie eintreten. Wulko winkte ihr zu und entfernte sich. Sie standen sich gegenüber, reichten sich die Hand und brachten kein Wort hervor. Dann gingen sie weiter, und erst als ihnen Bäume und Sträucher Schutz vor fremden Augen gewährten, zog Cedrice sie an sich und küßte sie. Sie sagte: »Wir wollen uns setzen, Cedrice.« Nanga hatte auf einmal das Gefühl, als sänken ihre Beine weg. Sie setzten sich auf eine Parkbank, und sie verbarg ihren Kopf an seiner Brust. »Wir trennen uns nicht«, flüsterte er, »erinnere dich an deinen ersten Brief, den du mir geschrieben hast. ›Keine Zeit und keine Entfernung vermögen uns zu trennen‹…« »Ich weiß es. Liebster. Bitte, sprich jetzt nicht mehr - was sollen Worte?« Die Minuten waren wie Sekunden. Die beiden schmiegten sich aneinander, und seine Hand ruhte auf ihrem Herzen. So saßen sie und schwiegen, der Zeit und dem Kommenden entrückt, und mehr als sie fühlte er: Das ist die Erde mit ihrem Atem, ihrem betörenden Duft.
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Die Erde war Liebe, Freude und Trauer, Licht und Dunkelheit, Dämmerung und Traum, Kraft und Schwäche. Und auch der gellende Mißklang, der sie plötzlich aus ihrer Versunkenheit riß, gehörte dazu. Die Sirene forderte ihn und seine Gefährten auf, Abschied zu nehmen. Nanga, einen Schein blasser, gab sich Mühe, ruhig zu bleiben. Sie lächelte sogar ein wenig, als sie Cedrice einen Brief überreichte. »Versprich mir, Liebster, ihn erst zu öffnen, wenn ihr eine Spur gefunden habt.« »Enthält er eine Liebeserklärung?« versuchte Cedrice zu scherzen. »Nein«, sagte sie, »du wirst es lesen, aber versprich mir, ihn nicht vorher zu öffnen.« »Ich verspreche es dir.« Sein Mund war nahe an ihrem Ohr, und er wiederholte: »Ich verspreche es.« Sie gaben sich nicht mehr die Hand. Ein Lächeln war der letzte, stumme Abschiedsgruß, den sie auf ihren Wegen mitnahmen. Nanga ging zum Portal zurück; seine Schritte knirschten über den Kiesweg dem Hause zu. Die Bäume, die Blumen und Sträucher, der Weg und der grüne Rasen zwischen den Blumen waren das letzte Bild, das er von diesem Beisammensein auf der Erde in sich aufnahm. Es war achtzehn Uhr und zehn Minuten. Massimu, Jephson, Cedrice und Wulan standen vor dem Lift, der sich in wenigen Minuten zur Einstiegsluke der »Johannes Kepler« emporheben sollte. Dutzende Male hatten sie hier gestanden und Dutzende Male an diesen Augenblick gedacht. Um sie hatten sich die Techniker, Ärzte und Ausbilder versammelt, vertraute Gesichter, in denen sich die Erregung widerspiegelte. Ein paar Worte des Abschieds wurden gesprochen. Die vier hörten kaum zu. Trenuk stand in ihrer Nähe. Er nickte und drückte sichtbar beide Daumen. Die Abschiedszeremonie war beendet. Nacheinander bestiegen sie den Lift. Der Platz vor dem Raumschiff leerte sich, die Startmannschaft räumte fort, was nicht mehr erforderlich war. Das letzte Winken der vier war kaum noch zu erkennen. Einen Augenblick später hatte Massimu die Einstiegsluke von innen verschraubt. Die »Johannes Kepler« stand nun einsam auf ihrem Startplatz, ein riesiger Zy-
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linder, dessen silberglänzende Spitze in den Himmel ragte. Aus dem unteren Teil verdampfte die Kühlflüssigkeit und bildete kleine weiße Wolken, die sich rasch verflüchtigten. Es war achtzehn Uhr und neunzehn Minuten geworden. Mehr als zwei Stunden würden noch bis zum Start vergehen. Der Aufstieg der »Johannes Kepler« konnte in jeder Wohnung, in jedem Winkel der Erde verfolgt werden. Was man auf den Bildschirmen nicht sehen konnte, das war die Absperrung am Rande des Talkessels, hinter der etwa hundert Beobachter, zumeist Wissenschaftler und einige Reporter, ungeduldig den Start erwarteten. Unter ihnen befanden sich auch Nanga und Wulko. Wulko wollte Nanga in eine der Übertragungskabinen mitnehmen. Dort hätte sie auch die Aufnahmen aus dem Innern des Raumschiffes sehen können. Nanga hatte kein Verlangen nach diesen Bildern. Sie kannte genug Photos dieser Art, und der Anblick der beim Aufstieg zusammengepreßten Raumfahrer war alles andere als angenehm. Die Zeit bis zum Start schien endlos zu sein. Hin und wieder wurden über Lautsprecher Anweisungen durchgegeben. In Nangas unmittelbarer Nähe debattierten einige Herren sehr heftig über Probleme der Raumfahrt. Viel verstehen konnte sie nicht, aber als Nanga hinüberblickte, bemerkte sie einen Mann mit einem Backenbart, der seinen Zuhörern gerade lautstark auseinandersetzte, daß die Erde bereits einmal von fremden Lebewesen besucht worden sei, was man bei Hesekiel, Jesaja und in der Offenbarung nachlesen könne. Erneute Lautsprecherdurchsagen unterbrachen den bärtigen Propheten. Es fehlten noch zwölf Minuten und zehn Sekunden bis zum Start. »Eine knappe Viertelstunde noch, Nanga, dann ist es überstanden«, sagte Alexander Wulko und nickte ihr aufmunternd zu. Er ahnte, was in dem schwarzhaarigen Mädchen vorging. »Ja, für uns ist es dann überstanden«, antwortete sie. »Auch für die vier. Glauben Sie mir, Nanga, das Schlimmste an der Sache ist das Warten. Speit die ›Kepler‹ erst einmal Feuer, dann beginnt für die Insassen der angenehmere Teil. Mich erinnert dieser Zeitablauf immer an eine Entbindungsstation, wobei wir Zuschauer die Rolle des
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Ehemannes übernehmen müssen, der ungeduldig voll düsterer Gedanken im Wartesaal auf und ab wandert. Und dann geht plötzlich die Tür auf, und die Krankenschwester tritt ein und verkündet lächelnd: ›Herzlichen Glückwunsch‹ die Geburt verlief normal, Mutter und Kind sind wohlauf.« Der Vergleich entlockte ihr ein Lächeln. Wulko tat sein möglichstes, um ihr die Wartezeit zu verkürzen. Er erzählte von früheren Starts, erläuterte ihr den technischen Ablauf und andere Einzelheiten. Inzwischen war es dämmrig geworden. Wenige Minuten vor dem Start blitzten plötzlich Hunderte von Scheinwerfern auf. Sie strahlten die »Kepler« an, die nun aus der Entfernung an eine Moschee mit einem übergroßen Minarett erinnerte. Nangas Augen waren unablässig auf dieses Bild gerichtet. Sie sah durch die Metallwände des Kolosses, und ihre Worte fielen ihr wieder ein: Keine Zeit und keine Entfernung vermögen uns zu trennen… »Es ist gleich soweit«, hörte sie Wulko sagen. Aus den Lautsprechern ertönte auf einmal das Ticken einer Uhr. Das »Tick-Tick-Tick« war wie der Schlag eines Herzens und ließ die Zuschauer den Atem anhalten. Zwischendurch sagte ein Stimme: »Noch siebzig Sekunden bis zum Start!« Nanga hatte unwillkürlich Wulkos Arm ergriffen. Nach der Durchsage wollte sie die Sekunden mitzählen, doch das Ticken verwirrte sie. Ihre Gedanken sprangen zu Cedrice, der nun angeschnallt in seinen Polstern lag und wie sie wartete. Wulko sah zum Himmel. »Leichte Wolkenbildung«, murmelte er, »wir werden sie nicht lange sehen können. Schade.« Nanga hörte gar nicht hin. Wie viele Sekunden noch? überlegte sie. Plötzlich hörte sie das Wort: »Start!« Zur gleichen Zeit drang ein Donnern an ihr Ohr. Es hörte sich an wie ein fernes Gewitter. Ein greller Feuerstrahl verkündete den Start. Der Rumpf des Raumschiffes vibrierte. Es sah aus, als wollte er sich nicht erheben. Das Heulen der ausströmenden Gase nahm zu. Langsam und sacht, von einem unheimlichen Getöse begleitet, stieg die »Johannes Kepler« auf. Es war, als brüllte die Erde und böte ihre ganze Kraft auf, den Menschen ihr Vorhaben zu verwehren. Doch das Raumschiff stieg und stieg, einen weißleuchtenden Feuerschweif hinter sich herziehend.
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Sekunden später schwenkte die »Kepler« langsam auf eine waagerechte Bahn ein. Zu hören war nichts mehr, nur ein leuchtender Punkt verkündete weithin sichtbar den gelungenen Aufstieg. »Sie fliegt gut«, sagte Wulko. »Ja«, bestätigte Nanga, die mit großen Augen den leuchtenden, immer kleiner werdenden Punkt verfolgte. Hinter ihr surrten Kameras, der erfolgreich verlaufene Start wurde nun auch über die Lautsprecher verkündet. Nanga hatte keine Gedanken für die Menschen um sie herum, sonst hätte sie die Stimme des Bärtigen herausgehört, der laut rief: »Die Cherubim schwebten zum Himmel empor - und siehe, eine Tür ward ihnen auf getan!«
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XV Nach dem qualvollen Warten erschien ihnen das Aufleuchten der Signallampen wie eine Erlösung. Sie atmeten noch einmal tief; vom oberen Teil des Raumschiffes drang ein feines Surren in ihre Kabinen, das rasch in einen singenden Ton überging. Dieses Geräusch kam vom Gyroskop, dem Massekreisel, der den Raumkörper in seiner vorgewählten Lage hielt. Nur wenige Sekunden war der singende Ton zu vernehmen, dann zündeten die Triebwerke. Die vier verspürten das Vibrieren ihrer Polster. Ein immer lauter werdendes Dröhnen verschluckte jedes andere Geräusch. Sie lagen in ihren Schaumgummiliegesitzen wie in einer Sülzmasse, Cedrice und Henry Jephson in einer Kabine, ihnen gegenüber Damar und Massimu. Alle bemühten sich, ihre Gedanken ganz auf den Start zu richten und sich zu entspannen. Sie wußten, daß sich die »Kepler« sanft von der Erde abheben würde. Nur Jephson blinzelte von Zeit zu Zeit zu Cedrice hinüber. Dann rief er etwas, was in dem Dröhnen nicht zu verstehen war. »Ruhe!« befahl Massimu von nebenan über das Mikrophon. In den Kabinen flammte Licht auf. Über ihnen waren Kameras eingebaut. Jetzt konnte man sie auf der Station am Bildschirm sehen. Cedrice hatte die Augen zusammengekniffen. Ade Erde, dachte er und hätte am liebsten ein lautes »Auf Wiedersehen!« ausgerufen. Gleich mußten sie sich abheben. Das Dröhnen schwoll an. Ihm kam der Gedanke, der Start könnte mißlingen. Für einen Defekt gab es hunderttausend Möglichkeiten, und es wäre nicht das erste Mal, daß ein Start mißlang. Dann würde Massimu oder der Chefingenieur auf der Station auf einen Knopf drücken und das ganze in jahrelanger Arbeit errichtete Wunderwerk auseinandersprengen. Nur sie würden mit ihren Kabinen in die Höhe geschleudert werden und dann an Fallschirmen zur Erde zurückgleiten. Auch auf einen solchen Zwischenfall waren sie vorbereitet worden. Die Ingenieure brauchten den Katastrophenknopf nicht zu betätigen. Das Vibrieren hatte nachgelassen, Cedrice verspürte einen leichten Druck gegen seinen Körper, der von Sekun127
de zu Sekunde anwuchs. Sie flogen; die Energien, die ihr Raumschiff nach oben trugen, waren stärker als die Anziehungskraft der Erde. Der Druck, der die vier gegen die Polster preßte, wuchs noch immer. Dafür ließ das Dröhnen der Triebwerke nach; ihre Geschwindigkeit war schneller als der Schall. »Mein Kompliment zu euren Konservenbüchsen« sagte Jephson, »um ehrlich zu sein, beim Start war mir etwas bange. Also jetzt fliegen wir. Ich finde es ganz gemütlich, die Belastung ist auch harmlos.« »Erzähle einen Witz, Henry«, sagte Massimu, »dann vergehen die fünfzehn Minuten schneller.« »Das sagst du so einfach. Weiß der Teufel, mein Kopf ist leer. Ich glaube, wir erleben einen historischen Augenblick. Meine Frau sagte mir beim Abschied, die Nation sei stolz auf mich. Was sagt ihr dazu?« »Sie werden dich mit Papier berieseln, wenn du zurück bist«, antwortete Massimu. »Hoffentlich sind ein paar Scheine darunter«, brummte Jephson. Cedrice hörte dem Gespräch seiner Gefährten nur halb zu. Seine Gedanken schweiften zurück zum Startplatz. Er bemühte sich, Nangas Bild vor Augen zu führen; sonderbarerweise gelang es ihm nicht. Alles, was hinter ihm lag, haftete nur noch schemenhaft in seinem Gedächtnis. Namen kamen ihm in den Sinn, Namen ohne Gesichter: Wulko, Professor Shagan, Anne und ganz plötzlich dieser Honore R. Cedrice wollte bei diesem Namen lächeln, doch es wurde nur eine Grimasse daraus, und er dachte: Eigentlich ist es schade, daß er nicht in der anderen Kabine liegt. Man sollte diese Spinner alle einmal auf eine Kreisbahn schießen, das hielte ihre Phantasie im Zaume, und sie bekämen dann auch realere Vorstellungen von den Naturgesetzen… »Womit hast du im Näsisee immer geangelt, Cedrice?« erkundigte sich Jephson. »Mit Haken und Wurm oder mit künstlichen Ködern?« »Mit künstlichen Ködern.« »Ich habe im letzten Jahr viel in der Karibischen See gefischt, bin nur auf Haie gegangen. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie ich diese
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Biester fürchte. Als ich damals im Wasser landete, hatte ich die meiste Angst vor den Haifischen. Ich dachte immer: Jetzt bist du glücklich aus dem Kosmos zurück, bist ein Held und schwimmst hier wie eine Ratte im Wasser. Das müßt ihr euch einmal vorstellen: Der Held wird von einem Haifisch ins Bein gebissen.« Sie bemühten sich, dieses Bild zu sehen, und mußten lachen. Dann sagte Damar: »Noch zwei Minuten, dann haben wir die Umlaufbahn erreicht.« Sie schwiegen nun in Erwartung der bevorstehenden Schwerelosigkeit. Die zwei Minuten währten lange. Jeder von ihnen hatte diesen Augenblick schon mehrfach erlebt, und jeder war auf diese Sekunde vorbereitet gewesen. Dennoch erging es keinem anders als Cedrice, der auf einmal, das Empfinden hatte, unaufhörlich zu fallen. Es war, als sei die »Kepler« zu einem Fahrstuhl geworden, der in die Tiefe sauste. Das Raumschiff hatte die vorausberechnete Bahn annähernd erreicht, für Sekunden gab es keinen Antrieb mehr. Ihr Flug glich nun wirklich einem dauernden Fallen um die Krümmung der Erde. Fliehkraft und Schwerkraft hielten sich die Waage. Während die »Kepler« in jedem Bruchteil einer Sekunde von der Erde fortstrebte, riß sie die nach innen gerichtete Schwerkraft in der gleichen Zeit wieder zurück. Aus dieser Wechselbeziehung ergab sich ihre Schwerelosigkeit. Es vergingen einige Sekunden, als erneut ein Stoß das Raumschiff vibrieren ließ. Wieder wurden sie gegen die Polster gedrückt. Diesmal dauerte der Andruck jedoch nur Sekunden. Die letzte Stufe der Trägerrakete hatte sich mit einem starken Rückstoß von ihnen getrennt und dabei der »Kepler« noch einen letzten Schub verliehen, der sie auf die endgültige Umlaufbahn brachte. Erst jetzt waren sie am Ziel der ersten Etappe ihres Aufstiegs angelangt. Sie blieben liegen, um sich den Bedingungen der Schwerelosigkeit anzupassen. Der Gleichgewichtssinn, der Magen und vor allem das Herz mußten sich an den neuen Zustand gewöhnen. Jephson, immer zum ulken aufgelegt, rief mit komischem Pathos: «Ladies and Gentlemen, fünfundvierzigste Etage, Spielwarenabteilung! Möchte jemand aussteigen und einen kleinen goldenen Engel kaufen?«
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»Immer dieselben Witze«, brummte Massimu, »erzählt mir jetzt hübsch der Reihe nach, was ihr für Wehwehchen habt. Damar, fang an.« Damar fixierte eine in der Kabine angebrachte Zeichnung, auf der verschiedene geometrische Figuren dargestellt waren. »Ich sehe normal«, sagte er, »mein Puls ist erhöht, der Magen etwas nach unten gerutscht, sonst alles in Ordnung, kein Schwindelgefühl.« »Dann sei glücklich«, sagte Cedrice, »mir wird übel, und diesen Kreis auf der Zeichnung kann ich auch nur als Oval erkennen.« Mehr oder weniger stellten sich bei allen vier derartige Übergangssymptome ein. Trotz Praxis und Training benötigte der Organismus einige Stunden, um sich der neuen Lage anzupassen. Massimu gab die Berichte an die Station weiter, kontrollierte von seinem Liegesitz aus die Klimaverhältnisse an Bord und gab die wichtigsten Zahlen und Daten der verschiedenen Meßinstrumente durch. Sie hatten nun einige Stunden Zeit. Auf der Station errechnete man ihre genaue Umlaufbahn. Einen Augenblick lang konnten sie durch das Bordfenster ihre Trägerrakete sehen. Der »Herkules«, wie die letzte Stufe scherzhaft genannt wurde, zog nun, über Funk gesteuert, zur Erde zurück. Eine Weile war es still in ihren Kabinen. Es gab eine bewährte Methode, sich der neuen Lebenssphäre anzupassen. Dazu gehörten Ruhe und Konzentration, eine gewisse Art von Autosuggestion. Im schlimmsten Falle ließen sich die überreizten Magennerven mit Medikamenten beruhigen; niemand benötigte jedoch dieses Hilfsmittel. Nach zwei Umläufen waren die ersten Schwierigkeiten überwunden. Sie lösten sich von ihren Liegesitzen. Nur das Gefühl, mit dem Kopf nach unten zu stehen, blieb. Es würde noch eine Zeitlang andauern. Massimu sprach mit der Station. Er rief seine Gefährten in die Kommandozentrale. »Bitte zur Gratulationscour, der Chef möchte euch sehen.« Auf einem kleinen Bildschirm waren undeutlich einige Personen zu erkennen, die ihnen zuwinkten. Scherzworte wurden gewechselt, der Leitende Ingenieur teilte ihnen ihre Bahndaten mit. In einer Stunde sollte ein zweites Raumschiff auf die Kreisbahn gebracht werden. Es würde den wichtigsten Teil der »Kepler« enthalten, das Antriebsag-
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gregat mit dem Reaktor, den Zwischenschotten und anderen Bauteilen, die infolge ihres großen Gewichtes erst auf der Kreisbahn zusammengesetzt werden konnten. Das Bild auf dem Schirm fing an zu flackern. Gleich darauf waren nur noch helle Streifen zu sehen. »Die erste Panne«, murmelte Henry Jephson, »ein böses Omen.« »Höre auf zu unken«, sagte Massimu, »es können Störungen durch die Atmosphäre sein.« Er meldete der Station den schlechten Bildempfang. Man wollte den Fehler suchen und beheben. Damar sagte: »Von mir aus kann die Bildübertragung wegfallen. Bilder von der Erde lenken nur ab.« »Das ist wahr«, bestätigte Cedrice, »wir haben ein Ziel, und nur darauf sollten wir uns von nun an konzentrieren. Alles andere ist nebensächlich.« »Ganz so nebensächlich ist es nicht«, bemerkte Massimu. »Nach spätestens vier Wochen werden wir einen Gast an Bord bekommen, mit dem wir fertig werden müssen.« Sie wußten, worauf er anspielte. Der unsichtbare Gast war das Heimweh. Es stellte sich mit unumstößlicher Gewißheit ein. Und es harrten ihrer noch ganz andere Probleme. Sie waren darauf vorbereitet und fest entschlossen, den Anfechtungen der Monotonie und der nervtötenden Stille zu widerstehen. Massimu hatte nicht unrecht; die zeitweilige Bildübertragung von der Erde zum Raumschiff war ein wichtiges Mittel, das Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit zu stärken. In Augenblicken der Krise, da die Raumkrankheit um sich griff, konnten Bildtelegraphie und andere technische Einrichtungen aufkommende Depressionen zumindest abschwächen. Vorerst jedoch war von all dem nichts zu spüren. Sie waren guter Dinge, und die »Kepler« bewegte sich in einer Entfernung von vierhundertsiebenunddreißig Kilometern um die Erde. Dort befand sich die äußere Atmosphäre, in der die Gasmoleküle nicht mehr von der Schwerkraft der Erde festgehalten werden konnten. Auf dieser Kreisbahn konnten sich die vier auf die lange Reise vorbereiten. Sie warteten auf den Start des Transportraumschiffes. Am Bordfenster zog ein Stern vorüber. Damar betrachtete ihn durch das Bordteleskop. »Dort habe ich gearbeitet«, sagte er versonnen, »seht 131
teleskop. »Dort habe ich gearbeitet«, sagte er versonnen, »seht es euch an, ›Kaluschnins Auge‹, das fliegende Observatorium. Es war eine schöne Zeit. Sie entfernen sich jetzt…« Sie nannten diesen künstlichen Himmelskörper, der die Erde auf einer elliptischen Bahn umkreiste, nach dem Chefkonstrukteur Kaluschnin. Das Observatorium befand sich hier in Erdnähe und entfernte sich nun, bis es nach zehn Erdradien sein Apogäum erreicht hatte. Die im Observatorium arbeitenden drei Wissenschaftler hatten die »Kepler« ebenfalls gesichtet. Sie funkten Grüße und wünschten Erfolg für den Flug. Etwas später tauchte »Kaluschnins Auge« unter die Erdscheibe. Die vier fanden auch nicht mehr die Zeit, sich mit der kleinen Station zu beschäftigen. Die Leitstation hatte den Start des Transportraumschiffes gemeldet. Fünfzehn Minuten vergingen, dann tauchte ein langgestrecktes Gebilde auf ihrer Bahn auf. Ihr Aggregat näherte sich langsam, verbunden mit einer Kapsel, die zwei Monteure beherbergte. Sie standen in der Kommandozentrale und beobachteten gespannt das Manöver durch einen Projektionsspiegel. Die Verkopplung beider Raumkörper erfolgte automatisch. Sobald sich die Fassungen der Flächen berührten, wurden sie durch herausspringende Klammern fest miteinander verankert. Als das Aggregat bis auf einen Meter herangekommen war, klammerten sie sich an die Haltegriffe. Sekunden später ging ein Ruck durch die »Kepler«, sie fing an zu taumeln; ein schepperndes Geräusch begleitete diesen Vorgang. Die Fassungen rasteten ein, das Aggregat war mit dem Raumschiff verbunden. Gleich darauf erhielt die »Kepler« erneut einen kleinen Stoß. Die Raumkapsel mit den beiden Monteuren hatte sich vom Aggregat gelöst. Da die Verkopplung ohne Fehler und Zwischenfälle verlaufen war, brauchten die beiden nicht auszusteigen. Dennoch blieben sie vorerst in der Nähe der »Kepler«, um bei auftretenden Schwierigkeiten eingreifen zu können. Für die vier gab es jetzt wichtige Arbeit, die große Aufmerksamkeit erforderte. Die im Aggregat befindlichen Kabelstränge waren mit den Kontaktstellen der Kommandozentrale zu verkuppeln, und die Verbindungsflächen verlangten innen eine sorgsame Abdichtung. Erst dann durfte auch dieser Teil des Raumschiffes mit Sauerstoff
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gefüllt werden. Fünf Erdumkreisungen dauerte es, bis Massimu der Leitstation die erfolgreich abgeschlossene Arbeit melden konnte. Sie hatten alle Meßinstrumente durchgeprüft, den Luftdruck ausgeglichen und die Speichen wieder geschlossen. Die »Johannes Kepler« war bereit für die Reise ins All. Die beiden Monteure in der kleinen Raumkapsel sandten ihre letzten Grüße, dann verringerten sie ihre Geschwindigkeit, lenkten die Kapsel der Erde zu. Jetzt brauchten sie nur noch die genauen Daten für die elektronische Programmsteuerung, dann stand dem Abflug nichts mehr im Wege. Jeder von ihnen hatte sein Aufgabenbereich und ein festumrissenes Tagesprogramm, zu dem die tägliche Gymnastik genauso gehörte wie das Schlafen oder das Lesen. Damar war für den »Speisezettel« verantwortlich, der im wesentlichen aus Konservennahrung bestand. Dreimal in der Woche entnahmen sie ihre Nahrung dem Labor, das ebenfalls von Damar kontrolliert wurde. Cedrice kontrollierte die Sauerstoffregeneration, den Reaktor und die Klimaverhältnisse; Henry Jephsons Aufmerksamkeit galt den verschiedenen technischen Apparaturen, den Sende- und Empfangsanlagen, den Funkmeßgeräten und Oszillographen. Massimu hielt die Verbindung mit der Station aufrecht, führte das Bordtagebuch und überwachte den Gesundheitszustand seiner Gefährten. In geisterhafter Stille zog die »Kepler« ihre Bahn um die Erde. Fast neunundzwanzig Stunden waren seit dem ersten Start vergangen. Über ihrem Startplatz, dem Kambo-Talkessel, lag längst wieder tiefe Nacht. Eurasien schlief. Nur die Wissenschaftler an den verschiedenen Beobachtungspunkten verfolgten den winzigen Himmelskörper, der nach knapp anderthalb Stunden am Horizont auftauchte und seine Bahn durch das Firmament zog. Gegen vier Uhr morgens nahm die »Johannes Kepler« diesen Weg zum letzten Mal. Die Station hatte die endgültigen Daten für die Programmsteuerung durchgegeben. Die gesamte Etappe des weiteren Fluges, die schwierigste von allen, wurde mit diesem Programm elektronisch gesteuert. Es wäre unmöglich gewesen, die genau berechnete Flugbahn ohne das Elektronengehirn an Bord einzuhalten. Der Weg, den das Raumschiff nun durchlaufen mußte, war keine einfache Keplerellipse mehr; sobald
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sich das an Bord befindliche Triebwerk einschaltete, bewegte sich das Raumschiff auf einer Spiralenbahn um die Erde, wobei die Windungen dieser Spirale immer größer wurden, bis schließlich jener Augenblick erreicht war, da die Flugbahn endgültig von der Erde hinwegführte. Die vier hatten sich wieder auf ihre Liegesitze geschnallt. Um vier Uhr dreiundzwanzig leuchteten erneut die Signallampen in ihren Kabinen auf. Zum letzten Male zog unter ihnen die riesige Scheibe der Erde vorüber. Zum letzten Male sahen sie den vertrauten Planeten mit seinen Kontinenten, Meeren, Städten, Wäldern und Wolken. In genau neunzig Sekunden würden sich diese Konturen verwischen. Die große Ebene würde zusammenschmelzen, die Erde langsam ihre Kugelgestalt preisgeben. Aber auch diese Kugel mußte kleiner werden, so winzig wie alle Sterne erscheinen. Keiner der vier hatte den Planeten je so gesehen. Hoffnung erfüllte sie, während die Startuhr unbarmherzig die noch fehlenden Sekunden anzeigte, und auch Ungeduld war in ihnen und Neugier auf das, was nun auf sie zukam. Noch sechzig Sekunden, neunundfünfzig, achtundfünfzig… »Zwei von uns sind einmal von einer Kreisbahn aus gestartet, aber die Zündung erfolgte zehn Sekunden zu spät«, unterbrach Jephson die spannungsgeladenen Sekunden. »Sie sollten in Richtung Mond fliegen.« »Und?« fragte Cedrice. »Sie konnten die Bahn nachträglich korrigieren.« »Wir starten auf die Sekunde«, sagte Massimu, »seht noch einmal ’raus, unter uns liegt jetzt der Pazifik.« Sie sahen hinaus auf die blaue Fläche, die vom Sonnenlicht erhellt wurde. Damar wollte etwas sagen, doch der Sekundenzeiger der Startuhr sprang auf Null und blieb stehen. Gleichzeitig drang ein Rauschen in ihre Kabinen. Die Triebwerke hatten gezündet. Sie verspürten einen leichten Andruck, längst nicht so stark wie beim Start von der Erde, aber doch heftig genug, um ihnen für Augenblicke wieder ein geringes Schweregefühl zurückzugeben. Der Flug ins Universum hatte seinen Anfang genommen.
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Die Bahn der »Johannes Kepler« führte nun nicht mehr in Marsnähe. Ursprünglich sollte sich das Raumschiff einmal dem roten Planeten auf eine Entfernung von etwas mehr als Erde - Mond nähern. Jetzt kamen sie dem Mars nur bis auf sechzehn Millionen Kilometer nahe. Das blieb noch immer eine verhältnismäßig große Annäherung, wenn man bedenkt, daß sich dieser äußere Nachbarplanet der Erde im günstigsten Falle nur bis auf siebenundfünfzig Millionen Kilometer zu nähern vermag. So hofften die Wissenschaftler trotz der veränderten Flugbahn noch wichtige Informationen zu erhalten, vor allem aber das Geheimnis des merkwürdigen Mondes »Phobos« entschleiern zu können. Es mußte noch viel Zeit vergehen, ehe dieser Auftrag erfüllt werden konnte. Vor der Besatzung lagen Monate des Wartens und der Ungewißheit, Tage, deren Stunden noch nicht gezählt und deren Kalenderblätter noch nicht beschrieben worden waren.
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XVI »Gib mir einen festen Punkt, wo ich hintreten kann, und ich bewege die Erde!« Vor mehr als zweitausend Jahren hat Archimedes diesen Satz gesagt. Er wußte, daß es einen solchen festen Punkt im Universum nicht gibt, daß alles in dieser Unendlichkeit Bewegung ist, Energie. Mond und Erde kreisen gemeinsam um einen Schwerpunkt, beide zusammen mit den Planeten um die Sonne, diese wiederum mit allen Planeten um ein Zentrum im Milchstraßensystem, dessen Sternenfamilie auf mehr als hundert Milliarden Sonnen geschätzt wird. Doch auch diese kreisende Sternenwolke von unvorstellbaren Ausdehnungen ist nur ein Punkt im unendlichen Raum; sie wandert um ein noch größeres Zentrum, und es gibt kein Ende dieser Bewegungen. Das neue Quentchen Energie, der neue Stern im Weltenraum, die »Johannes Kepler«, bewegt sich erst wenige Wochen in dieser Unendlichkeit, die kein Oben und kein Unten besaß und in der die Zeit nach anderen Gesetzen ablief. Für Cedrice, Damar, Jephson und Massimu war die Erde bereits kleiner geworden, als es der Mond in ihrer Erinnerung gewesen war; das Nachtgestirn selbst erschien ihnen jetzt nur noch groß wie ein helleuchtender Tennisball. Noch immer entfernten sie sich mit zunehmender Geschwindigkeit von ihrer heimatlichen Umgebung. Gäbe es nicht den sicheren Leitstrahl zwischen ihnen und der Erde und flöge die »Kepler« nicht von der Präzision des Elektronenprogramms gesteuert, so wäre ihr Ziel unerreichbar gewesen. Sie hätten sich in dieser Welt der verwirrenden Bewegungen und der komplizierten Schwerkraftverhältnisse verirrt. Selbst eine willkürliche und unmittelbare Rückkehr zur Erde war unmöglich geworden. Es bedurfte eines großen technischen Aufwandes und eines Stabes von Gelehrten, um die mathematischen Voraussetzungen für den Rückflug zu schaffen.
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Doch die vier dachten nicht an Rückflug, obwohl schon Wochen vergangen waren. Sie flogen und flogen, aber sie bemerkten ihre Eigenbewegung kaum noch. Es war, als stünde die »Kepler« unbeweglich im Raum. Nur auf dem Oszillographen, der ihren Kurs nachzeichnete, und auch an der kleiner werdenden Erde konnten sie die Ortsveränderungen wahrnehmen. In diesen Wochen begriff Cedrice die Bedeutung des strapaziösen Testes in der »Fok 2«. Manches von dem, was er dort durchexerziert hatte, wiederholte sich. Täglich gaben sie mehrere Male die Daten der Meßinstrumente durch, und täglich mußten sie den Wissenschaftlern auf der Station Angaben über bestimmte Körperfunktionen machen. Bei allen war die Herztätigkeit erhöht und eine leichte Reizbarkeit feststellbar. Das alles hielt sich noch in einem erträglichen Rahmen, doch im Gegensatz zu den vorangegangenen Übungen, vor allem in der Isolierung des Testraumschiffes, war hier kein Ende abzusehen. Im Gegenteil, sie standen noch immer am Beginn ihres Fluges. Die ständig wachsende Entfernung zur Erde stellte sie vor Probleme, die bis jetzt noch nicht erforscht worden waren. Der Zwang, die Überlebenden der »Darwin« unter allen Umständen zu retten, riß eine Lücke in die Forschungsreihen; man tat den zweiten Schritt vor dem ersten. Niemand konnte voraussagen, ob die Expedition von Erfolg gekrönt sein würde. Da war der in Jahrtausenden angeborene Instinkt, der jedem Menschen wie eine eigene innere Uhr das Gefühl für Tag und Nacht, für Morgen- und Abenddämmerung anzeigte. Hier gab es keinen Tag und keine Nacht und keine Dämmerung. Wann immer sie auch hinausblickten, sahen sie das gleiche Bild, die Finsternis der Unendlichkeit, in der Millionen gleißende Lichter funkelten. Ihre Uhren liefen synchron mit der Weltzeit, aber ihr gewohnter Lebensrhythmus war durcheinandergeraten. Am schlimmsten empfanden sie die unheimliche Stille und die Einförmigkeit ihrer Umgebung. Diese trostlose Monotonie, das scheinbar unveränderte Bild, das sich immer wieder ihren Blicken darbot, dehnte die Sekunden, ließ Stunden zu Tagen werden.
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Soweit es die beschränkten Möglichkeiten zuließen, half ihnen die Arbeit, sich gegen diese Nervenbelastung zu wehren. Es war wenig genug, was sich an sinnvoller Tätigkeit bot. Die meiste Zeit verbrachten sie mit Gymnastikübungen und Lektüre. Auf die Gymnastik legten die Ärzte der Leitstation besonderen Wert. Zwar beschleunigte sich die »Kepler« noch immer, doch diese Beschleunigung wirkte sich nur geringfügig auf die Schwerelosigkeit aus. Ohne Gymnastik mußte der Körper erschlaffen. In ihren Kabinen waren Expander angebracht, die ein körperliches Training auf kleinstem Raum ermöglichten. Was das Lesen anbelangte, so war ihr Vorrat an Lektüre dank einer technischen Entwicklung beinahe unerschöpflich. Der Inhalt der Bücher wurde elektronisch gespeichert. Ein kleines, bleistiftstarkes Rohr konnte den Inhalt eines umfangreichen Buches aufnehmen. Um die Worte sichtbar zu machen, mußte das Rohr in das Transkapus eingeführt werden. Das war ein kleines Gerät mit einer Bildscheibe, auf der man den Text ablesen konnte. Das Verfahren unterschied sich im Grunde nicht sehr viel von der Bildaufzeichnung im Fernsehen, aber erst die weit gesteckten Ziele der Raumfahrt hatten die Wissenschaftler zur Lösung dieses Problems gezwungen, denn durch das Transkapus war es nun möglich, ganze Bibliotheken in einem Raumschiff unterzubringen. Für Cedrice gab es noch etwas anderes, was seine Aufmerksamkeit immer wieder in den Bann zog. Es war das Labor im vorderen Teil des Raumschiffes. Sie nannten diesen Raum scherzhaft »Gemüsegarten«, denn hier befanden sich auch die Algenkulturen, die ihren Sauerstoff regenerierten und die nötigenfalls als Nahrung dienen konnten. Nicht weniger wichtig aber war jene geheimnisvolle Anlage, in der die Sonnenenergie unter Mitwirkung von Fermenten lebenswichtige Kohlehydrate aufbaute, die dann durch weitere Verarbeitung in eine geschmacklose Flüssigkeit umgewandelt wurde. Dieser Prozeß war kompliziert und für einen Nichtfachmann nur schwer begreiflich. Cedrice konnte stundenlang vor der Anlage sitzen und zusehen, wie sich feine Wassertröpfchen bildeten, wie sie durch ein System von Kapillaren und Filtern wanderten, um am Ende ihres Weges von einem Vorratsbehälter aufge-
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fangen zu werden. Seit dem Kreisbahnstart arbeitete diese Anlage ununterbrochen. Es wollte Cedrice nicht in den Kopf, weshalb sie in der »Darwin« ausgefallen sein sollte. Warum besaßen die Verunglückten nur noch für sieben, jetzt wohl nur noch für vier bis fünf Monate Nahrung? »Wahrscheinlich haben sie sich zu weit von der Sonne entfernt«, äußerte Damar, »sie erhalten nicht genügend Energie.« »Das ist unmöglich«, widersprach Cedrice, »nach ihren Angaben müßten sie sich sogar näher an der Sonne befinden als die Erde.« »Dann gibt es nur noch eine Möglichkeit: Die Anlage hat die Kollision nicht überstanden.« Auch dieser Einwand war leicht zu widerlegen. Die aufgefundene Nachrichtenkapsel bewies, daß ihr Labor noch monatelang gearbeitet haben mußte. Hatte das Raumschiff die Kollision überstanden, so mußte auch das Labor intakt geblieben sein. Henry Jephson kroch durch die Luke. Er hatte die Unterhaltung gehört und sagte: »Wer sagt euch, daß die Daten, die wir gefunden haben, auch tatsächlich mit dem wirklichen Bahnverlauf der ›Darwin‹ übereinstimmen?« »Was willst du damit sagen?« fragte Cedrice betroffen. »Ich will nur sagen, daß sie auch nur Menschen sind. Irren ist menschlich…« »Höre auf, Verwirrung zu stiften!« unterbrach ihn Damar, »sie werden doch wohl noch Parallaxen berechnen können. An Bord sind zwei hervorragende Mathematiker; Shitomir und Dschi gelten als Kapazitäten.« »Shitomir hat nicht mit unterschrieben«, sagte Jephson, »weshalb eigentlich nicht?« »Ist das so wichtig?« brauste Cedrice auf. »Die andern haben unterschrieben, und zu den anderen gehört mein Vater.« »Der Kommandant hat auch nicht unterzeichnet«, beharrte Jephson hartnäckig. »Vielleicht gab es Meinungsverschiedenheiten über ihren Bahnverlauf - oder noch Schlimmeres.« »Was noch Schlimmeres?« Jephson machte eine Handbewegung zur Stirn. »Wir sind erst ein paar Wochen unterwegs, und ich bin noch völlig okay, aber mitunter
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kommen mir doch komische Gedanken, und wenn ihr ehrlich seid, euch geht es nicht anders. Aber sie sind nun schon beinahe ein ganzes Jahr weg, elf Monate und ein paar Wochen. Elf Monate - könnt ihr euch das vorstellen? Und keine Verbindung zur Erde. Wer kann da noch klar denken? Wenn sie sich geirrt haben? Ein Fehler genügt, eine winzige falsche Annahme oder unrichtige Beobachtung, und am Ende der Rechnung kommt eine ganz andere Bahn heraus, zehn oder fünfzig Millionen Kilometer entfernt…« Cedrice stöhnte auf. »Schweig endlich, Henry, mich kannst du nicht verwirren, mich nicht. Wir werden sie finden, ganz bestimmt werden wir sie finden.« »Natürlich werden wir sie finden«, ließ sich Massimu vernehmen. »Warum streust du solche Gedanken aus, Henry? Zweifel ist das letzte, was wir jetzt gebrauchen können.« »Ich streue nichts aus«, verteidigte sich Jephson, »ich gebe lediglich zu bedenken.« »Und wenn es wahr wäre«, murmelte Cedrice. »Wenn sie sich wirklich verrechnet hätten? Oder wenn sie sogar verrückt geworden sind?« »Da hast du das Ergebnis!« brummte Damar. »Jetzt fängt er auch schon an.« »Ich wünsche ein solches Gespräch nicht noch einmal an Bord«, sagte Massimu barsch. »Geh jetzt an deinen Expander, Henry, du hast in den letzten vierundzwanzig Stunden keine Gymnastik getrieben.« »Und Cedrice und Damar? Haben sie Gymnastik getrieben?« Jephson sah Massimu herausfordernd an. »Für sie gilt das gleiche. Was soll aus uns werden, wenn wir schon jetzt keine Disziplin mehr halten? Ich schließe mich nicht davon aus. Ich glaube, ich habe seit vierzehn Stunden nicht mehr geschlafen.« »Ich auch nicht«, bekannte Damar, »und ich bin noch immer nicht müde.« Massimus Worte verfehlten nicht ihre Wirkung. Jephson versicherte, gleich mit den Übungen beginnen zu wollen. Er klopfte Cedrice freundschaftlich auf die Schulter. »Nimm’s dir nicht so zu Herzen, Cedrice, es war natürlich Unsinn, was ich erzählt habe. Wißt ihr
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was? Jetzt werdet ihr staunen, paßt einmal auf, was Old-Henry mitgebracht hat.« Er verschwand durch die Luke und kehrte einen Augenblick später wieder zurück. Mit verschmitzten Lächeln öffnete er vorsichtig die Faust. »Ist das nicht schön? Knurre nicht, Massimu. Jeder steckt sich jetzt einen schönen Kaugummi zwischen die Zähne.« Massimu gab einen Seufzer von sich. »Sie haben dir die Dinger doch beschlagnahmt. Wie viele hast du an Bord geschmuggelt?« »Nur diese Handvoll«, beteuerte Jephson. Es gab verschiedene Gründe, weshalb die Ärzte die Mitnahme dieser Kaugummis nicht gestattet haben, - vor allem wirkten die verschiedenen Geschmacksbeigaben stimulierend auf die Magennerven. Doch Massimu sagte nichts, und auch Damar und Cedrice nahmen von den farbigen Plätzchen. Der Friede war wieder hergestellt. Für wie lange? Es blieben die Monotonie, der endlose Weg. Es blieb das Bild der kleinen, leuchtenden Kugel, die ihre Heimat war. Die Erde hatte nun einen Punkt ihrer Bahn erreicht, da sie sich gleichfalls von der »Kepler« entfernte. Ein paar Tage noch, und sie unterschied sich nicht mehr von anderen Sternen. Die »Kepler«, ein Splitter im All, schwebte durch das Nichts, gefesselt auf einer geisterhaften Bahn, und obwohl sie um die Dinge wußten, die ihrer harrten, rebellierte unmerklich das irdische Bewußtsein in ihnen. Vom Verstand her ließ sich alles erklären. Warum aber ärgert uns mitunter eine Fliege an der Wand? An Bord, im Labor und in der Kommandozentrale pendelten die Meßinstrumente; in jeder Minute, in jeder Stunde, Tag für Tag. An Bord tickten die Uhren. Ihr Gehör hatte sich in dieser Stille geschärft, war überempfindlich geworden. »Irgend jemand muß ein Hammerwerk in seiner Uhr haben«, sagte Damar, und die anderen bestätigten es. Sie lauschten. »Henry, deine Uhr tickt so laut«, sagte Cedrice. Jephson hielt seine Uhr gegen das Ohr. »Du hast recht«, murmelte er verdrossen, »sie tickt wirklich unverschämt laut.« Er verbarg sie in der Tasche. Dann lauschten sie wieder und hörten die andern Uhren. Alles blieb unverändert, und alles registrierten ihre überreizten Sinne. Sie kannten jeden Schritt,
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jede Bewegung des andern, kannten den Ausschlag jedes Zeigers auf den Meßinstrumenten und die Helligkeitsunterschiede in den Sternbildern. Ihr kritischer Verstand sagte ihnen: Wir sind etwas nervös geworden, wir müssen uns beherrschen, und sie schluckten den aufkommenden Ärger hinunter, aber es blieb immer etwas zurück, worüber man innerlich grollen konnte. In der Kabine stand Jephson und starrte durch das Bordfenster. Sein Gesicht spiegelte sich in den verdunkelten Scheiben. »Warum lachst du?« erkundigte sich Cedrice argwöhnisch. »Ich lache nicht«, versicherte Jephson. »Natürlich hast du gelacht.« »Ich habe nicht gelacht. Ich betrachte mir seit zwanzig Minuten oder auch noch länger die Erde.« »Ich verstehe dich nicht, Henry«, erwiderte Cedrice sehr ruhig, denn er wußte, daß es keinen Streit geben durfte. »Dein Gesicht hat sich im Glas gespiegelt. Ich konnte deutlich sehen, daß du über irgend etwas gelacht hast. Was ist dabei? Nichts, gar nichts. Aber du streitest es ab. Warum? Weshalb gibst du nicht offen und ehrlich zu, daß du eben gelacht hast?« »Hol mich der Teufel!« rief Jephson, »ich habe nicht gelacht. - Den Teufel nehme ich zurück.« Cedrice winkte ab. »Gut, du hast nicht gelacht. Lassen wir das. Wahrscheinlich leide ich bereits an Halluzinationen.« »Wahrscheinlich.« Cedrice schwieg einen Augenblick verärgert. Dann sagte er: »Ich finde es unkameradschaftlich. Von mir aus singe oder lache, soviel du willst, aber mir ins Gesicht zu lügen, um so einer Kleinigkeit willen - das verstehe ich nicht.« Vergebens schwor Jephson, nicht gelacht zu haben. Es hätte nicht mehr viel bedurft, und dieser geringfügige Anlaß wäre Ausgangspunkt eines ernsthaften Streites geworden. Doch Jephson »entdeckte« etwas. Jephson hatte einen winzigen leuchtenden Punkt bemerkt, der nach seiner Ansicht kein Stern sein konnte. Cedrice vergaß, worüber er noch vor wenigen Sekunden erbost gewesen war. Und da sie nach einem solchen leuchtenden Punkt suchten, waren sie um so eher geneigt zu glauben, das Ziel ihrer Reise gesichtet zu haben. Sie alar-
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mierten Massimu und Damar, und Cedrice hätte am liebsten auch die Station von ihrer Entdeckung unterrichtet. Aber ihre Bordinstrumente waren unbestechlich. Ein künstlicher Himmelskörper wäre im Spiegelteleskop deutlich erkennbar gewesen. Dieser leuchtende Punkt jedoch ließ sich nicht vergrößern. Es war ein ferner Stern, gerade noch mit unbewaffnetem Auge sichtbar. Enttäuscht unterbrachen sie ihre Beobachtungen. Das Gebiet, in dem die »Darwin« ihre Bahn ziehen sollte, befand sich noch immer mehr als acht Millionen Kilometer von ihnen entfernt. Sie waren neunundachtzig Tage unterwegs. Ihre Gesichter waren von Bärten umrahmt, ihre Augen umschattet. Die Reise wollte kein Ende nehmen. Eine Abwechslung brachte in diese endlosen Tage nur die Annäherung an den Mars. Von der Station waren Weisungen gekommen, exakte Untersuchungen des Planeten vorzunehmen. In den Teleskopen zeigte sich der geheimnisumwitterte Planet als ein riesiger Mond und seine beiden Trabanten, Phobos und Deimos, als schwach leuchtende Objekte. Sie nahmen Messungen an verschiedenen Orten der Marsoberfläche vor, sahen Gebirge und große, helle Flächen, die man in früheren Zeiten als Ozeane gedeutet hatte. Noch wichtiger aber erschien ihnen der innere Mond »Phobos«, über den so viele Spekulationen angestellt worden waren. Einzelheiten konnten sie nicht erkennen, aber ihre Messungen ergaben, daß er keine Kugelgestalt haben konnte. Seine größte Ausdehnung betrug fünfzehntausenddreihundert Meter. »Wenn es nun doch ein künstlicher Mond ist?« sagte Cedrice in Erinnerung an die Unterhaltung mit Honore R. im Kambo-Tal. »Vielleicht kreist dort tatsächlich eine große Außenstation.« »Wer sollte sie gebaut haben?« fragte Damar. »Die Durchschnittstemperatur beträgt auf dem Mars minus fünfzehn Grad. Dabei kann sich kein vernunftbegabtes Leben entwickeln.« »Vielleicht nicht so, wie wir es kennen«, wandte Jephson ein, »aber weshalb sollte es nicht andere Lebensformen geben?« Massimu sagte: »Hätte es auf dem Mars jemals höher entwickelte Lebensformen gegeben, Wesen, die eine solche Außenstation bauen
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konnten, dann können sie auch nicht zugrunde gegangen sein. Sie hätten sich längst gemeldet. Es ist merkwürdig, alles, was die Menschen nicht sofort erklären können, regt sie zu den unsinnigsten Spekulationen an. Das trifft auch auf die angeblichen Marskanäle zu.« »Aber man hat sie photographiert«, sagte Damar. »Photographiert und gezeichnet, aber immer wieder zeigten sich veränderte Formen. Inzwischen wissen wir längst, daß diese angeblichen Kanäle auf Witterungserscheinungen zurückzuführen sind. Photographiert man im Frühjahr oder Herbst die Erde aus großer Höhe, so kann man unter günstigen Verhältnissen ähnliche Gebilde feststellen. An einigen Stellen, die der Sonne ausgesetzt sind, schmilzt der Schnee - es heben sich dunkle Rinnen ab. Sie sehen aus wie Kanäle. In einigen Jahren werden wir Klarheit über die Marsgeographie haben.« Die Debatte über den Mars und seine Monde, die Messungen und das Photographieren wirkten sich wohltuend aus. Ihre Nervosität ließ nach; sie hatten keine Zeit mehr, sich über Kleinigkeiten aufzuregen. Die Photos mußten zur Station gesendet werden, es gab Anfragen, Mißverständnisse, Berichte. Acht Tage währte diese Aufregung, dann entfernte sich der Planet zusehends. An Bord herrschte wieder der Alltag, die Berichte zur Station beschränkten sich auf Routinedurchsagen, und auch hierin nahmen sie es nicht mehr allzu genau. Sie waren abgestumpft, die geringste Kleinigkeit verursachte einen Wortwechsel, als ginge es um unglaubliche Dinge. In diesem Zustand wachsender Erregung und Reizbarkeit erwiesen sich Massimu und Damar noch am ausgeglichensten. Vielleicht trug bei Damar ein gewisses Schuldgefühl dazu bei, sich vor allem Cedrice gegenüber zu beherrschen. Wenige Tage, bevor sie die berechnete Bahn erreichten, trat jedoch etwas ein, was ihren weiteren Flug ernsthaft gefährdete. Massimu erkrankte. Er hatte schon seit Tagen die Gymnastikübungen vernachlässigt, wurde träge und zeigte für nichts mehr Interesse. Anfangs bemerkte es niemand. Es fiel nur auf, daß er immer müde war. Dann kam ein Anruf von der Station, und Damar wurde gebeten, alle Angaben, die Massimu gemacht hatte, noch einmal zu überprüfen. Nach diesen Angaben hätte an Bord eine Temperatur von siebzig Grad Celsius herrschen müssen. Es stellte
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sich heraus, daß Massimu alles durcheinandergebracht hatte. Damar übernahm das Kommando an Bord. Auf der Leitstation beriet eine Ärztekommission, wie man dem Kranken helfen konnte. Dazu genügten die Angaben über die Herztätigkeit und den Blutdruck nicht mehr. Die Ärzte forderten Blut- und Urinanalysen. Die vier waren mit solchen Untersuchungen vertraut gemacht worden, als sie jedoch den Auftrag durchführen wollten, erinnerten sie sich nicht mehr, wie eine solche Analyse durchgeführt werden mußte. Selbst bei Damar hatte das Gedächtnis nachgelassen. Der leitende Arzt auf der Station erklärte ihnen jeden einzelnen Handgriff. Cedrice wurde aufgefordert, seinen erkrankten Gefährten zu massieren, Jephson und Damar sollten die Analyse vornehmen. Jephson verrichtete diese Tätigkeit nur mit dem größten Unwillen. »Es ist eine unglaubliche Zumutung«, sagte er empört, »wie komme ich dazu, seinen Urin zu schütteln?« »Tu, was dir gesagt wird«, befahl Damar. »Wenn es wenigstens noch einen Sinn hätte«, murrte Jephson weiter, »das nimmt und nimmt kein Ende. Ich sage dir, Damar, wir finden sie nie, und wenn wir noch ein paar Tage so weiterfliegen, kommen wir nie wieder zur Erde zurück.« Damar schwieg, und dieses Schweigen war eine halbe Zustimmung. Cedrice zog sich müde in den kleinen Sanitätsraum. »Ich bin fix und fertig«, sagte er, »Massimu liegt da wie ein Klotz und rührt sich nicht. Er schläft. Ich glaube, er wird sterben.« »Rede nicht solchen Unsinn«, sagte Damar, »Henry, massiere du ihn weiter.« »Wenn wir zur Erde zurück könnten, käme er bald wieder auf die Beine«, sagte Jephson. »Wie soll das weitergehen? Wollen wir bis ans Ende der Welt fliegen? Cedrice, sag du ein Wort. Die Erde ist nur ein Stern zweiter Größe - bald werden wir sie ganz aus den Augen verlieren.« »Ja«, sagte Cedrice, »ich glaube, du hast recht. Was sollen wir tun? Ich kann überhaupt nicht mehr richtig denken.«
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»Also werde ich der Station sagen, daß wir zurück wollen«, erklärte Damar. »Und die ›Darwin‹, Cedrice? Dein alter Herr - du wolltest ihn doch herausholen?« »Natürlich, wir müssen sie alle zurückbringen«, murmelte Cedrice unsicher. »Vielleicht finden wir sie bald - morgen oder übermorgen oder auch heute schon…« Er zog sich hinaus und kletterte in den Gemüsegarten. Es war unsinnig, mit dem Teleskop nach der »Darwin« zu suchen, aber Cedrice war wie ein Ertrinkender, der in einem Ozean nach Land Ausschau hielt.
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XVII Die Untersuchung hatte ergeben, daß Massimu eine bedenkliche Menge an Kalzium und Eiweiß absonderte. Diese Erscheinung wurde durch die anhaltende Schwerelosigkeit verursacht. Mangelnde Bewegung führten zu einem Abbau des Kalkgehaltes in den Knochen und zu einer erhöhten Stickstoffabgabe. Es würde nicht mehr lange dauern, und bei Cedrice, Jephson und Damar mußten sich ähnliche Auswirkungen zeigen. Unbewußt vernachlässigten alle das stündliche Training an den Expandern, die einzige Möglichkeit, dem Körper einen Ausgleich zu bieten. Die Ärzte verordneten für Massimu eine Tablettenkur. Sie konnte nur etwas nutzen, wenn zugleich die Gymnastikübungen regelmäßig durchgeführt wurden. Vor allem aber brauchten die vier moralische Hilfe. Wenige Stunden später meldete sich die Leitstation. Man sprach davon, mit welcher Anteilnahme ihr Flug verfolgt würde und welche Verantwortung sie übernommen hätten. Sie hörten die Worte in der Kommandozentrale, nur Massimu lag in seiner Kabine; doch auch er konnte über Lautsprecher mithören. »In euern Händen liegt das Schicksal der Darwinbesatzung«, sagte der Sprecher, »ihr seid nahe bei ihnen, die ›Darwin‹ kommt euch entgegen. Ihr werdet sie retten, wenn ihr euch auf eure Aufgabe besinnt und wenn ihr alle Anordnungen befolgt.« Er rief jeden einzelnen mit Namen und beschwor persönliche Erinnerungen aus der gemeinsamen Vorbereitungszeit herauf. Dann meldete sich Doktor Cowper, und auch er appellierte an ihren Mut und an ihr Gewissen und ermahnte besonders Jephson, sich als Vorbild zu zeigen. Im ersten Augenblick verfehlten diese Ansprachen auch nicht ihre Wirkung. »Die ›Darwin‹ kommt uns entgegen, wir sind nahe bei ihr habt ihr das gehört?« Jephson ergriff Cedrices Hand. »Bald ist es geschafft, Cedrice. Und dann geht es heimwärts. Der Rückflug dauerte nicht mehr so lange.«
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»Wenn sie uns entgegenkommt«, sagte Cedrice, »dann müssen wir sie hören. Sie geben doch Signale.« Er trat zum Empfänger, drehte an der Feineinstellung, aber es kam nur ein Rauschen. »Laß die Finger davon«, ermahnte ihn Damar, »der Apparat ist eingestellt, und wenn sie senden, werden wir sie auch hören. Kümmern wir uns um Massimu, er braucht seine Tabletten.« Massimu schlief. Er hatte von der Übertragung nichts mitbekommen. Sie zwangen ihn, die Tabletten mit etwas Flüssigkeit zu schlucken, massierten ihn und gingen dann selbst an die Expander. Vierundzwanzig Stunden später verblaßten die Ermahnungen wieder. Das Gespenst einer Dauerkrise war an Bord gekommen. Das Empfinden, sich in Raum und Zeit zu verlieren, nahm ihnen mehr und mehr die Zuversicht. Ihre Uhren und Kalender zeigten zwar Tag und Stunde an, doch das waren irdische Zeitangaben, die in ihr Bewußtsein nicht mehr hineinpassen wollten. In der Unendlichkeit des Raumes glich eine Stunde der anderen. Immer wieder suchte Cedrice am Empfänger - von der »Darwin« kam kein Lebenszeichen. Die Wissenschaftler auf der Leitstation wußten, daß es gegen diese Krise kein zuverlässiges Mittel gab. Wenn sich in wenigen Tagen der Dauerantrieb der »Kepler« ausschaltete, konnten der Rumpf geöffnet und die drei Speichen in Bewegung gesetzt werden. Die in den Kabinen wirkende Fliehkraft gab ihnen dann einen Teil des Schweregefühls zurück. Der Organismus konnte besser arbeiten; das würde ihnen mehr Selbstvertrauen geben. Bis dahin mußten die vier immer wieder ermahnt und aufgemuntert werden. Unablässig trafen von der Station Anfragen ein, Berichte wurden angefordert und Nachrichten über die neusten Ereignisse von der Erde durchgegeben. Schließlich erhielten sie eine Mitteilung, die vor allem Jephson und Cedrice in freudige Aufregung versetzte: Alle vier sollten ein Gespräch mit ihren nächsten Angehörigen oder Freunden führen. Das bevorstehende Ereignis gab sogar Massimu Auftrieb. Die Tablettenkur hatte sich günstig ausgewirkt, er fühlte sich frischer, schlief nicht mehr so häufig und kroch auch schon dann und wann auf einige Minuten zu ihnen in den Gemüsegarten. Nach dieser Nachricht hing er verbissen an den Expandern und trainierte die Arm- und Bauchmuskulatur.
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Jephson versuchte noch einmal, den Bildschirm in Ordnung zu bringen, doch die empfangenen Aufnahmen blieben verschwommen. »Das macht nichts«, sagte er froh gestimmt, »wenn meine Frau spricht, stecke ich ihr Bild an den Lautsprecher - das ist wenigstens ein halber Fernsehempfang.« Er hatte die Photos von seiner Familie und seinem Häuschen schon oft gezeigt, jetzt holte er sie alle wieder hervor und wußte tausend Einzelheiten dazu zu sagen. Auch Massimu ließ seine Photos von Hand zu Hand gehen, und schließlich holte Cedrice ein Bild von Nanga hervor. Damar verließ das Labor. Angeblich wollte er Meßwerte notieren, aber er kroch in seine Kabine und vergrub sich in den Liegesitz. Für diesen eigenartigen, von Leidenschaft verwirrten Menschen war die kommende Verbindung mit der Erde kein Anlaß zur Freude. Er würde mit seinem Bruder sprechen. Der einzige Mensch jedoch, dem er wirklich nahestand und den er selbst bei diesem endlosen Flug nicht vergessen konnte, blieb unerreichbar für ihn. Damar hatte sein Geheimnis bewahrt. Die Trennung der beiden gab ihm ein Gefühl der Genugtuung. Nun aber wurde ihm schmerzlich bewußt, daß auch Raum und Zeit sie nicht zu trennen vermochten. Er hörte, wie Cedrice von ihr sprach. Die ganze Geschichte von der Prager Sitzung und vom Näsisee mußte er mit anhören. Dann kamen Erlebnisse, die er nicht kannte, Andeutungen von den Spaziergängen in Sintang, Worte, die Damars Phantasie erhitzten. Zum ersten Mal verließen ihn seine Ruhe und seine Überlegenheit. Er kroch aus der Kabine und zog sich nach vorn in den Gemüsegarten. »Höre jetzt endlich auf mit deinem dummen Geschwätz!« herrschte er Cedrice an. »Du bist hier nicht im Kosmonautencafe. Seit Tagen ist auf dich kein Verlaß mehr.« Cedrice sah ihn erstaunt an. »Bist du übergeschnappt?« »Geh in deine Kabine und treibe Gymnastik. Anschließend möchte ich einen Bericht über den Sauerstoffaustausch.« »Das kannst du doch auch ruhiger sagen«, sagte Jephson. »Es hat alles seine Grenzen«, antwortete Damar. »Ich bin überzeugt, daß die Sauerstoffregeneration schon seit Wochen nicht mehr
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richtig funktioniert. Deswegen ist auch Massimu erkrankt - ich möchte nicht auch noch schlappmachen.« Damar hatte die Befehlsgewalt, und sie mußten gehorchen. Sein Aufbrausen kam jedoch so überraschend, daß sie zuerst glaubten, er sei nicht ganz bei Sinnen. »Im Kopf soll es zuerst losgehen«, murmelte Cedrice und kroch hinaus. »Warum hast du ihn so ausgeschimpft?« fragte Jephson. »Ist dir deine neue Funktion plötzlich zu Kopf gestiegen?« »Laß mich in Ruhe«, erwiderte Damar und kroch wieder in seine Kabine zurück. Niemand nahm Damars eigenartiges Verhalten ernst, am allerwenigsten Cedrice, der ganz von dem bevorstehenden Gespräch mit Nanga erfüllt war. Von Damars Verstimmung abgesehen, beflügelte die Mitteilung der Leitstation alle. Ihre Gedanken waren der Erde näher gekommen; so lag in dieser Hochstimmung zugleich die Gefahr, daß nun das Heimweh auch stärker wurde. Man wußte auf der Station von diesen Schwierigkeiten, aber sie waren das geringere Übel. Es gab keine andere Möglichkeit, die Besatzung der »Charles Darwin« zu retten. Versagten die vier, dann waren sie selbst einem Ungewissen Schicksal ausgeliefert. Sie sollten spüren, wie sehr man sich auf der Erde um sie sorgte und wie nahe ihnen alle waren. Jedoch das Gespräch zeigte ihnen deutlicher als alle Meßinstrumente die Entfernung, die sie von ihren Angehörigen trennte. Der Weg für eine direkte Unterhaltung war längst zu weit geworden. Drei Minuten und sieben Sekunden benötigte das gesprochene Wort, um vom Raumschiff zur Leitstation zu gelangen - und umgekehrt. Es konnten keine unmittelbaren Antworten auf Fragen gegeben werden. Sie mußten einen vorbereiteten Text sprechen und warten. Dreißig Minuten standen jedem für diese schwerfällige Unterhaltung zur Verfügung. Jephson trat als erster in die Kommandozentrale. Ihre Bordkameras waren eingeschaltet, auf der Leitstation konnte man das Bild aus der »Kepler« einwandfrei empfangen. Sie selbst mußten mit den Schattenrissen vorliebnehmen, die sich auf ihrem winzigen Bildschirm abzeichneten. Jephson hörte die Stimme seiner Frau über Kopfhörer. Er lachte zuweilen und
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murmelte zwischendurch eine Bemerkung, ohne daran zu denken, daß sein Lachen und seine Worte völlig beziehungslos nach mehr als drei Minuten auf der Station ankommen würden. Obwohl auf dem Bildschirm nur schwache Umrisse zu erkennen waren, ließ er keinen Blick von den dunklen Flecken, und was für die andern, die ihm zusahen, nicht erkennbar war, ergänzte seine Phantasie. Dann las er den Text ab, den er vorbereitet hatte, erweiterte ihn durch Antworten und Fragen und übermittelte Grüße an Freunde und Bekannte. Auf der Leitstation und an Bord hielten Tonbänder das Gespräch fest. Als Jephson Cedrice Platz machte, sagte er mit strahlendem Gesicht: »Ihr werdet es nicht glauben - meine Frau bekommt in jedem Monat bis zu hundert Briefe…« »Wahrscheinlich Heiratsanträge«, bemerkte Massimu bissig. »Sie hatte schon drei Fernsehinterviews«, fuhr Jephson begeistert fort, »und in der Klasse meines Jungen haben sie einen Aufsatz über mich geschrieben…« »Ruhe jetzt!« rief Cedrice. Auch er nahm nur einen Schatten auf dem Bildschirm wahr, und es erging ihm nicht anders als seinem Gefährten. Er hörte ihre Stimme und sah sie vor sich. Nanga sagte: »Cedrice, Liebster, ich sehe dich ganz deutlich, sogar deine Armbanduhr am Handgelenk kann ich erkennen. Cedrice, ich habe mir nichts aufgeschrieben, ich wollte dir so vieles sagen, aber jetzt habe ich beinahe alles vergessen. Ich liebe dich, Cedrice, ich liebe dich… Während eures ganzen Fluges habe ich jede Sekunde miterlebt. Bald werdet ihr es geschafft haben. Ich freue mich für dich, Cedrice, und auch für deine Kameraden… Weißt du noch, was wir uns einmal geschrieben haben? Raum und Zeit werden uns nicht trennen, niemals… Bitte sprich ein paar Worte, damit ich deine Stimme hören kann…« Cedrice fiel auf einmal das Sprechen schwer. Er hielt das Papier mit dem Text in der Hand, aber dieser Text erschien ihm nun banal und dumm. Dann sagte er, daß er sich gut fühle, und beklagte sich über den schlechten Bildempfang. Nach einer Verlegenheitspause fügte er hinzu: »Mir geht es jetzt genau wie dir, Nanga. Alle Worte sind plötzlich leer und nichtssagend… Ich weiß, daß du immer bei mir warst, und ich denke sehr oft an den Fluß bei Sintang und an
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unsere Ausflüge…« Als seine Worte endlich angelangt waren, hatte er seine Fragen und Bemerkungen bereits wieder vergessen. Es erwies sich als unmöglich, unter diesen Umständen ein vernünftiges Gespräch zu führen und schon gar nicht in der Weise, wie es sich Nanga und Cedrice gewünscht hätten. Nanga erkundigte sich nach ihrem Brief. Als seine Antwort ankam, verkündete ein Lichtzeichen das Ende ihrer Unterhaltung. Die Zeit reichte noch aus für ein Lebewohl. Ehe es Cedrice erreichte, war Massimu schon an seiner Seite, um mit seinen Angehörigen zu sprechen. Damar war als letzter in die Kommandozentrale gekommen, um ein paar Worte mit seinem Bruder zu wechseln. Erst danach konnte jeder sein Gespräch noch einmal auf Tonband abhören. Jephson machte davon ausgiebig Gebrauch. Er spielte Cedrice und Massimu die Worte seiner Frau und seines Jungen vor und vergaß dabei für Augenblicke die »Darwin«, das Universum und alle Probleme, die ihrer noch harrten. Nur Damar hatte sich schweigend in seine Kabine zurückgezogen, und keiner an Bord ahnte den Grund seiner Verstimmung. Als Cedrice sein Band noch einmal abhörte, vernahm er nach Nangas Abschiedsgruß noch zwei Wörter, die sie in ihrer Heimatsprache hinzugefügt hatte: »Silap hati.« Cedrice hörte es sich ein paarmal an. Nanga mußte diese beiden Wörter unbeabsichtigt gesagt haben. Er kroch zu Damar in die Kabine. »Damar, was heißt Silap hati?« Damar zuckte zusammen. Er schwieg. »Du mußt doch diese Wörter kennen, es ist deine Muttersprache. Vielleicht habe ich sie falsch betont. Willst du dir nicht das Band anhören? Es waren Nangas letzte Worte…« Damar rührte sich nicht. »Silap hati«, fing Cedrice wieder an, »höre genau zu, Damar: Silap hati - was kann das bedeuten? Denke nach - ich nehme an, es hat etwas mit Liebe zu tun oder so…« »Laß mich in Ruhe!« rief Damar ungehalten, »ich kenne solche Wörter nicht, laß mich in Ruhe mit diesem Gerede…«
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»Gerede«, wiederholte Cedrice, »was Nanga gesagt hat, ist erstens kein Gerede, und zweitens bist du komisch, Damar. Nanga war deine Kollegin, du hättest ihr ruhig einen Gruß übermitteln können.« Nach einer Pause sagte Damar müde: »Laß mich allein, ich bin müde.« »Bist du krank?« »Nein, aber du scheinst schwer zu hören. Ich bin müde, sagte ich.« »Dann sage mir wenigstens noch, was Silap hati heißt…« »’raus hier!« Damar schrie so laut, daß Cedrice erschreckt kehrtmachte. »Ich glaube, es hat ihn erwischt«, sagte er zu Massimu, »er ist krank, melde es der Station, du kannst das Kommando wieder übernehmen.« »Warum brüllt er?« erkundigte sich Jephson. »Frag ihn selbst. Er hat sogar seine Muttersprache vergessen. Wenn ich nur wüßte, was die beiden Wörter zu bedeuten haben. Wißt ihr nicht zufällig, was Silap hati heißt?« Weder Massimu noch Jephson wußten es, und Cedrice erfuhr es auch nicht aus dem Transkapus, mit dem er später den Grundriß der indonesischen Sprache überflog. Dann verloren diese geheimnisvollen Wörter an Bedeutung für ihn, weil ein neues Ereignis ihnen die ganze Aufmerksamkeit abverlangte.
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XVIII Die »Johannes Kepler« hatte die vorausberechnete Flugbahn erreicht, die zweite Etappe ihres Fluges war beendet. Das Raumschiff näherte sich nun jener Sphäre, in der die »Charles Darwin« ihre Bahn ziehen sollte. Obwohl ihnen Tag und Stunde, da der Antrieb aussetzen und der freie Flug eintreten mußte, bekannt waren, trat dieser langersehnte Augenblick doch überraschend für sie ein. Sie hatten sich an das leichte Vibrieren und die feinen Geräusche im Heck so sehr gewöhnt, daß sie schon seit mehreren Wochen glaubten, in tiefer Stille zu leben. Nun wurde diese scheinbare Stille durch eine noch tiefere Ruhe unterbrochen. Die Zeiger der Meßuhren, die das Arbeiten der Moderatoren und Diffusionsanlagen registriert hatten, sanken auf Null. Aus dem künstlichen Himmelskörper war ein Planet geworden, dessen weiterer Bahnverlauf von komplizierten Schwerkraftverhältnissen bestimmt wurde. Diese Bahn war auch der Leitstation nur annähernd bekannt, denn die »Kepler« unterlag nicht nur der Beeinflussung durch die Sonnenmasse, sondern auch durch andere Planeten. Vierundsechzig Millionen Kilometer lagen zwischen ihnen und ihrem Heimatplaneten. Von den Verunglückten in der »Charles Darwin« abgesehen, war die Erde noch nie aus dieser Entfernung gesehen worden. Die vier hatten sich in der Kommandozentrale versammelt und beobachteten voller Spannung den Vorgang, den Massimu mit einem Hebeldruck auslöste. Der untere Teil des Rumpfes spreizte sich, langsam hoben sich drei Speichen nach oben. Als sie einen rechten Winkel zu dem starren Teil des Raumschiffes bildeten, fingen die drei Arme langsam an zu rotieren. Dreiunddreißig Meter betrug der Durchmesser des Kreises, den sie beschrieben, und acht Sekunden dauerte es, bis jede Kabine einmal um die Mittelachse gewandert war. Die »Kepler« hatte sich in ein Karussell verwandelt. Nun brauchten sie nur noch durch die Arme in ihre Kabinen zu kriechen, um das Gefühl irdischer Schwere zurückzuerhalten. Diese Umstellung war mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Sie 154
wußten, daß ihr Organismus langsam an diese neuen Verhältnisse gewöhnt werden mußte, aber das Verlangen, endlich wieder die Schwerkraft spüren zu können, ließ sie alle Vorsicht vergessen. Cedrice und der ihm folgende Jephson stöhnten unwillkürlich auf, als sie geduckt durch die Speiche krochen und dann von der Fliehkraft in die Kabinen gerissen wurden. Ihren beiden Gefährten ging es nicht anders: Sie hatten das Empfinden, wie in einem Schraubstock zusammengedrückt zu werden. Dazu kam die ungewohnte Drehung; sie krochen zurück, bleich und ermattet. »Eine schöne Erfindung«, sagte Jephson, dem der Schweiß auf der Stirn stand, »ich betrete dieses Teufelskarussell nicht mehr.« Damar verschwand im Sanitätsraum. Ihm war übel geworden. Massimu verteilte Tabletten zur Beruhigung der Magennerven. Nach einer Stunde probierten sie es erneut, hielten sich eine Minute in der Kabine auf und kehrten wieder zurück. Allmählich verlor dieses kreisende Rad seinen Schrecken. Ihr Körper gewöhnte sich an die Belastung und ihre Augen an das merkwürdige Bild, das sich hinter den Kabinenfenstern darbot. Das Universum schien in Bewegung zu sein und sich unablässig um das Raumschiff zu drehen. In diesen neuen Lebensverhältnissen gab es noch andere Merkwürdigkeiten. Während auf der Erde alles zum Mittelpunkt des Planeten strebte, trieb sie die Fliehkraft in den Kabinen nach außen; sie standen sich mit den Köpfen gegenüber. Von außen betrachtet, sah es aus, als hingen sie mit den Füßen an einem Riesenrad. Massimu hatte die Erlaubnis von der Station eingeholt, an jeden eine Sonderration zu verteilen. Es waren Konserven, die Obst, Fleischpasteten, Schokolade, Waffeln und andere Leckereien enthielten. Sie nahmen die Konserven im Gemüsegarten in Empfang und konnten nicht schnell genug in die Kabinen zurückkehren. Langentbehrte Selbstverständlichkeiten kamen ihnen wie ein Wunder vor. Alle Gegenstände blieben an ihrem Platz. Jephson schob seine Konserve bald hierhin, bald dorthin; Cedrice packte alles umständlich aus und hatte die gleiche Freude daran, daß alles an seinem Ort liegenblieb. Dann kosteten sie von den Leckereien. Massimu wünschte ihnen guten Appetit und behauptete, noch nie so etwas Feines gegessen zu haben. »Er hat
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recht«, sagte Jephson, »und es ist beinahe unvorstellbar, daß sie auf der Erde jeden Tag so schlemmen können. Kannst du dir das noch vorstellen, Cedrice?« »Manchmal kann ich es mir vorstellen«, antwortete Cedrice und kaute bedächtig an einer Scheibe Obst. »Die Erde ist etwas Wunderbares. Das merkt man erst, wenn man sie verlassen hat.« »Wenn ich zurück bin, werde ich jeden Schritt und jeden Atemzug doppelt genießen«, sagte Jephson verträumt, »über eine Straße gehen oder durch einen Wald. Ich will immer nur laufen, einen Schritt vor den anderen. Von unserm Haus ist es nicht weit bis zum Stadtrand. Früher bin ich immer mit dem Wagen gefahren, aber wenn ich zurück bin, verkaufe ich ihn. Und dann spaziere ich zum Stadtrand. Dort sind ein paar Gärten, und dahinter ist Wald. Man kann sich hinlegen und sich von der Sonne bescheinen lassen. Und von diesem Zeug werde ich essen, jeden Tag. Probiere die Fleischpastete, Cedrice…« Das wiedererlangte Schweregefühl weckte Erinnerungen und Sehnsüchte in ihnen, und in ihrer Phantasie verklärten sich alltägliche Kleinigkeiten zu wunderbaren, begehrenswerten Dingen. Die kreisenden Kabinen eröffneten ihnen durch mehrere Bordfenster das Panorama auf den unendlichen Weltenraum; das Sternenmeer zog vorbei, nach acht Sekunden kehrten die gleichen Lichtpunkte wieder. Einer dieser Punkte war die Erde. Phantastische Energien waren erforderlich gewesen, um sich von ihr zu lösen, jetzt zeigte es sich, daß dieser Planet sie mehr als je zuvor umklammerte. Sie waren unter dem Zwang der Notwendigkeit zu diesem Flug aufgestiegen, in den Augen der Zurückgebliebenen galten sie als Helden. Die Helden aber sprachen von Wasser und Wald, von Frauen und Spaziergängen. Die Helden waren Menschen mit allen Sehnsüchten geblieben, mit Furcht und Schwäche und nur von dem einzigen Wunsche beseelt, endlich das Ziel der Expedition zu erreichen und zurückzukehren zu dem Ort, der das Dasein allein lebenswert machte. Immer häufiger standen sie vor den Bordfenstern und starrten hinaus. Ihre photoelektronischen Suchgeräte tasteten die Umgebung ab, und vier Augenpaare suchten zwischen den Lichtpunkten nach dem
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verunglückten Raumschiff, das angeblich in dieser Sphäre seine Bahn ziehen sollte. Was, wenn Jephson mit seinem Verdacht recht hatte, wenn die Bahndaten nicht stimmten? Zu dem Zweifel kam die nüchterne Überlegung. Die Überlebenden der »Darwin« konnten richtig gerechnet haben, doch was spielten bei solchen Entfernungen Differenzen von einer halben Million Kilometer für eine Rolle? Ein Planet, ein Mond wäre aus dieser Sicht noch gut zu erkennen gewesen, die winzige »Darwin« jedoch, dieser Stecknadelkopf, mußte selbst ihrem Radarschirm verborgen bleiben. Je länger ihr Flug andauerte, desto mehr bewegte sie diese bange Frage. Anfangs waren die Wiedergewinnung ihres Schweregefühls, die Kreisbewegung ihrer Kabinen noch ein aufregendes Ereignis, das sie ablenkte. Jede dieser drei Kabinen glich nun einem winzigen Himmelskörper, der sich um ein gemeinsames Zentrum bewegte. Die Erde benötigte ein Jahr, um einmal die Sonne zu umkreisen - ihr »Kabinenjahr« währte acht Sekunden. Sie hatten ihre Kabinen mit gewichtigen Namen versehen. »Odysseus« nannten Jephson und Cedrice ihre Speiche, Damar und Massimu hatten sich auf »Kolumbus« geeinigt, während der dritte rotierende Ann den Namen des griechischen Philosophen »Heraklit« erhalten hatte. Das war am Anfang, als alles noch den Reiz des Neuen besaß. Sie konnten die seitdem verstrichene Zeit genau an ihren Uhren ablesen, aber eine Stunde oder ein Tag - ihrem Gefühl nach war darin kaum noch ein Unterschied. Die Zeit schlich um so träger dahin, je mehr sie sich nach dem Ende dieser Reise sehnten. Die Monotonie an Bord hatte eine neue Variante erhalten, und schneller, als sie es wahrhaben wollten, gewöhnten sie sich an den neuen Zustand. Immer seltener wurde bei den gemeinsamen Mahlzeiten im Gemüsegarten ein Wort gewechselt. Was hätten sie sich auch sagen sollen? Es gab nur noch einen Gedanken, der sie beschäftigte, Stunde um Stunde, Tag für Tag. Nun, da sie selbst antriebslos aus einer langgestreckten Ellipse um die Sonne flogen und auf das »Wunder« der Begegnung zu warten hatten, nutzten auch die Aufmunterungen von der Station nicht mehr viel.
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Ihrem Flug waren zeitliche Grenzen gesteckt. Innerhalb dieser Grenzen mußte die »Darwin« gefunden werden. Dieses hilflose Abwarten wurde zur größten Belastung. Einen Tages verlor selbst Massimu die Geduld. »Verdammt, so sagt doch endlich etwas!« rief er, als sie eine ganze Weile im Labor zusammengehockt hatten. »Ich sehe es euch doch an, keiner glaubt mehr an einen Erfolg.« »Glaubst du daran?« fragte Jephson. Massimu hob die Schultern. »Ich weiß es nicht. Manchmal träume ich davon, aber man wird ja langsam verrückt von diesem ewigen Warten und Warten. Cedrice, was ist deine Meinung?« »Meine Meinung?« Cedrice sah ihn einen Augenblick lang an. »Ich will euch meine ehrliche Meinung sagen: Sie leben nicht mehr.« »Woher willst du das wissen?« »Weil sie nicht mehr senden. Damals haben sie sich doch gemeldet, man hat ihre Signale im Alatau-Gebirge und in North Carolina aufgefangen. Jetzt schweigen sie. Sie sind verhungert oder haben diese Ampullen geschluckt, die letzte Ration für den ewigen Schlaf. Das ist meine Meinung.« »Du bist ein Zweckpessimist«, sagte Damar, »es gäbe tausend Gründe, weshalb sie sich nicht mehr melden.« »Und was für Gründe wären das?« fragte Cedrice. Damar hatte nicht ganz unrecht mit seiner Bemerkung. Cedrice klammerte sich an jede Hoffnung. Hinter seinen düsteren Prophezeiungen verbargen sich in Wahrheit Herausforderungen. Er wünschte Widerspruch und war zufrieden, daß Damar ihm diesen Gefallen tat. Damar sagte: »Sie haben noch für ein paar Monate Nahrung, heißt es in ihrer Nachricht. Sollten wir sie hier entdecken, so wären wir fast zwei Monate früher bei ihnen. Weshalb sollten sie sich vorher umbringen? Und daß sie sich nicht melden, kann ich verstehen. Entweder sind ihre Sendeanlagen nicht in Ordnung - oder sie haben es aufgegeben, um Hilfe zu rufen. Sie verlassen sich auf die Sonden, die sie hinauskatapultiert haben.« »Sie könnten aber wenigstens ein paar Zeichen von sich geben«, meinte Jephson.
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»Sie sind seit über einem Jahr in ihrem Wrack eingeschlossen«, antwortete Damar, »wer weiß, wie viele Monate sie vergeblich gerufen haben, und vielleicht haben sie inzwischen am ›Hundeohr‹ neue Signale aufgefangen - es ist alles möglich.« »Das läßt sich feststellen«, sagte Massimu. »Ich werde die Leitstation rufen - vielleicht haben sie wirklich neue Spuren entdeckt…« Es gab jetzt nichts Wichtigeres an Bord als diese Anfrage. Die Antwort, die dreißig Minuten später eintraf, gab ihren Zweifeln neue Nahrung. Die Radioastronomen hatten inzwischen festgestellt, daß die in North Carolina und im Alatau-Gebirge aufgefangenen Signale eindeutig nicht von der »Charles Darwin« stammten. Die Zeichen waren wieder gehört worden, und Untersuchungen hatten ergeben, daß sie von einer in den sechziger Jahren gestarteten Raumsonde kamen. Mikrometeoriten mußten die Frequenz des Senders verändert haben. Enttäuscht zog sich Cedrice in seine Kabine zurück. Jephson folgte ihm. »Immer entdecken sie etwas Neues. Es würde mich nicht mehr wundern, wenn sie plötzlich feststellen, daß auch die Nachrichtenkapsel von der ›Darwin‹ ein Trugschluß war.« »Wer weiß«, antwortete Jephson, »es ist alles möglich. Ich kann diese Sterne schon nicht mehr ausstehen. Immer das gleiche Bild! Hätte ich das damals geahnt…« Sie schwiegen. Ihre Augen schmerzten von dem gespenstischen Lichtertanz, den die Sternbilder um sie vollführten. »Es ist komisch«, sagte Jephson, »früher habe ich immer gesagt: Ich liebe dieses und jenes, ich liebe meine Frau und was weiß ich noch alles. Jetzt interessiert mich das alles gar nicht mehr. Ich will nur wieder auf der Erde sein. Stell dir vor, du würdest zu Hause so von diesem Planeten reden; man hielte uns für verrückt. Was die Erde bedeutet, kann man erst aus dieser Perspektive begreifen.« »Ich wünschte, das alles wäre nicht nötig gewesen«, sagte Cedrice. »Manchmal fürchte ich, daß du mit deinem Verdacht recht hattest. Wer weiß, ob wir sie jemals finden.« »Ich fürchte mich vor etwas ganz anderem. Hast du einmal daran gedacht, daß wir nicht mehr zurückkommen könnten? Wir sind eine Ewigkeit unterwegs…«
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»Wir werden zurückkommen, unsere Programmsteuerung arbeitet exakt, es ist alles berechnet.« Es sollte überzeugend klingen, aber etwas Unsicherheit schwang in Cedrices Stimme mit. Henry Jephson erwiderte: »Ja, alles ist genau berechnet wie bei der ›Darwin‹. Der Zufall ist nicht zu berechnen. Es gibt etwas, was sich mit dem Verstand nicht erfassen läßt. Dann bleibt nur die Hoffnung oder auch der Glaube…« Cedrice antwortete nicht. Er hatte Jephson schon einige Male mit gefalteten Händen angetroffen. Mochte er glauben und beten, das Schicksal und der Erfolg dieser Expedition waren an Berechnungen gebunden. Er ignorierte die Empfindungen seines Gefährten, und dieser hatte eine Unterhaltung auch noch nie auf diese Ebene gelenkt. Nach einer Weile sagte Jephson: »Wäre es nicht besser, die Suche einzustellen, Cedrice? Was wir tun, erscheint mir manchmal wie eine Herausforderung…« »Nein!« Cedrice sah ihn an. »Es gibt kein Zurück mehr, Henry. Wie wollten wir auf der Erde weiterleben, wenn wir jetzt versagten? Hast du einmal daran gedacht? Ich könnte niemanden mehr ansehen. Nein, dann schon besser hier krepieren. Nur wir können sie retten, wir allein.« »Wir allein«, murmelte Jephson, »wie das klingt: wir, gleich den Göttern. Aber selbst die Funksignale waren nicht von ihnen. Wo sind sie denn, wo? Ich sehe nur Unendlichkeit, unfaßbar, unbegreiflich. Es gibt etwas, was unabhängig von unserm Bewußtsein existiert. Nenne dieses Etwas, wie du willst, Gott, Zufall oder einen vom Verstande her nicht erfaßbaren Begriff, der diese Ordnung zusammenhält. Ist es richtig, sich leichtfertig darüber hinwegzusetzen? Genügt es, sich auf das Elektronengehirn zu verlassen?« Cedrice antwortete: »Darauf kann ich dir keine Antwort geben, Henry, denn ich habe diese Probleme nicht. Ich verlasse mich auf die Berechnungen. Wenn du aus anderen Quellen Kraft schöpfst - bitte… Ich kann es nicht. Hätte ich den Kopf dazu, würde ich Physiker werden. Ich möchte das Wesen der Materie begreifen, wissen, wie sie sich zusammensetzt und weshalb sie sich so und nicht anders verhält. Es ist doch Spiegelfechterei, von der unfaßbaren Unendlichkeit
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oder Endlichkeit zu sprechen. Liegt diese Unendlichkeit nicht viel mehr in der Tiefe unserer Erkenntnisse? Je mehr wir in die Naturprozesse eindringen, desto mehr erfassen wir sie auch - ihre Gesetzmäßigkeiten und ihre Widersprüche…« »Und kommen der Wahrheit doch nicht näher.« »Wir werden sie vielleicht niemals finden, aber wir werden ihr näher kommen.« »Und keine Antwort finden«, sagte Jephson. »In hundert oder tausend Jahren werden die Menschen noch immer keine Antwort auf die Frage nach Gott wissen, weil die Vernunft allein nicht ausreicht, um das zu erfassen, was da ist, was existiert, unabhängig von unserm Willen und unserm Verstand.« Cedrice zuckte mit den Schultern. Was für ein Thema, dachte er. Wir hocken in dieser Metallkapsel, und kein Gott zieht dieses Raumschiff mit seinem Finger zum Ziel. Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde? Nein, umgekehrt, die Menschen schufen sich ihre Götter nach ihrem Bilde… Plötzlich drang Gesang in ihre Kabine. Beide lauschten. Sie kannten die Stimme und auch die Melodie. Damar sang ein Lied, dessen Text keiner verstand. Es war ein schwermütiges Lied, klagend und monoton. Er hatte es schon oft gesungen, aber Damars Stimme war alles andere als angenehm. Eine Weile hörten sie zu, dann stöhnte Jephson. »Warum muß er immer singen, Cedrice? Gibt es keine andere Beschäftigung? Warum liest er nicht?« »Er wird gleich aufhören«, sagte Cedrice. Und wirklich brach Damar etwas später ab. »Jetzt kommen fünf Takte Pause.« Jephson zählte, aber Damar ließ sich mehr Zeit. »Endlich, er hat aufgehört…« In diesem Augenblick sang Damar eine neue Strophe von dem Lied, das offenbar kein Ende hatte und dessen Text er beliebig variieren konnte. »Aufhören!« schrie Jephson, »he, Damar, halte endlich die Luft an!« Der Gesang verstummte, jedoch nur für einen Moment. »Ich hau’ ihm eine ’runter«, murmelte Jephson. Er kletterte hinaus. Cedrice folgte ihm. Damar hockte im Gemüsegarten, Jephson rüttelte ihn. »Hör auf zu singen, Damar«, befahl er.
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»Warum? Es ist nicht verboten.« »Wir verbieten es dir«, rief Jephson erbost, »laß das Gejaule. Ich glaube, er sucht Streit, Cedrice. Dabei kann er nicht einmal singen, er krächzt wie eine Eule…« Jephson schwieg, als Damar ihn vorwurfsvoll ansah. »Warum hältst du dich immer hier auf?« fragte Cedrice etwas versöhnlicher. »Warum gehst du nicht in deine Kabine? Was glaubst du, wozu die Wissenschaftler sich dieses Karussell ausgedacht haben? Oder bereitet dir diese verdammte Schwerelosigkeit Vergnügen?« »Es sieht jedenfalls so aus«, sagte Jephson, »er sitzt da wie ein Schlangenbeschwörer.« Im Rücken und im Gesäß ihrer Kleidung waren Metallstreifen eingenäht. Überall im Raumschiff hatte man Magnetplatten angebracht. Lehnten sie sich dagegen oder setzten sie sich auf eine solche Magneteinlage, so fand ihr Körper Halt. Damar saß auf einer solchen Stelle. Er hatte die Arme über der Brust verschränkt; sein Oberkörper schwankte hin und her. Es sah aus, als zelebriere er eine rituelle Übung. Er antwortete nicht. In seinem Gesicht lag eigentümliche Verträumtheit. »Ich habe dich etwas gefragt«, sagte Cedrice. Er wollte Damar freundschaftlich an der Schulter rütteln, als er etwas bemerkte. Damar hielt einen kleinen Kunststoffbeutel zwischen den Knien. »Nun sieh dir das an, Henry, er spielt mit unserer Erde.« Damar ließ es zu, daß Cedrice ihm den Beutel wegnahm. Zwei Hände voll Erde waren darin, gewöhnlicher Sand, den sie vor dem Aufstieg, sorgfältig verpackt, mitgenommen hatten. »Da hast du seine Ruhe und Überlegenheit«, murmelte Jephson, »alles nur gemacht.« Cedrice hatte den Beutel vorsichtig geöffnet. Er fühlte den noch etwas feuchten Sand mit den Fingerspitzen, dann berührte auch Jephson die Erde. »Es ist guter Boden«, sagte Damar, »darauf würde alles wachsen. Sogar unsere Algen. Wir sollten zwei oder drei aus ihrer Nährlösung herausnehmen und versuchen, sie auf diesem Boden anzupflanzen.« »Keine schlechte Idee«, sagte Cedrice. Auch Henry Jephson war begeistert, und sie bedachten in diesem Augenblick nicht, daß diese Idee unausführbar war. Die Algenkulturen im Labor, die sie mit Sau-
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erstoff versorgten, wurden von einer Lösung genährt. Diese Flüssigkeit befand sich in Plastikbehältern, aus denen sie nicht entweichen konnte. Die anspruchslosen Algen würden auch in angefeuchteter Erde wachsen, aber es gab keine Behälter für diese Erde. Sie wäre in wenigen Tagen staubtrocken und würde bei der geringsten Erschütterung wie ein Schwarm von Mikrometeoriten durch das Raumschiff fliegen. Daran dachten sie nicht. »Ich habe diese Erde schon ein paarmal in der Hand gehalten«, sagte Damar, »keiner von euch hat es gemerkt. Ihr merkt viele Dinge nicht.« »Was merken wir nicht?« erkundigte sich Jephson argwöhnisch. »Manches«, erwiderte Damar versonnen. »Ich könnte euch eine Geschichte erzählen, und vielleicht werde ich es auch einmal tun.« »Was für eine Geschichte?« »Eben eine Geschichte. Sie würde Cedrice besonders interessieren. Aber ich sage nichts. Später, Cedrice, wenn wir sie gefunden haben. Jetzt ist der Augenblick noch nicht gekommen.« »Er macht sich wichtig«, brummte Cedrice. »Vielleicht kannst du wenigstens eine Andeutung machen?« »Nein, ich mache keine Andeutung. Warum wollt ihr eigentlich nicht, daß ich mein Lied singe?« »Untersteh dich!« rief Jephson. »Wer soll das auf die Dauer ertragen? Immer derselbe Singsang und immer der gleiche blöde Text…« »Ihr habt schlechte Ohren«, sagte Damar, »und du besonders, Cedrice.« »Warum ich besonders?« »Weil in diesem Text Worte vorkommen, deren Bedeutung du gern wissen möchtest.« Damars Lippen zuckten spöttisch, als er das verblüffte Gesicht seines Gefährten sah. »Ja, Silap hati. Wolltest du nicht einmal von mir erfahren, was diese Wörter bedeuten? Ich weiß es.« »Das ist gemein«, sagte Cedrice, »damals hast du mir gesagt, sie gäbe es nicht in eurer Sprache, und du hast dich aufgeplustert wie ein Frosch. Also was bedeuten diese Wörter? Oder sind sie ein Geheimnis?« Damar wurde ernst, als er antwortete: »Nein, Cedrice, sie sind kein Geheimnis. Entschuldige, wenn ich grob gewesen bin. Wir ha-
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ben uns wohl alle etwas verändert. Es gibt mitunter Dinge, die einfach keinen Platz finden in unserm Hirn. Sie sitzen in der Brust, und man kann sie nicht herausreißen. Der einzige Arzt, der helfen kann, ist die Zeit. Mir hat dieser Doktor geholfen. Begreifst du, Cedrice? Ich habe mich auf dieser unendlichen Reise mit allem abgefunden. Jetzt verstehe ich vieles, was ich vordem nicht begreifen konnte…« Cedrice und Jephson wechselten einen Blick. »Entschuldige, Damar, das mit der Zeit mag schon stimmen«, sagte Cedrice mild, »aber du redest ein bißchen wirr - wir verstehen kein Wort. Du wolltest mir sagen, was Silap hati bedeutet.« »Es kommt in dem Lied vor, das ihr nicht mehr hören wollt«, antwortete Damar. »Man singt dieses Lied bei uns, wenn die Heimat fern ist und wenn man vor Sehnsucht keinen anderen Gedanken fassen kann. Silap hati bedeutet…« Damar kam nicht dazu, weiterzusprechen. Durch das Raumschiff gellte ein an- und abschwellender Ton. Eine Sekunde lang brachten sie kein Wort hervor. Cedrice war der erste, der ihre Gedanken aussprach: »Unsere Suchgeräte haben sie erfaßt!« Er flüsterte nur. Sie drängten zur Luke, einer schob den anderen hinaus. Freude und Erregung schnürten ihnen die Kehlen zu.
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XIX Massimu kletterte aus der Speiche. Er machte ein feierliches Gesicht, drückte zuerst Cedrice, dann den anderen die Hand. »Wir haben es geschafft! Freunde, wir haben sie, wir sind am Ziel!« Alle Strapazen der zurückliegenden Monate waren vergessen. Vor ihnen, in einer Entfernung von nur wenigen tausend Kilometern bewegte sich ein winziger Punkt. Sie blickten gebannt auf den Leuchtschirm. Er war erreicht; der winzige Körper war die »Charles Darwin«. »Ist das ein Gefühl«, unterbrach Jephson die spannungsgeladene Stille, »ich habe schon nicht mehr daran geglaubt.« Massimu stellte die Verbindung zur Leitstation her und gab ihre Entdeckung durch. Damar peilte, unterdessen das Wrack an und versuchte, annähernd den Bahnverlauf zu bestimmen. Cedrice sah nur auf den Schirm. Jetzt, da das Ziel sich greifbar vor seinen Augen bewegte, wurde er auf einmal von Furcht und Sorge ergriffen. War noch Leben in diesem Wrack? Kamen sie nicht zu spät? Hinter ihm klang Massimus ruhige Stimme. Er gab die von Damar bestimmten Bahndaten zur Station durch. Zahlen, Koordinaten, Geschwindigkeiten. Jephson erriet die Gedanken seines Gefährten. Er tastete sich zum Empfänger, drehte an der Frequenzskala, doch es knackte und rauschte nur. Kein Lebenszeichen von der »Darwin«. »Sie hoffen nicht mehr auf Rettung«, sagte er, »darum senden sie nicht. Vielleicht sind auch ihre Anlagen nicht in Ordnung.« »Sicher, so wird es sein«, murmelte Cedrice. »Sie hatten für sieben oder acht Monate Nahrung - und wir sind viel früher bei ihnen…« Die Vorbereitung zur Kursänderung der »Kepler« ließ ihnen nicht viel Zeit, über solche Probleme nachzudenken. Nachdem die Bahnwerte der »Darwin« annähernd ermittelt worden waren, richtete Damar den Spiegelreflektor auf den Punkt im All, ein Vorgang, der einige Zeit in Anspruch nahm, denn beide Körper, die »Darwin« und die »Kepler«, bewegten sich mit hoher Geschwindigkeit. Cedrice 165
wartete ungeduldig. Als das Objekt endlich im Sucher erschien, stieß Damar einen Ruf der Enttäuschung aus. Es war nicht die »Charles Darwin«, die sie geortet hatten. Cedrice hatte kein Verlangen mehr, sich das Objekt anzusehen, und auch Jephson und Massimu traf diese Entdeckung schmerzhaft. Sie hatten sich am Ziel ihrer Reise gewähnt - der Blick durch das Spiegelteleskop wandelte ihre Freude und ihren Triumph in Bestürzung und Hoffnungslosigkeit. Massimu hatte sich ebenfalls von ihrem Irrtum überzeugt. Als er jedoch das Okular wechselte und der kleine Himmelskörper deutlicher wurde, überraschte ihn eine neue Wahrnehmung. Sie hatten nicht die »Darwin« im Blickfeld ihres Objektivs, aber es war ein Teil ihres Schwesternschiffes. Die kleine Kugel war eine Nachrichtenkapsel, eine von den Sonden, die aus der »Darwin« hinauskatapultiert worden waren. Ein neues Lebenszeichen, neue Hoffnung? Alle vier klammerten sich an diesen Hoffnungsschimmer. Konnte nicht auch die »Darwin« hier in der Nähe ihre Bahn ziehen? Eine Nachrichtensonde war in Erdnähe gesichtet und geborgen worden. Diese aber bewegte sich in einer Sphäre, wo sie das Raumschiff suchten. Es gab nur eine Erklärung: Die Sonde mußte bei ihrem Start zu wenig Schub bekommen haben. Damar sprach diese Überlegungen aus, und nach der ersten großen Enttäuschung waren sie um so mehr geneigt, sich Damars Gedanken zu eigen zu machen. Massimu meldete der Station die neue Entdeckung. Die Vorstellung, Neues von der »Darwin« zu erfahren und vielleicht das Raumschiff selbst bald orten zu können, trieb sie zur Eile. Knisternde Spannung lag über der Jagd nach diesem geisterhaft dahinschwebenden Himmelskörper. Die Kabinen kreisten nicht mehr, ihr Raumschiff besaß wieder die starre Form eines Zylinders. Sie flogen erneut mit eigenem Antrieb, manövrierten sich langsam auf die Bahn der Sonde. Nach stundenlangen Kursänderungen waren sie der Sonde endlich so nahe, daß sie den kleinen Körper ohne Hilfsmittel erkennen konnten. Die Nachrichtenkapsel leuchtete wie ein Stern dritter Größe. Als sie sich der Kugel auf fünfzig Meter ge-
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nähert hatten, stellte Massimu den Schub ab. Die Geschwindigkeit der »Kepler« lag um einen winzigen Bruchteil höher als die der Nachrichtenkapsel. Nach einigen Stunden mußte ihr Abstand auf wenige Meter zusammengeschrumpft sein, und noch etwas später würde sich die »Kepler« von der Sonde wieder entfernen. In dieser Zeit konnte die Kugel an Bord geholt werden. Massimu hatte von der Station den Auftrag erhalten, einen seiner Gefährten für den Ausstieg zu bestimmen. Er übertrug Damar die Aufgabe. Cedrice war mit dieser Wahl nicht zufrieden; er hätte selbst gern die Sonde an Bord gebracht, und alle verstanden diesen Wunsch. Doch Massimu blieb bei seiner Entscheidung. »Du wirst später noch Gelegenheit haben auszusteigen«, beschwichtigte er ihn. »So laß mich mit ihm zusammen ’raus«, bat Cedrice. »Nur einer steigt aus, Anweisungen von der Station. Helft Damar in den Raumanzug. Und ich ziehe mir dieses Kostüm auch an, zur Sicherheit.« Jephson tröstete seinen Gefährten. »Ich glaube, wir werden noch oft aussteigen müssen, Cedrice. In spätestens einer Stunde wissen wir mehr. Bist du glücklich?« Cedrice hob die Schultern. »Die ›Darwin‹ wäre mir lieber gewesen. Aber vielleicht habt ihr recht. Vielleicht ist diese Sonde wirklich ein Vorbote.« »Bestimmt«, sagte Jephson. Er zog sich zur Schleuse und überprüfte die Anlage. Cedrice tastete sich in den Sanitätsraum. Damar hatte den Raumanzug übergestreift. Er lächelte, als Cedrice eintrat. »Bald ist es überstanden, Cedrice.« »Hoffentlich.« Damar kam auf ihn zu. Er war plötzlich seltsam ernst. »Bald ist es überstanden«, wiederholte er. »Verzeih mir, wenn ich manchmal grob und unhöflich war.« Er umarmte Cedrice. »Schon gut, Damar, wir waren alle schon einmal etwas durcheinander.« »Es ist gut, daß wir allein sind«, flüsterte Damar, »ich wollte dir für die Zukunft alles Gute wünschen - dir und allen, die dir nahe sind…«
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Aus dem Kommandoraum drang Massimus Stimme zu ihnen. Sie sollten sich beeilen. »Später«, fuhr Damar hastig fort, »will ich dir etwas erzählen. Ich möchte, daß wir gute Freunde werden…« »Jetzt hör einmal zu«, unterbrach ihn Cedrice kopfschüttelnd, »du redest, als hätte Massimu dich beauftragt, zum Alpha Centauri zu fliegen. Erstens sind wir alle vier Freunde, und zweitens habe ich den Eindruck, daß dir der Ausstieg nicht geheuer vorkommt. Wenn du nicht willst, sag es Massimu - ich steig für dich aus.« Damar war zurückgetreten und hantierte an seinem Raumanzug. »Es ist schon in Ordnung, Cedrice.« »Ist wirklich alles in Ordnung, Damar?« »Alles, Cedrice.« Sie überprüften Druck, Heizung und Sendeanlage des Raumanzuges. Jephson kam zurück. »Die Schleuse ist all right«, meldete er. »Wie fühlst du dich, Trockentaucher?« »Sehr gut, Henry. Wie weit ist die Sonde weg?« »In einer halben Stunde sind wir dran.« Eine Zeitlang schwiegen sie. Dann fing Damar an, leise vor sich hin zu summen. Es war ›sein‹ Lied, von dem er nicht loskam. Cedrice entfernte sich. Als er bei Massimu war, mußte er lächeln, denn Jephson, der dieses Lied nie gemocht hatte, summte es nun mit. Ihr zweistimmiger Gesang schwang durch das Raumschiff. Selbst Massimu schmunzelte. Das große Ereignis hatte eine Eintracht unter ihnen hervorgerufen, wie sie besser nicht sein konnte. Die Sonde war zum Greifen nahe. Cedrice schätzte den Abstand auf fünfundzwanzig Meter. Noch zehn Minuten, dann würde sie unmittelbar an ihrer Seite schweben. Er betrachtete sie durch ein kleines Bordfenster vom Labor aus. Die polierte Oberfläche glänzte im Sonnenlicht, deutlich war das Wort »Darwin« darauf zu erkennen. Er hörte, wie Massimu mit der Station sprach, und mußte daran denken, daß in der Leitstation die Aufregung wahrscheinlich noch viel größer war. Auch Alexander Wulko und Nanga würden jetzt von dieser ersten indirekten Begegnung mit der »Darwin« wissen. Bei dem Gedanken an Nanga erinnerte er sich plötzlich ihres Briefes. Er sollte
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ihn erst öffnen, wenn sie eine Spur von dem verunglückten Raumschiff gefunden hatten. War die Sonde nicht eine Spur? Er lugte durch das Bordfenster. Die Sonde war näher gekommen, aber bis zum Ausstieg dauerte es noch eine Weile; Zeit genug, sein Versprechen einzulösen. Cedrice zog den Brief aus der Tasche. Das Kuvert war unbeschriftet. Er öffnete es und nahm das Schreiben heraus. Nanga hatte mit großen, klaren Buchstaben geschrieben. »Cedrice, Liebster! Jetzt hast Du meinen Brief geöffnet. Der von Dir und mir langersehnte Augenblick ist also gekommen. Fühlst Du, wie nahe ich Dir bin? Was immer Dir diese Stunden auch an Glück oder Schmerz bringen mögen, ich drücke fest Deine Hand und möchte Dir jetzt etwas sagen. Cedrice, Du großer, lieber Junge, ein Schmerz kann nicht so groß, ein Glück nicht so umfassend sein, daß nicht auch noch Platz für diese Freude wäre. Schon seit Wochen weiß ich es sicher: Noch bevor Du zurückgekehrt bist, werde ich nicht mehr allein sein. Ich bin so glücklich, Cedrice, und ich weiß, daß auch Dich dieses Geschenk unserer Liebe glücklich machen wird. Ich umarme Dich, und ich danke Dir für alles. Bald wirst Du vor mir stehen,, ganz nahe, so, wie Dir diese Zeilen jetzt nahe sind. Nanga« Das erregende Geschehen, das sich in diesen Minuten an Bord abspielte, nahm ihm die Konzentration. Beim ersten raschen Überfliegen ihrer Worte war nur dunkle Ahnung in ihm. Dann las er den Brief ein zweites, ein drittes Mal, und er stieß einen Freudenruf aus. Das Schreiben in der Hand, zog er sich zur Kommandozentrale. Er konnte nicht sprechen, weil Massimu den Finger an die Lippen legte. Die Station gab Anweisungen durch. Cedrice kletterte in den Sanitätsraum. Dort hockten Jephson und Damar. »He, ihr Marsmenschen!« rief er übermütig, »ihr ahnungslosen Weltraumfahrer! Seht mich an! Damar, Henry, betrachtet mich. Was fällt euch auf? Na?« »Er hat den Brief geöffnet«, sagte Jephson, »eine schriftliche Liebeserklärung aus dem Paradies.« »Ja«, sagte Cedrice feierlich, »Nanga bekommt ein Kind.«
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Einen Moment sahen ihn seine beiden Gefährten verdutzt an, dann schrie Jephson: »Hallo, Massimu, hast du das gehört! Cedrice wird Vater! Das kostet einen Schluck Wein!« »Schrei nicht so«, ermahnte ihn Damar. Er reichte Cedrice die Hand. »Ich beglückwünsche dich, Cedrice.« »Danke, Damar. Das hat sie sich schön ausgedacht - ausgerechnet jetzt. Ich bin ganz benommen…« Auch Jephson gratulierte und sagte: »Dafür müssen sie dir ein Sondergespräch erlauben. Das wird eine Überraschung werden, wenn wir die ›Darwin‹ vor uns haben. Papa Stuart ist Großvater geworden.« Cedrice wollte etwas erwidern, als Massimu rief: »Es ist soweit. Laßt jetzt die Witzeleien. Mach dich fertig, Damar.« Die Sonde schwebte dicht an ihrer Seite. Damar war in die Schleuse getreten. Es war ein kleiner Raum an der Bordwand, der notfalls vier Personen aufnehmen konnte. Hier befand sich auch die Katapultanlage, mit der man Nachrichtensonden hinausschießen konnte. Der Abschuß erfolgte durch eine Federung, die sich auf verschiedene Druckwerte einstellen ließ. Sie verständigten sich über Sprechfunk. Damar hatte den Sauerstoff abgelassen. Durch zwei winzige Fenster konnten Cedrice und Jephson sehen, wie er das Seil an seinem Raumanzug befestigte. Dann schraubte er langsam die Ausstiegsluke auf. Jeden dieser Handgriffe meldete er über Sprechfunk an Massimu weiter. Zwei Minuten später war die Schleuse leer. Damar hatte sie von außen geschlossen, er selbst schwebte im Raum. Vom Gemüsegarten aus konnten sie erkennen, wie er unter dem Raumschiff hervorkam. Er war dicht an ihrem Bordfenster und hätte ihr Winken sehen können, aber seine Aufmerksamkeit galt der Sonde. Eine Rückstoßanlage brachte ihn der glänzenden Kugel näher. Gespannt beobachteten Jephson und Cedrice seine Bewegungen. Damars unförmiger Raumanzug spiegelte sich im Sonnenlicht. Er hielt in der Linken ein Netz, in dem er die Sonde abtransportieren sollte. Obwohl sie diesen Schwebezustand zur Genüge kannten, erwies sich das Bewegen im freien Raum doch als weitaus schwieriger.
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Er stieg senkrecht hoch, und nur das Seil, das sich schlaff wie eine Schlange vor dem Bordfenster bewegte, konnten sie noch sehen. In der Kommandozentrale kommentierte Massimu alle Bemerkungen Damars für die Leitstation. »Er ist jetzt dicht an der Sonde«, sagte Massimu. Nach einer Pause: »Damar hat sie. Er schiebt die Antennen ein, verpackt sie im Netz. Es hat ausgezeichnet geklappt. Damar kommt zum Raumschiff zurück. Hallo, Doktor Mesenzew, ich unterbreche jetzt, Damar wird jeden Augenblick in die Schleuse eintreten. Ich melde mich wieder, wenn er an Bord ist.« Massimu kletterte von seinem Platz und bewegte sich auf die Schleuse zu. Er unterhielt sich über ein kleines, handliches Funkgerät mit Damar, fragte ihn, ob alles glatt ginge, und erhielt offenbar befriedigende Antworten. Seit Damars Ausstieg waren dreieinhalb Minuten vergangen. Cedrice wartete am Fenster der Schleuse. In seinen Schläfen pochte es. Was enthielt die Sonde? Es konnten sich neue Bahnangaben in ihr befinden, aber es war auch anderes möglich - ein Abschied vielleicht, ein letzter Gruß… Es war totenstill. Von draußen schepperte etwas gegen die Bordwand. Damar befand sich unmittelbar unter ihnen. Jeden Augenblick mußte er die Außenluke öffnen. Massimu rief auf einmal hastig Damars Namen. Cedrice fuhr herum. »Was ist los?« »Zum Teufel, melde dich!« rief Massimu und lauschte einen Moment. Er klopfte gegen das Mikrophon. »Los, schnell, bereitet den Ausstieg vor, mit Damar ist etwas nicht in Ordnung!« Während sie in aller Eile Massimus Raumanzug überprüften, sagte dieser: »Ich habe nur verstanden, daß er Sauerstoff verliert. Er hängt unter uns zwischen den Antennen.« Als die Druckmesser den vorgeschriebenen Druck anzeigten, hastete er zur Schleuse. Er öffnete die Einstiegsluke. Der kleine Raum füllte sich blitzschnell mit Sauerstoff. Durch den raschen Druckausgleich bildete sich für Sekunden eine feine Nebelschicht. Jephson stülpte sich das Mikrophon und die Kopfhörer über und erkundigte sich, ob alles in Ordnung sei. »Ja«, antwortete Massimu, »gib eine Meldung an die Station. Ich steige aus.«
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In diesem Augenblick summte es in der Kommandozentrale. Die Erde meldete sich. Cedrice trat an das Mikrophon. Er hörte, wie der Sprecher der Leitstation den Bericht Massimus bestätigte und der Besatzung zur Bergung der Sonde gratulierte. Cedrice meldete den Zwischenfall. Er konnte kaum noch sprechen. Sein Blick wanderte zu Jephson. Der stand vor der Schleuse und sprach leise mit Massimu. »Was ist mit ihm?« fragte Cedrice flüsternd. »Ich weiß es nicht«, antwortete Jephson, »bitte sei still, ich verstehe sonst nichts.« Durch die beiden Fenster konnten sie sehen, wie Damar in die Schleuse geschoben wurde, dann kam Massimu und verschraubte die Luke. Jephson ließ erneut Druck in die Schleuse. Endlose Sekunden verstrichen, bis die Meßinstrumente den Ausgleich anzeigten. Als Massimu heraustrat, stieß Jephson einen Ruf des Erschreckens aus. Massimu hielt den leblosen Damar im Arm, dessen Gesicht hinter der blutverschmierten Glasscheibe seines Schutzhelmes kaum noch zu erkennen war. Über seiner Schulter hing das Netz mit der Sonde.
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XX Sie konnten Damar nur im Sanitätsraum von seinem Schutzanzug befreien. Hier, unmittelbar vor der Schleuse würde das Blut, das ihm aus Mund und Nase sickerte, durch alle Räume schweben, es würde anprallen, sich zerteilen, bis schließlich das gesamte Raumschiff von diesem Tröpfchendunst erfüllt war. Cedrice und Jephson geleiteten den Verunglückten vorsichtig in den Sanitätsraum. Unterdessen gab Massimu einen ersten Bericht an die Station durch. Er vermochte nicht zu sagen, ob Damar noch am Leben war. Die schwierige Verständigung, in der zwischen Frage und Antwort immer sechs bis sieben Minuten verstrichen, machte ihre Lage noch verzweifelter. Im Sanitätsraum, einem völlig abgeschlossenen Teil des Raumschiffes, befanden sich die Toilette, eine kleine Waschanlage, eine umfangreiche Apotheke mit einfachem chirurgischem Gerät und für die verschiedensten Zwecke Sauerstoffbehälter. Von der Bordwand ließ sich ein Gestell herabklappen, das einen Kranken in waagerechter Lage hielt. In diesem Raum befanden sich auch die Nachrichtensonden, die sie im Notfalle hätten hinauskatapultieren können. Sie hatten Damars Anzug geöffnet. Er enthielt noch einen geringen Sauerstoffvorrat. Wieviel, das zeigten die Meßinstrumente nicht an. Sie waren defekt. Wodurch? Wie konnte der Sauerstoff überhaupt entweichen? Und in welchem Zeitraum war er entwichen? Fragen drängten sich auf, aber keiner konnte Antwort geben. Sie wußten nur, welche Folgen ein solches Unglück haben mußte. Das Entweichen des Sauerstoffs und damit auch des atmosphärischen Drucks aus dem Raumanzug löste zuerst den Höhenrausch aus, dem Bewußtlosigkeit folgte. Ließ der Druck weiter nach, fing das Blut an zu sieden, und wenn nicht rasch Hilfe kam, mußten die Bindegewebe und Blutgefäße platzen, die Lunge sich bis zum Zerreißen dehnen. Es sah aus, als wäre bei Damar bereits dieser letzte Zustand eingetreten. Er beugte sich über ihn, aber er konnte nichts wahrnehmen. »Ich glaube, er lebt nicht mehr.« 173
Henry Jephson bekreuzigte sich. Dann faltete er die Hände und fing an zu beten. Massimu kam herein. Er sah erst auf Jephson, dann auf Cedrice. »Was ist mit dem los - ist der verrückt geworden?« »Laß ihn in Ruhe«, sagte Cedrice, »was sagen sie auf der Station?« »Meine Meldung wird erst in anderthalb Minuten eintreffen, und dann dauert es noch einmal eine Ewigkeit, bis sie antworten. Mist, verdammter. Atmet er?« »Sein Mund ist voller Blut.« Massimu rüttelte Jephson an der Schulter. »Hör auf zu greinen!« herrschte er ihn an. »Geh in die Zentrale, warte auf den Bericht. Erzähle ihnen, was du gesehen hast.« Jephson verließ den Raum. »Hat er schon öfter solche Anwandlungen gehabt?« Cedrice gab keine Antwort. Er hatte Damars Mundhöhle mit einem Sauggerät gereinigt. Sie besaßen alle eine medizinische Grundausbildung, konnten Zähne ziehen und einfache Verletzungen behandeln. Auf einen solchen Unfall waren sie nicht vorbereitet gewesen. In diesem Falle hätten nicht nur Fachärzte an Bord sein müssen, sondern auch ein Operationssaal - wenn überhaupt noch Hilfe für Damar möglich war. Er war ohne Bewußtsein, aber er lebte. Aus seinem Mund kam ein kaum hörbares Röcheln. »Was jetzt?« Cedrice sah Massimu fragend an. »Versuchen wir es mit Sauerstoff, das ist eine Pferdekur, aber schaden kann es nicht.« Massimu nahm einen Sauerstoffbehälter und hielt Damar die Atemmaske über den Mund. »Ein Kerl wie ein Baum«, murmelte er, »ich möchte wissen, wie das passieren konnte.« »Sein Anzug war in Ordnung, als er ausstieg - vielleicht hat ihn ein Meteorit erwischt?« »Das wird sich herausstellen.« Damar stöhnte leise. In seinem Mund hatte sich wieder Blut angesammelt. Cedrice saugte es ab. »Vielleicht kommt er doch noch durch.«
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Massimu fühlte den Puls. Er spürte nichts. »Ich habe nicht viel Hoffnung«, sagte er. »Zum Kotzen, ausgerechnet zwei Meter vor der Schleuse muß ihm das passieren…« Henry Jephson kam herein. »Wie geht’s ihm?« Er erhielt keine Antwort. »Die Station will einen ausführlichen Bericht. Ich habe gesagt, daß er bewußtlos ist und innere Blutungen hat. Scheißverbindung, ehe die antworten, ist er hin.« »Sei still, er hat sich gerührt!« rief Cedrice. Damar hatte die Augen bewegt. »Kannst du uns verstehen?« fragte Cedrice. »Hör doch auf zu fragen«, sagte Jephson, »du siehst doch, daß er nicht bei sich ist.« Massimu setzte ihm wieder die Atemmaske auf. Erneut kam ein Stöhnen über Damars Lippen und dann ein Lallen. »Er will etwas sagen…« Er nahm die Maske weg. Sekunden verstrichen, der Verletzte rührte sich nicht mehr. Abermals reinigten sie ihm die Mundhöhle vom Blut, gaben ihm Sauerstoff, und dann, völlig unerwartet, kam es leise von Damars Lippen: »Ich will mit Cedrice sprechen, allein.« »Gehen wir«, sagte Massimu. »Gib ihm von Zeit zu Zeit Sauerstoff.« Jephson und Massimu verließen den Raum. »Wir sind allein«, sagte Cedrice. Er blickte gespannt auf seinen Gefährten. »Damar«, flüsterte er, »es ist besser, wenn du nicht redest, es strengt dich zu sehr an. Hör zu, wir kriegen dich schon wieder auf die Beine. Auf der Station beraten sie, gleich werden die Anweisungen eintreffen. In ein paar Tagen bist du wieder der alte…« Eine Sekunde lang hatte Damar die Augen geöffnet. Cedrice hielt die Atemmaske über den Mund. Einen Augenblick später lallte der Verletzte: »Nicht, komm näher.« Cedrice nahm die Maske weg und beugte sich über ihn. Mit äußerster Willensanstrengung bemühte sich Damar zu reden. Endlich kam es langsam und undeutlich über seine Lippen: »Es tut mir leid, Cedrice…« »Sei still, Damar, streng dich nicht an…« Er erschrak, als plötzlich ein Blutstrom aus Damars Mund quoll. Vergeblich bemühte sich Cedrice, dieses Blut abzusaugen. Es hörte nicht auf zu bluten. Er rief
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nach Massimu und Jephson. Damar sah mit starren Augen ins Leere. Verzweifelt über seine Hilflosigkeit, zog sich Cedrice ein paar Schritte zurück. »Damar«, flüsterte er, »sag doch etwas.« Dem Verunglückten war nicht mehr zu helfen. Er war nicht dazu gekommen, Cedrice das zu sagen, was ihn in diesen letzten Lebensminuten gequält hatte. Cedrice lehnte erschreckt und erschöpft an einem Magnetstreifen. Er blickte unverwandt auf den Toten und konnte nicht begreifen, was hier vor sich gegangen war. Alles schien ihm ein irrsinniger Traum, wie ein Alpdruck, von dem er sich befreien wollte und von dem es doch keine Befreiung gab. Jephson zog sich herein. Er sah, was geschehen war. Schweigend näherte er sich dem Toten und drückte ihm die Augen zu. Dann verharrte er unbeweglich vor dem Leichnam. Cedrice konnte keinen klaren Gedanken fassen, es sah aus, als sei auch aus ihm alles Leben gewichen. Ein paar Blutstropfen schwebten durch den Raum. Sie berührten seine Wange. Er spürte sie nicht. Erst als Jephson ihm die Hand auf die Schulter legte, kam er zu sich. Ein Gesetz hatte sich erfüllt, ein Leben war zu Ende. Es war erloschen, so, wie Sterne aufleuchten und wieder verdunkeln. Cedrice kannte dieses Gesetz, aber er hatte es noch nie in seiner Unbarmherzigkeit sich erfüllen sehen. Wohin sie auch flogen, es begleitete sie wie das Licht der Sterne. Massimu brauchte keine Erklärung. Als er Jephson und Cedrice sah, wußte er, was geschehen war. Auf der Station beriet man noch über Rettungsmaßnahmen. Er meldete den Tod ihres Gefährten. Minuten vergingen, ehe die Antwort eintraf. In dieser Antwort schwang die Erschütterung mit, als der Sprecher im Namen aller Wissenschaftler der Leitstation seine Anteilnahme aussprach. Sie hörten die Worte, aber sie gaben ihnen wenig Trost. Der Tote mußte von Bord. Massimu erteilte mit steinerner Miene Anweisungen. Gefühle und Empfindungen durften auf diesem kleinsten aller Himmelskörper keinen Platz greifen; Trauer war ein bedrohlicher Luxus. Die »Kepler« flog noch immer auf einer unbekannten Bahn. Sie mußten den Sanitätsraum reinigen, und sie mußten so rasch wie möglich die Nachrichtensonde öffnen. Die erbarmungslosen Gesetze der Selbsterhaltung trieben sie zur Eile an. Zu dritt tasteten sie sich zurück.
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Jephson und Massimu legten dem Toten den Raumanzug wieder an. Später würden Fachleute feststellen, was die Ursache des Unglücks gewesen war. Als Massimu den Anzug schließen wollte, bat Cedrice, einen Augenblick zu warten. Er eilte in den Gemüsegarten, doch was er suchte, befand sich nicht dort. Cedrice kroch in die Kabine, die Damar und Massimu teilten. Seine Ahnung hatte ihn nicht getrogen. An Damars Liegesitz war der Plastikbeutel mit Erde befestigt. Er nahm ihn an sich und wollte zurück. In diesem Augenblick wurde er auf eine kleine Zeichnung aufmerksam. Sie befand sich unmittelbar neben der Schlafstelle an der Bordwand. Das Bild, mit einem roten Stift gezeichnet, sollte offenbar eine Insel darstellen. Kein Baum war darauf, kein Haus. Aber unter diesem Gebilde standen zwei Wörter: Silap hati. Beklommen blickte Cedrice auf die eigenartige Hinterlassenschaft. Das Auftauchen der Sonde hatte Damar daran gehindert, ihm den Sinn und die Bedeutung dieser Wörter zu erklären. Jetzt hatte er das Geheimnis mit in den Tod genommen. Warum war Damar damals so abweisend gewesen? Cedrice grübelte und versuchte vergebens, einen Zusammenhang zwischen diesem eigentümlichen Verhalten zu den letzten Bemerkungen Damars zu finden. Er war sicher, daß es einen solchen Zusammenhang geben mußte, sonst hätte Damar nicht darauf bestanden, in diesen Minuten mit ihm allein zu sein. Hinter ihm tauchte Massimu auf. »Wir warten auf dich, Cedrice.« Cedrice deutete auf die Wand. »Wann hat er das gezeichnet?« Massimu betrachtete die Zeichnung. »Keine Ahnung, ich sehe sie jetzt zum ersten Male.« »Also erst heute oder gestern…« »Meinetwegen vor hundert Jahren«, sagte Massimu ungeduldig. »Wie lange gedenkst du noch hier zu stehen? Das Gemälde kannst du dir später stundenlang betrachten. Komm jetzt.« Cedrice folgte ihm. Er entnahm dem Beutel vorsichtig eine Handvoll Sand und gab sie dem Toten in den Raumanzug. Dann zog er selbst seine Kombination an. Sie trugen ihn hinaus. Jephson blieb an Bord. Zum zweiten Male trat ihr Gefährte den Weg in die Unendlichkeit an. Massimu öffnete die Außenluke der Schleuse, den Aus-
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stieg in die Ewigkeit. So lange ihr Flug währte, war Damars Grab der Weltenraum. Hier mußte er verbleiben, bis sie wieder in Erdnähe waren. Erst vor Eintritt in die Erdatmosphäre konnten sie ihn ins Raumschiff zurückbringen, um ihm dann nach der Landung die letzte Ruhestätte zu geben. Die Antennenfüße dienten als Befestigungshaken. Sie verrichteten ihre Totengräberarbeit schweigend. Als der Leichnam fest angebunden war, zogen sie sich zur Schleusenöffnung zurück. Das Tor, das ins Leben führte, schloß sich hinter ihnen. Ihre winzige Welt, umgeben von einer Metallhülle, bot ihnen Schutz und Zuflucht. Nun hätte die Sonde geöffnet werden können, diese Unglückskugel, deren Inneres ein Geheimnis barg. Es war ein hoher Preis, den sie gezahlt hatten. Die Zeit drängte, aber diese letzten Minuten konnten sie nicht einfach aus ihrem Gedächtnis löschen. Sie entledigten sich ihrer Raumanzüge, dann kletterten sie in den Gemüsegarten und nahmen ihre Plätze ein. Henry Jephson übernahm Damars Tätigkeit: Er füllte ihre Tuben mit dem Konzentrat des Labors. Schweigend verzehrten sie die Paste. Nach einer Weile sagte Jephson: »Ich kann es nicht begreifen. Es sind noch keine zwei Stunden her, da habe ich mit ihm zusammengesessen und gesungen. Er war so eigenartig ernst und dieses Lied so traurig - als hätte er alles geahnt.« Cedrice mußte an die Zeichnung und an die beiden Wörter denken. »Vielleicht wäre es besser gewesen, wir wären zu zweit ausgestiegen.« »Sicher wäre es besser gewesen«, sagte Massimu. »Die Anweisung kam von der Station.« »Ich mach’ dir doch keinen Vorwurf«, antwortete Cedrice. »Man weiß immer nur, was hinter einem liegt. Merkwürdig ist das Leben. Plötzlich taucht man ins Nichts unter. Hell oder dunkel, wie auf einem Schachbrett. Irgendwann betritt jeder einmal das dunkle Feld…« »Wenn ich zwei von uns ’rausgeschickt hätte«, sagte Massimu, »wären vielleicht beide draufgegangen.« »Was hat er zu dir gesagt, Cedrice, als du mit ihm allein warst?« fragte Jephson. »Es täte ihm leid, das waren seine letzten Worte.«
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»Was täte ihm leid?« »Das weiß ich nicht. Er wollte sich für irgendwas entschuldigen, aber für was? Er war doch nicht anders als wir. Jedem von uns sind schon die Nerven durchgegangen…« »Irgend jemand mußte es doch tun«, murmelte Massimu, »und ich darf das Raumschiff nur im Notfall verlassen. Sagt ehrlich: Hätte ich einen von euch mit aussteigen lassen sollen?« Er sah seine Gefährten verstört an. »Ich werde Rede und Antwort stehen…« »Du bist verrückt«, sagte Cedrice, »hör auf, dir Vorwürfe zu machen. Keinen von uns trifft eine Schuld.« »Ist das auch deine Meinung, Henry?« »Natürlich - hört auf mit diesem Thema.« Cedrice erhob sich. »Es wird Zeit, daß wir die Sonde öffnen.« Sie folgten ihm in die Kommandozentrale. Cedrice nahm die Sonde aus dem Netz. Die interstellare Materie hatte die polierte Oberfläche zerkratzt, an einigen Stellen waren Einschläge von kleinen Meteoriten zu erkennen. Massimu gab einen Bericht an die Leitstation. Dann schilderte er, wie Cedrice den Verschluß der Sonde öffnete. Alle drei stießen Rufe der Überraschung aus, als die Kugel auseinanderklappte. In ihrem Innern lag ein Buch. Cedrice nahm es heraus und schlug es auf. Es waren Tagebuchnotizen. »Es ist das Bordtagebuch der ›Darwin‹!« rief Massimu ins Mikrophon. »Nein«, sagte Cedrice. Seine Stimme klang leise, als spräche er für sich. Er hatte die Seiten durch die Finger gleiten lassen. Fassungslos las er einige Worte. »Es ist nicht das Bordtagebuch. Diese Aufzeichnungen stammen von meinem Vater.« Während Cedrice einige Stellen des Textes überflog, entnahm Jephson der Sonde einen Briefbogen. Er enthielt den gleichen Hilferuf, den Ardsley und Hunter schon in der ersten Sonde gefunden hatten. Auch die vier Unterschriften waren dieselben. Als sie jedoch die Bahndaten verglichen, zeigten sich Differenzen. Die Unterschiede waren nicht groß, aber sie genügten, um am Ende andere Bahnwerte zu erhalten. Massimu gab die neuen Angaben zur Station durch.
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Cedrice hing an einer Magnethalterung; sein Gesicht war gerötet. »Noch fünf sind am Leben«, sagte er beklommen, »das geht jedenfalls aus einigen Zeilen hervor.« »Wir haben in einer falschen Sphäre gesucht«, sagte Massimu. »Wir müssen uns darauf gefaßt machen, noch einige Wochen zu suchen.« »Wenn wir sie nur finden«, sagte Jephson. Cedrice sah ihn an. »Wir müssen sie finden, Henry. Ich schwöre euch: Wir werden sie finden.« »Hoffentlich rechtzeitig«, murmelte Jephson. »In einer Stunde wissen wir mehr«, sagte Massimu, »dann haben wir die neuen Bahndaten - und Zeit genug, das Tagebuch zu lesen.« Es dauerte nur vierzig Minuten, bis die neuen Angaben über den Bahnverlauf der »Darwin« eintrafen. Wenn diese neuen Daten stimmten, dann mußten sie das verunglückte Raumschiff in spätestens fünfundzwanzig Tagen gesichtet haben. Abermals erzitterte der Rumpf der »Kepler«. Die automatische Programmsteuerung lenkte das Raumschiff in neue Tiefen des Alls. Sie hatten jetzt viel Zeit, die Tragödie an Bord der »Darwin« nachzulesen.
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XXI An Bord der «Charles Darwin» Von allen Naturgesetzen, die in uns wirksam sind, ist wohl der Selbsterhaltungstrieb das eigentümlichste Phänomen. Jahrtausende hat der Mensch gebraucht, um zu erkennen: Im Universum gibt es keinen ordnenden Verstand. Nur der Mensch allein, diese erstaunliche Form der Materie, vermag es, sich in bescheidenem Maße die Naturgewalten nutzbar zu machen. Jede Kreatur hängt an diesem traumhaften Augenblick, den wir Leben nennen. Warum aber erhalten wir uns, wir, die Hilflosesten und Ohnmächtigsten in diesem Universum, noch am Leben? Wir existieren, umgeben von Metallwänden, und wir wissen, daß wir tatenlos bis ans Ende unserer Tage hierin verharren müssen. Was hindert uns daran, Schluß zu machen? Ist es Furcht? Oder Hoffnung? Ja, wir hoffen. Wir spielen damit in immer neuen Varianten; wir belügen uns gegenseitig. Wir, das sind fünf Menschen. Vielleicht ist es besser, wenn ich sage: Lebewesen. Es kennzeichnet unser Dasein richtiger. Lebewesen in einer anderen Welt, dahinvegetierend, seelisch gebrochen, von stoischem Gleichmut, Würmer in einem Sarg, aus dem es kein Entrinnen gibt. Ein lebendiges Menetekel der Apokalypse, ein Splitter der Erde. Zeichnen wir ihren Weg vor? Doch was geht uns die Erde noch an! Es gibt viele im Universum. Die Natur ist freigebig… Einmal, am Anfang unserer Tragödie, hatten wir uns die Hand darauf gegeben, niemals den Freitod zu wählen. Was für kindliches Spiel. Wir sind längst gestorben. Die Stimme der Logik ist lauter als die der Hoffnung; diese Stimme sagt uns, daß wir die Erde nicht mehr wiedersehen. Nur ein funkelndes Staubkorn ist von ihr geblieben, unerreichbar. Wir haben viel gerechnet. Was sollten wir in diesem vermaledeiten Gefängnis auch sonst tun? Wir haben errechnet, daß unser Wrack in dreihundertvierundfünfzig Jahren in Erdnähe gelangen wird. Dann könnte man uns von dort sogar mit einem guten Spiegelteleskop sehen. Dreihundertvierundfünfzig 181
Jahre! Der Funke Hoffnung in uns, dieser schöne Selbstbetrug, wehrt sich gegen die Vernunft. Denn diese Vernunft sagt: Ihr werdet die Erde nicht mehr wiedersehen. Doch wenn ihr schon nicht lebend gerettet werden könnt, dann wird man euch einmal finden und auf der Erde bestatten! Ein tröstender Gedanke… Durch die Teleskope können wir unsern Heimatplaneten sehen. Er ist von einem bläulichen Heiligenschein umgeben. Von hier aus, aus den Tiefen des Weltenraumes, sieht er aus wie die anderen Sterne. Manchmal kann ich nicht begreifen, daß sich meine Worte an die Bewohner dieses fernen Sternes wenden. Das Bordtagebuch wird schon seit langem nicht mehr ausgefüllt. Ich will versuchen zu beschreiben, wie sich die Katastrophe abspielte und was sich später, bis zu dieser Stunde an Bord ereignete. Früher, als ich noch auf der Erde lebte, war es immer mein Wunsch gewesen, ein Buch über das Leben in einem Wassertropfen zu schreiben. Ich fand nie die Zeit dazu. Jetzt habe ich Zeit, und es ist das einzige, was wir ausreichend haben. Freilich, der Wassertropfen, über den ich einst erzählen wollte, ist eine Megawelt gegen unser Wrack. Nur in einem gleichen wir uns: Auch in unserem Lebensbereich treten immer mehr jene barbarischen Naturgesetze in den Vordergrund, denen sich die vernunftlose Kreatur zu unterwerfen hat. Langsam und unabwendbar paßt sich unser Bewußtsein diesen Lebensbedingungen an. Wie viele Monate werden noch vergehen, bis wir jenen Lebenskreis wieder erreicht haben, aus dem die Menschheit einmal hervorgekommen ist? Ich bin Roger Stuart, Erster Ingenieur der »Darwin«. Mit meinen dreiundvierzig Jahren bin ich der Älteste an Bord. Doch darüber und über andere Nebensächlichkeiten finden sich genügend Angaben in den Akten, die über mich und meine Gefährten wahrscheinlich unter der Bezeichnung »Katastrophenfall Darwin« abgeheftet sind. Ich werde mich bemühen, das nachzutragen, was man in diesen Unterlagen nicht lesen kann. Wir hadern nicht mehr mit unserm Schicksal, und wir hegen auch gegen unsere Zeitgenossen, die uns aufgegeben haben, keinen Groll. Versucht auch ihr, uns zu begreifen. Vor einiger
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Zeit las ich in der Ilias. Dort fand ich einen Vers, den ich an den Anfang meiner Aufzeichnungen stellen möchte: Gleich wie die Blätter im Walde, so sind die Geschlechter der Menschen; Einige streuet der Wind auf die Erd’ hin, andere wieder Treibt der knospende Wald, erzeugt in des Frühlings Wärme; So der Menschen Geschlecht; dies wächst, und jenes verschwindet. Einunddreißigster Oktober Achtundvierzig Stunden nach dem Start hatten wir die Sphäre erreicht, in der die Anziehungskraft des Mondes wirksam wurde. Heute liegt dieses Ereignis lange zurück, aber es gibt Dinge, die sich unauslöschlich ins Gedächtnis einprägen; auch wenn die meisten von uns solche und ähnliche Erlebnisse schon des öfteren hatten. Wir standen dicht aneinandergedrängt in der Kommandozentrale, klammerten uns an die Haltegriffe und starrten auf den anwachsenden Mond. Die Fernsehkamera übertrug Bilder von uns zur Leitstation. Wir hörten auch den Sprecher, der uns aufmunterte, aber in uns war in diesen Augenblicken nur ein Gedanke: Versagt jetzt die Programmsteuerung, dann werden wir wie ein Geschoß mit riesiger Geschwindigkeit auf dem Mond zerschellen. Noch jetzt höre ich, wie es am Schaltpult summte, ich sah, wie unablässig Lampen aufblitzten. Und ich höre auch noch Gyula, als er sagte: »Es geht doch nichts über eine automatische Steuerung. Ich möchte wetten, daß wir rechtzeitig ausweichen…« Das sollte sich heiter anhören, klang aber todernst. Es erging meinen Gefährten nicht anders als mir. Der Anblick des auf uns zurasenden Ungeheuers verschlug mir den Atem. Ich hatte die Vorstellung, ein Fabelwesen stürze auf uns zu. Unwillkürlich duckten wir uns. Unser Leben hing von winzigen Stromimpulsen ab. Ein gigantisches Grab näherte sich uns. Dabei hatten wir einen ähnlichen Vorgang alle schon einmal erlebt. Setzte ein Raumschiff von einer Kreisbahn um die Erde zur Landung an, schien auch die Erde die Heimkehrenden verschlingen zu wollen. Doch bei diesem Näherkommen tauchte man bald in den Schimmeldunst der Atmosphäre ein. Alles lebte; man sah Wolken, Wasser,
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Kontinente, Städte und Wälder. Die Erde empfing den Heimkehrenden freundlich. Der Mond jedoch, diese Leiche unter den Himmelskörpern, war kalt. Die Konturen seiner Gebirge, das fahle Gelb der Ebenen, der monotone Kontrast zwischen hell und dunkel blieben unverändert. Das war es wohl auch, was jenen gespenstischen Eindruck in uns hervorrief. Ich glaube, man hat unser Aufatmen bis zur Erde gehört, als die zerklüftete Kugel plötzlich unter uns wegtauchte. Das Elektronengehirn hatte uns präzise auf eine Kreisbahn um den Mond gesteuert. Später, nach einer oder zwei Umkreisungen, erfuhren wir, daß unser Bahnverlauf nicht genau mit den Vorausberechnungen übereinstimmte. Es wäre eine Kleinigkeit gewesen, eine Korrektur vorzunehmen. Nur fünfzig Meter hätten genügt, fünfzig Meter weiter von der Mondoberfläche entfernt, und wir wären nach dem vorgeschriebenen Zeitablauf wieder auf der Erde gelandet. Fünfzig Meter nur! Jetzt hocken wir hier… Erster November Die ersten Umkreisungen waren interessant, denn vieles war neu für uns. Neu war das komplizierte Labor, in dem durch Photosynthese Nahrung erzeugt wurde, ein Konzentrat, von dem wir uns im Verlaufe des Testes ernähren mußten; neu waren die drei Speichen der »Darwin«, die sich während des Fluges um den Mond wie ein Karussell drehten und in denen wir das Gefühl der Schwerkraft zurückerhielten. Wir - das waren damals noch sechs mehr oder weniger junge Leute aus den verschiedensten Gegenden Eurasiens. Unser »Paganini« zum Beispiel stammte aus Indien. Sein Name ist Dahli Shitomir, aber wir nannten ihn schon bei der Vorbereitungszeit auf der Erde Paganini, weil er ein Musikenthusiast war und sich vorgenommen hatte, während unseres Testfluges eine Symphonie zu schreiben. Wir hätten ihn auch Fakir nennen können, denn mit seinen pechschwarzen Augen und dem dürren Körper glich er einem Angehörigen jener indischen Bettlerkaste.
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Die Höflichkeit hätte es mir geboten, unseren weiblichen Passagier zuerst vorzustellen, doch solche Umgangsformen haben nur auf der Erde Gültigkeit. In diesem Miniaturplaneten ist manches anders geworden. Nun gut; Sonja. Was soll ich über sie sagen? Unsere Ärztin, immer hilfsbereit - ich werde noch viel von ihr zu erzählen haben. Auch die Geschichte mit Gyula werde ich wiedergeben. Das ist der Vorteil, den mein Tagebuch hat: Ich brauche auf niemanden Rücksicht zu nehmen, weder auf mich noch auf meine Gefährten, noch auf eine Umwelt, die es für uns nicht mehr gibt. Fast hätte ich Grund zur Freude… Gyula ist in Ungarn zu Hause. Als er sich auf diesen Flug vorbereitete, feierten wir seinen dreiundzwanzigsten Geburtstag. Er könnte mein Sohn sein. Manchmal habe ich Mitleid mit ihm. Aber das wird immer seltener. Und was soll das, Mitleid? Wir teilen ja sein Schicksal. Es lohnt nicht, darüber zu grübeln - zu oft haben wir es schon getan. Man wird verrückt, wenn man über alles nachdenkt. Da sind noch Dschi und Michael zu nennen. Ich kann mich kaum noch besinnen, woher sie stammen. Europa? Asien? Diese Geographie! Wir haben uns auf allen Kontinenten wohl gefühlt, Ländernamen hatten nur geographische Bedeutung für uns. Das hängt mit unserm Beruf zusammen. Was bleibt denn von Ländern und Kontinenten, wenn man mit einem Raumschiff aufsteigt? Schon nach wenigen Flugkilometern schrumpfen sie zu Kleingärten zusammen. Übrig bleibt die Erde, eine kleine Kugel. Sie allein ist unsere Heimat. Die Raumfahrt hat sie endlich zu dem gemacht, was sie ist: ein Stern unter Sternen, bevölkert mit klugen Menschen und mit Schwachköpfen, mit kultivierten und barbarischen Lebewesen. Heute ist es unfaßbar für mich, daß sich Menschen um einen Zipfel Land nicht nur streiten, sondern sogar gegenseitig totschlagen können. Doch das berührt uns nicht mehr. Also über Dschi und Michael wollte ich ein paar Worte sagen. Dschi ist Mathematiker. Ich glaube, er stammt aus der Gegend des Bain-karaula Gebirges. Wie er mit vollem Namen heißt, habe ich vergessen. Es ist ein langer Name, bei dem man sich die Zunge zerbricht. Wir nennen ihn seit eh und je Dschi. Von Dschi strahlt zu
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jeder Zeit eine wohltuende Ruhe und Zuversicht aus. Er ist auch heute noch überzeugt, daß wir gerettet werden. Doch ich beschreibe ja den ersten November, jene Zeit, da wir alle noch gesund und zuversichtlich waren. Unser Michael Kowtun, Kommandant der »Charles Darwin«, hielt Verbindung zur Leitstation. Er sprach wenig mit uns. Seine Anordnungen waren Befehle, die wir widerspruchslos ausführten. Er war bereits einmal in Mondnähe, und er wäre mit der »Darwin« auch zum Mars oder zur Venus geflogen. Nach seiner Ansicht wäre ein solcher Flug nicht leichter und nicht schwieriger gewesen. Michael, Dschi, Sonja, Gyula, Paganini Namen. Auf der Erde waren sie wichtig; hier würde auch eine Ziffer genügen. Die sonderbare Zusammensetzung unserer Besatzung hatte übrigens etwas mit dem Test zu tun. Wir kamen aus verschiedenen Kulturkreisen, und die Wissenschaftler interessierten sich für unsere Gedärme. Sie wollten wissen, wie wir auf diese Labornahrung reagieren. Um die Wahrheit zu sagen, ein Brathähnchen oder ein Steak mit gerösteten Zwiebeln schmeckt bedeutend besser. Doch mit der Zeit gewöhnt man sich an dieses Konzentrat. Auch erhält außerhalb der Erde manches einen anderen Sinn. Auf der Erde genießt man das Essen, man serviert es. Man verzehrt Suppen und Pasteten und dies und jenes - du lieber Himmel! Hier heißt essen, dem Körper neuen Brennstoff zuführen. Es bedeutet nicht mehr und nicht weniger als leben. Und damals dachten wir auch: Was sind schon die paar Wochen, sie gehen vorüber… Erster November, vierte Umkreisung Wir sollten uns selbst beschäftigen, konnten tun und lassen, was wir wollten. Unsere Selbstdisziplin sollte auf die Probe gestellt werden. Mehr oder weniger intensiv betrieben wir alle ein Hobby. Ich las viel, Dschi fand es unterhaltend, mathematische Experimente durchzuführen, Gyula photographierte oder zeichnete. Sonja hatte mit ihren täglichen medizinischen Untersuchungen vollauf zu tun, und der Kommandant war auch genug beschäftigt. Paganini komponierte. Natürlich nahmen wir das nicht ernst. Keiner vermochte ihm zu fol-
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gen, wenn er über seine »Neuschöpfung« theoretisierte. Seine mathematische Begabung fand auch in seinen Notenbildern ihren Niederschlag. Doch was auch aus dieser musischen Neigung einmal werden würde, hier, während des Testfluges war sie ein nützliches Hobby, das ihn gegen Langeweile feite. Vorerst fesselte uns jedoch noch immer das Bild, das an uns vorüberzog. Mit unseren Objektiven konnten wir die Mondoberfläche in allen Einzelheiten beobachten. Im Mare Humboldtanium sahen wir die automatisch abgesetzte Relaisstation, über die wir Verbindung zur Leitstation aufrechterhielten. Auch die automatisch abgesetzten Lastenraketen konnten wir erkennen. Dann verdunkelte sich unsere Sicht etwas, bis wir schließlich den Mondkernschatten durchflogen. Fünfundvierzig Minuten dauerte diese Nacht. Am reizvollsten aber war der Anblick der Erde. Sie war von strahlender Helle. Doch nach den bekannten Formen der Kontinente suchten wir vergeblich. Nur schattenhafte Umrisse konnten wir erkennen. Es war ein unvergeßlicher Anblick, wenn sich die riesige Erdkugel langsam über den Horizont der Kraterlandschaft schob, wenn sie mit ihrer strahlenden Aureole zum Mittelpunkt in dieser samtschwarzen Nacht wurde. Wenige Tage noch, und wir mußten Augenzeugen einer Sonnenfinsternis werden. Diese Bilder fesselten uns in den ersten Stunden. Doch sie wiederholten sich, und Paganini war der erste, der des immer wiederkehrenden Schauspiels überdrüssig wurde. Ihn trieb es an seinen kleinen Klapptisch in der Kabine, wo Notenblätter und Schreibzeug lagen. Er war voller Ideen und befriedigt über die Grabesstille, die ihm der Kosmos schenkte. Nach einigen weiteren Umkreisungen erlosch auch bei uns allmählich das Interesse an der Mondgeographie. Wir hatten genug Lektüre an Bord, und Sonja achtete streng darauf, daß wir im »Gemüsegarten« unsere Mahlzeiten pünktlich einnahmen und die Gymnastik nicht vernachlässigten. Erster November, zehnte Umkreisung Zehnte Umkreisung. Wir ahnten nicht, was sich in wenigen Minuten ereignen würde. Es war kurz vor zwanzig Uhr Weltzeit. Der Mond hatte sich wieder vor die Erde geschoben. Bei uns allen war
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zum ersten Male ein richtiges Hungergefühl aufgetreten. Wir mußten uns an die Nährflüssigkeit dieses Laborkonzentrats erst gewöhnen. Doch es gab noch mehr Überraschungen. Eine Stunde zuvor hatte Sonja erklärt, daß wir später Kunststoffplättchen mit verzehren sollten. Wir hatten bei dieser Unterhaltung viel gelacht, denn der empfindsame Dahli Shitomir, unser Paganini, war empört über diese Art der Ernährung, die darin bestand, daß wir die Plättchen immer wieder reinigen und von neuem verzehren mußten. Kosmos-Ökonomik. Michael hatte die Verbindung mit der Leitstation hergestellt. Ich stand bei ihm, und später erschien auch Gyula. Der Kommandant gab die üblichen Zahlen durch, Luftdruck, Temperatur, Luftfeuchtigkeit und Meßwerte aus dem Labor. Als er eine Pause machte, zog sich Dahli Shitomir in die Kommandozentrale. Er strahlte und sagte aufgeregt: »Mischa, ich brauche einen Sendetermin. Ich habe eben die Partitur vom ersten Satz beendet. Frage Doktor Mesenzew, wann ich die Noten durchgeben kann.« »Laß mich gefälligst mit deiner Symphonie zufrieden«, antwortete der Kommandant ärgerlich. »Was bildest du dir ein? Sind wir ein Musizierklub?« Ich wußte, daß Dahli Shitomir mit Dr. Mesenzew über einen solchen Sendetermin gesprochen hatte, deshalb unterstützte ich ihn. Michael Kowtun erkundigte sich dann auch und bekam einen Sendetermin genannt. Es sollte ein Geburtstagsgeschenk für Shitomirs Bruder sein. Paganim entfernte sich nach dieser Zusage zufrieden. »Ideen hat er«, sagte Kowtun kopfschüttelnd, »Noten zur Leitstation durchgeben! Lächerlich, Symphonie, erster Satz. Aber ich will nichts gesagt haben, sonst heißt es noch, man wäre ein Kulturbanause. Ist denn etwas dran an seiner Musik?« »Gar nichts«, sagte Gyula neben mir, »es hört sich an wie Störgeräusche bei Kurzwellenempfang.« »Ganz so schlimm ist es nicht«, verteidigte ich unseren Komponisten, »er versucht etwas Neues - warum nicht?« Die Station meldete sich. Man wollte den täglichen Bericht von Sonja. Ich rief sie. Sonja war mit ihrer Auswertung noch nicht ganz fertig und bat um einige Minuten Geduld. »Er sollte anständigen Jazz
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komponieren«, nahm Gyula das Thema wieder auf, »seine Musik muß man nämlich erst studieren, ehe man sie begreift.« »Auch noch studieren«, brummte Kowtun. Er wollte noch etwas sagen, doch dann geschah etwas Merkwürdiges. Durch das Raumschiff ging ein Vibrieren. In der gleichen Sekunde leuchteten an den Schalttafeln mehrere Lampen auf. Die Zeiger einiger Meßskalen fingen an zu pendeln. »Was ist das?« rief ich unwillkürlich. Niemand antwortete. Eine immer stärker werdende Kraft drückte uns gegen die Wandung der Kommandozentrale. Das erfolgte so überraschend, daß wir gar nicht zur Besinnung kamen. Ein an- und abschwellender Summton machte die Verwirrung vollkommen. Ich wollte mich von der Wand lösen, doch der Druck wurde immer größer und machte mich fast bewegungsunfähig. Ich weiß nicht mehr, wieviel Zeit verging, bis ich ahnte, was geschehen war. Auf jeden Fall mußte sich der Antrieb der »Darwin« eingeschaltet haben. Das konnte durch einen Defekt geschehen sein. Es war aber auch möglich, daß unser photoelektronisches Suchgerät etwas registriert hatte, was sich auf unserer Bahn bewegte. In einem solchen Falle wich die »Darwin« der Gefahr durch erhöhte Geschwindigkeit automatisch aus. Darüber nachzudenken, fanden wir keine Zeit. Mein Rücken schmerzte; ich wurde gegen einen Schalthebel gedrückt. Auch meine beiden Gefährten befanden sich in einer recht unglücklichen Lage. Während wir uns mit aller Kraft diesem starken Druck entgegenstemmten, ging auf einmal ein Beben durch das Raumschiff. Zugleich trommelte und kratzte etwas an den Außenwänden; es hörte sich an wie ein Bombardement. Überall erlosch das Licht, Notlampen leuchteten auf, sie verbreiteten nur geringe Helligkeit. Dann war alles wie vordem. Tiefe Stille und Schwerelosigkeit. Nur das trübe Licht der Notbeleuchtung erinnerte daran, daß wir eine Kollision gehabt hatten. Für Sekunden lähmte uns noch immer der Schreck. Als erster faßte sich Gyula. Er schrie verzweifelt: »Wir stürzen ab!« Ich dachte etwas Ähnliches, aber dann fiel mir die Geschwindigkeitszunahme ein. Es war unwahrscheinlich, daß wir auf den Mond stürzten. In die Stille drang schmerzerfülltes Stöhnen. Es kam aus
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Dahli Shitomirs Kabine. Im Lautsprecher knackte es, der Sprecher der Leitstation rief: »Hallo, ›Charles Darwin‹, was ist passiert? Kommandant Kowtun, antworten Sie!« Michael Kowtun war nicht mehr in der Kommandozentrale. Einen Augenblick später hörte ich ihn rufen. Zu verstehen war nichts, denn die Station rief uns noch immer, und Shitomir stöhnte, als läge er im Sterben. Ich zog mich zum Mikrophon und berichtete mit zwei Sätzen von der Kollision. Dann hörte ich Kowtun erneut rufen. Seine Stimme kam aus dem Heck. »Der Luftdruck fällt«, sagte Gyula, »wir sollen auf den Druck achten.« Ich sah auf den Druckmesser. Der kleine Zeiger tanzte über die Zahlen; lähmendes Entsetzten packte mich. »Zu Ende«, hörte ich Gyula neben mir flüstern, »wenn wir nicht auf den Mond stürzen, sind wir in einer halben Stunde erstickt.« Er packte mich an der Schulter. »Stuart, sag, was machen wir? Wir krepieren, du lieber Himmel, wir müssen ersticken!« Fast gleichzeitig tauchten Dschi und Sonja auf. Dschi blutete an der Stirn. Sonja fragte, was passiert sei, und beantwortete dann ihre Frage selbst mit der sinnlosen Bemerkung: »Wir sind abgestürzt.« Ich wies auf den Druckmesser. »Irgendwo ist ein Leck! Es ist aus, Dschi.« »Wir werden das Leck finden«, antwortete Dschi. Er sagte es so ruhig, als befänden wir uns auf der Erde beim Training. Im ganzen Raumschiff verteilt, hingen an den Bordwänden kleine Schweißflaschen. Sie enthielten ein chemisches Präparat, das unter Druck und Hitzeentwicklung herausgedrückt wurde. Diese Substanz verband sich mit dem Metall - man konnte alles damit abdichten, aber man mußte wissen, wo sich das Leck befand. Es wäre zu hören gewesen, wenn der Druck aus einer kleinen Öffnung entwich, aber dazu war Stille erforderlich. Auf der Station hatte man offenbar meine Worte nicht empfangen, denn noch immer forderte uns der Sprecher auf, eine Meldung abzugeben. Dschi schaltete den Empfang ab. Jetzt war nur noch Shitomirs Stöhnen zu vernehmen. »Ruhe, Paganini«, rief Dschi. Tatsächlich hörte der Verletzte einen Augenblick auf zu wimmern. Dschi nahm sich die Schweißflasche aus dem Kommandoraum und tastete sich zu einer Speiche. Wir besorgten uns ebenfalls
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solche Flaschen, horchten an den Wänden. »Wir finden das Leck nie!« rief Gyula erbost. »Wenn doch der Kerl nur fünf Minuten den Mund hielte!« Paganini mußte sich schwer verletzt haben. Ich kroch zum Eingang meiner Kabine. Die Speichen standen still, unser Karussell drehte sich nicht mehr. Um so mehr schlingerte das ganze Raumschiff. Der Stabilisator arbeitete nicht. Hinter den Bordfenstern zogen die Sterne merkwürdige Kreise, dann und wann blitzte das Sonnenlicht wie ein greller Scheinwerfer herein. Gyula war in die Kommandozentrale zurückgekrochen. Verstört sah er auf die Instrumente. Die Zeiger und Meßschreiber, die den Schub der »Darwin« registrierten, waren auf Null gesunken. Es gab keine Beschleunigung mehr. Wir flogen mit unglaublicher Geschwindigkeit irgendwohin. Alles schien zerstört zu sein, nur der Druckmesser nicht. Dort kreisten die Zeiger unaufhörlich und zeigten uns das bevorstehende Ende an. In einem Anfall von Verzweiflung schrie Gyula unser Unglück ins Mikrophon und schaltete auf Empfang. »… meldet euch«, tönte es aus dem Lautsprecher, »hier ist Station drei, wir rufen ›Charles Darwin‹, meldet euch, hier ist Station drei…« Ich schaltete ab und forderte Gyula auf mitzusuchen. Er schüttelte nur den Kopf. »Vorbei, Stuart, wir ersticken. Die Luft ist schon dünner geworden. Ich nehme die Reserveflaschen, ich will nicht sterben…« Ihm waren die Nerven durchgegangen, aber er hatte recht, die Luft schien anders geworden zu sein. Gyula eilte in seine Kabine. Es gab für jeden eine solche Flasche. Doch was nutzte sie? Anderthalb Stunden konnte man damit atmen. Ich schleppte mich ins Labor und tastete dort die Wände ab. Nichts war zu hören und zu sehen. Der Inder war inzwischen still geworden. Ich wollte zurückkriechen, da elektrisierte mich Sonjas Ruf. Sie hatte das Leck gefunden. Als ich bei ihr war, traf auch Dschi ein. Dann kam Gyula, sein Sauerstoffgerät auf dem Rücken. Das Leck befand sich vor dem Eingang der Speiche, die zu Dahli Shitomirs Kabine führte. Sonja hatte es durch Zufall entdeckt. Sie wollte dem Inder helfen. Der Eingang zur Speiche war etwas verbogen. Als sie sich hindurchzwängen wollte, hatte sie gehört, wie der Sauerstoff durch einen Riß entwich. Wir
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dichteten die Öffnung sorgfältig ab. Zwei Minuten später war der Schaden behoben. Gyula zog sich zur Kommandozentrale und kam gleich darauf wieder zurück. Er lachte und umarmte mich. »Stuart, Sonja, Dschi, wir sind gerettet, der Luftdruck fällt nicht mehr!« »Dann kannst du ja dein Sauerstoffgerät zurückbringen«, sagte Dschi. Gyula nickte verlegen. Auf meiner Stirn perlte Schweiß. Immer wieder blickten wir auf die Nahtstelle. Von dieser winzigen Öffnung hatte unser Leben abgehangen. »Das hätte schiefgehen können«, sagte Dschi und drückte Sonjas Hand. »Wir wollen uns um Paganini kümmern. Hoffentlich ist es nicht zu schlimm.« Sie kroch in die Speiche. »Ihre Ruhe möchte ich haben«, sagte ich. Gyula kam wieder. »Ich werde mit der Station sprechen.« Als er sich zur Kommandozentrale entfernen wollte, tauchte Sonja an der Speiche auf. Sie balancierte den bewußtlosen Dahli vorsichtig hinaus. Den armen Kerl hatte es arg mitgenommen. Er mußte bei der plötzlichen Geschwindigkeitszunahme gegen eine Metallkante geschleudert worden sein. Am Kopf hatte er nur eine kleine Wunde, aber aus einem Ohr rann Blut, und auch sein rechtes Auge war verletzt. »Schädelbruch«, sagte Sonja. Wir brachten den Bewußtlosen vorsichtig in den Sanitätsraum. Während sich Sonja um den Verletzten bemühte, versuchten Dschi, Gyula und ich eine Verbindung mit der Leitstation herzustellen. Immer wieder riefen wir die Station, nannten unsere Namen, doch als Antwort kam aus dem Lautsprecher nur der Ruf: »Station drei ruft ›Charles Darwin‹, meldet euch! Kommandant Kowtun, antworten Sie!« Uns fiel auf, daß wir Michael seit der Kollision nicht mehr gesehen hatten. Ich erinnerte mich, daß er uns auf den fallenden Druck aufmerksam gemacht hatte. »Er wird in seiner Kabine sein«, sagte Dschi, »ruft weiter die Station, ich hole ihn.« »Das ist merkwürdig«, sagte Gyula. Wir sahen uns an und meinten in diesem Augenblick wohl das gleiche. Ich jedenfalls dachte, daß er die Nerven verloren hatte. Vielleicht wartete er in seiner Kabine auf das Ende? Kowtun besaß mehr Raumpraxis als wir, und wir kannten ihn eigentlich nur als ruhigen und besonnenen Gefährten. Aber wir
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kannten uns ja alle nur aus normalen Zeiten. In Stunden der Gefahr, wenn sich unerwartet der Abgrund öffnete, fiel alles ab, was die heldenbedürftige Mitwelt so manch einem Zeitgenossen angehängt hatte. Übrig blieb der nackte Mensch mit sekundenschnellen Erinnerungen und mit seinen Ängsten. Ich maßte mir nicht an, darüber ein Urteil zu fällen. Auch Gyula schwieg in Erinnerung an seine eigene Not. Er rief erneut die Station. Sie hörten uns nicht. »Lassen wir das jetzt, Gyula. Die Sender sind defekt, wir werden sie in Ordnung bringen. Es wird Zeit, daß wir feststellen, wohin wir eigentlich trudeln. Auf jeden Fall hat uns irgendein kleiner Asteroid erwischt. Zum Glück hat ihn das Suchgerät rechtzeitig erfaßt und die automatische Beschleunigung ausgelöst.« »Das nennst du Glück? Hätten wir uns nicht beschleunigt, wäre das Miststück an uns vorbeigesaust.« Er beging einen Denkfehler. »Du bist naiv«, sagte ich. »Wäre diese Beschleunigung nicht gewesen, dann stünden wir jetzt nicht hier. Wir waren wahrscheinlich genau auf der Bahn dieses Brockens. Er hätte uns zermalmt. So wurde der Aufprall abgefangen. Er wird einiges demoliert haben.« Von diesen Asteroiden waren einige Hundert registiert, aber Zehntausende zogen noch unentdeckt auf unbekannten Bahnen um die Sonne. Nach den Wahrscheinlichkeitsrechnungen war die Möglichkeit eines solchen Zusammentreffens nicht größer als etwa der Zufall, von einem herabfallenden Dachziegel bei einem Spaziergang getroffen zu werden. Uns hatte es getroffen, und es war zwecklos, jetzt darüber zu grübeln. Wir hatten andere Sorgen. Dschi zog sich heran. »Ich habe überall gesucht. Er ist weder in der Kabine noch im Gemüsegarten.« »Vielleicht ist er ausgestiegen«, meinte Gyula. Ich erinnerte mich, seine Stimme aus der Richtung des Hecks vernommen zu haben. Als ich diese Möglichkeit erwähnte, sagte Dschi: »Er ist beim Reaktor, natürlich ist er dort. Wir Dummköpfe, er überprüft das Wichtigste an Bord: unsere Energiequelle. Ohne Energie wären wir ziemlich hilflos.«
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Ich hielt ihn zurück, als er sich in Richtung Heck entfernen wollte. »Dschi, dieser Asteroid, oder was es sonst war, hat uns am Heck erwischt. Der Reaktor wird uns nicht mehr viel nützen.« »Und einen Strahlenschutzanzug hatte er auch nicht an«, ergänzte Gyula. Wir hatten Furcht vor einer Strahlenverseuchung. Dschi gab keine Antwort. Er zog sich zum Heck. Zögernd folgten wir ihm. Sein Verdacht bestätigte sich. Die Schotten waren geöffnet. Einen Augenblick lang sahen wir uns an. Dieser Weg war unheimlich. Der schmale Gang wurde durch zwei Zwischenschotten getrennt. Überall warnte das Zeichen für Radioaktivität. Man durfte diese kleinen Räume nur mit Schutzanzügen betreten. Trotzdem kroch Dschi weiter, und wir begleiteten ihn. Michael Kowtun, unser Kommandant, befand sich nicht in den Zwischenräumen. So blieb nur noch eine Möglichkeit: Er mußte in der Reaktorkammer sein, einem Raum, einen Meter mal achtzig Zentimeter groß. Wenn er sich dort aufhielt, war er ein toter Mann. »Er kann nicht hier sein«, flüsterte Gyula, »was wollte Mischa hier?« Wir verharrten vor der geöffneten Luke des letzten Schotts. Die Tür zur Reaktorkammer war angelehnt. Keiner brachte ein Wort heraus. Es gab keinen Zweifel, in dieser Kammer hockte er. Warum? Was suchte er dort? Ein Verzweiflungsakt? Wollte er in einem Anfall von Panik sein Ende erleichtern? Dazu hätte es andere Möglichkeiten gegeben. Wir hatten Ampullen an Bord, die uns im Notfall schnell einschläferten. Wohl über eine Minute lang schwiegen wir, dann sagte Dschi: »Er wird einen Schutzanzug tragen.« Dschi wußte so gut wie ich, daß Michael keinen Schutzanzug tragen konnte. Er hatte gar nicht die Zeit gehabt, diesen Anzug anzulegen. Plötzlich zuckten wir zusammen. Aus der Reaktorkammer drang Michaels Stimme. Es hörte sich an, als spräche er aus einem Keller. »Wer ist dort?« fragte er. Ich hatte früher beim Fallschirmspringen oft die wagehalsigsten Verzögerungen riskiert, ich war als Versuchsflieger in Neukonstruktionen geklettert, und die Überlebenschance war hundert zu eins gewesen. Das Wort Furcht war mir immer wie ein Fremdwort erschie-
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nen. Irgendwie gab es immer noch eine Chance davonzukommen. Doch die Worte aus der Reaktorkammer ließen mich erschauern. Dschi sagte mit halblauter Stimme: »Mischa, zum Teufel, komm ’raus! Bist du wahnsinnig?« »Ja«, flüsterte ich, »er muß wahnsinnig sein.« Nur ein Verrückter konnte sich einer tödlichen Dosis Strahlen aussetzen. »Gut, daß ihr endlich gekommen seid«, tönte es aus der Kammer. Gyula zog sich zur Luke. »Ich hole ihn ’raus, er krepiert doch, wir müssen ihm helfen. Mischa!« Er schrie den Namen so laut, daß es durch das Raumschiff gellte. Und er war wirklich entschlossen, Kowtun herauszuholen. Dschi hielt ihn fest. »Es ist genug, wenn einer den Verstand verloren hat. Er kann nicht mehr zurück, er würde uns alle verseuchen.« Wir waren ratlos und blickten unverwandt auf die ovale Tür der Reaktorkammer, als müßte sich dort jeden Augenblick ein Wunder vollziehen. Doch Michael Kowtun befahl nur mit seiner harten, keinen Widerspruch duldenden Stimme: »Dschi, du übernimmst ab sofort das Kommando. Wenn du dich nicht dafür geeignet fühlst, soll Roger Stuart die Leitung übernehmen. Ist das klar?« »Nichts ist klar!« rief ich. »Komm endlich ’raus!« »Ihr habt meinen Befehl gehört«, fuhr Kowtun fort, »ich werde dieses Loch nicht mehr verlassen.« »Hol dich der Teufel!« brüllte Gyula. »Was machst du in der Reaktorkammer? Willst du uns zum Narren halten? Unser Kasten hatte ein Leck. Um ein Haar wären wir erstickt!« Eine Pause entstand, dann tönte es aus der Kammer: »Nein, Gyula, wir wären nicht erstickt, sondern verglüht. Als der Zusammenprall erfolgte, waren die Moderatoren ausgefallen. Die Neutronen hatten bereits eine Geschwindigkeit von mehr als zwölftausend km/s erreicht. Wäre ich eine Minute später in die Kammer gekommen, gäbe es keine ›Darwin‹ mehr. Ich habe eine Sperre eingelegt, die Gefahr ist beseitigt. Jetzt wißt ihr, weshalb ich hier bin. Oder dachtet ihr, ich würde mich zum Vergnügen bestrahlen lassen?« Er bekam keine Antwort. Dschi verlor zum ersten Male seine gewohnte Ruhe und Selbstbeherrschung. Er stöhnte verzweifelt auf und
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murmelte etwas in seiner Heimatsprache, was niemand verstand. Gyula war kreidebleich geworden, und ich war nicht weniger bestürzt. »Vielleicht ist er noch zu retten« sagte ich, »vielleicht kann Sonja etwas tun…« »Rede keinen Unsinn«, rief Kowtun aus seinem Gefängnis, »laß Sonja aus dem Spiel - ihr habt sie nötiger als ich.« »Zwölftausend km/s«, brabbelte Gyula vor sich hin. Er ahnte nur dunkel, was diese Zahl bedeutet. Ich konnte in diesem Augenblick genausowenig klar denken, aber ich wußte, was Kowtun für uns getan hatte. Die bei der Kernspaltung freiwerdenden Neutronen erreichen in der Schlußphase eine Geschwindigkeit von vierzigtausend Kilometern in der Sekunde. Das waren kosmische Energien. Um diese Energie steuern zu können, befanden sich Moderatoren im Reaktor. Sie bremsten die Geschwindigkeit der Neutronen auf zweieinhalb Kilometer pro Sekunde. Bei dem Zusammenprall waren diese Moderatoren betriebsunfähig geworden. Die »Darwin« wäre geschmolzen wie ein Stück Blei. »Kann man denn gar nichts für ihn tun?« flüsterte Gyula. Dschi schüttelte den Kopf. Nein, wir konnten nichts mehr für unsern Michael tun. Es war nur noch eine Frage von Minuten, höchstens einer Stunde, dann lebte er nicht mehr. »Was ist los mit euch!« Kowtuns Stimme klang dumpf. »Habt ihr die Sprache verloren? He, Stuart, Dschi, Gyula, seid ihr noch hier?« »Wir sind noch hier, Mischa«, sagte Gyula gepreßt. »Habt ihr unsern neuen Kurs berechnet?« »Noch nicht«, antwortete Dschi, »wir hatten noch keine Zeit. Können wir etwas für dich tun?« Wieder kam ein tiefer Atemzug aus der Kammer. Dann sagte Kowtun, und seine Stimme klang etwas müder: »Wir werden uns wohl nicht mehr auf einer Kreisbahn bewegen, unsere Geschwindigkeit dürfte ziemlich hoch sein. Leider ist der Reaktor hin, wir können also unsern Flug nicht korrigieren. Was sagt die Station?« Ich wollte ihm sagen, daß wir noch immer keine Verbindung hatten, doch Dschi legte den Finger an die Lippen. Er sagte, daß alles in Ordnung wäre und die Station bereits Rettungsmaßnahmen eingeleitet habe. »Dann ist ja alles in Ordnung«, antwortete
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Kowtun, »in acht Tagen seid ihr zu Hause. Jetzt müssen sie den Test wiederholen. Grüßt sie von mir.« Wieder war Schweigen. Keiner von uns konnte begreifen, daß er, der so gelassen redete, schon zu den Toten zählte. Vielleicht war diese Gelassenheit nur Schau - einerlei, wir verdankten ihm unser Leben, und dieses Drama mit ansehen zu müssen, ging über unsere Kraft. Nur zwei Meter trennten uns von ihm, zwei Meter und eine Tür, die geradewegs in die Hölle führte. »Ich kann das nicht mehr mit ansehen«, flüsterte ich, »hätte er es doch nicht getan…« Seine Stimme klang wie von weit her. Er sagte: »Geht jetzt an eure Arbeit, ihr habt viel zu tun.« »Wir bleiben hier!« sagte Dschi. »Noch bin ich Kommandant!« kam es grollend zurück. »Ich befehle euch, an die Arbeit zu gehen. Nur Gyula soll noch einen Augenblick hierbleiben. Gyula, hast du Schreibzeug und Papier bei dir?« »Ja, Kommandant«, sagte Gyula. »Macht’s gut«, tönte es aus der Kammer, »lebt wohl, und verschwindet jetzt in drei Teufels Namen!« Dschi sah mich an und nickte. Einen Augenblick sah es aus, als wollte er dem Todgeweihten noch ein Wort des Abschieds zurufen, doch dann besann er sich und zog sich schweigend zurück. Ich folgte ihm. Nur Gyula blieb am Schott stehen und wartete in stummer Verzweiflung auf die letzten Worte unseres Kommandanten. Unser gemeinsames Unglück ließ uns nicht zur Besinnung kommen. Noch immer hatten wir keine Verbindung mit der Leitstation, kannten nicht das Ausmaß der Zerstörungen und wußten nicht, wohin wir uns bewegten. Nur eines wußten wir: Vorerst, wenigstens für die nächsten Stunden, drohte uns keine Gefahr. In der Kommandozentrale versuchten Dschi und ich abermals, eine Verbindung zu bekommen. Wir prüften, schalteten, klopften, es nutzte nicht. »Lassen wir es zunächst, Stuart«, sagte Dschi, »ich kann keinen Fehler feststellen - vielleicht sind die Antennen beschädigt.« »Was meinst du, Dschi«, fragte ich, »ob er eine Ampulle bei sich hat? Es wäre doch leichter für ihn…«
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»Hör auf damit.« »Ich kann an nicht anderes denken.« »Wir können ihm nicht helfen«, murmelte er und schaltete den Empfang ein. »Station drei ruft ›Darwin‹! Kommandant Kowtun, melden Sie sich!« »Er ist tot«, schrie ich, »hört ihr denn nicht, er ist hin!« Dschi verschloß den Mund. Ich sagte: »Wir sollten ihm eine Ampulle bringen, Dschi, er hat ein Recht darauf, ruhig einzuschlafen.« »Dann bringe sie ihm«, antwortete er. Ich rührte mich nicht. Ich hatte Furcht, noch einmal diesen Gang zu betreten und seine Stimme zu hören. Diese sechs Ampullen, die wir an Bord hatten, waren für den Katastrophenfall gedacht. Hätten wir zum Beispiel vorhin nicht das Leck gefunden, dann wäre uns der Erstickungstod erspart geblieben. Jedes Raumschiff, das aufsteigt, nahm solche Ampullen mit. »Komm mit, Stuart«, sagte Dschi ruhig, »wir werden versuchen, vom Gemüsegarten aus unsere Position festzustellen.« »Sie werden uns nicht orten, Dschi, sie haben keine Ahnung, ob wir noch am Leben sind.« »Sie werden uns orten. Man wird Raumsonden hochschicken.« Er sagte das so sicher und selbstbewußt, als wäre es die natürlichste Sache der Welt. Wir wollten hinaus, als Sonja vor uns auftauchte. Sie sah uns ernst an. »Wie geht’s Paganini, Sonja?« »Nicht gut«, antwortete sie. »Er ist noch nicht zu sich gekommen. Sein Auge ist in Gefahr, aber seine Kopfwunde macht mir noch größere Sorgen. Er müßte so schnell wie möglich geröntgt werden. Habt ihr inzwischen Verbindung mit der Station aufgenommen?« »Nein«, sagte Dschi, »die Sender arbeiten nicht.« »Es gibt auch noch andere Sorgen«, bemerkte ich. »Mischa ist tot.« Sonja sah mich betroffen an. Sie begriff meine Worte nicht. Ich erzählte mit wenigen Sätzen, was vorgefallen war. Auf ihrem Gesicht malten sich Furcht und Entsetzen. Es sah aus, als würde sie jeden Moment ohnmächtig werden. »Mischa«, flüsterte sie, »Mischa.« Und dann: »Das ist das Ende. Wir haben keinen Antrieb mehr, und sie hören uns nicht - jetzt sind wir ein Planet geworden…«
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»Wir kommen zurück, Sonja«, tröstete Dschi, »wir bewegen uns ja noch unmittelbar vor der Haustür der Erde.« »Das ist das Ende«, wiederholte Sonja, »wir sehen die Erde nicht mehr wieder.« »Diese Stimmung fehlt uns noch«, murmelte Dschi. »Ich schwöre euch, wir kommen zurück. Hört endlich auf, über unser Unglück zu lamentieren. Geh zu deinem Patienten, später werden wir ausführlich alles besprechen. Los, Stuart, komm mit ins Labor.« Ich wollte ihm folgen, aber Sonja klammerte sich verzweifelt an mich. »Geh nicht weg, Roger«, flüsterte sie, »laß mich jetzt nicht allein. Ich habe Angst.« Sie schluchzte und vergrub ihr Gesicht an meiner Schulter. Ich strich ihr übers Haar. »Wein dich aus. Ich wünschte, ich könnte es auch.« Sie sagte unvermittelt: »Wir werden Mischa bald folgen. Das ist wie ein Krieg, aus dem keiner lebend herauskommt.« Ihre Furcht ließ mich etwas anderes sagen, als ich selbst dachte. Gegen meine Überzeugung tröstete ich sie und tat, als wäre alles nur vorübergehend. Und je mehr ich sah, daß meine Worte sie beeindruckten, daß sie neue Hoffnung schöpfte, desto mehr sprach ich von der Heimkehr. »Ist das wirklich deine Überzeugung?« fragte sie unsicher. »Du glaubst, daß wir zurückkehren? Oder willst du mir nur Mut machen? »Beides«, sagte ich. »Wir sind nichts weiter als ein zweiter Mond der Erde. Sie hat sozusagen ein Baby bekommen. Bald wird man uns geortet haben, dann steigen wir brav in ein anderes Raumschiff und sind in zwei, drei Tagen zu Hause.« Sie nickte und atmete erleichtert auf. »Ja, natürlich, Roger, es war dumm von mir - ich hatte für einen Augenblick die Nerven verloren. Entschuldige. Es wird nicht mehr vorkommen.« »Ach was«, sagte ich und verstummte, als sich Gyula auf uns zu bewegte. Sein Blick sagte alles. Er reichte mir ein Blatt Papier. »Gib es durch, Stuart, seine letzten Worte.«
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Ich nahm ihm die Botschaft nicht ab. »Hebe sie auf, Gyula, wir können noch nicht senden. Und später gib den Text selber durch.« »Hat er noch etwas gesagt?« fragte Sonja. »Nein. Nur diesen Text und ein Lebewohl für uns alle. Er lebt noch. Ich habe ihn ein paarmal gerufen, aber er gibt keine Antwort. Er hat mich weggeschickt.« »Ich werde zu ihm gehen«, sagte Sonja. Gyula hielt sie fest. »Geh nicht. Er will allein sein, und du kannst ihm auch nicht helfen. Es ist besser, wenn er diese letzten Minuten mit sich allein ist.« Sonja blieb. Es war auch besser so, Gyula hatte recht. Was hätte man einem Sterbenden sagen sollen? Jedes Wort würde alles nur noch schlimmer machen - für ihn und für uns. Michael Kowtun war tot, und wir konnten ihm vorerst nicht einmal die Augen zudrücken. Wir mußten selbst seinen Leichnam fürchten. Wir waren wie Ameisen auf einem Korkstück, das auf den Wellen des Ozeans trieb. Es war keine Zeit für Trauer, kein Raum für Mitgefühl. Wir konnten uns nicht einmal um Shitomir kümmern, den Sonja auf zwei Klappstützen gebunden hatte und dem eine wohltuende Bewußtlosigkeit noch immer alle Probleme und alle Schmerzen fernhielt. Von Sonja abgesehen, dachten wir auch gar nicht an ihn. Uns schien die Tatsache, daß wir selbst noch lebten, immer wunderbarer. Aber wir wußten noch längst nicht alles. Die letzte und schrecklichste Nachricht brachte uns Dschi, der sich lange Zeit im Labor aufgehalten hatte. Er rief zuerst Sonja. Ich weiß nicht, warum er das tat, aber er wollte unbedingt zuerst mit ihr reden. Dann erfuhren es auch Gyula und ich, aber was er uns sagte, erschien so unfaßbar, daß wir ihm nicht glauben wollten. Dschi erklärte, die »Charles Darwin« bewege sich nicht um die Erde, sondern triebe irgendwohin, befände sich auf einer Flugbahn, die günstigstenfalls um die Sonne führte, wahrscheinlich aber in die Tiefen des Alls. Dschi war ein ernster und gewissenhafter Mensch, und die Lage an Bord schloß jeden Verdacht aus, daß er sich einen Scherz mit uns erlaubte. Dennoch kam mir seine Erklärung phantastisch vor. Im Gemüsegarten befand sich das einzige
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noch intakte Spiegelteleskop. Als ich hindurchsah, wußte ich, daß er sich nicht geirrt hatte. Die Erde war kleiner geworden. Wir flogen einem Ziel entgegen, das wir nicht kannten und auf das wir keinen Einfluß hatten. Durch den Ausfall des Reaktors waren wir manövrierunfähig. Es dauerte endlose Sekunden, bis wir die Tragweite dieser Entdeckung begriffen hatten. Keiner von uns brachte ein Wort heraus. Das schlimmste war die Ohnmacht, tatenlos zusehen zu müssen, wie wir mit jeder Sekunde dem Leben enteilten. Ein Trümmerstück hatte uns wie eine Riesenfaust aus unserer Bahn gerissen. Die »Darwin« war ein Himmelskörper geworden, eine winzige belebte Welt, hilflos den Naturgesetzen ausgeliefert. Sonjas düstere Ahnung war auf beklemmende Weise Wirklichkeit geworden. Es führte kein Weg mehr zurück. Nach Minuten des Schweigens stöhnte Gyula auf. »Das kann nicht sein, Dschi, sag, daß es ein Irrtum ist. Wir bewegen uns vielleicht nur auf einer großen Ellipsenbahn um die Erde. Wir haben ein Apogäum und ein Perigäum, und man wird uns orten, wenn wir wieder in Erdnähe sind…« »Nein«, sagte Dschi. Wir sahen ihn voller Hoffnung an, aber er wiederholte nur sein »Nein«. Nach einer Pause fügte er hinzu: »Es hat keinen Zweck, wenn wir uns gegenseitig etwas vormachen. Unsere Beschleunigung vor dem Zusammenprall war zu groß. Wir können jetzt nur noch versuchen, unsere Flugbahn annähernd zu bestimmen und die Sender in Ordnung zu bringen.« »Wozu die Sender in Ordnung bringen?« fragte ich resigniert. »Wer sollte uns zurückholen?« Innerlich gab mir sogar Dschi recht, ich sah es an seinem Blick. Doch er sagte: »Solange wir leben und atmen können, solange wir genügend Nahrung haben, so lange werde ich die Hoffnung nicht aufgeben. Seht unser Labor, es arbeitet.« Wir blickten auf das System der Röhren und Apparaturen, in denen es gluckerte und deren Meßgeräte den geheimnisvollen Vorgang der Assimilation andeuteten. Doch weder dieses Labor noch Dschis Optimismus vermochte unsere verzweifelte Stimmung zu beeinflußen. Ich hatte das Empfinden, nun ebenfalls zu den Toten zu zählen.
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Merkwürdigerweise schien Sonja in diesen Minuten am ruhigsten von uns allen zu sein. Sie verließ uns mit der Bemerkung, sich um Dahli Shitomir kümmern zu wollen. Es hörte sich an, als habe sie sich bereits mit dem Unvermeidlichen abgefunden. Später ging auch Dschi. Ich fand ihn in der Kommandozentrale, wo er von neuem an den Sendern probierte. Ich half ihm. Nicht weil ich damit Hoffnungen verband - ich wollte mich beschäftigen, und dazu war nun viel Zeit. Wieviel Stunden waren inzwischen verstrichen? Nach meinem Gefühl hätten Tage vergangen sein können. Unsere Uhren zeigten jedoch noch immer den ersten November an. Seit dem Zusammenprall waren genau drei Stunden verstrichen, drei Stunden, in denen sich für uns der Weltuntergang ereignet hatte. Mir kam das Geschehen an Bord wie ein fürchterlicher Alpdruck vor, wie er mitunter in Träumen ausgelöst wird. Man stürzt aus einem Fenster oder aus einem Flugzeug und fällt und fällt. Doch solche Träume haben ein Ende; aus diesem Traum aber gab es kein Erwachen. Die Rufe der Station waren noch nicht verstummt, nur schien es uns, als kämen sie bereits schwächer an. Wir kannten die Stimme des Sprechers, und es war ein kleiner Trost, daß man uns noch nicht aufgegeben hatte. Wir konnten auch Sender hören, Radiostationen; Musik und Sprachgewirr von der Erde. Wie lange noch? Zu dritt bastelten wir an der Sendeanlage. Sie war nach den neuesten Prinzipien der Molekularelektronik aufgebaut. Auf einem Quadratzentimeter befanden sich im Durchschnitt zweihundertfünfzig Bauteile. Wie sollten wir hier einen Fehler finden? Gyula gab als erster auf, dann kapitulierte auch ich. Nur Dschi prüfte weiter. Ich suchte Paganini auf. Sein Kopf war in Mull gehüllt, er atmete kaum hörbar. »Bekommst du ihn durch?« fragte ich Sonja. Sie hob die Schultern. »Ich kann kaum etwas für ihn tun. Er gehört auf den Operationstisch.« Ich dachte: Er hat es am besten. Ein paar Tage noch, und die Erde war ein Stern unter Sternen geworden. Sechster November
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Die Station ruft nicht mehr. Die unsichtbare Brücke zur Erde ist zerbrochen. Die letzte Woche war schrecklich. Wir haben keine Gymnastik getrieben. Wir schlafen und schlafen. Einmal wurde ich durch einen lauten Schrei wach. Er kam von Dschi, der wirres Zeug zusammengeträumt hatte. Sonja verteilt Tabletten. Sie helfen etwas, mit Schwerelosigkeit fertig zu werden. Wenn Dschi nicht schläft, hockt er in seiner Kabine und rechnet. Er mißt, zeichnet Kurven und Linien und schreibt unaufhörlich Zahlen. »Wozu machst du das, Dschi?« fragte ich ihn. »Was willst du damit erreichen? Glaubst du, unseren Flug mit deinen Berechnungen aufhalten zu können?« »Aufhalten nicht«, antwortete er, »aber es ist wichtig, zu wissen, wie unsere Flugbahn verläuft.« »Warum ist das wichtig?« »Weil es noch nicht sicher ist, ob wir wirklich unser Sonnensystem verlassen. Schade, daß Paganini verletzt ist, er hätte mir helfen können.« Das konnte ich leider nicht, denn so weit reichten meine mathematischen Kenntnisse nicht. Ich kletterte in meine Kabine und befolgte Sonjas Rat. Ich trieb wieder etwas Gymnastik. Nicht viel und auch nicht intensiv. Nach diesen acht Tagen erschienen mir die Expander wie Drahtseile. Nach drei Minuten hörte ich auf und zog mich zur Kommandozentrale. Dort lag das Bordtagebuch. Die letzte Eintragung, von Michael unterzeichnet, stammte vom Nachmittag des ersten November. Er schrieb: »Befinden der Besatzung ausgezeichnet, beenden in wenigen Augenblicken die zehnte Umkreisung. M. K.« Solche lakonischen Bemerkungen hatte er alle drei Stunden geschrieben. Ich fügte einen kurzen Bericht über die Katastrophe hinzu. Gyula kam von dem grausigen Geschehen nicht los. Verzweifelt verbrachte er Stunden damit, zwischen den Schotten zu stehen, als erwarte er von dem Toten einen Ausweg. Einmal hörte ich ihn sprechen. Er unterhielt sich mit Mischa. »Sei mir nicht böse«, sagte er, »ich hätte dir so gern geholfen. Aber ich kann dir nicht einmal deinen letzten Wunsch erfüllen. Unsere Sender arbeiten nicht. Nun wird
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deine Mutter vergeblich auf die Nachricht warten. Glaube mir, Kommandant, es ist viel einfacher, richtig tot zu sein, als nicht leben und nicht sterben zu können. Warum ist das so, Mischa, warum sind wir nicht unsterblich? Wir sind doch Menschen. Wäre ich nur nicht mit aufgestiegen. Aber wir sind wie die Motten; wir suchen so lange nach dem Licht, bis wir uns die Flügel versengt haben. Bald sind wir bei dir, Mischa, es dauert nicht mehr lange.« Ich zog ihn aus dem Gang. »Jetzt höre mir zu, mein Junge«, sagte ich begütigend, »du darfst nicht soviel an ihn denken. Was nicht lebendig ist, gehört nicht zu uns. Du mußt an dich denken, Gyula, du mußt an die Expander gehen, sieh, wie weich deine Muskeln geworden sind.« Er sah mich nur erstaunt an und sagte: »Ich weiß nicht recht, Stuart - vielleicht ist alles nur ein Traum? Meinst du nicht auch, daß alles nur ein Traum sein könnte?« »Es ist kein Traum, Gyula.« »Ich habe schon oft so komische Träume gehabt, Stuart«, fuhr er fort, »und jetzt weiß ich mitunter nicht, ob wir leben oder nicht leben…« »Hör auf«, sagte ich. »Wir leben, wir befinden uns in der ›Charles Darwin‹, und alles, was du siehst, ist Wirklichkeit. Mischa ist tot, richtig tot, und keiner kann ihn wieder zum Leben erwecken. Hast du das begriffen?« Er sah mich nachdenklich an. »Ja, du hast wohl recht. Wir leben, denn wir sprechen ja miteinander. Trotzdem, Stuart - vielleicht ist das nur eine andere Form des Lebens. Es ist doch anders, nicht wahr? Wäre es nicht möglich, daß wir uns im Jenseits befinden? Wir können alles sehen und hören - aber sie sehen uns nicht, und wir können rufen, soviel wir wollen, sie hören uns nicht.« Ich rüttelte ihn durch. »Komm endlich zu dir, Gyula! Dschi glaubt, daß wir vielleicht doch noch gerettet werden können. Und damit du es weißt: Ich glaube es auch und Sonja ebenfalls. Komm mit, höre die Erde.« Ich zog ihn in die Kommandozentrale und stellte einen Sender ein. Es rauschte und knatterte im Lautsprecher. »Das kommt von der Erde, Gyula…« Gyula nickte traurig. Im Grunde war ich nicht weniger verzweifelt als er.
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Plötzlich hörte das Knattern im Lautsprecher auf, und eine Stimme wurde laut. Sie schwoll an und ab, aber wir konnten den Text verstehen. Irgendeine Radiostation brachte einen Bericht über ein Raumschiff. »Hörst du, Gyula? Sie suchen uns.« Es erschien mir auf einmal selbstverständlich, daß von uns die Rede war, und obgleich mich dieser unverhoffte Empfang nicht weniger überraschte als meinen Gefährten, wiederholte ich mit der größten Ruhe: »Sie suchen uns. Na, was habe ich dir gesagt?« Gyula stieß einen Freudenruf aus. Er schrie nach Sonja und Dschi; im Lautsprecher wurde die Stimme wieder von starkem Rauschen übertönt. Dschi und Sonja kamen. Ich sagte und bemühte mich, sehr ruhig zu bleiben: »Sie haben uns bereits geortet. Es war von uns die Rede. Es ist nur noch eine Frage von Tagen, dann haben wir wieder Boden unter den Füßen.« In diesem Moment trat die Stimme wieder deutlicher hervor. Der Sprecher erzählte etwas von einem Raumschiff, das mit sechs Spondylosekranken gestartet worden war. Er gab den Abstand von der Erde und das Perigäum und Apogäum durch. Die Kranken fühlten sich in der Schwerelosigkeit außerordentlich wohl, versicherte er, und die Ärzte hofften, daß dieser erste Versuch neue Erkenntnisse bringen würde. Gyula fing an zu lachen. Er wollte gar nicht aufhören. »Sei endlich still!« herrschte ich ihn wütend an. »Das nenne ich gelungen! rief er. »Das sind echte Sorgen. Sie heilen Steißbeine in der Schwerelosigkeit. Warum ist mir das nicht früher eingefallen? Ich hätte einen guten Krankenwärter abgegeben.« Dschi zog sich schweigend zurück. »Du hattest recht, Stuart«, fuhr Gyula fort, »wir befinden uns wirklich in einem Raumschiff, das hier ist kein Traum. Erde, leb wohl! Wollt ihr etwas essen?« »Ja«, sagte Sonja, »sei so gut und fülle meine Tube.« Gyula entfernte sich. »Er hat nicht die besten Nerven«, sagte ich, »versuche du, auf ihn Einfluß zu nehmen.« »Ich werde mich später um ihn kümmern. Wir müssen uns nun wohl auf längere Zeit einrichten.«
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»Auf sehr lange Zeit, Sonja.« Sie nickte. »Ich habe mich damit abgefunden, Roger.« Ich bewunderte sie. Mir fiel es nicht so leicht, mich an den Gedanken zu gewöhnen, die Erde nicht mehr wiederzusehen. In mir war noch immer etwas Hoffnung. Frauen sehen wohl in schwierigen Situationen manches viel unkomplizierter als Männer. Wie konnte man sich mit diesem Leben abfinden? War denn das ein Leben? Hatte Gyula nicht recht? Leben hatte doch nur auf der Erde einen Sinn. Wem konnten wir hier nutzen? Nicht einmal uns selbst. Wir konnten nur vegetieren und auch das vielleicht nur noch für kurze Zeit. Wenn wir das Sonnensystem verliefen, gab es keine Energiequelle mehr für unser Labor. Ich mußte an die Ampullen denken. Für jeden war eine vorhanden. Wo befanden sie sich? Hatte Sonja sie unter Verschluß? »Woran denkst du, Roger?« »An nichts, Sonja - oder auch an alles. Es kommen einem so viele Gedanken.« »Grüble nicht soviel«, sagte sie. »Du solltest dich beschäftigen und Gyula auch. Wir werden nachher darüber sprechen, ich muß zu meinem Patienten. Er schläft jetzt schon viel ruhiger.« »Bekommst du ihn durch?« »Vielleicht. In den nächsten Tagen wird es sich herausstellen.« Sie verließ mich. Es war wirklich erstaunlich, woher Sonja die Kraft nahm, mit allem fertig zu werden. Sie versorgte Shitomir mit Traubenzuckerinjektionen, pflegte ihn und fand auch noch für uns aufmunternde Worte. Und damals hatte ich geglaubt, sie würde zusammenbrechen. Ich kletterte ins Labor. Gyula stand am Teleskop. »Ein Sternchen«, sagte er, »sieh dir das Sternchen an, Stuart, unsere Erde. Sie läßt sich im Teleskop sogar noch vergrößern. Wenn nur unser Wrack nicht so sehr trudelte. - Zu dumm, daß sich die ›Darwin‹ automatisch beschleunigte. Hätte uns dieser Brocken fünf Sekunden früher erwischt, wäre alles längst vorbei.« »Wenigstens arbeitet unser Labor einwandfrei«, sagte ich, »also verhungern werden wir nicht.«
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»Nein, verhungern werden wir nicht«, versetzte er spöttisch, »wir haben alles, was ein zivilisierter Mensch braucht. Nur keine Spondylose.« »Laß das jetzt.« »Warum? Es macht mir Spaß, daran zu denken. Meine Gedanken arbeiten wie ein Zeitraffer. Die ganzen letzten Monate auf der Erde sind mir durch den Kopf gegangen. Ich habe an unsere Wälder gedacht und an die Donau, an die Häuser und Straßen. Abends, wenn die Lichter brannten, bin ich oft durch die Straßen spaziert. Das ist nun alles vorbei, für immer vorbei. Oder glaubst du im Ernst, daß wir noch jemals zurückkommen?« Ich schwieg. »Siehst du, du glaubst es auch nicht. Keiner glaubt es. Ihr belügt euch. Erinnerst du dich noch? Acht Tage vor unserm Start waren wir in einem Konzert. Ich weiß gar nicht mehr, was gespielt wurde.« »Bach wurde gespielt«, sagte ich, »Cembalo-Konzert in E-Dur.« »Ich hätte das nie behalten. Ich bin auch nur aus Höflichkeit mitgekommen. Es war langweilig. Jazz wäre mir lieber gewesen…« »Hast du die Tuben gefüllt?« »Nein, noch nicht. Diese konzentrierte Brühe ist nun allein von allem übriggeblieben. Ein Schwein lebt auf der Erde besser als wir, das mußt du zugeben, Stuart. Ja, selbst ein Floh, eine Ameise oder meinetwegen auch ein Stinktier hat es besser. Stell dir vor, was ein Floh alles erlebt. Aber der ist ja auch gescheiter als wir. Seine Sprünge sind bescheidener, er kommt immer wieder zu Erde zurück. Sogar ein Zuchthäusler lebt besser. Er hat einen Himmel über sich.« Er seufzte. »Du redest Unsinn, Gyula«, sagte ich, »noch können wir leben und irgendwie hoffen. Und wenn das hier wirklich unsere Welt bleiben sollte, dann haben wir auch das Recht, ein Ende zu machen.« Er griff in die Tasche und holte eine kleine Schachtel hervor. Es war eine von den sechs Ampullen. »Du siehst, Stuart, ich habe bereits daran gedacht. Mischa hatte sie in seiner Kabine aufbewahrt. Es sind noch fünf davon da. Ich werde jedenfalls nicht so verrecken wie er.«
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»Das ist eine Lumperei«, sagte ich, »keiner von uns hat das Recht, sich heimlich davonzustehlen, und vorerst haben wir auch keinen Grund dazu.« »Von welchen Rechten redest du? Ich habe das Recht, auf ein menschenunwürdiges Dasein zu verzichten. Wer will mir dieses Recht nehmen?« Einen Augenblick kam in mir Ärger auf. Es empörte mich, daß er Kowtuns Kabine durchstöbert hatte und daß er so leichtfertig über sein Leben redete. Aber ich wußte nicht, was ich ihm erwidern sollte. War denn dieses Dasein menschenwürdig? Gyula verbarg die Schachtel sorgsam in seiner Tasche. »Warum sagst du nichts, Stuart?« fragte er ironisch. »Denkst du an Hamlets Frage? Sie klingt hier etwas anders als auf der Erde. Ich habe sie beantwortet. Das Schauspiel ist zu Ende, von der Schlußszene ist die Öffentlichkeit ausgeschlossen. Die Nabelschnur zur Erde ist durchgeschnitten, und das Baby schreit vergeblich nach seiner Mutter…« »Du kannst dich von uns ausschließen, Gyula, daran kann dich keiner hindern. Aber wenn du es jetzt tust, habe ich nur ein Wort für dich übrig.« »Ach, Worte«, sagte er, »was in diesen Wänden geschieht, wird nie ein lebendes Wesen erfahren, nie. Die Gesetze der Erde haben für uns keine Gültigkeit mehr.« »Aber wir sind Menschen, Gyula, wir haben Verstand und irgendwo auch etwas von dem, was man gemeinhin als Moral bezeichnet.« »Genau das denke ich auch, Stuart. Wir sind Menschen. Eine Wanze würde dahinvegetieren, verfaulen. Wir haben Entscheidungsfreiheit. Ich will keine Wanze sein. Und was die Moral anbelangt, so ändert sich diese immer mit der Ordnung, in der man lebt. Die Moral des Feudalismus war eine andere als die des Kapitalismus, und die sozialistische Moral ist abermals eine andere. Auf der Erde mag das alles gut und schön sein, aber hier? Wie würdest du diese Ordnung in der ›Darwin‹ bezeichnen? Ein paar Kubikmeter Luft zum Atmen, etwas Feuchtigkeit, um den Gaumen zu netzen, und diese farblose Brühe zur Ernährung - das ist unsere Welt.«
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Er hatte auf seine Art recht, und doch brachte ich es nicht fertig, mich seiner Ansicht anzuschließen. War es Feigheit? Neugier? Oder immer noch Hoffnung? Wahrscheinlich Hoffnung, obwohl sie ein Selbstbetrug war. Sonja tauchte plötzlich an der Luke auf. Sie hielt einen Bogen Papier in der Hand. »Ich bringe euch eine gute Nachricht«, sagte sie. »Schon wieder eine gute Nachricht«, brummte Gyula. »Ich bekomme es immer mit der Angst zu tun, wenn ich etwas von guten Nachrichten höre.« Sonja schwenkte ihren Bogen Papier. »Daran haben wir in der Aufregung nicht gedacht: Wir haben Notkonserven an Bord, wunderbare Dinge. Hört zu, was sie uns für den Notfall eingepackt haben…« Sie las vor, was die Liste enthielt, und wir hörten zu, als verkünde sie uns ein neues Evangelium. Es war berauschend, was die »Darwin« an festen und flüssigen Nahrungsmitteln in ihren Räumen barg: hundert Packungen Zwieback, dreißig CKonserven, die erlesene Leckerbissen enthielten, ebenso viele mit Fleisch und Gemüse, dreißig Tafeln Schokolade, ein Kilo Pulverkaffee, zwei Kanister, die Rotwein enthielten, etwas Kognak für medizinische Zwecke - das Paradies der Erde war auf dieser Liste vereint. »Zum Teufel, das ist unglaublich«, rief Gyula begeistert, »um diese Sachen wäre es wirklich schade. Was sind wir doch für Glückspilze. Auf der Erde hat jeder zum Tode Verurteilte Anspruch auf eine Henkersmahlzeit. Wir aber können schlemmen bis ans Ende unserer Tage. Ich warte noch, Stuart.« »Womit willst du warten?« erkundigte sich Sonja. Gyula zuckte mit den Schultern und überlief mir die Erklärung. Ich sagte: »Er will so eine Gelatineampulle schlucken. Er möchte nicht wie eine Wanze leben.« »Fühlst du dich als Wanze, Gyula?« »Ja«, sagte er, »deine gute Nachricht ändert daran nichts. Wir werden ein paar schöne Tage haben, das ist alles. Schöne Tage - wie bescheiden wir geworden sind. Einen Schluck Rotwein, ein Stückchen Schokolade oder Zwieback - und schon seid ihr zufrieden wie eine Maus, die an der Speckschwarte knabbert und nicht begriffen hat, daß sie in der Falle sitzt. Also teilen wir das Zeug auf.«
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»Sachte«, sagte ich, »darüber bestimmen wir alle, auch Dschi wird ein Wort mitreden. Ich werde ihm von deiner Wanzenideologie berichten.« »Meinetwegen«, murmelte er gleichgültig, »wo steckt Dschi überhaupt? Ich habe ihn schon eine Ewigkeit nicht gesehen.« »Er rechnet.« Gyula lachte und tippte sich an die Stirn. »Er rechnet. Will er das Weltall berechnen? Dafür gibt es doch bereits eine Formel. Es ist zum Lachen. Wir fliegen in die Unendlichkeit, und Dschi rechnet…« »Allerdings, Gyula, Dschi rechnet - und es hat sich gelohnt, zu rechnen. Du Narr, du Dummkopf! - Freunde, ich habe etwas entdeckt, heute ist ein ganz großer Tag!« Es war Dschis dünne Stimme. Er kam auf uns zu und nahm seinen Platz ein. »Was hast du entdeckt?« fragte Gyula argwöhnisch. Dschi antwortete: »Ich habe errechnet, daß wir uns nicht auf einer hyperbolischen Flugbahn befinden. Das ist ganz sicher. Wir haben zwar die Entweichgeschwindigkeit überschritten, aber wir befinden uns sicher im Schwerefeld der Sonne.« »Mit anderen Worten, wir sind zu einem Planeten geworden, der die Sonne umkreist«, sagte ich. »So ist es.« »Wunderbar«, rief Gyula. »Der Unterschied ist beglückend. Kennst du vielleicht auch schon unser Aphel und Perihel?« »Nicht genau, Gyula, aber unser Aphel kann nicht weit über der Marsbahn liegen. Unser Neigungswinkel gegen die Ekliptik beträgt ungefähr dreißig Grad - vielleicht noch etwas mehr, genaue Zahlen kann ich erst in einigen Wochen angeben.« »Wie schön«, sagte Gyula, »dreißig Grad, Marsbahnnähe - das ist beruhigend. Um die Marsmonde sehen zu können, muß man bereits über erstklassige Instrumente verfügen, obwohl der kleinere von ihnen, Deimos, immerhin noch einen Durchmesser von acht Kilometern hat. Für die Erde bleiben wir also unsichtbar.« »Optisch auf jeden Fall«, bestätigte Dschi. »Dreißig Grad«, wiederholte ich, als wenn davon etwas Besonderes für uns abhinge. Ich erinnerte mich an ein Schulmodell unseres Planetensystems. Dort
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kreisten die kleinen Kugeln um ihren gemeinsamen Massenschwerpunkt, die Sonne. Fast alle die Planeten - vom fernsten, dem Pluto, abgesehen - bewegten sich dabei auf einer großen Ebene. Ihre Bahnwinkel um die Sonne wichen nur geringfügig voneinander ab. »Hat unser Neigungswinkel zur Ekliptik etwas zu bedeuten?« fragte ich. »Vielleicht«, antwortete er, »wir unterliegen den Gravitationskräften aller Himmelskörper unseres Sonnensystems. Deshalb sind die Berechnungen so verteufelt kompliziert. Es ist nicht ausgeschlossen, daß wir uns zu einem bestimmten Zeitpunkt der Erde wieder nähern.« »Und wann wird das sein?« erkundigte sich Gyula. »Das muß ich herausfinden«, sagte Dschi. Sonja legte plötzlich den Zeigefinger an den Mund. Aus dem Sanitätsraum drang Shitomirs Stimme. Er rief sehr leise Sonjas Namen. »Hört ihr das?« rief sie überglücklich. »Es ist das erste Mal, daß er sich meldet. Und er ruft meinen Namen, also ist er bei Bewußtsein!« Sie eilte hinaus. »Heute scheint wirklich ein Tag der Überraschungen zu sein«, sagte ich. »Wenn wir uns wirklich der Erde näherten.« Gyula sah mich unsicher an. »Wenn es wahr wäre…« »Nur Lebende können die Wahrheit finden, Gyula.« Ich weiß nicht, ob Dschi etwas von meinem Gespräch mit Gyula wußte - geahnt hatte er es wohl, denn er fügte hinzu: »Verloren ist man nur, wenn man sich selbst aufgibt. Wir haben jetzt einiges zu tun. Die Schleuse muß überprüft werden, Mischa darf nicht länger an Bord bleiben. Zwei von uns werden aussteigen und ihn draußen befestigen. Wir müssen draußen auch ein paar Reparaturen durchführen. Die Lamellen lassen sich nicht bewegen. Zur Zeit reflektieren sie kein Sonnenlicht - deshalb die Affenhitze. Vielleicht finden wir draußen auch die Störquelle für unsere Sender.« »Ja, das wäre sehr wichtig«, sagte Gyula. »Aber wir haben drei funktionierende Sender an Bord«, fuhr Dschi fort. »Habt ihr vergessen, daß wir drei Nachrichtensonden besitzen? Sie sind mit chemischen Batterien ausgerüstet. Ihre Sender arbeiten - nicht sehr stark, aber wenn wir etwas Glück haben, werden ihre Signale gehört.«
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Er sagte das mit einer entwaffnenden Ruhe, die nicht nur Gyula, sondern auch mich beschämte. Dschi war der einzige von uns, der sich nicht unterkriegen ließ und der zielstrebig auf eine Rettung hinarbeitete - auch wenn dieses Ziel noch in unbekannter Ferne lag. In Gyula ging eine Verwandlung vor sich. »Drei Sender«, stammelte er, »hast du gehört, Stuart? Wir können senden.« »Ja, völlig hoffnungslos ist unsere Lage nicht.« »Wir wollen nicht zu sehr auf diese Sender hoffen«, sagte Dschi, »sie sind für eine Funkverbindung in Erdnähe vorgesehen.« Gyula war am Teleskop und schwenkte das Gerät. Es dauerte eine Weile, bis er die Erde für einen Moment im Okular hatte. »Sie ist nicht viel größer als ein Tennisball, und der Mond sieht aus wie eine silberne Haselnuß. Wir sollten uns beeilen, worauf warten wir noch? Laßt uns die Sonden holen, mit jeder Sekunde entfernen wir uns mehr von der Erde.« Sonja kam zurück. Sie machte ein zufriedenes Gesicht. »Er hat etwas gegessen und getrunken. Ich habe ihm einen Schluck Rotwein gegeben.« »Also geht es aufwärts mit ihm?« fragte ich. »Es sieht so aus. Ich hoffe nur, daß ihm keine Knochensplitter ins Hirn gedrungen sind.« »Vielleicht kann er bald richtig operiert werden, Sonja«, sagte Gyula. »Wenn sie unsere Signale hören, sind wir in ein paar Wochen auf der Erde.« Er ergriff Dschis Hand. »Danke, Dschi, ich war ziemlich durcheinander, aber jetzt habe ich wieder Hoffnung. Wir werden alle zurückkommen, und Paganini wird wieder komponieren. Wenn wir zurück sind, werden wir uns seine Musik anhören. Stuart, wie hieß die Musik, die wir vor dem Start gemeinsam gehört hatten?« »Ach, Gyula«, sagte ich, »das ist doch jetzt unwichtig.« »Es war das Cembalo-Konzert«, sagte Sonja. Fünfzehnter November Manchmal habe ich den Eindruck, daß unsere Uhren nicht richtig gehen. Auch Dschi und Gyula sind sich nicht sicher; erst fünfzehn Tage sollten vergangen sein? Hinter uns liegt eine Arbeit, die ich nie wiederholen möchte.
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Wir haben Kowtun aus seinem Gefängnis befreit. Dschi und ich hatten es getan. Dieser Transport war nicht ungefährlich. Ich hatte über meine Raumkleidung einen Strahlenschutzanzug gezogen, dann balancierte ich den toten Gefährten vorsichtig zur Schleuse. Zum ersten Male befand ich mich wieder im freien Raum. Obwohl ich solche Ausstiege kannte, war es doch immer wieder ein überwältigendes Erlebnis. Trotz der großen Geschwindigkeit, mit der wir uns durch das All bewegten, schien das Raumschiff unbeweglich auf einer Stelle zu stehen. Natürlich wußte ich, woher dieser Eindruck kam. Ich besaß ja in jedem Bruchteil einer Sekunde die gleiche Geschwindigkeit wie unsere kleine Welt. Dennoch wirkte es zunächst verblüffend. Ähnlich verhielt es sich mit der Schwerelosigkeit. Es war wie im Innern des Raumschiffes - und doch wiederum anders. Man hatte eben das Gefühl, draußen zu sein. Es fehlten die schützenden Wände, die Begrenzung. Über mir und unter mir war die Unendlichkeit. Dschi kletterte nach mir heraus. Wir hatten grüne Schutzfilter an unserm Helm; sie erschwerten unsere Arbeit erheblich. Die der Sonne abgekehrte Seite der »Darwin« war pechschwarz, Dschi und ich konnten uns manchmal nicht sehen. Dann wieder streifte uns die Sonne mit schmerzhafter Grelle, vor der uns selbst das Filter nicht schützte. Die »Darwin« sah erschreckend demoliert aus. Der Asteroid mußte beim Aufprall in mehrere Teile zerbrochen sein. Seine Splitter hatten die Antennen und herausgeschobenen Teleskope wegrasiert, stellenweise war die Außenwandung wie von einem Griffel zerkratzt. Einige der Lamellen, die als Temperaturregler dienten, hingen nur lose in ihren Federungen. Wir banden Michael Kowtun zwischen die zerbrochenen Gelenkstücke der Antennen. Sollte Dschi recht behalten und wir jemals gerettet werden, so bekam er ein Grab auf der Erde. Zum Heck wagten wir uns nicht, wir hatten Furcht vor einer möglichen radioaktiven Verseuchung. Die meiste Zeit benötigten wir, um die Lamellen einigermaßen funktionsfähig zu machen. Ich war zufrieden, wieder in die Schleuse zurückkriechen zu können. Unser Aufenthalt im freien Raum hatte eine Stunde gedauert.
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Als wir die Schleusentür hinter uns geschlossen hatten und wieder im Raumschiff waren, harrte unser eine Überraschung. Paganini hatte zum ersten Male den Sanitätsraum verlassen. In der Schwerelosigkeit war dieser Ausflug nicht mit großen Anstrengungen verbunden. Neben ihm schwebte Sonja. Er sah aus wie ein Gespenst. Aus dem Mullverband, der seinen Kopf einhüllte, schaute nur die Nasenspitze heraus. »Hallo, Stuart«, begrüßte er mich. »Hallo, Paganini, alles wieder okay?« »Nichts okay«, erwiderte er, »ich habe das Gefühl, daß mein Schädel in zwei Teile gespalten ist.« Er wandte sich an Dschi. »Ist es wahr, Dschi, daß wir zum Algol fliegen?« »Wer hat ihm diesen Unsinn eingeredet?« fragte Dschi stirnrunzelnd. »Gyula, warum erzählst du ihm solche Märchen?« »Ich?« rief Gyula empört, »kein Wort habe ich gesagt!« »Es ist wahr«, sagte Sonja ernst, »er erfindet diesen Unsinn selbst.« Gyula machte eine Handbewegung zur Stirn. Dschi sah das, aber er nahm keine Notiz davon. Dahli sagte völlig normal: »Gut, daß ihr endlich die ›Darwin‹ in Ordnung gebracht habt. Ich habe furchtbar lange geschlafen - ein oder anderthalb Jahre, glaube ich. Jetzt wird es Zeit, daß wir nach Hause kommen. Habt ihr den Chef gut angebunden? Hoffentlich habt ihr nicht zu viel Röntgen abbekommen. Mit Strahlen soll man nicht leichtfertig umgehen.« »Jetzt hast du genug geredet«, sagte Sonja und zog ihn fort. Als er außer Sicht war, sagte Gyula: »Er hat nicht alle beieinander. Sonja meint, daß ihm ein Splitter ins Hirn gedrungen ist.« »Wenn er nur wirres Zeug redet, geht es noch«, meinte Dschi. Später bat er mich in seine Kabine. Er reichte mir ein mit Zahlen beschriebenes Blatt. »Bitte rechne diese Aufgabe nach, Stuart.« »Warum?« fragte ich. »Weil ich hoffe, mich verrechnet zu haben. Ich habe versucht, unsere mögliche Annäherung an die Erde zu berechnen. Wir werden ihr einmal bis auf Mondnähe nahe kommen.« »Wirklich?« fragte ich erfreut. »Das wäre fabelhaft, Dschi.«
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»Das wird in dreihundertvierundfünfzig Jahren sein.« Als er mein erschrecktes Gesicht sah, fügte er hinzu: »Ich kann mich verrechnet haben, vielleicht habe ich ein Komma falsch gesetzt…« »Das wäre tröstlich«, antwortete ich sarkastisch, »dann wären es nur fünfunddreißig Jahre.« »Im Alatau Gebirge und in North Carolina stehen die größten Empfangsgeräte der Welt. Unsere drei Sonden arbeiten noch immer, vielleicht haben sie dort bereits unsere Signale registriert?« »Du weißt so gut wie ich, daß ihre Reichweite viel zu gering ist, Dschi. Die Erde ist zu einem Stern geworden, wir werden sie bald ganz aus den Augen verlieren.« Er erwiderte nichts. Ich hockte mich hin und überprüfte seine Berechnungen. Dschi hatte sich nicht verrechnet. Es war mir auch gleichgültig, was dabei hierauskam. Für uns waren fünfunddreißig Jahre nicht viel weniger als dreihundertfünfzig oder dreitausendfünfhundert. Ich hatte seine Berechnungen mit in meine Kabine genommen und stierte deprimiert auf die Zahlen. Das dünne Seil, das Dschi uns einmal zugeworfen hatte, war wie ein Spinnwebfaden gerissen. Dreihundertvierundfünfzig Jahre! Wir waren auf Lebzeiten an dieses Wrack gefesselt. In meiner Verzweiflung nahm ich ein Transkapus und ließ die Seiten eines Buches vor mir abrollen, dessen Inhalt unserm Unglück wohl am nächsten kam: Dantes Göttliche Komödie. In dieser schaurigen Phantasie lag noch etwas Tröstliches, und doch berührten mich seine Visionen von dem Höllentrichter nicht mehr. Die Worte zogen an mir vorüber, fremd und fern. Im sechsundzwanzigsten Gesang hieß es an einer Stelle: »O Brüder, die durch tausend von Gefahren - ihr hier im Abend kühn euch eingestellt, - verwendet jetzt, um Neues zu erfahren, - weil Leib und Seele noch zusammenhält, den kurzen Rest von euerm Erdenleben - zum Sonneflug, zur unbekannten Welt. - Bedenkt, wozu dies Dasein euch gegeben! - Nicht um dem Viche gleich zu brüten, nein, um Wissenschaft und Tugend zu erstreben.«
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An Idealen hat es der Menschheit nie gemangelt. Wie schön sich das las: »Wissenschaft und Tugend zu erstreben.« Unsere Tugend und unsere Wissenschaft mündete nur in den einen Gedanken, noch einmal die Erde betreten zu können, ein Wunsch, der nicht mehr in Erfüllung gehen konnte. Ich war noch bei der Lektüre, als Paganini plötzlich hinter mir auftauchte. Wahrhaftig, mit seinem verbundenen Kopf glich er einem jener geplagten Wesen und büßenden Kreaturen, wie sie in diesen Gesängen beschrieben wurden. Er beugte sich über das Transkapus, kicherte albern und sagte, »Laßt, die ihr einfahrt, jedes Hoffen. Ich kenne das Buch, Bruder. Oh, mein Kopf, ich habe rasende Kopfschmerzen. Sonja hat mich vorhin massiert. Das ist schön, Stuart, manchmal kitzelt es. Bist du schon einmal von einer Frau massiert worden?« »Laß mich in Ruhe, Paganini«, sagte ich unwillig. Er entdeckte das Papier mit Dschis Berechnungen und nahm das Blatt an sich. Ich dachte, er ist krank und versteht die Zahlen sowieso nicht. Doch ich täuschte mich. Er begriff den Inhalt dieser Berechnungen sehr schnell. »Sieh an, sieh an«, sagte er, »nur noch dreihundertvierundfünfzig Jahre…« Ich nahm ihm das Papier weg. »Geh zu Sonja zurück.« »Ich will nicht«, rief er, »ich will mir unsere neue Erde ansehen, den zehnten Planeten, den sie niemals entdecken werden. Anderthalb Jahre bin ich nun schon hier.« Er griff sich an den Kopf und verzog schmerzhaft das Gesicht. »Es muß an der Hitze liegen, Stuart, mein Kopf kann diese Wärme nicht vertragen.« »Ja, es ist etwas wärmer geworden«, bestätigte ich, »aber wir können die Temperatur jetzt wieder regulieren.« »Nichts können wir, Stuart, nichts. Wir nähern uns der Sonne, und wir werden dort alle verbrennen.« »Wir nähern uns nicht der Sonne.« »Anderthalb Jahre«, murmelte er, »das ist eine lange Zeit. Ich fühle mich wie Dädalus, der mit seinem Sohne Ikarus der Sonne zu nahe kam und sich an ihr die Flügel versengte. O Stuart, was ist das nur, der Mensch? Er greift nach den Sternen! Michael ist tot. Ja?«
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»Ja, Dahli.« »Er war auch kein Prometheus. Alle Feuer, die es gibt, sind auf der Erde schon entfacht worden. Ich werde arbeiten, Stuart, viel arbeiten. Der zweite Satz meiner Komposition wird völlig neue Klangelemente enthalten.« Er hielt mir einen verworrenen Vortrag über seine Musik, in die er die Gesetzmäßigkeiten des Universums einarbeiten wollte. »Musik«, rief er enthusiastisch, »das ist die Sprache der Natur! Alles schwingt, alles ist Modulation. Was sind die erbärmlichen Gesetze unserer Sprache, der Grammatik und der Syntax gegen die physikalischen Gesetze der Schwingungen eines Mediums? Millionenmal mehr kann ich mit diesen Schwingungen sagen. Ich werde die Unermeßlichkeit aufklingen lassen, die Ewigkeit, die uns umgibt, die Stille und die grenzenlose Leere.« Ich bedauerte, daß man mit ihm nicht mehr ernsthaft debattieren konnte. Trotzdem sagte ich: »Es gibt viele Musiken, Paganini, die sich durch Leere auszeichnen, das wäre also nicht neu, aber es gibt auch Bach und Beethoven - es wird schwer sein, mehr zu sagen als sie.« »Lappalien«, erwiderte er geringschätzig, »ihre Gedanken sind irdisch. Wo ist der Himmel geblieben, zu dem wir aufgeblickt haben, wo die Wolken und die flimmernden Sterne? Sie alle kannten diese Unendlichkeit nicht. Sieh hinaus, Stuart, eine Seifenblase ist von der Erde übriggeblieben. Um uns die Ewigkeit.« Als wenn man diese Ewigkeit nicht auch auf der Erde fühlen könnte, dachte ich. Die Verwirrung in seinem Denken schien eine Art Größenwahn in ihm ausgelöst zu haben. Er tat mir leid, aber er machte es mir nicht leicht, mit ihm zu fühlen. Paganini gefiel sich in seiner Rolle als Neuschöpfer der Musik, er lästerte über die Kunst der alten Meister, sprach von altem Zeug, das nichts taugte. Früher hatte er anders geredet. Früher - was für ein merkwürdiger Begriff. Dabei waren erst zwei Wochen vergangen. Paganini redete ununterbrochen. Der Kopfverband war ihm etwas verrutscht, ein paar schwarze Barthaare sprossen hervor, und während er sprach, glomm sein unverletztes dunkles Auge wie ein Kohlestückchen. Ich war froh, als Sonja endlich auftauchte und ihn kur-
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zerhand aus der Kabine zog. Sonderbarerweise folgte er ihr ohne Widerspruch. Ich komme nicht von Dschis Berechnungen los. Gibt es wirklich keine Rettung für uns? Ein kleiner Tropfen Hoffnung bleibt uns: Sie könnten uns auf der Erde gehört haben. Ich redete mir das ein und wußte genau, daß die Energie der kleinen Sender nicht ausreichen konnte, um eine solche Entfernung zu überbrücken. War ein rasches Ende nicht doch besser als dieses Dahinvegetieren? Welchen Sinn hatte dieses Leben noch für uns? Ich suchte Sonja im Sanitätsraum auf. Sie saß bei ihrem Patienten. Er schlief. »Wie fühlst du dich, Sonja?« frage ich. Sie lächelte traurig. »Nicht besser als du, Roger. Schlimmer ist es mit ihm.« »Oder besser«, antwortete ich, »vielleicht muß man in dieser Welt verrückt sein, um sie ertragen zu können.« Sonja antwortete nicht. »Wie beurteilst du seinen Geisteszustand?« »Ich bin kein Psychiater«, sagte sie, »wahrscheinlich so etwas wie Dementia praecox, Katatonie - Erscheinungsformen des Spaltungsirrsinns. Und ich kann ihm nicht helfen, das ist das Furchtbare.« Ich dachte: Was für Sorgen sie hat. Es gibt Dinge, die furchtbarer sind. Unvermittelt sagte ich: »Weißt du, daß wir niemals wieder zur Erde zurückkommen? Dschi hat es errechnet.« »Ich weiß es«, sagte sie, »er hat es mir gesagt.« Sonja deutete auf den schlafenden Dahli Shitomir. »Wir entfernen uns immer weiter von der Erde. Es ist also auch von dort keine Hilfe zu erwarten.« »Vielleicht hat man uns inzwischen gehört, Roger.« »Nein!« sagte ich, »man kann diese kleinen Sender nicht hören. Es ist zu Ende, Sonja, für immer zu Ende.« »Vielleicht«, sagte sie und sah mich mit einem flehenden Blick an. Ich brachte es sogar fertig, zu lächeln, als ich sagte: »Keine Hoffnung mehr, Sonja, kein Vielleicht. Es hat keinen Zweck mehr zu hoffen. Von mir aus soll jeder tun, was er für richtig hält.« Ich zog mich hinaus und kletterte in den Gemüsegarten. Am Teleskop stand Gyula.
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»Na, Stuart?« sagte er. »Hast du schon ein Rettungsraumschiff entdeckt?« »Leider nicht. Wenn unser Kasten nicht so taumelte, könnte man besser beobachten. Welchen Monat haben wir?« »Immer noch November, Gyula, aber vielleicht gehen unsere Uhren falsch.« »Das glaube ich auch«, sagte er, »ich habe das Gefühl, als wären wir schon Monate unterwegs.« Es lag mir auf der Zunge, ihm ebenfalls unbarmherzig die Wahrheit zu sagen, aber ich wußte, was er dann tun würde. Ich brachte es nicht fertig, ihm den letzten Funken Hoffnung zu nehmen. Ich kletterte hinaus und schloß mich in meine Kabine ein. Achtundzwanzigster November In der Nachbarkabine keucht Dschi. Er macht verzweifelte Anstrengungen an den Expandern, jeden Tag, Woche für Woche. Auch Sonja trainiert und sogar Shitomir. Nur Gyula und ich vernachlässigen die Gymnastik. Gyula hat eine neue Beschäftigung gefunden. Er sitzt am Empfänger und versucht, Radiosendungen zu empfangen. Manchmal erreicht uns tatsächlich so etwas wie Musik. Es knattert und kratzt, und dazwischen sind einige Töne. Dschi und ich hatten in den letzten Tagen noch einmal verzweifelt versucht, die Sender auseinanderzunehmen und die Fehlerquellen zu finden. Es war hoffnungslos, und selbst wenn es uns gelungen wäre, die Störung zu beseitigen - es fehlten die Antennen. Als wir alles wieder eingebaut hatten, sagte Dschi, ich sollte in zwei oder drei Tagen zusammen mit Gyula die ganze Prozedur noch einmal wiederholen. Gyula, der diesen Ratschlag hörte, rief: »Dschi, verrückt ist zur Zeit nur einer an Bord. Vielleicht werden wir es bald alle sein. Was soll diese Spielerei? Einbau, Ausbau, Einbau, Ausbau - die Sender sind hin, glaubst du, ich finde den Fehler?« »Nein, das glaube ich nicht«, antwortete Dschi, »aber wenn du nicht verrückt werden willst, dann suche dir eine Beschäftigung. Du stierst entweder durch die Bordfenster oder versuchst Radio zu hö-
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ren. Wir müssen etwas tun, wir müssen uns beschäftigen. Rechnet oder lest oder malt meinetwegen, aber tut etwas.« »Ich kann weder rechnen noch lesen«, sagte ich, »ich kann nur an die Erde denken, an sonst nichts.« »Ihr wart alle einmal in einer Testkammer«, sagte Dschi. »Das schlimmste dort ist die Untätigkeit, zu der man verdammt ist. Dort wie hier fehlt die Arbeit. Darum müssen wir uns Arbeit suchen.« »Aber sie muß sinnvoll sein«, warf Gyula ein, »was du vorschlägst, ist sinnlos. Und der Vergleich mit der Testkammer stimmt auch nicht. Das war auf der Erde - einmal öffneten sich wieder die Türen…« »Sie werden sich auch hier einmal für uns öffnen, bis es soweit ist, müssen wir uns beschäftigen.« Gyula zuckte die Schulter. »Arbeiten - was und wozu?« »Der Inhalt der menschlichen Kultur ist Arbeit«, dozierte Dschi. »Die alten Lateiner hatten das sehr gut begriffen, denn das Zeitwort von cultura, colere, besagt nichts anderes als hüten, warten, beackern, bebauen - also eine dauernde Tätigkeit ausüben. Nicht arbeiten heißt an Kulturlosigkeit zugrunde gehen. Wir können hier keine Bäume fällen oder einen Garten pflegen, also müssen wir etwas anderes tun.« »Aber nicht mehr mit diesen Sendern«, sagte ich. »Irgendwo müssen hier noch drei Schrauben herumfliegen Ich kann unter diesen Umständen nicht arbeiten, Dschi ich habe einfach nicht die Geduld.« »Sonja kann es, und ich kann es auch. Sogar Paganini beschäftigt sich. Er schreibt Noten oder dirigiert.« Gyula lachte meckernd. »Jetzt wird uns bereits der Schwachsinnige als Vorbild hingestellt. Ich werde eines Tages auch dirigieren, Dschi, verlaß dich drauf. Wo bleiben unsere Retter?« Dschi sah mich an. Gyula wußte noch immer nichts von seinen Berechnungen. »Wenn du überleben willst, dann befolge meinen Rat.« Sonja kam. Sie winkte Gyula. Sonja tat, als befänden wir uns noch immer auf unserem Testflug um den Mond. Zwei- bis dreimal in der Woche untersuchte sie unser Blut, den Urin und Stuhlgang - letzteres weniger häufig, denn die konzentrierte Nahrung wurde fast restlos
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verdaut. Jetzt zog sie Gyula in ihren Sanitätsraum, um ihm einen Tropfen Blut aus dem Finger zu nehmen. Es kam mir vor, als bereitete Gyula das Beisammensein mit unserer Ärztin besonderes Vergnügen. Dschi hatte sich wieder in seine Kabine zurückgezogen. Ich kroch zu Paganini. Er bemerkte mein Näherkommen nicht, und beinahe hätte ich laut aufgelacht, als ich seine Beschäftigung sah. Er lehnte gegen einen Magnetstreifen und fuchtelte mit den Armen. Paganini dirigierte. Offenbar studierte er seine Symphonie ein. »So ist es schon besser«, sagte er halblaut, »nur mit den Maultrommlern bin ich noch nicht zufrieden. Die Frequenzen einhalten, Herrschaften, die Frequenzen! Von der Pikkoloflöte erwarte ich etwas mehr Caesium. Und bitte nicht so verschwenderisch mit dem Strontium neunzig. Das Ganze noch einmal von vorn! La-la-la…« »Noch ein bißchen Kobalt, Paganini«, sagte ich ernst, »nimm unsern Geigerzähler als Metronom.« Er sah mich mißtrauisch an und murmelte: »Was verstehst du von der neuen Harmonik.« »Hast du schon Gymnastik getrieben?« »Ich will keine Gymnastik treiben!« schrie er. »Störe mich nicht dauernd, hinaus mit dir!« Er warf etwas nach mir. Es war seine Nahrungsflasche. Sie sauste an mir vorbei und prallte gegen die Bordwand, daß es im Raumschiff widerhallte. Die andern eilten herbei. »Was ist geschehen?« erkundigte sich Sonja. »Dein Patient entwickelt sich zum Choleriker.« Sie sprach auf ihn ein, und Paganini tat, als wisse er von nichts. »Ich weiß wirklich nicht, was ihr von mir wollt. Ich saß allein hier, dann kam Stuart und beleidigte mich.« »Er lügt!« rief ich. »Er hat es faustdick hinter den Ohtren. Manchmal weiß ich nicht, ob er uns nicht nur Theater vorspielt.« Dschi winkte mich heraus. »Warum stimmst du ihm nicht zu?« fragte er vorwurfsvoll. »Er ist nicht bei Sinnen - willst du mit einem Kranken streiten?« »Ich bin auch krank, Dschi«, erwiderte ich müde, »wir alle sind krank. Lange halte ich nicht mehr durch.« »Du wirst durchhalten, Stuart, wir werden alle durchhalten, denn wir haben keine andere Wahl.« Gyula schlich an mir vorüber, dann
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kam Sonja mit ihrem »Patienten«. Er sah mich triumphierend an. Ich war überzeugt, daß er genau wußte, was er tat. Aber er war ja Patient, er galt als krank und durfte sich alles erlauben. Aus dem Gemüsegarten drang Gyulas Stimme. Er sang ein Lied in seiner Heimatsprache. Ich verstand nur immer den Refrain: »Hei, elet, elet…« Vierzehnter Dezember Nun ist auch Gyula ernsthaft krank geworden. Er schläft viel, und wenn er aufwacht, ist er schlapp. Mangel an körperlicher Betätigung - in mir hat das einen Schock ausgelöst. Ich trainiere an den Expandern, als stünde uns ein Leichtathletikwettkampf bevor. Sonja hat festgestellt, daß Gyula zu viel Kalzium und Eiweiß absondert. Sein Körper gab mehr Stickstoff ab, als er aufnahm. Stickstoff, so erläuterte Sonja, sei ein wesentlicher Bestandteil des Eiweißes. Das hatten wir auf der Erde alles gelernt. Sie fütterte Gyula mit Tabletten, und zu dritt massieren wir ihn abwechselnd. Es wäre etwas leichter für uns, wenn wir die Speichen wieder in eine Drehbewegung versetzen könnten. Aber wir haben nicht das Werkzeug an Bord, um außerhalb des Raumschiffes eine so umfangreiche Reparatur vornehmen zu können. Dschi und Paganini schreiben wie besessen. Ich weiß nicht, ob sich die Zahlen Dschis sehr von den Noten Paganinis unterscheiden. Mir ist jedenfalls beides unverständlich… Vierundzwanzigster Dezember Weihnachten Schon seit Tagen habe ich an diese Stunden denken müssen. Jetzt durchleben wir sie. Ja, durchleben ist das richtige Wort. Immer habe ich mein Zuhause vor Augen und den kleinen Baum mit den Kerzen, die Geschenke, die Freunde und meinen Jungen. Letztes Weihnachten überraschte ich ihn mit dem Musik-Roman »Jean Christophe«. Er hatte mir eine Tonbandaufnahme geschenkt - Tschaikowskis Klavierkonzert. Ich redete mir ein, es sei ein Tag wie jeder andere; aber wie sollte man in diesen Stunden nicht an zu Hause denken? Gyula hat sich leidlich erholt. Es wurde auch höchste Zeit, denn dieses dau-
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ernde Massieren ging mir allmählich auf die Nerven. Sehr oft können wir uns Kranke nicht gestatten; Sonjas Vorrat an Medikamenten ist begrenzt. Vierundzwanzigster Dezember. Ob die andern daran dachten? Dschi und Paganini sicher nicht. Sie hatten daheim andere Feiertage. Und es war ja auch nicht einmal sicher, ob unsere Datierung stimmte. Vielleicht hatten wir schon Mai oder Juli? Diese Zeit! Jede Stunde gleicht der anderen, ob morgens, mittags oder abends, es war immer dasselbe eintönige Bild. Die dunkle Nacht um uns und darin, ein unbegreiflicher Anblick, die feurige Kugel, die Sonne. Darüber und darunter, vor uns und hinter uns leuchtende Punkte. Als ich zum ersten Male aufgestiegen war, erschien mir das alles faszinierend. Ich schwärmte wie ein Backfisch. Aber Schönheit und Romantik ergreifen uns immer dann, wenn wir sie als Erinnerung bewahren können. Für uns war diese Schönheit Grausamkeit, die Romantik das Chaos, wir waren der Monotonie unserer Umgebung längst überdrüssig. Und zu allem kam die Lautlosigkeit. Weihnachten. Ich las, aber ich war mit den Gedanken nicht bei der Sache. Dann hängte ich mich an die Expander, verbissen und halb krank vor Heimweh. Inmitten meiner Übungen kam Sonja. Sie bat mich ins Labor. Dschi und Gyula und Paganini seien auch anwesend. »Ist denn etwas Besonderes passiert?« fragte ich harmlos. »Ja, Stuart«, sagte sie, »heute ist Weihnachten.« Sonja tat sehr feierlich, als sie uns unsere Tuben überreichte. Ihr Weihnachtsgeschenk; es war Kirschsaft mit etwas Wein vermischt. Ich sagte: »Du bist wunderbar, Sonja.« »Er hat recht«, meinte Gyula, als sie mein Lob verlegen abwies. »Wäre ich ein Dichter, dann schriebe ich ein Gedicht für dich.« »Meine Sonja«, brabbelte auch Paganini. Nur Dschi begnügte sich mit einem »Dankeschön« und einem freundlichen Lächeln. Sie freute sich über unsere Anerkennung. Paganini trank seine Flasche in einem Zuge leer. Er schleckte die Lippen und verlangte mehr. Doch Sonja, die unsere Vorräte verwaltete, gab nicht nach. Paganini fing an zu schimpfen und stieß Drohungen gegen sie aus. Er benahm sich wie ein ungezogenes Kind. »Mach, daß du ’rauskommst!« rief Gyula
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erbost. »Ich lasse mir von diesem Schimpansen nicht die Stimmung verderben!« Doch sie war bereits verdorben, denn jetzt verbat sich Dschi den Ausdruck »Schimpanse«, und Sonja redete mit Engelsgeduld auf den noch immer lästernden Paganini ein, der wieder um Wein mit Kirschsaft bettelte. Als er nichts erhielt, verließ er uns. Wir schwiegen. Nach einer Weile sagte Gyula: »Um diese Zeit haben sie bei uns den Baum geschmückt. Hattet ihr auch immer einen Baum, Stuart?« »Ja.« Dschi sagte: »Es ist nicht ausgeschlossen, daß man unsere Signale gehört hat.« Niemand antwortete. Ist es denn wahr, daß ich nicht auf der Erde bin? dachte ich. Und ist es wahr, daß wir niemals wieder zurückkehren? Es ist Wahnsinn, daran zu denken, es ist unmöglich! Wir können doch nicht bis an unser Lebensende zwischen diesen Metallwänden hocken. »Ich möchte wissen, ob es in diesem Jahr Schnee gegeben hat«, begann Gyula wieder. »Hattet ihr Weihnachten Schnee, Sonja?« »Meistens«, antwortete sie leise. Ich bemerkte, wie es in ihrem Gesicht zuckte. Gyula hörte nicht auf mit seinen Erinnerungen. »Ich war ein guter Eissegler. Es ist wunderbar, wenn der Balaton zugefroren ist…« »Wenn sie unsere Signale aufgefangen haben«, sagte Dschi, »dann bedeutet das keineswegs, daß sie sofort aufsteigen. Es wäre nicht rationell, man kann uns nicht aus jeder beliebigen Position zurückholen. Sicher werden sie warten, bis wir der Erde entgegenkommen.« »Hör auf davon, Dschi«, sagte ich. Sonja wandte plötzlich ihr Gesicht ab. Sie weinte. Ich ging zu ihr und umarmte sie. »Es wird alles gut, Sonja, und wir sind doch eine Gemeinschaft, wir sind Freunde…« Sie nickte und trocknete ihre Tränen. In die Stille drang ein feines Zischen. Es hörte sich an, als habe die »Darwin« plötzlich ein Leck bekommen. »Was ist das?« fragte Gyula. In diesem Augenblick tauchte Paganini an der Einstiegsluke auf. Er starrte uns an und sagte mit blödem Grinsen: »Da sitzt ihr, sauft meinen Wein, aber es wird der letzte sein! Habt ihr verstanden? Der letz-
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te! Jetzt fahren wir alle zusammen zur Hölle. Hört ihr, wie es zischt?« Er lachte diabolisch und verschwand. Sekunden waren wir erstarrt. »Er hat die Ventile geöffnet!« schrie ich. Panik ergriff uns. Wir stießen uns gegenseitig zur Luke; Gyula gelangte als erster hinaus. Als wir bei ihm waren, hatte er die Ventile an der Schleuse bereits geschlossen. »Ich schlag’ ihm die Zähne ein!« heulte er auf. »Um ein Haar hätte uns der Hund ins Jenseits befördert.« »Du darfst ihn nicht verurteilen«, sagte Sonja, »er weiß nicht mehr, was er tut. Wir müssen ihm helfen…« »Das ist doch wohl die Höhe!« Gyula war empört. »Er dreht uns das Gas ab, aber wir dürfen ihn nicht verurteilen. Vielleicht sollten wir uns noch bei ihm entschuldigen. Ich schwöre dir, Sonja, ich bringe ihn um, wenn ich ihn noch einmal bei einem solchen Attentat ertappe.« Ich stimmte Gyula zu, und auch Dschi meinte: »Sonja, wenn sich seine Hirnverletzung auf eine solche Weise auswirkt, dann müssen wir ihn schärfer bewachen.« »Das merkwürdige ist, daß man mitunter ganz vernünftig mit ihm reden kann«, sagte ich. »Und das haben wir vorhin nicht getan«, sagte Sonja. »Es war meine Schuld. Ich hätte ihm erklären müssen, warum er nur eine Ration bekommen konnte. Er begreift ja alles. Ich werde jetzt mit ihm reden und ihm eine Injektion zur Beruhigung geben.« Ein schwacher Trost, dachte ich, niemand konnte wissen, welche Teufelei er sich als nächstes ausdachte. »Vielleicht überrascht er uns damit, wenn wir schlafen.« »Es darf nicht mehr vorkommen, daß wir alle zur gleichen Zeit schlafen«, sagte Dschi, »wir werden ihn ab heute nicht mehr aus den Augen lassen.« »Noch wichtiger ist, daß wir uns nicht anmerken lassen, was wir über seine Krankheit wissen und denken«, erklärte Sonja. »Redet ihm zu Munde und sprecht normal mit ihm. Roger, du hast dich früher öfter mit ihm über seine Musik unterhalten. Tu es wieder.« Ich nickte und dachte: Ein schönes Weihnachtsfest und eine noch schönere Zukunft. Es wäre besser gewesen, wenn Sonja ihn nicht aus
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seiner Bewußtlosigkeit erweckt hätte. Paganini war im Sanitätsraum. Er las und nahm keine Notiz von uns. »Dürfen wir stören?« fragte Gyula ironisch. »Ist es erlaubt, näher zu treten?« Als er keine Antwort erhielt, schrie er: »Ich habe dich etwas gefragt, du verdammter Narr!« »Gyula!« Sonja sah ihn vorwurfsvoll an. »Gyula ist ein unhöflicher Mensch«, sagte Paganini, »gib ihm eine Spritze, Sonja.« Gyula lachte verzweifelt. »Da habt ihr seine Krankheit. Dieser Scheinheilige weiß genau, was er tut. Wir sollten eine Kabine als Gefängnis einrichten und ihn dort einsperren.« »Dich sollte man einsperren«, schnarrte der Kranke, »du bist krank, du leidest an deiner menschlichen Herkunft. Wohin Menschen auch immer kommen - das erste Haus, das sie errichten, ist ein Gefängnis. Aber sind wir nicht alle Gefangene, Dschi?« »Ja, Paganini, du hast recht, wir sind Gefangene. Sag, warum hast du versucht, den Druck abzulassen?« »Aber Freunde«, rief Paganini und lächelte unschuldig, »versteht ihr denn keinen Spaß mehr? Ein Scherz, weiter nichts. Gib mir etwas Wein, Sonja.« »Er bekommt keinen Schluck«, rief Gyula. Sonja sah mich ratlos an. »Gib ihm eine Injektion«, riet ich. »Ich will Wein!« »Komm, nimm dein Medikament«, bat Sonja. Ich beobachtete ihn. Sein Gesicht rötete sich. Es war wie vorhin, immer wenn er auf Widerspruch stieß, verlor er jegliche Kontrolle über sich. Er fing wieder an, zu lästern und zu schimpfen, und verlangte Wein. »Ich will kein Medikament, ich will Wein. Ihr Schlangen, was wollt ihr hier? Wer seid ihr überhaupt?« »Deine Gefährten«, sagte ich, »wir wollen dir helfen, Paganini, höre wenigstens auf Sonja.« »Nein, nein, ihr wollt mich umbringen, ich sehe es euch an…« »Auch das noch!« stöhnte Gyula. Sonja wollte ihm das Transkapus wegnehmen, aber er war schneller und preßte das Gerät an sich. »Was liest er?« erkundigte sich Dschi. »Es sind Gedichte«, antwortete Sonja. »Und es barst die Erde und ward Rauch und Feuer«, krächzte Paganini. »Als sie das
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Streichholz gefunden hatten, war ihr Kopf noch zu klein und der Haß zu groß. Sie waren der Liebe satt; sie entzündeten das Streichholz und waren wie Gott, denn sie wurden wieder zu Fischen und Kröten, zu Sauriern und Flugvögeln. Wahrhaftig, groß ist der Mensch. Seht hinunter zur Erde, sie ist nicht mehr.« »Sie ist noch an ihrem alten Ort, Paganini«, sagte ich und zu Sonja: »Nimm ihm um Gottes willen das Transkapus weg, er wird immer verrückter.« »Wo ist Gott?« fragte der Kranke blöd. »Er ist nicht da, Stuart, er ist beschäftigt. Aber ich werde ihn vertreten, denn ich bin ein Mensch. Ich werde die ›Charles Darwin‹ zerstören…« »Und ich werde dir den Hals umdrehen!« rief Dschi. »Er ist wirklich gefährlich, wir dürfen ihn nicht mehr ohne Aufsicht lassen.« Paganini kicherte. »Ich habe das Recht zu zerstören, denn ich bin ein Mensch. Ich werde diesen gräßlichen Stern zerstören, und du wirst mich nicht daran hindern, kleiner Chinese…« Dschi sah mich betroffen an. Wir zweifelten nicht daran, daß er früher oder später seine Absicht in die Tat umsetzen würde. Es war gut, daß wir diese Warnung erhielten, wir wollten auf der Hut sein. Paganini redete ununterbrochen; es war ein unerträgliches Gestammel von Flüchen und Drohungen und Prophezeiungen. Dieser Ausbruch krankhafter Gedanken wurde unerträglich. Plötzlich nahm er wieder das Transkapus, überflog ein paar Zeilen und sagte: »Sie haben es geschafft, sie wollten sein wie Gott und sind wieder, was sie waren. Und es gibt kein Zurück mehr, denn Aufs neue wieder Mensch zu werden. Wenn man’s lange Zeit nicht mehr gewesen ist, Das ist schwer für unsereins auf Erden, Weil das Menschsein sich zu leicht vergißt.« Er schwieg und blickte uns triumphierend an. Etwas Dämonisches ging von ihm aus. Dschi sagte: »Wir werden es nicht vergessen, Dahli, und jetzt sei vernünftig, und laß dir von Sonja helfen. Du willst doch wieder gesund werden.« »Ich bin gesund«, erwiderte er. »Eines Tages wird meine Seele hinausgehen und in einen Vogel einkehren.« Sonja bat uns, den Raum
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zu verlassen. »Dieses Weihnachten werde ich nicht vergessen«, sagte Gyula, als wir draußen waren. Er kletterte in die Kommandozentrale und drehte an den Knöpfen des Empfängers. Im Lautsprecher kreischte und wimmerte es - gerade die richtige Begleitung für das Schauspiel, das uns Paganini bot. Achtundzwanzigster Dezember Die Stille und die endlose Zeit waren gütig und legten einen Schleier um unser Gedächtnis. Das Erlebnis mit Paganini schien weit zurückzuliegen. Weder er noch wir dachten daran. Er war auch wieder ganz vernünftig geworden, schrieb Noten für den zweiten Satz seiner »Orthoskopischen Symphonie«, wie er diese Konfusion nannte. Ich lobte sein Gekritzel und spornte ihn an, nicht nachzulassen in der Arbeit an diesem unsterblichen Werk. »Manchmal denke ich, meine Kraft reicht nicht aus«, bekannte er, »diese unverzerrte Wiedergabe unserer Wirklichkeit gibt mir tausend Rätsel auf. Und wie werde ich es später auf die Erde schicken, Stuart?« »Wir katapultieren es einfach in den Raum hinaus«, schlug ich vor, »dort bleibt es für alle Zeiten erhalten.« Diese Idee begeisterte ihn. Er hätte am liebsten gleich seinen ersten Teil hinausgeschleudert. In diesem Zustand war er willig und gehorchte. Ich schickte ihn an die Expander, und er stärkte bereitwillig seine Arm- und Bauchmuskulatur. Ich zog mich hinaus. Gyula drehte wieder an den Knöpfen. »Komisch«, sagte er, »um diese Zeit hat man besseren Empfang, zeitweilig kommt Musik durch.« Was er unter Musik verstand, war auch nicht viel besser als die atmosphärischen Störungen. Ich war müde. Nicht körperlich; die Enge drückte mich, und die Stille fraß sich in mein Hirn. Wir waren alle krank, aber wir hatten uns an diese Krankheit gewöhnt, sie war unser Normalzustand geworden. Was für ein jämmerliches Dasein. Und dieses Vegetieren wurde aufrechterhalten durch ein Labor. Das Furchtbare war ja gar nicht so sehr die Katastrophe vom ersten November und auch nicht der Mangel an allem, was zu einem menschenwürdigen Dasein gehört. Das Furcht-
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bare war unsere Ohnmacht. Wir mußten hilflos zusehen, wie wir langsam zugrunde gingen. Noch nährte sich unser träge gewordener Verstand von einem Hoffnungsfunken, den Dschi immer wieder neu entzündete. Sie konnten uns entdeckt haben und auf einen günstigen Zeitpunkt für unsere Bergung warten. An diesem achtundzwanzigsten Dezember aber wurde uns dieser Hoffnungsfunke für immer genommen. Schlummerte auf diesem Teufelskreis noch irgendwo ein Elend, das uns doch nicht getroffen hatte? Das, was in diesen Nachmittagsstunden auf uns zukam, mußte wohl das letzte sein… Kurz nach sechzehn Uhr gellte Gyulas Stimme durch das Raumschiff. Wir stürzten zu ihm in die Kommandozentrale. Sogar Paganini war von diesem Aufschrei beeindruckt und näherte sich uns erschreckt und mißtrauisch. Gyula behauptete, einen Sender zu hören, und zweimal wollte er in einem Vortrag die Worte »Charles Darwin« verstanden haben. Wir lauschten. In dem Knattern war tatsächlich eine Stimme zu vernehmen - nur verstehen konnte man nichts. »Es wird gleich wieder deutlicher«, beschwor uns Gyula, »wartet einen Augenblick.« »Vielleicht war es ein Vortrag über den alten Darwin«, sagte ich. In diesem Augenblick hörte ich das Wort selbst. Es war deutlich aus dem sonst unverständlichen Gerede und Geknatter herauszuhören; auch die andern hatten es verstanden. »Sie suchen uns wirklich«, sagte Sonja aufgeregt, »es gibt keinen Zweifel, wir sind gemeint. Wenn man nur die Sprache verstehen könnte. Dschi, es könnte deine Muttersprache sein…« Dschi schüttelte den Kopf. »Ich verstehe kein Wort.« »Aber ich verstehe«, sagte Dahli Shitomir plötzlich, »du hast einen indischen Sender erwischt, wahrscheinlich Kalkutta.« Wir machten ihm Platz, und er lauschte angestrengt. Manchmal wurden die Worte völlig von anderen Geräuschen überlagert. »Was sagen sie?« fragte Sonja flüsternd. Paganini antwortete nicht. Er lauschte weiter, und wir wagten kaum zu atmen. Dann zuckten wir zusammen. Wieder wurde unser Raumschiff genannt und dann zwei Namen: Michael Kowtun und Roger Stuart. Mein Name. Es war wie ein Traum, mei-
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nen Namen hatten sie genannt! Wahrscheinlich waren auch die anderen Namen genannt worden. »Habt ihr gehört? Mischa und mich haben sie erwähnt«, sagte ich überwältigt. »Paganini, was erzählt er, sag doch…« Der Inder fing auf einmal an zu lachen. Es war das typisch närrische Gekicher, das mich rasend machen konnte. Ich packte ihn an seinen dürren Armen. »Hör auf zu lachen, sofort aufhören! Sage uns, was du gehört hast!« »Erst loslassen, Stuart«, sagte er. Ich ließ ihn los. Noch immer grinsend, verkündete er: »Wir sind tot. Sie sprechen einen Nachruf für uns. Sie haben errechnet, daß die ›Charles Darwin‹ auf den Mond gestürzt ist.« »Er redet Unsinn!« rief Dschi, »glaubt ihm nicht. Sonja bring ihn weg, er scheint wieder einen Anfall zu bekommen.« Dschi sagte das nur, weil er wußte, daß sein Optimismus jede Glaubwürdigkeit verlor, wenn sich das Gerede des Kranken als richtig herausstellte. Erneut drangen Worte aus dem Lautsprecher. Paganini lauschte verzückt, dann klang Musik auf. »Miserabel«, brummte er, »sehr schlecht. Schade, daß ich meinen ersten Satz nicht durchgegeben habe, das wäre eine bessere Trauermusik gewesen. Würdiger, versteht ihr? Gerade in den ersten Teil habe ich noch viele irdische Bindungen hineingearbeitet…« »Hör auf mit deiner Scheißmusik!« schrie Gyula. »Wir wollen wissen, was gesprochen wurde.« »Erzähle es«, bat Sonja. »Ich habe es gesagt«, versicherte er. »Wir sind auf den Mond gestürzt, man hat uns dort gesucht, aber nicht gefunden. Nun wird man uns zu Ehren einen Obelisken errichten. Wir sind in die Geschichte eingegangen. Brüder, wir sind unsterblich geworden, und wir werden gesteinigt - mit einem Denkmal. Wenn sie doch nur bessere Musik spielten…« »Ich glaube ihm kein Wort«, sagte Dschi, »und ihr solltet sein Gerede auch nicht ernst nehmen.« »Ich nehme es aber ernst«, antwortete Gyula. »Warum hat denn die Leitstation die Rufe nach uns eingestellt? Hätten sie unsere Signale
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empfangen, dann riefen sie weiter.« Seine Worte trafen mich wie Peitschenschläge. Die Stimme der Logik war unbarmherzig und unwiderlegbar. Dschi sagte in unser Schweigen: »Ich gebe nicht auf. Wir werden uns der Erde nähern, und man wird uns finden.« »Du lügst, Dschi«, krächzte Paganini, »du selbst hast gut gerechnet. In dreihundertvierundfünfzig Jahren sind wir in Erdnähe. Habe ich recht, Stuart?« »Ja«, sagte ich. »Das ist doch nicht möglich«, flüsterte Gyula, »Dschi, das kann doch nicht stimmen.« Dschi schwieg. »Es gibt kein Zurück!« rief der Inder. »Wir leben in der Ewigkeit. Ich bin nicht unglücklich darüber, denn wir werden nicht verwesen, wenn wir rechtzeitig aussteigen. Hier bleiben wir rein. In hundert oder tausend Jahren wird man uns finden, frisch, sauber - so wie Mischa, den ihr draußen angebunden habt. Wir werden in der Sphärenmusik von Myriaden Sonnen schlafen. Das ist der Himmel, von dem die Menschen seit Jahrtausenden träumen…« »Schafft endlich diesen Idioten fort!« rief ich erbittert. Ich war nahe daran, zu schreien oder zu weinen. Sonja flüsterte ihm etwas ins Ohr. Er folgte ihr in den Sanitätsraum. Im Lautsprecher knatterte es noch immer. Dschi schaltete ab. »Großer Gott«, flüsterte Gyula, »sie haben uns aufgegeben, die haben uns zu Helden gemacht. Aber ich will kein Held sein, ich war niemals ein Held…« Es sah aus, als wollte er weinen. »Fehlt nur noch, daß du jetzt anfängst zu beten«, sagte Dschi vorwurfsvoll. »Nehmen wir an, sie hätten uns wirklich noch nicht entdeckt - dann wird man uns später finden. Warum sollten wir alles verlorengeben? Wir haben alles an Bord, was wir zum Leben benötigen. Einmal wird man uns orten.« »Daran glaubst du selber nicht mehr, Dschi«, sagte ich. »Ich glaube daran«, versicherte er. »Woran sollten wir sonst glauben, wenn nicht an unsere Rettung?« Gyula stöhnte leise. »Ich werde diesen Wahnsinn nicht länger mitmachen. Für tot erklärt - jetzt ist wirklich alles zu Ende…«
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»Es ist nicht einmal sicher, ob uns Paganini die Wahrheit gesagt hat«, wandte Dschi ein. Gyula verließ seinen Platz. »Wohin, Gyula?« fragte ich argwöhnisch. »In meine Kabine.« Ich hielt ihn fest. »Gib mir die Ampulle.« »Nein«, sagte er und riß sich los. »Jeder muß sehen, wie er mit diesem Jammerleben fertig wird. Ich will nicht mehr.« Ich wollte zu ihm, aber Dschi hielt mich zurück und sagte: »Laß ihn, Stuart, das ist auch eine Art Wahnsinn, gegen den wir machtlos sind. Er glaubt, es gehöre Mut dazu, einzuschlafen. In Wahrheit ist er der erbärmlichste Feigling, der mir je in meinem Leben begegnet ist. Zehn oder zwölf Wochen lang um den Mond kreisen und dann als gefeierter Held zurückkommen, dazu reichte sein Mut aus. Aber das brächte jeder Großvater fertig. Warum gehst du nicht durch die Schleuse, Gyula? Oder glaubst du, wir würden dich bei uns behalten und dich vielleicht noch neben Mischa konservieren? Nein, diese Schande tun wir unserem Kommandanten nicht an. Er hat sich geopfert - auch für dich. Ich sage dir, wir werden zurückkommen. Und dann werden wir von einem Feigling berichten. Geh, schluck das Zeug, anschließend werden wir dich hinauskatapultieren. Keine Spur wird von dir übrigbleiben, das schwöre ich dir!« Gyula sah ihn entsetzt an, sein Gesicht zeigte Unsicherheit. Doch dann löste er sich und verschwand wortlos in den Einstieg seiner Kabine. Er tat mir leid, aber ich wußte, daß es sinnlos war, auf ihn einzureden. »Kümmere dich jetzt nicht mehr um ihn«, sagte Dschi, »vielleicht kommt er noch zur Besinnung. Er muß mit diesem Problem allein fertig werden.« »Er kommt nicht zur Besinnung, Dschi. Ihn hat nur deine Hoffnung am Leben erhalten.« Der Gedanke, Gyula könnte jetzt die Ampulle schlucken und in wenigen Augenblicken nicht mehr am Leben sein, ließ mich erschauern. Hatte ich als Ältester an Bord nicht die Pflicht, ihm zur Seite zu stehen? Aber Gyula war kein Kind, und der Aufenthalt in diesem Inferno hatte auch nichts mit Mut oder Feigheit zu tun. Die Logik gab ihm recht. Leben hat nur dann Sinn, wenn man für etwas leben kann. Wofür sollten wir hier leben?
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Einunddreißigster Dezember Ich kann nicht zu ihm, er hat sich eingeschlossen. Dutzendmal versuchte ich, mit ihm zu reden. Keine Antwort. Hatte er es schon getan? Ich sprach mit Dschi darüber. Wir wollten einige Tage warten. Ich habe Gewissensbisse. Hätte ich ihn nicht von seinem Vorhaben abbringen müssen? Heute morgen sah mich Sonja merkwürdig an. Ich glaubte einen Vorwurf in ihrem Gesicht zu lesen und sagte: »Was siehst du mich an, Sonja? Wir haben alle schuld, wenn er draufgeht. Er ist schließlich alt genug…« »Ich mache dir keinen Vorwurf, Roger, ich blicke dich aus einem anderen Grunde an. Hast du dich in letzter Zeit einmal im Spiegel betrachtet?« Ich strich über meinen Stoppelbart. Mit Ausnahme von Dschi hatten wir uns seit der Katastrophe nicht mehr rasiert. Doch Sonja meinte nicht meinen Bart. Als ich in den Spiegel sah, erschrak ich. Mein dunkles Haar war weiß geworden. Die Sender in den Kapseln arbeiten längst nicht mehr. Es war uns jetzt auch gleichgültig. Alles war unwesentlich geworden. Nur Dschi tat, als befände er sich auf der Rückreise zur Erde. Es regte mich schon seit langem auf, daß er sich regelmäßig rasierte; heute kam ich dazu, wie er sich die Fingernägel feilte. »Ich finde deinen Reinlichkeitssinn etwas übertrieben«, sagte ich, »nebenan liegt Gyula, und du treibst Körperpflege.« Er ließ sich nicht stören. Dschi war immer geschäftig und tat, als wären wir noch zu etwas nütze. »Warum, zum Teufel, tust du das?« fragte ich erbittert. »Willst du uns verhöhnen?« »Nein«, antwortete er ernst, »ich will euch nicht verhöhnen, Stuart. Solche Beschäftigungen erinnern mich daran, daß ich ein Mensch bin. Ich möchte die Erinnerung daran nicht verlieren.« Manchmal verwünschte ich ihn mit seiner Moral und seiner zur Schau gestellten Ruhe. Ich wollte zu Sonja, um mit ihr darüber zu sprechen; sie war an Gyulas Kabine. »Gyula«, flüsterte sie, »öffne mir, ich habe mit dir zu reden, sei vernünftig, Gyula…« »Hat er es noch nicht getan?« fragte ich. »Ich weiß es nicht, Roger. Das ist entsetzlich. Er rührt sich nicht.«
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»Dann soll er zur Hölle fahren!« »Gyula«, bettelte Sonja erneut, »antworte wenigstens. Heute ist der einunddreißigste Dezember, Jahreswechsel. Ich habe etwas vorbereitet…« Sie sah mich verzweifelt an, als keine Antwort kam. »Was für ein Leben, Roger, was für ein Leben!« »Ja, was für ein Leben«, wiederholte ich, »und Dschi treibt Körperpflege. Was hast du vorbereitet, Sonja?« »Nichts«, sagte sie, »wenn er nicht herauskommt…« Sie vollendete den Satz nicht. Ich zog mich ins Labor und preßte mein Gesicht gegen das Bordfenster. Sterne, überall Sterne, genauso sinnlos wie der Stern, der unsere Welt war. Hoch über uns stand ER, helleuchtend - das Paradies. Gott, wenn ich ihn noch einmal betreten dürfte, nur noch ein einziges Mal. Jetzt saßen sie auf der Erde beieinander, begrüßten das neue Jahr. Jetzt spielte irgendwo ein Orchester den Schlußsatz der Neunten - »Freude, schöner Götterfunken…« Ich biß die Zähne zusammen. Nicht daran denken, Stuart, jeder Gedanke daran ist Verschwendung. Wie tief doch das irdische Bewußtsein in uns saß. Es würde uns nie verlassen. Dschi und Sonja krochen herein. »Hoffentlich wird das neue Jahr besser für uns«, sagte Dschi. »Bestimmt«, antwortete ich, »es beginnt mit einer Beerdigung.« An der Luke trällerte Paganini. »Was hockt ihr hier herum? Nennt ihr das Silvesterfeier? Ich möchte Wein trinken. Auf der Erde trinkt man jetzt Wein.« »Wir sind nicht auf der Erde«, sagte ich. »Gyula ist tot, Paganini. Schweige jetzt.« Er sah uns grinsend an und wollte zum Ausgang. Dschi versperrte ihm den Weg. »Du bleibst hier, du hast schon einmal etwas angestellt, als man dir keinen Wein gab.« »Ich will nichts anstellen«, versicherte Paganini, »ich will weiterarbeiten. Schade, daß wir keinen Flügel haben, ich würde euch ein Neujahrskonzert geben, wie ihr es noch nie gehört habt.«
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Er bekam keine Antwort. Nach einer Pause sagte Sonja: »Ich möchte jetzt die Matthäuspassion hören, wenn auch nach irdischen Vorstellungen jetzt nicht die rechte Zeit dafür ist…« »Wir könnten Musik hören«, sagte ich, »wir haben Tonbänder, zwar nicht mit der Matthäuspassion. Aber es hat wenig Sinn, Musik zu hören, wenn dieser Genius unter uns weilt. Hör auf zu grinsen, Paganini.« Er hörte nicht auf. Er kicherte albern und sagte: »Ihr habt noch immer zwei Seelen in eurer Brust - eine solltet ihr herausreißen. Es gab eine Welt der Lüge, dort war alles wahr. Warum wollt ihr in dieser Welt der Wahrheit wieder die Lüge einführen? Laßt Bach auf der Erde, hier gehört er nicht her. Trinkt das Chaos, Wollust ward dem Wurm gegeben!« In meinen Schläfen tuckerte es. Am liebsten hätte ich ihm etwas an den Kopf geworfen. Mit erzwungener Ruhe sagte ich: »Paganini, schweig jetzt, ich rate dir, halte deinen Mund. Ich bin auch nur ein Mensch, und einmal könnten mir die Nerven durchgehen!« »Was hat er Schlimmes gesagt?« fragte Dschi. »Ich will nicht, daß er in dieser Stunde über Bach lästert, er soll sein verdammtes Maul halten!« Ich hatte so laut geschrien, daß mich alle erstaunt ansahen. Paganini war zusammengezuckt. Eine Weile blieb es still; es war eine unheilvolle Stille. Ich hörte Sonja atmen. »Ich habe nichts Schlimmes gesagt, nicht wahr, Dschi?« »Nein, Paganini.« »Bitte, sei still, Dahli«, bat Sonja. »Warum?« fragte er naiv, »warum soll ich still sein? Ich habe das Recht, die Wahrheit zu sagen, und was ich gesagt habe, ist wahr. Ihr tut mir unrecht und du besonders, Stuart. Du glaubst, ich wüßte nicht, was Bach bedeutet?« Es war merkwürdig, er redete in einem völlig normalen Ton, wie wir es seit langem nicht mehr von ihm gewohnt waren. »Bach«, fuhr er fort, »er war dein Landsmann, nicht wahr?« »Nein«, brummte ich. »Natürlich war er dein Landsmann, er war Europäer. Ich verehre Bach mehr als ihr. Ich habe drei Sternbilder nach den drei Anfangsbuchstaben seines Namens benannt. J -S - B so groß ist er. Und ich
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will euch noch etwas sagen. Wenn auf der Erde alle Musik der Welt verbrennen würde und nur Bach bliebe übrig - dann wäre nichts verbrannt. Nun weißt du, was ich über den Kantor denke, Stuart. Ich träume von ihm. Wißt ihr nicht, daß ich sein Schuhputzer war?« Sonja sah mich an und lächelte. »Du lieber Himmel«, murmelte ich. »Ja, ich habe seine Schuhe geputzt und auch die von Anna Magdalena und seinen Kindern. Es war die glücklichste Zeit meines Lebens. Wenn er komponierte, habe ich heimlich zugesehen. Er war heiter und streng, und er hat die Noten gemalt, als schriebe er eine mathematische Gleichung.« »Das ist gut«, sagte Dschi. »Er war ein richtiger Polterkopf«, fuhr Paganini fort, »er konnte schimpfen wie ein Kutscher, wenn ihn jemand beim Komponieren störte. Einmal, an einem Sonntagvormittag, war es ihm aufgefallen, wie gut ich ihm seine Schuhe geputzt hatte. Er war sehr freundlich zu mir und sagte: ›Mit solchen Schuhen muß man Spazierengehen. Weißt du was, Dahli, jetzt gehen wir beide angeln. Hast du Angelzeug?‹ ›Ja‹, sagte ich, ›ich weiß auch, wo der Fisch steht. Aber heute ist Sonntag, Meister, Ihr müßt in die Kirche zum Orgelspiel.‹ Johann Sebastian lachte und schlug mir derb auf die Schulter. ›Heute soll der liebe Gott ohne mich auskommen, Dahli. Der Krebs soll mich vertreten - dieser Krebs kommt auch ohne den Bach aus.‹ Er machte gern solche harmlosen Späße. Ich war sehr glücklich an diesem Tag. Wir setzten uns an einen See und warfen die Angel aus. Johann Sebastian erzählte mir Geschichten aus seinem Leben, und er schimpfte auf die Stadtväter und die Pfaffen, die seine Musik nicht begriffen. ›Was meinst du, Dahli‹, fragte er, ›wie lange wird man meine Musik spielen?‹ Ich antwortete: ›Bis zum Ende der Welt.‹ Er sagte: ›Das wäre nicht gut, Dahli, denn der Weg zum Ende der Welt ist weit, und der Herrgott wird noch viele Brunnen öffnen. Ich wäre schon zufrieden, wenn man ab und zu an mich und den Friedemann denkt. Er wird Größeres schaffen als ich.‹
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Ja, Friedemann - er war seine ganze Hoffnung. Wir angelten bis zum Mittag und fingen viele Fische. Dann lud mich Johann Sebastian zum Mittagessen ein. Anna Magdalena wußte nichts davon, und als wir vor ihrem Hause ankamen, sah sie zum Fenster hinaus und machte ihrem Mann Vorwürfe. Johann Sebastian schwenkte den Beutel mit Fischen und rief: ›Ich bringe dir einen Gast zum Mittagessen.‹ ›So ein Unglück‹, sagte Anna Magdalena und sah ganz verzweifelt aus. ›Ich habe heute nur eine Bohnensuppe vorbereitet.‹ Johann Sebastian zwinkerte mir vergnügt zu. Wir gingen hinauf, und er schüttete die Fische in eine Schüssel. Dann rief er seine Töchter, und sie putzten die Fische, und Anna Magdalena schälte inzwischen Kartoffeln…« »Wieso Kartoffeln?« unterbrach ihn Dschi. »Wenn ich recht informiert bin, war die Kartoffel damals noch gar nicht in Europa verbreitet. Hier stimmt etwas nicht, Paganini.« Der stutzte, dann erwiderte er ärgerlich: »Dann erzähle du weiter, ich sage nichts mehr.« »Erzähle uns die Geschichte zu Ende, Dahli«, sagte Sonja, »es ist eine gute Geschichte.« Er schüttelte nur trotzig den Kopf. Dschis Einwand mit den Kartoffeln hatte ihn verstimmt. Mich hatte seine naive, kindliche Erzählung versöhnt. Ich sagte: »Ich wollte dich vorhin nicht kränken, Paganini, entschuldige.« »Ich muß arbeiten«, erwiderte er, »ich habe jetzt unglaubliche Ideen. Ich werde eine neue Fuge schaffen, ich will das Chaos des Weltalls aufklingen lassen, ich werde…« Er verstummte, sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. »Die Toten stehen auf!« An der Einstiegsluke stand Gyula. Verlegen sagte er: »Ich wünsche euch ein gutes neues Jahr.« In unserer Freude über sein unerwartetes Erscheinen verschlug es uns für einen Augenblick die Sprache. »Gyula, du verdammter Lümmel!« rief ich endlich. »Du verdienst eine Tracht Prügel.« Sonja zog sich zu ihm und küßte ihn. Er errötete. Dschi sagte: »Also hast du’s überstanden, ja? Bist du zur Vernunft gekommen?« »Ja, Dschi.«
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»Alle Menschen feiern in diesen Stunden das neue Jahr«, sagte Sonja, »und jetzt haben auch wir einen Grund, uns etwas Wein zu gönnen.« Sie kroch hinaus, um von unserem Vorrat zu holen. Gyula betrachtete mich aufmerksam. »Stuart, was ist mit dir passiert? Wieso sind deine Haare weiß?« »Ich habe sie gefärbt, Gyula«, scherzte ich, »ich wollte dich überraschen.« »Wir leben in der Welt der weißen Haare«, krächzte Paganini, »wenn du mich aufmerksam betrachtest, so findest du auch bei mir weiße Strähnen.« »Er entwickelt heute eine ergötzliche Phantasie«, sagte Dschi. Es war nach langer Zeit das erste Mal, daß unter uns wieder frohe Stimmung aufkam. Selbst Paganini wollte nun bei uns bleiben. Sonja brachte noch andere Leckereien, Schokolade und Früchte. Es war ein Stückchen Erde zu uns gekommen. Wir füllten unsere Trinkflaschen. Ich sagte: »Den ersten Schluck auf die Erde, auf den schönsten und besten Planeten, den es im Universum gibt.« »Und auf ein neues Jahr, das uns zurückbringt«, fügte Dschi hinzu. Wir tranken, und Paganini hätte am liebsten die Flasche in einem Zuge geleert. Sonja hinderte ihn daran. Er wurde wieder streitsüchtig, bestand auf seinem Willen. Es war eine merkwürdige Gier in ihm, eine Genußsucht, die ich früher nie an ihm beobachtet hatte. Seine Verletzung schien das Triebhafte in ihm geweckt zu haben, und er wurde bösartig, wenn man sich seinem Verlangen widersetzte. Auch jetzt, da ihn Sonja zum langsamen Trinken anhielt, schnaufte er beleidigt. Dann hob er seine Flasche und rief pathetisch: »Ich trinke auf den unbekannten Planeten im All, auf dem vernunftbegabte Wesen leben; Wesen, die sich nicht gegenseitig mit Vernichtung bedrohen. Die Menschen auf der Erde sind eine Fehlentwicklung. Es wäre jammervoll, brächte die Natur nur solche machthungrigen, herrschsüchtigen Kreaturen zustande wie das Geschlecht, dem wir angehören. Jetzt spielen sie die Neunte auf der Erde. ›Seid umschlungen, Millionen!‹ - Aber jeder fühlt sich von jedem bedroht und hält die Plutoniumbombe in der Rechten. Eine Fehlkonstruktion ist dieser Mensch, es lebe der unbekannte Planet im Universum.«
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»So redet ein Barbar«, sagte Dschi. »Ein Trost, daß seine Gedanken einem kranken Hirn entspringen.« »Na ja«, sagte ich, »ich weiß nicht, ob ich mich jemals daran gewöhnen kann, für immer in dieser Welt zu leben. Wenn Einsicht in die Notwendigkeit Vernunft ist, dann bin ich auf eine andere Weise nicht weniger unvernünftig als Paganini.« »Man darf darüber nicht grübeln, Roger«, sagte Sonja. »Immer wieder dasselbe Thema«, murmelte Gyula. »Wir werden zur Erde zurückkehren«, sagte Dschi, »diese Hoffnung werde ich niemals verlieren…« »Hoffnung und Neugier, damit ist das Menschengeschlecht aufgewachsen!« stieß Paganini hervor. »Immer hofft es - von einem Tag zum andern, von Jahr zu Jahr, von Generation zu Generation…« »Wir werden eines Tages zur Erde zurückkehren«, wiederholte Dschi und entwickelte eine neue Theorie über diese Rückkehr. Sein Optimismus war bewundernswert. Er war dabei, unsere Umlaufbahn um die Sonne zu berechnen. An einem bestimmten Punkt sollten wir unsere Kapseln hinausschleudern. Nach seiner Überzeugung könnten die Nachrichtensonden bis in Erdnähe gelangen. Wir hörten ihm zu, aber seine Ausführungen hinterließen wenig Eindruck bei uns. Gyula sagte: »Ich habe eine Ewigkeit gebraucht, um zu begreifen, daß es keine Rückkehr mehr gibt, Dschi. Erinnerung ist alles, was uns geblieben ist. Was ist eure schönste Erinnerung an die Erde? Ich habe nachgedacht, aber es gibt nichts, woran ich mich besonders erinnern würde. Selbst das Schlechte ist in der Erinnerung an die Vergangenheit wunderbar. Alles war schön.« Seine Frage beschwor das Vergangene herauf, den Traum unseres Lebens. Ja, alles war schön gewesen, und doch gab es Augenblicke, die stärker lebendig waren. Ich dachte an meinen Jungen, an das Blockhaus, an meinen Freund Alexander Wulko, an unvergeßliche Stunden am Näsisee. Ich hätte jetzt davon erzählen können, aber wie konnten Worte die Empfindungen solcher Augenblicke wiedergeben? »Du hast recht, Gyula«, sagte ich, »es war alles schön.« »Und du, Sonja?«
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Sie sagte in Gedanken versunken: »Diese Erinnerung muß jeder selber tragen - es gibt so vieles…« »Es gibt nur eines!« erklärte Paganini grinsend. »Ich weiß, was auf der Erde am schönsten war!« »Na?« Er machte eine schmutzige Gebärde. »Höre auf damit«, sagte ich. »Was gibt es Schöneres, als mit einer Frau zu schlafen?« fuhr er ungeniert fort. »Gyula hat natürlich keine Ahnung davon - o mahadeo! Heiliger Tagore! Bei Buddha und allen Nebengöttern, es gab nicht Schöneres, als eine Frau auszuziehen, ihre Haut zu fühlen und sich mit ihr ins Bett zu legen… Dschi, sei ehrlich, war das nicht wunderbar?« Dschi erwiderte lächelnd: »Ich will nicht das Gegenteil behaupten, Paganini, aber wir sollten diese Erinnerung nicht heraufbeschwören.« »Und du, Dschi«, fragte ich, »was ist deine schönste Erinnerung?« Er überlegte. »Was soll ich darauf antworten? Aus unserer Sicht verklärt sich alles. Merkwürdigerweise fällt mir immer ein Kindergarten ein.« »Ein Kindergarten?« »Ja. In der Nähe unseres Instituts befand sich ein Kindergarten, an dem ich jeden Morgen vorbei mußte. Ich blieb regelmäßig ein paar Minuten stehen und sah zu, wie die Kleinen spielten. Manchmal hatte ich auch Süßigkeiten bei mir; sie kannten mich schon. Oft habe ich dieses Bild vor Augen, wie sie herumtollten und lachten. Damals hatte ich immer davon geträumt, selbst einmal Kinder zu haben.« »Vorbei, vorbei«, brabbelte Paganini, »wir sind die letzten in dieser Welt.« Dschi erhob seine Flasche. »Trinken wir den letzten Schluck auf die Kinder - sie sind die Zukunft.« Paganini maulte. Seine Flasche war bereits wieder leer. »Es ist besser, wenn wir künftig nicht mehr solche Fragen aufwerfen«, sagte ich. »Weshalb nicht?« fragte Gyula. »Wir leben in einer idealen Welt. Jeder darf tun und lassen, was er will.« »Das neue Jahr ist angebrochen«, sagte Paganini, »ich werde arbeiten.« Er zog sich hinaus. Sonja folgte ihm. »In seiner Verrücktheit tut
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er das einzig Richtige«, äußerte Dschi, »ihr solltet euch ebenfalls zu irgendeiner Tätigkeit aufraffen.« »Du wiederholst dich, Dschi«, sagte ich, »über dieses Problem haben wir uns bereits ausführlich unterhalten.« »Ihr könntet zum Beispiel eine Fremdsprache erlernen.« »Ach, lernen«, maulte Gyula. »Dann unterrichte. Sprich mit Sonja, und bring ihr deine Muttersprache bei.« Dieser Vorschlag gefiel Gyula. Er wollte auch mich unterrichten, aber ich hatte keine Lust, eine Fremdsprache zu erlernen. »Dann beschäftige dich mit Geschichte oder Philosophie«, riet mir Dschi, »irgend etwas mußt du tun.« »Ich lasse es mir durch den Kopf gehen«, erwiderte ich müde, »vielleicht fällt mir etwas Gescheiteres ein als Geschichte oder Philosophie.« Natürlich hatte Dschi recht, es war notwendig, etwas zu tun, irgendeiner Beschäftigung nachzugehen. Nur war das leichter gesagt als getan. Ich hatte keine Ausdauer, und immer wieder fragte ich mich: Warum eigentlich? Auf der Erde hatte es Sinn. Man lernte, um vorwärtszukommen, neue Erkenntnisse ließen sich anwenden. Was sollten wir lebendig Begrabenen mit unserem Wissen anfangen? Zehnter Januar Diese zehn Tage seit jener Silvesternacht vergingen wie eine Million Jahre. Ich könnte schreiben: Keine besonderen Ereignisse. Immer dieselben Gesichter, immer das gleiche Gerede, immer die gleichen Sterne um uns. Vielleicht ist es ein Ereignis, festzustellen, daß man noch nicht verrückt geworden ist. Ich komme mir unendlich einsam vor. Paganini lebt in seiner eigenen Welt. Er dirigiert sein Orchester, er erfindet immer neue Töne, hört die Schwingungen der interstellaren Materie. Manchmal beneide ich ihn um diesen Wahn. Dschi hat auch seine Welt. Die Welt der Hoffnung, die sich bei ihm in Zahlen umsetzt. Und nun gibt es noch zwei an Bord, die zufrieden sind. Gyula unterrichtet Sonja. Seit zehn Tagen lernen beide zusammen.
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Einmal, als sie sich unbeobachtet glaubten, hörte ich unfreiwillig ihrem »Unterricht« zu. »Liebe«, sagte er, »das heißt kedves, aber lieben heißt szeretni…« Und Sonja wiederholte seine Worte. Sie wiederholte alles und war eine gelehrige Schülerin. Ich war empört. Stundenlang hockten sie beisammen. Zwölfter Januar Ich habe das Empfinden, allein an Bord zu sein. Ich bin überflüssig geworden. Wenn ich lese, flimmern die Buchstaben vor meinen Augen, mein Kopf schmerzt. Manchmal möchte ich Schluß machen. Siebzehnter Januar Paganini hat wieder einen Anfall bekommen. Schuld war ich. Ich wollte mit ihm reden. Mit irgend jemandem muß man doch sprechen. Dschi läßt sich nicht stören, und Sonja läßt sich unterrichten - oder sie unterrichtet ihn. Auf jeden Fall ist das Verhalten der beiden empörend. Ich suchte Paganini auf. Er spielt neuerdings Klavier. Wenn man guter Laune ist, kann man darüber lachen. Mir brachten seine Gebärden und sein konfuses Gerede das Blut in Wallung. Ich sagte ihm, er sei verrückt. Er warf mit Bleistiften nach mir, dann mit Notenblättern, und später sauste eine Schweißstahlflasche an mir vorbei. Ihr Poltern schreckte die andern auf. Sonja beruhigte ihn, Dschi machte mir Vorwürfe, und dann fing auch Gyula an, mich zu belehren. Dieser Bengel könnte mein Sohn sein, aber er entblödete sich nicht, mir in väterlichem Ton zu sagen, ich müsse Rücksicht auf den Kranken nehmen und ich sollte mich etwas beschäftigen. »Es ist schwer, Stuart«, sagte er, »aber man muß umschalten und sich überwinden können…« Ich sah seine umschatteten Augen und dachte: Wenn er noch ein Wort sagt, bekommt er eine Ohrfeige von mir. Dschi zog mich weg. In seiner Kabine sagte er leise: »Du bist krank, Stuart, deine Nerven sind überreizt. Was ist los mit dir?«
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»Ach, meine Nerven sind überreizt«, erwiderte ich höhnisch, »du siehst wohl nicht, was hier vorgeht? Hast du noch nicht bemerkt, was es mit dem Unterricht der beiden auf sich hat?« »Du bist kleinlich geworden«, antwortete er. »Wir sind lange unterwegs, sehr lange, Stuart. Und Sonja ist schön und jung.« »Das sagst du, Dschi?« »Ja, ich. Es wird Zeit, daß du dich an diese Welt gewöhnst.« »Ich will mich nicht daran gewöhnen.« »Dann sag es ihr. Sag ihr, daß du sie liebst.« »Du bist verrückt«, sagte ich und zog mich hinaus. Ich schloß mich in meine Kabine ein und hätte am liebsten geweint. Zweiter Februar Heute, kurz nach sechzehn Uhr Weltzeit, beobachtete ich vom Labor aus einen winzigen Meteoriten. In den letzten Tagen war ich oft im Labor. Ich verpflanzte Algen in andere Behälter oder beobachtete durch ein Filter die Sonnenscheibe, auf der ohne Vergrößerung zwei Sonnenfleckengruppen zu erkennen waren. Der Meteorit zog an der Sonnenscheibe vorüber, dadurch wurde ich auf ihn aufmerksam. Zuerst war ich erschrocken und glaubte, ein Raumschiff gesichtet zu haben. Die kleine Welt hatte einen Durchmesser von etwa zwanzig Metern und rotierte langsam um ihren Schwerpunkt. Ich holte Dschi - die andern hatten ihre Beschäftigung. Dschi bekam das Trümmerstück für einige Augenblicke in das Blickfeld unseres Teleskops. »Merkwürdig«, sagte er verwundert, »die eine Seite dieses Meteoriten zeigt eigenartige geometrische Formen. Es sieht aus, als ragten aus dem Felsen Dreiecke, Kuben und Prismen hervor.« Ich sah diese eigentümlichen Formen ebenfalls und fand keine Erklärung dafür. »Es gibt da eine etwas skurrile Theorie«, sagte Dschi. »Shagan hat einmal ein Buch über einen Planeten herausgebracht. ›Pränuntius‹ nannte er diesen Planeten, der angeblich zwischen Mars- und Jupiterbahn existiert haben soll.« »Das ist nicht sehr orginell«, sagte ich, »denn schon Johannes Kepler hat von einem solchen Planeten gesprochen.«
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»Aber Shagan hat als erster umfangreiche Berechnungen darüber angestellt. Er gibt sogar das Zeitalter an, in dem dieser Planet auseinander geborsten ist. Könnte er dieses Trümmerstück sehen, würde er wahrscheinlich behaupten, sein Planet sei bewohnt gewesen.« »Es gibt nicht nur bei uns Verrückte«, brummte ich. »Solche geometrischen Formen können auf natürliche Weise entstanden sein. Bergkristalle, Salze oder Schneeflocken weisen alle geordnete Formen auf. Wieso kann dieser Shagan überhaupt Zahlen für die Existenz dieses imaginären Planeten angeben?« »Das ist nicht schwierig, Stuart. Wir wissen zum Beispiel genau, wann sich auf der Erde die Steinkohle gebildet hat - das war vor rund zweihundertfünfundsechzig Millionen Jahren. Diese Kohle wird nun schon seit einigen hundert Jahren abgebaut, aber noch niemals hat man einen Meteoriten darin gefunden.« »Und was beweist das?« »Wenn all diese Trümmer - größer oder kleiner - Bruchstücke eines Planeten sind, so muß er zur Zeit der Steinkohlenbildung auf der Erde noch existiert haben, denn wir finden seit Jahrhunderten Meteorite auf der Erde - nur nicht in der Steinkohle.« »Aber diese Trümmer könnten doch auch aus den Tiefen des Weltenraumes zu uns gelangt sein.« »Dann müßten sie eine bedeutend höhere Geschwindigkeit besitzen, und ihr Bahnverlauf wäre dann auch ein anderer. Fünfzig- bis sechzigtausend solcher Brocken von unterschiedlicher Größe wandern um die Sonne.« »Wie wir«, sagte ich. Sonja und Gyula tauchten an der Luke auf. »Wer wandert wie wir?« fragte Gyula heiter. Dschi erzählte von meiner Entdeckung. Ich zog mich hinaus; die Fröhlichkeit der beiden war eine Marter für mich. Draußen hörte ich, wie Gyula sagte: »Vielleicht war das der Bursche, der uns so demoliert hat? Komm, Csillagom, sehen wir uns das Sternchen an.« Csillagom! Wie kann sich ein Mensch so verändern? Unser Elend verdankten wir diesem Teufelsasteroiden - für Gyula war es der »Bursche«, ein Sternchen, das man sich betrachtete. Und Sonja ging dar-
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auf ein. Sie hatte gut gelernt in diesen letzten Wochen. Was wir nicht verstehen sollten, besprachen sie in seiner Muttersprache. Schade, daß dieses Trümmerstück eine andere Bahn hatte. Ich wäre zufrieden, wenn ein neuer Zusammenprall das Ende brächte. Ich kletterte in meine Kabine und band mich am Liegesitz fest. An nichts mehr denken! Kein Menschenhirn kann sich Sinnloseres ausdenken als dieses Leben. Gibt es denn kein Erbarmen? Fünfter Februar Wenn jemand mit einem harten Gegenstand gegen die Wandung der »Darwin« klopft, dröhnt es durch das Raumschiff, als zöge man alle Register einer Orgel. Paganini hat ein paarmal diese Register gezogen. Das ist teuflisch und geht auf die Nerven. Er klopfte sich den Takt zu seinen verrückten Kompositionen. Diesmal wurde auch Dschi halb verrückt, und wir mußten lange auf Shitomir einreden und ihm schließlich das Werkzeug wegnehmen. Später kam er zu mir und hielt mir einen Vortrag über seine Musik. »Die orthoskopische Wiedergabe der Wirklichkeit, Stuart«, sagte er, »das ist der Weg zum Gnadenhaften, auf daß der Weg noch gnadenhafter werde. Begreifst du mich?« »Ja«, sagte ich, »das ist natürlich.« Er redete fast eine halbe Stunde lang und merkte gar nicht, daß ich unterdessen las. Meine Lektüre paßte zu seinem Gerede. Ich weiß nicht, wie dieses Buch in unsere elektronische Bücherei gekommen ist; vielleicht hat es ein Spaßvogel aus der Verwaltung mitgegeben, oder es war eine Verwechslung - auf jeden Fall las ich ein altes Kursbuch. Was für traumhafte Zahlen! Fernost-Expreß Abfahrt null Uhr zwölf vom Warschauer Hauptbahnhof, an dreiundzwanzig Uhr neunundfünfzig Moskau, Weiterfahrt sechs Uhr… Zahlen, Bahnhöfe, Städte… Ich warf Paganini hinaus. Als er fort war, kam Dschi. Er fragte mich, ob ich ein Mittel gegen Zahnschmerzen wüßte. »Geh zu Sonja«, sagte ich, »sie zieht ihn dir heraus.« Gerade das wollte er nicht. Dschi hatte Angst. Er beschwor mich, Sonja nichts von seinem Leiden zu sagen. Was für Sorgen! Daß sich Sonja mit Gyula unter einem verlogenen Vorwand schon seit Tagen
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von uns absondert, interessiert Dschi nicht. Was gehen mich seine Zahnschmerzen an? Ich möchte niemanden mehr sehen, keinen… Neunter Februar Es wird zu Ende gehen. Ich könnte diesen Weg abkürzen, aber ich gönne Gyula diesen Triumph nicht. Ich habe die Gymnastikübungen eingestellt. Paganini hat es auch getan, aber unbewußt. Jetzt wird er wieder von Sonja in Pflege genommen. Um mich kümmert sie sich nicht. Meine Muskeln werden immer schlaffer, mein Fleisch ist weich. Nur der Verstand bleibt ungetrübt. Ich protestiere gegen alles, ich hasse alles. Die Sterne grinsen durch die Bordfenster, die Sonne bombardiert uns mit ihren Strahlen; die Fleckenbildungen und Eruptionen haben zugenommen, das bedeutet für uns erhöhte Strahlendosis. Recht so, mir ist das gleichgültig geworden. Aus der Nachbarkabine höre ich Paganini trällern. Er trällert immer, wenn er nicht schläft oder Sonja bei ihm ist. Dieser Singsang macht mich rasend. Wenn er still ist, fängt Gyula an zu singen. Er hat auch früher gesungen, aber früher waren seine Lieder weniger traurig. Er unterrichtet nicht mehr. Ich weiß nicht, warum, aber sie sind seltener zusammen. Sonja hat wieder einen Patienten, der sie ausfüllt. Paganini muß massiert werden, und Paganini braucht Tabletten und Injektionen. Ich brauchte auch Tabletten und Injektionen und Massage, aber mich sieht sie nicht. Es wird bald vorbei sein. Ich sehne mich nach dem Ende, ich freue mich darauf. Wenn ich nur an etwas anderes denken könnte. Ich versuche zu lesen, aber ich sehe nur Sonja vor mir. Ich sehe sie in Kleidern, und ich tanze mit ihr und schlafe mit ihr. Ich habe Angst, wahnsinnig zu werden, bevor es zu Ende geht. Dreizehnter Februar Gyula sang wieder. Es war irgendein trauriges Lied von einem Räkoczi. Ich kroch hinaus, müde und entnervt. Er hockte im Gemüsegarten. »Ruhe jetzt«, sagte ich, »du wirst jetzt still sein, Gyula.« Er sang weiter. »Du sollst still sein!« schrie ich. Er verstummte erschreckt. Ich kletterte wieder hinaus. Aus dem Sanitätsraum drang Paganinis Träl-
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lern. »Du bist auch gleich ruhig«, murmelte ich. Er konnte es nicht hören. Dafür hörte ich, wie er rief: »Ob, meine Sonja, sind wir nicht zwei Sonnenstrahlen?« »Ja, Dahli«, antwortete Sonja ernst, »wir sind zwei Sonnenstrahlen.« »Ist heute der dritte November?« erkundigte er sich. »Ich glaube nicht, es muß Februar oder März sein, aber vielleicht stimmen unsere Kalender nicht.« »Sie stimmen nicht, meine Aphrodite, mein Sonnenstrahl. Heute feiern wir das Lichterfest. Siehst du das Feuerwerk? Der Abschied vom Sommer. Weißt du noch, wie wir zusammen in Kalkutta waren? Erinnerst du dich?« »Nein, ich erinnere mich nicht. Ich war noch nie in Kalkutta.« »Du warst in Kalkutta!« sagte er heftig. »Gut, ich war dort.« »Ja, wir waren beide dort. Wir hörten die zweite Symphonie von Barnas Baragamba. Und dann gingen wir hinaus. Überall brannten die Lichter. Später kam er, erinnerst du dich wieder nicht?« »Wer kam?« »Rabindranath…« Ich schob mich durch die Luke. Sie saßen wie ein Paar beieinander. »Ist das eine neue Behandlungsmethode?« fragte ich. »Warum gibst du ihm keine Injektion?« »Störe uns nicht!« rief ihr Patient. »Unsere Medikamente sind nicht unbegrenzt«, erwiderte Sonja. Nach einer Pause fügte sie hinzu: »Er ist doch auch ein Mensch, Roger.« Und ich, bin ich kein Mensch? Ich wollte eigentlich Tabletten von ihr, aber sie war ja beschäftigt. Ich ließ die beiden allein und kroch in Paganinis Kabine. Es sah wüst darin aus. Die Notenblätter schwebten durcheinander, seine »Orthokopische Symphonie« flatterte mir entgegen. Dann entdeckte ich eine Injektionsnadel. Sonja mußte sie hier verloren haben. Ich nahm die Nadel und kletterte zurück. Als ich die Luke zum Sanitätsraum öffnete, erstarrte ich. Der hilfsbedürftige Patient und seine Ärztin hielten sich eng umschlungen. Als er mich
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bemerkte, grinste er nur. Sonja wand sich erschreckt aus seinen Armen. Ich verlor die Selbstbeherrschung. Ich fing an zu schimpfen und steigerte mich so sehr, bis Dschi und Gyula auftauchten. Ihr Anblick machte mich noch unbeherrschter. Ich mag die Worte nicht wiedergeben, die über meine Lippen kamen, ich war nicht mehr bei Sinnen. Dschi packte mich und zog mich in meine Kabine. Ich sagte: »Dschi, ich hasse dich, ich will dich nicht mehr sehen, ich hasse euch alle. Dich auch, Gyula, geh weg, oder ich bringe dich um!« Sie schnallten mich an meinen Liegesitz. »Jetzt komm erst einmal zur Besinnung«, sagte Dschi, »später werden wir uns unterhalten.« Als ich allein war, brach es auf einmal aus mir heraus. Ein Weinkrampf erschütterte mich. Ich weinte wie ein Kind. War es das Ende? Ich hatte in meinem Leben schon so vieles durchgemacht; die Strapaze dieses Fluges war zuviel für mich. Und nicht nur für mich. Auch die andern waren nur noch Nervenbündel. Sie gaukelten sich etwas vor, was es längst nicht mehr gab. Hätte ich in diesen Augenblicken eine Ampulle bei mir gehabt, ich hätte sie ohne Bedenken geschluckt. Dschi kam herein. Ich wollte ihn nicht sehen und schloß die Augen. Er sagte: »Du brauchst Ruhe und Schlaf, Stuart. Wie lange hast du keine Gymnastik mehr getrieben?« Ich gab keine Antwort. »Wahrscheinlich schon seit Wochen nicht mehr. Ich kann dich begreifen, Stuart, ich weiß genau, was in dir vorgeht. Was glaubst du denn, wie mir mitunter zumute ist? Aber sehe ich euch und höre ich euch reden, bekomme ich es mit der Angst zu tun. Es ist reiner Selbsterhaltungstrieb, wenn ich mich zusammennehme, wenn ich rechne und an die Nachrichtensonden denke. Du mußt die irdischen Vorstellungen abstreifen. Alles, was menschlich ist, ist normal. Und was hier geschah und geschieht, ist menschlich.« Er schwieg und wartete auf Antwort. Als ich nichts sagte, fuhr er mit leiser Stimme fort: »Du hältst mich vielleicht für einen eiskalten Intellektuellen. In Wirklichkeit schnürt mir die eiserne Logik manchmal den Hals zu.
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Auf der Erde wartet eine Frau auf mich; nicht mehr lange, dann ist die Trauerzeit vorüber. Dann kommt ein anderer, der wird sie in die Arme schließen. - Dschi ist tot. Was kann sie dafür? Was kann ich dafür? Das Schicksal kümmert sich nicht um Gefühle, alles wird seinen Fortgang nehmen. He, Stuart, antworte endlich!« Ich dachte nicht daran. »Ich will dir etwas sagen. Ich habe Sonja sehr gern…« Warum nicht, dachte ich verbittert, sie hatte Gyula, und sie hatte den Verrückten, weshalb also nicht auch ihn? »Ich glaube, man lernt die Menschen erst in schwierigen Situationen richtig kennen. Niemals haben wir sie klagen hören. Gyula wäre an unserm Unglück beinahe zerbrochen - sie ist daran gewachsen. Ich bewundere ihren Mut, ihre Selbstbeherrschung. Wir sollten von ihr lernen, Stuart, du vor allem.« Ich öffnete die Augen. Dschi hockte vor mir, sein Gesicht war dem Bordfenster zugewandt. »Ich bin so, wie ich bin; laß mich in Ruhe.« »Warum sollte ich dich in Ruhe lassen? Du mußt dich überwinden. Wir haben dieses Leben nicht gewählt - jetzt müssen wir damit fertig werden. Sonja ist damit fertig geworden. Und du wirst es auch, und Gyula wird eines Tages auch die Kraft finden. Einer muß dem andern helfen, oder wir gehen alle vor die Hunde.« »Dann gehen wir eben vor die Hunde.« »Nicht, wenn du es willst, Stuart. Hast du vergessen, daß du einen Rang bekleidest? Erster Ingenieur an Bord der ›Charles Darwin‹ besinne dich darauf. Du wirst es schaffen, denn du bist nicht allein.« »Aber ich habe keine Lust mehr zu leben!« Ich richtete mich auf und sah ihn an. »Ich kann nicht mehr, Dschi, ich verachte mich selbst, ich lehne mich ab, verstehst du?« »Ich verstehe, aber wir lehnen dich nicht ab. Und jetzt wirst du schlafen.« Ich erschrak, als Sonja sich plötzlich hieranzog. »Ich will nicht!« rief ich. »Laßt mich in Ruhe, ich will keine Spritze!« Dschi hielt mich fest, und ich war viel zu schwach, um mich zu wehren. Als Sonja mich berührte, wurde ich still. Sie sah mich mit ihren großen, dunklen Augen an, und aus ihrem Blick strahlten Wärme und Güte. »Ich will dir nicht weh tun, Roger«, flüsterte sie.
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Ich bemerkte kaum den Einstich der Nadel. Ihren Blick nahm ich mit in den Schlaf. Dritter März Ich habe sehr lange geschlafen. Einige Male war ich wach, aber ich weiß nicht mehr, was in dieser Zeit geschah. Es ist gut, wenn man schlafen und vergessen kann. Nur eines wollte mich auch während dieser Abwesenheit nicht verlassen. Ich träumte tausend Träume, und immer kam sie darin vor. Als ich endlich erwachte, saß sie bei mir. Ich war mir nicht sicher, ob es nicht doch nur Traum war, aber Sonja sagte: »Ich bin es, Roger, jetzt träumst du nicht mehr.« »Woher weißt du, daß ich von dir geträumt habe?« »Weil du mich gerufen hast. Jeden Tag. Du hast mir Liebeserklärungen gemacht.« »Ich liebe dich, Sonja, und das sage ich jetzt nicht im Traum. Ich liebe dich.« Sie strich mir übers Haar und schwieg. Ich zog sie an mich und küßte sie. Sie blieb bei mir und war doch unendlich weit von mir entfernt. Es paßte alles zu unserer Welt. Tiefstes Schwarz und grellstes Weiß draußen und höchstes Glück und tiefster Abgrund drinnen. Wahrheit und Lüge - alles war beieinander. Ich sagte nicht mehr, was ich empfand. »Sonja, woran denkst du? Wo bist du?« »Auf der Erde.« »Bei ihm?« »Ja.« »Und hier? Was ist hier?« »Nichts. Nichts, Roger.« Also ist es wahr, was Dschi einmal gesagt hat, dachte ich. Und ich hatte mir Illusionen gemacht. »Wir müssen leben«, sagte sie versonnen, »immer, bis ans Ende. Aber es gibt einen Menschen, dem ich verbunden bleiben werde, was auch immer geschehen mag. Ich will mir und ihm treu bleiben, Roger. Ich kann die Erde nicht aus mir herausreißen. Gyula kannte keine Frau vor mir, er wußte nicht, was Liebe ist. Er suchte sie in mir. Jetzt ist er enttäuscht. Ich werde weder ihm noch dir noch Dahli oder Dschi gehören können, sondern nur
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dem einen. Bitte, versteh mich, Roger.« Sie hatte die letzten Worte nur geflüstert. Ihr Bekenntnis ernüchterte mich, aber es heilte mich nicht von dem verzehrenden Verlangen. »Erzähle mir von deiner Frau«, bat sie. »Ich habe keine Frau«, sagte ich, »und es lohnt auch nicht, darüber zu sprechen. Sie ist keiner Erinnerung wert. Wer ist dieser Mann, den du nicht vergessen kannst?« »Er heißt Bedrich und ist Maler von Beruf.« »Und weiter?« »Nichts weiter. Ich liebe ihn.« »Also bleibt er deine schönste Erinnerung.« Wir schwiegen eine Weile. Dann fragte ich: »Hat er einen Namen - ich meine als Maler?« »Nein«, sagte sie, »aber ich glaube, er kann etwas, obwohl er keine öffentliche Anerkennung gefunden hat.« »Ja, das gibt es«, sagte ich. »Künstler sind nicht immer zu beneiden und schon gar nicht, wenn sie einen eigenen Kopf haben.« Sonja antwortete nicht. Wieder war es lange Zeit still zwischen uns. Ich ergriff ihre Hand. Am Einstieg zur Kabine tauchte Dschi auf. »Entschuldigt, ich will nicht stören, aber vielleicht möchtet ihr ein interessantes Schauspiel sehen?« »Nein«, sagte ich, »weder ein Schauspiel noch eine Tragödie.« »Was gibt es denn?« fragte Sonja. »Weder etwas von Shaw noch den Faust.« Es ärgerte mich, daß Dschi uns störte. Dschi sagte: »Eine Supernova, man kann das sehr selten beobachten, ein hochinteressanter Vorgang. Der Prozeß spielt sich im ›Großen Bären‹ ab, und zwar südlich unter dem Stern Kappa. Ihr müßt euch beeilen, wenn ihr noch etwas sehen wollt, die maximale Helligkeit scheint bereits überschritten.« Er verschwand wieder. »Ich möchte wissen, in welchen Kategorien er denkt«, sagte ich. »Südlich unter Kappa! Manchmal habe ich den Eindruck, daß ihm diese Reise sogar gefällt. Südlich unter Kappa ist es heller geworden, und Dschi begeistert sich daran.« »Ich finde ihn wunderbar«, sagte Sonja. »Als ich noch im Krankenhaus arbeitete, hatten wir einen Professor, der ihm ähnelte. Er hat
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Selbstversuche mit starken Giften durchgeführt. Beim dritten Versuch ist er gestorben.« »Wir führen auch einen Selbstversuch durch. Wir werden das Kunststück deines Professors auch fertigbringen.« »Gehen wir in den Gemüsegarten, ich möchte die Nova sehen.« »Ich möchte mit dir allein sein, Sonja.« »Dafür haben wir noch Zeit, Roger. Bitte, komm mit.« Ich folgte ihr ungern. Im Gemüsegarten blinzelte Gyula durch das Okular. »Noch eine Katastrophe im Weltenraum«, brummte er, »sieh dir das an, Grauschimmel. Ein Stern bläst sich auf wie eine Seifenblase und fällt wieder in sich zusammen. Sinnlos wie alles in diesem idiotischen Universum!« Er trat einen Schritt beiseite, um mir Platz zu machen. »Laß bitte den Grauschimmel», sagte ich unwirsch und betrachtete den hellen Fleck südlich unter Kappa. »Dieser Kernumwandlungsprozeß dürfte sich vor rund hundert Jahren abgespielt haben«, sagte Dschi. »Die Intensitätssteigerung eines solchen Sternes erreicht das Vierzigmillionenfache seines ursprünglichen Wertes.« »Ich kann mir darunter nicht viel vorstellen«, antwortete Sonja. »Ich auch nicht«, bemerkte Gyula, »und es interessiert mich auch nicht. Ob vierzig oder hundert Millionen Mal mehr - Wichtigkeit.« »Unsere Sonne müßte etwa hundert Millionen Jahre strahlen, um die Energie zu erzeugen, die beim Entstehen einer Supernova zustande kommt«, erläuterte Dschi. Es gibt Schöneres, als über diesen hellen Fleck zu debattieren, dachte ich, Sonja zum Beispiel, ihre Haut ist weich wie Samt… »Unser ganzes Sonnensystem ist verschwindend klein gegen die Ausmaße, die ein solcher Stern erreicht…« Was ist das Sonnensystem gegen ihre Augen… »Bitte, Sonja.« Ich machte ihr Platz und berührte wie unbeabsichtigt ihre Hand. Ob sie spürte, woran ich dachte? Paganini kletterte durch die Luke. »Will auch sehen«, krächzte er. »Was gibt es Neues auf der Erde?« »Wir betrachten uns nicht die Erde, Paganini«, sagte ich, »sie ist nicht so wichtig. Wir beobachten eine Supernova.«
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»Das ist gut«, brabbelte er, »eine Supernova - ich werde sie hörbar machen. Mein dritter Satz ist völlig von Radioaktivität getragen. Und am Schluß kommt eine kleine Passage aus dem E-Dur-Violinkonzert. Stuart, du kennst diese Stelle, du auch, Sonja…« Er summte auf einmal mit unglaublicher Zartheit und Hingabe das wundervolle Adagio des zweiten Satzes. Unbegreiflich, was in seinem kranken Schädel vorging. Kaum hatte er geendet, da lästerte er auch schon wieder. Er sah sich die Nova an. »Urmaterie, Höllenschlund, Protonen, Scheißwelt? Ach, Sonja, mein Sonnenstrahl!« »Jetzt halte deinen Mund«, sagte Dschi. Doch Paganini hielt nicht den Mund. »Stuart, weißt du, was schön ist, he?« »Ja, ich glaube, ich weiß, was schön ist, Paganini.« »Nichts weißt du, ich werde es dir sagen…« »Schweig, Dahli!« rief Sonja. »Ich will es aber sagen!« beharrte er eigensinnig. »Du sollst still sein.« Sonja packte ihn am Arm und wollte ihn wegziehen. Er riß sich los. »Ich sage es ihm leise. Er soll wissen, was schön ist.« Er kam auf mich zu und flüsterte mir etwas ins Ohr. »Natürlich ist das schön«, sagte ich. »Was hat er gesagt?« fragte Gyula. »So hört doch endlich auf mit diesem Gerede«, empörte sich Sonja. »Das ganze Weltall werde ich aufklingen lassen!« verkündete Paganini. »Niemand sieht, was ich sehe, und keiner fühlt, was ich fühle.« »Ja, du bist der Engel der Weisheit«, sagte Gyula, »und jetzt verschwinde, arbeite weiter an deiner Symphonie.« »Hilf mir, Sonja, ich habe Kopfweh. Komm, ich brauche deine Hilfe.« »Er lügt«, sagte ich, »er hat keine Kopfschmerzen.« Paganini sah mich mit einem delphischen Lächeln an. »Sonja, mein Kopf schmerzt entsetzlich.« »Der Satan hat ihn an Bord gebracht«, rief ich, als Sonja ihm tatsächlich folgte. »Er leidet wirklich«, sagte Dschi.
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Gyula lachte. »Du leidest, Dschi. Ein paar Wochen habe ich auch geglaubt, sie wäre eine Heilige. Aber sie ist herzlos. Wären wir auf der Erde, dann wüßte ich einen Namen für sie…« Dschi sprang plötzlich auf, und ehe Gyula sich versah, hatte er zwei Ohrfeigen erhalten. Dschi hätte ihn noch weiter geprügelt, doch sein unsicherer Stand hinderte ihn daran. »Gyula«, sagte er erregt, »ich schlage dich windelweich, wenn du noch eine Bemerkung über Sonja machst!« Gyula war blaß geworden, und auch ich erschrak. So hatte ich Dschi noch nie gesehen. »Ich sage ja nichts mehr«, versicherte Gyula, »ich sage kein Wort mehr.« Dschi sah mich an. Er gab sich Mühe, ruhig zu sprechen, als er sagte: »Du hast recht, sie ist keine Heilige, denn sie ist mehr. Sie ist ein Mensch, und du solltest dich vor ihr verneigen, wir alle sollten es. Als wir noch auf der Erde waren, wäre das nicht vorgekommen, was eben geschah. Dir wäre diese Bemerkung nicht über die Lippen gekommen, und ich hätte dich nicht geschlagen. Diese wenigen Monate haben uns verändert - und nicht zum Guten. Was soll aus uns werden? Vor uns liegt ein weiter Weg. Wir müssen ihn zu Ende leben - als Menschen. Ich will, daß du immer daran denkst, Gyula; es gilt für uns alle. Entweder besinnen wir uns immer wieder darauf, oder wir kehren in den Kreis zurück, aus dem die Menschheit einmal hervorgekommen ist.« Er kletterte hinaus. »Hast du verstanden, was er meinte?« fragte Gyula. »Ja«, sagte ich. Neunzehnter März Langsam klingt die innere Rebellion in uns ab. Wir protestieren nicht mehr, wir fügen uns dem Unabänderlichen. Mir jedenfalls geht es so. Noch ist die Erinnerung in uns lebendig, aber diese Welt hat ihren Schrecken verloren. Die Monotonie fängt an, unseren Geist zu lähmen. Ich wehre mich dagegen. Je mehr ich spüre, wie sich mein Verstand und mein Bewußtsein dem Leben in diesem Metallsarg anpassen, desto mehr versuche ich, Dschi nachzueifern. Ich habe mich in den letzten Tagen mit geistesgeschichtlichen Studien be-
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schäftigt. Wie langsam und qualvoll doch der Weg der Menschheit aus dem Dunkel seiner Vorgeschichte war. Es gab Jahrhunderte, da die Entwicklung stillzustehen schien, und es gab Jahrhunderte, da der Aberglaube die Menschen tierischer als jedes Tier machte. Betrachtet man die Geschichte des Mittelalters - angefangen von dem Zuhälter und Mörder Kaiser Konstantin, den man den »Großen« nennt, weil er das Christentum zur Staatsreligion erhob - bis zum Beginn der Aufklärung, so kommt man unwillkürlich zu der Überzeugung, daß ein großer Teil der Menschheit wahnsinnig gewesen sein muß. Im Namen Christi haben die vorgeblichen Stellvertreter Gottes ganze Völker ausgerottet, haben sie die Geistesschätze des klassischen Altertums vernichtet und gegen jeden Fortschritt einen Damm aus Feuer und Blut errichtet. Wie schwer war der Weg der Menschen aus dem Tierreich, wie weit und dornig; der Weg zurück ist leichter und wesentlich kürzer, Wir sind erst ein halbes Jahr in dieser Welt, und wir müssen unser Leben hierin verbringen, nutzlos, ohne die Möglichkeit einer Weiterentwicklung. Was wird in einem Jahr sein, in zwei, in zehn Jahren? Wir müssen uns anpassen, anpassen an die Stille, an das Schwarz und Weiß, an das Nichts. Nein, zehn Jahre werden wir nicht durchhalten, auch keine fünf… Dreiundzwanzigster März Ich habe mit Dschi darüber gesprochen. Ich sagte: »Dschi, laß deinen Zweckoptimismus jetzt einmal beiseite. Wie lange halten wir es noch aus?« »Ich weiß es nicht, Stuart«, sagte er, »und ich will auch nicht darüber nachdenken. Ich hoffe, weiter nichts.« »Du hast darüber nachgedacht, deswegen hoffst du. Du hoffst auf Rettung, weil du genau weißt, daß wir nicht mehr lange durchhalten. Es fängt bereits an…« »Was fängt an, Stuart?« »Herrgott, frage nicht immer wie ein Dozent bei einer Prüfung! Du weißt genau, was ich meine, du weißt es sogar besser als ich. Wir stehen still, und Stillstehen ist Rückwärtsgehen. Ich will nicht von
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Dahli Shitomir reden, er erträgt unsere Lebensbedingungen noch am leichtesten. Aber sieh dir Gyula an. Er steht am Bordfenster und starrt hinaus. Beobachte Sonja. Auch mit ihrer Selbstbeherrschung ist es bald zu Ende. Sie ist schweigsam wie diese verfluchte Welt, und wenn sie allein ist, starrt sie wie Gyula durch die Scheiben. Und mir geht es nicht viel anders. Dschi, was soll werden?« Lange Zeit sah er mich nur an. Endlich sagte er: »Hoffen, solange wir noch die Kraft dazu haben. Ich bin bald mit meinen Berechnungen fertig - ein, zwei Tage noch, dann werden wir beraten.« »Um wieder zu hoffen?« »Um wieder zu hoffen, eine Hoffnung, die zeitlich begrenzt sein wird. Laß mich jetzt allein, Stuart, ich will diese Arbeit zu Ende bringen.« Ich versenkte mich wieder in meine Lektüre, aber es wurde mir immer schwerer, mich zu konzentrieren. Gyula kroch in meine Kabine. »Störe ich, Stuart?« »Nein, im Gegenteil.« Er hielt sich an dem Klapptisch fest und schwieg. »Hast du etwas auf dem Herzen, Gyula?« »Nein. Ich möchte nach Hause oder sterben.« »Ach, sterben«, sagte ich. »Dschi hat wieder Ideen.« »Ich spucke auf seine Ideen.« »Sehr höflich bist du nicht.« »Was ist das, höflich? Warum sind wir auf der Welt, Stuart? Ich meine nicht nur uns fünf, sondern überhaupt die Menschen. Wozu haben wir ein Gehirn? Ich blicke durch das Bordfenster und sehe Sonnen über Sonnen. Mit etwas Geschick läßt sich feststellen, woraus sie bestehen - und weiter? Mußte diese eine Kreatur auf der Erde deswegen ein Mensch werden, um seine eigene Winzigkeit zu erkennen? Was hat das alles für einen Sinn? Warum, Stuart, warum?« »Es ist sinnlos, warum? zu fragen, Gyula. Wir sind da, wir leben und begreifen. Vielleicht wird sich der Mensch einmal die Sterne Untertan machen…« »Warum?«
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»Höre auf mit deinem Warum! Dieses verdammte Grübeln bringt dich noch um den Verstand.« »Ich muß denken, ich kann nicht anders. Jeder denkt an irgendwas. Und was sollte man auch sonst tun? Ich frage mich zum Beispiel oft, was eigentlich Zeit ist. Ist es das blöde Ticken unserer Uhren? Ist es der Abstand zwischen den Starts zweier Quanten? Warum dreht sich mein Uhrzeiger? Das ist doch völlig sinnlos geworden in dieser Welt, denn es gibt keine Beziehung mehr zur Umwelt. Immer das gleiche Bild um uns herum. Wann ist Morgen oder Abend? Und dieser Raum, dieser endlose Raum! Auf der Erde ahnt man ihn nur - aber hier… Wo ist das Ende, wo der Anfang?« Obwohl mich solche Fragen wenig berührten, konnte ich Gyula verstehen. Diese Monotonie, das Zeitlose, regte uns alle mehr oder weniger zu den merkwürdigsten Überlegungen an. In diesem ewigen Grübeln steckte eine Gefahr - wir konnten daran irre werden. Mir fiel ein Buch ein, in dem ich über dieselbe Frage nach dem Warum einmal gelesen hatte. Ich kramte es hervor und steckte es in unser Transkapus. »Vielleicht gibt dir das eine Antwort, Gyula: Die Unermeßlichkeit hat kein Warum. Sie ist das, was sie ist, ein kreisend Rad urewigen Seins, ein Ding, das keinen Maßstab als sich selber hat…« Er stieß einen Seufzer aus. »Das ist auch eine Erklärung. Ein kreisend Rad - ich sehe, du kannst mir auch nicht helfen. Ich werde Dschi fragen.« »Das würde ich nicht tun, er will nicht gestört werden. Denk nicht darüber nach, niemand kann dir eine Antwort geben.« »Ich möchte es herausfinden. Ich möchte wissen, ob das Leben einen Sinn hat - unser Leben meine ich.« »Wenn es einen Sinn hat, dann den, wieder zur Erde zurückzukommen.« »Also ist es sinnlos«, sagte er und verließ mich. Was für Fragen, was für Gedanken! Aber wie soll man sich ihrer erwehren? Später… Gyula hatte mich mit seinem Warum? so durcheinandergebracht, daß ich nun selbst anfing, über alle möglichen Fragen nachzudenken. War es der einzige Sinn unseres Daseins, zur Erde zurückzukehren?
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Dann hatte Gyula recht, dann war unser Leben sinnlos, denn es gibt kein Zurück für uns. Auch Dschi konnte mit seinen mathematischen Kunststücken kein Wunder vollbringen. Aber warum - schon wieder ein Warum? - bleiben wir dann am Leben? Man darf nicht darüber nachdenken. Warten und Hoffen - das ist alles… Neunundzwanzigster März Je mehr ich mich mit der Entwicklungsgeschichte der Menschheit beschäftige, desto mehr bin ich geneigt, selbst der Religion oder besser der Religiosität eine positive Seite im Leben unserer Entwicklung abzugewinnen. Wenigstens scheint sie mir bis zu einer bestimmten Entwicklungsstufe gerechtfertigt. Jetzt, da sich unser Heimatplanet uns als ein Stern unter Sternen zeigt, sehe ich alles viel deutlicher. Phantastisch der Weg, den der Mensch zurückgelegt hat; Dunkelheit ist am Anfang um ihn und in ihm. Jahrtausende vergehen, bis das Hirn die ersten kargen Erfahrungen gespeichert hat. Sie genügen, um die einfachsten Naturvorgänge zu begreifen, aber es bleiben Phänomene. Ist es nicht natürlich, wenn er Schutz suchend zu einem höheren Wesen aufblickt? Bei der Lektüre alter Religionsschriften fiel mir auf, daß fast alle Religionsstifter und Propheten ihr Glaubensbekenntnis mit Moralgesetzen und ethischen Lebensregeln verbanden. Götter als Helfer und Richter für das Zusammenleben der Menschen. Mir erscheint dieser Vorgang heute wie ein erster zaghafter Schritt aus dem Tierreich. Aber wie alles zu einem Dogma erstarrt und hemmend wirkt, wenn es sich nicht der Entwicklung anpaßt und den neuen Erkenntnissen unterwirft, so nutzte auch die Religion eines Tages ihre Daseinsberechtigung verlieren. Sie wurde besiegt und überwunden vom Mikroskop und vom Fernrohr, vom Kernreaktor und vom Raumschiff. Welch ein riesiger Schritt vom ersten dumpfen Ahnen bis zur Erkenntnis: Leben ist eine allgemeine Eigenschaft der Materie, aller menschlicher Geist ist nur das Produkt dieser Materie. Indem ich diese Worte niederschreibe, fühle ich mich plötzlich wieder mit meinem Stern verbunden, als hätte ich ihn niemals verlassen. Wir leben, wir atmen und denken. Wieviel ist das, wieviel! Erde…
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Dritter April Dschi hat etwas errechnet. Er ist in diesen Monaten schrecklich abgemagert. Sein großer Kopf wackelt auf den Schultern, und manchmal denke ich, er besteht nur noch aus Geist. Dschi bat uns in den Gemüsegarten. »Bitte, hört mir einen Augenblick zu«, sagte er ernst, »ich habe euch etwas Wichtiges zu sagen.« »Der Märchenerzähler hat das Wort«, spöttelte Gyula, »wie oft hast du uns schon Wichtiges gesagt! Was du auch hervorbringst, Dschi, ich glaube dir kein Wort. Und ich will auch nichts hören. Wir sind tot, mausetot. Bald werden wir die Venus sehen, groß, wie es der Mond von der Erde aus war.« Dschi ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Es gibt Hoffnung für uns. Ich habe zwanzigmal nachgerechnet, ein Irrtum ist beinahe ausgeschlossen. Wir werden in viereinhalb Monaten einen Winkel zur Erdbahn haben, der uns den Abschuß unserer Nachrichtensonden erlaubt. Wir haben ein Tonband-Batteriegerät an Bord. Es wird also jeder eine Nachricht für seine Angehörigen auf Band sprechen. In jede Sonde kommt außerdem eine Berechnung unseres Bahnverlaufs. Stuart, ich weiß, daß du dir Notizen machst. Da wir unser Bordtagebuch nicht weitergeführt haben, sollten wir deine Aufzeichnungen ebenfalls der Sonde anvertrauen. Wenn wir uns zusammennehmen, haben wir Grund, auf Rettung zu hoffen.« »Viereinhalb Monate!« rief Gyula. »Warum sagst du nicht gleich drei Millionen Jahre?« »Wie lange wird die Sonde unterwegs sein, Dschi?« fragte Sonja. »Nicht länger als dreißig bis vierzig Tage - dann wäre sie in Erdnähe. In diesen Fall kommt uns unsere hohe Geschwindigkeit zustatten.« »Es wird immer mehr«, stöhnte Gyula, »vierzig Tage und viereinhalb Monate - das ist bereits ein halbes Jahr.« »Eine kleine Hoffnung wenigstens«, sagte ich. Paganini, der nicht zu dieser Unterredung eingeladen worden war, kroch herein. »Ich bin ein kleines Vögelein«, trällerte er, »ich werde fliegen von Stern zu Stern…«
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»Das reicht mir«, sagte Gyula. »Selbst wenn die Sonde jemals ankäme - sie würden das Ding nicht finden. Ich pfeife auf alle Hoffnungen. Warum ist es so heiß?« Er wartete die Antwort nicht ab, sondern zog sich hinaus. Es war wirklich sehr heiß geworden. Shitomir glotzte teilnahmslos durch das Bordfenster. Ich sagte: »Dschi, knüpfst du im Ernst Hoffnungen an diese Sonden?« »Ja, Stuart. Wir haben darüber schon einmal gesprochen.« Er zog sich ebenfalls hinaus. »Was bleibt uns anderes, Roger, als zu hoffen«, sagte Sonja. »Du hast recht«, antwortete ich, »ich möchte jetzt mit dir plaudern, willst du?« Sie nickte. Wir gingen zu ihr in den Sanitätsraum. Das Wichtigste hatten wir Dschi zu fragen vergessen. Als er mir später seine Idee noch einmal anschaulich auseinandersetzte, fragte ich, wie viele Monate er für seine Hoffnung veranschlagte. Er hatte auch darüber nachgedacht und antwortete: »Ein halbes Jahr bis zum Auffinden der Sonde, ein Jahr, bis man uns erreicht hat.« Anderthalb Jahre. Es war gut, daß Gyula nicht zuhörte. Anderthalb Jahre! Eine Zahl, ein Zeitraum - phantastisch, aber doch eine Begrenzung. Dschi sagte: »Die Zeit wird vorübergehen, Stuart. Achtzehn Monate sind viel, wenn man auf Rettung wartet, und sie sind wenig, wenn man nach diesem Zeitraum Abschied nehmen muß.« So oder so, dachte ich, sie sind eine Ewigkeit. »Was machen deine Studien?« »Keine Lust mehr«, sagte ich. »Schade. Jetzt könnten wir uns zusammentun. Ich werde vorläufig nicht weiterrechnen.« »Vorläufig? Was willst du denn noch errechnen?« »Es gibt interessante mathematische Probleme. Wenn ihr wollt, werde ich euch morgen einen Vortrag über die Entwicklung der Physik halten.« Ich war nicht sehr begeistert davon und Gyula wahrscheinlich auch nicht, aber ich stimmte trotzdem zu. Fünfter April
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Paganini wollte nichts von dem Vortrag wissen. Er war wieder einmal »erfüllt« von Musik. Eigentlich war er der Zufriedenste von uns allen, und vielleicht ist es in der Welt, in der er lebt, schöner als hier. Dschi sprach lange, mitunter zu lange über komplizierte Probleme. Er erzählte von den Anfängen der Physik, von den Leuchttürmen dieser Wissenschaft, den bedeutenden Männern und Frauen, die in zwei Jahrtausenden Steinchen um Steinchen zusammengetragen hatten. Er schloß mit den Worten: »Früher, als die Kernphysiker die gewaltige Kraft des Atoms nur ahnten, galten sie in der Gesellschaft als Sonderlinge, als Spinner, die dort suchten, wo nichts zu sehen war. Man duldete sie und billigte ihnen die Narrenfreiheit der Alchimisten zu. Erst als in der Mitte unseres Jahrhunderts die Atombomben über Hiroshima und Nagasaki explodierten, stiegen die Physiker mit einem Schlage für die breite Öffentlichkeit aus dem Reich der Träume auf den ersten Platz in der Gesellschaft. Sie hatten sich mit dieser Explosion für alle Zeiten Gehör verschafft.« »Merkwürdig«, sagte Gyula, »was die Menschen auch immer erfunden haben, wenn es irgend möglich war, setzten sie es für den Krieg ein. Das erging Archimedes nicht anders als Leonardo da Vinci und Nobel nicht anders als Fermi, Hahn oder Einstein. Alle waren Humanisten, aber aus ihren Erfindungen und Entdeckungen wurden Waffen. Also bleibt es dabei: Der Krieg ist der Vater aller Dinge…« »Halbwahrheiten erklären nichts«, widersprach Dschi. Auf die Urgesellschaft trifft dieser Satz zum Beispiel nicht zu. Erst mit dem Beginn der Zivilisation, den Epochen der Knechtschaft, gewinnt der ›Krieg als Vater aller Dinge‹ an Bedeutung. Aber diese Epochen werden einmal der Vergangenheit angehören…« »Na ja, das kennen wir schon«, wandte ich ein, »der Traum vom ewigen Frieden. Wieviel Generationen sind darüber zu Staub geworden.« »Kein Traum«, ereiferte sich Dschi, »eine Notwendigkeit für das Überleben. Ewiger Friede bedeutet nicht ungetrübtes Glück. Für mich ist die Evolution der Menschheit ein ununterbrochener Prozeß; es gibt kein Ende. Meiner Ansicht nach haben wir das Tierreich noch
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längst nicht verlassen, aber der Überlebenswille der menschlichen Rasse auf dem Planeten Erde zwingt sie zu neuen, besseren Formen ihres Zusammenlebens. Bald werden die Energievorräte der Erde erschöpft sein. Keine Kohle mehr, kein Kernbrennstoff, kein Öl. Also wird man neue Quellen erschließen müssen: Fusionskraftwerke, den Deutoriumvorrat der Ozeane und später einmal die Energie der Sonne und der Planeten. Dazu kommen andere Probleme, die gelöst werden müssen. Das Trinkwasser auf der Erde wird allmählich rar, ihr Sauerstoff nimmt ab, die Umwelt ist verpestet und so fort. Ich sehe darin eine neue Phase der Evolution, geboren aus der Notwendigkeit. Dann wird nicht mehr der Krieg, sondern der Streit der Meinungen Vater aller Dinge sein.« »Nehmen wir einmal an, es wäre so«, sagte Gyula, »wie geht es weiter?« »Wenn der Mensch die Sonnenenergie bändigen kann, wird er sich in ferner Zukunft auch die Energie der gesamten Milchstraße nutzbar machen. Es ist nicht unmöglich, daß es bereits Lebewesen im All gibt, die diesen Zustand erreicht haben.« »Warum aber sollte das geschehen?« fragte Gyula. »Vielleicht ist es das Gesetz der Erhaltung der Art in einem höheren Sinne. Entweder forscht und strebt sie weiter, oder sie geht zugrunde.« »Du bist und bleibst ein Träumer, Dschi«, sagte Gyula. »Alle Menschen träumen - ich habe keinen Grund, pessimistisch zu sein. Das Leben bleibt nicht stehen, sonst wäre es sinnlos.« Gyula lachte laut auf. »Dschi, wenn ich dich sprechen höre, möchte ich weinen. War deine Supernova neulich sinnvoll? Wo steckt der Sinn in dieser komischen Natur, zeige ihn mir! Warum glotzen uns Stunde um Stunde die Sterne an? Was ist das: Schwerkraft? Komme mir nicht mit deinen physikalischen Gesetzen. Es ist zum Beispiel auch errechnet worden, daß sich die Sonne einmal ausdehnen und den gesamten Raum unseres gegenwärtig bekannten Sonnensystems einnehmen wird. Ich glaube nicht an deine Super-Zivilisationen, das ist nichts weiter als Größenwahn. Das Leben ist ein Traum, weiter nichts - und nicht einmal ein besonders schöner. Entstehen und Vergehen, diesem Gesetz ist die Menschheit untergeordnet.«
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»Vielleicht«, sagte Dschi, »vielleicht auch nicht. Aber selbst wenn das Leben nur ein Traum ist - weshalb sollten wir es wegwerfen? Ist es nicht sinnvoll, die Erde gut und schön einzurichten und diesen Traum bis zu Ende zu genießen?« »Von welcher Erde sprichst du, Dschi?« fragte ich. »Das hier ist unsere Erde, die ›Charles Darwin‹, benannt nach dem Naturforscher, der die Schöpfungsgeschichte im ersten Buch Mose der Märchenliteratur zuordnete. Nur - hier entstehen keine Arten mehr, und hier gibt es auch keine natürliche Zuchtwahl.« »Und doch leben wir«, antwortete Dschi. »Leben nennst du das?« Paganini kroch herein. Ich wies auf ihn. »Sieh ihn dir an, Dschi, das Ebenbild Gottes, unser Spiegelbild. Er zeichnet unseren Weg vor.« »Und den Weg der Erde, wenn die Vernunft sich nicht durchsetzen sollte«, warf Gyula ein. Paganinis Gesicht war von erschreckender Blässe. Sein struppiger Bart gab ihm ein verwildertes Aussehen. Er wackelte mit dem Kopf und fing an zu singen: »Ich bin ein Vogel mit grünen Federn, und ich werde fliegen von Stern zu Stern…« »Höre auf, Dahli«, sagte Sonja. »Komm, setz dich neben mich.« Er gehorchte. »Manchmal weiß ich nicht mehr, ob ich ein Mensch bin«, sagte Gyula nachdenklich. »Wir reden, wir können uns verständigen - und was können wir noch? Ein Mensch sollte ins Theater gehen, er sollte Kleider haben und fühlen, wenn der Wind weht und wenn es regnet. Regen - wißt ihr noch, was das ist? Regen…« »Höre auf, Gyula!« rief Sonja verzweifelt, »ich bitte dich, hör auf!« Paganini summte vor sich hin. »Ich werde fliegen und ihn finden. Und dann werde ich ihn fragen…« »Wen willst du finden und fragen?« fragte Dschi. »Ihn«, antwortete er feierlich, »ihn, der für alles verantwortlich ist. Ich werde ihm alles sagen.« »Bald reißt mir die Geduld«, murmelte Gyula. »Spiele uns doch einmal einen Affen vor, Paganini, ich habe Verlangen nach meinen Vorvätern…« »Jetzt ist es genug!« rief Dschi.
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In Erinnerung an die Ohrfeigen verstummte Gyula. Sonja nahm den Kranken bei der Hand und führte ihn hinaus. »Entschuldigt«, sagte Gyula, »ich kann nicht mehr.« Ich legte meinen Arm um seine Schulter und redete auf ihn ein. Er beruhigte sich, und ich dachte: Wenn mich doch auch einmal jemand tröstete. Aber ich war der Älteste, und mein weißes Haar verpflichtete mich noch mehr, den »Vater« zu spielen. Dabei war mir so elend zumute, so hundeelend… »Manchmal wache ich durch wirre Träume auf«, sagte Gyula leise. »Sie gaukeln mir verrückte Bilder von der Erde vor. Gestern habe ich von einem Wald geträumt. Ich ging durch Laub - es war Herbst. Das Laub raschelte, und überall schraken Hasen und Rehe auf. Plötzlich sah ich einen Jäger. Er legte sein Gewehr an und zielte auf mich. Ich schrie: ›Ich bin kein Hase, nicht schießen, ich bin Gyula von der Darwin!‹ Aber er schoß. Ich fiel um und war tot. Und so bin ich erwacht - und der Traum war Wirklichkeit, denn ich bin ja tot, richtig tot, eingetragen im Register. Ach, Dschi! Ich bin noch nicht vierundzwanzig, aber ich würde mein Leben geben für eine einzige Stunde auf der Erde. Nur sechzig Minuten noch einmal alles sehen und hören dürfen - dann könnte der Jäger kommen.« »Wir werden zur Erde zurückkehren«, sagte Dschi. Wie oft er diesen Satz schon ausgesprochen hatte. Sonja kam zurück. Sie machte ein besorgtes Gesicht. »Dahli ist krank.« »Das ist nicht neu«, sagte ich. »Es ist noch etwas anderes, Roger. Ich hatte ihn vor einigen Tagen untersucht. Es ist nicht ausgeschlossen, daß er an Leukämie leidet. Habt ihr seine Blässe bemerkt?« »Und du kannst nichts dagegen unternehmen?« erkundigte sich Dschi. »Nein.« »Ich möchte wissen, welche Krankheiten uns anhaften«, sagte Gyula. »Nur Schnupfen können wir uns hier nicht holen. Kein Wetter, kein Schnupfen.« Unsere Unterhaltung plätscherte dahin; eine allgemeine Müdigkeit breitete sich aus. Als ich einen Blick auf das Thermometer warf, erschrak ich. Es zeigte achtunddreißig Grad Celsius an. Die Lamellen an der Außenfläche des Raumschiffes waren
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aufgeklappt. Sie reflektierten das Sonnenlicht nicht mehr, dadurch stieg die Temperatur unaufhörlich an. Ich sagte es den andern. Gyula stürzte hinaus, um die Lamellen zu schließen. Wahrscheinlich hatte Paganini daran gespielt. Wir regten uns nicht darüber auf. Die Hitze lähmte unser Denken. Neunzehnter April Als ich noch auf der Erde lebte, sah ich einmal einen Gruselfilm, in dem eine neuzeitliche Foltermethode gezeigt wurde. Es war eine ganz einfache Sache. Ein Mensch wurde eingesperrt, in seinem Aufenthaltsraum herrschte absolute Stille. Nur nebenan tropfte ein Wasserhahn. Klick, klick, klick - Stunde um Stunde, Tag um Tag. Es gibt viele Methoden, die einen Kurzschluß im Gehirn auslösen lassen. Ein anhaltend lautes Geräusch zum Beispiel - oder auch das Gegenteil, die Stille. Davor hatte ich die meiste Angst: verrückt zu werden. Waren wir es vielleicht schon? Manchmal redeten wir alle konfuses Zeug, wenigstens kam es mir so vor. Mitunter schimpften wir auch - Gyula und ich oder Paganini. Nur Dschi blieb gleichmäßig ruhig. Wie lange noch? Zwei Stunden später… Es ist etwas an Bord geschehen. Ein Wunder ist eingetreten. Ja, ein Wunder. Ich glaube, jetzt wird alles anders werden. Mir fehlen die Worte, um das Vorgefallene richtig zu beschreiben. Und es fällt mir schwer, mich dabei nicht im Mystischen zu verlieren. Sonja nennt es unumwunden ein Wunder, und auch Gyula bewegt sich immer tiefer in religiösen Gefilden. Dabei läßt sich alles auf einfache Weise erklären. Alles kann man berechnen, messen, wägen, chemisch oder physikalisch trennen. Doch dazu bedarf es eines ausgeruhten Verstandes. Paganini, der kranke, unglückliche, glückliche Narr, hat dieses Wunder an Bord entdeckt. Er war seit Tagen nicht mehr im Labor gewesen. Seine Getränkeflasche blieb unberührt. Ich suchte ihn, fragte Sonja - er schien sich aufgelöst zu haben. Nur eine Stelle im Raumschiff hatten wir nicht durchsucht: das Heck. Nach der Bestattung Michaels waren diese
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Kammern für uns tabu gewesen. Dschi hatte sie verschlossen. Zwischen den Schotten herrschte leichte Radioaktivität, nicht lebensgefährlich, aber auf jeden Fall schädlich. Wir fanden die Einstiegsluke geöffnet. Beim Näherkommen hörten wir ihn flüstern. In seinem Wahn unterhielt er sich mit Rabindranath Tagore. »Hörst du, wie es klingt, Meister?« fragte er, »ich widme dir meine Kunst…« Er redete noch mehr solchen Unsinn. Als ich durch die Luke blickte, glaubte ich meinen Augen nicht zu trauen. Ich sah Dschi an, dann Sonja und dachte: Jetzt bist du verrückt geworden. Doch auf den Gesichtern meiner Gefährten malte sich die gleiche Überraschung. Der Kranke stand an der Bordwand und hielt seine rechte Hand dicht vor den Augen. Auf seiner Handfläche saß etwas, und dieses Etwas bewegte sich. »Eine Fliege«, flüsterte Dschi, »tatsächlich eine lebendige Fliege, das ist phantastisch.« »Wie ist das nur möglich?« fragte Sonja. »Ein Wunder ist geschehen«, murmelte Gyula hinter mir, »das ist ein Fingerzeig. Deus stat pro parte nostra.« »Weg?« schrie Paganini, als er uns bemerkte, »weg, er gehört mir! Er ist zu mir gekommen, nur zu mir!« Um ihn nicht noch mehr zu erregen, traten wir einige Schritte zurück. Paganini, der Fliegenbesitzer, kam uns in diesem Augenblick wie ein Heiliger vor. Nichts vermag den Menschen so sehr zu erschüttern und aus dem Gleichgewicht zu bringen wie das Ungewöhnliche, das sich nicht sofort mit dem Verstand erfassen läßt. Es gibt viele solcher Phänomene, die uns immer wieder eigenartig berühren, der Tod gehört dazu. Wir wissen, warum ein Leben zu Ende gehen muß, und dennoch erschüttert uns dieser Abschied immer wieder aufs neue. Die Geburt ist ein solches Phänomen, und alle noch so gelehrten Bücher darüber vermögen uns diese Auferstehung und auch das Vergehen niemals voll begreiflich zu machen; es bleibt immer ein Quentchen des Wunderbaren. Wir hockten vor der Luke, fassungslos. Paganini drückte sich furchtsam gegen die Schottwand und beteuerte unentwegt, daß die Fliege ihm gehöre. Hätte in diesem Augenblick jemand gerufen:
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»Die Erde nähert sich!«, es hätte uns wahrscheinlich weniger in Aufregung versetzt. Diese Fliege erschien uns wie ein Vorbote der Erde, unbegreiflich, wie sie an Bord gekommen war. Begrüßten nicht den irrenden Seefahrer die Möwen als erste Boten des nahenden Landes? Diese kleine Fliege - Herrgott, sie saß auf Paganinis Hand und putzte sich mit den Hinterbeinen die Flügel. »Wie ist das nur möglich?« Ich weiß nicht mehr, wer diese Frage laut aussprach. Jedem von uns lag sie auf der Zunge, und ich hatte sogar eine Erklärung dafür, aber ich scheute mich, diesen phantastischen Eindruck zu zerreden. Wie nicht anders zu erwarten, übernahm es Dschi, eine plausible Erklärung zu geben. »Erinnert euch, unser Start verzögerte sich. Mischa mußte aus irgendeinem Grunde noch einmal aussteigen. Es war damals drückend heiß - er muß ein Fliegenei mit ’reingeschleppt haben, das ist alles. Ihr seht, es ist nichts Mystisches dabei…« »Du hast für alles eine Erklärung«, murrte Gyula, »und wenn sie nun doch eine Botschaft ist?« »Hör auf zu spinnen, Gyula«, sagte ich, »du weißt genau, daß sie auf natürlichem Wege ins Raumschiff gekommen ist. Wahrscheinlich schwirrt sie schon monatelang hier herum. Kein Wunder, daß wir sie nicht entdeckt haben. Diese Räume hatten wir versperrt.« »Sie schwirrt überhaupt nicht«, sagte Sonja. Tatsächlich flog die Fliege nicht fort, als Paganini sie mit dem Finger berührte. Das Tier hatte begriffen, daß es in dieser Schwerelosigkeit nicht fliegen durfte, wenn es nicht dauernd gegen die Bordwände prallen wollte. Sonja wollte sich der Fliege nähern, doch Paganini schrie hysterisch: »Keinen Schritt näher, ich bringe euch um, wenn ihr mir meinen Rabindranath wegnehmen wollt!« »Ich nehme dir deine Fliege nicht fort, Dahli«, sagte Sonja, »ich möchte nur sehen, wie sie aussieht.« Sie kam ein Stückchen näher. »Es ist eine gewöhnliche Stubenfliege, die Musca domestica. Diese Fliege wird überall häuslich. Interessant ist, wie schnell sie begriffen hat, daß sie nicht fliegen darf - sie hat sich dieser Welt angepaßt. Wir sollten nachsehen, ob sich nicht noch mehr von ihnen zwischen diesen Schotten befinden.« Paganini fing an zu zetern, als wir durch die
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Luke krochen und sorgsam die Wände absuchten. Wir wagten uns sogar bis in die Nähe der Reaktorkammer, doch vergeblich. Es betrübte uns, denn nun war natürlich nicht mit Nachkommenschaft zu rechnen. Um so mehr galt unsere Aufmerksamkeit diesem kleinen Lebewesen, das so unerwartet in unser Dasein getreten war und uns wie ein Gruß von der Erde erscheinen wollte. Wenn auch diese Fliege kein Wunder war, sie hatte uns aus unserer Lethargie aufgeschreckt. Mit diesem neuen Gast an Bord stellten sich andere Probleme ein. Paganini war nicht zu bewegen, den Fund mit uns zu teilen. Er verteidigte seinen »Rabindranath« und vergaß dabei Essen und Trinken. Wir hielten Rat. Die Fliege mußte aus der Kammer. Im Gemüsegarten war es hell, und dort gab es Algen für sie, und Sonja, die unsere Lebensmittelreserven verwaltete, konnte mit Näschereien aufwarten. Doch wie Paganini zur Vernunft bringen? »Er hat kein Recht, sie für sich zu behalten«, sagte Dschi. Gyula bot sich an, ihm die Fliege mit Gewalt zu entwenden, aber dann hätte er sie wahrscheinlich nicht lebend bekommen. Ich wollte ihn überlisten. »Paganini«, sagte ich, »bist du nicht durstig?« »Ja, sehr«, sagte er, »aber ich weiß, was du willst, Stuart. Du willst mich herauslocken und mir Rabindranath wegnehmen.« »Dummkopf, die Fliege hat auch Hunger und Durst.« Er griff in die Tasche und zeigte mir ein paar Algenstengel. »Das ist nicht genug, Paganini, wir haben Schokolade und Fruchtsaft.« Er wurde nachdenklich, doch dann lehnte er mein Ansinnen ab. Ich sagte: »Dein Rabindranath wird hier eingehen.« »Ihm gefällt es hier gut, er hat es mir gesagt.« »Wie verständigst du dich mit ihm?« Er senkte die Stimme und sagte geheimnisvoll: »Wenn er zufrieden ist, putzt er sich die Flügel. Paß auf, Stuart: Bist du zufrieden, Rabindranath, gefällt es dir hier?« Verblüfft sah ich, wie sich die Fliege die Flügel putzte. Er führte mir dieses Kunststück noch einmal vor. Dann begriff ich, warum sie es tat. Die Ursache für dieses Reinlichkeitsbedürfnis war Paganinis warmer, feuchter Atem, denn er beugte sich immer dicht über sie, wenn er mit ihr sprach, »Er ist höflich«, sagte ich, »in Wirklichkeit
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aber sehnt er sich nach Gesellschaft und nach Süßigkeiten. Frage ihn, ob er vielleicht doch lieber im Gemüsegarten wohnen möchte.« Paganini fragte, und die Fliege putzte sich. Er sah mich mißtrauisch an. Dann wiederholte er seine Frage: »Das kann doch nicht sein, Rabindranath…« Ich bekam einen Schreck, als er stockte, denn gleich mußte sich die Fliege wieder die Flügel putzen, und dann wäre es eine Bejahung gewesen. Doch Paganini fuhr fort: »… du wolltest wirklich lieber im Gemüsegarten wohnen?« Die Fliege reinigte sich ausgiebig. Siebenundzwanzigster April Paganini hatte sich beruhigt, als er sah, daß wir seinem »Rabindranath« nichts Böses wollten. Das Tierchen krabbelte zwischen den Algen und naschte von Zeit zu Zeit von den Schokoladenstückchen, die wir an die Glasscheiben geheftet hatten. Ja, wir waren verrückt nach diesem Tier. In unserem Enthusiasmus vernachlässigten wir das Wichtigste: die Gymnastik. Wir hatten nie regelmäßig die Expander benutzt, jetzt spürte ich wieder, wie schlapp ich wurde. Auch Gyula und Dschi sahen krank aus, Paganini schien nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen. Nur Sonja machte von Zeit zu Zeit einige Kraftübungen. Dschi war der erste, der sich besann. »Wenn wir lebend gerettet werden wollen, müssen wir für uns etwas tun«, mahnte er. Er schleppte mich zu den Expandern, und ich begann, unwillig und zögernd das Training wieder aufzunehmen. Später bequemte sich auch Gyula zu einigen Übungen. Nur Paganini war zu nichts zu bewegen. Sonja füllte ein Schlafmittel in seine Flasche, dann massierten Dschi und ich ihn abwechselnd. Acht Tage befand sich die Fliege in unserer Obhut. Sie konnte sich wirklich nicht beklagen; um so rätselhafter war es, daß sie erkrankte. Sie putzte sich nicht mehr und kroch nur noch selten ein paar Zentimeter über ein Blatt. Sie schien zu sterben. Mir ging das nahe, und auch Sonja und Dschi waren traurig. Gyula jammerte, und Paganini schien selbst sein Leben auszuhauchen. Er betete, beschimpfte uns und besonders mich, von dem er sich überlistet fühlte.
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Dritter Mai Diese letzten Tage waren eine Tortur. Immer wenn wir schon glaubten, sie sei hin, bewegte sie sich wieder. Allmählich verwünschte ich die Fliege samt ihrem Entdecker. Paganini hauchte, Gyula hauchte, dann behauptete Dschi wieder, sie wäre tot. So ging das Stunde um Stunde. Einmal nahm mich Dschi beiseite und sagte: »Wenn sie nicht bald krepiert, sollten wir sie töten.« »Bitte«, sagte ich, »tu es.« Er tat es nicht. Dann hatte Sonja einen Einfall. Die Fliege, meinte sie, sei zwischen den Schotten aufgewachsen. Die leichte Radioaktivität konnte möglicherweise eine Lebensgrundlage für sie bilden. Paganini war sehr zufrieden, als wir seinen Rabindranath wieder an den alten Ort zurückbrachten. Und jetzt trat wahrhaftig das Überraschende ein. Die Fliege erholte sich, und nach kurzer Zeit krabbelte sie die Wände entlang, putzte sich und war gesünder als wir. Auch Paganini lebte wieder auf. Wir merkten es an seinen Reden. Das Komponieren hatte er nun ganz aufgegeben. Zwischen Gyula und Paganini hatte sich ein eigenartiges Verhältnis herausgebildet. Gyula störten die Verrücktheiten Shitomirs nicht mehr, im Gegenteil, er ging mitunter sogar darauf ein. Schuld daran war diese Fliege. Er hätte sie gern für sich allein gehabt, und da dies nicht möglich war, begnügte er sich als Teilhaber und stellte sich mit Paganini auf guten Fuß. Er war wie ein Kind, und wenn es möglich gewesen wäre, hätte er Paganini die Fliege abgekauft oder gegen etwas eingetauscht. Ich hatte das Tierchen auch ganz gern, aber Gyulas Verrücktheit nahm beängstigende Formen an. »Vielleicht singst du der Fliege auch etwas vor wie Paganini«, sagte ich spöttisch. »Ihr könnt beide in einen Wettbewerb treten. Vergiß nicht, daß man auf der Erde Fliegenfänger herstellt.« »Wir sind nicht auf der Erde!« erhielt ich zur Antwort. »Das ist noch lange kein Grund, aus der ›Darwin‹ eine Fliegenkathedrale zu machen«, unterstützte mich Dschi. »Religiöser Wahn ist das letzte, was wir an Bord brauchen. Hänge dich lieber an die Expander, ich habe keine Lust, dich wieder zu massieren.«
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Gyula brummte etwas und wandte sich seinem Talisman zu. Dschi hatte recht, aber wer war schuld an diesem Zustand? Hatten wir nicht schon alle irgendeinen Tick? Vierzehnter Mai Wäre diese Fliege nie entdeckt worden! Sie ist der Anfang vom Ende. Dschi hat umsonst gerechnet, umsonst gehofft. Es wird keine Frist von eineinhalb Jahren für uns geben. Gestern begann das Schlußkapitel unserer Tragödie. Die kleine, miese Schmeißfliege hat es geschrieben. Ich wollte sie mir ansehen. Sie gehörte uns allen, und weshalb sollte ich nicht einen Augenblick zusehen, wie sie sich putzte? Paganini schlief; Sonja hatte ihn wieder eingeschläfert. Aber auch Gyula hatte die Kammer für einen Augenblick verlassen. Ich befand mich allein im Heck und suchte die Fliege. Es war nicht leicht, sie in diesem Halbdunkel zu entdecken, denn sie konnte überall herumkrabbeln, oben, unten oder an den Wänden. Ich fand sie nicht. Dann kam Gyula und suchte ebenfalls. Später halfen auch Dschi und Sonja. Es war unausbleiblich, daß man sich in dieser Enge an die Wände drückte. Wer sie getötet hat, weiß ich bis heute nicht, und es wird wohl auch niemals festzustellen sein. Auf jeden Fall hatte sie einer von uns zerquetscht. Sie klebte an der Bordwand. Gyula floh in seine Kabine. Ich hatte Angst, er könnte eine Dummheit begehen, und kletterte ihm nach. Ich versuchte, ihn zu trösten. »Es ist schade um sie«, sagte ich, »aber vergiß nicht, Gyula, es war nur eine Fliege.« »Ich habe sie breit gequetscht«, stammelte er, »ich habe sie getötet. Ich komme mir vor wie ein Mörder…« »Unsinn, Gyula, jeder von uns kann es gewesen sein. Wie bringen wir es nun Paganini bei?« Dschi kam herein. Er machte ein finsteres Gesicht. »Es ist zum Kotzen, dieses Biest hat nichts als Unglück gebracht. Gebt auf Paganini acht, wenn er wach wird.« »Ich habe sie umgebracht«, murmelte Gyula wieder. »Wäre das Biest doch nur damals gestorben«, sagte Dschi, »jetzt können wir uns auf eine Litanei gefaßt machen. Höre auf zu winseln, Gyula, in zwei
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Monaten katapultieren wir die Sonden ’raus. Wenn wir auf der Erde sind, kannst du dir eine Fliegenfarm zulegen. Es gibt Schlimmeres als eine tote Fliege.« Dschi hielt sich die Wange. »Was ist mit dir?« fragte ich. Er verzog das Gesicht. »Zahnschmerzen.« »Schon wieder? Wenn es weiter nichts ist - das bringt Sonja schnell in Ordnung.« »Niemals«, sagte er sehr entschieden. »Sie müßte ziehen…« »Na und?« »Na und! Mir tut ein Backenzahn weh, einer, der wenigstens vier Wurzeln hat. Und sie ist keine Zahnärztin. Der Zahn müßte plombiert werden, er ist noch gut erhalten.« »Aber Dschi, so ein lächerlicher Zahn. Mund auf und ’raus.« Er sperrte wirklich den Mund auf tippte mit dem Finger auf einen Zahn. »Das nennst du lächerlich? Der sitzt fest wie ein hundertjähriger Baum.« »Dann laß ihn weiterwachsen«, sagte ich und ließ ihn mit Gyula allein. Ich wollte Sonja davon erzählen, aber als ich bei ihr war, hatte ich alles vergessen. Es ist so schwer, sich an etwas zu erinnern. So ist es auch mit meinen Notizen. Wenn ich mir nicht täglich ein paar Stichworte notiere, ist später alles aus meinem Gedächtnis wie weggewischt. Aber es geht wohl nicht nur mir allein so. Mitunter zuckten in unserer Erinnerung Blitzlichter auf, ohne daß irgendein Zusammenhang besteht. So war es auch jetzt, als ich bei Sonja hockte. Wir redeten Belangloses und schwiegen dann eine Ewigkeit - vielleicht eine Minute oder eine Stunde -, ich weiß es nicht. Dann strich ich ihr übers Haar, und sie sagte plötzlich völlig zusammenhanglos und in Gedanken versunken: »Oswiecim…« »Warum sagst du das, Sonja?« fragte ich. Sie sah mich an und wiederholte das Wort. Ich wollte nicht weiter fragen. Sie hatte Angehörige dort verloren. Unser Gehirn speichert Erinnerungen, und irgendwann einmal bricht dann etwas hervor. Auch mir erging es so. Ich habe immer das Bild vom Näsisee vor Augen, wenn ich an die Erde denke. Dann sehe ich meinen Jungen und Wasser und Wald. Und noch etwas taucht immer wieder in meiner Erinnerung auf: ein Flugzeug und ein mit Wolken bedeckter Himmel. Ich glaube sogar,
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daß ich im Schlaf davon spreche - es war ja einmal mein Beruf. Wie lange ist das alles schon her - gibt es so etwas überhaupt noch? Ich war noch eine Weile bei ihr, aber dann trieb es mich in den Gemüsegarten. Es dauerte lange, bis ich die Erde im Teleskop hatte. Merkwürdig, immer wenn ich diesen kleinen Stern sehe, fühle ich eine tiefe Genugtuung in mir. Fünfzehnter Mai Wäre Paganini nicht schon geisteskrank gewesen, er müßte es jetzt geworden sein. Er flüsterte ununterbrochen: »Oh, Rabindranath, wo bist du? Warum hast du uns verlassen? Ich werde dir folgen und dich suchen. Alle werden wir dir folgen!« Ich war in seiner Nähe, und als er mich sah, rief er: »Er hat dich getötet, der Weißhaarige hat’s getan.« Ich hatte keine Lust, mich mit ihm anzulegen, aber er verfolgte mich und stieß schreckliche Drohungen aus. Er würde uns alle vernichten. Gyula war über den Schreck hinweg, er klagte sich nicht mehr an. Dafür hockte er apathisch im Gemüsegarten. Er ließ sich auch nicht durch Dschis Klagerufe stören, der mit schmerzverzogenem Gesicht die Wände hochging. - Alle guten Geister«, hörte ich Dschi klagen, »mehr kann Tantalus auch nicht gelitten haben! Das sind schon keine Zahnschmerzen mehr, der ganze Kiefer ist vereitert!« »Es ist nur der Zahn«, versicherte Sonja. Dschi stöhnte: »Gib mir Tabletten, Sonja.« Er bekam eine Tablette - die fünfte bereits, doch seine Zahnschmerzen ließen nicht nach. Dazu kamen Paganinins Drohungen und Verwünschungen. Das Leben in dieser Enge war schon schwer genug, jetzt wurde es unerträglich. Ich ließ Paganini nicht aus den Augen; wir fürchteten, er könnte wieder etwas anstellen. Der arme Kerl war nur noch ein Schatten seiner selbst. Wie ein gefangener Vogel flatterte er durch das Raumschiff. Ein Vogel wollte er auch sein, um hinauszufliegen und seinen Rabindranath zu suchen. Ich hielt das Gejammer und Gerede nicht mehr aus und flehte Sonja an, ihm ein Schlafmittel zu geben. Sie zeigte mir unsern Vorrat an Medikamenten. Wenn es so weiterging, war er bald erschöpft. Trotzdem mischte Sonja einen Schlaftrunk. Sie war wie wir alle
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krank; krank an Leib und Seele. Die Nerven streikten. Wäre uns doch der Zufall gnädig und ließe uns noch einmal mit irgendeinem Felstrümmer zusammenstoßen… Sechzehnter Mai Ein paar Stunden war Ruhe an Bord. Außer Dschi haben wir alle geschlafen. Er geht wieder die Wände hoch. Ich begreife nicht, wie ein Mensch so viel Mut zeigen kann und bei dem Gedanken an den Zahnarzt sich wie der erbärmlichste Feigling benimmt. Dschi kroch zu mir in die Kabine und sagte: »Stuart, meine Berechnungen habe ich verpackt. Ich vertraue sie dir an. Wenn ihr gerettet werdet, übergib sie dem Institut für Raumforschung.« Er hatte mit idiotischem Ernst gesprochen, als wollte er sich das Leben nehmen. Aber Dschi wollte sich nur den Zahn von Sonja ziehen lassen, nichts weiter. »Es ist möglich«, fuhr er fort, »daß ich einen Herzschlag dabei bekomme. Ich kannte einen, der ist eine Stunde nach dem Zahnziehen gestorben…« Ich sagte genauso ernst: »Ich werde deine Aufzeichnungen übergeben. Wo sollen wir dich befestigen - neben Mischa, oder möchtest du einen besonderen Platz? Vom Gemüsegarten aus hat man die beste Aussicht…« Dschi stieß einen Fluch aus und verließ mich. Wie lange ist es her, daß ich kein Konzert mehr gehört habe! Ich habe das Tonbandgerät in meine Kabine gebracht und Bachs große d-moll-Toccata mit Fuge aufgelegt. Die berauschende Harmonie dieser vom bloßen Hören beinahe unentflechtbaren Fuge könnte für uns geschrieben worden sein. Ich hatte den Apparat sehr leise eingestellt, aber Sonja besaß ein feines Ohr. Sie kroch in meine Kabine und hörte still zu. Ein paar glückhafte Minuten… Wir saßen beisammen, ohne ein Wort zu sprechen. Die Töne klangen wie ein Sturm in uns nach, und noch nie hatte ich so tief wie in diesen Minuten empfunden, welche unglaubliche Macht von dieser Musik ausging. Sie sprengte alles Irdische, sie war wie die Urgewalt selbst. Was für ein Mensch, der sie geschaffen hat. Ich mußte an Paganini denken, als er einmal in seiner Einfalt die Sternbilder mit den Anfangsbuchstaben des Schöpfers dieser Musik benannt hatte.
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Sonja mußte etwas Ähnliches gedacht haben. Sie bedauerte, daß ihr Patient nicht mehr fähig war, diese Musik zu hören. Sie saß an meiner Seite; ich sah ihr Profil und dachte: Wie schön sie ist. Die Strapazen dieses Fluges hatten nichts von ihrem Charme genommen. Dschi hatte recht, sie war stärker als wir alle. Eine Haarsträhne war auf ihre Stirn gefallen. Ich legte sie zurück. »Glaubst du, daß wir noch einmal zurückkommen?« fragte ich unvermittelt. Sonja zögerte. Dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, Roger, ich mache mir keine Illusionen. Ich habe mich darauf eingestellt, daß wir die ›Darwin‹ nie wieder verlassen. So wird man am ehesten damit fertig. Es wäre für uns alle besser, wenn wir uns ins Unvermeidliche fügten.« Ich ließ mir nicht anmerken, wie sehr mich ihre Antwort erschütterte. Sie glaubte nicht an Dschis Berechnungen und machte uns dennoch Mut. Woher nahm sie diese Kraft? »Wie kann man leben ohne Hoffnung?« Sie lächelte. »Es gibt etwas anderes, Roger. Es ist die Gewißheit, nicht umsonst gelebt zu haben. Die Menschen werden uns nicht vergessen. Also werden wir auch nicht sterben. Vielleicht ist das auch eine Art von Religion - aber sie gibt mir mehr Kraft als die Ungewisse Hoffnung. Solange Menschen die Erde bewohnen, werden wir unter ihnen weilen. Andere steigen nach uns auf, werden die Planeten in den Dienst der Menschen zwingen. Dschi hat recht, sie werden lernen, eine neue, höhere Zivilisation zu errichten und das ganze Sonnensystem zu beherrschen. In dieser unermeßlichen Weite haben wir eine unauslöschbare Bahn vorgezeichnet, wir, Roger. Unser Leben verlief ungewöhnlich, aber in der großen Entwicklung hatte es einen Sinn wie das Leben des Giordano Bruno und das so vieler Tausender, die aus dem Schutt der Unwissenheit einen winzigen Splitter Wahrheit ausgruben.« Was sollte ich darauf antworten? Ich kam mir auf einmal unbedeutend und winzig vor. Sie hatte mich beschämt. »Wollen wir später die Fuge noch einmal anhören?« Ich nickte und legte meinen Arm um ihre Schulter. Ein Traum erfüllte uns beide. Ich weiß nicht, wie lange wir so, entrückt vom Raum und Zeit, in der Kabine beisammensaßen; das verfluchte Leben ging weiter, und
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wieder war es Dschi, der uns in die Gegenwart zurückrief. Was ist das für eine Welt, in der die Leiden des andern zur eigenen Qual werden? Er sprach nur noch mit gluckernder Stimme. »Ich halte es nicht mehr aus, Sonja, ’raus mit dem Zahn!« »Gut«, sagte Sonja, »endlich wirst du vernünftig…« »Einen Moment noch!« Er hielt Sonja fest. »Du zeigst mir alles vorher, ja, und erklärst es mir auch…« »Ja, Dschi.« Sie wollte gehen, aber trotz seiner Schmerzen war er mit seiner Litanei noch nicht zu Ende. »Du hast richtige Betäubungsmittel?« »Verdammt, hör auf!« schrie ich. Es machte keinen Eindruck auf ihn. Sonja ging hinaus. »Schäme dich, Dschi!« Er sah mich wehleidig an. »Sie hat mir nicht geantwortet, Stuart. Meine Wurzeln stehen schräg, begreifst du? Als Kind wurden mir zwei Zähne von einem Schuhmacher gezogen - deswegen… Nein, nein, ich behalte ihn lieber drin.« Sein Vorsatz währte nicht lange. Die Schmerzen trieben ihn wieder zu Sonja. Er ließ sich schließlich alle Instrumente zeigen und alles erklären, ehe wir ihn anschnallen durften. Sonja gab ihm die Injektion, und fünf Minuten später zog sie den Zahn. Wir hatten Ruhe. Achtundzwanzigster Mai Paganini scheint sich beruhigt zu haben. Jedenfalls wandert er nicht mehr so rastlos umher. Nur seine Reden sind noch die gleichen, und immer kommt etwas vom Sterben darin vor. Es berührt uns nicht mehr. Dschi rechnet. Er will noch einmal - zum hundertsten Male nun schon - den Punkt unserer Bahn berechnen, an dem wir die Kapseln hinauskatapultieren müssen. Auch das berührt uns nicht mehr, denn keiner nimmt seine Illusionen ernst. Gyula verläßt nur noch selten den Gemüsegarten. Er ist phlegmatisch und wortkarg geworden. Stundenlang stiert er vor sich hin, und jede Frage muß man wiederholen, ehe er sie begreift. Gestern fragte ich ihn, woran er immer denke. Er blickte mich verständnislos an. »Woran du immerfort denkst, habe ich gefragt.« »Ich denke an nichts, Stuart.«
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»Was ist das, nichts?« »Nichts ist nichts, Nirwana.« »Bist du Buddhist geworden?« Er schüttelte den Kopf und schwieg. »Bald katapultieren wir die Kapseln ’raus, Gyula.« »Was für Kapseln?« »Die Nachrichtensonden.« »Hm.« Ich gab es auf. Auf dem Weg in meine Kabine flog mir etwas gegen die Wange. Zuerst glaubte ich, Paganini werfe wieder Gegenstände nach mir. Doch diesmal traf ihn keine Schuld. Es war eine kleine Schraube, die hier herumschwirrte. Sie gehörte zur Sendeanlage; sie war mir vor einem halben Jahr beim Zusammenbau verlorengegangen. Zwei Zentimeter weiter und sie wäre mir in den Mund geflogen. Erster Juni Jetzt habe ich auch angefangen zu rechnen. Ich habe errechnet, daß der Bart eines Mannes innerhalb von sechzig Jahren im Durchschnitt einhundertneunundzwanzig Meter lang wird. In der gleichen Zeit beträgt das Wachstum der gesamten Kopfhaare zehntausendneunhundertfünfzig Meter. Jetzt will ich noch versuchen, die Kaubewegung zu berechnen, die ein Mensch im Verlaufe einer Mahlzeit durchführt. Auf sechzig Jahre umgerechnet kommt dabei nicht nur eine stattliche Zahl von Kieferbewegungen zusammen, sondern auch eine erhebliche Energiemenge. Dritter Juni Dahli Shitomir, der verfluchte Paganini, hat versucht, seine Drohungen in die Tat umzusetzen. Es war Zufall, daß Dschi in seiner Nähe weilte und sah, wie er die Ventile öffnete. So verloren wir nur wenig Sauerstoff. Dschi versetzte ihm eine kräftige Ohrfeige. Als Antwort stieß Paganini haßerfüllte Verwünschungen aus. Er schwor, diese Welt zerstören zu wollen. »Paß auf, daß wir dich nicht zerstören!« rief ich. »Vielleicht ist es wirklich besser, wenn wir ihn anbinden…« Es wäre das beste und das kleinere Übel gewesen. Doch Son-
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ja wehrte sich dagegen. War es Mitleid? Fünf Minuten später bedauerten wir unsere Entschlußlosigkeit. Paganini hatte sich entfernt, und noch ehe einer von uns bei ihm sein konnte, war er in den Sanitätsraum eingedrungen und hatte in einem Tobsuchtsanfall mit einer Schweißstahlflasche auf alles eingeschlagen, was er erreichen konnte. Zum Glück hinderte ihn die Schwerelosigkeit daran, ernsthaften Schaden anzurichten. Der Schwung, den er sich durch seine Armbewegungen selbst verlieh, trieb ihn durch den kleinen Raum. Es gelang ihm, den Behälter zu öffnen, in dem sich Sonjas Medikamente und Instrumente befanden. Er wirbelte alles durcheinander. Es war schwierig, sich ihm zu nähern, denn er hielt die Flasche wie eine Axt in der Hand. Sonja wagte sich hinein und sprach mit ihm. Doch sie hatte keinen Einfluß mehr auf ihn. Medikamentenschachteln flogen ihr an den Kopf, dann schleuderte der Tobsüchtige seine Flasche nach Sonja. Sie traf Gyula, der träge herbeigekommen war und teilnahmslos zusah. Der Schlag erweckte ihn aus seiner Lethargie. »Sauhund!« schrie er, »warte, das zahle ich dir zurück!« Er stürzte sich auf Paganini. Dschi und ich eilten ihm zu Hilfe und verhinderten, daß Gyula seinen Zorn an ihm ausließ. Wir schleppten den Tobenden in seine Kabine. Paganini heulte und schrie, schlug um sich und biß mir schließlich in die Hand, daß ich mit einem Schmerzensschrei von ihm abließ. Nun erwischte er auch Dschi am Hals. Er würgte ihn. Gyula fand endlich einen Halt. Er versetzte Paganini einen Schlag in die Magengrube. Dschi bekam wieder Luft. Wir banden Paganini an seiner Kabinenwand fest. Die Expander dienten uns als Fessel. Meine Hand blutete. »Jetzt ist es genug«, sagte Dschi, »er hätte mich fast erwürgt.« »Laßt mich los, ihr Schlangen!« schrie der Gefesselte. »Laßt mich los, ich will zu Rabindranath!« Wir überzeugten uns, daß er fest angebunden war, und zogen uns in den Sanitätsraum zurück. Sonja war dabei, ihre Medikamente einzusammeln. »Es ist wohl das letzte Stadium«, sagte sie. »Hoffentlich«, knurrte Gyula. »Er soll uns nicht mehr gefährlich werden«, versicherte Dschi, »aus seiner Kabine kommt er nicht mehr heraus.«
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Fünfter Juni Er hing an der Kabinenwand wie Barabas am Kreuz. Die Federn der Expander dehnten sich unter seinen Bewegungen; so kam er unfreiwillig zu Gymnastikübungen. Ich wollte ihm etwas zu trinken bringen, aber er spie mich an und verweigerte jede Nahrung. Ich dachte: Man sollte ihm eine Ampulle geben, es ist besser, wenn er einschläft und nicht mehr aufwacht. Der Gedanke war grausam, aber nicht weniger schrecklich als sein Anblick, der mich bis in den Schlaf verfolgte. Es sollte sich bald zeigen, daß meine Überlegungen richtig waren. Der kranke Paganini entwickelte nicht nur erstaunliche Kräfte, sondern bewies auch eine verblüffende Intelligenz, die nur auf ein Ziel gerichtet war: sich zu befreien. Wie es ihm gelungen war, loszukommen, blieb uns ein Rätsel. Sonja entdeckte sein Verschwinden. Sie rief uns. Dschi, Gyula und ich hockten im Gemüsegarten. Als wir Sonjas Rufe hörten, begingen wir den verhängnisvollen Fehler, das Labor unbewacht zu lassen. Wir suchten die Kabinen ab, Dschi bewachte die Schleuse. Auf einmal hörten wir ihn rumoren. Die Geräusche kamen aus dem Labor. Sein Wahnsinn hatte Methode. Als wir an der Luke auftauchten, flog uns eine Konserve entgegen. Er verteidigte diese Öffnung wie Leonidas die Thermopylen gegen die Perser. Gyula hatte das Pech, zum zweiten Male von einem Wurfgeschoß getroffen zu werden. Dann aber sahen wir mit Entsetzen, was er bereits angerichtet hatte. Die Algen schwebten durch den Gemüsegarten, die Nährflüssigkeit perlte in Tropfen durch den Raum, Plastikbehälter wirbelten umher. Es war noch nicht das Schlimmste. Paganini ging systematisch vor. Sein Trachten war darauf gerichtet, uns in den Tod zu schicken. Ehe wir seiner habhaft werden konnten, hieb er wie besessen auf das komplizierte Labor ein. Die Meß- und Kontrolluhren zersplitterten unter seinen Schlägen, denn diesmal war er geschickter und hielt sich mit einer Hand fest, während er schlug. Das Röhrensystem, die feinen Kapillaren, waren verbogen oder geplatzt. Für Augenblicke waren wir wie erstarrt. Dschi kroch durch die Luke, eine Flasche flog ihm an den
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Kopf, aber er achtete nicht darauf. »Alle tot!« tobte Paganini, »diese Welt wird vernichtet!« Als wir ihn faßten, leistete er keinen Widerstand. Er hatte sein Ziel erreicht und war zufrieden. Erneut banden wir ihn an die Kabinenwand. Diesmal aber so, daß er sich nicht mehr befreien konnte. Wir schnürten ihm die Füße zusammen und banden seine Handgelenke so fest an die Griffe der Expander, daß er sich nicht mehr bewegen konnte. Hätten wir es nur vorher getan! Sein Zerstörungswerk war gründlich. Während Gyula und Sonja die Algen einsammelten und von der Nährflüssigkeit retteten, was noch zu retten war, untersuchten wir die Anlage, der wir bis jetzt unser Leben verdankten. Sie arbeitete nicht mehr. Wir sagten kein Wort. Paganinis Heulen drang zu uns. Es klang wie das Heulen eines Wolfes. »Das hätte nicht sein dürfen«, flüsterte Dschi, »alles, nur nicht das.« »Die Hyäne brüllt«, sagte Gyula. »Gestern hatten wir noch die Wahl: er oder wir. Er hat gewonnen, jetzt werden wir verhungern und verdursten.« Ich konnte nicht mehr denken, ich hatte das Gefühl, zu ersticken. Sechster Juni Stundenlang haben wir versucht, die Anlage wieder in Gang zu setzen. Vergeblich, das Wunderwerk menschlichen Geistes, der Natur abgelauscht, stand still. Menschenhirne hatten es in jahrzehntelanger Arbeit entwickelt, von einem Menschenhirn war die Hand gelenkt worden, die es in Sekundenschnelle wieder zerstört hatte. Nur die Trennanlage hatte nichts abbekommen; die farblose Flüssigkeit, die unsern Durst löschte, bildete sich weiter. Wir mußten verhungern. Wieviel Tage noch? Dschi überprüfte die Vorräte. Er tat es gründlich, teilte alle Nahrungsmittel nach ihrem Vitamin- und Kaloriengehalt ein, rechnete wie ein Apotheker, als käme es auf einen Tag an. Am Ende sagte er sorgenvoll: »Wenn wir wöchentlich ein Minimum zu uns nehmen, reichen wir mit unseren Vorräten acht Monate. Das ist knapp, sehr knapp.« Er dachte an die Nachrichtensonden. Ein Jahr dauerte es nach seinen Berechnungen, bis man uns retten könnte, falls diese Sonden
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jemals entdeckt würden. »Also machen wir Schluß«, sagte ich, »gegen uns ist alles; der Asteroid war gegen uns, die Fliege war gegen uns, Paganini ist gegen uns - und nun auch die Zeit.« »Ich habe sehr großzügig gerechnet«, sagte Dschi, »ich habe bewußt mehr veranschlagt. Man könnte die Sonden auch früher finden. Sie werden klug genug sein, um nicht sofort zu starten, denn wir kommen ihnen entgegen…« »Wovon redest du eigentlich?« unterbrach ihn Gyula. »Höre endlich auf mit deinen Phantastereien. Solange wir in diesem Kasten hocken, klammerst du dich an irgendwelche Rettungsaktionen.« »Es sind keine Phantastereien, Gyula«, rief Dschi erregt, »ich kann es dir beweisen, schwarz auf weiß. Wir haben keinen Anlaß aufzugeben.« »Natürlich nicht, Dschi, es ist alles bestens in Ordnung. Eines Tages werden sie kommen und sagen: Hallo, da sind wir. Das mit dem Absturz auf dem Mond war nur ein kleiner Scherz von uns. Auch euer Denkmal haben wir nur zum Spaß aufgestellt - die Menschheit braucht Helden…« Ich sagte das alles in einem scherzhaften Ton, obwohl mir sterbenselend zumute war. Verwirrt antwortete Dschi: »So glaubt mir doch, ich bitte euch, glaubt mir, wir dürfen noch hoffen…« »Die Schuld an allem trifft mich«, klagte Sonja verzweifelt, »ich kannte seinen Zustand besser als ihr, ich hätte auf ihn achtgeben müssen.« »Keiner von uns hat schuld«, sagte Dschi, »auch er nicht. Es ist nutzlos, darüber nachzudenken. Ich will nur eines von euch: Laßt mich jetzt nicht allein. Wartet diese acht Monate, bis wir gemeinsam die letzte Ration zu uns nehmen. Sonja…« Er sah sie bittend an. »Ich laß dich nicht allein, Dschi«, sagte sie. »Gyula.« »Warum wollen wir uns so lange quälen? Wozu noch einmal den halben Weg um die Sonne?« »Ich will eine Antwort von dir.« Gyula atmete tief. »Meinetwegen.« Ich sagte: »Frage mich nicht erst, was bleibt mir übrig, als ja zu sagen? Obgleich…« Ich unterdrückte den letzten Satz.
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Dschi streckte die Hand aus. »Die Ampulle, Gyula. Du hast sie noch immer bei dir.« »Bei mir ist sie gut aufgehoben.« »Ich will die Ampulle.« »So gib sie ihm schon«, sagte ich, »er frißt sie dir nicht weg!« Es bedurfte noch einiger Ermahnungen, ehe Gyula sich von der Ampulle trennte. Zwölfter Juni Wie kostbar auf einmal die Zeit geworden ist. Acht Monate noch. Wir kennen unseren Todestag, wir haben ausgerechnet, wann wir die letzte Ration verzehren werden. Eine Handvoll Nahrung, dazu die kleine, gallertartige Masse, die uns in den ewigen Schlaf hinüberleiten wird. »Mors certa, hora incerta« - wie lange ist es her, daß ich diesen und andere Sprüche gelernt habe? Nun stimmen diese lateinischen Weisheiten nicht mehr, denn wir kennen nicht nur unseren Tod, sondern auch den Zeitpunkt seines Eintritts. Ich fürchte mich nicht vor dieser Stunde; ich sehe ihr mit Gelassenheit entgegen. Mich beschäftigt anderes. War mein Leben eigentlich sinnvoll? Was habe ich unterlassen und versäumt? Versäumt habe ich wohl nichts, aber ich habe vieles unterlassen. Ich hätte meinem Jungen noch so manches Wichtige sagen müssen. Haben wir uns nicht alle zuwenig um die gekümmert, die nach uns kommen? Sie sind ein Teil von uns, tragen unsere Gedanken in die Zukunft. Wie wird diese Zukunft aussehen? Ist es der Weg, den wir gehen mußten? Oder ist es der blumenbekränzte Weg, von dem Dichter und Philosophen träumten? Es ist einfach, ja oder nein zu sagen - Gewißheit gibt es nicht. Merkwürdig, jetzt, da unsere Tage gezählt sind, leben wir in bester Harmonie. Nur der Gefangene tobt, strapaziert unsere Nerven. Wir haben unsere Ohren verstopft, aber sein Geheule dringt bis ins Hirn, und wir hören ihn, selbst wenn er für einen Augenblick verstummt ist. Dschi beschäftigt sich wieder mit seinen Formeln. Ich begreife nicht, wie er sich bei diesem Gejammer konzentrieren kann.
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Vierzehnter Juni Acht Monate noch. Nie waren wir so einig gewesen wie jetzt. Wir fühlen, ohne es auszusprechen: Wir sind Geschwister. Und es sind auch die gleichen Fragen und Gedanken, die uns bewegen und der gleiche Groll gegen den Gefangenen. Wir hassen ihn nicht, weil er unser Leben begrenzt hat, wir fangen an, ihn zu hassen, weil er uns mit seinem Geheule an den Rand des Wahnsinns treibt. Paganini wird diese Zeit nicht durchhalten, aber wenn er nicht bald stirbt, ist es auch mit uns zu Ende. Dschi ließ verzweifelt von seinen Arbeiten ab. »Gib ihm eine Injektion, Sonja. Er soll aufhören zu wimmern.« Sonjas Vorrat war verbraucht. Paganini nahm auch keine Nahrung an. Nur einen Schluck Wasser hatte er getrunken. Er klagte über Kopfschmerzen, aber eine Tablette wollte er nicht nehmen. Ich zog mich zu ihm. »Höre auf zu wimmern, Paganini.« Er blickte mich starr an, dann sagte er: »Du hast ihn getötet. Laß mich frei, ich will frei sein.« »Damit du noch mehr Unheil anrichten kannst. Nein, Paganini. Du warst es selbst, der die Uhr gestellt hat, nun warte, bis sie abgelaufen ist.« Ich wollte zurück, aber er stieß einen solchen Klagelaut aus, daß ich mich unwillkürlich umwandte. Es war ein jammervoller Anblick, ihn dort hängen zu sehen. »Laß mich doch frei, lieber Stuart«, bettelte er, »bitte, binde mich los.« »Sieh mal an«, sagte ich, »auf einmal kannst du bitten und redest ganz normal. Du legst mich nicht mehr ’rein, Paganini. Wir waren nachsichtig, aber du hast uns den Lebensfaden abgeschnitten. Nein, ich binde dich nicht los.« »Verfluchter!« Er rüttelte an seinen Fesseln und überschüttete mich mit Verwünschungen. Ich floh. Vor dem Einstieg wartete Sonja. »Roger«, flüsterte sie, »er tut mir leid. Hörst du nicht, wie er leidet? Das ist furchtbarer als der Tod.« »Beantworte mir eine Frage, Sonja. Wäre es möglich, daß er uns nur Theater vorgespielt hat? Vorhin hat er ganz normal mit mir gesprochen.« »Du weißt so gut wie ich, daß er krank ist. Aber es können lichte Augenblicke eintreten. Er hat Schmerzen, vielleicht rufen sie ihn
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zeitweilig ins Bewußtsein zurück. Er ahnt wohl auch, daß er etwas Schreckliches angestellt hat, aber er kann sich darüber nicht Rechenschaft ablegen.« »Haben wir ein Recht, ihn zu töten?« »Nein«, antwortete sie entschieden, »wir haben die Pflicht, ihn von seinen Schmerzen zu befreien.« »Probiere es.« Sonja probierte es nicht. Es wäre zwecklos, er nahm keine Tabletten. Die Ampulle hätte er vielleicht genommen. Aber wer hätte es fertiggebracht, ihm die Ampulle in den Mund zu stecken? Ich war sicher: Keiner von uns vermochte es. Wir sprachen mit Dschi darüber. Auch er war dagegen. »Dann sorgt dafür, daß er still ist«, sagte Gyula. »Wir stehen wieder vor der Frage: er oder wir. Soll das niemals ein Ende nehmen? Sollen wir seinetwegen verrückt werden? Ich halte das Heulen nicht mehr aus. Gebt ihm die Ampulle, er gehört nicht mehr zu uns!« »Er gehört zu uns«, sagte Dschi. »Und wenn er selbst nach diesem Mittel verlangt?« fragte ich. »Auch dann nicht.« »Also werden wir keine acht Monate durchhalten«, sagte Gyula. »Wir wollen ihn von seinen Leiden befreien, das ist ein Unterschied. Hört doch, dieses Gejammer steht uns noch wochenlang bevor.« Wir lauschten. Wie aus einem Tunnel drang Paganinis Klagen zu uns. Ich hielt mir die Ohren zu, aber die entsetzlichen Töne wollten nicht verstummen. Neunzehnter Juni Diese Tage wird keiner vergessen. Es bedurfte nicht mehr viel, und wir stimmten in das Geheul mit ein. Gyula hatte recht, wir mußten verrückt werden, wenn nicht irgend etwas geschah. Selbst Dschi konnte sich nicht mehr beherrschen. Er schrie den Gefangenen an, wollte ihm gewaltsam eine Beruhigungstablette in den Mund stecken, aber Paganini spuckte sie aus und heulte weiter. Er wollte frei sein, immer wieder dieselben Worte. Dschi fragte ihn, ob er eine
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Ampulle nehmen würde. Paganini antwortete: »Ja, gib mir die Ampulle!« Als Dschi in den Gemüsegarten zurückkam, hatte er eine Ampulle in der Hand. Er reichte sie Gyula. »Gib sie ihm.« Eine Sekunde lang zögerte Gyula. Dann nahm er die kleine Schachtel und tastete sich hinaus. »Dschi, gibt es nicht noch eine andere Lösung?« Er sah mich fragend an. »Weißt du eine?« »Wir könnten ihn losbinden.« »Nein, solange ich lebe, wird sich Paganini keinen Meter mehr durch das Raumschiff bewegen.« »Du bist grausamer als Gyula und schrecklicher als der Kranke selbst«, sagte Sonja. Dschis Gesicht nahm eine maskenhafte Starre an. »In vier Wochen katapultieren wir die Sonden auf eine Bahn, die sie bis in Erdnähe tragen werden. Es ist unsere letzte Hoffnung. In acht Monaten kann Rettung kommen. Die Zeit wird schwer werden. Wir können nicht immer auf ihn aufpassen. Oder willst du die Garantie für ihn übernehmen, Sonja?« Sie schwieg. »Einmal würde er eine Lücke finden«, fuhr Dschi fort, »es gibt viele Möglichkeiten, die ›Darwin‹ vollends zu zerstören. Ich will sicher sein, bis zur letzten Minute.« Er hatte eindringlich gesprochen. Jetzt war Stille. Wir warteten und stellten uns die Szene in der Kabine vor. Ein entsetzlicher Gedanke, daran zu denken, wie Gyula ihm die Ampulle reichte. Die Zeit wollte nicht vergehen. Endlich schepperte etwas gegen die Wandung. Wir zuckten zusammen. Gyula kroch durch die Luke. »Ich kann es nicht!« stieß er hervor. »Er hat mich angesehen wie ein Tier, und ich kam mir vor… Verfluchtes Raumschiff!« Ein Schluchzen erschütterte ihn. Ich dachte: Ein Nervenbündel, er wird die acht Monate auch nicht durchhalten. Aber werden wir sie überstehen? Aus der Kabine drang wieder das nervtötende Klagen Paganinis. Dschi nahm Gyula die Ampulle aus der Hand. »Dann werden wir losen«, sagte er. »Es muß ein Ende sein, ich weiß keinen besseren Rat.« Was für ein unwürdiges Spiel. Ein paarmal bin ich versucht zu sagen: Laßt es mich ma-
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chen, losen wir nicht, es ist würdelos. Würdelos! Der Gedanke, ihm das Gift reichen zu müssen, ist noch furchtbarer. Aber was bleibt uns denn übrig? Paganini, Dahli, höre auf zu wimmern! Höre auf! Ich bitte dich darum. Du hast uns alles genommen, du hast uns in Furcht und Schrecken versetzt, und du hast uns gequält, Stunde um Stunde, erspare uns das Letzte. Dschi hat vier Karos an die Bordwand gemalt und sie mit Paganinis Notenblättern bedeckt. In einem dieser Karos befindet sich ein Kreuz. Nur Dschi weiß, wo es eingezeichnet ist. Jeder von uns darf sich jetzt ein Karo wählen. »Fange an, Stuart«, fordert er mich auf. »Ein anderer soll den Anfang machen.« Ich lasse ihn nicht aus den Augen. Er weiß, wo das Kreuz steht, er wird sich verraten… »Ich nehme das dritte Karo«, sagt Gyula. »Das dritte«, wiederholt Dschi. Er nickt Sonja zu. Sie sieht mich an und schüttelt den Kopf. »Ich wähle nicht, Dschi. Ich weiß, du hast recht, wir müssen etwas tun, aber das hier - nein.« Ich muß an Dschis Worte denken, die er Gyula und mir einmal gesagt hat. »Wir müssen diesen Weg als Menschen zu Ende leben, oder wir kehren in den Kreis zurück, aus dem die Menschheit einmal hervorgekommen ist…« Sonja hat recht, aber wir haben keine Alternative. »Ich gehe zu ihm«, sage ich. Sonja berührt meine Schulter. »Warte noch einen Augenblick, Roger. Ich will noch einen letzten Versuch machen. Vielleicht bringe ich ihn dazu, daß er ein Medikament nimmt.« »Ja, tu das, Sonja«, sage ich erleichtert. Gyula faßt sich an den Kopf. »Es wird Zeit, daß es ein Ende nimmt, ich habe Kopfschmerzen.« Sonja kam nach zwei Minuten wieder. »Es ist hoffnungslos. Er hat mich angespien, er nimmt nichts.« Gyula sagte auf einmal mit weinerlicher Stimme: »Du brauchst nicht zu gehen, Stuart, wir werden gerettet! Ein Raumschiff kommt auf uns zu.« Gyuia hatte am Bordfenster gestanden. Er blickte uns verklärt an. »Kümmer dich um ihn, Sonja«, sagte ich, »vielleicht hast du etwas zur Beruhigung.« Er tat mir leid. »Wir werden gerettet«, stammelte Gyula wieder, »sie kommen…« Er weinte.
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Dschi zog sich zum Bordfenster. »Ein Raumschiff!« schrie er, »ein Raumschiff! Sonja, Stuart, kommt her, es ist wahr!« Wir drängten uns ans Bordfenster und starrten fassungslos auf ein Gebilde, das wie ein Flugzeug aussah. Kein Zweifel, vor uns bewegte sich ein Raumschiff. Es war noch weit von uns entlernt. Gyula drehte am Teleskop. Es war schwierig, den kleinen Körper ins Blickfeld zu bekommen. Nicht nur, weil die »Darwin« noch immer taumelte, sondern vor allem, weil wir viel zu aufgeregt waren. »Sie werden senden«, rief Dschi und zog sich hinaus. In der Kommandozentrale stellte er den Empfänger ein und tastete die Frequenzskala ab. Eine Minute lang war nichts zu hören als Rauschen und Knattern, dann kamen Signale aus dem Lautsprecher, kurze und lange Töne, ununterbrochen. Dschi drehte auf volle Lautstärke. Die Töne ließen Paganinis Wimmern verstummen. Sie hallten durch das Raumschiff wie Chöre durch einen Dom. Gyula kam auf uns zu. »Ist das Musik!?« schrie er. »Freunde, wer hätte jemals herrlichere Musik gehört.« Wir umarmten uns. Wir waren nicht mehr bei Sinnen, tanzten und weinten, und in unseren Freudentaumel drang der Gesang des fremden Senders, diese wunderbaren, einfachen, verheißungsvollen, gleichförmigen Zeichen. Musik aus dem Paradies, die Sprache der Erde auf der Frequenz 640,3 Megahertz. Als wir wieder am Bordfenster standen, stürzten wir aus dem Taumel unserer Freude in den bitteren Schlund der Enttäuschung. Das Raumschiff war so nahe, daß wir Einzelheiten erkennen konnten. Es war eine Forschungssonde, vor zwanzig oder dreißig Jahren gestartet. Wahrscheinlich hatte sie ihr Ziel niemals erreicht und geisterte nun wie wir auf einer ewigen Bahn um die Sonne. Wir konnten die Solarzellen erkennen und die Antennen, und wir sahen die ausladenden Flügel, die den Wissenschaftlern zur Feststellung von Mikrometeoriten gedient hatten. Ein Pendant zu unserm Wrack. In Sonnennähe waren die Batterien aufgeladen worden - und die Sonde strahlte ihre sinnlosen Zeichen aus. Sie war in der Schwärze des Himmels aufgetaucht wie ein Menetekel. Zwanzigster Juni
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Ein paar Minuten lang hatten wir den Himmel gesehen, hatten gefühlt, was sein könnte. Jetzt war alles tausendmal schlimmer. Ich stand vor Paganini. Sein Gesicht war wie von Wachs, das ungepflegte Haar hing ihm über die Stirn, die Augen saßen tief in den Höhlen. »Paganini, sieh mich an und höre auf zu jammern.« »Binde mich los, ich will frei sein! Warum muß ich hier hängen? O ihr Verfluchten!« »Beantworte mir eine Frage. Wer bin ich?« »Du bist Stuart. Laß mich frei, Stuart, laß mich frei, oder gib mir die Ampulle…« »Also du erkennst mich. Weißt du auch, was du angerichtet hast? Weißt du, daß wir deinetwegen verrecken werden? Du hast unser Labor zertrümmert. Warum nimmst du keine Medikamente? Warum läßt du dir nicht helfen? Warum spuckst du alle an, sogar Sonja, die soviel für dich getan hat? Was bist du für ein verfluchter Kerl, Paganini!« Er wurde still und sah mich lange Zeit an. Ich konnte seinen Blick nicht ertragen und senkte den Kopf. »Binde mich los, Stuart, bitte, ich will hier nicht mehr hängen.« »Wenn ich dich freiließe, lebten wir keine vierundzwanzig Stunden mehr«, sagte ich, ohne ihn anzublicken, »dein Kopf ist nicht in Ordnung, du gibst nicht eher Ruhe, bis du uns alle umgebracht hast.« »Bald kommt der Tod«, flüsterte er, »ich will nicht so sterben.« Ich hatte die Ampulle in der Hand, aber ich konnte sie ihm nicht geben. Ich stand vor ihm, ergriffen und beschämt, und ich fühlte mich erniedrigt. Noch einen solchen Umlauf um die Sonne - und das Gesetz der Wildnis herrschte an Bord. Was hatte er eigentlich getan? Er hatte unsere Leidenszeit verkürzt, weiter nichts. Ich sah Schmerz und Trauer in seinem Gesicht. Wie lange war es her, da er uns die Geschichte erzählt hatte, den Traum vom Schuhputzer? »Paganini«, flüsterte ich, »wenn ich dich freilasse, was wirst du dann tun?« »Ich will frei sein, Stuart, ich will frei sein!« Immer wieder stieß er diesen Satz hervor. Ich band ihm die Füße los. »Dahli, jetzt höre mir gut zu, nimm deinen Verstand zusammen. Du kommst mit mir in den Gemüsegarten.
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Wir werden auf dich Obacht geben, und wenn du auch nur den Versuch machst, wieder etwas anzustellen, dann bringe ich dich um. Hast du mich verstanden?« »Ich werde fliegen und alle Lichter anzünden!« »Ob du mich verstanden hast, will ich wissen! Antworte mir, wenn du mir keine klare Antwort darauf gibst, binde ich deine Füße wieder fest.« »Nein, nein!« stammelte er, »nicht festbinden, ich will alles tun, ich will nur frei sein!« Ich befreite ihn von seinen Fesseln. Er rieb seine Gelenke, dann umarmte er mich und stammelte wirres Zeug. Ich packte ihn am Arm und zog ihn aus der Kabine. Sonja sagte kein Wort, als ich mit ihm durch die Luke kroch. Nur Dschi und Gyula sprangen auf und nahmen eine Stellung ein, als müßten sie einen Angriff abwehren. »Macht, was ihr wollt«, sagte ich, »ich bringe es nicht fertig.« Dschi sagte nichts. Er kroch zur Luke und bewachte sie. Paganini sah sich um, als wäre er zum ersten Male in diesem Raum. »Sieh dir nur an, was du angerichtet hast«, brummte Gyula, und es klang nicht einmal unfreundlich. Ich sagte: »Er wird nichts anstellen, er hat es mir versprochen. Laßt ihn erst einmal zu sich kommen.« Paganini war einen Schritt zurückgetreten. Er stand mit dem Rücken zur Bordwand; ein Magnetstreifen hielt ihn fest. Wie er jetzt dort hing, die Arme ausgebreitet, glich er mit seinem schwarzen Bart und dem struppigen Haar dem ans Kreuz genagelten Christus. Sein Blick wanderte verloren über uns hinweg. Das eigenartige Bild nahm uns gefangen, wir sahen ihn an, als müsse jeden Augenblick etwas Unwirkliches geschehen. Er schwieg lange und schien in seiner Erinnerung zu suchen. Endlich kam es kaum hörbar über seine Lippen: »Ihr seid alle hier - das ist gut.« »Was hat er gesagt?« fragte Gyula. »Er sagte, wir wären alle hier und das sei gut.« Etwas lauter fuhr der Kranke fort: »Ich möchte Abschied nehmen. Bitte, verzeiht mir, wenn ich Böses getan habe. Manchmal ist alles schwarz vor meinen Augen, und es sind Gestalten in mir und Worte und Bilder. Aber jetzt ist es hell, und ich sehe euch.
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Du bist Dschi, der kluge Dschi - und du bist Sonja. Ich danke dir, Sonja, ich danke dir für alles…« Er ließ den Kopf sinken. »Er stirbt!« rief ich. Paganini sah mich an. »Ich wollte euch nur noch sagen, daß es schön war auf der Erde. Ich sehe sie deutlich. Ich sehe das Wasser und den Himmel, den Wind und den Regen, den Sommer und den Winter.« Sonja gab einen Seufzer von sich. Gyula sagte. »Hättest du ihn nur nicht hergebracht, Stuart, das ist nicht mit anzusehen.« »So laß ihn doch«, sagte Dschi leise, »wir haben die Chance zurückzukommen, er nicht.« »Einen Dreck haben wir!« entgegnete Gyula heftig. »Wir krepieren hier wie die Hunde, einer nach dem andern. Ja, wie Hunde, und das ist nicht einmal neu. Die erste Kreatur auf einer Umlaufbahn war auch ein Hund, und seine letzte Ration glich genau der unseren.« »Kannst du nicht still sein oder wenigstens von etwas anderem reden?« fragte ich müde. »Was sollen solche Klagelieder?« »Er hat angefangen. Und ich klage an, solange ich lebe. Ich klage die Menschen an, und ich klage euch an und dieses verfluchte Universum! Er soll nur schweigen, der Verrückte, und uns nichts vom Sommer und Winter und Wind und Regen erzählen…« Paganini unterbrach Gyulas Verzweiflungsausbruch. »Ich bin ein Mensch, und alles, was Menschen getan haben, habe ich getan…« Er war nicht mehr bei uns, als er verzückt ausstieß: »Ich danke dir, Erde, und euch, ihr Menschen, und dir, Johann Sebastian, und Rabindranath, dir folge ich. Dank Buddha…« Plötzlich kamen Namen über seine Lippen, Namen, Namen. Aristoteles, Heraklit, Leonardo, Galilei, Kepler, Newton, Einstein - wie aus einem Lexikon quollen Namen aus ihm. Es war erstaunlich, woher er auf einmal diese Klarheit nahm. »Ihr«, sagte er, »wart das Gewissen der Menschheit. Ich bin einer von euch.« Gyula wollte ihn unterbrechen, doch Paganini war plötzlich still. Tiefe Zufriedenheit ging von ihm aus. Es war, als stünde ein neuer Mensch vor uns, und ich hatte das Gefühl, daß er wirklich Abschied nahm, Abschied von uns und von allem, was seine Erinnerung in diesen Minuten in ihm aufriß. In dieser lichten Stunde schien er
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Raum und Zeit überwunden zu haben. In ihm waren nicht Groll und keine Trauer und wohl auch keine Schmerzen mehr. Es sah aus, als wäre sein Körper schon hinübergegangen und nur ein Hauch seines Geistes spräche noch zu uns. Alles war unwirklich und anormal wie unser ganzes Leben in diesem Wrack. Und doch drückte seine Abnormität etwas aus, was sich mit Worten kaum wiedergeben läßt. Es war wie ein dunkles Ahnen, das zurückreichte ins Chaos der Entstehung und das nach vorn tastete und die Grenze zwischen Leben und Tod berührte. Sonja war zu ihm gegangen. Sie war wunderbar. Sie strich ihm das Haar aus der Stirn. »Sprich nicht mehr soviel, Dahli, ruhe dich aus. Du hast eine weite Reise hinter dir.« »Sonja«, sagte er, »Sonja - ich will dir etwas sagen.« Sie kam näher, und er flüsterte etwas, was wir nicht verstehen konnten. Nur ihre Antwort verstanden wir. Sonja sagte: »Ich verspreche es dir, Dahli.« Seine Energie war plötzlich verbraucht. Er brach zusammen. Sonja hielt ihn fest. »Helft mir, ihn in den Sanitätsraum zu bringen.« »Ist er tot?« fragte ich. »Nein«, antwortete sie. Gyula sagte: »Er geht uns voran. Bald wird er neben Mischa liegen. Man möchte Mitleid haben, aber selbst das ist einem fremd geworden.« Niemand antwortete. Wir trugen ihn in den Sanitätsraum und banden ihn an der Stütze fest. Sonja blieb bei ihm. Zweiundzwanzigster Juni Paganini schläft seit zwei Tagen. Aus Furcht, er könnte erneut etwas anstellen, suchten wir ihn immer wieder auf. Er schlief unruhig, und manchmal redete er im Traum. Er erzählte etwas von einem großen Fluß und einem Mädchen. Ich beneide ihn um seinen Schlaf. Meine Gedanken vermögen mir nicht einmal mehr das Bild meiner Heimat zu vermitteln. Alles ist weit weg; nur ein trüber Schatten, eine dumpfe Ahnung ist davon geblieben. Es ist still, unheimlich still an Bord. Und vor uns liegen noch knapp acht Monate…
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Später… Ich habe lange am Bordfenster gestanden. Die Sterne stehen plastisch wie leuchtende Bälle um uns; kein Flackern, keine Bewegung, ein gigantisches Theater, zum Greifen nahe und doch unerreichbar fern. Ich wollte den Alpha Centauri betrachten, den nächsten Nachbarn unserer Sonne, aber er kam nicht in mein Blickfeld. Da gibt es Menschen, die ernsthaft davon reden, daß kommende Generationen zu den Sternen fliegen werden. Was für eine Blasphemie der Vernunft! Niemals werden Menschen dieses Sonnensystem verlassen. Oder ein solcher Flug müßte zum Selbstzweck werden, der Menschheit nützte er nichts, weil Jahrtausende vergingen, ehe ein Raumschiff auch nur die Nachbarsonne erreicht hätte. Vielleicht gibt es einmal »Idealisten«, die, von Neugier getrieben, der Erde auf immer Valet sagen. Ich bedaure sie schon jetzt - nein, ich verachte sie. Idealismus und Fanatismus werden wohl von einer Wurzel gespeist. Man müßte ein Gesetz erlassen, das Idealismus unter Strafe stellt… Gyula gesellte sich später zu mir. Ich wollte ihm meine Gedanken erläutern, aber ihn interessierten weder die Idealisten noch der Alpha Centauri. Gyula hat nur einen Gedanken: die Erde. Er erinnerte sich an tausend sinnlose Dinge, die mir längst entfallen waren. So fing er unvermutet an, von Kastanien zu erzählen. »Erinnerst du dich nicht, Stuart«, sagte er verträumt, »im September werden die Kastanien reif. Die grünen stachligen Kapseln fallen dann von den Bäumen und platzen auf. Du brichst sie auseinander, und hervor kommt die braune, blanke Kastanie. Als ich noch klein war, habe ich sie immer gesammelt. Ich möchte noch einmal Kastanien sammeln - du auch, Stuart?« »Hör auf, daran zu denken«, sagte ich. Aber er redete weiter, bis ich in meine Kabine floh. Dreiundzwanzigster Juni Manchmal bin ich versucht, meine Aufzeichnungen zu zerreiben. Ich habe mich bemüht, alles Wesentliche festzuhalten, aber wie ließe sich diese Trostlosigkeit wiedergeben? Wir sitzen im Gemüsegarten oder geistern ruhelos durch das Raumschiff, und immer das gleiche
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Bild. Ich kenne jede Stelle, jeden Spant, jeden Niet. Ich kann Paganini verstehen, manchmal möchte ich auch alles zertrümmern… Nach meiner Uhr am Handgelenk ist es jetzt zweiundzwanzig Uhr Weltzeit. Angeblich soll sie genau gehen, sie wird von einem Stück geschliffenem Quarz angetrieben. Wer weiß, ob das hier noch zutrifft. Und die Monatsangaben? Ich bin überzeugt, sie stimmen längst nicht mehr. Unserm Gefühl nach sind wir bereits ein Leben lang unterwegs. Dschi hält sich an diese Zeitangaben. Ich werde also die Tage und Monate weiter nach unseren Borduhren einsetzen. Am Nachmittag kam Dschi zu mir. Er wollte mein Tagebuch sehen. Ich verweigerte es ihm. Er sagte: »Es ist nicht Neugier von mir, Stuart. Mir ist nur daran gelegen, daß dein Tagebuch mit hinauskatapultiert wird. Du hast alles aufgeschrieben?« »Nein«, sagte ich, »wer könnte das?« Er nickte. »Wenn sie nur eine Vorstellung von diesem verdammten Leben bekommen. Vielleicht begreift dann dieser oder jener, der es noch nicht begriffen hat, was die Erde bedeutet. Ich habe auch geschrieben. Ich habe interessante mathematische Raum-Zeit-Probleme zu errechnen versucht. Das ist jetzt nicht so wichtig für uns. Nächste Woche werden wir die erste Nachrichtensonde hinauskatapultieren. Die zweite folgt zehn Tage später, die dritte nach weiteren zehn Tagen. Eine von ihnen muß in Erdnähe gelangen. Die Sonden werden Positionsangaben über unseren Bahnverlauf enthalten. Alles ist bereit. Die letzte Sonde wird dein Tagebuch aufnehmen.« »Und du knüpfst wirklich Hoffnungen an diese Sonden, Dschi?« »Ja, Stuart. Das hast du mich schon einmal gefragt. Nur diese Hoffnung hält mich noch am Leben. Ich habe Angst vor dem Sterben, ich will dieses Grab nicht, das ist alles.« »Darauf haben wir keinen Einfluß, Dschi. Wie viele Hoffnungen sind uns schon zerbrochen. Ich habe nichts gegen deinen Plan, aber ich fürchte mich vor diesen letzten Monaten.« »Sie werden vorübergehen.« Er ergriff plötzlich mein Handgelenk und sah mich durchdringend an. In seinen Augen glomm etwas Fanatisches. So hatte ich ihn noch nie gesehen. »Ich glaube«, flüsterte er, »ich glaube. Ich will an unsere Rettung glauben. Sie werden uns fin-
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den, Stuart, sie werden uns finden! Jeden Tag flüstere ich tausendmal diesen einen Satz: Sie werden uns finden. Ich will zurück, ich will zur Erde zurück! Wenn ich diesen Glauben nicht mehr hätte, wäre ich längst ein Tier. Und du solltest auch daran glauben, Stuart, alle sollt ihr daran glauben!« Eine hektische Röte trat in sein Gesicht. »Dschi, was ist mit dir?« rief ich erschreckt. »Bist du krank?« »Nein, nein«, murmelte er, »ich glaube! Ich glaube, daß sie uns finden, ich glaube, daß sie uns finden! Sprich mir nach, Stuart: Ich glaube, daß sie uns finden! Sag es…« »Ja, ich glaube es, Dschi«, sagte ich verwirrt, »bestimmt, sie werden uns zurückholen…« Ich hatte schreckliche Angst, daß auch er nicht mehr richtig im Kopf sein könnte. Dreiundzwanzig Uhr vierzig Paganini hat uns erneut in Aufregung versetzt. Nun zum letzten Male. Er ist verschwunden. Hat er seine Fesseln allein abgestreift? Ich habe Sonja im Verdacht, ich glaube, sie hat ihn aus Mitleid befreit. Sie hatte ihm doch etwas versprochen. Wir fragen sie nicht, und sie sagt nichts. Zehn Minuten dauerte es, bis wir sicher waren, daß er sich nicht mehr an Bord befand. Wir preßten uns gegen die Bordfenster; von ihm war nichts zu sehen. Nur ein paar Blätter entdeckten wir - seine Arbeit. Er hatte sie mitgenommen. Sie flogen gespenstisch in immer größerem Abstand hinter uns her. Wie er das Kunststück fertiggebracht hat, sich unbemerkt zu entfernen, ist uns allen ein Rätsel. Er muß uns seit Tagen beobachtet haben und wußte daher, wann wir schliefen. Auf jeden Fall war er bei Verstand, als er in die Schleuse kroch. Er hatte seinen Raumanzug an, hatte die Schleuse vorschriftsmäßig geöffnet und wieder geschlossen. Könnte ich doch sein wie Sonja. Sie weint. Sie hockt im Sanitätsraum und weint um ihn. Ich kann nicht weinen, und ich kann meine Gefühle auch nicht mit Zahlen und Formeln abreagieren wie Dschi. Was in Gyula vorgeht, weiß ich nicht; er klammert sich ununterbrochen ans Bordfenster und stiert hinaus. Paganini, Dahli, wie oft wolltest du in deinem Wahn ein Vogel sein, wolltest von Stern zu Stern fliegen. Jetzt bist du ein Vogel. Ich muß immer an ihn denken. Nie werde ich seine Qualen
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und seine Freuden, seine dunklen und lichten Stunden vergessen. Dahli, du bist erlöst. Bald werden wir dir folgen… Zweiter Juli Heute haben wir die erste Nachrichtensonde hinauskatapultiert. Sie enthält unsere Positionsangaben und unsern Hilferuf, sonst nichts. Kein Wort über unsere beiden toten Gefährten. Fast eine Stunde lang konnten wir die Sonde beobachten, dann tauchte sie im grellen Sonnenlicht unter. Hoffnung… Paganinis Ende läßt uns nicht los. Keiner spricht darüber, aber sein Geist scheint wie ein Gespenst umzugehen. Ich habe Angst, daß wir alle wahnsinnig werden. Oder sind wir es längst? Wir haben keine Maßstäbe mehr. Nur eines weiß ich sicher: Es gibt nichts Unsinnigeres als das Wort Zeit. Jetzt erst habe ich begriffen, was es heißt, wenn die Astronomen auf der Erde im Zusammenhang mit dem Universum immer von Millionen oder Milliarden Lichtjahren sprechen. Und selbst das ist irdisch gedacht, in Wahrheit ist der Zeitbegriff im Kosmos einfach lächerlich. Ich fange an, es albern zu finden, wenn ich datiere: Acht oder vierundzwanzig Stunden später. Ich könnte genauso schreiben: Acht oder vierundzwanzig Millionen Jahre später… Zwölfter Juli Wir haben einen letzten Gruß auf Tonband gesprochen. Dschi war sehr sachlich, ruhig wie immer, Sonja bewundernswert tapfer. Ich habe mich ebenfalls bemüht, Herr meiner Nerven zu bleiben. Gyula gelang es nicht. Er konnte nicht zu Ende sprechen. Wir flößten ihm etwas Kognak ein. Eine Stunde, nachdem die Sonde mit den Tonbändern hinaus war, kam Dschi aufgeregt in den Gemüsegarten. Er habe bei den Positionsangaben möglicherweise zwei falsche Zahlen aufgeschrieben. Sie müßten in der letzten Sonde unbedingt berichtigt werden. Es würde mich nicht wundern, wenn seine gesamte Rechnerei nicht stimmt. Ich habe mir einige seiner Formeln und Zahlen angesehen. Es tauchen so viele Nullen darin auf. Ich bin nicht sicher - kann man denn die Null
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potenzieren? Ich kann weder lesen noch rechnen; es ist so schwer, sich zu konzentrieren. Und es ist so still, so unheimlich still. Wenn doch nur alles bald ein Ende nähme. Wir verfaulen lebendigen Leibes… Später… »Die erste Sonde könnte schon in Erdnähe sein«, sagte Dschi. Wir dachten an seine falschen Zahlen und schwiegen. »In der ersten Sonde haben die Angaben gestimmt, dessen bin ich sicher.« Nach einer Pause: »Warum schweigt ihr?« »Worüber sollten wir reden, Dschi?« fragte Gyula. »Wir haben doch schon über alles gesprochen, über alles. Nur eines möchte ich noch wissen. Welchen Sinn hat das Leben? Warum leben wir?« »Um zur Erkenntnis zu gelangen«, antwortete Dschi. »Was für eine Erkenntnis?« »Daß es ein Paradies gibt, geschaffen für uns Menschen.« »Ein Traum«, sagte Gyula, »ein Traum.« Nach einer Weile meinte Sonja: »Die Menschen haben das Paradies immer außerhalb der Erde gesucht. Alle Religionen lenken die Blicke ins Nichts. Sie werden nicht begreifen, daß die Erde alles ist.« »Alles sein könnte«, fügte ich hinzu. »Um zu begreifen, was die Erde bedeutet, muß man erst diese Welt kennengelernt haben.« Stille. Nur das Ticken unserer Uhren hören wir. Es hört sich an wie ein lautes Klopfen. So klopft das Schicksal an die Pforte - noch sieben Monate. Durch die Bordfenster starren uns die Sterne an, seit Monaten nun schon. Sie werden weiter in unsere Welt glotzen. Stunde um Stunde, Tag um Tag, unbeweglich wie ein unheimliches Tier, mit Milliarden Augen… »Vielleicht hat Paganini doch recht gehabt«, flüsterte Gyula später, »er wollte immer von Stern zu Stern fliegen. Irgendwo mag es andere bewohnte Welten geben, bessere als die, nach der wir uns sehnen.« »Es gibt keine bessere Welt als die Erde«, erwiderte Dschi, »denn es kann kein besseres Wasser geben als das der Erde, keinen besse-
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ren Boden als den der Erde, keine schöneren Wolken als die der Erde, keine herrlicheren Wälder als die der Erde. Alles haben ihr die Menschen mit Schmerzen abgerungen, alle Schätze, die wir hören, sehen, fühlen können…« »Aber es gibt andere bewohnte Welten«, unterbrach Sonja ihn, »vielleicht werden wir eines Tages mit ihnen in Berührung kommen.« »Niemals Sonja. Lichtjahre lassen sich nicht überbrücken. Was nützte uns eine Antwort auf eine Frage, die uns nach zehn, zwanzig oder mehr Millionen Jahren erreicht? Überlassen wir es der Phantasie, die Weiten des Universums zu durchstreifen… Ich sagte: »Niemand vermag zu sagen: Dies ist möglich, und dies ist unmöglich. Es gibt andere bewohnte Welten. Also werden sich die Menschen eines Tages auf die Wanderschaft begeben und ihre Nachbarn besuchen.« Dschi schwieg. »Wozu?« fragte Gyula. »Wozu?« Ich hob die Schultern. Wozu waren wir aufgestiegen? Warum forscht der Mensch? Dschi sagte: »Wir können nur von anderen bewohnten Welten träumen. Sie sind wie ein Spiegelbild - nah oder fern, aber niemals faßbar. Natürlich wäre es möglich, mit größeren Raumschiffen die Erde für immer zu verlassen. Erinnert ihr euch an die Supernova vor einigen Monaten?« »Ja, südlich unter Kappa«, sagte ich ironisch. »Richtig, südlich unter Kappa. Ich habe viel darüber nachgedacht und auch versucht, etwas zu rechnen. Es wäre nicht ausgeschlossen, daß wir es im Falle einer Supernova mit der Berührung zweier entgegengesetzter Welten zu tun haben. Eine Materie-Welt stößt auf eine Welt der Antimaterie. So ließe sich die ungeheure Intensitätssteigerung erklären; die Massen zweier Sterne werden in Energie umgesetzt - E = m x c2, vielleicht ist es die Lösung? Noch wissen wir es nicht genau, aber es gibt keinen Zweifel, daß Welten aus Antimaterie existieren - unser Spiegelbild…« »Du meinst, daß diese Antimaterie der Raumfahrt bereits die Grenzen steckt?« fragte Sonja. »Die Berührung eines Raumschiffes mit einer solchen Welt riefe eine Nova hervor«, antwortete Dschi, »aber so weit wird der Mensch
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gar nicht erst kommen. Es genügt vollauf, die nähere Umgebung der Erde zu erforschen, den Mond, die Venus, vielleicht noch Mars und Jupiter…« »Ich würde keinen Gedanken daran verschwenden«, sagte Gyula. »Wenn ich noch einmal zur Erde zurück könnte, würde ich Bergarbeiter werden. Ich würde mich in sie eingraben wie ein Maulwurf; mit Händen und Füßen würde ich mich an ihr festklammern. Mich brächte keiner mehr von der Erde weg - eine Antiraumfahrtliga würde ich gründen…« Er sagte das bitterernst und komisch zugleich. Wir schwiegen eine Zeitlang. Dann sagte Dschi: »Vielleicht haltet ihr mich für einen Phantasten, aber ich bin zu der Überzeugung gekommen, daß es keine dringlichere Aufgabe für die Menschheit gibt als die Raumfahrt.« »Diese Überzeugung scheint mir in der Tat etwas phantastisch zu sein, Dschi«, sagte Sonja, und ich pflichtete ihr bei. Dschi erwiderte: »Ich denke nicht an den materiellen Nutzen, der aus dieser Forschung erwachsen könnte. Seit Jahrtausenden leben die Menschen in Kriegen. Der folgende war immer entsetzlicher als der vorausgegangene. Heute würde ein Krieg das Leben auf der Erde auslöschen. Sähen die Menschen die Erde so wie wir als eine kleine Kugel, die wie ein Raumschiff durch die Tiefen des Alls fliegt, dann würden sie diese einmalige Existenz vielleicht nicht so leichtfertig aufs Spiel setzen. Auf der Erde hat man das Gefühl, im Mittelpunkt der Welt zu stehen. Alles wölbt sich über dir und dreht sich um dich; die Ebene scheint unermeßlich und läßt vergessen, wie winzig dieser Planet in Wahrheit ist. Die Erkenntnis der Einmaligkeit unseres Daseins und unserer Winzigkeit im All muß im Bewußtsein der Menschen Platz greifen. Die Raumfahrt könnte der Anfang zu einem ganz neuen Denken sein, zu dem Wissen das Fühlen geben: Wir sind Bewohner eines Planeten.« »Eines Planeten«, murmelte Gyula, »hast du das gehört, Stuart? Er gehört auch zu den Idealisten, die du nicht ausstehen kannst. Jetzt teile ich deine Antipathie. Es hängt mir zum Halse heraus, diese vor Humanismus triefenden Gedanken mit anzuhören. Wozu erzählst du uns das?« fuhr er Dschi an. »Was gehen uns die Menschen an? Ha-
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ben sie sich um uns gekümmert? Von mir aus können sie wieder zu Neandertalern werden!« Sonja sah mich an. Wir verstanden uns ohne Worte. Was hatte es für einen Sinn, über das Schicksal der Menschheit zu debattieren? Wir müssen mit unserm Leben fertig werden, und das ist schwer genug, denn unsere Tage sind gezählt. Wir ließen Dschi und Gyula allein… Neunzehnter Juli Dieses Datum hat mich an etwas Unwichtiges erinnert. Heute vor vierundvierzig Jahren erblickte ich das Licht der Welt. Dieser Welt? Nein, das farbenprächtige Licht der Erde. Vielleicht erinnert sich dort in diesem Augenblick dieser oder jener an meinen Geburtstag - Cedrice, Alexander Wulko oder andere Kameraden. Dann werden sie von mir sprechen, meine guten Seiten hervorheben, wie es Brauch ist, wenn man über Verstorbene redet. Hier hat keiner von diesem Tag Notiz genommen; weder Dschi noch Gyula noch Sonja. Selbst ich bin nur durch die zufällige Datierung meiner Aufzeichnungen darauf gestoßen. Vierundzwanzig Stunden wie alle anderen. Und doch geben sie mir Anlaß zu fragen: war dein Leben sinnvoll? Hat es sich gelohnt? Schemenhaft drängen sich mir Episoden auf, Bagatellen, die haften geblieben sind. Vorbei, unwiderruflich vorbei. Was ist geblieben? Sehnsucht, Liebe und ein ohnmächtiges Hoffen. Draußen, nur wenige Meter von mir entfernt, schläft Mischa seinen ewigen Schlaf. Irgendwo zieht Dahli, unser armer Paganini, seine Bahn - unauffindbar, für immer verschollen. Jetzt verstehe ich, daß er sich in seiner letzten lichten Stunde all jener zu erinnern bemühte, die für alle Menschen der Erinnerung wert sind. Und wir? Ist unser armseliges Dasein, unser Tod bedeutungslos? Sind wir der Erinnerung wert? Ich grüble und grüble; eine Flut von Gedanken türmt sich in mir auf. Warum leben wir? Gyula hat sich mit dieser Frage einmal gequält. Warum? Es ist die müßigste und unwichtigste Frage, die sich ein Mensch stellen kann. Wir sind aus dem Urstoff zusammengesetzt, aus dem sich das Universum aufbaut. Eine Laune der Natur, eine Kette von Zufällen hat organische Materie zusammengefügt, aus der sich in Jahrmillionen die lebende Kreatur entwickelte. Zufälle
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haben auch den Flug der »Darwin« und damit unseren Lebensweg bestimmt. Die Logik ist unbarmherzig und läßt nur diese Antwort nach dem Warum? zu. Jedes weitere Fragen müßte ins Mystische führen. Nein, nicht diese Frage ist des Nachdenkens wert, sondern etwas anderes. Wer sind wir eigentlich, wir Menschen? Wer bin ich, der um seine Geburt, um seine Existenz, um seinen Tod weiß? Wir rühmen die Stunden der großen Entdeckungen und Erfindungen, mit denen sich hochklingende Namen verbinden, und wir gedenken zu Recht der Märtyrer, die im Glauben an die Vernunft ihr Leben gaben. Doch gab es nicht in unserm Dasein einen Augenblick, der größer und erhabener war als all diese bedeutenden Ereignisse? Irgendwann einmal wurde sich der Mensch seiner bewußt. Irgendwann einmal hat er zögernd und verwundert festgestellt: Ich bin, ich lebe, ich bin Herr auf diesem Planeten. ICH BIN! Welch eine Erkenntnis. Wer sind wir? Wir wissen um unser Sein, wir haben gesucht und geforscht und unser Leben nicht gescheut, einen Tropfen neuer Erkenntnis zu gewinnen. Heute kennen wir den Aufbau der Materie, halten das Atom in den Händen. Wir haben die Erde erforscht, sie Schritt um Schritt erobert und Untertan gemacht. Wir sind dabei, dieses unser Haus von außen zu betrachten, seinen Standort im Raum zu bestimmen und die Nachbarplaneten in unsern Dienst zu zwingen. Abermals stehen wir an der Schwelle eines neuen Seins. Dschi hat es angedeutet; zu wissen und zu fühlen: wir sind Bewohner eines Planeten. Wir kennen das Geheimnis der Naturgesetze; darum wird der Tag kommen, da wir den Lauf ferner Sonnen bestimmen werden und ihre gewaltigen Energien nutzbar machen. Nutzbar? Zu welchem Zweck? Diese Frage sprengt alle Vorstellungen von unserem vergangenen und gegenwärtigen Sein. Fast schaudre ich bei dem Gedanken und der Erkenntnis: Es gibt kein Zurück mehr. Der Mensch kann nicht stehenbleiben, kann nicht mehr aufhören zu denken, zu forschen und zu formen. Er braucht die Kraft des Atoms als Energiequelle, er braucht die Raumfahrt zu neuer Erkenntnis. Jeder Stillstand in dieser Entwicklung würde zum Untergang führen. Wer also sind wir, die wir uns ausdenken können, einmal außerhalb unseres Plane-
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ten der Materie unseren Willen aufzuzwingen? Angesichts unserer Ohnmacht, unseres unausbleiblichen Endes in diesem Metallsarg, erscheint mir die Antwort vermessen. Blicke ich zurück in die ferne Menschheitsgeschichte, und sehe ich das Bild kommender Generationen, so fühle ich: wir selbst sind der Schöpfer! Durchdringen wir nicht mit unseren Gedanken die Tiefen des Universums? Erkennen und begreifen wir es nicht mit jedem Tag mehr? In uns spiegelt sich das All, es gehört uns. Mit unausbleiblicher Gewißheit werden wir in die Tiefen des Kosmos eindringen und Besitz von ihm ergreifen. Der Same des Menschengeschlechts wird auf Myriaden ferner Planeten von unserm Schöpfungsakt Zeugnis ablegen. Was bedeutet in diesem gewaltigen Prozeß unser Untergang? Ob wir vier von der »Charles Darwin« leben oder nicht leben ist nicht mehr, als ob ein Sperling verlorengegangen wäre. Es ist genauso unwichtig wie Gyulas Frage nach dem Warum? Nur die Menschheit als Ganzes, ihr Fortbestand zählt. Es ist gut, in diesen Stunden daran zu denken… Alles Vergängliche - ist nur Gleichnis; das Unzulängliche, hier wird’s Ereignis… Einige Stunden später Sonja ist bei mir. Sie hat an meinen Geburtstag gedacht. Ich danke dir, Sonja, ich danke dir… Sie schläft jetzt in meiner Kabine. Ganz ruhig und gleichmäßig sind ihre Atemzüge. Immer wieder muß ich sie ansehen, und in Gedanken spreche ich zu ihr. Du hattest recht. Liebste, als du mir einmal sagtest: solange Menschen die Erde bewohnen, solange werden wir unter ihnen weilen. Ja, du warst und du bist nicht weniger als jene, deren Namen in den Folianten der Historie verzeichnet sind. Wir werden auch dann unter ihnen sein, wenn unsere Namen längst vergessen sind. Denn unser Leben war sinnvoll, und es war schön - trotz alledem. Zweiundzwanzigster Juli Meine letzten Zeilen. Wir wollen die Sonde hinauskatapultieren, sie wird dieses Tagebuch enthalten. Dschi ist voller Ungeduld. Die Sonde ist ihm zum Gegenstand abergläubischer Verehrung und Hoff-
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Hoffnung geworden. Hoffnung - unser ganzer Sprachschatz besteht aus diesem einen Wort: Hoffnung! Ein paar Monate noch, dann hat dieser Stumpfsinn ein Ende. Sieben Monate - mir graut vor dieser Zeit. Ich grüße euch, Menschen, und ich… Worte, nur Worte… Dreizehn Uhr zwölf Minuten Roger Stuart
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XXII Ein winziges Stück sinnvoll zusammengefügter Materie ist die »Charles Darwin«. Der unberechenbare Zufall hat sie zu einem Planetoiden gemacht; sie kreist, den Naturgesetzen untergeordnet, auf einer ewigen Bahn um das Zentralgestirn unseres Planetensystems. Und vier Menschen, vier Überlebende, warten, bangen und hoffen in stummer Verzweiflung auf das Wunder, das ihrem rastlosen Flug Einhalt gebietet. Die Quelle ihres Lebens, die Arbeit, die sinnvolle, nutzbringende Tätigkeit, ist versiegt; ihr Nahrungsmittelvorrat neigt sich dem Ende entgegen. Sie wissen nicht, daß ihr Hilferuf gehört wurde, und sie wissen auch nicht, daß in einer Entfernung von etwas mehr als einer Million Kilometern die »Johannes Kepler« ihre Bahn zieht. Beide Raumschiffe bewegen sich aufeinander zu. Nach den Bahndaten, die in der Nachrichtenkapsel aufgefunden wurden, muß diese Begegnung unausbleiblich sein. Was aber, wenn in diesen Angaben ein winziger Rechenfehler enthalten war. Eine unrichtige Messung, ein falsch gesetztes Komma - und beide Raumschiffe rasen um Hundertausend Kilometer aneinander vorbei. Darüber vermag keiner, auch nicht die Elektronenhirne an Bord der »Kepler« und auf der Leitstation, Auskunft zu geben. Es bleibt eine Suche nach dem Streichholz im Ozean; vor unendlich langer Zeit hat Professor Sjögren dieses Bild einmal heraufbeschworen, als er die Unausführbarkeit der Expedition veranschaulichen wollte. Wird er recht behalten? Die »Johannes Kepler« schien im Raum stillzustehen. Worte, an die Leitstation gerichtet, benötigten elf Minuten und drei Sekunden, um ihr Ziel zu erreichen. Die drei Insassen des Expeditionsraumschiffes blickten nur noch selten durch die Bordfenster. Trotz der ständigen Verbindung mit der Erde hatte sich ihr ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit und Verlassenheit bemächtigt. Wo befand sich dieser glitzernde Punkt, um dessentwillen sie vor Monaten aufgestiegen waren? Gab es ihn überhaupt? Ein paar Wochen noch, dann 303
mußte der Nahrungsmittelvorrat in der »Darwin« erschöpft sein. Wochen - das war eine Unendlichkeit. Vergeblich tastete eine Automatik die Frequenzen ihrer Empfänger ab. Kein Lebenszeichen. Umsonst kreisten die Suchgeräte, durchforschten Grad für Grad die sie umgebende Sphäre. Schweigen, Finsternis und darin eingebettet Myriaden gleißender Lichtpunkte, ferne Sonnen. Endlos Zeit und Raum. Längst hatten sie das Tagebuch des Roger Stuart gelesen. Alles schien unendlich weit zurückzuliegen. Was war nach dem Start der letzten Nachrichtenkapsel geschehen? Suchten sie noch nach Lebenden? Wille und Hoffnung hatte die drei Raumfahrer alles ertragen lassen, was dieser Flug ihnen abverlangte. Sie hatten mehr getan, mehr ausgehalten, als es nach menschlichem Ermessen zumutbar war. Jetzt fühlten sie, daß ihre Energie abbaute und ihr Wille nachließ. Die Stille hatte sie zermürbt, Zweifel an der Exaktheit ihrer Flugbahn lähmte ihr Denken. Cedrice war der erste, der die Kontrolle über sich zu verlieren schien. Anfangs versuchte er, sachlich zu begründen, weshalb ihr Flug kein gutes Ende nehmen konnte. Er wollte Widerspruch, doch weder Jephson noch Massimu antworteten. Da verlor Cedrice die Selbstbeherrschung. Er zog sich in die Kommandozentrale zurück, stellte eine Verbindung mit der Leitzentrale her und forderte den Abbruch der Expedition. Massimu redete auf ihn ein: »Du willst aufgeben, Cedrice, ausgerechnet du? Hast du vergessen, daß sie auf uns warten? Daß wir sie jeden Tag orten können?« »Sie haben sich verrechnet«, stammelte Cedrice, »wir suchen sie in einer falschen Sphäre. Sie haben längst Schluß gemacht - die sieben Monate sind vorbei…« Massimu wies nach, daß noch einige Wochen bis zu dem Zeitpunkt fehlten. Allmählich beruhigte sich Cedrice. Die Leitstation meldete sich. Massimu sagte: »Wir werden durchhalten, aber sagt uns, wann die Suche sinnlos geworden ist.« Er erläuterte die Situation an Bord. Cedrice waren nach der Lektüre des Tagebuches die Nerven durchgegangen. Er fürchtete unablässig, in einer falschen Sphäre zu suchen. Aber auch Jephson war am Ende seiner Kraft. Er hockte apathisch in seiner Kabine, hatte die Hoffnung verloren. Selbst Massimu zweifelte an einem Erfolg, aber er wiederholte
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stereotyp den Text, den er schon hundertmal von sich gegeben hatte: »Bald sind wir bei ihnen, vielleicht heute oder morgen.« In Wahrheit jedoch waren es ganz andere Überlegungen, die ihn durchhalten ließen. Mehr oder weniger war ihnen allen bewußt, daß es ein Zurück für sie nicht mehr gab. Sie mußten das Wrack finden und die Insassen bergen - tot oder lebend. Ohne diese Fracht wäre für sie das Leben auf der Erde sinnlos geworden. Der Abbruch der Expedition wäre bis an ihr Lebensende ein Vorwurf gegen sie gewesen. Sie hockten im Gemüsegarten. Unvermittelt sagte Henry Jephson: »Wenn wir jetzt umkehren könnten, wären wir in sechs bis sieben Monaten daheim.« Er erhielt keine Antwort. Schweigen. Die Minuten verrannen, wurden zu Ewigkeiten. »Wieviel Tage noch, Georg?« fragte Cedrice. »Wieviel Tage können sie noch existieren?« »Wenn ihre Angaben stimmen, dann noch zwanzig bis fünfundzwanzig Tage.« »Zwanzig Tage«, wiederholte Cedrice. Er erhob sich und trat ans Teleskop. An der Drehbewegung sahen sie, daß er das Objektiv auf die Erde richtete. Jephson kletterte hinaus. Etwas später hörten sie ihn keuchen. Er trainierte mit den Expandern. »Henry hat recht«, sagte Massimu, »das vernünftigste, was wir tun können, ist jetzt, an unsere Gesundheit zu denken. Komm, Cedrice…« Massimu kletterte hinaus. Cedrice sah seinem Gefährten nach. Nach einer Weile kroch er ebenfalls hinaus und bewegte sich müde auf seine Kabine zu. Mit verzweifelter Anstrengung zwang er sich, die schlaffen Muskeln an den Expandern zu kräftigen. Wie lange noch dieser Flug mit einem Ziel, das unauffindbar war? Sie wollten, sie mußten durchhalten, aber die Krankheit, der vierte, unsichtbare Gast an Bord, konnte bei jedem in jeder Stunde mit größerer Heftigkeit ausbrechen. Nur ein Mittel hätte diesen unsichtbaren Gast verbannen können: das Ziel ihrer Expedition. Sie ahnten nicht, wie nahe sie diesem ersehnten Ziel gekommen waren. Nach insgesamt sechseinhalb Monaten Flug, am vierundzwanzigsten Februar, 15 Uhr Ephetneridenzeit, sichtete die Besatzung der »Johannes Kepler« einen winzigen leuchtenden Punkt im Sternbild
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des Großen Bären. Der kleine Himmelskörper bewegte sich langsam zwei Bogensekunden unterhalb des Sternes Mizar, im Katalog unter dem griechischen Buchstaben Zeta geführt, in Richtung des Sternes Benetnasch, des letzten Deichselsterns des Großen Bären. Der Kurs der »Johannes Kepler«, die sich zur Zeit der Entdeckung ohne Antrieb bewegte, wich um vier Grad von der errechneten Position ab. Zur gleichen Stunde erhielt die Station auf der Erde folgende erregende Durchsage durch den Kommandanten Massimu: »Raumschiff ›Charles Darwin‹ gesichtet. Galaktische Koordinaten: Rektaszension = 200° 31’ -Deklination = 48° 5’. Entfernung vierunddreißigtausend Kilometer. Wir schalten Triebwerke ein und korrigieren Flugbahn durch Handsteuerung. Weitere Nachricht bei Annäherung.« Das Annäherungsmanöver war wenige Minuten nach achtzehn Uhr Ephemeridenzeit beendet. Die »Johannes Kepler« schwebte in einem Abstand von fünfzig Metern neben der »Charles Darwin«. In der Kommandozentrale standen Massimu, Jephson und Cedrice Stuart. Alle drei hatten ihre Raumanzüge angelegt. Ihre Sender funkten ununterbrochen Signale zur »Darwin«. Sie warteten auf Antwort und wußten nicht, ob noch Leben in dem Wrack war. Durch das Okular eines Teleskops mit schwacher Vergrößerung konnte Cedrice die gespenstische Silhouette der »Darwin« beobachten. Er sah die Zerstörungen, und er sah den leblosen Körper auf der Außenfläche. Cedrice nahm alle Kraft zusammen, um ruhig zu bleiben. Lange Zeit schien es, als sei jedes Leben an Bord ihres Schwesternschiffes erloschen. Dann schrak er zusammen; am Kabinenfenster der »Darwin« war das Gesicht einer Frau zu erkennen. Es schien ausdruckslos, keine Regung von Freude oder Überraschung zeigte sich darin. Doch das konnte auch durch die dicken Glasscheiben hervorgerufen worden sein. Etwas später tauchten neben der Frau zwei bärtige Männer auf. Cedrice sah, daß sie miteinander redeten und immer wieder zur »Kepler« hinüberblickten. Einer der beiden Männer hatte schlohweißes Haar. Cedrice erkannte den Mann nicht. Eine Hand berührte seine Schulter. Durch die Scheiben seines Schutzhelmes sah er Jephson. Die ernste Stimme seines Gefährten
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erreichte ihn über das Mikrophon: »All right, Cedrice, wir sind gleich bei ihnen, in the nick of time.« »Ja«, sagte Cedrice, »noch zur rechten Zeit.« Er erwiderte Jephsons Handgruß, dann nickte ihm auch Massimu aufmunternd zu. Die beiden betraten die Schleuse. Cedrice beobachtete wieder das Bordfenster der »Darwin«. Die Frau stand noch immer dort, die beiden Männer waren nicht mehr zu sehen. Acht Minuten vergingen. Im Lautsprecher summte es. Die Station meldete sich. Cedrice wollte antworten, als er seine beiden Gefährten bemerkte. Sie schwebten, an einem Seil gesichert, vor der »Charles Darwin«. Er hörte ihre Kommandos und sah, daß die Schleuse von innen geöffnet wurde. Wieder meldete sich die Station.
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