Die Alptraumwelt Andre Norton 1973/85
Ganz plötzlich bricht die Welt auseinander, und durch ein Dimensionstor geraten ...
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Die Alptraumwelt Andre Norton 1973/85
Ganz plötzlich bricht die Welt auseinander, und durch ein Dimensionstor geraten Nick Shaw und Linda Durant in eine Parallelwelt. Dort gelten noch die uralten Gesetze der Magie. Zwei junge Menschen unserer Zeit müssen sich auf einmal mit Dingen auseinandersetzen, die sie nie für möglich gehalten hätten. Es kommt zu einem Kampf auf Leben und Tod. An bestimmten Orten auf unserer Welt ballen sich interdimensionale Energien zusammen und brechen Löcher in das stabile Raum-Zeit-Gefüge. Der junge Nick Shaw und die hübsche Linda Durant, die auf dem Weg zu einem abgelegenen Haus sind, geraten durch Zufall in ein solches Energiefeld. Unvermittelt werden die beiden jungen Menschen aus der heutigen technologisch geprägten Welt in eine Parallelwelt versetzt, auf der noch die uralten Gesetze der Magie gelten. Gedachtes wird real. Das Böse manifestiert sich und bedroht alle Lebewesen des Planeten. Nick und Linda stehen im Mittelpunkt einer tödlichen Auseinandersetzung. Ein spannender Fantasy-Roman aus der Feder einer Altmeisterin der amerikanischen Science Fiction. Zum Autor Andre Norton (eigentlich Alice Mary Norton) wurde 1912 in Cleveland/Ohio geboren und ist somit eine der Dienstältesten in der Riege der SF-Autoren. Nachdem sie die Western Reserve University absolviert hatte, war sie von 1932 bis 1950 als Bibliothekarin angestellt. Ihr Aufstieg als Schriftstellerin begann in den fünfziger Jahren, als sie als Redakteurin in dem auf SF spezialisierten Verlag Gnome Press arbeitete. Wie jede andere Autorin hatte auch Andre Norton mit den Problemen einer Frau im SF-Metier zu kämpfen und benutzte deshalb am Anfang ihrer Karriere ein männliches Pseudonym (Andrew North). Sie war immer eine Autorin, die mehr die Fantasy-Elemente betonte und nicht so sehr die Technologie, wo sich ihre männlichen Kollegen austobten. Als bestes Beispiel dafür kann ihr berühmter Hexenwelt-Zyklus dienen. Viele der heute bekannten SF-Schriftstellerinnen sind maßgeblich von Andre Norton beeinflußt worden, dazu gehören Marion Zimmer Bradley, C. J. Cherryh und Anne McCaffrey.
1. Es würde ein erholsames Wochenende werden, fern von Vaters neuer Frau Margo, die alles umgekrempelt hatte, einschließlich Vater. Wie gut, daß Margo das Wochenendhaus am See nicht mochte. Nick wunderte sich nur, daß sie Vater noch nicht überredet hatte, es zu verkaufen. Nick Shaw hielt sein Motorrad vor Ham Hodges kleinem Supermarkt an, um sich noch mit ein paar Dingen für das Wochenende einzudecken. Er nahm seinen Motorradhelm ab, als ein drohendes Fauchen ihn begrüßte. „Beruhige dich, Rufus“, wandte er sich an den schwarzen Kater. „Ich bin kein Invasor vom Mars.“ Widerwillig machte die Katze vor der Ladentür Platz. „Nick Shaw! Schön dich wiederzusehen. Bist du allein?“ Ham Hodges sah das Motorrad. „Dein Vater hat wohl viel zu tun? Er war schon eine Ewigkeit nicht mehr hier.“ Er fragte nicht nach Margo, aber er kannte den Grund, weshalb Douglas Shaw, der früher jede freie Minute am See verbracht hatte, sich so gut wie überhaupt nicht mehr hier sehen ließ. „Ja. Vater ist ziemlich beschäftigt. Sag, Ham, ihr Könntet mir nicht etwas von Amys selbstgebackenem Brot überlassen?“ „Ich glaube schon.“ Hodges verschwand durch eine Tür, während Nick sich inzwischen selbst bediente. Er bemerkte, daß Rufus wieder an der Fliegengittertür saß und sichtlich angespannt zu lauschen schien. Interessiert trat Nick hinter ihn und schaute hinaus, aber er sah nichts, was des Katers Interesse so gefangenhalten könnte. Was natürlich nichts bedeutete. Katzen konnten Dinge sehen und hören, die einem Menschen verborgen blieben. Nick trat mit seinem Einkaufskorb an die Kasse. Ein aufgeschlagenes Taschenbuch lag dort, Unser verwunschener Planet, und darunter eines über ein ähnliches Thema von Saunderson, das er selbst auch schon gelesen hatte — auf Harns Empfehlung. Harn hatte eine Menge Titel dieser Art, angefangen mit einer Charles-Fort-Sammlung über unerklärliche Geschehnisse. Diese Bücher konnten einen schon nachdenklich machen. Und Harn hatte einen guten Grund, sich mit dergleichen zu beschäftigen: seines Vetters und der Commer-Abkürzung wegen. „Ich habe ein Vollkornbrot, einen Hefezopf und sechs Semmeln für dich“, sagte Harn, der soeben durch die Tür trat. „Amy meint, du solltest die Brötchen kurz ins Rohr stecken, sie sind von gestern.“ „Wenn sie sie selbst gebacken hat, schmecken sie sogar nach zwei Wochen noch gut. Ich bin froh, daß sie einen Tag vorm Backen noch soviel entbehren kann.“ „Eine Forschungsgruppe hatte sich angemeldet und wollte unser Blockhaus mieten, darum hat Amy mehr gebacken. Der Mann, der angerufen hat, sagte, ihr Institut wolle Material über die Abkürzung sammeln und Näheres über Teds und Bens Verschwinden erfahren...“ Unwillkürlich schluckte Harn. „Obwohl es schon so lange her ist, läuft es mir immer noch kalt über den Rücken, wenn ich daran denke. Wenigstens hat lange niemand mehr die Straße benutzt. Doch jetzt hat jemand Wilsons Ferienhaus für den Sommer gemietet, und seit der neue Highway nach Shockton gebaut wurde, ist die Abkürzung die einzige Möglichkeit, diese Seeseite zu erreichen. Also wird sie wieder benutzt:“ „Wie lange ist es eigentlich schon her, Ham?“ „Es passierte am 24. Juli 1955. Ihr wart ja damals auch da, nur warst du noch zu klein, als daß du dich daran erinnern könntest. Dein Vater hat sich dem Suchtrupp angeschlossen, und du kannst mir glauben, wir haben jeden Stein umgedreht. Ted kannte die Gegend wie seine Hosentasche, und Ben war auch kein grüner Junge mehr. Er hatte mit Ted in Korea gekämpft und wollte seinen Urlaub hier verbringen. Trotzdem sind die beiden spurlos verschwunden —
wie alle anderen zuvor auch: die Caldwells 1946, und vor ihnen Latimer und Johnson. Wegen dieser Forschungsgruppe habe ich noch einmal alles genau nachgelesen. Im Lauf der Zeit sind etwa dreißig Leute auf der Abkürzung verschwunden, in der Gegend jedenfalls, schon ehe es dort die Straße gab. Es ist wie im Bermuda-Dreieck, nur daß hier immer eine längere Zeit zwischen den Verschwinden vergeht und die Leute inzwischen kaum noch daran denken. Aber sie hätten die Straße nicht wieder öffnen dürfen. Jim Samuels hat versucht, es den Verantwortlichen auszureden, aber er sagt, er hatte das Gefühl, daß sie ihn für einen abergläubischen Hinterwäldler gehalten haben.“ „Aber wenn es doch der einzige Weg zum Wilson-Haus ist...“ „Das ist es ja eben. Die Behörden denken gar nicht daran, eine neue Straße zu genehmigen, die lediglich zu ein paar Ferienhäusern führt, wenn es bereits eine gibt.“ „Was, glaubst du, ist passiert, Ham?“ Harns Antwort wurde durch ein wildes Fauchen Rufus’ verhindert, dem ein heftiges Kläffen folgte. Ein Jeep hatte vor dem Eingang angehalten. Die Fahrerin, ein hübsches junges Mädchen, hielt einen aufgebrachten Pekinesen fest, und wandte sich lachend an Ham hinter der Fliegengittertür: „Bitte könnten Sie Ihre Katze kurz wegnehmen? Ich möchte etwas einkaufen, kann aber Lung Hsin nicht sich selbst überlassen.“ „Selbstverständlich.“ Ham klemmte sich Rufus unter den Arm und vermied die bereits kampfbereit ausgestreckten Krallen. „Tut mir leid Rufus, ich muß dich kurz ins Lager sperren.“ „Er ist ziemlich klein, sich mit einem Kater wie Rufus anlegen zu wollen“, wandte Nick sich an das Mädchen. Das Mädchen runzelte die Stirn. „Unterschätzen Sie Pekinesen nicht. Sie waren früher einmal als Drachen- und Löwenhunde bekannt und wurden als Palastwächter eingesetzt. Für ihre Größe sind sie die tapfersten Tiere überhaupt.“ Nun, da die Katze seinetwegen das Feld hatte räumen müssen, strich der Schoßhund seinem Frauchen dankbar mit der Zunge über eine Wange. „Was hätten Sie gern?“ erkundigte sich Ham, der inzwischen zurückgekehrt war. „Coca Cola...“ Sie klemmte Lung Hsin nun unter einen Arm, fischte mit der anderen Hand in ihrer Umhängetasche und brachte eine Einkaufsliste zum Vorschein. „Ja, richtig, zwei Kasten Cola, ein Kasten klare Limonade, ein Kasten Pepsi Cola, zwei Wassermelonen... Oh, ich bin Linda Durant und soll all das für Jane Ridgewell abholen, die das Wilson-Haus gemietet hat. Sie sagte, sie würde alles telefonisch bestellen.“ „Das hat sie und ich habe auch bereits alles hergerichtet. Ich lade es gleich ein.“ Nick half ihm, nicht ohne das Mädchen heimlich bewundernd zu betrachten. Sie war fast so groß wie er, hatte langes, mit einer roten Schleife zum Pferdeschwanz gebundenes Haar und kremfarbene, noch nicht sonnengebräunte Haut. Die Flaschenkisten waren im Jeep verstaut, nun packte Ham die Wassermelonen in feste Papierbeutel. „Passen Sie auf, daß sie nicht allzusehr durchgeschüttelt werden, sonst haben Sie bei der Ankunft nur noch Brei“, warnte er das Mädchen. „Das hört sich ja an, als hätte ich einen holprigen Weg vor mir“, sagte Linda. „Jane hat mir zwar in etwa erklärt, wie ich fahren muß, aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir den Weg auch noch weisen könnten.“ Da erst wurde Nick bewußt, daß sie die Abkürzung benutzen wollte. Er bemerkte Harns Sorgenblick. Doch natürlich war ihm auch klar, daß es zum Wilson-Haus nur diesen einen Weg gab. Bei dem Gedanken, daß das Mädchen ihn nehmen mußte, war ihm nicht wohl. Vielleicht sollte er sie lieber begleiten? Wenn er es recht bedachte, hätte er es über die Abkürzung sogar näher. „Hören Sie“, sagte er deshalb, gerade als Ham die Wassermelonen mit viel Zeitungspapier polsterte, „ich fahre ein Stück in Ihre Richtung, und den Rest des Weges kann ich Ihnen dann
zeigen, übrigens, ich bin Nicholas Shaw. Mr. Hodges kennt mich schon fast seit meiner Geburt. Meine Familie hat seit vielen Jahren ein Wochenendhaus am See.“ Linda musterte ihn und lächelte schließlich. „Ich nehme Ihr Angebot gern an.“ Sie setzte sich hinters Lenkrad und den Pekinesen auf den Beifahrersitz. Nick verstaute seine Einkäufe in den Gepäckträgertaschen und ließ den Motor aufheulen. „Paß gut auf“, mahnte Ham. „Ich habe so ein komisches Gefühl.“ Nick fragte sich, worauf er aufpassen sollte. Niemand, der je in der Gegend der Abkürzung verschwunden war, war zurückgekehrt. So hatte auch niemand erzählen können, welche Gefahren drohten. Die Abkürzung war lediglich einen knappen Kilometer lang, den würden sie schnell hinter sich haben. Er fragte sich, was Linda sagen würde, wenn sie seine Gedanken lesen könnte. „Hier müssen wir einbiegen“, rief er dem Mädchen im Jeep zu und fuhr auf die Abkürzung, die er eigentlich nur als überwuchert gekannt hatte. Seit seinem letzten Besuch hatte man sie jedoch freigelegt, so, wie es aussah mit einem Bulldozer. Er hatte ein ungutes Gefühl, als er das Motorrad darauf lenkte. Der Jeep folgte ihm dichtauf. Sie fuhren beide nur im Schrittempo, denn niemand hatte hinter dem Bulldozer aufgeräumt. Abgebrochene Äste lagen herum, dicke Wurzeln ragten aus dem Boden, und durch den Regen der letzten Tage waren tiefe Furchen eingefahren, die nun in der heißen Sonne getrocknet waren und das Fahren erschwerten. Es war unwahrscheinlich still hier, wenn man von den Motorengeräuschen absah, bis der Pekinese plötzlich erregt zu kläffen begann. „Lung!“ hörte er das Mädchen rufen. Er blickte über die Schulter zurück, da prallte- sein Motorrad gegen etwas. Vor sich sah er jedoch nur dichten Nebel. Nick schrie auf. Hinter sich hörte er einen Schrei und ein Krachen. Dann wurde ihm schwarz vor den Augen.
2. Nick lag mit den Füßen höher als dem Kopf, und seine ganze linke Gesichtsseite schmerzte. In der Nähe hörte er ein Winseln. Er stützte sich auf und schaute sich um. Sein Motorrad lag in dichtem Gebüsch. Da erinnerte er sich. Wo war der Jeep? Benommen kämpfte er sich auf die Füße. Er stand in weichem Moos und konnte die Straße nicht mehr sehen. Aber der Jeep war da, den Kühler von einem mächtigen Baum eingedrückt, der gar nicht hätte da sein dürfen. Das Winseln kam von dem Pekinesen, der seinem Frauchen verzweifelt den Arm ableckte. Linda, die angeschnallt hinter dem Lenkrad saß, war offenbar bewußtlos. Soweit Nick sehen konnte, hatte sie keine offenen Wunden. Er wollte gerade ihren Gurt öffnen, als sie die Augen aufschlug. „Wa-as ist passiert?“ Sie blickte sich entsetzt um. Überall ringsum standen riesige Bäume, und der Jeep war seltsamerweise zwischen zweien völlig eingeklemmt und unmöglich freizubekommen. Es war unglaublich! „Was ist passiert?“ fragte Linda erneut und drückte den zitternden Pekinesen an sich. „Ich habe keine Ahnung“, antwortete Nick. Was er vermutete, war so erschreckend, daß er lieber gar nicht daran denken wollte. „Aber — aber wir sind ja nicht mehr auf der Straße! Wo sind wir?“ Sie war der Panik nahe, und Nick konnte es ihr nicht verdenken. Ihm erging es kaum besser, aber sich jetzt gehen zu lassen, wäre das Verkehrteste. „Sie — Sie wissen es!“ Sie hatte ihre Stimme wieder einigermaßen unter Kontrolle und beobachtete ihn angespannt. „Ich habe nur eine Vermutung“, antwortete er zögernd. „Haben Sie schon etwas von der Geschichte der ‚Abkürzung’ gehört? So nennt man die Straße, die zum Wilson-Haus führt.“ „Nein“, antwortete Linda und streichelte beruhigend den leise wimmernden Hund. „Nun, die Abkürzung ist dafür bekannt, daß hier immer wieder Menschen verschwanden. Das letztemal passierte es 1955, als zwei Männer an den See zum Fischen wollten. Doch davor gab es viele ähnliche Fälle. Deshalb wurde die Abkürzung lange Zeit nicht mehr benutzt und erst wieder geöffnet, als der neue Highway fertig war und man die andere Straße, die hierherführte, schloß.“ „A-aber wohin sind die Leute denn verschwunden?“ fragte Linda mit zaghafter Stimme und blickte starr auf den Stamm vor dem Jeep. „Das weiß niemand. Es ist hier so ähnlich wie beim ‘Bermuda-Dreieck, von dem Sie doch bestimmt schon gehört haben...“ Sie nickte. „Was hat man für eine Theorie?“ Ihre Stimme zitterte. „Nach einer soll es dort ein magnetisches Feld geben, ähnlich einem gewaltigen Strudel, das alles, was sich in ihm verfängt, in ein anderes Raum-Zeit-Kontinuum zieht.“ „Das kann auch uns passiert sein? Wie kommen wir zurück?“ Sein Gesichtsausdruck schien ihr alles zu verraten. „Es gibt also keinen Rückweg! Wir sitzen in dieser Falle fest!“ „Nein!“ Nick schrie es fast. „Wir werden auf jeden Fall einen Ausweg suchen. Sehen wir zu, daß wir von hier wegkommen und den See erreichen...“ Er hatte das unheimliche Gefühl, daß sie beobachtet wurden, obwohl er niemand sehen konnte. „Aber den Jeep kriegen wir nicht frei“, gab das Mädchen zu bedenken. „Nein, doch das Motorrad. Sobald wir auf einen Weg kommen, können Sie sich auf den Gepäckträger setzen.“ „Ja, verschwinden wir von hier.“ Sie öffnete ihre Umhängetasche und holte Lungs Leine heraus, die sie an sein Halsband knipste. Dann holte sie eine kleine Reisetasche vom Rücksitz
und lachte, wenn auch ein wenig zittrig. „Das ganze Zeug für die Party heute abend. Jane wird sich wohl neues besorgen müssen.“ Nick wurde ein wenig leichter. Linda verlor wenigstens den Kopf nicht. Ob sie ihm wirklich glaubte? Glaubte er es denn selbst? Seine erste Panik hatte er jedenfalls überstanden, jetzt drängte es ihn danach, etwas zu tun. Wenn sie den See finden konnten... Am besten nur immer an die allernächste Zukunft denken, nicht weiter, mahnte er sich. Er überlegte, was er alles bei sich hatte: einen Erste-Hilfe-Kasten, einen Pullover, eine Badehose, Streichhölzer, einen Dolch, eine Taschenlampe, ein paar Tafeln Schokolade, eine Feldflasche mit Wasser, zwei Hemden, Motorradwerkzeug, ein Transistorradio — Radio! Hastig kramte er danach in einer Tasche am Gepäckträger. Linda trat zu ihm. Er zog das Radio heraus. „Vielleicht können wir einen Sender...“ Er schaltete es ein. Nichts als statische Geräusche. Er drehte weiter am Knopf, bis seltsame Laute zu hören waren, eine Sprache vielleicht, aber keine, die sie kannten. Angespannt lauschten beide, aber was sie hörten, sagte ihnen absolut nichts. „Was immer das auch ist“, murmelte Nick düster, „es ist keine unserer Rundfunkstationen.“ „Aber jemand hat gesendet“, gab Linda zu bedenken. „Das kann nur bedeuten, daß wir hier nicht allein sind. Vielleicht stoßen wir auf Menschen, die uns helfen können.“ Das Motorrad war unbeschädigt, aber aufsitzen konnten sie nicht, dazu standen die Bäume zu dicht. Glücklicherweise hatte Nick auch seinen Kompaß bei sich. Nach ihm richtete er sich, um zum See zu kommen. Obgleich die Bäume ehrfurcht-, ja furchterregend waren, wirkten sie doch nicht fremdartig, und auch die Geräusche der Waldbewohner waren vertraut, und Vögel ließen sich nicht nur sehen, sondern beobachteten sie neugierig und ohne jegliche Scheu. Offenbar hatten sie noch keine schlechte Erfahrung mit Menschen gemacht. Möglicherweise waren sie die ersten, die sie sahen. „Nick!“ hauchte Linda und umklammerte seinen Arm. Lung zerrte an seiner Leine und bellte heftig. Auch Nick hatte es inzwischen gesehen. „Ich — ich glaube es nicht...“, murmelte Linda. Unter einem Baum vor ihnen stand ein - Einhorn! Es war so groß wie ein Pony, von schimmerndem Weiß, und das spiralenförmige Horn zwischen den großen dunklen Augen war golden und glühte! Es starrte sie an, warf den Kopf zurück, schnaubte in Antwort auf Lungs Kläffen und trabte zwischen den Bäumen davon. „Aber — aber Einhörner sind doch Fabeltiere!“ wisperte Linda. Nick fiel plötzlich ein, was er einmal gelesen hatte. All die alten Sagen und Märchen von Drachen und Greifen und Zwergen hatten die Menschen einmal für wahr gehalten. Vor Gericht hatten sie geschworen, das eine oder andere Fabelwesen selbst gesehen oder sogar damit gesprochen zu haben. Konnte es vielleicht sein, daß diese auf die gleiche Weise in ihre Welt versetzt worden waren, wie er und Linda jetzt in diese? „Wir müssen aus diesem Wald heraus!“ drängte er, denn das unheimliche Gefühl beobachtet zu werden, wurde immer stärker. Der Kompaß führte sie schließlich auf eine Wiese mit hohem Gras, hinter der sich Schilf erhob, und dahinter wiederum schimmerte Wasser: der See — oder vielmehr, ein See. Am Ufer waren keine Ferienhäuser zu sehen — damit hatte Nick inzwischen auch längst nicht mehr gerechnet — und auch kein Zeichen, daß je Menschen hier gewesen waren. In der Ferne, im Süden, weideten Tiere. Ihr Fell war so hell, daß Nick sich fragte, ob es sich vielleicht gar um eine Herde von Einhörnern handelte. Doch da hob ein Tier den Kopf und zeigte sein kapitales Geweih. Eine Hirschart mit silbergrauem Fell! „Es gibt keine Häuser hier“, murmelte Linda. „Nick, was sollen wir jetzt tun?“ Er zuckte die Schultern. Er war schließlich kein Supermann, der sie aus diesem Schlamassel bringen konnte. „Ich weiß nur, daß ich Hunger habe.“ „Hunger!“ rief Linda. Dann lachte sie fast verlegen. „Ich bin auch hungrig.“
Das weidende Wild achtete nicht auf sie. Und hier im Freien konnte sich nichts unbemerkt anschleichen. Linda deutete auf ein Fleckchen, wo das Gras etwas niedriger war. „Dort ist ein guter Platz.“ Aber Nick dachte jetzt nicht mehr daran, wie hungrig er war, sondern an den dürftigen Proviant, den er bei sich hatte. Wenn der erst alle war, würden sie vom Land hier leben müssen. Und er wußte nicht, welche Beeren — falls es hier überhaupt welche gab — und Wildpflanzen genießbar waren. Für dergleichen hatte er sich eigentlich nie interessiert. Er kauerte sich auf die Fersen und wandte sich an Linda, die mit überkreuzten Beinen im Gras saß. „Hören Sie — ich habe nicht sehr viel zu essen dabei. Haben Sie etwas?“ „Sie meinen...“ Aus ihrem Gesichtsausdruck schloß er, daß sie verstanden hatte. „Glauben Sie, wir werden hier nichts Eßbares finden?“ „Wahrscheinlich gibt es Fische im See, und Brombeeren im Wald — zumindest gab es die in der Nähe unseres Hauses. Aber das hier ist nicht unser See. Wir sollten mit unseren Vorräten sparsam umgehen, bis wir uns besser auskennen.“ Linda öffnete ihre Reisetasche. „Ich habe nur kandierte Erdnüsse dabei, die Jane so gern ißt, und englische Toffees für Ron. Und dann sind da natürlich noch die Wassermelonen im Jeep und die Flaschen. Nick, wo wollen wir überhaupt hin? Hier ist ja fast nur Wald, auch auf der anderen Seeseite.“ „Ich weiß nicht“, antwortete er ehrlich. „Jedenfalls bin ich lieber hier im Freien als unter den Bäumen. Wir können zum Seeende gehen, dort ist ein Abfluß, der Kanal, wie wir ihn nennen. Das heißt, wenn dieser See wie unserer ist. Wenn wir uns an ihn halten, gelangen wir vielleicht aus dem Waldgebiet.“ „Und ist dieser See dem Ihren ähnlich, Nick?“ Er schirmte die Augen vor der Sonne ab. Sie brannte heiß, aber nicht so heiß wie in ihrer Welt, hatte er das Gefühl. Er studierte die Seeumrisse und fand keinen bemerkenswerten Unterschied von denen, die er seit seiner Kindheit kannte, das sagte er auch. „Glauben Sie, daß wir vielleicht in die Vergangenheit versetzt wurden? Daß wir uns in einem Gebiet befinden, lange ehe unsere Vorfahren hier einwanderten? Daß — daß wir möglicherweise auf Indianer stoßen werden?“ fragte Linda. „Das würde das Einhorn nicht erklären, genausowenig wie das hellgraue Wild. Wir könnten in einer alternativen Welt sein.“ Er öffnete den Beutel mit Lebensmittel, die er in Harns Supermarkt erstanden hatte. Erstaunlicherweise zitterten seine Finger nicht, als er über seine eigenen Worte nachdachte. Alternative Welten, Zeitreisen — so etwas gab es doch gar nicht! Vielleicht hatte er sich schwerer verletzt, als er dachte, und lag jetzt in einem Krankenhaus in Fieberwahn... „Alternative Welt?“ Linda schüttelte den Kopf. Nick!“ schrie sie schrill. „Nick, so sehen Sie doch! Ist das dort drüben nicht Rauch?“ Sein Blick folgte ihrem deutenden Finger. Jenseits der Wiese, in der das silbergraue Wild äste, stieg eine Rauchsäule auf. Und Rauch konnte nur eines bedeuten: Menschen! Ted und Ben, vielleicht, die seit siebzehn Jahren hier waren! Hastig packten sie das Eßzeug wieder ein und klemmten den Beutel auf den Gepäckhalter. Er wünschte sich, sie könnten mit dem Motorrad fahren, aber es wäre Wahnsinn, es zu versuchen. Sie machten einen Bogen um die weidende Herde, es war ja möglich, daß die Tiere gefährlich waren. Der Rauch schien von dort aufzusteigen, wo in ihrer Welt der Seeabfluß war, und tatsächlich gab es auch hier den „Kanal“. Seine Freude darüber, daß zumindest das stimmte, schwand jedoch, als sie eine Stimme hörten: „Stehenbleiben! Sofort!“
3. Wieder fing Lung wild zu kläffen an, mit dem Kopf auf einen Busch gerichtet. Nick blieb sofort stehen und hielt Linda zurück, die noch zwei Schritte weiter machte, als habe der Pekinese sie heftig gezogen. Mit der anderen Hand hielt er das Motorrad fest. „Wer sind Sie?“ wandte er sich an den Busch und war stolz, daß seine Stimme so fest klang. War es Ted oder Ben oder einer, den es noch früher hierher verschlagen hatte? Der Busch teilte sich, und ein ganz gewöhnlich aussehender Mann trat heraus. Er war etwas kleiner als Nick, dafür stämmiger. Das Merkwürdige an ihm war lediglich der Helm, der wie eine umgedrehte Schüssel aussah. Er trug ihn zu einem abgetragenen Monteuranzug. Sein Gesicht war rund und ein buschiger Schnurrbart hing über die Lippen. In der Hand hielt er eine — Steinschleuder! Der Fremde musterte sie eingehend und bedachte Lung mit einem so einschüchternden Blick, daß der Pekinese zu kläffen aufhörte. „Ich bin Sam Stroud“, antwortete der Mann jetzt. „Luftschutzwart von Harkaway Place, wenn Ihnen das was sagt, was ich bezweifle. Sind Sie nur zu zweit?“ Er betrachtete sie, als wären sie lediglich die Vorhut einer ganzen Kompanie. Linda konnte nicht mehr länger an sich halten: „Nick, er sieht so aus wie ein Luftschutzwart auf den Bildern vom Luftkrieg in England in unseren Schulgeschichtsbüchern.“ Ein Engländer, das erklärte seinen Akzent. Aber wie war ein Engländer in der Kleidung eines Luftschutzwarts des zweiten Weltkriegs — der immerhin dreißig Jahre zurücklag — hierhergekommen? Automatisch antwortete Nick jedoch sofort: „Ja, wir sind nur zu zweit. Das ist Linda Durant, und ich bin Nick Shaw. Wir — wir sind Amerikaner.“ Stroud hob eine fleischige Hand und rieb das Kinn. „Amerikaner? Und direkt in eurem eigenen Land geschnappt?“ „Wir waren unterwegs zum See — einem wie der da — und plötzlich waren wir hier. Wo ist hier?“ „Das ist eine Frage, die offenbar niemand so recht beantworten kann. Der Vikar hat zwar seine Vorstellungen, aber beweisen konnten wir sie nicht. Wann seid ihr denn durchgekommen?“ „Vor ein paar Stunden“, antwortete jetzt Linda. „Ist das dort Ihr Feuer? Wir haben den Rauch gesehen, als wir gerade essen wollten...“ „Habt ihr was dabei?“ Stroud steckte die Steinschleuder unter den Gürtel. „Kommt mit.“ Er pfiff leise durch die Finger. „Ihr seid offenbar keine Lockvögel.“ „Lockvögel?“ Das gefiel Nick gar nicht. „Richtig, mein Junge. Ihr werdet noch mehr darüber erfahren.“ Er ging voraus und nutzte jede Deckung. Das verstand Nick nicht. Wenn es so wichtig war, ungesehen zu bleiben, weshalb dann dieser Rauch, der wie eine Fahne in der Luft hing? Erst einen Augenblick später wurde ihm klar, daß sie gar nicht darauf zugingen, sondern viel weiter nach links. Nick hatte Schwierigkeiten mit dem Motorrad, das sich immer wieder zwischen den Büschen verfing. Zweimal mußte er anhalten, um es freizubekommen, während Stroud und Linda vorausgingen und er nur ihren Spuren folgen konnte, die sich immer weiter von der Feuerstelle entfernten und sich dann in einem Bogen wieder dem Kanal zuwandten. Schließlich gelangte er auf eine Lichtung, die von Büschen wie eine Mauer umgeben zu sein schien. Dort stieß er endlich wieder auf Linda und Stroud, aber auch auf drei andere: zwei Männer und eine Frau. Einer war schon älter mit einem weißen Haarkranz, einer Hakennase und festem Kinn, er war groß und hager. Seine Augen waren klug und interessiert und versuchten nicht andere zu dominieren, wie sein Gesichtsschnitt vermuten ließ, sondern ließen sie gelten, wie sie waren. Er trug einen abgewetzten dunkelgrauen Anzug und einen Pullover,
aus dem der weiße Stehkragen eines Geistlichen ragte. Seine Füße steckten in Mokassins, die absolut nicht zu seiner restlichen Aufmachung paßten. Der jüngere Mann war etwa drei bis fünf Zentimeter größer als Nick. Eine Pilotenmütze hatte er über dem blonden Haar weit nach hinten geschoben, und seine blaue Uniform war stellenweise zerschlissen. Die Frau war fast so groß wie der Pilot. Auch sie trug eine Uniform mit Schulterstücken, die Nick nicht kannte. Ein Helm, ähnlich dem des Luftschutzwarts, krönte zerzaustes dunkles Haar. Sie war fast so hager wie der Geistliche, und ihr braungebranntes Gesicht hätte keinen Schönheitswettbewerb gewonnen, aber sie wirkte sehr selbstbewußt und tüchtig. „Amerikaner“, bemerkte sie. Sie wandte sich an den Geistlichen. „Dann hattest du völlig recht in deiner Annahme, daß wir im Käfig weiter geschleppt wurden, als wir dachten.“ Der blonde Pilot hielt ebenfalls eine Steinschleuder in der Hand. „Sehen wir zu, daß wir fortkommen. Sinnlos, die Falle weiter zu beobachten...“ „Barry hat recht.“ Der Priester nickte. „Wir haben vielleicht nicht den gewünschten Erfolg erzielt, aber unsere jungen Freunde haben dadurch hierhergefunden.“ „Wir sollten uns bekanntmachen“, sagte die Frau. „Das ist Adrian Hadlett, Vikar von Minton Parva.“ Der Geistliche verneigte sich knapp. „Flugkapitän Barry Crocker, und ich bin Diana Ramsay...“ „Lady Diana Ramsay“, knurrte Stroud. Sie winkte ungeduldig mit einer Hand ab. In der anderen hielt auch sie eine Steinschleuder, wie Nick sah. „Zwei von uns sind im Lager geblieben, Sie werden sie dort kennenlernen. Gehen wir.“ Sie gelangten ans Ufer des Kanals, und unweit davon war das Lager. Baumstämme waren hierhergerollt worden und bildeten mit Steinen verstärkt ein Mittelding zwischen Hütte und Höhle. Lung, bellte erneut, als eine graue Katze, die sich am Eingang gesonnt hatte, mit zurückgelegten Ohren aufstand und den Pekinesen mit einem Fauchen, das zum Knurren wurde, warnte, ja nicht näher zu kommen. „Aber Jeremiah, das ist doch keine freundliche Begrüßung!“ Eine kleine Frau trat heraus, hob die Katze hoch und streichelte sie mit arthritischen Händen. Ihr Haar, so weiß wie des Vikars, war zu einem Knoten gesteckt, und auf der winzigen Nase des runden Gesichts saß eine Brille mit Metallgestell. Sie betrachtete die Neuankömmlinge freundlich und hieß sie willkommen. Ihr Kleid war durch eine Schürze aus Sackstoff teilweise geschützt, über ihren Schultern hing wie ein Umhang ein alter Mantel. Sie trug ähnliche einfache Mokassins wie der Geistliche. „Jean“, rief sie über die Schulter. „Komm, wir haben Besuch.“ Das Mädchen, das darauf herausgelaufen kam, war nur wenig älter als Linda. Ein Stück Stoff über ihrer blauen Uniform diente als Schürze. Welliges braunes Haar rahmte ein hübsches sonnengebräuntes Gesicht ein. „Amerikaner“, erklärte Lady Diana. „Linda Durant und Nicholas Shaw. Und das ist Mrs. Maude Clapp und Jean Richards, eine Marinehelferin.“ „Ich hab’ doch gewußt, daß mein Traum wahr würde und wir Besuch bekommen!“ freute Mrs. Clapp sich offen. „Wir haben Fische, die wir bloß noch braten müssen. Jeremiah tut Ihrem kleinen Hund nichts, Miß, wenn der ihm nichts tut. Jeremiah ist kein Raufbold.“ Linda, die den Pekinesen auf den Arm genommen hatte, damit er sich beruhigte, hielt ihn nun so, daß ihre Augen einander gegenüber waren. „Lung, Freund, Freund!“ Dann drehte sie ihn um, daß er die Katze sehen konnte, die Mrs. Clapp wieder abgesetzt hatte. „Freund, Lung!“ Der Pekinese fuhr sich mit der Zunge über die eigene Nase, und als Linda ihn ebenfalls absetzte, blieb er brav an ihrer Seite und benahm sich nicht mehr wie zuvor, als wäre die Katze ein Feind. Nick übergab Mrs. Clapp den Beutel mit seinen Vorräten. Sie öffnete und atmete genießerisch ein. „Brot! Frisches Brot!“ Nick hatte das Motorrad abgestellt, jetzt stand er ein wenig abseits und musterte die anderen.
Crocker, schätzte er, war Anfang zwanzig, Jean sogar noch jünger. Sie konnten einfach nicht so alt sein, wie Strouds Aufmachung schließen ließ. Aber... „Was beschäftigt Sie, junger Mann?“ fragte der Vikar. Ohne zu überlegen, fragte Nick: „Wie lange sind Sie schon hier, Sir?“ Der Geistliche lächelte müde. „Das läßt sich höchstens in etwa nach den Jahreszeiten ausrechnen.“ Er zuckte die Schultern. „Ich würde sagen, ungefähr vier Jahre. Der Luftangriff war am 24. Juli 1942. Das wird wohl keiner von uns vergessen. Wir hatten in der Krypta Schutz gesucht. Mrs. Clapp war meine Haushälterin. Lady Diana war gerade wegen der Krankenhausspende bei mir. Jean und Barry befanden sich auf dem Weg zum Bahnhof, ihr Urlaub war zu Ende. Und Stroud war vorbeigekommen, um die Notration zu überprüfen. Als Fliegeralarm gegeben wurde, gingen wir alle in die Krypta. Dann war ein Krachen — ehrlich, Shaw, wir glaubten alle, es sei das Ende. Und plötzlich waren wir nicht mehr in der Krypta, ja nicht mehr in dem England, das wir kannten...“ Er zögerte. Seine müden, doch scharfen Augen hatten Nicks Gesicht beobachtet. Jetzt änderte sich die Miene des Vikars. „Sie wissen etwas, Junge, nicht wahr? Etwas, das Ihnen zu schaffen macht. Was ist es?“ „Die Zeit, Sir. Sie sagten, Sie vermuten, daß Sie etwa vier Jahre hier sind. Aber heute haben wir den 21. Juli 1972.“ Er erwartete, daß der Vikar ihm nicht glauben würde. „Der 21. Juli 1972“, echote Hadlett. „Nein, mein Junge, ich zweifle nicht an Ihren Worten, wie Sie offensichtlich erwarten. Es beweist nur die Wahrheit der alten Geschichten. Aber gleich dreißig Jahre! Was ist auf unserer Welt vor dreißig Jahren passiert?“ „19721“ murmelte der Pilot ungläubig. „Wir haben höchstens 1946!“ „Dann ist es ja genau wie in diesen alten Sagen, Adrian!“ flüsterte Lady Diana. „Fünfundachtzig! Aber ich bin doch nicht älter als...“ „Auch das erklären die gleichen Sagen“, erinnerte der Vikar sie. „Nein!“ protestierte Crocker. „Der Junge ist vielleicht einer von ihnen! Wie wollen wir wissen...“ Er wich von Nick zurück und hatte bereits die Steinschleuder in der Hand. Stroud legte beruhigend die Hand auf Crockers Schulter. „Aber Barry! Riechen die beiden vielleicht wie der Herold? Und seit wann benutzen die fliegenden Teufel Köder? Sie brausen ganz einfach herbei und holen sich, was sie wollen.“ Er wandte sich an Nick und Linda. „Also, ihr sagt, draußen ist es 1972. Was ist aus dem Krieg geworden?“ „Den haben wir, die Alliierten, 1945 gewonnen. Wir sind in Deutschland einmarschiert — wir von einer, die Russen von der anderen Seite. Hitler hat Selbstmord begangen, ehe sie ihn erwischen konnten.“ „Und jetzt, wie sieht es jetzt aus?“ Nick gab ihnen einen Überblick über die politische Lage, soweit er sie kannte. Linda unterbrach die einsetzende Stille, die seinen Ausführungen folgte. „Wenn Sie von England kamen und wir von Ohio... Wie haben Sie da den Atlantik überquert? Oder ist das jetzt alles eine Landmasse?“ Der Vikar schüttelte den Kopf. „Nein, im großen ganzen scheint sich an den Umrissen nichts geändert zu haben, geographisch ist diese Welt wie unsere. Dieser Kontinent und England sind in etwa so, wie sie bei uns gewesen sein müssen, ehe das Land von den Menschen kultiviert wurde. Wir wurden von England als Gefangene hierhergebracht. Nur durch die Güte Gottes konnten wir entkommen. Seither versuchen wir zurückzukehren. Ich fürchte nur, daß es auf dieser Welt keine Schiffe gibt. Doch unsere Geschichte ist sehr lang und kompliziert. Ich schlage vor, wir erzählen sie nach und nach und fangen damit vielleicht beim Essen an. Mrs. Clapp bereitet gerade gebratenen Fisch vor, der, wie alles was sie kocht, köstlich ist.“ Das Brot, das Nick mitgebracht hatte, machte das Essen offenbar zum Festmahl. Hadlett kaute genußvoll an einem Brötchen. „Erst wenn man sie nicht mehr hat, weiß man, wie sehr man die kleinen Dinge des Lebens schätzt“, sagte er philosophisch. „Brot haben wir sehr vermißt. Uns fehlt das Mehl, um selbst welches zu backen. Mrs. Clapp hat sich zwar viel Mühe
gemacht und es mit zerstampften Nüssen und Samenkörner von haferähnlichem wildem Gras versucht, aber es wurde nichts Rechtes daraus.“ „Sie sagten, Sie wurden als Gefangene hierhergebracht.“ Nick wollte wissen, welche Gefahren ihnen hier drohten. „Ja. Es ist gut, wenn Sie Bescheid wissen.“ Der Vikar wischte sich den Mund ab. „Das hier ist eine sehr seltsame Welt mit vielen Geheimnissen, die wir trotz aller Anstrengungen kaum oberflächlich lüften konnten. Irgendwann in ihrer Vergangenheit entstand offenbar eine Kraft, die an bestimmten Orten in unsere Welt greifen und Menschen herüberholen konnte. Vielleicht wissen Sie, daß es auf unserer Welt viele Geschichten über das mysteriöse Verschwinden von Menschen gibt.“ Nick nickte. „Ja, immer mehr davon werden gesammelt und veröffentlicht. Wir kommen von einem Ort, der für solche Fälle bekannt ist.“ „Aha. Und unsere Kirche in Minton Parva war nahe einem Elfenhügel erbaut. In Amerika weiß man davon vielleicht nichts, aber bei uns in England gibt es viele Sagen und Märchen über Menschen, die in der Nähe solcher Elfenhügel verschwanden. Manche kehrten nach Jahren, ja erst Generationen zurück und glaubten nur Tage, Monate oder ein Jahr in einer anderen Welt gewesen zu sein.“ „Dann können wir ja zurück!“ rief Linda glücklich. „Das wissen wir nicht“, antwortete der Vikar ernst. „Alle unsere Versuche sind bisher gescheitert.“ Linda drückte Lung so fest an sich, daß er kurz winselte. Sie stand auf und ging mit immer schnelleren Schritten davon. Nick sprang auf, um sie zurückzuholen. „Nein!“ Sie drehte sich nicht um, aber es war, als wüßte sie, daß er ihr folgen wollte. „Ich muß eine Weile allein sein!“ „Jean, paß auf, daß sie nicht in Gefahr gerät, aber laß sie ihn Ruhe. Wir müssen uns alle erst an die Wahrheit gewöhnen“, sagte der Vikar. „Nicht in Gefahr gerät?“ echote Nick. „Welche Gefahren gibt es hier? Wollen Sie uns nicht einweihen?“ Stroud, der bisher gleichmütig gegessen hatte, lehnte sich an einen Stamm ihrer Unterkunft zurück. „Wie ihr bereits geahnt haben müßt, sind wir hier nicht allein. Und soviel wir bisher herausfinden konnten, gibt es hier dreierlei Arten von Menschen — oder Wesen — oder wie immer man sie nennen will. Einige wie wir, die gefangen wurden. Wir bemühten uns, Kontakt mit einigen kleinen Gruppen wie unserer aufzunehmen, aber sie verstanden uns nicht. Die letzte bestand aus Uniformierten, und sie schössen auf uns. Dem Aussehen nach könnten es Chinesen gewesen sein. Dann gibt es den Herold und die, die auf ihn hören und sich verändern...“ Er sprach das letzte Wort, als wäre es obszön. „Der Herold stammt vielleicht von dieser Welt. Er hat Städte und Menschen. Er will auch uns. Sobald er von euch zweien erfährt, wird er zum Spionieren kommen. Wir wissen nur, wenn man sein Angebot annimmt, verändert man sich, danach ist man kein Mann oder keine Frau mehr, sondern etwas anderes. Davon wollen wir nichts wissen, und ihr sicher auch nicht, wenn ihr vernünftig seid. Drittens sind da die fliegenden Jäger. Sie sind genauso wenig von dieser Welt wie wir. Aber in ihren Fliegern können sie hinein und hinaus. Sie tauchen urplötzlich aus dem Nichts auf, und schon steckt man in ihrem Netz. Ich weiß nicht, was sie mit den armen Teufeln tun, abgesehen davon, daß sie sie in Käfige sperren wie uns. Wir hatten Glück. Der Flieger, der uns gefangen hatte, machte hier eine Bruchlandung, und wir konnten entkommen, weil die Besatzung die Landung nicht überstanden hatte. Da sind wir dahintergekommen, daß wir nicht mehr in England waren.“ „Aber Ihr Rauch — Sie haben von Lockvögeln gesprochen. Was — oder wen — wollten Sie denn einfangen?“ „Bestimmt weder die Flieger noch den Herold“, brummte Stroud. „Nein, wir sind gestern auf
Spuren von Frauen und Kindern gestoßen. Wir dachten, es sei vielleicht eine neue Gruppe, mit der wir uns verständigen könnten, ohne daß man gleich auf uns schießt. Aber natürlich kann es sich um Traumwesen gehandelt haben. Jedenfalls konnte ein Rauchsignal nicht schaden.“ „Sie stellen Fallen auf“, kommentierte Crocker. „Wir wollten es auch mit einer probieren, aber nicht für sie.“ „Sie meinen die Jäger?“ fragte Nick verwirrt. Nach Strouds Worten über die Flieger erschien es ihm merkwürdig, daß diese Leute eine solche Bedrohung anlocken wollten. „Nein, entweder die anderen Wanderer oder die Veränderten — falls sie verändert wurden und nicht vielleicht doch so geboren sind.“ ‘ „Wir haben ein Einhorn gesehen“, sagte Nick. „Gehörte das zu denen, die Sie. Veränderte’ nennen?“ „Nein“, antwortete der Vikar. „Es gibt hier offenbar viele seltsame Tiere oder Wesen, die uns wie eine Kreuzung verschiedener Spezies vorkommen. Doch sie bedrohen uns nicht, und wir glauben, daß sie von hier stammen. Vielleicht verirrten sie sich hin und wieder einmal in unsere Welt, und so kam es zu Fabeln über sie. Einem Drachen sind wir bisher noch nicht begegnet, doch würde ich es nicht von der Hand weisen, daß es hier welche gibt. Die Veränderten ähneln Menschen, jedenfalls zum größten Teil. Kleinere Dinge — ganz sicher ihre ‘Kräfte’, das ist wohl das beste Wort für ihre Fähigkeiten — verraten sie. Das Volk der Hügel ist sehr alt!“ „Wir halten uns in Waldnähe auf“, warf nun Stroud ein, „weil die Flieger dort nicht an uns herankommen können. Allzu viele von ihnen haben wir noch nicht gesehen. In Wellen tauchen sie auf. Ein paar Tage ist der Himmel voll von ihnen — dann sind sie wieder verschwunden. Solange wir uns von den Städten fernhalten, ist es nicht schlimm. Die Flieger haben offenbar etwas gegen die Städte, sie versuchen sie zu bombardieren.“ „Nicht bombardieren, Stroud!“ mischte sich Crocker ein. „Das habe ich doch schon gesagt. Tatsächlich weiß ich nicht, was sie tun, aber eine Art Luftangriff muß es wohl sein, so wie sie herüberkommen. Aber was immer sie auch zu tun versuchen, Schaden scheinen sie keinen anzurichten — soviel wir erkennen können. Die Städte sind sicher.“ „Für die, die sich verändern lassen wollen“, sagte nun Mrs. Clapp. „Zu ihnen gehören wir aber nicht!“ Nicks Gedanken überschlugen sich. Das Leben hier war offenbar kompliziert und gefährlich. Die kleine Gruppe hier hatte jedoch bewiesen, daß man überleben konnte, wenn man sich nicht unterkriegen ließ. Er und Linda hatten Glück gehabt, auf sie zu stoßen. Das sagte er auch zu den anderen. Der Vikar lächelte. „Sie selbst haben zu ihren Überlebenschancen beigetragen. Sie haben die Situation akzeptiert und nicht den Verstand verloren, was leicht hätte passieren können. Wir haben selbst erlebt, wie ein Mann durchdrehte, weil er die Tatsache seiner Versetzung hierher nicht verkraften konnte.“ Nick sah Linda und Jean am Ufer des Kanals zurückkehren. Linda schien sich wieder gefaßt zu haben. Aber hatte er selbst die Situation tatsächlich akzeptiert, oder würde die Erkenntnis, daß das Ganze kein böser Traum war, ihn noch hart treffen?
4. Nick hörte den gleichmäßigen Atem der Schlafenden um ihn und das stete Pochen des Regens, der bei Sonnenuntergang eingesetzt hatte. Doch da war noch etwas anderes: eine Weise, gesungen oder gespielt, die ihm unter die Haut ging, eine süße, lockende Melodie. Er mußte ihr folgen... Er setzte sich, und sein Atem kam keuchend, als wäre er gelaufen. Jemand richtete sich hinter ihm in der Unterkunft auf. „Loreley...“, flüsterte Hadlett. „Loreley“, echote Nick und schluckte. Nein, er würde der Verlockung dieser Stimme nicht folgen, durfte es nicht! „Der Regen scheint diese Weise zu verursachen — oder die Nähe des Wassers. Wissen Sie, ein Teil der hier lebenden Wesen sind uns wohlgesinnt, anderen sind wir gleichgültig, einige sind lediglich auf verspielte Weise boshaft, aber es gibt auch welche, die von Grund auf böse sind. Da wir nicht von vornherein wissen, wer was ist, müssen wir ständig auf der Hut sein. Wir wissen, was diese Loreley bewirkt: sie nährt sich von jenen, die sie anlockt — nicht von ihrem Fleisch und Blut, sondern von ihrer Lebenskraft. Wenn sie mit einem Menschen fertig ist, bleibt nur noch seine leere Hülle zurück. Doch ist ihr Zauber so groß, daß selbst solche, die die Folgen kennen, ihm erliegen.“ „Das kann ich verstehen“, murmelte Nick. Er spürte, wie die Melodie an ihm zerrte. Er steckte einen Finger in die Ohren und atmete erleichtert auf, als er sie nicht mehr vernahm. Erst nach einer langen Weile zog er versuchshalber einen heraus. Nur noch das Plätschern von Wasser war zu hören. Erleichtert streckte er sich wieder auf seinem Heulager aus und schlief sofort ein. Er träumte, und seine Träume schienen ihm von großer Bedeutung zu sein, doch als er aufwachte, konnte er sich nicht mehr an sie erinnern. In den nächsten beiden Tagen verriet nichts, daß noch andere intelligente Wesen in der Gegend hausten. Sie ernährten sich von Fischen und Beeren. Außerdem gab es verschiedene Grassorten mit getreideähnlichen Ähren, die sie zur späteren Verwendung ernteten. Nick erfuhr, daß dieser Unterschlupf am Fluß nicht die ständige Unterkunft der Gruppe war, sondern eine Höhle weiter nördlich, die sie als ihr Hauptquartier erachteten und von dem aus sie eine Reihe von Forschungsausflügen unternahmen, wie jetzt. Mit Hilfe seines Kompasses gelang es Nick, Stroud und Crocker zum Jeep zu führen. „Praktischer Wagen“, kommentierte der ehemalige Luftschutzwart. „Schade, daß wir ihn nicht freibekommen können.“ Nick hatte sofort nach den Einkäufen gesehen, aber irgend jemand war vor ihnen hier gewesen und hatte lediglich ein paar zerbrochene Colaflaschen zurückgelassen. „Schade“, bedauerte Stroud. „Was meinst du, Barry, wer hat sich das Zeug geholt?“ Der Pilot hatte die Abdrücke um den Jeep untersucht. „Stiefel — alle Sohlen mit dem gleichen Profil. Armeestiefel vermutlich. Die Chinesen, möglicherweise. Nach ihnen war noch ein Schleicher hier — sein Pfotenabdruck hat eine Stiefelspur fast ausgelöscht. Das bedeutet, daß die Chinesen vor Einbruch der Nacht dagewesen sein müssen, denn die Schleicher sind Nachttiere. Gibt’s hier noch irgendwas Brauchbares?“ Stroud durchsuchte den Jeep. „Werkzeug“, antwortete er. Er hatte den Beutel unter dem Vordersitz entdeckt. „Mehr nicht, fürchte ich.“ Plötzlich warf er sich flach über den Vordersitz, und Crocker sich auf den Boden. Nick starrte sie verständnislos an. Da sah er auf der anderen Jeepseite einen Speer, der sich in den Waldboden gebohrt hatte. Hastig duckte er sich hinter das Fahrzeug und hielt den Atem an. Nichts war zu hören. Die Stille war absolut. Kein Vogel zwitscherte, nicht einmal die Blätter über ihnen raschelten.
Wer war der Angreifer? Wo war er? Nick spürte kalten Schweiß auf seinem Rücken. Warum unternahmen die beiden anderen nichts? Sie rührten sich überhaupt nicht, und er wagte es genausowenig, ja er traute sich nicht einmal, die schwitzenden Hände an der Hose abzuwischen. Was dann die Stille brach, war das letzte, was er erwartet hätte: ein Lachen! Ein Lachen und dann eine Stimme, die etwas in einer ihm völlig fremden Sprache rief. Forderte sie sie auf, sich zu ergeben, oder malte sie ihnen aus, was mit ihnen geschehen würde? Nick fiel auf, daß seine Begleiter sie einfach ignorierten. Er konnte nur hoffen, daß sie wußten, was sie taten. Jedenfalls hielt er es für das beste, ihrem Beispiel zu folgen. Wieder erschallte das Lachen, doch nun schien ihm, daß es nicht drohend klang, sondern eher wie der Ausdruck von Freude über einen erfolgreichen Schabernack. Und plötzlich rief die gleiche Stimme in ihrer Sprache: „Heraus aus euren Verstecken, ihr Furchtsamen! Habt ihr geglaubt, die Finsterlinge seien hinter euch her? Begrüßt ihr uns so, ihr, die ihr durch unser Land streift, ohne uns vorher um Erlaubnis gebeten zu haben. Habt ihr denn überhaupt keine Manieren?“ Stroud kletterte aus dem Jeep, und auch Crocker stand auf, also tat Nick es ebenfalls. „Wir warten“, rief Stroud. „Nein, keine Manieren“, stellte der Unsichtbare fest. „Ihr wartet also. Was ist, wenn wir eine Wartemauer um euch bauen oder einen Käfig um euch spinnen?“ Die Stimme klang nun schärfer. Nick spähte in die Richtung, aus der sie kam, sah jedoch nur Bäume, keine Bewegung. Stroud zuckte die Schultern. „Ich weiß nicht, wer du bist oder was du bist. Du hast uns angegriffen...“ Er bemühte sich ruhig zu bleiben und den unsichtbaren Sprecher nicht noch mehr zu verärgern. „Wir haben uns gezeigt. Jetzt ist es dein Zug.“ „Zug! Zug!“ echote die Stimme spöttisch. „Die schwerfälligen Stolperer möchten also ein Spiel spielen?“ Aus dem Nichts schoß eine Lichtkugel. Sie berührte Stroud fast, hielt jedoch Zentimeter vor ihm an und begann, in einem wilden Tanz um ihn herumzuhüpfen. Stroud verhielt sich völlig still und versuchte nicht auszuweichen. „Ein Spiel, Stolperer. Faß Mut in deinen Gedanken und spiele!“ Die Lichtkugel hüpfte noch schneller in der Luft um ihn herum, dann sprang sie plötzlich im Scheinangriff auf Crocker zu, der sich genausowenig rührte, wie Stroud vor ihm. Jetzt änderte die Kugel blitzschnell die Farbe, wurde von grün zu blau, zu gelb, zu violett und allen Tönen dazwischen. Doch nie rot, dachte Nick, und auch nie weiß. „Ihr wollt also nicht spielen? Es würde auch keinen Spaß mit euch machen, Stolperer!“ Die Kugel zog sich zurück, hüpfte in einiger Entfernung kurz auf und ab und wob eine Lichtsäule, die blieb, auch als die Kugel selbst verschwand. Und dann verwandelte die Säule sich in eine Gestalt, die nicht einmal bis Nicks Schulter reichte, auch nicht die wippende Feder auf der Mütze. Aber sie war, zumindest rein äußerlich, völlig menschlich: ein junger Mann. Sein Gesicht war glatt, doch die Augen wirkten alt und gelangweilt. Er war ganz in Laubgrün gekleidet und hatte schulterlanges helles Haar, das zu leuchten schien und seinen Kopf wie mit schimmerndem Dunst umgab. Als er es zurückwarf, bemerkte Nick, daß seine Ohrspitzen herausragten und die Ohren weit größer als die von Menschen waren. Er trug ein kurzes Schwert oder einen langen Dolch am Gürtel und einen Speer in der Rechten — einen, der aussah wie der im Boden steckende. Er lächelte spöttisch amüsiert, sprach jedoch nicht, sondern spitzte die Lippen zu einem Pfeifen. Gleich darauf lösten sich Schatten aus den Bäumen hinter ihm. Ein Bär tapste hervor, setzte sich auf seine Hinterpranken und ließ die Vorderpratzen herabhängen. Seine rote Zunge spitzte zwischen scharfen Zähnen heraus. Neben ihn kauerte sich ein Leopard. Diese beiden erkannte Nick ohne Schwierigkeiten, doch da waren auch noch andere: Kreaturen wie Raubkatzen, doch mit Hufen, Tiere mit Hundeköpfen, aus denen
Hörner wuchsen. „Unsere kleine Streitkraft“, erklärte der Grüngekleidete. „Und nun ersuchen wir euch, unser Land zu verlassen. Ihr habt nicht um Erlaubnis gebeten, es betreten zu dürfen.“ Nick staunte selbst, als er antwortete: „Wir wollten nicht hierher! Wir kamen gegen unseren Willen.“ Er deutete auf den Jeep. „Von einem Augenblick zum anderen wurde er von einer Straße in meiner Welt hierher versetzt.“ Des kleinen Mannes spöttisches Lächeln schwand, sein Gesicht wurde ausdruckslos. Er streckte die Linke aus, und der Speer, der neben dem Jeep in der Erde gesteckt hatte, flog zu ihm. Die seltsamen Tiere verschwanden. „Da ihr seid, was ihr seid, untersteht ihr uns nicht“, sagte der Fremde bedächtig. „Doch ich rate euch, hebt euch hinweg, denn dieser Wald steht unter ordentlicher Herrschaft und ist nicht für Wanderer offen.“ Und schon war auch er verschwunden. Nick wandte sich seinen Begleitern zu. „Wer — was...“ Stroud griff in den Jeep und riß den Werkzeugbeutel hoch. So sehr beeilte er sich ihn zu öffnen, daß er ihm fast entglitten wäre. Hastig holte er einen kleinen Schraubenschlüssel und einen Schraubenzieher heraus. Crocker griff nach letzterem und hielt ihn wie eine Waffe oder einen Schild in Brusthöhe. Den Schraubenschlüssel warf Stroud Nick zu, der ihn erstaunt auffing. „Halt ihn so, daß man ihn gut sehen kann.“ „Warum? Wa-as war das?“ „Warum? Weil er aus Eisen ist. Und Eisen vertragen die Waldleute nicht. Wenn wir das Zeug an uns gehabt hätten, hätte das Bürschchen nicht gewagt, den Zahnstocher nach uns zu werfen. Und wer oder was er ist, da fragst du besser den Vikar. Solchen wie ihm sind wir schon ein paarmal begegnet. Volk der Hügel nennt der Vikar sie und auch die Alten. Sie waren schon immer hier, sagt er. Und sie können einem übel mitspielen — nicht so sehr mit ihren Speeren und Schwertern, sondern indem sie den Geist beeinflussen, einen sehen lassen, was sie gerade wollen. Und wenn sie sagen, daß das hier ihr Bereich ist, dann meinen sie es auch. Je schneller wir verschwinden, desto besser.“ Stroud rannte los, und Crocker folgte ihm dichtauf, also beeilte auch Nick sich. Die anderen drehten sich nicht um. Falls sie einen Hinterhalt befürchteten, ließen sie es sich zumindest nicht anmerken. Wieder richtete er sich nach ihnen. Eisen hielt sie zurück. Er hob den Schraubenschlüssel hoch, aber ob der auch gegen die Tiere schützte? Er war sicher, daß sie hinter ihnen herschlichen, doch obwohl er sich immer wieder umdrehte, sah er sie nicht. „Was ist mit diesen Tieren?“ fragte er Stroud, sobald er ihn eingeholt hatte. „Den Bären verstehe ich ja, aber der Leopard kann doch nicht von hier sein. Und die anderen — das waren bestimmt keine wirklichen Tiere, oder?“ „Das mag stimmen, Yankee“, brummte Crocker. „Aber egal, wie ‘wirklich’ sie sind, hier können sie einen jedenfalls zerreißen, wenn der Grüne es will. Doch es gibt Schlimmeres. Hast du gehört, wie er von den Finsterlingen sprach? Ihnen möchte ich nicht begegnen. Soviel wir wissen, verfügen sie in der Dunkelheit über unvorstellbare Kräfte.“ Nick bemerkte, wie er schauderte. „Glücklicherweise schlägt Eisen auch sie in die Flucht. Frag mal Jean und Lady Diana. Sie suchten einmal nach Beeren und kamen dabei zu einem Turm — zumindest sah es wie ein Turm aus. Es war Spätnachmittag und bedeckt, vielleicht waren die im Turm deshalb aktiver, als sie normalerweise gewesen wären. Jean sah einen in voller Lebensgröße... Sie hatte danach eine Weile Alpträume, die sie fast um den Verstand brachten. Wir konnten ihr nur helfen, indem wir sie aufweckten. Wir haben hier eine Menge gelernt, hauptsächlich durch bittere Erfahrung, und wissen so ziemlich, was man tun darf und was nicht. Du hast heute deine erste Lektion gehabt. Wenn man fortgeschickt wird, verschwindet man möglichst schnell!“ Als sie den Waldrand erreichten, schrie Crocker: „Nieder!“
Stroud warf sich auf den Bauch und rollte hinter einen Busch, der ihn völlig verbarg. Nick folgte seinem Beispiel, aber sein Busch war schmaler und lichter. Crocker lag ein wenig abseits ebenfalls auf dem Bauch, hatte jedoch den Kopf auf einen abgewinkelten Ellbogen gestützt und blickte über das Wasser. „Nein — doch kein UFO!“ entfuhr es Nick unwillkürlich. Ein „Psst“ von links warnte ihn, sich still zu verhalten. Irgendwie fiel es ihm schwerer, an die Wirklichkeit dieses unbekannten Flugobjekts zu glauben als an die merkwürdigen Tiere im Wald. Diese Maschine — oder was immer es war — schwebte silbern über der Wasseroberfläche. Sie sah tatsächlich wie eine Untertasse aus, auf die eine runde Schüssel gekippt war. Sie war völlig unbewegt. Da brauste aus dem Süden ein Luftschiff von Zigarrenform herbei und schoß einen glühenden Strahl auf das kuppelartige Oberteil des UFOs ab. Doch in einiger Entfernung davon prallte der Strahl von einem unsichtbaren Schirm ab. Die Zigarre wich mit ungeheurer Schnelligkeit zurück und griff von einer anderen Seite an. Das UFO ergriff keine Vergeltungsmaßnahmen. Es schwebte weiter an der gleichen Stelle, sicher unter seinem Schutzschirm, während das andere Flugschiff mit blitzschnellen Manövern immer wieder aus einem anderen Winkel darauf schoß. Nick konnte sich den Frust der Angreifer vorstellen, der seine ganze Kraft einsetzte und beim Gegner nicht die geringste Reaktion hervorrief. Schließlich hielt die Zigarre unmittelbar über dem UFO an. Nun schoß es keine Strahlen mehr ab. Statt dessen war ein Funkeln zu sehen, aber so flüchtig, daß Nick nicht sicher sein konnte, daß er sich nicht getäuscht hatte. Langsam senkte die Zigarre sich auf die Kuppel hinunter. Der Pilot des oberen Schiffes spielte jetzt vermutlich seine Trumpfkarte aus. Beabsichtigte er das UFO zu rammen, ähnlich einem Kamikazeflieger des Zweiten Weltkriegs? Das untere Schiff erzitterte und — war verschwunden! War es explodiert? Aber es war nichts zu hören gewesen, keine Trümmer zu sehen. Es war ganz einfach nicht mehr da. Die Zigarre schwankte ein wenig und stieg auf. Ein paarmal kreiste sie über dem See, wie um sich zu vergewissern, daß der Gegner nicht mehr da war, dann brauste sie wieder mit einer unvorstellbaren Geschwindigkeit davon, daß sie schon in Sekunden nicht mehr zu sehen war. Crocker setzte sich auf und hielt den Schraubenzieher in der Hand wie eine Betschwester in der Kirche ihre Kerze. „Jetzt schießen sie also aufeinander“, sagte er wie zu sich selbst. „Ist das nun gut oder schlecht für uns?“ „Was hat er denn versucht?“ fragte Nick. „Als er so auf das andere Schiff herunterkam?“ „Es könnte sein, daß er sein Kraftfeld gegen das andere Schiff einsetzen wollte. Die Flieger sind uns Jahrhunderte voraus mit ihrer Technologie, genau wie das Volk der Hügel mit ihrer ‘Magie’. Jedenfalls hat das untere Schiff beschlossen, es auf keine weitere Kraftprobe ankommen zu lassen.“ „Und wir sehen zu, daß wir von hier wegkommen“, warf nun Stroud ein. „Mit den Fliegern über uns kann es recht ungesund werden, und nachdem man uns den Wald verboten hat, können wir uns nicht einmal dort mehr verstecken.“
5. Nick trauerte um sein Motorrad, aber Stroud hatte recht. In diesem Gelände würde es sie nur aufhalten, und sobald das Benzin zu Ende war, konnte es seinen Zweck sowieso nicht mehr erfüllen. Sie hatten bis zum Morgen gewartet, ehe sie sich zum Rückmarsch zum „Hauptquartier“ bereitmachten. Aber es war keine erholsame Nacht gewesen. Sie hatten abwechselnd Wache gehalten, um nicht von den Fliegern überrascht zu werden, aber auch, um die Ohren nach Geräuschen offenzuhalten, die verraten mochten, daß sie vom Waldvolk beobachtet wurden. Das helle Mondlicht der klaren Nacht hatte gespenstische Schatten geworfen, die die Phantasie anregten, und Nick hatte sich während seiner Wache nicht wohl gefühlt in seiner Haut, um so weniger, als Jeremiah sich recht merkwürdig benommen hatte und schließlich fauchend über Nicks Knie hinweg in die Unterkunft gesprungen war... Und seinem Rückzug war ein höhnisches Gelächter gefolgt. Doch am darauffolgenden Morgen war sich Nick nicht mehr so sicher, ob es nicht reine Einbildung gewesen war. Mrs. Clapp steckte den sich heftig sträubenden Kater in einen Korb und befestigte schnell den Deckel. „Du willst doch nicht allein hierbleiben, oder? Also stell dich nicht so an. Schließlich muß ich dich auch noch tragen.“ Sie wandte sich an Nick. „Schade um Ihr schönes Motorrad. Hat bestimmt viel gekostet. Und es wäre fein, mal nicht zu Fuß gehen zu müssen. Aber mit Fahren ist hier leider nichts, und an die Weißen kommen wir wohl nicht heran...“ „Die Weißen?“ Nick schlang sich seine Satteltaschen um die Schulter. „Pferde, jedenfalls sehen sie so ähnlich aus. Wir haben die Hügelleute schon ein paarmal darauf reiten sehen, zwischen Sonnenuntergang und Nachteinbruch. Haben ein stolzes Bild abgegeben.“ Sie griff nach einem Bündel, aber Nick war schneller. „Sie haben genug mit Jeremiah zu tragen.“ „Kann man wohl sagen. Ist ja auch ein gewichtiger Kater mit seinen zehn Jahren oder so...“ Ihre Augen wirkten verstört. „Es sind dreißig Jahre vergangen, das haben Sie doch gesagt? Dann wäre ich jetzt fünfundneunzig. Aber so fühle ich mich nicht. Und Jeremiah wäre längst tot. Nein, ich glaub’ nicht an die dreißig Jahre!“ „Warum sollten Sie auch? Die Zeit vergeht ja hier offenbar auch ganz anders.“ Mrs. Clapp lächelte wieder. Nun schlang sie sich einen aus Schilf geflochtenen Korb oder Beutel über die Schulter. „Ich brauch’ ihn für alles, was ich unterwegs finde“, erklärte sie. „Pilze, Beeren, alles mögliche, aus dem sich was Gutes kochen läßt.“ Mit Jeremiahs Korb in der Hand stapfte sie los. Auch die anderen trugen ähnliche Korbbeutel und jeder hielt etwas Eisernes in der Hand, wie Nick bemerkte, entweder ein Werkzeug aus dem zurückgelassenen Jeep oder, wie Stroud, ein Messer mit blanker Klinge. Linda hatte Lung wieder an der Leine. Der Pekinese blieb dicht bei seinem Frauchen. Er hielt den Kopf hoch erhoben und wandte ihn von Seite zu Seite, um all die fremden Gerüche dieses Landes aufzunehmen. Das Flußufer war ihr Weg. Ihm folgten sie in offenbar gewohnter Reihenfolge: Hadlett und Stroud an der Spitze, dann Mrs. Clapp und Jean Richards, und als Nachhut Linda, Crocker und Lady Diana. Ihr schloß Nick sich an. „Fließendes Wasser.“ Lady Diana blickte hinunter in das Flüßchen. „Wir haben hier mehr als eine Verwendung dafür, junger Mann. Wir trinken es, waschen uns damit, und es kann als Barriere gegen die Finsteren dienen.“
Crocker brummte: „Aber bei einem Neuen weiß man nie, ob er wasserscheu ist oder nicht.“ „Das stimmt wohl“, bestätigte Lady Diana. „Aber hier ist alles reine Glückssache. Doch wir können uns wirklich nicht beklagen. Wir haben schwere Zeiten über...“ „Was ist denn das?“ rief Nick, der mehr auf die Gegend als auf das Gespräch geachtet hatte. Verblüfft starrte er auf ein Schiff, das halb im Kanal, halb auf dem gegenüberliegenden Ufer lag. Als sie näherkamen sah er, daß es ein halbausgebrannter Heckraddampfer war. Wie war er hierhergekommen? Und wann? „Er ist doch viel zu groß für diesen Fluß!“ verlieh er seinem Erstaunen laut Ausdruck. „Nicht während der Flut.“ Lady Diana deutete mit ihrem knorrigen Stock auf eine Stelle, die deutlich erkennen ließ, daß tatsächlich das Wasser hier einmal viel höher gewesen war. „Wir haben uns den Dampfer auf dem Herweg näher angesehen“, erklärte Crocker. „Es ist offenbar zu einer Explosion gekommen. Falls es überlebende gegeben hat, sind sie längst fort. Das Schiff liegt schon eine geraume Zeit hier.“ „Auf dem Ohio fuhren solche Heckraddampfer vor mehr als hundert Jahren“, sagte Nick. „Wir haben Seltsameres gesehen.“ Lady Diana marschierte so schnell, daß Nick kaum Schritt mit ihr halten konnte. „Ehe wir hierherkamen.“ Sie erklärte es nicht näher, und Nick fragte nicht. Etwa zwei Kilometer nach dem Wrack bog der kleine Trupp vom Ufer ab und stieg eine Anhöhe hoch, von der aus man Felder sehen konnte. Hier erlebte Nick seinen zweiten Schock an diesem Morgen. Dieses Land hier war einmal mit Mauern eingezäunt gewesen, und unmittelbar am Fuß des Hanges führte eine jetzt überwucherte Straße genau in der Mitte zwischen den brachliegenden Feldern hindurch. Stroud schwang den Arm hoch. Sofort warfen sich alle auf den Boden und suchten Deckung hinter Büschen. Ein Trupp Wanderer näherte sich den Feldern. Sie hatten Pferde, einige mit Reitern, während andere, etwa zwanzig Stück, eine Art Plattform zogen, auf der etwas Kuppelförmiges stand. Der Trupp bog auf die Straße ab und entfernte sich von der Anhöhe, worüber Nick sehr froh war. Er sah die Bogen und Lanzen der Reiter und ihre grimmigen Gesichter. „Mongolen“, flüsterte Lady Diana, die unmittelbar neben ihm lag. „Echte Mongolen, ein Stamm, vielleicht, oder eine Familie.“ „Dschingis-Khans Leute — hier?“ „Hier wird die Vergangenheit lebendig. Das dort, auf der Plattform, ist eine Jurte — eines ihrer transportablen Häuser. Vielleicht ritten die Krieger dort unten tatsächlich mit dem großen Eroberer. Wenn wir uns mit ihnen unterhalten könnten...“ „Wir hätten eine Lanze durch die Brust, ehe wir auch nur nahe genug heran wären“, brummte Crocker. „Soweit ich mich erinnern kann, hatten sie recht gute Bogenschützen, die uns noch gefährlicher werden könnten.“ Sie mußten noch eine Weile hinter ihrer Deckung liegenbleiben, bis der Zug außer Sicht war. „Wer hat diese Felder bewirtschaftet und die Mauern errichtet?“ fragte Nick. „Wer kann das schon wissen“, antwortete Crocker. „Sie sind nicht die einzigen, auf die wir gestoßen sind. Wir haben sogar eine richtige Burg gesehen. Und dann gibt es noch die Städte...“ „Sie sind anders als die unseren“, sagte Lady Diana nachdenklich. „Nicht so ausgedehnt, ohne Vororte, ganz frei stehen sie da.“ „Nur Türme“, murmelte Crocker, „und in Farben, wie man sie bei uns nie für Häuser verwenden würde. Kein Rauch, bloß Licht und Farben. Aber wenn Hadlett recht hat, sind sie Fallen — verlockende Fallen. Doch auf einen Versuch wollen wir es lieber nicht ankommen lassen.“ „Fallen?“ „Wir glauben, daß der Herold von einer Stadt kommt. Und die Städte sind möglicherweise die
Energiequellen, die uns aus unserer eigenen Welt ziehen. Was immer es ist, es existiert schon lange.“ „Wir haben eine römische Kohorte gesehen — falls es nicht eine ihrer Täuschungen war“, warf Crocker ein. „Man kann hier nie sicher sein, nicht, wo das Hügelvolk zu finden ist.“ Stroud und die anderen kamen hinter ihren Büschen hervor, und gemeinsam stiegen sie den Hang hinunter und durchquerten die ehemaligen Felder. Am Rand eines Wäldchens setzten sie ihr Gepäck ab, um eine Essenspause einzulegen. „Dort drüben ist ein Obstgarten!“ Der Vikar deutete auf ein Gehölz jenseits eines weiteren Feldes. „Bäume mit Frühäpfeln, glaube ich.“ Er blickte Stroud fragend an. Es war offensichtlich, daß der frühere Luftschutzwart zumindest während des Marsches die Führung hatte. „Hm.“ Stroud blinzelte in die angegebene Richtung. „Die zerfallene Mauer führt nahe daran vorbei. Sie könnte uns Deckung bieten.“ „Und Obst würde unseren Speisezettel bereichern“, freute sich Mrs. Clapp. „Ich fürchte, daraus wird im Augenblick doch nichts.“ Wieder deutete Hadlett. Glücklicherweise hatte Stroud, wie üblich, dafür gesorgt, daß sie Deckung hatten. Aus etwa der gleichen Richtung wie die Mongolen kam nun ein zweiter Trupp — zu Fuß und Deckung haltend wie sie. Die Männer trugen alle eine stumpfbraune Uniform. Einigen hatten Gewehre. „Die Chinesen“, flüsterte Hadlett leise zu den anderen. Sie nahmen die gleiche Richtung wie die Mongolen. Nick fragte sich, ob sie sie wohl verfolgten. Wenn ja, zweifelte er irgendwie daran, daß die Gewehre den Bogen überlegen waren. „Es sind heute plötzlich so viele Gruppen unterwegs. Ich möchte nur wissen, wieso“, murmelte der Vikar. „Es gefällt mir nicht“, sagte Stroud. „Je schneller wir untertauchen „können, desto besser. Vielleicht findet eine Jagd statt.“ Sie nahmen sich keine Zeit mehr, Obst zu pflücken, sondern brachen sofort auf, nachdem die Chinesen außer Sicht waren. Im Schutz einer baufälligen Mauer liefen sie zu einem etwa drei Kilometer entfernten Hügel. Jean nahm Mrs. Clapp den Korb mit dem schweren Kater ab. Sie kamen an einem Feld vorbei, in dem sich eine Getreideart offenbar selbst ausgesät hatte. Die reifen Ähren waren rötlich und hatten klebrige Grannen, die an der Kleidung haften blieben, wenn man ihnen zu nahe kam. Nick schluckte. Er war durstig, nahm sich jedoch nicht die Zeit, aus der Feldflasche zu trinken. Am Benehmen der anderen war offenkundig, daß Eile not tat. Linda trug Lung nun, der bisher die ganze Zeit, seit ihrem Aufbruch am Morgen, tapfer mitgelaufen war. Glücklicherweise war der Hügel, zumindest auf dieser Seite, nicht steil. Trotzdem waren sie erschöpft, als sie oben angelangten. Stroud gönnte ihnen nun eine Rast. Es gab hier genügend Sichtschutz, und man konnte weit in alle Richtungen sehen. „Schon wieder Wanderer!“ Jean deutete. Sie waren jedoch zu weit entfernt, um Einzelheiten erkennen zu lassen. Nick bemerkte, daß Stroud und Crocker sich auf den Rücken gelegt hatten, die Augen beschatteten und nicht die Umgebung, sondern den Himmel beobachteten. „Nichts zu sehen“, murmelte Stroud. „Noch nicht. Aber es sind etwas zu viele Wanderer unterwegs. Wenn eine große Jagd im Gang ist...“ „Wir bleiben hier in Deckung, bis es dunkel wird“, bestimmte Stroud und fügte hinzu, als Lady Diana hörbar erschrocken Luft holte: „Ja, ich weiß, daß es dann recht anstrengend werden wird, aber ich weiß nicht, was wir sonst tun könnten — außer die Nacht über hier zu bleiben.“ „Wie weit haben wir es denn noch bis zu Ihrem Stützpunkt?“ erkundigte sich Nick. „Etwa fünf Kilometer. Aber da wir immer Deckung suchen müssen, werden es mehr. Wir haben
heute mehr Wanderer gesehen, als in den vergangenen Wochen zusammen.“ „Und jetzt sehen wir noch jemand anderen!“ flüsterte der Vikar. „Den Herold — wir sind nicht sehr weit von der Stadt entfernt.“ Die farbenprächtige Gestalt unterhalb des Hügels schien sich um Deckung nicht zu kümmern. Sie ritt auf einem pferdeähnlichen Tier mit langen dünnen Beinen und weißem Fell, von dem ein Leuchten ausging wie vom Haar des Grünen im Wald. Aber auch das Wams aus grellfarbigen Flicken und die Beinkleidung des Reiters schien zu leuchten. Auf dem Kopf trug er eine viereckige Kappe mit hochragenden Spitzen. Im Gegensatz zu dem Grünen war sein Haar dunkel und so kurz, daß es kaum unter der Kappe herausragte. Ein Schnurrbart, so fein, als wäre er mit einem Haarpinsel gemalt, zog sich über die Oberlippe und knapp an den Mundwinkeln vorbei. Sein Pferd machte lange Schritte, und erst als er es genauer betrachtete, sah Nick, daß es keine Hufe, sondern eher Pfoten wie ein Hund hatte — und sie berührten den Boden nicht! Es war, als galoppierte das Tier auf einer unsichtbaren Straße einige Zentimeter über dem Erdboden. Und es sprang nicht über Hindernisse, sondern trabte lediglich etwas höher und darüber. Da war ein Summen zu hören — von dem Reiter? Nein, aus der Luft! „Jäger!“ warnte Stroud. Sie zogen nun auch die Köpfe unter die Büsche. Wie aus dem Nichts war ein Flieger aufgetaucht, ähnlich dem UFO, das am See von der Zigarre angegriffen worden war, nur viel kleiner. Aus seiner Kuppel schoß ein Strahl in die Tiefe. Nick verspürte ein seltsames Würgen, und er konnte sich nicht bewegen. Ein fast schmerzhaftes Prickeln durchzog ihn. Der Strahl hüllte das hügelan galoppierende Pferdewesen und seinen Reiter ein, doch die beiden ließen keine Wirkung erkennen. Der gleißende Strahl nahm sichtlich an Intensität zu. Nick hörte ein klägliches Winseln von Lung und ein tiefes Knurren von Jeremiah. So blendend wurde der Strahl, daß Nick den Blick abwenden mußte, und als er es wagte, dem Reiter wieder nachzuschauen, sah er, daß er auf der anderen Hügelseite hinuntergaloppierte. Was dieser Strahl auch sein mochte, er schien dem Herold nichts anhaben zu können. Trotzdem folgte das UFO ihm, als könnte es durch Hartnäckigkeit vielleicht doch noch den Sieg davontragen. Erst als beide in der Ferne verschwanden, fühlte Nick sich wieder besser, und er konnte sich aufrichten. „Ein Jäger, aber er hat nichts erreicht“, sagte Crocker. „Der Herold reitet zur Stadt. Verteidigung, nicht Angriff.“ „Was meinen Sie damit?“ fragte Nick. „Nun, daß die Jäger ständig die Städte angreifen, die aber nicht zurückschlagen. Es ist, als mache es ihnen überhaupt nichts aus, als können die Jäger ihnen nichts anhaben und weshalb sollen sie dann kämpfen? Sie haben bestimmt bemerkt, daß der Herold nicht einmal hochsah, als der Flieger ihn bestrahlte. Wenn wir bloß so einen Schutz hätten...“ „Wir brauchen nur ihr Angebot anzunehmen“, sagte der Vikar ruhig. „Das weißt du doch, Barry.“ „Nein!“ entgegnete der Pilot heftig. „Ich will ich bleiben, und wenn ich deshalb den Rest meines Lebens auf ständiger Flucht sein muß.“ „Was geschieht, wenn man auf das Angebot eines Herolds eingeht?“ fragte Nick. „Sie sagten, dann verändere man sich. Aber wie?“ Crocker gab dem Vikar keine Gelegenheit zu antworten. Er blickte Nick finster an und sagte: „Man verändert sich eben. Wir haben es bei Rita gesehen.“ Er preßte die Lippen zusammen. „Sie müssen wissen“, sagte Hadlett behutsam, „wir waren anfangs mehr. Rita war Barrys Verlobte. Sie begegnete dem Herold, ehe wir uns auskannten, und nahm sein Angebot an. Dann kam sie zu uns und wollte, daß wir das gleiche täten.“
„Ihr Tod wäre gnädiger gewesen!“ Crocker wandte sich ab. „Aber was ist mit ihr geschehen?“ bestand Nick. „Linda und ich haben ein Recht, es zu erfahren. Möglicherweise macht man uns dasselbe Angebot.“ „Das ist ganz sicher“, warf Lady Diana ein. „Der Junge hat recht, Adrian. Sag es ihm.“ „Es kam zu gewissen physischen Veränderungen.“ Der Vikar zögerte, als schmerze es ihn, darüber zu reden. „Nun, sie wären vielleicht tragbar gewesen. Aber es kam auch zu psychischen, zu emotionellen. Wir fanden jedenfalls, daß die Rita, die zu uns zurückkehrte, nicht mehr menschlich war. Der Mensch hat eine angeborene Furcht vor dem Tod. Wir scheuen sogar vor dem Gedanken an ihn zurück. Diese Veränderung ist wie eine Art von Tod. Denn der, der sich ihr unterwirft, überquert die Trennlinie zwischen unserem Leben und einem anderen. Eine Rückkehr gibt es nicht. In uns ist eine solche Aversion gegen das, wozu der Veränderte wird, daß wir nicht einmal seine Anwesenheit ertragen können. Ich fürchte, es läßt sich mit Worten nicht erklären. Man muß diese Veränderung gesehen haben, um sie zu verstehen.“
6. Unter Strouds Führung folgten sie, ständig Deckung suchend, dem Hügelkamm. Es war ein anstrengender Weg und für Mrs. Clapp fast zu beschwerlich, wie Nick bemerkte. Ihr Gesicht war tiefrot, und ihr Atem kam in schmerzhaften kurzen Stößen. Es fiel auch Stroud auf, und er ließ eine Rast einlegen. „Wir gönnen uns einen Bissen“, bestimmte er, „und warten bis zur Dämmerung.“ Das Land unten wirkte nun verlassen. Seit dem fernen Trupp hatten sie keine Wanderer mehr gesehen. Als die Sonne allmählich unterging, wurde Nick auf ein Leuchten im Nordwesten aufmerksam. Er wandte sich an Jean, mit der er Wache hielt, und deutete darauf. „Das ist die Stadt“, erklärte sie. „Nachts ist sie ein einziges Licht — so was haben Sie noch nie gesehen.“ Ihre Stimme klang fast sehnsüchtig. „Wie nahe haben Sie sie gesehen?“ Die mysteriösen Städte faszinierten ihn. Offenbar waren sie eine sichere Zuflucht für ihre Bewohner. „Nahe genug, um Angst zu haben“, antwortete Jean. Eine Weile schwieg sie, dann fügte sie hinzu: „Was der Vikar über Rita gesagt hat, stimmt. Sie war — anders. Aber sie weinte, als wir sie das letztemal sahen und sie versuchte, zu uns zu kommen. Sie wollte uns bestimmt nichts tun — uns nur helfen...“ Ihre Stimme klang schuldbewußt. „Doch Sie alle haben sie weggeschickt.“ Nick bereute seine Worte, kaum daß sie seine Lippen verlassen hatten. Jean wandte ihm den Kopf zu und blickte ihn fest an. „Wir haben sie fortgeschickt“, bestätigte sie rauh. Nick war bestürzt. Warum hatte er das gesagt? Die Engländer wußten, was sie tun mußten, um hier zu überleben. Und warum hatten seine Worte sich wie eine Anklage angehört? Hastig änderte er das Thema. „Wird Mrs. Clapp den Rückweg schaffen? Sie ist völlig erschöpft...“ „Ich weiß. Wir werden ihr helfen, so gut wir können.“ Als sie weitermarschierten, trug Jean wieder Jeremiah in seinem Korb und auch Mrs. Clapps Korbbeutel. Wortlos faßten Lady Diana und Linda, die Lung auf dem anderen Arm trug, Mrs. Clapp unter. Auch der weitere Weg war beschwerlich, aber es tauchten zumindest keine Flieger mehr auf, und schließlich sah Nick ein dunkles Bauwerk aus Stein, doch war es inzwischen so dunkel, daß er nicht einmal seine Form richtig erkennen konnte. Stroud schritt voraus und öffnete eine Tür. „Gott sei Dank!“ hauchte Mrs. Clapp. „Viel weiter hätten meine alten Beine mich nicht mehr getragen. Ich bin wohl doch ein wenig zu alt für das viele Herumlaufen.“ „Unsinn, Maude!“ widersprach Lady Diana. „Du scheinst zu vergessen, daß wir alle etwas von dem Strahl des Jägers abbekommen haben. Das hat uns gar nicht gutgetan.“ Durch die jetzt offene Tür schimmerte schwaches Licht. Als Nick eintrat, schloß Crocker hinter ihm die schwere Tür. Sie befanden sich jetzt in einem riesigen Zimmer mit einem großen Herd, einer Bank, mehreren Hockern und einem Tisch. Mrs. Clapp ließ sich auf einen Hocker fallen, und Jean beeilte sich, Jeremiahs Korb auf den Boden neben ihr zu stellen. Der Kater miaute leise, schüttelte sich heftig, als Mrs. Clapp ihn herausgehoben hatte und begann schnuppernd im Zimmer herumzustreifen. Es gab zwar Fenster, wie Nick sah, aber sie waren von innen mit Läden verschlossen. Das Licht kam von einer Schüssel auf dem Tisch, in der ein Stück Schnur als Docht in einer Flüssigkeit brannte. Ein angenehmer Duft ging davon aus, und von dem Zimmer selbst eine Atmosphäre, die beruhigend wirkte. „Was ist das hier?“ Linda setzte Lunge auf dem Boden ab. Der Pekinese streckte sich sofort
aus und legte den Kopf auf die Pfoten. „Ich fühle mich hier erstaunlich wohl.“ Der Vikar setzte sich auf die Bank, in Mrs. Clapps Nähe, und lächelte das Mädchen an. „Es ist ein Asyl, ja mehr als das, hier findet man inneren Frieden. Wir haben bereits mehrere ähnliche entdeckt. Einige sind von Menschenhand geschaffen, andere von der Natur. Das hier ist offenbar von jemanden aus unserer Welt erbaut worden. Wir nehmen an, daß es früher ein Bauernhof war — als es hier noch nicht so gefährlich war. In die Tür ist Eisen eingelassen und in die Fensterrahmen ebenfalls. Das kann nur bedeuten, daß die Erbauer Menschen wie wir waren. Doch wie sie dieses Gefühl der Zufriedenheit und inneren Ruhe in diesen Wänden schaffen konnten, wissen wir nicht. Vielleicht sind auf dieser Welt alle Gefühle verstärkt. Von manchen Orten, an denen wir waren, geht etwas entsetzlich Furchterregendes aus, und dann fanden wir auch viele, wie diesen, der Frieden schenkt. Wenn es etwas Ähnliches auf unserer Welt gibt, sind unsere Sinne vermutlich nicht stark genug, es aufzunehmen.“ Stroud hatte sich auf einem Hocker niedergelassen und die Füße weit ausgestreckt. „Wir könnten bleiben, wäre die Stadt nicht so nah. Jetzt, jedenfalls, ruhen wir uns hier erst einmal gründlich aus.“ Müde streckten sich alle auf den Haufen trockenen Laubes entlang den Wänden aus. Nick schlief sofort ein und träumte. Es waren angenehme Träume, von denen man sich wünscht, sie würden nicht aufhören. Doch plötzlich riß etwas ihn aus dem Schlaf. „Nicki Wach doch auf! Nick — o bitte, wach auf!“ „Was ist los?“ „Pst, nicht so laut, die anderen schlafen. Lung ist fortgelaufen. Ich habe ein Pfeifen gehört, ihm ist er gefolgt.“ „Wie? Die Tür ist doch verriegelt!“ „Im anderen Zimmer ist ein offenes Fenster. Ich habe gerade noch gesehen, wie er sich hindurchgezwängt hat...“ Sie zog ihn hinter sich her. Rechts vom Herd war das graue Rechteck einer offenen Tür zu sehen. Das Zimmer dahinter war leer, aber es hatte ein offenes Fenster mit Eisengitter. Linda ließ Nicks Hand los und rannte zu dem Fenster. Sie umklammerte die Gitterstäbe und drückte das Gesicht dagegen, um besser hinaussehen zu können. Vielleicht war das Gitter vom Rost angefressen, oder Linda hatte unbewußt den Öffnungsmechanismus aktiviert, jedenfalls schwang das Gitter nach außen, und das Mädchen fiel mit dem Oberkörper hinaus, und dann half sie auch noch mit den Beinen nach. „Komm zurück, Linda!“ rief Nick, doch sie drehte sich nicht einmal um. „Linda!“ brüllte er jetzt. Es schadete nicht, wenn die ändern erwachten. Er kletterte ebenfalls durchs Fenster. Sie verschwand gerade durch eine Öffnung der Außenmauer, und er konnte nur hören, wie sie nach Lung rief. Er mußte sie zurückbringen! „Komm, Lung! Sei ein lieber Junge, Lung. Ich hab’ auch einen besonderen Leckerbissen für dich!“ lockte sie. Der Hund zögerte und drehte sich nach ihr um. Nick wartete ab. „Was ganz Feines für dich, Lung.“ Sie streckte jetzt den Arm aus. Auf der Handfläche hielt sie braune Krümel, die sie aus ihrer Jeanstasche gefischt hatte. „Lieber Lung — ganz ein lieber Lung...“ Der Pekinese war nun fast in Reichweite. Sobald sie ihn hatte, würde Nick sie beide zurückbringen. „Braver Lung...“ Da schrillte ein Pfiff. Der Pekinese wirbelte herum, blickte zu dem Hölzchen links, aus dem das Pfeifen, kam und rannte darauf zu. Linda schrie auf und eilte hinter dem Hund her. Was blieb Nick übrig, als ihr nachzulaufen. Er mußte sie aufhalten, ehe sie erreichte, was den Hund zu sich befohlen hatte. Immer wieder schrie Linda nach Lung. Nick hatte aufgehört ihr zu rufen. Warum sollte er Atem vergeuden, wenn sie ohnehin nicht auf ihn hörte.
Fast hatte er sie schon eingeholt, als er über einen Stein stolperte und heftig auf dem Boden aufschlug. Benommen tastete er sich auf die Füße. Nur ein schwingender Ast verriet, wohin Linda verschwunden war — und ihre unaufhörlichen Rufe. Diese Idiotin! Wußte sie denn nicht, in welche Gefahr sie sich begab? Aber war es denn weniger idiotisch von ihm, ihr zu folgen? Ich kann sie doch nicht ihrem Schicksal überlassen, verteidigte er sich. Er bahnte sich einen Weg durch Gestrüpp und folgte weiter ihrer Stimme. „Lung — Lung!“ Ihr Ton veränderte sich zwischen den beiden Worten. Das erste war noch ein Ruf wie bisher gewesen, das zweite — ein Entsetzensschrei? Nick raste weiter und stürmte plötzlich auf eine Lichtung. Vor ihm stand Linda, doch sie machte keine Anstalten mehr, den Pekinesen einzufangen. Der Hund saß auf seinen Hinterbeinen, bellte und wedelte die Vorderpfoten aufgeregt in der Luft, während sie, die ihn angelockt hatte, ihm lächelnd etwas vor die Nase hielt. Ehe Nick Linda festhalten konnte, rannte sie los. „Nein!“ schrie sie. Sie schwang die Hand, um die der anderen wegzuschlagen. Doch ihre Finger drangen durch die Hand hindurch, als gäbe es sie überhaupt nicht. Linda schrie. Die andere wich zurück. Doch Linda warf sich auf den Boden und packte den Pekinesen, der sich wild wehrte und sogar wütend nach ihr schnappte. Nick hatte sie erreicht und stand der arideren gegenüber. War sie vielleicht nur ein Phantom? Ein schimmernder Dunst ging von ihr aus, der es schwierig machte, sie genau zu sehen. Doch trotz dem, was geschehen war, als Linda ihr den Leckerbissen für den Hund hatte aus der Hand schlagen wollen, schien sie durchaus wirklich und stofflich zu sein. Und sie sah menschlicher aus als der Grüne. Ihr Haar hatte einen warmen Kastanienton, sie trug eine waldgrüne lange Hose, Stiefeln und Bluse der gleichen Farbe, und darüber ein ebenfalls grünes Wams, auf das ein silberner Ast mit goldenen Äpfeln gestickt war. „Wer sind Sie?“ fragte Nick erschrocken. „Was wollen Sie?“ Doch die Fremde wich immer weiter zurück, und der schimmernde Dunst um sie vertiefte sich, bis nur noch ihr Gesicht zu erkennen war. Es wirkte absolut nicht drohend, im Gegenteil, Tränen rannen ihr über die Wangen, und ihre Lippen bewegten sich, als rede sie, doch Nick hörte nichts. Und dann hatte der Dunst sie ganz verschluckt. „Sie wollte Lung!“ Linda drückte den Pekinesen schützend an die Brust. „Sie wollte mir Lung wegnehmen!“ „Sie hat ihn ja nicht bekommen“, entgegnete Nick. „Steh jetzt auf, wir müssen schleunigst weg von hier.“ Zum erstenmal schien Linda klar zu werden, in welche Gefahr sie sich begeben hatte. Trotzdem wiederholte sie: „Sie wollte Lung...“ „Vielleicht...“ „Vielleicht? Du hast es doch selbst gesehen!“ „Es könnte ja sein, daß sie den Hund nur lockte, weil sie wußte, daß du ihm folgen würdest...“ „Glaubst du das wirklich, Nick?“ „Jedenfalls eher, als daß sie sich für Lung interessiert hätte.“ Er faßte Linda am Arm und drehte sich um. Er wollte so schnell wie möglich in die Sicherheit des Hauses zurück. Er machte ein paar Schritte, bis ihm bewußt wurde, daß er sich der Richtung nicht mehr sicher war. Obwohl es inzwischen schon viel heller war, sah er nichts, an das er sich erinnerte, vorbeigekommen zu sein. Erleichtert sah er ihre Fußabdrücke. Sie brauchten ihnen nur zu folgen. Nach einer Weile blieb er stehen. Komisch, er hatte nicht gedacht, daß sie sich so weit vom Haus entfernt hatten. Doch die Fußabdrücke, die nur von Linda und ihm stammen konnten, waren wahrhaftig deutlich genug. Erst als sie auf eine Wiese mit kniehohem Gras und stachligen gelben Blumen kamen und außer Bäumen ringsum nichts zu sehen war, glaubte er nicht mehr, daß die Spuren am Boden wirklich von ihnen stammten.
„Was machen wir denn hier, Nick?“ Linda streichelte Lung, der sich inzwischen beruhigt hatte. Wahrscheinlich hatte sie überhaupt nicht auf den Weg geachtet. „Ich dachte, wir kämen zum Haus, aber offenbar sind wir in die Irre gelaufen.“ Das einzige, was sie jetzt tun konnten, war, in die entgegengesetzte Richtung zurückzukehren. Aber er zögerte. Irgendwie hatte er entsetzliche Angst davor, das Wäldchen wieder zu betreten. Was war nur los mit ihm? „Wir müssen zurück durch den Wald!“ Er war entschlossen, sich von seiner merkwürdigen Furcht nicht unterkriegen zu lassen. „Nein, Nick!“ Linda riß sich von ihm los. „Nicht dort hinein!“ „Wir müssen aber zurück zum Haus!“ Sie schüttelte den Kopf. „Nick, bist du ganz sicher, daß wir es auch können?“ „Was soll das heißen? Das ist doch kein dichter Wald. Wir sind einmal durchgekommen und werden es auch ein zweitesmal.“ „Ich glaube es nicht! Und ich gehe auch nicht mehr dort hinein!“ „Aber wir müssen zum Haus zurück!“ „Dann machen wir eben einen Umweg.“ Linda wandte ihm den Rücken zu und machte sich daran, dem Rand des Wäldchens zu folgen. Nick verzog das Gesicht. Er konnte sie nicht allein hierlassen, aber außer wenn er sie k. o. schlug, würde er sie nicht den Weg zurückbringen können, den sie gekommen waren. Wütend trat er nach einem Klumpen Erde und rannte hinter Linda her. „Das wird ein ganz ordentlicher Umweg werden“, brummte er. „Aber besser als durch die Bäume! Zumindest sehen wir hier, wenn etwas auf uns zukommt. Nick, in dem Wäldchen waren noch andere außer ihr. Ich habe es gefühlt, auch wenn ich sie nicht sehen konnte.“ „Die Fußabdrücke!“ Er konnte die Furcht in seiner Stimme nicht ganz unterdrücken. „Sie haben uns hierhergeführt — vielleicht in eine Falle!“ „Es ist mir egal, solange ich hier was sehen kann! Aber sie beschleunigte den Schritt. Sie folgten dem Waldrand südwärts, liefen nun bereits. Nick hoffte, dieser Umweg würde nicht allzu lang sein. Er hatte Hunger, außerdem machte er sich Gedanken, weil die anderen bestimmt in Sorge um sie sein würden. Vielleicht suchten sie bereits nach ihnen? „Nick, da vorn ist Wasser!“ Linda deutete nach links. Es war kein natürlicher Teich, sondern ein Becken, von Menschen oder anderen Intelligenzen geschaffen. Das Wasser rann aus einem Rohr in der Beckenwand und floß an der gegenüberliegenden Beckenseite als Bächlein ab, das sich in einer Wiese verlor. Linda kniete sich an den Beckenrand und ließ Lung los, der hastig soff, während sie sich das erhitzte Gesicht darin abkühlte, ehe sie eine Handvoll Wasser herausschöpfte und trank. Nick schaute sich währenddessen wachsam um, und als sie fertig war, bat er sie Wache zu halten. Dann tauchte er das Gesicht ins Becken und ließ das Wasser die Kehle hinabrinnen. Wasser wie dieses, hatte er nie gekostet, es schmeckte nach — Minze... „Nick!“
7. Er verschluckte sich und wirbelte herum. Ein Blick genügte. „Schnell, da hinein!“ Er drängte Linda in das Dickicht am Rand des Wäldchens. „Halte Lung die Schnauze zu!“ befahl er. Sie waren nicht mehr allein auf der Wiese. Zwei Gestalten kamen um einen Hügel herumgerannt, oder vielmehr getorkelt. Beide trugen gelbbraune Kleidung, die sich mühelos vom leuchtenden Grün des Grases abhob. Aber sie versuchten nicht einmal sich zu verbergen. Es war, als zwinge eine furchtbare Angst sie, den direktesten Weg zu nehmen, wo sie am schnellsten vorankommen konnten. Beide taumelten, als könnten sie sich nur noch mit letzter Willenskraft auf den Beinen halten. Eine fiel und schrie heiser auf. Die andere blieb schwankend stehen und kehrte zurück, um der ersten hochzuhelfen. Sich an der Hand haltend, taumelten sie weiter. „Nick — am Himmel!“ „Ich sehe es. Bleib ja hinter dem Busch!“ Ein kleines UFO, wie das, das den Herold bedroht hatte, kam in Sicht und war fast unmittelbar über den beiden Fliehenden — Männer, wie Nick jetzt erkennen konnte. Keuchend rannten sie weiter, aber ihre Schritte schienen immer schwerer zu werden, als stapften sie durch Sumpf, der sie festhielt. Schließlich konnten sie nicht mehr und ließen sich auf den Bauch fallen. Aus dem UFO fiel ein Netz, und ihm folgten an einer Art Strickleiter zwei zwergenhafte Gestalten in silberfarbigen Anzügen mit Helmen, wie die Astronauten auf Nicks Welt sie trugen. Die beiden Männer — wenn es Männer waren — beschäftigten sich mit den reglosen Gestalten, dann winkte einer, und das Netz mit den Gefangenen wurde hochgezogen. Die zwei aus dem UFO hielten sich daran fest und kehrten so in ihr Schiff zurück. Doch das UFO flog nicht weiter, wie Nick sich verzweifelt wünschte. Er befürchtete bereits, daß die an Bord auch von ihrer Anwesenheit hier wußten. „Nick...“ „Psst!“ warnte er scharf. Sie drückte die Hand auf die Lippen, als könnte sie so ihre Furcht unterdrücken. Lung kauerte zitternd neben ihr, gab jedoch keinen Laut von sich. Konnten sie es wagen, sich tiefer in das Wäldchen zurückzuziehen? Nick war nicht sicher, daß sie es schaffen würden. Aber vielleicht machte er sich unnötige Sorgen. Doch das UFO schwebte immer noch über der grünen Wiese. Lung winselte. „Du sollst ihm doch...“, begann Nick heftig. Was er sah, ließ ihn jedoch mitten im Satz verstummen. Zwischen den Büschen, wo sie lagen, und der offenen Wiese flammte eine dünne Lichtlinie auf. Sie breitete sich aus und wurde zum Dunst, der eine Mauer vor ihnen bildete. Ein Strahl schoß aus dem Luftschiff. Er war auf sie gezielt, und wieder, wie bei dem Angriff auf den Herold, verspürte Nick ein unangenehmes Prickeln. Wo der Strahl auf die Mauer traf, ballte der Dunst sich zu einem feurigen Flecken zusammen, von dem Flammen sprühten. „Schnell! Dieser Schutz kann nicht aufrechterhalten werden. In den Wald!“ Das ließ Nick sich nicht zweimal sagen. Als er Linda mit sich ziehen wollte, hatte sie sich schon vor ihm in den Wald zurückgezogen. Erst als sie durch die Bäume ausreichend geschützt waren, fragte Nick: „Wer hat gerufen?“ „Niemand.“ Linda lehnte sich an einen Stamm. „Es — es war in unserem Kopf. Jemand — etwas hat seine Gedanken auf uns gerichtet.“ Wenn er recht überlegte, stimmte es. Niemand hatte gerufen, er hatte die Worte im Kopf
gehört. Linda schaute sich nach allen Seiten um. „Wer — und wo Sie auch sind...“ Ihre Stimme klang alles andere als fest. „... wir sind Ihnen sehr dankbar.“ Hatten sie Grund dazu? Vielleicht waren sie lediglich vor einem Feind gerettet worden, um einem anderen um so leichtere Beute zu werden. Da ließ sein Gedächtnis ihn ein Bild sehen. „Sie hat geweint...“, murmelte er. „Wer?“ fragte Linda verwirrt. „Das Mädchen, das Lung gepfiffen hat. Sie weinte, als sie verschwand.“ „Du glaubst, sie...“ „Es könnte sein. Nur, warum hat sie geweint?“ Linda drückte den Pekinesen so fest an sich, daß er winselte. „Vielleicht, weil sie Lung nicht bekommen konnte.“ „Nein, das war es ganz bestimmt nicht. Ich glaube nicht, daß es mit Lung überhaupt etwas zu tun gehabt hat.“ „Aber sie hat ihn zu sich gelockt!“ sagte Linda heftig. „Nick, was können wir tun? Ich habe vor dem Wald genausoviel Angst wie zuvor, auch wenn er uns vor dieser fliegenden Untertasse beschützt.“ Auch er konnte seine Angst nicht verleugnen. Er spürte Leben um sie herum, das nichts mit Pflanzen oder überhaupt der sichtbaren Welt zu tun hatte. Was war das kleinere Übel? Das Unbekannte im Wald, oder das jagende UFO über der Wiese? Er, jedenfalls, zog den Wald vor, und das sagte er auch. „Du hast vermutlich recht“, gestand Linda zögernd. „Wir wären mit dem Netz gefangen worden, genau wie die beiden Männer, wenn uns nicht etwas aus dem Wald geholfen hätte. Aber wohin jetzt?“ Das wußte Nick auch nicht. Sein Kompaß lag mit dem Rest seiner Sachen im Haus. Und nach dem, was passiert war, traute er seinem Orientierungssinn nicht mehr. „Schade, daß Lung kein Spürhund ist, dann könnte er uns führen...“ „Aber das kann er! Warum habe ich nicht daran gedacht?“ Sie glaubte es offenbar wirklich. „Seine Leine — ich brauche seine Leine...“ Sie schaute sich um. „Ah, vielleicht geht das...“ Sie griff nach einer Ranke auf dem Boden. Sie war zäh und widerstand ihrer Bemühung sie abzureißen, mit Nicks Hilfe gelang es schließlich. Nick hatte kein Vertrauen in des Pekinesen Fähigkeiten, aber Linda kannte ihn besser. Sie zupfte die Blätter von der Ranke und befestigte ein Ende am Halsband des Hundes. Dann hob sie ihn hoch, daß seine leicht hervorquellenden Augen in gleicher Höhe mit ihren waren. „Lung — heim — heim...“ Sie wiederholte es mehrmals, als könnte der kleine Hund sie tatsächlich verstehen. Lung bellte zweimal, und Linda setzte ihn behutsam auf den Boden. „Heim, Lung!“ sagte sie noch einmal. Ohne Zögern drehte der Pekinese sich um und rannte in den Wald. Linda blickte Nick ungeduldig an, als Lung an der improvisierten Leine zerrte. „Was ist, willst du nicht mitkommen?“ Schulterzuckend stiefelte Nick hinter ihr her. Mit nachtwandlerischer Sicherheit rannte der Hund los, als hätte er tatsächlich ein festes Ziel vor Augen. Nick staunte, als sie in kürzester Zeit den Wald hinter sich und das Haus in einiger Entfernung rechts vor sich hatten. „Siehst du!“ triumphierte Linda. „Ich habe es doch gesagt!“ Sie nahm Lung die Rankenleine ab, klemmte ihn sich unter den Arm und rannte zu dem Haus, ehe Nick sie zurückhalten konnte. Er schaute erst zum Himmel hoch, ehe er ihr folgte, glücklicherweise war das UFO nicht zu sehen. Schon aus der Ferne bemerkte er, daß die Haustür einen Spalt offenstand. Bedeutete das, daß die anderen das Haus verlassen hatten? Als Linda über die Schwelle trat, befand er sich nur noch drei Schritte hinter ihr, und kaum war er im Innern, schlug jemand die Tür zu und legte den Riegel vor. Wer, konnte er nicht
erkennen, denn seine Augen hatten sich noch nicht an die verhältnismäßige Düsternis in der großen Stube gewöhnt. Eine schwere Hand legte sich um seinen Arm. „Verdammt, wo seid ihr gewesen?“ Es war Stroud. „In deinem Alter könntest du schon mehr Verstand haben!“ „Nimm deine Pfote von mir!“ brauste Nick auf. All seine Ängste, seine Frustrationen, sein Ärger über Lindas Torheit brach sich Bahn, und er schlug nach dem Mann, den er kaum sehen konnte. Der Vikar schob sich zwischen sie, als Stroud Nicks Faust mühelos auswich. „Laß ihn los, Sam“, sagte er. „Rühr mich ja nicht wieder an!“ knirschte Nick zwischen den Zähnen. „Nick kann nichts dafür!“ rief Linda jetzt. „Er wollte mich bloß zurückholen.“ „Und was haben Sie da draußen gemacht?“ fragte Lady Diana scharf. „Ich wollte Lung holen. Jemand hat gepfiffen, und er ist durch das Gitter im anderen Zimmer aus dem Fenster gesprungen. Ich mußte ihm einfach nach. Und nur gut, daß ich es getan habe, sonst hätte sie ihn jetzt.“ „Sie?“ fragte der Vikar. Nicks Augen hatten sich inzwischen angepaßt und er sah, daß die anderen um sie herumstanden. „Das leuchtende Mädchen im Wald. Sie wollte Lung etwas geben, etwas zu fressen, glaube ich. Und als ich versuchte, es ihr aus der Hand zu schlagen, ist meine Hand durch ihre hindurch, als wäre sie gar nicht da gewesen.“ „Wie hat sie ausgesehen?“ fragte Crocker mit seltsam belegter Stimme. „Sie — sie war ungefähr so groß wie ich. Aber ich hatte solche Angst um Lung, daß ich sie kaum richtig angeschaut habe. Ich glaube, sie hatte braunes Haar und grüne Kleidung. Frag Nick, der hat sie besser gesehen als ich. Ich war so erschrocken, als meine Hand durch ihre...“ Als sie verstummte, blickten alle Nick an. „Ja, ihr Haar war braun, aber mit einem Rotton, und es war schulterlang.“ Er versuchte, sich an Einzelheiten zu erinnern, weil Crocker ihn ansah, als wäre eine genaue Beschreibung von größter Wichtigkeit. „Sie war ganz in Grün gekleidet, und ihr Mieder hatte eine Stickerei: ein Silberzweig mit goldenen Äpfeln. Und sie war sehr hübsch.“ Da erinnerte er sich an noch etwas: „Sie hatte ein kleines Muttermal, etwa hier.“ Er deutete auf seine Wange, dicht neben den Lippen. Crockers eingezogener Atem klang wie ein Zischen. Dann fügte Nick noch hinzu, was er für das Wichtigste hielt: „Als sie langsam verschwand, weinte sie.“ „Rita!“ Crocker drehte sich mit hängenden Schultern um. „Oder eine Illusion“, sagte Hadlett ruhig. Crocker wandte ihnen den Rücken zu. „Eine Illusion hätte nur für uns, die wir sie kannten, Sinn ergeben. Nick und Linda kannten sie nicht.“ Er kämpfte hörbar um seine Beherrschung. „Barry hat recht. Sie würden höchstens uns eine solche Illusion schicken, damit wir versuchen, Rita zu finden, und von hier weggehen.“ „Da würden sie kein Glück bei uns haben“, brummte Crocker. „Wir haben ihr — diesem veränderten Wesen — deutlich genug gesagt, was wir davon halten...“ Er drehte ihnen immer noch den Rücken zu. „Was ist sonst passiert?“ erkundigte sich Hadlett. Nick erstattete ausführlich Bericht. Am meisten interessierte den Vikar die leuchtende Dunstmauer, die sie geschützt hatte. „Zweifellos ein Kraftfeld“, meinte Hadlett. „Aber die anderen haben sich bisher noch nie eingemischt, jedenfalls haben sie noch keinem von uns geholfen.“ „Rita würde es tun“, warf Jean ein. „Und es ist mir egal, was wir ausgemacht haben! Nick hat gesagt, sie hat geweint, und Rita hat das letztemal geweint. Ich bin überzeugt, daß es Rita war und keine Illusion, die uns in eine Falle locken sollte. Und genauso überzeugt bin ich, daß sie Linda und Nick vor den Jägern gerettet hat.“ „Sie gehört zu ihnen!“ erklärte Crocker.
„Wir wissen nicht, wieviel Menschliches in jenen bleibt, die das Angebot annahmen“, sagte Hadlett. „Wenn Rita sich an uns erinnert, dann nicht im Zorn, glaube ich. Wir taten, was wir tun mußten, weil wir sind, was wir sind. Jedenfalls steht fest, daß jemand, der Linda und Nick wohlgesinnt war, sie heute morgen rettete. Und das ist beachtlich!“ „Doch nun müssen wir ans Jetzt denken!“ brummte Stroud. „Es sind Jäger hier — offenbar nicht allzu weit entfernt. Jemand im Wald wollte nicht, daß sie euch zwei erwischen, aber das heißt noch lange nicht, daß sie uns weiterhin helfen werden. Wir können uns eine Weile hier halten, aber nicht sehr lange, weil wir keine Vorräte haben. Wir müssen in die Höhle zurück.“ „Wir haben den Geheimgang.“ Crocker war froh über den Themawechsel. „Durch ihn erreichen wir die andere Hügelseite.“ „Und kommen der Stadt für meinen Geschmack viel zu nahe.“ Stroud schüttelte den Kopf. „Aber vielleicht haben wir keine andere Wahl.“ Sie aßen ein sparsames Frühstück. Glücklicherweise hatten sie zumindest keinen Mangel an Wasser, denn in einer Ecke der großen Stube befand sich unter einem runden Stein im Fußboden ein Brunnen. Wer immer dieses Haus erbaut hatte, dachte Nick, hat offenbar mit einer Belagerung gerechnet. Schließlich wurde beschlossen, den Rest des Tages im Haus zu verbringen und es in der Dämmerung durch einen Geheimgang zu verlassen. Da wandte Mrs. Clapp sich mit fester Stimme an alle: „Ich werde nicht mitkommen. Meine Beine machen mir zu schaffen, und ich kann nicht mehr so schnell laufen wie ihr. Hier im Haus bin ich sicher, und so falle ich euch nicht zur Last.“ Sie war fest entschlossen, das sah man ihr an. „Maude, Sie wissen, was wir schon vor langem beschlossen haben...“, sprach der Vikar sanft. „Ja, aber da war auch noch nicht abzusehen, daß einer von uns so schlecht auf den Beinen sein würde, daß er die anderen nur aufhalten und sie vielleicht in Gefahr bringen würde. Ich will keine Last sein, nein, das will ich nicht! Und ihr könnt mich nicht dazu zwingen!“ „Vielleicht nicht, Maude“, wieder sprach Hadlett. „Aber wenn Sie nicht mitkommen, würden Sie uns eine viel schlimmere Last auferlegen, denn glauben Sie, wir fänden je ein ruhiges Gewissen, wenn wir Sie hier allein zurückließen? Würden Sie denn gehen, wenn ich mir ein Bein gebrochen hätte und nicht mitkönnte? Oder würden Sie es hinnehmen, wenn Lady Diana oder Jean oder irgendein anderer von uns das sagte, was Sie gerade gesagt haben? Würden Sie sie oder ihn allein hierlassen?“ Er hielt inne, aber Mrs. Clapp schwieg. So fuhr er fort: „Wir haben von Anfang an ausgemacht, daß wir zusammenbleiben, egal, was geschieht...“ „Das ist nicht fair. Jeremiah und ich, wir sind alt, und wir sind hier sicher. Ihr könntet zurückkommen, sobald keine Gefahr mehr besteht.“ „Wir werden es gemeinsam schaffen, Maude.“ Lady Diana legte eine Hand auf die Schulter der Älteren. „Wir haben eine Menge miteinander durchgemacht und es immer noch überstanden.“ „Irgendwann ist immer ein erstes Mal, Mylady. Und ich will nicht zur Last fallen...“ „Sie, Maude Clapp? Sie, die alle Pflanzen kennen? Wir wären hilflos ohne Sie! Erinnern Sie sich, wie Sie Barry kuriert haben, nachdem wir anderen schon alle aufgegeben hatten? Wir brauchen Sie, Maude!“ „Und Jeremiah.“ Jean kniete sich neben den Hocker der alten Frau und legte die sonnengebräunten Hände auf die verkrampften arthritischen. „Er weiß als einziger, wenn die ändern in der Nähe sind, und warnt uns. Wir können weder ohne Sie, noch ohne Jeremiah auskommen.“ „Es ist nicht recht“, beharrte Mrs. Clapp. „Aber wenn ich mich weiter weigere, seid ihr imstande und tragt mich auch noch.“ „Nein, Sie werden auf Ihren eigenen zwei Beinen gehen. Und ich glaube, daß wir das nächste Stück Weg mehr schleichen als laufen werden. Das schaffen Ihre Beine leicht“, sagte Hadlett. „Na gut“, resignierte Mrs. Clapp. „Aber wenn ich erst wieder in der Höhle bin, bringt ihr
mich nicht wieder hinaus.“ Jean lachte. „Ich werde Sie daran erinnern, Maude, wenn Sie das nächste Mal Ihren Korb nehmen und gar nicht weit genug wegkommen können, weil es bestimmt anderswo bessere Kräuter oder Pilze gibt.“ „Tun Sie das, Mädchen.“ Mrs. Clapp lachte und streichelte Jeremiah, der sich an ihre Beine schmiegte. „Also warten wir den Abend ab und ruhen uns solange aus“, sagte der Vikar erleichtert. Im Gegensatz zu den ändern konnte Nick nicht schlafen, und offenbar auch Crocker nicht. Der Pilot wälzte sich von einer auf die andere Seite. Ob er an diese Rita dachte? Nick vermochte nicht zu vergessen, wie dieses Mädchen oder diese Illusion geweint hatte. Hatte sie es getan, damit er es hier erzählte? Sein Kopf schmerzte, und er fand die Luft in der großen Stube stickig. Leise stand er auf und trat ans Fenster des Nebenzimmers. Das Gitter schien wieder fest eingehängt zu sein, trotzdem berührte er es vorsichtshalber nicht. Er schaute nur hindurch. Plötzlich sah er eine Farbe, oder vielmehr zunächst den Schimmer einer Farbe, und dann bildeten sich Einzelheiten. Der Herold stand in einiger Entfernung vom Haus und schaute in seine Richtung. Von der Mauer kam ein weißes Tier auf den Mann zu, ein Pferd mit Stelzenbeinen und weichen Pfoten statt Hufen. Doch diesmal lief es auf dem Boden, nicht Zentimeter darüber. Der Herold interessierte sich also für das Haus. Nick fragte sich, ob er Alarm schlagen sollte. Doch während er noch zögerte, schwang der Mann im farbenprächtigen Wams sich in den Sattel, der kaum mehr als ein dünnes Kissen war. Das „Pferd“ sprang hoch und brauste durch die Luft, als hätte es Schwingen. Obgleich Nick nun das Gesicht an das Gitter drückte, konnte er die beiden nur noch wenige Sekunden sehen, doch solange er sie in Sicht hatte, stieg das Pferd immer noch höher.
8. „Was gibt es, mein Junge?“ Nick zuckte zusammen. So sehr hatte er sich mit dem Verschwinden des Herolds beschäftigt, daß er den Vikar nicht gehört hatte, bis er zu ihm sprach. „Der Herold war da draußen, dann ist er mit seinem Pferd über das Haus geflogen.“ „Das Pferd der Hügel...“, murmelte Hadlett nachdenklich. „Kennen Sie die keltischen Sagen, Nick? Sie erzählen davon. Früher muß es wohl eine nähere Verbindung zwischen dieser und unserer Welt gegeben haben.“ „Sir“, Nick drehte sich dem Mann mit dem silberweißen Haar zu. „Ist dieser Herold, oder wofür er steht, genausosehr unser Feind wie die Fliegerleute?“ Hadlett antwortete nicht sofort. Er schaute Nick auch nicht an, sondern blickte über seine Schulter hinweg durchs Fenster. Schließlich sagte er bedächtig: „Die Fliegerleute, wie Sie sie nennen, bedrohen unseren Körper, während der Herold nicht als offene Gefahr zu uns kommt, sondern als Verführer. Nehmen wir sein Angebot eines Bündnisses oder einer Verbindung an, dann werden wir im wahrsten Sinne des Wortes mit ihm verbunden. Wir sind dann nicht mehr wir selbst. Und es gibt keine Rückkehr. Eine Verbindung mit ihm bedeutet die Aufgabe unseres Ichs, all dessen, woran wir glauben. Jene, die annehmen, werden so wesensfremd, als wären sie nie von unserem Blut gewesen. Es ist, wie ich bereits einmal sagte, eine Art von Tod.“ „Rita — wenn es Rita war, der wir begegneten — weinte. Und es war vermutlich sie, die uns vor dem Flieger rettete.“ „Ja, sie weinte auch, als sie das letzte Mal zu uns kam und Crocker nichts von ihr wissen wollte. Trotz ihrer Veränderung war die Beziehung zu ihm noch lebendig in ihr. Auch in den Sagen gab es Feen und EIfen, die Sterbliche liebten. Doch nie kam es zu einem dauerhaften Glück, sondern immer zu Kummer und Entsagen. Aber Sie sagten, der Herold habe das Haus beobachtet. Das bedeutet, daß er von Ihnen und Linda weiß und Ihnen beiden sein Angebot machen wird. Seien Sie auf der Hut, mein Junge.“ Hadlett stützte die Hände auf das Fensterbrett und schaute hinaus. „Ein so schönes Land. Der Erbauer dieses Hauses muß viele ungestörte Jahre gehabt haben, denn er war imstande, diese Felder dort zu bestellen, das Haus als Bollwerk gegen die Finsternis zu errichten und für alle Eventualitäten vorzusorgen. Ich frage mich, wie lange das schon her ist?“ Nick blieb nichts übrig, als sich mit der Themaänderung abzufinden. Also ging er darauf ein. „Sind Sie schon auf Bauernhöfe ähnlich dem hier gestoßen, die noch bewirtschaftet wurden?“ „Nein, das Land steht, offenbar seit geraumer Zeit schon, unter einem Unstern. Vielleicht sind die fliegenden Jäger daran schuld. Die Städte dagegen scheinen zu blühen und sicher zu sein. Das offene Land ist voll Fallen. Schon früher waren nicht alle des Hügelvolks freundlichen oder auch nur gleichmütigen Wesens, darauf weisen allein schon unsere Geschichten über Oger, Riesen, böse Hexen und boshafte Trolle hin. Auch gibt es hier Spuren finsterster Bösartigkeit, wenn auch nicht in dem Ausmaß wie in England, ehe wir gefangengenommen wurden. Vielleicht weil das hier ein jüngeres Land ist, in dem die Kreaturen der Finsternis sich noch nicht allzu weit ausgebreitet haben. Allerdings haben wir auch Ruinen gesehen — Türme, eine Burg —, wie es sie in Ihrem Amerika wohl kaum gegeben hat. Das hier muß einmal ein fruchtbares, gut bevölkertes Land gewesen sein. Geblieben davon sind lediglich die Städte und Höfe wie dieser. Im offenen Land halten sich herumstreifende Trupps auf — und am Himmel die Jäger.“ „Haben die Städte oder der Herold etwas mit unserem Hiersein zu tun?“ Nick drängte es,
zumindest so viel zu erfahren, wie der Vikar bereit war zu erzählen. Er nahm an, daß Hadlett der einzige der drei Männer war, der versucht hatte, den Dingen auf den Grund zu gehen. Stroud war immer voll und ganz mit gegenwärtigen Problemen beschäftigt, und über Crocker wußte Nick bisher kaum etwas. „Wenn wir die alten Sagen als Richtschnur nehmen, hat das Hügelvolk durchaus eine bestimmte Kontrolle, aber nach allem, was ich darüber gelesen habe, kommen sie eher auf unsere Welt, um ihren Zweck durch Verführung oder Entführung zu erreichen. Unsere Versetzung war von anderer Art. Zweifellos verfügen die Städte über eine hohe Technologie. Obwohl sie, wenn man sie sich so ansieht, nicht mit unserer Zivilisation zu vergleichen ist. Möglicherweise erzeugen sie Energien, mit denen sie an bestimmten Orten eine Zugkraft entwickeln.“ „Und wenn wir dahinterkämen, wie sie uns hierherbrachten, könnten wir den Vorgang vielleicht umkehren?“ Der Vikar zögerte. „Sie vergessen das Zeitelement, auf das Ihre Ankunft hier uns hinweist. Während wir hier, aus den Jahreszeiten schließend, vier Jahre gerechnet haben, vergingen in unserer eigenen Welt dreißig. Es gibt auch Sagen über Menschen, die jung zurückkehrten und zu Hause in kürzester Zeit alterten und starben.“ Vier Tage waren sie nun hier, überlegte Nick. Wie viele — Wochen — Monate — waren inzwischen daheim vergangen? Unwillkürlich schauderte er. Trotzdem kehrte er hartnäckig zum Thema zurück. „Aber die Städte sind sicher vor den fliegenden Jägern?“ „Ja, wir haben mehrmals aus der Ferne einen Angriff darauf miterlebt. Und Sie selbst haben ja gesehen, wie sie den Herold angriffen. Ein gewaltiger Grimm scheint die Jäger zu beherrschen, oder aber Furcht, nicht nur vor den Städten, sondern vor dem gesamten Hügelvolk —, vermutlich vor dem, was es ihnen antun könnte.“ Das mußte Nick erst verdauen. Die Städte waren sicher, während im offenen Land überall Gefahren lauerten. Konnten sie nicht in eine Stadt gelangen, ohne des Herolds Angebot anzunehmen? Er stellte Hadlett diese Frage. Der Vikar lächelte. „Glauben Sie nicht, mein Junge, daß wir uns das anfangs nicht ebenfalls durch den Kopf gehen ließen. Leider ist es unmöglich. Außer in Begleitung eines Herolds kommt man nicht in eine Stadt, denn um jede ist ein unsichtbarer Energieschirm errichtet. Und der Preis für eine Zuflucht dort ist für uns zu hoch. Jedenfalls wird der Herold auch Ihnen sein Angebot machen. Dann ist, es an Ihnen, es anzunehmen oder abzulehnen. Aber in dem Augenblick werden Sie zweifellos selbst erkennen, was einer unseres Blutes tun muß.“ Nach ein paar weiteren Worten kehrte der Vikar in die große Stube zurück. Nick blieb. Diese Andeutungen über die entsetzliche Veränderung jener, die des Herolds Angebot annahmen, weckten seine Neugier nur noch mehr. Trotz der Warnungen der Engländer verstand er jedoch nicht, was so grauenvoll daran war. Er hielt die Flieger für eine größere Gefahr — aber vielleicht, weil er sie besser verstehen konnte. Wieder dachte er an Rita, die ihm gar nicht bedrohlich erschienen war und die sie zweifellos gerettet hatte. Und die Städte waren sicher. Man konnte sie also nur in Begleitung eines Herolds betreten. Ließ sich so ein Herold nicht vielleicht als Geisel nehmen? Das hatten die Engländer zweifellos ebenfalls schon in Betracht gezogen und den Gedanken fallenlassen. Er legte sich auf den Boden vorm Fenster und schlief an dem langen Nachmittag doch eine Weile, und als er aufwachte, stand Jeremiah neben ihm und blickte ihn rätselhaft an. Einen Moment hatte er die verrückte Idee, daß der Kater genau wußte, was er dachte, und sich darüber amüsierte, als wäre er ein Kind, das sich mit Problemen beschäftigte, für das es viel zu klein war. Nick hatte Katzen immer gemocht. Er hatte George zwölf Jahre gehabt, und während er vor einem Jahr in New York gewesen war, hatte Margo ihn einschläfern lassen, unter dem Vorwand, er sei krank gewesen. Er hatte Margo nicht die Befriedigung gegeben, zu zeigen,
wie sehr ihm Georges Tod zu Herzen gegangen war. Jedenfalls hatte es seine Beziehung zu ihr noch verschlechtert. Jeremiah hatte die Ohren zurückgelegt und knurrte jetzt leise, ohne die Augen von Nick zu nehmen. Nun war er sicher, daß die Katze seine Gedanken gelesen hatte. Unwillkürlich erzählte er ihr, wie sehr er an George gehangen hatte und welche Art von Kater er gewesen war. Jeremiah schien ihm aufmerksam zuzuhören, dann drehte er sich jedoch gelangweilt um und kehrte in die Stube zurück. Seiner Haltung war anzumerken, daß er sich für viel besser als George hielt. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft hier mußte Nick lachen. Auch ohne Worte konnte der Kater sich sehr wohl ausdrücken. Nachdem sie sich noch ein paar Bissen gegönnt hatten, brach die kleine Gruppe in der Abenddämmerung auf. Nicks Brot war natürlich längst alle, aber etwas Käse und Speck waren übrig. Und die Engländer hatten als Proviant kleine harte Fladen aus zerstampften Nüssen und getrockneten Beeren und auch luftgetrocknete Streifen zähen Fleisches. Der Eingang zum Geheimgang waren vier zusammengefügte große Steine hinter dem Herd, die sich wie eine Tür herausziehen ließen. Nick bot Stroud seine Taschenlampe an, als der ehemalige Luftschutzwart begann die steilen Stufen dahinter in die dunkle Tiefe zu steigen. „Wartet, bis ich hochleuchte. Die Stufen sind glitschig“, warnte Stroud. Als der Strahl die schmale Treppe einigermaßen beleuchtete, kletterte Lady Diana als nächste mit Jeremiah im Korb hinunter, gefolgt von Mrs. Clapp, Jean und Linda, die Lung trug, dann Hadlett, Nick und Crocker, der offenbar einige Schwierigkeiten hatte, die ungewöhnliche Geheimtür wieder richtig zu schließen. Am Fuß der niedrigen Treppe führte ein Gang mit Steinwänden geradeaus. Er war so schmal, daß sie hintereinander und leicht gebückt gehen mußten. Er schien endlos zu sein und es gab keine Abzweigungen oder Kellerräume. Nick fragte sich, wie die Engländer ihn überhaupt entdeckt hatten. Es steckte viel mühevolle Arbeit in ihm, was nur bedeuten konnte, daß seine Erbauer ihn als Fluchtweg in die Außenwelt für unbedingt notwendig erachtet hatten. Nach einer langen Weile machten die Steine der Wände aufrechtstehenden Rundbalken mit fester Erde dazwischen Platz, und auch die Decke war aus ähnlichen Balken. Und nach einer weiteren Ewigkeit, wie Nick schien, gelangten sie zu einer mehr leiterähnlichen Treppe, die Stroud wieder als erster hochkletterte und für die anderen hinunterleuchtete. Sie kamen im Innern eines Steinbaus mit hohem, teilweise eingefallenem Dach heraus, durch das ein paar Sterne zu sehen waren. Die frische Luft nach dem modrigen Gang tat gut. Ehe Stroud die Lampe ausschaltete, sah Nick in verschiedener Höhe die verkohlten Überreste von Balken aus den Wänden ragen. Sie hatten offenbar einmal mehrere obere Stockwerke getragen, deren Trümmer auf dem Boden lagen. Vorsichtig stiegen sie darüber zu einem offenen Türbogen. Die Ruine war von dichten Ranken überwuchert und von Dickicht umgeben. Als sie alle hindurch waren, schnellten die Büsche zurück, die Stroud gehalten hatte, und verbargen den Eingang völlig. Außerhalb des Turmes hatten sie mehr Licht, als die Nacht auf natürliche Weise bot, so sah Nick den Hang, der hinter dem Bauwerk zum Hügelkamm führte. Das regenbogenfarbene Licht kam von irgendwo am Boden hinter den Bäumen und Büschen, die die Ruine so gut tarnten. Auf Strouds Anweisung folgten sie ihm im Gänsemarsch, so lautlos sie es fertigbrachten. Mit jedem Schritt lichtete das Dickicht sich mehr und das Licht wurde heller. Und dann sah Nick zwischen nur noch wenigen Zweigen hindurch die Stadt. So sehr bannte dieser Anblick ihn, daß er mitten im Schritt stehenblieb und Crocker gegen ihn prallte. Doch selbst darauf achtete er nicht. Die Stadt erhob sich abrupt, ohne irgendwelche Außenbezirke, genau wie man es ihm erzählt hatte.
Und sie war unendlich hoch, daß es fast den Eindruck erweckte, die Türme griffen nach den Sternen. Und nur aus Türmen, wuchtigen und schlanken, bestand die Stadt, aus Türmen, die sich wie Arme sehnsüchtig dem Himmel entgegenstreckten. Woraus mochten diese fernen Bauwerke errichtet sein? Nick konnte sich nicht vorstellen, daß Steine ein solches Farbenspiel entwickeln könnten. Denn nicht konstant waren diese Farben, die von den Mauern selbst ausgingen, sondern in ständiger Bewegung. Doch so fremdartig diese Stadt auf den ersten Blick auch erscheinen mochte, sie paßte in die Gegend ringsum. Das Grün des Waldes war in ihrem Leuchten, das Gold der Wiesenblumen, das Rostrot der Baumrinde, das Blau und Silbergrau von Wasser, das Bleichrosa blühender Obstbäume, das Rot der reifen Früchte dieser Bäume. Es waren die Farben der Erde in heiterer Mischung. Die Stadt jagte keine Furcht, ja auch nicht Ehrfurcht ein. Eine wundersame Aufregung erfüllte Nick. Vor ihm lag etwas, das ihm das Gefühl gab, es lange schon gesucht und vielleicht im Traum gesehen zu haben. „Komm schon!“ Crocker faßte Nick unsanft am Arm. „Was hast du denn?“ „Sie ist wunderschön!“ Nick wollte nichts anderes, als geradewegs darauf zulaufen. „Es ist eine Falle!“ sagte der Pilot barsch. „Sie haben sie für uns aufgestellt. Schau lieber gar nicht hin.“ Hatte Crocker recht? Nick konnte ihm nicht glauben. Aber tatsächlich zogen die fernen Türme ihn an, und nun, da er aus seiner Andacht gerissen war, mißtraute er seiner Sehnsucht danach ein wenig. Trotzdem folgte er Stroud und den anderen, die sich immer weiter ostwärts hielten, mit innerem Widerstreben. Crocker ging nun neben ihm, als befürchte er, Nick würde plötzlich davonlaufen. Sie waren noch nicht viel weitergekommen, als Stroud eine Warnung zischte und sie sich hinter Büschen versteckten. Im Westen kam ein seltsamer Zug im Licht der Stadt in Sicht. Voraus unverkennbar das stelzenbeinige Reittier eines Herolds, doch sein Herr saß nicht im Sattel sondern schritt hinter ihm her und mit ihm drei andere, eine seltsam gemischte Gruppe: Ein Mann in einer gelbbraunen Uniform wie die der beiden Männer, die vor Nicks und Lindas Augen im Netz ins UFO gezogen worden waren; hinter ihm, seinem Raumanzug nach zu schließen, ein Jäger aus einem Flieger. Doch die beiden schritten nicht dahin, als wären sie Feinde, wie ihre Augen so auf den Herold gerichtet waren. Die dritte war eine Frau. „Rita!“ rief Crocker. Der Zug war viel zu weit entfernt, als daß Gesichter zu erkennen gewesen wären, und doch schien der Pilot überzeugt zu sein, daß die grüne Gestalt seine verlorene Verlobte war. Ein Surren erklang am Himmel, doch diesmal nicht von einem untertassenförmigen Flieger, sondern wieder einem, der wie eine Zigarre aussah. Er schoß in die Tiefe, als wolle er die Nase in den. Boden bohren. Pulsierende Lichtstrahlen strömten von ihm aus. Sie schlugen um den näherkommenden Zug ein — von dem keiner auf sie achtete — und dünne Rauchschwaden stiegen von verkohlten Stellen auf. Offenbar prallten die Strahlen von einem unsichtbaren Schirm um den seltsamen Zug ab. Immer wieder tauchte der Flieger tollkühn herab, als wäre der Pilot entschlossen, den Zug aufzuhalten, selbst wenn er ihn rammen müßte, aber er erreichte nur, daß er hin und her geworfen wurde. Und die ganze Zeit sah es für die fernen Beobachter so aus, als bemerkten die vier Personen und das „Pferd“ den Angriff überhaupt nicht. Auf geradem Weg näherten sie sich der Stadt. Nick konnte sich die Wut und Frustration des Fliegers gut vorstellen. Schließlich schien der Pilot die Hoffnungslosigkeit seines Unterfangens doch einzusehen. Die Zigarre brauste mit unvorstellbarer Geschwindigkeit über den Hügel und verschwand. Nick war zutiefst beeindruckt. Der Herold verfügte über einen solch wirksamen Schutzschild, daß er sich unbesorgt überallhin begeben konnte. Wenn man nur herausfinden könnte, wie er funktionierte! Nachdenklich beobachtete Nick den Herold und fragte sich, weshalb er zu Fuß ging, statt zu reiten. Vielleicht, damit sein Schirm auch die anderen einhüllen konnte? Wenn
er nur sein Geheimnis ergründen könnte! Der Herold und die Stadt. Er oder sie war der Schlüssel. Und Nick war sicher, daß eine eingehende Erforschung vonnöten war. Da der Herold die Stadt offenbar häufig verließ, war er vermutlich ein leichteres Studienobjekt. Konnte der Herold als Geisel genommen werden? Nach der Demonstration soeben schien das nicht wahrscheinlich zu sein. Es hatte keinen Sinn, die Engländer zu einem Versuch zu überreden, solange Nick keinen Plan hatte, der auch nur eine geringe Chance bot. Doch er würde darüber nachdenken. Das Tempo des kleinen Zuges mußte größer sein, als Nick gedacht hatte, oder die Stadt näher. Jedenfalls hatte er sie fast erreicht. „Es war Rita!“ sagte Crocker überzeugt. „Sie hilft ihnen jetzt sogar Fallen für arme Teufel zu stellen!“ Er ballte die Fäuste. „Warum auch nicht?“ fragte Jean. „Schließlich gehört sie jetzt zu ihnen. Vergiß sie, Barry. Du kannst sie ‘ nicht zurückbringen. Und du wirst erst wieder deinen inneren Frieden finden, wenn du nicht mehr an sie denkst.“ „Laß mich in Ruhe!“ zischte Crocker und rannte voraus zu Stroud, der sie weiter ostwärts führte. Allmählich verlor das Leuchten der Stadt sich am Horizont, und die Dunkelheit erschien Nick nun doppelt so schwer und trostlos. Aber er durfte sich solchen Gedanken nicht hingeben. Es gab zu viele Fallen hier, als daß er es sich erlauben durfte, sich von einer so offensichtlichen betören zu lassen.
9. „So was hat es noch nie gegeben!“ Der „sichere“ Stützpunkt, der einzige Ort in diesem fremden, gefährlichen Land, den sie ihr Zuhause nennen konnten, hatte sie seit einigen Tagen wieder. Doch unterschieden die Zustände sich hier, wie Nick bald erfuhr, weit von denen, die die Engländer gewöhnt gewesen waren. Zwischen den scheinbar aufs Geratewohl herumliegenden Felsbrocken, die den Eingang zu ihrem Höhlenversteck verbargen, hielten Nick und Crocker im Augenblick gemeinsam Wache. „Wir können jetzt weder jagen noch fischen“, fuhr der Pilot fort. Denn die Gegend war nun keineswegs mehr menschenleer. Immer weitere Gruppen von Wanderern aus dem Norden zogen an ihrem Versteck vorbei. Obwohl sie annahmen, daß die fliegenden Jäger dafür verantwortlich waren, sahen sie davon keine, nur die Gruppen, die ruhelos dahinhasteten, als triebe Furcht sie an. Ihr Anblick verunsicherte die Beobachter. Aber noch waren sie nicht bereit, ihren Stützpunkt zu verlassen. Ihre Zuflucht war ursprünglich eine natürliche Höhle gewesen, doch die Hände von Menschen oder anderer Wesen hatten sie vergrößert, die Wände geglättet und Muster eingeritzt, von denen einige mit Farbe nachgezogen waren, um sie besser erkennbar zu machen. Auch Licht gab es, von einer Art, die Nick mehr Rätsel aufgab als die Höhlenmalerei, wie sie ähnlich auch in seiner Welt zu finden war. In den Stein eingelassene Stäbe strahlten an ihren Spitzen flammendes bläuliches Licht aus. Es mußte von einer Zivilisation stammen, die technisch viel weiter fortgeschritten war, als eine, die sich damit begnügte, in Höhlen zu hausen. Diese Lichter ließen sich auch auf ungewohnte Weise ein- und ausschalten. Man brauchte sich nur vor einen dieser schlanken Stäbe zu stellen, sich Licht zu wünschen, und schon flammte seine Spitze wie der Docht einer riesigen Kerze auf. Die Wandmuster und die Lichter waren die Geheimnisse dieser Welt, der Rest war von den Engländern mitgebracht oder hier angefertigt und zusammengetragen worden. Es gab Schlaflager aus Heu und trockenem Laub, einen Herd aus kleinen Steinen, hölzerne Teller, Schüsseln und Löffel, die Stroud geschnitzt hatte. Sie waren Höhlenbewohner, umgeben von den Überresten einer weit fortgeschritteneren Zivilisation. Doch so leicht zu verteidigen war der Weg zu ihrem Stützpunkt, und so sicher fühlten sie sich in ihm, daß sie ihn nur ungern verlassen würden. Aber wenn es so weiterging mit all den durchziehenden Wanderern, verstand Nick Crockers Besorgnis, Die Vorräte schrumpften, obgleich sie wirklich vorgesorgt hatten, als das Land noch so gut wie ihnen allein gehört hatte. Doch konnte man schlecht jagen oder fischen, wenn man ständig mit einem Angriff rechnen mußte. Seit zwei Tagen konnten sie der Wanderer wegen im Freien nichts mehr unternehmen, selbst des Nachts waren sie unterwegs — zweimal hatten sie vorüberziehende Lichter beobachtet. Nick war ungeduldig. Sie sollten wirklich herausfinden, was vorging! Er hatte sich auf die Engländer verlassen, sich nach ihnen gerichtet, aber nun war er sicher, daß die neue „Völkerwanderung“ für sie völlig überraschend kam und sie genausowenig wußten, was sie davon halten sollten wie er. Buntgemischt waren diese Wanderer. Nick war, als sähe er Bilder der Vergangenheit in wirrer Reihenfolge vorüberziehen. Indianer waren vorbeigekommen; drei Männer mit den Franseniederhemden und langen Büchsen der frühen Siedler; Bogenschützen mit stählernen Helmen, die zwei Ritter in Rüstung begleiteten; eine größere Gruppe, ebenfalls in Rüstung, aber aus einer viel früheren Zeit, mit Helmen, deren Kämme rotgefärbte Borsten zierten, und
Bronzeschilden, und zu ihr gehörten auch Frauen (die hier selten waren). Stroud hatte sich am Morgen, im Sichtschutz von Felsbrocken und Büschen, ins Freie begeben. Er war offenbar der einzige der Engländer, der die Fähigkeiten eines Kundschafters hatte. Er wollte zum Fluß im Osten, um festzustellen, wie es dort mit Wanderern aussah. Zwar war die Höhle ihr Hauptquartier, seit sie durch Zufall auf sie gestoßen waren, und sie hatten weitere Unterschlupfe, wie das Lager am See und das Bauernhaus, aber die Engländer hatten nie beabsichtigt, auf die Dauer in dieser Gegend zu bleiben, sondern wollten das Meer erreichen und eine Beförderungsmöglichkeit zurück in ihr eigenes Land finden. Aus diesem Grund hatten sie schon vor längerer Zeit angefangen, am Fluß ein Floß zu bauen, das sie dann jedoch verstecken mußten, weil die UFOs in dem Gebiet aufzutauchen begannen. Falls die UFOs jetzt der Völkerwanderung folgten und die Gegend am Fluß einigermaßen frei war, konnte das Floß ihnen vielleicht das Entkommen ermöglichen. Es war eine sehr geringe Hoffnung, doch Nick wußte, daß sie sie hegten. Ihn selbst beschäftigten die Gedanken an die Stadt. Wenn sich nur in Erfahrung bringen ließe, wie man hineingelangen könnte... „Ich gehe zum hinteren Posten und löse Jean ab“, sagte Crocker. „Lady Diana wird bald hier sein.“ Nick war froh, allein zu sein. Zwar war Crocker in Ordnung, aber er konnte nicht warm mit ihm werden, das lag vermutlich daran, daß der Pilot mit seinen Problemen nicht fertig wurde und deshalb nicht sehr freundlich war. Beim Vikar war es etwas ganz anderes. Nick mochte ihn sehr. Und Stroud verstand und respektierte er. Mrs. Clapp mußte man gern haben. Jean hatte Augen nur für Crocker, doch Nick zweifelte, daß sie viel Glück bei ihm haben würde. Lady Diana war eine Führernatur, mit der zu rechnen war, wenn man einmal anderer Meinung als sie sein sollte. Linda und er hatten sich angezogen gefühlt, ehe sie die Engländer trafen, danach hatte sie sich schneller der Gruppe angepaßt als er. Und seit ihrem Abenteuer im Wald wich sie ihm aus. Er strengte sich nicht an, die Kluft zu schließen, die sie geöffnet hatte. Nick zuckte zusammen. Ein Busch bewegte sich. Auf seinen Posten hatte er mehrmals Tiere gesehen, die durch die Wanderer aufgescheucht worden waren: die Hirschart mit dem hellen Fell, riesenhafte Wölfe von der Größe eines kleinen Ponys, Kaninchen und wilde Truthähne, aber auch ein paar Alptraumwesen. Sie hatten vier Beine gehabt, einen katzenähnlichen Körper, doch mit einem Fell wie das des Hirschwilds, einen langen Hals mit dem Kopf eines scharfschnäbeligen Vogels, der jedoch nicht gefiedert, sondern mit Schuppen gepanzert war, und aus den Schultern waren ledrige Flügel wie die von Fledermäusen gewachsen, offensichtlich viel zu klein und schwach, den schweren Körper in die Luft zu heben. Im Freien hatten diese Tiere ihre Schwingen mit klatschendem Laut geöffnet. Doch was aus dem Busch herauskam, war Jeremiah, der einen großen Vogel hinter sich herzog. So schwer war der Vogel, daß der Kater auf dem Hang zweimal anhielt, um ihn besser in den Griff zu bekommen. Vor Nick legte er ihn ab und knurrte warnend. Der Vogel war von der Größe eines ausgewachsenen Huhns, aber sein Gefieder ungemein farbenprächtig. Unwillkürlich erinnerte es Nick an den Herold. „Das hast du großartig gemacht“, lobte Nick. „Du bist ein besserer Jäger als wir in den letzten Tage, Jeremiah.“ Die Katze legte sich neben ihn, mit dem Kopf auf den Vorderpfoten, und es hörte sich an, als seufzte sie zufrieden. Nick streckte die Hand nach dem Vogel aus und beobachtete Jeremiah dabei, doch der Kater schien nichts dagegen zu haben. Er hatte den Vogel sauber erlegt, auf den ersten Blick war nicht einmal eine Verletzung zu erkennen. Ja, die Farben des Vogels waren wie die des Herolds. Und wieder dachte Nick an seinen Einfall, den Herold irgendwie als Schlüssel zur Stadt zu benutzen. Dazu mußte er jedoch viel mehr über ihn erfahren. War er Herr der Stadt oder nur ein Bote? Mit den Engländern konnte er nicht darüber reden, für sie war das Thema Herold tabu. Und bis jetzt hatte der Herold sich noch nicht an Linda und ihn gewandt, wie Hadlett als sicher angekündigt hatte.
Es mußte etwas unternommen werden. Er glaubte nicht, daß sie sich auf die Dauer hier verstecken konnten. Was war, wenn das, was all die Wanderer südwärts fliehen ließen, hierherkam? Auf dem Floß zu entkommen, war leere Hoffnung. Nein, das einzig Sichere war die Stadt. Nick staunte selbst, wie sehr er davon überzeugt war. Jeremiah rieb den Kopf an seine Hand. Die Katze wollte vermutlich ihre Beute. Doch als Nick zu ihr hinunterschaute, kümmerte sich der Kater gar nicht darum, sondern rieb weiter den Kopf an Nicks Hand und Arm und jetzt schnurrte er auch noch dabei. „Guter Junge!“ Nick kraulte ihn hinter den grauen Ohren und unter dem Kinn. „Du pflichtest mir also bei, nicht wahr?“ Er hatte die Frage aus Spaß gestellt, doch plötzlich wußte er, daß es so war. Wieder hatte Jeremiah seine Gedanken gelesen und stimmte ihm eben so zu, wie er es als Katze konnte. Mit den Fingern unter dem Kinn, hob er Jeremiahs Kopf ein wenig hoch, damit er ihm gerade in die Augen sehen konnte. „Woher verstehst du so viel, Jeremiah?“ Die Katze reagierte schnell und scharf. Ihre Pfote schoß hoch, und sie zog die Krallen über Nicks Handgelenk. Er riß seinen Arm zurück. Offenbar hatte er sich eine nicht zu gestattende Freiheit erlaubt. Ein warnendes Knurren bestätigte es ihm. Jeremiah schloß die Kiefer um den Hals des Vogels und verschwand damit in der Höhle. Nick war nicht sicher, was er denken sollte. Er beschloß, Linda zu fragen, ob sie das Gefühl hatte, daß der Pekinese sich ihr hier mitteilen konnte, wenn er es wollte. Er starrte immer noch Jeremiah nach, als Lady Diana hochkletterte. „Gibt es irgend etwas Neues?“ fragte sie. „Nichts, außer daß Jeremiah mit einem riesigen Vogel zurückgekommen ist.“ „Er ist recht nützlich, auch wenn es darum geht, die anderen zu wittern...“ „Den Herold ebenfalls?“ fragte Nick. „Was ist mit dem Herold?“ Ihre Stimme klang fast feindselig. „Weiß Jeremiah, wenn er in der Nähe ist?“ „Hm.“ Diese Frage kam unerwartet. „Ich weiß es nicht. Die anderen, ja. Aber der Herold... Weshalb interessiert Sie das so?“ „Ich habe über ihn nachgedacht. Er scheint unangreifbar zu sein.“ „Reden Sie doch mit Maude, was Jeremiah betrifft. Da kennt sie sich am besten aus. Ihr Essen wartet, beeilen Sie sich, ehe es kalt wird.“ „Ja, Mylady.“ Linda machte Küchendienst, und Mrs. Clapp streichelte Jeremiah und lobte ihn, weil er für die Bereicherung ihres Küchenzettels gesorgt hatte. Nick nahm sich einen Teller und trat an den Herd, wo Linda in einem Topf rührte. Lung saß neben ihr. Er hatte den Kopf ein wenig schief gelegt und schien die Flammen zu beobachten. „Linda, ist dir in letzter Zeit eine Veränderung an Lung aufgefallen?“ Linda füllte Nicks Teller. „Was meinst du damit?“ Bei der Nennung seines Namens hatte der Pekinese sich auf die Hinterbeine gesetzt. Jetzt hob er beide Vorderpfoten in die Luft und bellte kurz. „Hat...“ Nun, da er bereit war die Frage zu stellen, erschien das Ganze ihm unwahrscheinlich. Vermutlich hatte er aus Jeremiahs Reaktion mehr herausgelesen, als sie bedeutet hatte. Nein, das hatte er bestimmt nicht. Er schöpfte neuen Mut aus seiner wiedergekehrten Überzeugung und fuhr fort: „Hat Lung den Eindruck erweckt, als verstehe er, was du — nun, was du denkst?“ „Was ich denke?“ echote sie. Sie wandte ihren Blick von dem Hund ab und Nick zu. „Nein“, murmelte sie, wie zu sich selbst. „Du meinst diese Frage ernst, nicht wahr? Ich sagte schon einmal, daß Pekinesen sehr intelligent sind. Er hat mir schon immer begreiflich machen können, was er will.“ „Das ist es nicht, was ich meine...“ Sie unterbrach ihn. „Ich verstehe schon. Du meinst so etwas wie Telepathie. Hat Lung deine
Gedanken gelesen?“ Es klang nicht spöttisch, sondern hörbar interessiert. „Nein, aber Jeremiah, glaube ich.“ Sie schüttelte ungläubig den Kopf. „Das ist doch verrückt?“ Nick ließ nicht locker. „Du hast also keine Veränderung an Lung bemerkt?“ „Du meinst demnach, es könnte hier etwas geben, das Gedankenlesen oder dergleichen ermöglicht? Aber wieso dann nicht bei uns, sondern bei Tieren?“ „Das weiß ich nicht“, antwortete er ehrlich. Sie bückte sich und hob Lung, wie im Wald, so, daß seine Augen in gleicher Höhe mit ihren war, und fragte. „Lung, kannst du meine Gedanken lesen?“ Nick beobachtete sie. Meinte sie es ernst, oder trieb sie nur ihren Spott mit ihm? Linda konzentrierte sich auf des Pekinesen Augen. Der Hund schob den Kopf vor und schleckte ihr schnell über das Kinn. Das Mädchen stieß einen leisen Schrei aus und drückte den Hund so heftig an sich, daß er protestierend bellte. „Du — du hast recht. Lung kann es!“ „Wie hast du es herausgefunden?“ „Ich — ich... Nick, wir müssen fort von hier. Wir müssen heim.“ Sie war offenbar völlig verstört. Es war, als hätte sie in der kurzen Gedankenverbindung mit Lung etwas erfahren, das sie völlig verunsicherte. „Wir können jetzt nicht weg. Du weißt so gut wie ich, was draußen los ist.“ „Nick...“ Lindas Stimme wurde zum Wispern. „Hierbleiben können wir aber auch nicht mehr lange. Die Vorräte gehen zu Ende. Und was eine Floßfahrt betrifft...“ Der Ton ihrer Stimme verriet mehr als Worte, was sie davon hielt. „Nick, wer oder was immer all die Leute südwärts jagt, muß etwas sein, das alle bedroht. Wir — wir dürfen nicht hierbleiben!“ Das waren seine eigenen Gedanken. Aber würde sie auf seine einzige Alternative — die geheimnisvolle Stadt — eingehen? „Nick, wenn wir zum Jeep zurückkehrten, glaubst du, wir kämen wieder in unsere Welt?“ Er schüttelte den Kopf. „So viele verschwanden im Lauf der Zeit von der Abkürzung, doch nie ist auch nur einer zurückgekehrt, und ich bin sicher, daß es die meisten versucht haben.“ Sie drückte den Kopf ans weiche Fell des Pekinesen. „Nick, ich habe solche Angst, wie noch nie in meinem Leben.“ „Ich glaube, es geht uns allen so. Von mir weiß ich es jedenfalls sicher. Aber wir dürfen uns davon nicht unterkriegen lassen. Ich glaube, wenn man sich hier gehenläßt, ist alles verloren.“ „Ich fürchte, du hast recht Nick. Die anderen haben sich offenbar völlig im Griff und nehmen es einfach hin. Mrs. Clapp hält es für eine Art Prüfung ihres Glaubens, daß ein guter Mensch zu sein einem hilft. Das hat sie mir gesagt. Lady Diana hat sich ihr Leben lang für andere eingesetzt und durchgesetzt. Das hat mir auch Mrs. Clapp erzählt. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie vor irgend etwas Angst hat. Und Jean — weißt du, Nick, sie liebt Barry. Solange sie in seiner Nähe sein kann, ist für sie alles in Ordnung. Es schmerzt sie nur, daß er immer noch bloß an Rita denkt. Nein, Nick, keiner hat solche Angst wie ich. Und ich fürchte, daß ich vor Angst durchdrehen werde, und dann werden sie mich alle verachten...“ „Niemand würde dich deshalb verachten, Linda.“ Nick bemühte sich um die richtigen Worte. „Und du täuschst dich, Linda. Wenn du imstande wärst, ihre Gedanken zu lesen, wüßtest du, daß auch ihre Beherrschung Grenzen hat, die sie bloß noch nicht erreicht haben. Wolltest du sagen, daß wir zwei allein weggehen sollen? Aber wir haben hier eine viel bessere Chance, zumindest einstweilen.“ „Ja, wahrscheinlich hast du recht“, murmelte sie dumpf. „Aber was ist, wenn unsere Vorräte zu Ende sind?“ Ehe er seine Worte überlegte, hatte er schon gesagt: „Nun, da ist immer noch die Stadt...“ „Die Stadt? Was willst du damit sagen?“ „Daß wir in ihr wirklich sicher wären — zumindest vor den UFOs.“ Da er bereits so weit
gegangen war, wollte er auch ihre Reaktion auf seine Idee erfahren. „Angenommen, wir könnten in die Stadt gelangen...“ „Das ist doch einfach. Wir brauchten nur das Angebot des Herolds annehmen, wie Rita es getan hat. Aber so wie sie darüber reden, muß was Furchtbares mit einem passieren, wenn man es tut.“ „Ich habe nicht das Angebot gemeint. Aber wenn wir dem Herold irgendwie folgen. Oder aus ihm herausbekommen könnten, wie es zu schaffen wäre.“ Nicks Plan war noch völlig unausgegoren. „Ich glaube nicht, daß das möglich wäre. Du willst doch nicht wirklich so was versuchen?“ „Wie könnte ich?“ Nick zuckte verärgert über ihre Reaktion die Schultern. „Im Augenblick sehe ich keine Chance.“ „Natürlich nicht.“ Sie wandte ihm den Rücken zu und machte sich daran, Mrs. Clapp beim Rupfen des Vogels zu helfen. Nick aß seinen Eintopf, dann spülte er den Teller mit Wasser aus, das in einer Nische aus der Wand und in einen in den Boden gehauenen Trog rann. Er kehrte nicht zur Höhlenmitte zurück, sondern ging zu einem Schlitz, der zu einer Nebenhöhle führte, von der aus man durch einen Gang zu einer sehr engen Öffnung in die Außenwelt gelangen konnte. Doch schon der Schlitz war für einen Mann von Strouds Statur zu eng. Nick jedoch konnte sich hindurchzwängen. Er wollte jetzt niemanden sehen und mit seinen Gedanken allein sein. Er folgte dem Höhlengang und kam zu der winzigen Öffnung, aber als er die Hand hindurchstreckte, um sich aufzustützen, gaben unter seinem Gewicht Steine und Erde nach. Er schaltete seine Taschenlampe ein und sah, daß viele Steine nur provisorisch eingefügt worden waren, um eine einst viel größere Öffnung zu verschließen. Dadurch, daß einige hereingefallen waren, steckten sie jetzt nicht mehr so fest und ließen sich mit ein bißchen Mühe herausziehen. Als die Öffnung groß genug für ihn war, wand Nick sich hindurch. Auf. Hände und Knie gestützt, schaute er den Hang hinunter. Eine Wolke hatte sich vor die Sonne geschoben, doch es gelang ihr nicht, die leuchtende Farbenpracht am Hang zu mindern. Nicks vielleicht gefährlichster Wunsch schien in Erfüllung zu gehen: der Herold war hier!
10. Nicks erster Impuls war, zurück in die Höhle zu tauchen. Doch dazu war es bereits zu spät. Er wußte, daß der Herold ihn gesehen hatte. Und er wollte diesen Hintereingang zur Höhle nicht verraten. Also entfernte er sich davon und blickte dem Fremden entgegen. In seinen Augen war es der gleiche Herold, den er über den Kamm zur Stadt hatte reiten sehen. Der Mann (wenn es überhaupt einer war) war so groß wie er selbst, doch etwas schlanker. Sein grünes Beinkleid wirkte stumpf verglichen mit der Farbenpracht des bestickten Wamses. Es war in vier Viertel geteilt, jedes mit einem anderen Muster, über jeder Schulter hing ein kleines Halbcape mit den gleichen Mustern in Miniaturausgabe. Seine Kappe, deren vier Ecken spitz aufragten, wurde durch einen Goldreif, einer schmalen Krone gleich, versteift. Sein Gesicht war ausdruckslos und seine Haut so weiß, daß der dünne Schnurrbart an den Mundwinkeln wie mit Tinte gezeichnet wirkte. Nachdem er sah, daß Nick auf ihn zukam, ging er ihm mit geschmeidigem Gang entgegen. Erst als nur noch eine Armlänge sie trennte, blieben beide stehen. Die ganze Zeit war des Herolds Gesicht unbewegt geblieben, und er hatte auch kein einziges Wort gesagt. Wie er jetzt sprach, kam es l für Nick so überraschend, als rede eine bemalte Marionette. „Ich bin Avalon.“ „Ich bin Nicholas Shaw“, antwortete Nick so förmlich, wie er es für die Situation richtig fand. Der Herold neigte knapp den Kopf. „Sei dem, was von Avalon, Tara, Broceliande und Carnac ist, willkommen, Nicholas Shaw, wenn das dein freier Wille und deine Entscheidung ist.“ Das war es also, das Angebot! dachte Nick. Er mußte Zeit schinden, mußte versuchen zu erfahren, was er nur konnte, und dem Herold nicht sofort eine Absage erteilen. Doch ein solches Spiel mit diesem Fremden zu spielen, dürfte nicht leicht sein. „Das hier ist kein Land, in dem man sich willkommen fühlen kann.“ Er suchte nach Worten, die ihm vielleicht einige der gewünschten Antworten bringen mochten. „Ich habe Dinge gesehen, die gefährlicher sind als alle, die man in meiner Welt kennt.“ „Dies ist ein Land von Fremden. Jene, die es anerkennen, werden feststellen, daß es sie anerkennt, und dann gibt es für sie die Gefahren nicht mehr, von denen zu sprichst.“ „Und wie geht dieses Anerkennen von sich?“ Avalon holte eine runde Dose aus seinem Wams hervor und öffnete sie. Ein goldener Apfel lag in ihr, der auf einer Seite eine leicht rötliche Färbung hatte. Von ihm oder der Dose stieg ein verlockender Duft auf, so betörend wie der Anblick der Frucht. „Du brauchst nur davon zu essen, denn es ist von Avalon. So gelangt Avalon in dich und du bist Teil davon, so wie es Teil von dir ist. Wenn du Avalon so aufgenommen hast, hast du ein Recht auf alles, was es zu bieten hat.“ „Ich habe gehört“, sagte Nick vorsichtig, aber voll Hoffnung, wenigstens ein bißchen etwas zu erfahren, „wenn man das tut, wenn man ein Teil Avalons wird, daß jeder dadurch von seiner Vergangenheit getrennt wird und nicht mehr derselbe ist, der man zuvor war...“ Der Gesichtsausdruck des Herolds veränderte sich nicht. „Man muß Entscheidungen treffen und jede verändert einen ein bißchen. So ist das Leben, daran ist nicht zu rütteln. Wenn du fürchtest, was Avalon zu bieten hat, triffst du deine Entscheidung, an die du dich halten mußt. Es gibt solche, die nicht Teil des Landes werden wollen und die das Land deshalb ablehnt. Sie werden nichts Gutes von ihm bekommen und auch keinen Frieden finden.“ „Dann herrscht also Frieden in Avalon?“ Nick versuchte, Unglauben in seine Stimme zu legen. „Was ich hier erlebt habe, deutet nicht darauf hin. Ich habe gesehen, wie Menschen von anderen gefangen wurden. Ich habe Wanderer gesehen, die nirgendwo ein Zuhause finden.“
„Es war ihre Entscheidung, Avalon abzulehnen, deshalb lehnt Avalon sie ab. Sie bleiben wurzellos, obdachlos. Und der Tag kommt, da sie erkennen werden, daß sie ohne Wurzel, ohne Obdach, verloren sind.“ „Jene, die wahrlich von Avalon sind, werden sich gegen sie wenden?“ fragte Nick. Waren die Worte des anderen eine Warnung oder eine Drohung gewesen? „Das nicht. Avalon ist keines Menschen Feind. Es ist ein Ort des Friedens und der Zuflucht. Doch für die außerhalb kommen Finsternis und Übel. Das geschieht nicht das erstemal. Das Böse brandet gegen das Land. Wo es gegen Avalon, Tara, Broceliande und Carnac stößt, ist es hilflos. Es kann ihre Mauern nicht überfluten. Für die außerhalb der Mauern besteht unbeschreibliche Gefahr. Das Böse hat seine Gezeiten. Nunmehr ist der Beginn der Flut.“ „Ist es dieses Böse, das meinesgleichen überhaupt erst nach Avalon bringt?“ „Fragen wie diese werden nicht von mir beantwortet, Nicholas Shaw. Erkenne Avalon an, und du wirst es verstehen.“ „Ich kann mich nicht sofort entscheiden...“, zögerte Nick es hinaus. Wieder neigte der Herold knapp den Kopf. „Das verstehe ich, denn eurer Rasse sind klare Gedanken nicht gegeben. Entscheidungen fallen euch schwer. Ich werde dich wiedersehen.“ Er schloß die Dose, schob sie wieder in sein Wams, drehte sich um und schritt mit seinem gleitenden Gang so schnell davon, daß Nick nicht mit ihm Schritt halten konnte. Aber er war entschlossen, ihm zumindest ein Stück zu folgen. Nick bahnte sich einen Weg durch das Dickicht und bemühte sich, das leuchtende Wams nicht aus den Augen zu verlieren. Er dachte über Avalons Worte nach. Offenbar nannte der Herold sich nach dem Land. Und hatte er gedroht, oder ihn nur darauf aufmerksam gemacht, daß große Gefahr für jene bevorstand, die nicht durch das Volk geschützt waren? Die Massenwanderung bewies die Wahrheit seiner Worte. Und Nick selbst hatte gesehen, wie sicher der Herold und die Stadt vor Angriffen, zumindest durch die UFOs, waren. Andererseits war da das Grauen der Engländer, wenn sie von der Veränderung sprachen, obgleich Nick den Grund dafür immer noch nicht richtig kannte. Der Herold war plötzlich stehengeblieben. Hastig suchte Nick Deckung hinter einem Busch. Jemand erhob sich aus einem Dickicht und stellte sich vor den Herold mit einer Stange, an deren Spitze ein Kruzifix aus stumpfen Metall befestigt war. „Dämon!“ Die Gestalt schlug die Stange auf des Herolds Kopf hinab. Aber Avalon war bereits verschwunden, ehe sie ihn treffen konnte. „Stehenbleiben!“ Etwas Scharfes drückte gegen Nicks Rückgrat, und ein übelkeiterregender Gestank drang in seine Nase. Der Angreifer des Herolds stocherte mit seiner Kreuzstange in den Büschen ringsum und schrie mit hoher Stimme Worte, die Nick nicht verstehen konnte. Jedenfalls war er sichtlich wütend und zugleich verblüfft. Der Mann hinter Nick rief ihn, und schließlich hörte er nach dem Herold zu suchen auf und kam heran. Jetzt sah Nick, daß er eine Mönchskutte trug und seine Augen den Fanatiker verrieten. „Hoch!“ Nick spürte einen Schmerz im Rücken und stand auf. Er hätte sich ohrfeigen können, weil er nicht besser aufgepaßt hatte. Der Mönch stieß sein Gesicht dicht vor Nicks. Fauliger Atem schlug ihm entgegen und ein umwerfender Körpergeruch. Die fanatischen Augen strichen über Nick. „Dämon!“ Er hob sein Kreuz, und weil Nick befürchtete, er würde es ihm auf den Schädel schlagen, wich er hastig seitwärts aus. Dafür bekam er von dem Mann hinter ihm einen Hieb gegen die Schläfe, daß er halb betäubt auf die Knie sank. Die beiden Männer redeten aufeinander ein, dann packte eine Hand sein Haar und hielt seinen Kopf so, daß er ihn nicht bewegen konnte. Nun drückte der Mönch die Spitze des Kreuzes schmerzhaft durch die Haut auf seiner Stirn. Einen langen Moment hielt er sie so, dann zog er sie fort und begutachtete Nicks Stirn. Er schien enttäuscht zu sein und erteilte dem anderen Befehle. Der riß Nick auf die Füße und
band ihm die Hände auf den Rücken. Dann trat der Mann vor ihn. Er hatte Strouds Statur, aber ansonsten nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem ehemaligen Luftschutzwart. Sein Gesicht war zum größten Teil unter einem verfilzten Bart verborgen, und selbst die Nase war nicht zu sehen, denn sie steckte unter einem Metallstück, das zu dem rostigen und eingebeulten Helm auf seinem Kopf gehörte, über Lederunterkleidung, die so alt und schmutzig war, daß sie fast schwarz wirkte, trug er eine ebenfalls rostige Kettenrüstung. Seine O-Beine steckten in einer hautengen, aber löchrigen Hose und in Stiefeln, die der völligen Auflösung nahe waren. Aber er war bewaffnet. Von seinem Waffengürtel hing ein Schwert, einen Dolch, so lang wie Nicks Unterarm, hielt er in der Rechten, und über die Schulter ragte ein Stück von einer Armbrust. Und nun setzte er den Dolch an Nicks Kehle an. Der Mönch schüttelte jedoch den Kopf mit ruckartiger Heftigkeit, die alle seine Bewegungen kennzeichnete, und sagte etwas. Der andere antwortete mit zahnlückigem Grinsen. Er packte Nick an der Schulter und stieß ihn hinter dem Mönch her, der, mit seiner Kreuzstange wie ein Banner erhoben, voraushumpelte. An einem Bach auf einer Lichtung wartete der Rest dieses Wanderertrupps. Drei waren ebenfalls Soldaten und dem Bärtigen so ähnlich, daß sie seine Brüder hätten sein können. Doch nicht sie waren es, die hier das Sagen hatten. Die Befehlsgewalt teilten sich ganz offenbar der Mönch und seine Frau, die mit dem Rücken gegen einen Stein gelehnt im Gras saß und ein Stück halbrohen Fleisches von einem Stock riß, an dem es über einem Feuer briet. Fett glänzte an ihrem Kinn und tropfte auf das geschnürte Mieder ihres Gewands, wo es sich mit dem vieler früherer Mahlzeiten vereinte. Eine graue Schmutzschicht überzog ihre Haut, und ihre unordentlich geflochtenen Zöpfe klebten von Fett. Trotz des Dreckes war jedoch zu erkennen, daß ihre Züge feingeschnitten waren, und sauber und gepflegt, wäre sie sogar auf Nicks Welt als Schönheit bewundert worden. Selbst der Schmutz auf ihrem Kleid konnte die feine Stickerei nicht ganz verbergen, und ihr Gürtel, sowie die Ringe an jedem Finger, selbst an den Daumen, waren mit Edelsteinen besetzt. Ihren Kopf krönte ein Goldreifen mit einem stumpfblauen Stein oberhalb der Stirn. Sie sah aus wie eine völlig verwahrloste Prinzessin aus einem Märchenbuch. Bei Nicks Anblick warf sie den Knochen weg, an dem sie gekaut hatte, richtete sich höher auf, deutete auf ihn und sagte etwas mit gebieterischer Stimme, das er nicht verstand, obwohl manche Worte vertraut klangen. Als er nicht antwortete, versetzte der Bärtige ihm einen groben Puff. Der Mönch winkte dem Soldaten ab und sagte etwas, das sehr scharf klang. Der hinterhältig belustigte Gesichtsausdruck der Frau wich sichtlicher Enttäuschung. Sie zuckte die Schultern und deutete. Ein Soldat beeilte sich, ihr einen neuen Fleischspieß zu bringen. Der Mönch stellte sich dicht vor Nick und redete langsam und betont auf ihn ein. Nick verstand kein Wort und schüttelte den Kopf. Der Bärtige wandte sich respektvollen Tones an den Mönch, und als dieser nickte, an Nick. „Wer — du?“ Es war ein grauenvoller Akzent, aber zumindest verständlich. „Nicholas Shaw — und du?“ Der Soldat grinste boshaft. „Egal. Du Höllenbrut.“ Er spuckte ihm vor die Füße. „Dämonen — verstehen? Sie uns geben Schwert — wir dir geben Schwert.“ Nun redete der Mönch heftig auf den Bärtigen ein. Die Frau leckte ihre Finger ab und unterbrach ihn. Die vier Soldaten lachten laut. Da wirbelte der Mönch zu ihr herum und fuchtelte mit seiner Kreuzstange. Sie lächelte spöttisch unter, seinem Wortschwall, während die Soldaten zu lachen aufhörten und Nick an einen Baumstamm banden. Der Mönch vergewisserte sich, daß die Stricke aus gedrehten Fellstreifen auch fest saßen, dann kehrten alle ans Feuer und zu dem Braten zurück. Der Bratenduft machte Nick hungrig, und ihm schien, es sei bereits eine Ewigkeit her, seit er Lindas Eintopf gegessen hatte. Mehr hatte er allerdings Durst, und das klare Wasser des
Baches zu sehen, erhöhte ihn im Lauf des Nachmittags noch. Es sah nicht so aus, als wäre diese Gruppe in Eile. Ein Soldat verschwand hinter dichtem Buschwerk und kehrte mit einem dürren Pferd und einem Maultier zurück und führte sie zum Tränken an den Bach und nach einer Weile wieder zurück. Der Mönch legte sich zum Schlafen in den Schatten, ohne die Kreuzstange aus der Hand zu lassen. Auch drei der Soldaten streckten sich aus, während der vierte Wache hielt und sich immer wieder hinter den Büschen umsah. Die Frau wischte sich die fettigen Finger im Gras ab, warf einen Blick auf die Schlafenden und Nick, dann summte sie vor sich hin und spielte mit einem ihrer langen Zöpfe. So, wie Nick die Brutalität der Soldaten und den Fanatismus des Mönches gespürt hatte, fühlte er jetzt das Böse in ihr. Nick war seine Reaktion gegenüber dieser Gruppe selbst ein Rätsel. Noch nie zuvor hatte er jemandem gegenüber eine solche Aversion empfunden und die merkwürdige Gewißheit, daß er ihre Gefühle, ihr Wesen, genau kannte. Es war wie seine Überzeugung, daß Jeremiah ihn genau verstand — ein Sinn, dessen er sich früher nicht bewußt gewesen war. Und gerade das erhöhte seine Furcht. Ohne Zweifel befand er sich in einer schlimmen Lage. Die Soldaten würden ihm ohne Gewissensbisse die Kehle durchschneiden, und die Frau würde es genießen. Er konnte sich nur einen Grund vorstellen, warum sie es noch nicht getan hatten. Sie hielten ihn als Geisel, weil sie sich durch ihn etwas von jenen erhofften, die sie Dämonen nannten. Und da der Mönch den Herold mit diesem Namen bedacht hatte, war für sie offenbar das Hügelvolk Dämonen. Es rann Nick kalt über den Rücken, denn was kümmerte es das Volk, wenn man ihn hier ermordete? Er hatte des Herolds Angebot ausgeschlagen — oder zumindest die Antwort hinausgezögert —, also fühlten die von Avalon sich auch nicht verantwortlich für ihn. Der Herold hatte es deutlich genug gesagt: Avalen schützte die Seinen, der Rest mußte mit seinem selbsterwählten Geschick allein fertig werden. Jetzt wünschte Nick sich, er hätte den Apfel angenommen. Was der Vikar mit seinem Gerede von Veränderung und einer Art Tod meinte, konnte nicht so schlimm sein wie diese Menschen hier. Aber er war sich auch seines Dickschädels bewußt, der nicht zulassen wollte, daß er sich zu einer Entscheidung drängen ließ, die er nicht von sich heraus getroffen hatte. Die Schlafenden schnarchten, einer lauter als der andere. Die Frau erteilte dem Wachtposten einen Befehl, woraufhin er sich zu den Tieren hinter dem Buschwerk begab. Sie schaute ihm nach, dann ging sie zum Bach. Sie füllte die Hände und kam schnellen Schrittes zu Nick. „Aqua...“ Sie streckte ihm die gefüllten Hände entgegen, aber nicht nahe genug, daß er hätte trinken können. Lateinisch! Sie hatte zumindest das lateinische Wort für Wasser benutzt! Sein Durst war qualvoll, nun, da Wasser so nahe war. Aber er traute ihr nicht. Er spürte, daß sie Mitleid überhaupt nicht kannte und nur ein böses Spiel mit ihm treiben wollte. Das Wasser tropfte auf sein Hemd. Er könnte seinen Kopf beugen und aus ihren Händen trinken. Doch etwas in ihm warnte ihn davor. Ihr Lächeln schwand. Sie warf ihm den Rest Wasser ins Gesicht, holte von dem Felsbrocken, an dem sie gesessen hatte, eine kleine Peitsche, deren schmutziger Stock mit grobgeschliffenen Steinen verziert war, und schlug sie ihm über das Gesicht. Nun lachte sie, denn trotz seiner Selbstbeherrschung hatte Nick vor Schmerz ächzend nach Luft geschnappt. Der Mönch war aufgewacht, hatte sich aufgesetzt und brüllte wütend. Dadurch aus dem Schlaf gerissen, sprangen die drei Soldaten auf, und der vierte rannte herbei. Die Frau blieb stehen und wartete, bis der Mönch zu brüllen aufhörte, dann antwortete sie mit beachtlicher Schärfe. Schließlich verließ sie Nick. Offenbar war es also der Mönch, der das letzte Wort hatte. Nick wünschte sich, er wüßte, was er mit ihm vorhatte. In der Höhle mußte man ihn inzwischen vermißt haben. Doch selbst wenn sie herausfanden, wie er sie verlassen hatte, würden sie nicht wissen, wohin er verschwunden war. Und sie
durften sich nicht ins Freie wagen. Er brauchte sich gar nicht erst Hoffnungen zu machen, daß er von ihnen befreit werden könnte. Immer wieder hatte er versucht, die Stricke um die Handgelenke zu lockern, aber inzwischen waren seine Finger taub, genau wie seine Beine, und nur die Stricke, mit denen er an den Stamm gebunden war, hielten ihn aufrecht. Er glaubte nicht, daß er davonlaufen könnte, selbst wenn er durch ein Wunder befreit würde. In der Abenddämmerung zündeten die Soldaten zusätzlich zu dem Feuer, das den ganzen Tag gebrannt hatte, in einiger Entfernung ein zweites an. Der Mönch band inzwischen aus trockenen Aststücken, die er sorgfältig ausgewählt und an denen er mit seinem Dolch herumgeschnitzt hatte, mit festem Gras mehrere Kreuze zusammen. Sie steckte er um Nick herum in den Boden, als wolle er damit eine Barriere errichten, und murmelte etwas dazu, aus dem Nick hin und wieder ein lateinisches Wort heraushörte. Danach berührte der Mönch jedes Holzkreuz mit dem metallenen Kruzifix am Ende seiner Stange, und sprach in leierndem Tonfall laut dazu. Die anderen hinter ihm fielen in sein Gebet, oder was immer es war, ein. Pferd und Maultier wurden zwischen die zwei Feuer gebracht, und ein Soldat hängte jedem um den dürren Hals einen Strick, an dem Metallstücke baumelten. Auch die Menschen begaben sich zwischen die zwei Feuer, und ein jeder hielt einen Dolch in der Hand, als erwarteten sie eine Belagerung. Der Mönch stieß die Kreuzstange in den Boden und blieb nicht allzuweit von Nick entfernt stehen. Ganz offensichtlich warteten sie auf etwas, und Nick lauschte angespannt, obgleich er nicht wußte, worauf. Allmählich wurde er sich eines übelkeitserregenden Gefühls bewußt, ähnlich dem Gestank, der von den Menschen zwischen den Feuern zu ihm drang, nur kam dieser Gestank nicht vom Körper, sondern vom inneren Wesen. Das war wieder ein Gefühl, das er früher nie gekannt hatte, und doch erkannte er es als das, was es war. Genau wie die Ausstrahlung des Bauernhauses wohltuend und beruhigend gewesen war, war die des sich Nähernden böse und angsteinflößend. Die Gruppe hier mußte es erwartet haben. Es war nicht von Avalon, dessen war Nick völlig sicher. Da hörte er ein schweres Trampeln in den Büschen und keuchenden Atem. Die fünf zwischen den Feuern hoben die Hände, daß das Eisen in ihren Fingern ganz deutlich zu sehen war. Der Mönch zog seine Kreuzstange aus dem Boden und hielt sie hoch, um damit zuschlagen zu können. Aus einem Busch links von Nick schaute etwas Grauweißes, Abscheuliches: der Schädel eines Alptraumwesens mit scharfen Fängen. Eine Schlange, oder vielmehr etwas mit einem Schlangenkörper, kroch aus einer anderen Richtung herbei, sein Kopf war jedoch der einer Frau. Als es näherkam, zischte es Worte, die die Menschen zwischen den Feuern verstanden haben mußten, denn trotz seines sichtlichen Grauens sprang ein Soldat mit einem Wutschrei herbei und stieß seinen Dolch in den Schlangenkörper hinter dem lächelnden Frauengesicht. Doch keine Wunde war erkennbar. Mit einem Wimmern wich der Mann zurück, vergaß seinen Dolch und drückte die Hände auf die Augen. Die Schlangenfrau rollte sich zusammen und schnellte den Kopf vor, bis der Mönch mit der Stange nach ihr schlug und sie plötzlich verschwand. Das war nur der Anfang der Belagerung.
11. Einige Ungeheuer stapften auf allen vieren herbei, andere waren von humanoider Gestalt. Sie zischten, brüllten, spuckten, riefen, drohten und zogen sich wieder in die Dunkelheit zurück, um neuen Platz zu machen. Bisher hatte noch keines dieser Monster die Gruppe zwischen den Feuern angegriffen. Aber allein ihr Anblick schlug sich auf das Gemüt, und es war unverkennbar, daß die Nerven der Menschen überstrapaziert waren. Als eine Kreatur mit Ziegenschädel, aber durchaus menschlichem Körper, allerdings mit Schwanz und Hufen, ins Licht gehüpft kam, herumsprang und den Menschen winkte, warf ein Soldat die Arme über den Kopf und heulte wie ein Hund. Der Bärtige, der Nick gefangengenommen hatte, schlug seinen Kameraden zu Boden, wo er wimmernd liegenblieb. Der Ziegenmensch wieherte höhnisch, hopste hoch und schlug klackend die Hufe zusammen. Der Mönch stieß mit der Kreuzstange nach ihm. Das Wesen schrie schrill auf und wich zurück. Doch an seiner Statt sprang ein anderes mit menschlichem Körper herbei, der in goldenem Schein leuchtete. Aus seinen Schulterblättern wuchsen weiße Flügel und der Kopf einer Eule krönte ihn. Seine Linke ruhte leicht auf dem Rücken eines pferdegroßen Wolfes. „Andras!“ Der Mönch schien diese Erscheinung zu kennen. „Dämon!“ Wieder stieß er seine Kreuzstange vor. Nur war sein Angriff diesmal weniger wirkungsvoll. Aus dem Eulenschnabel drang ein Laut, der zunehmend anschwoll und im Kopf widerzuhallen schien. Nick glaubte, sein Schädel müsse unter diesem Schrei bersten. Seine Schmerzen wurden immer schlimmer und er mußte der Besinnungslosigkeit nahe gewesen sein, als er benommen sah, daß die Männer zwischen den Feuern ihre Waffen hatten fallen lassen, ja sogar den Fingern des Mönches war die Kreuzstange entglitten, und die Hände an ihre Ohren preßten. Ihre Mienen verrieten ihre Qualen, und sie taumelten vorwärts. Doch nicht auf den Eulenköpfigen kamen sie zu, der war inzwischen verschwunden. Nein, sie torkelten in die Büsche, von einer Kraft angezogen, der sie nicht widerstehen konnten. Auch Nick spürte diese Kraft und kämpfte gegen seine Bande an, die immer tiefer in sein Fleisch schnitten, während er versuchte, dem unwiderstehlichen Ruf zu folgen. Es gab keine Linderung des Schmerzes, wenn er nicht gehorchte. Nur konnte er es nicht — die Stricke hielten ihn fest. Die Menschen waren verschwunden. Das knochige Pferd und das nicht weniger dürre Maultier grasten, als wäre nichts geschehen. Und Nicks Kopf war wieder frei von Schmerzen, obgleich er aus weiter Ferne immer noch diesen grauenvollen Laut hörte. Was würde das Geschick jener sein, die ihm folgten? Er wußte es nicht, aber er glaubte nicht, daß auch nur einer der Gruppe zurückkehren würde. In seiner Benommenheit durch den Angriff dauerte es eine Weile, bis er begriff, daß er trotzdem nicht gerettet war. Zwar lagen die Dolche offen im Feuerschein, aber er konnte so wenig an sie heran, als befänden sie sich in seiner eigenen Welt. Er wurde sich eines Summens hoch über seinem Kopf bewußt. War es ein fliegendes Ungeheuer? Er legte den Kopf weit gegen die rauhe Rinde zurück, um zu sehen, was am Himmel über ihm vorüberflog. Nur ein flüchtiger Blick darauf war ihm vergönnt. Er genügte. Ein UFO brauste in die Richtung der Verschwundenen. War der unerträgliche Laut dazu bestimmt, die Menschen ins Freie zu locken, wo die aus den UFOs sie gefangennehmen konnten? Die Ungeheuer — die Gruppe hier schien sie gekannt zu haben, denn hatte nicht der Mönch dem Eulenköpfigen einen Namen gegeben? —, was hatten sie damit zu tun? Nun, jedenfalls konnten sie benutzt werden, die ausgewählten Opfer zu entwaffnen, wie er es selbst miterlebt hatte. Wenn die UFO-Leute ihre Gefangenen gemacht hatten, würden sie von ihm erfahren — falls
sie es nicht bereits wußten und ihn in seinen Banden für sicher hielten. Er mußte freikommen! In diesem Augenblick fürchtete Nick die UFO-Leute mehr als die Ungeheuer, die er heute nacht gesehen hatte, denn sie mochten Illusionen sein. Die UFOs dagegen waren zweifellos echt. Doch wie könnte er sich befreien? An die Dolche kam er nicht heran. Und selbst, wenn er nach ihnen rief, würden die Engländer ihn nicht hören können. Und der Herold... Der Herold! Nick stellte ihn sich vor, wie er ihm gegenübergestanden hatte. Seine Furcht schwand. Auch der Gestank des Bösen war nicht mehr. Um ihn war wohltuende frische Waldluft mit angenehmem Duft. Aber das UFO! Er mußte frei sein, ehe seine Besatzung hierherkommen konnte. Er konnte sich nicht selbst aus den Stricken befreien. Seine Hände und Füße waren taub. Doch trotz der Notwendigkeit, sich etwas einfallen zu lassen, sah Nick wieder den Herold vor sich. „Avalon!“ Wie von selbst entquoll seinen Lippen dieser Name. Das Pferd wieherte und warf den Kopf hoch. Das Maultier folgte seinem Beispiel. Beide blickten zu dem Baum, an den Nick gefesselt war. Und dann — war er da! Eine Illusion? Wenn ja, wirkte sie sehr stofflich. „Avalon?“ Würde der Herold ihn befreien, oder, da er sein Angebot nicht angenommen hatte, ihn seinem Schicksal überlassen? „Ich bin Avalon.“ „Kannst du — würdest du mich befreien?“ fragte Nick direkt. „Jeder muß sich selbst befreien. Die Freiheit steht offen. Die Entscheidung liegt allein bei dir.“ „Aber — ich kann mich nicht bewegen — ich könnte nicht einmal deinen kostbaren Apfel annehmen, wenn ich es wollte.“ Auch jetzt war des Herolds Gesicht unbewegt. Ein leuchtender Schein umgab ihn, der nicht von den Feuern kam. „Es gibt drei Arten von Freiheit.“ Avalon holte die Dose mit dem Apfel nicht hervor. „Die Freiheit des Körpers, die Freiheit des Verstandes und die Freiheit des Geistes. Ein Mensch braucht alle drei, wenn er wirklich frei sein will.“ Ärger regte sich in Nick. Ihm blieb nicht viel Zeit, und er konnte es sich nicht leisten, sie mit Philosophieren zu vergeuden. „Das befreit mich nicht von meinen Stricken.“ „Die Freiheit liegt in dir selbst“, entgegnete Avalon. „Genau wie in allen Lebewesen...“ Er drehte sich dem Pferd und Maultier zu. Beide hoben den Kopf, gingen mit größerer Munterkeit, als sie bisher bewiesen hatten, zu den Büschen, und schoben ihre Köpfe zwischen die Zweige und drehten und rieben sie sichtlich zielbewußt, bis die metallbehangenen Stricke um ihre Köpfe sich an den Zweigen verfingen und sie die Köpfe herausziehen konnten. Derart befreit, rannten sie zum Herold und senkten die Köpfe vor ihm. Er streckte die Hand aus, und ohne es unmittelbar zu berühren, fiel ihr Zaumzeug von ihnen ab. So waren sie frei von der Knechtschaft, die der Mensch ihnen auferlegt hatte. Trotzdem blieben sie ruhig stehen. Sie blickten den Herold an, und er sie, als tauschten sie Gedanken aus. Schließlich Wieherte das Pferd und das Maultier stieß einen seltsamen Laut hervor. Gemeinsam wandten sie sich um und trotteten in die Nacht hinaus. „Wenn du sie befreien kannst“, sagte Nick hitzig, „mußt du doch auch mich freilassen können!“ „Die Freiheit ist dein, nur du selbst kannst sie dir geben!“ Nick war nun überzeugt, daß ein Zweck in seinen Worten lag und. er ihn nicht bloß ärgern wollte. Pferd und Maultier hatten sich von dem „kalten Eisen“ befreien müssen, das die Menschen ihnen umgelegt hatten. Doch sein Kampf gegen die Fesseln hatten ihn lediglich
erschöpft. Er konnte sich nicht selbst befreien — das war unmöglich. „Wie?“ fragte er. Er erhielt keine Antwort. „Du hast es den Tieren verraten!“ sagte Nick anklagend. Trotzdem schwieg der Herold. Freiheit, die nur er selbst sich geben konnte? Vielleicht, weil er Avalons Angebot nicht angenommen hatte, konnte oder wollte der Herold ihm nicht helfen, außer mit solch undurchsichtigen Worten. Nick lehnte sich stützend noch dichter an den Stamm und versuchte zu überlegen. Zweifellos gab es eine Möglichkeit. Avalen quälte ihn bestimmt nicht aus irgendeinem nichtigen Grund. Und wenn es eine Möglichkeit gab, brauchte er den Willen, die Geduld und Intelligenz sie zu finden. Sich gegen die Fesseln zu stemmen, nutzte nichts. Er konnte keinen der Dolche erreichen, so nahe sie auch lagen. Was, also, blieb? Die Freiheit des Körpers hatte er nicht. Freiheit des Verstandes, Freiheit des Geistes — würde eine davon ihm helfen? Telepathie, Präkognition — es gab Kräfte des Geistes, übersinnliche Kräfte. Doch das waren Fähigkeiten, die nur wenige hatten. Die Dolche — vor seinen Augen — Freiheit des Verstandes... Avalen wartete. Von ihm konnte er nichts erwarten, dessen war Nick nun sicher. Was zu tun war, ließ sich einzig allein durch seinen eigenen Willen und seine eigene Kraft erreichen. Die Dolche — ihre Verwendung... Mit aller Konzentration, derer er imstande war starrte er auf den nächsten, den schmalen, der der Frau entglitten war. Klinge — Strick — ihr Zusammentreffen — gefolgt von Freiheit. Klinge — Strick... An nichts anderes durfte er denken. Klinge — Strick... Schweiß rann über Nicks Gesicht. Er fühlte sich merkwürdig, als ob ein Teil seines Ichs sich aus seinem Körper freizukämpfen versuchte. Ein Teil, das einer Hand gleich nach der Freiheit griff. Wenn er den Dolch nicht mit seiner Willenskraft bewegen konnte, wie war es dann mit seiner — Hand? Nick änderte seine Taktik. Eine Hand — ein Arm — frei in den Feuerschein greifend. Sein Körper gehorchte seinem Geist in manchen Dingen, würde er es auch jetzt? Etwas formte sich — dünn — nebelhaft — berührte den Dolch. Das verhinderte Eisen also nicht! Nick konzentrierte sich. Eine Hand, fünf Finger — Finger und Daumen, um sich um den Dolchgriff zu legen. Das graue Nebelding — schloß sich um den Griff. Nie in seinem Leben hatte er seine Willenskraft so auf etwas konzentriert wie jetzt. Der lange Nebelarm bog sich ihm zu. Die graue Dunsthand mit dem Dolch kam näher. Nick glaubte, sein Kopf müsse unter der Willensanstrengung bersten. Gleich hatte die Hand ihn erreicht. Nick war erschöpft wie nie in seinem Leben, aber wenn er sich jetzt von der Erschöpfung überwältigen ließ, war alles verloren! Die Klinge mußte ihm die Fessel durchschneiden! Seinen ganzen Willen steckte er in diesen Wunsch, nein, Befehl. Der Dolch sägte den Fellstrick. Wenn nur die Klinge scharf genug war! Daran durfte er jetzt nicht denken. Durchschneiden! Durchschneiden! Durchschneiden! Eine Schlinge fiel durchtrennt auf den Boden, mit ihr der Dolch. Mit aller Kraft, die noch in ihm steckte, zerrte Nick an der zweiten. Sie war offenbar auch angesägt und gab nach. Kopfüber stürzte er auf den Boden. Müde blieb er liegen und schaute sich nach Avalon um, doch der Herold war verschwunden. Vom Baum war Nick nun frei, doch noch waren seine Hände auf den Rücken gebunden und kaum weniger taub als seine Beine. Wieder versuchte er eine Geisterhand zu schaffen, seine Kräfte waren jedoch erschöpft. Nach einer kurzen Verschnaufpause kroch er zu dem Dolch. Mühsam gelang es ihm, ihn zwischen zwei Steinen zu verkeilen. Er drückte den Fellstrick darauf und bewegte die Handgelenke auf und ab, auf und ab. Er glaubte kaum noch, daß er es schaffen würde, bis seine Hände frei waren. Er wälzte sich herum, aber erst nach einer Weile gelang es, die Hand um den Dolch zu legen und ihn in seinen Gürtel zu stecken.
Die Gefahr war jedoch immer noch nicht gebannt, Die UFO-Leute durften ihn nicht finden, falls sie zurückkamen. Er schleppte sich zu einem dichteren Gestrüpp und kroch hinein. Sein Körper war völlig er schöpft, aber sein Geist hellwach. Er konnte nicht verstehen, was er vollbracht hatte. Es gab Naturgesetze die eine Handlung wie seine in seiner Welt unmöglich gemacht hätten. Hier jedoch schienen diese Gesetze nicht zu gelten. Der Herold hatte von drei Arten von Freiheit gesprochen. Nick hatte in dieser Nacht eine benutzt, um eine zweite zu erlangen — auf eine Weise die er nie für möglich gehalten hätte. Er schloß die Augen. Denk jetzt nicht darüber nach, wundere dich nicht. Entspanne dich... Eine heilende Ruhe hüllte ihn ein. Das so spürbare Böse war nicht mehr. Die Erde bildete eine Mulde unter ihm, nahm seinen schmerzenden Körper auf, wiegte ihn in Schlaf. Er erwachte langsam, nach und nach, hörte raschelndes Laub, freundliches Zwitschern. Er öffnete die Augen. Dicht über ihm waren Blätter, die fast sein Gesicht streiften. Er erinnerte sich, wie er hierhergekommen war. Sein Körper schmerzte und war steif. Rote brennende Striemen waren um seine Handgelenke. Trotzdem fühlte er sich frisch und wundervoll, als wären die Schmerzen seines Körpers unwichtig. Voll innerlicher Zufriedenheit blieb er noch liegen. Hier war nicht die gleiche Atmosphäre von Frieden und Sicherheit, wie er sie in dem verlassenen Bauernhof empfunden hatte. Die hier war fremdartig, aber freundlich. Ihm war, als wäre er über die Schwelle einer Tür getreten, die sich zu einem neuen, anderen Leben geöffnet hatte. Hunger und Durst erwachten. Er kroch aus seiner Zuflucht und taumelte auf die Füße. Ganz in der Nähe waren die schwarzen Holzkohlenreste der erloschenen Feuer, zwei Dolche, die Kreuzstange. Nick schwankte an dem Felsblock vorbei, an dem die Frau gesessen hatte, und ließ sich am Bachufer auf die Knie fallen. Dann beugte er den Kopf über das Wasser, tauchte das Gesicht hinein, trank durstig, und schließlich steckte er die angeschwollenen, brennenden Handgelenke in den Bach. Der Schmerz riß ihn aus seiner zufriedenen Schläfrigkeit. Der Sonne nach mußte es bald Mittag sein. Würde er seinen Weg zurück zur Höhle finden? Waren die UFOs wieder auf Suche? Hier schien jedenfalls niemand gewesen zu sein, seit er sich in dem Gestrüpp verkrochen hatte. Er erhob sich, sammelte die restlichen Dolche ein, die Stange mit dem Kreuz ließ er jedoch liegen. Forschend blickte er sich um. Er konnte nicht sagen, in welche Richtung er sich wenden mußte. Die Bäume würden ihm Deckung vor jagenden UFOs bieten, aber der Wald hatte auch seine eigenen Bewohner. Er könnte sich an den Bach halten, um sich nicht zu verirren, aber der Bach führte sicher nicht zur Höhle. Und er war entsetzlich hungrig... Der Gedanke an Fische im Wasser veranlaßte ihn dann auch, dem Bach zu folgen. Allerdings hatte er nicht die geringste Ahnung, wie er welche fangen könnte. Glücklicherweise stieß er bachaufwärts auf dicht behangene Beerenbüsche. Gierig zupfte er ganze Hände voll ab und schob sie sich in den Mund. Der schwarze Saft färbte seine Finger. Dem Geschmack nach waren es Brombeeren. Er bog um den dicken Bewuchs herum, ohne zu pflücken und zu essen aufzuhören, und hörte ein Schmatzen. Ein brauner pelziger Gesell saß mitten in den leicht dornigen Ruten und schlug sich den Bauch voll. Hastig wich Nick zurück. Glücklicherweise war der Bär — falls es ein Bär war! — viel zu beschäftigt, als daß er ihn bemerkt hätte. Durch seinen eiligen Rückzug stieß er gegen etwas, das erschrocken aufschrie. Nicht weniger erschrocken wirbelte Nick herum. Verärgert und angsterfüllt zugleich stand ihm... Nein, schon sprang das Geschöpf davon und verschwand hinter einem hohen Grasbüschel. Nick dachte gar nicht daran, ihm zu folgen, ja er war nicht einmal sicher, ob er ihn, der dagewesen war, genauer sehen wollte. Doch der Beweis, daß seine Augen ihn nicht getrogen hatten, war ein Körbchen fast unmittelbar vor seinen Füßen. Nick bückte sich danach. Es war gerade so groß, daß Nick zwei Finger unter seinen Henkel schieben konnte. Es war sehr hübsch aus zwei verschiedenen Grasarten geflochten.
Die Beeren, die herausgefallen waren, gab Nick behutsam wieder hinein und pflückte weitere, bis das Körbchen gehäuft voll war. Mit einem Blick auf das Grasbüschel stellte er es zurück auf den Boden, daß sein verärgerter Besitzer es gleich sehen konnte, wie er hoffte. „Es tut mir wirklich leid.“ Er sprach des Bären wegen sehr leise. Ohne sich noch einmal umzudrehen und zu sehen, ob der Beerensammler sich aus seinem Versteck hervorwagte, ging Nick weiter. Sein Staunen ließ allmählich nach. Der Vikar hatte oft genug davon gesprochen, daß viele aus den Märchen, Sagen und Fabeln seiner Welt bekannte Wesen hier zu Hause zu sein schienen. Er zweifelte nicht länger mehr, daß er einen niedlichen Mann oder zumindest ein Geschöpf von winzigern, aber humanoidem Körperbau in grünbraun gefleckter Kleidung gesehen hatte, die im Wald gute Tarnung bot. Ein Zwerg oder Elf... Nick wünschte sich, er wüßte mehr über das kleine Volk. Auf dieser Welt wäre es gut, wenn man sich mit den alten Mythen und Sagen auskannte. Hatte Hadlett mit seiner Annahme recht, daß das Volk, wie er es nannte, früher einmal auf ihrer Welt hatten ein- und ausgehen können, oder auch dort gefangen gewesen war, wie sie jetzt hier? Einige dieser Sagengestalten waren den Menschen wohlgesinnt gewesen, erinnerte sich Nick. Aber es hatte auch andere gegeben: böse Hexen, stupide Riesen, Drachen... Bei diesem Gedanken schmeckten ihm die Beeren gleich gar nicht mehr so gut. Er pflückte keine weiteren, sondern achtete jetzt mehr auf den Weg und schaute sich wachsam um. Wurde er beobachtet? Er würde bestimmt keinem des kleinen Volkes etwas Böses tun, aber konnten sie das wissen? Und dann mochten sich auch Wanderer herumtreiben, vielleicht genauso bösartige wie die, denen er entkommen war. Ihresgleichen waren zweifellos Feinde des kleinen Volkes. Die Frage war, konnten die Kleinen zwischen einem wie ihm und den wirklich Bösen unterscheiden, die sie fürchten mußten? Er hoffte für sie, daß sie einen gleichwertigen Schutz wie der Herold hatten. Seine Sympathie für den Kleinen, den er so erschreckt hatte, und seinesgleichen war groß. Der Herold — wohin war Avalon in der vergangenen Nacht verschwunden? Und warum hatte er ihn verlassen? Obgleich er ihm auf gewisse Weise einen Hinweis gegeben hatte, wie er sich befreien könnte, war er nicht geblieben. Wußte er, Nick, jetzt etwas, das seiner Gruppe helfen würde, sich zu schützen? Er suchte nach etwas, das ihm als Wegweiser dienen könnte. Er wollte zurück in die Höhle, wollte von seinen Erlebnissen erzählen. Sie mußten ihm glauben. Nach all dem Unmöglichen, mit dem sie selbst schon konfrontiert worden waren, würde das, was er zu sagen hatte, ihnen doch nicht als völlig unmöglich erscheinen. Er glaubte, daß er sich mehr nach links halten mußte. Der Wald war in dieser Richtung auch weniger dicht. Und so ging er darauf zu. Wieder hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden, doch niemand und nichts hielt ihn auf. Er fand sogar einen Wildpfad, auf dem er schnell in der gewünschten Richtung vorankam. Am Mittnachmittag erreichte er den Waldrand. Er schaute zum Himmel hoch. Es waren keine UFOs unterwegs, aber eine große Schar leuchtend buntgefiederter Vögel flogen mitten über der Ebene schreiend scheinbar ständig im Kreis, wie um etwas herum. Vorsichtshalber suchte Nick Deckung und beobachtete sie. Die Sonne schien hell, aber er konnte nichts sehen... Oder doch? War da nicht etwas, das himmelwärts strebte wie die Türme der wundersamen Stadt? Aber so durchscheinend mußte es sein, daß es fast unsichtbar war... Je länger Nick die Vögel beobachtete, desto überzeugter wurde er. Plötzlich flog die Vogelschar in einer langen Reihe erdwärts und ein Gefiederter nach dem ändern verschwand abrupt, wenn er den Punkt erreichte, wo — wie Nick nun sicher war — etwas stand. Er rieb sich die Augen. Tatsächlich stand etwas dort und wurde immer sichtbarer. Türme waren es, ähnlich denen der Stadt, nur kleiner und viel weniger. Und während sie stofflicher zu werden schienen, sah er, daß das Ganze eine Art Burg war, wie sie im Mittelalter auf seiner Erde üblich gewesen waren.
12. Nicht länger sah die Burg unwirklich aus, und sie hatte nichts von der Farbenpracht der Stadttürme, sondern schien aus dem hier üblichen weißgrauen Gestein erbaut zu sein. Während Nick sie beobachtete, senkte sich eine Zugbrücke herab, als wäre die Burg von einem Graben umgeben, über diese Brücke ritt eine buntgekleidete Gesellschaft. Ihr Führer war ganz offensichtlich ein Herold, das schloß Nick zumindest aus der Art seines Wamses. Paarweise folgten ihm vier Personen auf gleichen stelzenbeinigen Pferden. Ihre Wämser waren waldgrün und hatten nur ein Wappen auf der Brust aufgestickt, das jedoch aus dieser Entfernung nicht zu erkennen war. Obgleich sie keineswegs zu galoppieren schienen, kamen sie mit erstaunlicher Schnelligkeit näher. Nick trat aus seiner Deckung heraus. Er war sicher, daß ihm von ihnen keine Gefahr drohte, und er wollte soviel wie möglich über diesen kleinen Trupp und seine sichtbarunsichtbare Burg erfahren. Doch der Herold und seine Begleiter beachteten Nick überhaupt nicht, sie blickten mit unbewegter Miene geradeaus. Zwei des Trupps hatten schulterlanges Haar, und eine davon war Rita. Die beiden anderen, die nicht genauso wie der Herold waren, mochten ebenfalls Menschen gewesen sein wie die Engländerin. Nun, da sie näher waren, sah er auch die Stickerei, die er für Wappen gehalten hatte. Sie stellte jeweils einen Zweig dar. Ein Mann hatte einen Zweig mit deutlich erkennbaren Eichenblättern und Eicheln. Neben ihm ritt Rita mit ihrem Apfelbaumzweig. Das nächste Paar hatte Äste und Früchte, die Nick nicht erkannte. Da ihre Reittiere keine Hufe, sondern Pfoten hatten, waren sie kaum zu hören, und so wie ihre Reiter geradeaus blickten, hätten sie in einem Traum erstarrt sein können. Nick wollte ursprünglich eine Begegnung erzwingen, doch ihre offensichtliche Geistesabwesenheit hielt ihn davon ab. Ehe sie den Wald erreichten, schwangen ihre langbeinigen Pferde sich mit ihnen in die Lüfte. Als wäre das ein Signal, flog ein Paar großer weißer Vögel herbei, umkreiste die Schar zweimal und schoß schließlich voraus. Nick schaute ihnen nach, bis sie aus seinem Blickfeld verschwanden. Dann drehte er sich wieder der Burg zu. Er hatte fast erwartet, daß sie wieder unsichtbar würde, doch in dem Zwielicht wirkte sie nun wirklicher als zuvor. Nur die Zugbrücke war wieder hochgezogen worden. Sollte er sich das Bauwerk näher ansehen? „Nicholas!“ Er wirbelte herum zu dem Busch, aus dem das Flüstern gekommen sein mußte, und unwillkürlich legte er die Hand um den Dolchgriff. Vorsichtig hob sich ein dichtbelaubter Zweig, und des Vikars Gesicht schaute darunter hervor. Erleichtert nahm Nick die Hand vom Dolch und ging auf den Busch zu, hinter dem sich neben Hadlett auch Crocker versteckt hatte. „Wie haben Sie mich gefunden?“ staunte er. „Wo waren Sie“, fragte der Vikar besorgt. Und gleichzeitig: „Wo warst du?“ scharf und verärgert Crockers Stimme. Doch des Vikars Hand schloß sich beruhigend um Nicks Arm. „Wir sind froh, daß wir Sie gefunden haben!“ „Was ist passiert?“ Crocker klang immer noch aggressiv. Nick stellte fest, daß es erstaunlich schnell dunkel wurde. Am Himmel ballten sich Wolken und am Horizont zuckten Blitze. „Ich wurde von Wanderern gefangengenommen.“ In groben Zügen berichtete er, was geschehen war. Dem Vikar gegenüber würde er es in Einzelheiten erzählen, aber das Benehmen des Piloten ihm gegenüber war bisher nicht so gewesen, daß er sich ihm anvertrauen wollte. Nick hatte zwar des Herolds Angebot nicht angenommen,
trotzdem war er sicher, daß er nicht mehr derselbe war, wie er in seiner eigenen Welt gewesen war. Und wenn die Engländer in Veränderungen eine Bedrohung sahen und einen Grund, einen Veränderten auszustoßen, wollte er Crocker nicht unbedingt einen guten Grund geben, ihn fortzutreiben. „Wir sollten uns schnell einen Unterschlupf suchen“, meinte Hadlett. „Das Gewitter wird gleich hier sein.“ „Dort drüben, vielleicht?“ Crocker deutete auf die Burg. Es sah aus, als brannten Lampen hinter einigen Fenstern. Nick fragte sich, ob die beiden ebenfalls miterlebt hatten, wie das Bauwerk scheinbar aus leerer Luft aufgetaucht war. Doch so sehr die Burg ihn interessierte, fühlte er sich von ihr nicht angezogen wie von der Stadt. Hadlett ignorierte Crocker. „Ich weiß einen, den wir vielleicht noch erreichen können, ehe wir durchgeweicht werden.“ Mit eiligen Schritten ging er voraus. Ein riesiger Baum war umgekippt, und Ranken hatten seine gewaltigen Wurzeln umwuchert. Die drei schlüpften hinter diesen Pflanzenvorhang und waren einigermaßen, wenn auch nicht ganz vor dem Wolkenbruch geschützt, der kurz danach einsetzte. „Erzähl mal genauer von denen, die dich eingefangen hatten“, forderte Crocker Nick unfreundlich auf. Der Vikar interessierte sich besonders für den Mönch und stellte einige Fragen über ihn. Als Nick dann von den Ungeheuern erzählte, die sie belagert hatten, unterbrach der Pilot ihn spöttisch. „Eine Schlange mit Frauenkopf? Ein Menschen wesen mit Eulenkopf? Du erwartest doch nicht, daß wir dir glau...“ „Lamia — und Andras“, unterbrach der Vikar ihn. „Die Lamia — ein Schlangendämon — ist in der alten Kirchenmythologie wohlbekannt. Und Andras...“ Nun unterbrach Nick ihn. „So hat ihn auch der Mönch genannt.“ „Der Höllenfürst Andras lehrt seine Günstlinge das Töten. Er befehligt dreißig Legionen der Heerscharen der Verdammten.“ Es hörte sich an, als lese der Vikar einen Bericht. „Aber Sie glauben doch nicht wirklich...“, rief Crocker. „Ich nicht, genausowenig wie Sie, Barry. Aber wenn man an sie glaubte, was gäbe es für einen besseren Ort, sie als Bedrohung zu sehen?“ „Sie meinen, daß man durch seine eigene Furcht vor ihnen solche Alptraumwesen hier möglich macht?“ fragte Nick nachdenklich. „Ich vermute es. Und wenn das stimmt, müßten sich auch die Mächte des Guten rufen lassen. Doch finden die Menschen es einfacher, an die Existenz des Bösen als an das wahrhaft Gute zu glauben. Das ist unser Fluch. Für diese armen Teufel ist es die Hölle, doch sie selbst haben sie für sich erschaffen.“ „Sie waren böse.“ Das war ein Ausdruck, den Nick in seiner Welt kaum benutzt hätte. „Sie haben sie nicht gesehen, aber ich sage Ihnen, diese Frau war — nun, mir fällt kein besseres Wort als Teufelin ein. Der Mönch seinerseits war ein absoluter Fanatiker. Es hätte ihm eine heilige Zufriedenheit beschert, Ketzer höchstpersönlich auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen. Die anderen waren Schlägertypen, denen es eine sadistische Freude bereitet, jemanden fertigzumachen.“ Crocker hatte offenbar seinen eigenen Gedanken nachgehangen. „Vikar“, sagte er, „wenn sie an Ungeheuer und Teufel glaubten und sie auch sahen, heißt das, daß wir durch unsere Gedanken Ähnliches herbeibeschwören könnten?“ „Es wäre möglich. Aber wir stammen aus einem anderen Zeitalter. Unsere Teufel sind nicht die des Aberglaubens. Das Böse unserer Zeit ist unpersönlich, doch deshalb nicht weniger schlimm. Es sind die Sünden der Nationen, der Kriege, der Industrie, der fanatischen Bewegungen. Es sind quasi unpersönliche Teufel. Wir sagen ‘sie’ sind für dies oder das Übel verantwortlich. Doch ‘sie’ haben selten einen Namen, eine Verkörperung. Der Mönch war
dagegen sicher, daß seine Teufel eine Persönlichkeit, einen Namen, einen Status hatten. Und so erschienen sie ihm als das, was er sich vorstellte. Unsere Teufel können wir nicht herbeirufen, weil ihnen die Identität fehlt. Es gibt großes Übel in unserer Welt, hat es immer gegeben und wird es immer geben doch es verändert sein Äußeres mit dem Lauf der Zeit und ist für uns nicht mehr personifiziert.“ „Was ist mit Hitler?“ fragte Crocker. „Nun ja, in ihm hat unsere Generation einen Teufel. Wer ist es in Ihrer Zeit, Nicholas?“ „Niemand und nichts Bestimmtes, Mr. Hadlett.“ „Das ist ja alles sehr interessant“, sagte Crocker jetzt. „Aber wie bist du diesen Halunken entkommen. Hat einer ihrer Teufel dich losgebunden und sich dann in Rauch aufgelöst?“ Nick behagte diese Frage gar nicht. Zwar mußte man viel Unmögliches hier akzeptieren, aber würden die beiden ihm glauben? „Also, was ist passiert?“ fragte Crocker scharf. Er würde wohl die Wahrheit erzählen müssen, aber er hatte seine frühere Begegnung mit dem Herold nicht erwähnt. Das würde man ihm vielleicht falsch auslegen. „Sie sind aufgewühlt, Nicholas.“ Der Ton des Vikars war so beruhigend, wie der des Piloten aufreizend. „Etwas ist passiert, das zu erzählen Ihnen schwerfällt.“ „Es begann schon vor meiner Gefangennahme...“ Mit sich fast überschlagender Stimme berichtete Nick von seiner Begegnung mit Avalon, weil er befürchtete, sein Mut würde ihn wieder verlassen, wenn er es nicht schnell tat. „Wie waren diese Namen“, unterbrach ihn Hadlett an einem Punkt, der ihm selbst unbedeutend zu sein schien. „Avalon, Tara, Broceliande, Carnac.“ „Die großen heiligen Orte der keltischen Mythologie“, erklärte der Vikar. „Orte, die man noch heute für Zentren psychischer Macht hält. Allerdings wurde Avalon als einziger nie ganz identifiziert. Der Sage nach lag es im Westen. Herolde, die diese Namen tragen... Es muß demnach vier geben, und jeder trägt den Namen eines alten Ortes großer Macht auf unserer Welt — vielleicht waren sie einst die Tore zu dieser. Tara liegt in Irland, Carnac und Broceliande sind in der Bretagne, aber alle waren keltischen Ursprungs. Genau wie die Sagen über das Volk der Hügel ihren Ursprung in der keltischen Mythologie haben. Ich frage mich, wer der Oberherold hier ist — der Wappenkönig?“ „Was interessiert das uns?“ sagte Crocker grob. „Wir alle wissen, was der Herold ist und was er mit jemandem machen kann, der dumm genug ist, ihm zuzuhören. Du scheinst ihm ja ziemlich interessiert zugehört zu haben, Shaw. Was hat er dir angeboten? Genüg, dich für ihn zu entscheiden?“ Nick beherrschte sich. Er hatte Crockers Mißtrauen erwartet. „Er hat mir einen goldenen Apfel und Sicherheit auf dieser Welt angeboten. Er prophezeite große Gefahr, wie sie schon früher in bestimmten Abständen diese Welt bedrohte, und die jetzt einen neuen Angriff beginnt. Nach seinen Worten finden nur die, die Avalon anerkennen, Schutz vor ihr.“ „Ein goldener Apfel“, murmelte Hadlett nachdenklich. „Ja, auch das ist symbolisch.“ „Und tödlich! Vergessen Sie das nicht, Vikar! Tödlich!“ „Ja.“ Aber Hadletts Stimme klang seltsam. „Du bist also diesem Avalon begegnet — und was geschah dann? Haben deine Halunken auch ihn geschnappt?“ fragte Crocker Nick. „Sie haben es versucht, oder vielmehr, der Mönch hat versucht ihn umzubringen.“ Nick erzählte von dem vergeblichen Angriff des Wanderers mit der Kreuzstange und vom plötzlichen Verschwinden des Herolds. „So haben sie dich also erwischt. Vielleicht erklärst du jetzt, wie du freigekommen bist!“ Nick erzählte es wahrheitsgetreu und auch alles Weitere bis zum Auftauchen der mittelalterlichen Burg und dem Ausritt des Herolds mit seinen vier Begleitern.
Erst jetzt stellte der Vikar ihm eine Frage, doch keine über seine Selbstbefreiung, wie er erwartet hatte, sondern über die gestickten Symbole auf den grünen Wämsern von Avalons Gefolge. „Eiche und Apfel“, echote Hadlett, „und zwei mit weißen oder silbernen Blüten. Die beiden ersteren sind die uralten Symbole der Macht. Die beiden anderen — ich frage mich... Aber ich müßte sie sehen. Weißdorn? Erle? Es ist erstaunlich! Der alte, alte Glauben...“ „Ich finde es erstaunlich, daß du noch hier bist, Shaw“, sagte Crocker gehässig. „Du hast doch den Apfel genommen, oder?“ Nick hatte mit dieser Beschuldigung gerechnet. Wie konnte er beweisen, daß er zu Unrecht verdächtigt wurde? „Weise ich vielleicht Zeichen der Veränderungen auf, die Sie erwähnten, Mr. Hadlett“, wandte er sich an den Vikar, nicht an Crocker. „Veränderungen — welche Veränderungen?“ fragte Hadlett geistesabwesend. „Die Veränderungen derer, die des Herolds Angebot annehmen. Ich habe es nicht. Soll ich es Ihnen schwören? Oder gibt es eine Möglichkeit, daß Sie sich selbst davon überzeugen können. Sie haben mit diesen Dingen mehr Erfahrung als ich. Was mit mir passiert ist, als ich mich befreite, kann ich nicht erklären. Der Herold sprach von drei Arten von Freiheit, und ich versuchte nur zu benutzen, was ich glaubte, daß er gemeint hat. Und es funktionierte, aber ich weiß nicht wie oder warum. Aber — ich — habe — den — Apfel — nicht — genommen.“ Crocker würde ihm vielleicht trotzdem nicht glauben, doch Nick hoffte, daß der Vikar es tat. „Die Veränderungen“, wiederholte Hadlett erneut. „Ah ja, Sie beziehen sich auf unser früheres Gespräch.“ Für Nick klang Hadlett immer noch seltsam abwesend, als wären Veränderungen kein Problem, das ihn beschäftigte. Doch Nick wollte den Vikar unbedingt auf seiner Seite haben, ehe sie zu den anderen zurückkehrten. Crockers Verdacht würde vom Rest vermutlich aufgegriffen werden. Half ihm jedoch Hadlett, dann hatte er eine große Stütze. „Ich glaube Ihnen, Nicholas.“ Solange hatte der Vikar geschwiegen, daß Nick schon mit dem Schlimmsten gerechnet hatte. „Ich glaube auch, daß das, was Sie bei Ihren verschiedenen Begegnungen erfahren haben, von großem Nutzen für uns sein kann“, fuhr der Vikar fort. „Ich fürchte, wir werden die Nacht über hierbleiben müssen, doch je schneller wir uns mit den anderen besprechen können, desto besser.“ Trotz des tobenden Sturms und der Enge ihres Unterschlupfs schliefen alle drei ein. Und als sie am Morgen zurückkehrten, stellte Nick zu seinem Erstaunen fest, daß sie gar nicht so weit von der Höhle entfernt gewesen waren, wie er befürchtet hatte. Lady Diana stand Posten, als sie ankamen. „Ah, ihr habt ihn also gefunden! Und Sie sehen mir gar nicht so mitgenommen aus, wie wir erwartet hatten, junger Mann“, wandte sie sich nicht sonderlich freundlich an Nick, und dann gleich an Hadlett: „Adrian, du bist ja völlig durchweicht! Du mußt schnell etwas Heißes trinken und dich trockenreiben. Glücklicherweise hat Maud inzwischen ein neues Paar Mokassins für dich genäht! He, Linda, komm heraus. Sie sind zurück und haben deinen jungen Mann mitgebracht!“ Nick erstarrte. Er war nicht Lindas junger Mann! Seit Margo aus seinem Vater einen völlig anderen gemacht hatte, hielt er nicht mehr viel von weiblichen Wesen. Linda sagte jedoch nur kühl, als sie in der Höhle waren — denn sie war nicht herausgekommen: „Es fehlt dir offenbar nichts.“ Und erst nach einer Weile, als die anderen außer Hörweite waren: „Weißt du, was sie denken?“ Eine Kopfbewegung bedeutete ihm, wen sie meinte. „Sie glauben, daß du einen Pakt mit dem Herold geschlossen hast. Du hast dich hinausgeschlichen, ohne jemandem zu sagen, wohin — und das, nachdem man dich gewarnt hatte. Und du scheinst Sachen zu wissen...“ „Sachen zu wissen?“
„Na ja, was du über Jeremiah und Lung gesagt hast.“ „Das hast du mit den anderen besprochen?“ Es stimmte also, ihr war nicht zu trauen! „Natürlich. Als sie sich Sorgen zu machen begannen, wohin du verschwunden sein könntest. Und sie machten sich wirklich Sorgen um dich. Sie sind gute Menschen!“ „Du willst mir wohl etwas sagen, nicht wahr?“ „Genau! Daß du sie in Ruhe lassen sollst. Wenn du einen Pakt abgeschlossen hast, dann zieh sie nicht mit hinein!“ „Danke für den Rat und für dein Vertrauen!“ brauste Nick auf und ließ sie stehen. Das war genau wie Margo! Sie hielt ihn für schuldig, ohne ihn anhören zu wollen!
13. Ins Kreuzverhör nahm ihn im Augenblick keiner. Hadlett war der Mittelpunkt und alle sorgten sich um ihn, allerdings brachte Jean Nick einen Teller Suppe, die er gierig aß. Er war sicher zurück, etwas, wofür er vergangene Nacht viel gegeben hätte. Jetzt war es irgendwie anders. Obgleich die anderen in Reichweite waren, fühlte er sich seltsam fern von ihnen. Dabei hatte er keine Abmachung mit dem Herold getroffen. Lag es vielleicht daran, daß er irgendwie eine Trennlinie zwischen seinem alten Leben und einem neuen überquerte, als er dem Tip des Herolds folgte? Nick stellte den leeren Teller ab und betrachtete seine Hände auf den Knien. Sie waren zerkratzt, schmutzig, fleckig vom Beerensaft. Vermutlich sah er auch sonst nicht viel besser aus. Aber er war immer noch ein Mensch und keine Kreatur des Volkes. Der eine Teller Suppe hatte seinen Hunger nicht gestillt, doch da er wußte, wie es um ihre Vorräte stand, bat er nicht um mehr. Er beugte sich zum Teller vor, da sah er Jeremiah. Auf leise Katzenart schien er aus dem Nichts aufgetaucht zu sein und beobachtete Nick mit einer Eindringlichkeit, die manche Menschen an Katzen irritierte. Nick beantwortete des Katers Blick. Es mußte einen Grund dafür geben, daß Jeremiah zu ihm gekommen war. Was wollte er von ihm? Wenn die Katze sich ihm mitteilen konnte, versuchte sie es zumindest momentan nicht. „Jeremiah“, flüsterte er. „Wieviel kannst du wirklich?“ Auf Nicks Knie, neben seiner Hand, erschien ein Schimmern, als nehme die Luft in einer kleinen Kraftquelle Form an. Es verdichtete sich, blieb einen Augenblick und schwand. Aber es war dagewesen! Nick war ganz sicher, daß er eine Maus gesehen hatte. Jeremiah! Die Katze konnte demnach die gleiche Kraft benutzen, wie er, als er sich befreit hatte. Er staunte. Daß ein Tier... Etwas wie ein kalter Geistesstoß unterbrach diesen Gedanken. Der Kater hatte die Ohren zurückgelegt und die Augen zu Schlitzen verengt. „Tier? Wer ist ein Tier?“ Diese Worte formten sich nicht in Nicks Geist, sondern ein Impuls brachte sie dort an die Oberfläche. Wahrhaftig — wer war ein Tier? An diesem Ort, wo alle alten Überzeugungen fortgeschwemmt wurden, konnte es da überhaupt noch gültige Behauptungen geben? Ein anderer Gedanke kam ihm. Konnte Jeremiahs Spezies (Nick versuchte das Wort „Tier“ zu vermeiden) des Herolds Bedingungen annehmen? War Jeremiah nun Teil von Avalon, obgleich er bei Mrs. Clapp und den anderen blieb? Wieder dieses Schimmern, das einen Herzschlag lang etwas deutlich werden ließ: einen Apfel! War Jeremiah ein — ein Spion? Nein, das glaubte er nicht. Was dann? Ein Wächter der anderen? Für sie? Jeremiah blickte ihn an, gähnte gelangweilt und zog sich zurück. Dafür kam Mrs. Clapp zu ihm und betrachtete wortlos seine wunden Handgelenke, dann nahm sie zwei große Blätter aus ihrem Korb, gab eine selbstgemachte Salbe darauf und legte sie um seine Handgelenke. Schließlich wickelte sie eine Schnur aus geflochtenem Gras herum, damit sie sich nicht lösten. Ehe er ihr danken konnte, kehrte sie zu der Gruppe um den Vikar zurück. Stroud kehrte erst am Abend von seinem mehrtägigen Erkundungsgang zurück. Ein Entkommen auf dem Fluß mußten sie sich aus dem Kopf schlagen, überall trieben sich bereits Wanderertrupps herum, und der Himmel wimmelte geradezu von UFOs, die Jagd auf alle machten, die sie im Freien entdeckten. Stroud hatte selbst beobachtet, wie zwei Gruppen mit
Netzen eingefangen wurden. Eine bestand aus mehreren Soldaten in der Uniform der britischen Armee des Ersten Weltkriegs. „Ich weiß nicht, was es ist, aber etwas treibt all diese Wanderer aus dem Norden südwärts. Es sind nicht die fliegenden Jäger, die nutzen bloß die unerwartete Chance, die sich ihnen bietet.“ „Nicholas“, rief Hadlett. „Was, genau, hat Avalen gesagt, als er Sie warnte?“ Nick schloß die Augen und rief sich die Begegnung ins Gedächtnis zurück. Er sah den Herold vor sich und hörte erneut seine Worte, so daß er sie lediglich zu wiederholen brauchte. „Avalon ist keines Menschen Feind. Es ist ein Ort des Friedens und der Zuflucht. Doch für die außerhalb kommen Finsternis und Übel. Das geschieht nicht das erstemal. Das Böse brandet gegen das Land. Wo es gegen Avalon, Tara, Broceliande und Carnac stößt, ist es hilflos. Es kann ihre Mauern nicht überfluten. Doch für die außerhalb der Mauern besteht unbeschreibliche Gefahr. Das Böse hat seine Gezeiten. Nunmehr ist der Beginn der Flut.“ „Du hast dich also mit dem Herold angefreundet!“ Das war offenbar das einzige, was Stroud seinen Worten entnommen hatte. „Wenn Sie damit meinen, daß ich sein Angebot angenommen habe, täuschen Sie sich. Aber er hat mir das Leben gerettet.“ „Das ist nicht, wie du es uns erzählt hast!“ warf Crocker feindselig ein. „Er hat mich auf die Möglichkeit hingewiesen.“ Nick beherrschte sich. Crocker konnte ihn zur Weißglut reizen. „Ohne das...“ „Eine recht seltsame Geschichte“, schnaubte der Pilot abfällig. „Wie war’s wenn du sie jetzt allen erzählst, damit sie selbst urteilen können?“ Hadlett nickte. „Tun Sie es, bitte, Nicholas, von Anfang an.“ Nick berichtete wahrheitsgetreu. Niemand unterbrach ihn, doch als er geendet hatte, fragte Stroud ungläubig: „Du — du hast es bloß gedacht und dir so den Dolch geholt? Wie war’s, wenn du uns das beweisen würdest? Den Dolch hast du ja noch.“ Das war nur fair, fand Nick. Er legte den Dolch in einiger Entfernung auf den Boden und konzentrierte sich auf ihn. Eine Hand — eine Hand, ihn zu holen... Nichts tat sich, so sehr er sich auch anstrengte. Er mußte hier gegen etwas ankämpfen, das es auf der Lichtung nicht gegeben hatte — eine Barriere, die sein Wille nicht überwinden konnte. „Ich kann es hier nicht“, gestand er schweißüberströmt. „Du hast es auch nie gekonnt!“ triumphierte Crocker. „Ich habe gleich gewußt, daß du uns angelogen hast!“ Eine rauhe Hand packte Nicks Schulter und riß ihn herum. „Du hast dich dem Herold verkauft, und dann bist zu zurückgekommen, um uns den anderen auszuliefern, nicht offen, wie Rita, sondern heimtückisch...“ Nick versuchte dem Fausthieb Strouds auszuweichen, trotzdem traf er ihn so hart, daß er gegen die Wand geschmettert wurde, wo er halb zusammensackte. „Sam!“ sagte der Vikar scharf. „Er hat uns verraten!“ Strouds Stimme klang wie ein Knurren. „Sie urteilen vorschnell — Sie alle!“ Die anderen sahen aus, als wollten sie Stroud unterstützen in dem, was er beabsichtigte. Furcht erfüllte Nick. Er hatte von der Hysterie gehört, die Mobs erfüllen konnte. „Hören Sie mir zu, Sie alle!“ warnte Hadlett. „Es ist von größter Wichtigkeit — nicht nur für Nicholas und Sie, weil Sie das, was Sie für Gerechtigkeit halten, selbst ausüben wollen, sondern weil es unsere Zukunft entscheiden mag.“ Stroud senkte die Faust, die er bereits wieder erhoben hatte, und die anderen, die sich Nick ebenfalls genähert hatten, blieben widerwillig stehen. „Als Sie sich den Dolch durch Willenskraft geholt haben, waren Sie da allein?“ wandte der Vikar sich nun an Nick. „Soviel ich weiß, ja.“ Nick bemühte sich um eine feste Stimme.
„Es gab dort also keine Gegenkraft des Unglaubens“, kommentierte Hadlett. „Was empfanden Sie, als Sie es jetzt versuchten?“ „Als stünde ich vor einer Barriere.“ „Genau. Eine aus Ungläubigkeit errichtete Barriere. Das, zumindest, ist meine Meinung. Verstehen Sie das?“ Nicht Nick stellt er diese Frage, sondern den anderen. Nick sah Lady Diana nicken, wenn auch zögernd, und Mrs. Clapps Lippen formten ein Ja. Der Rest blickte finster drein. Doch jemand rechts von Nick fragte: „Wenn wir ihm glauben, kann er es dann?“ Es war Linda, mit Jeremiah an einer und Lung an der anderen Seite. „Nick“, sie wartete nicht auf Hadletts Antwort. „Nick, nimm meine Hand.“ Es klang nicht wie eine Bitte, sondern wie ein Befehl. Sie zog ihn von der Wand weg, und die anderen machten ihnen Platz, Linda blieb vor dem Messer stehen, doch sie ließ Nicks Hand nicht los, statt dessen sagte sie: „Versuch es noch einmal — jetzt!“ Nick wollte sich weigern, aber das erschien ihm dumm. Und irgendwie erwachte neues Selbstvertrauen in ihm. Der Dolch — eine Hand... Konzentrieren... Da war immer noch die Barriere, doch sie wirkte nicht mehr so unüberwindbar, denn eine neue Kraft floß in ihn. Sie kam durch den Händedruck — von Linda und den beiden pelzigen Geschöpfen zu ihren Füßen. Nick staunte einen Augenblick, aber er durfte sich nicht ablenken lassen. Der Dolch — die Hand... Wieder sah er, wie die Luft sich verdichtete. Eine geisterhafte Hand formte sich, ein Arm, und beide schienen nun durchaus stofflich zu sein. „Komm!“ dachte er mit aller Willenskraft. Die Hand mit dem Dolch kam zu ihm und — verschwand. Der Dolch fiel auf den Boden. Linda gab seine Hand frei. „Ihr habt es gesehen!“ rief sie. „Und ihr wißt, daß ich nie mit dem Herold zusammengekommen bin. Aber ich lieh Nick meine Kraft, damit er gegen die Mauer eures Unglaubens ankam. Und die beiden haben mitgeholfen.“ Sie bückte sich, um Lung hochzuheben und legte kurz die Hand zwischen Jeremiahs Ohren. „Jeremiah!“ Mrs. Clapp schloß ihn in die Arme, als befürchtete sie, es könnte ihm etwas zugestoßen sein. „Sie beide...“, begann Hadlett, doch Linda berichtigte: „Wir vier! Und ich glaube, Sie alle könnten es. Sie haben es nur noch nicht versucht. Nick mußte es tun, um sein Leben zu retten, und jetzt wollen Sie ihn dafür bestrafen!“ „Er hat es tatsächlich geschafft!“ staunte der ehemalige Luftschutzwart. „Ich habe es selbst gesehen!“ „Ja, er hat es geschafft“, bestätigte der Vikar. „Meine Liebe“, sagte er zu Linda. „Sie haben vermutlich recht. Wir wurden nur noch nicht einer solchen Prüfung unterworfen, woher also hätten wir es wissen sollen? Aber sind Sie wirklich sicher, was die Tiere betrifft?“ Nick antwortete an ihrer Stelle. „Die Tiere — wissen und können viel. Wieviel, weiß ich natürlich nicht. Aber ich habe selbst gesehen, wie Jeremiah eine Maus erscheinen ließ.“ Den Apfel verschwieg er, um nicht den Zorn, der zuvor ihm gegolten hatte, jetzt auf die Katze zu lenken. „Mein Jeremiah?“ rief Maude entsetzt. Beruhigend legte Lady Diana einen Arm um die Schultern der Älteren. „Ich glaube, diese Welt verändert die Tiere irgendwie. Sehen Sie doch, er macht sich Sorgen um sie.“ Der Kater, der sich aus Mrs. Clapps Umarmung befreit hatte, saß jetzt auf seinen Hinterbeinen und legte die Vorderpfoten auf ihre Knie, dazu stieß er einen sanften Laut hervor, der kein richtiges Maunzen war. „Jeremiah!“ Steif bückte Mrs. Clapp sich und hob ihn wieder auf die Arme. Diesmal befreite er sich nicht, sondern schmiegte den Kopf an ihren Hals und schnurrte zufrieden. „Es ist mir egal, ob er komische Dinge tun kann. Er würde nie etwas Böses tun. Und er hat etwas Gutes getan, indem er dem Jungen geholfen hat, damit er uns beweisen konnte, daß er die Wahrheit gesagt hat. Jeremiah ist eine brave Katze!“ „Natürlich ist er das, Maude. Und wie alle Katzen“, fuhr der Vikar fort, „sieht er die Dinge
auf vernünftigere Weise als viele Menschen. Um ihn brauchen wir uns wirklich keine Sorgen zu machen.“ Stroud lenkte die Aufmerksamkeit wieder auf Nick. Er streckte ihm die Hand entgegen, die zuvor einen nun erkennbaren Bluterguß auf Nicks Gesichtsseite hinterlassen hatte. „Wenn du mir jetzt eine verpassen willst, dann tu’s. Ich hab’s verdient. Ich war allzu voreilig und möchte mich entschuldigen.“ Nick ergriff die angebotene Hand. „Schon vergessen. Ich hatte sowieso nicht erwartet, daß mir jemand glaubt. Ich konnte es ja selbst nicht glauben. Aber jetzt würde ich Sie alle gern bitten, mir zuzuhören...“ Er wußte nicht, ob es die richtige Zeit war, offen zu sein. Aber im Augenblick standen seine Chancen gut, weil sie alle ein schlechtes Gewissen ihm gegenüber hatten. Später mochte ihr Mißtrauen wieder aufkommen. „Was willst du sagen?“ Crockers Stimme klang neutral. Er, nahm Nick an, hatte kein Schuldgefühl. „Sie haben gehört, wie ich wiederholte, was der Herold zu mir sagte. Und Stroud hat berichtet, was er gesehen hat. Die Wanderer werden immer mehr, und die Gefahr scheint aus dem Norden zu kommen. Es gibt nur einen einzigen sicheren Ort — die Stadt.“ „Soll das heißen, daß wir das Angebot des Herolds annehmen sollten?“ brüllte Crocker zornig. „Kapiert ihr, was er will?“ wandte der Pilot sich an die anderen. „Nur weil er das Messer über den Boden ziehen konnte, heißt noch lange nicht, daß er sich nicht verkauft hat! Ich behaupte, er hat es! Soll er uns doch das Gegenteil beweisen!“ Sie hatten sich wieder von ihm zurückgezogen. Er hatte den falschen Zug gemacht. Würde Stroud erneut zuschlagen? „Wie kann ich es denn beweisen?“ konterte Nick. Stroud schaute nicht ihn an, sondern den Vikar. „Am besten, er tut es, wenn er es selbst will, Sir. Dann haben wir vielleicht wieder Ruhe untereinander.“ „Ja.“ Hadlett klang müde. „Wenn Sie mit uns kommen würden, Nicholas...“ Nick wußte nicht, was sie von ihm wollten, aber er war dafür, daß die Dinge klargestellt wurden. Entweder sie akzeptierten ihn, oder er würde von hier verschwinden müssen. Und der Gedanke, sich allein durchschlagen zu müssen, gefiel ihm gar nicht. Der Vikar ging voraus in die kleine Nebenhöhle, die sie als Vorratsraum benutzten und die jetzt so gut wie leer war. Nick folgte ihm, und Stroud ging mit Crocker hinter ihm. Innen angelangt, sagte der Pilot: „Also gut. Du fragst, wie du es beweisen kannst. Zieh dich aus!“ „Wa-as?“ Nick schüttelte verblüfft den Kopf. „Wie ich bereits erwähnte, treten kurz nach Abschluß der Abmachung gewisse körperliche Veränderungen auf, Nicholas. Seit Sie mit dem Herold gesprochen haben, sind gut zwei Tage vergangen. Wenn Sie sein Angebot angenommen haben, müßten die Folgen bereits sichtbar sein.“ „Ich verstehe.“ Nick zog sein Hemd aus. Wenn sie den Beweis wollten, sollten sie ihn jetzt haben!
14. Nick hatte sich so weit durchgesetzt, daß Stroud ihn auf den Hügel in Stadtnähe begleitet hatte, nachdem er alle in seinen Plan, Zugang in die Stadt zu finden, eingeweiht hatte. Sie waren im Schutz der Dunkelheit losgezogen, und nun dämmerte der Morgen. „Fang schon an, ehe vielleicht ein UFO auftaucht“, drängte Stroud. Nick konzentrierte sich auf ein Bild des Herolds. Er hatte die ursprüngliche Idee aufgegeben, Avalen einfangen zu wollen, und ließ statt dessen jetzt sein Abbild entstehen. Seine ganze Willenskraft setzte er ein. „Ich habe ihn!“ jubelte er. „Das sehe ich!“ Stroud war sichtlich erleichtert. „Aber wichtiger ist, daß du ihn dann projizieren kannst, wenn es soweit ist.“ „Ich werde es schon schaffen.“ Nick ließ die Projektion verschwinden und stieg den Hang hinunter, Stroud würde hierbleiben und aufpassen, ob es ihm tatsächlich mit Hilfe des Heroldbilds gelang, in die Stadt zu kommen. Nicks Selbstvertrauen war seit seine Vorführung in der Höhle gewachsen, oder vielmehr seit er hatte beweisen können, daß er kein Verräter war. Zwei Tage hatte er seine Kräfte weiter ausgebildet, und auch die anderen hatten versucht, dies und das zu projizieren. Dem Vikar war es gelungen, und Mrs. Clapp noch! besser, allerdings ermüdete sie schneller. Crocker hatte sich geweigert, sich damit zu befassen, und Jean hatte deshalb ebenfalls gezögert. Lady Diana gelang es, flüchtig ein Bild aufrechtzuhalten, während Linda in Verbindung mit Lung und Jeremiah kräftige Projektionen eine beachtliche Weile halten konnte. Nick erreichte die Ebene vor der Stadt. Im Augenblick, zumindest, waren glücklicherweise weder Wanderer noch UFOs zu sehen. Kurz bevor er den unsichtbaren Schirm um die Stadt erreichte — Stroud hatte ihm gezeigt, wie er in etwa verlief —, projizierte er wieder den Herold. Mit ihm dicht voraus ging er geradewegs auf die Stadt zu. Und nun mußte die Barriere bereits hinter ihm liegen, obwohl Nick natürlich nicht sicher sein konnte. Die Anstrengung, das Bild des Herolds stofflich entstehen zu lassen und es aufrechtzuhalten, machte sich bemerkbar. Was war, wenn er es nicht halten konnte? Würde er dann Gefangener innerhalb des Schirmes sein? Hartnäckig kämpfte er gegen seine Schwäche an — und mit einemmal war er in der Stadt. Der Übergang kam so plötzlich, daß es fast so aussah, als wären die Bauwerke um ihn gerade erst aus dem Boden geschossen. Nick vergaß den Herold, und die Projektion verschwand. Die Türme hatten Türen und Fenster, und es gab Straßen — nur, wo waren die Bewohner der Stadt? Nirgendwo war auch bloß ein lebendes Wesen zu sehen. Die Wände um ihn hatten eine glasige Oberfläche, als beständen sie aus Kristall auf einem undurchsichtigen Baustoff, und ihre Farben befanden sich in ständiger Bewegung. Nick zögerte. Kein Laut war zu hören, als wäre die Stadt wirklich menschenleer. Vorsichtig berührte er die nächste Wand mit den Fingerspitzen — und zog sie hastig zurück, denn überraschenderweise hatte er nicht kalten Stein oder Kristall gespürt, sondern ein warmes Material, das sanft vibrierte. Diese Wände behausten demnach eine Energieart. Daher auch das leuchtende, wechselnde Farbenspiel. Die ganze Stadt mochte ein Kraftwerk sein! Fast auf Zehenspitzen schlich er durch die leeren Straßen. Mehrmals versuchte er die Türen, doch alle waren sie verschlossen. Nach einer Weile kam er zu einem großen Platz, in den fünf breite Straßen, einschließlich seiner, sternförmig mündeten. Ein blendendes Leuchten ließ ihn die Augen schließen. Vorsichtig blinzelte er durch einen Spalt. In der Mitte des Platzes erhob sich ein Henkelkreuz, ähnlich dem altägyptischen Anch. Nicht
aus Kristall wie die Turmbeschichtung war es, sondern aus einem rötlichen Metall. Was so leuchtete, waren die riesigen Edelsteine, die in den Kreuzbalken und den „Henkel“ eingelassen waren. Das Licht, das sie ausstrahlten, war grün, blau und weiß — kein Rot oder Gelb. Da ihre Strahlen hoch über seinem Kopf waren, schätzte Nick die Höhe des Anchs auf die eines etwa fünfstöckigen Gebäudes. Aber die Kraft der Strahlen war gewaltig. Er spürte, wie sie ihn schwächten. Schwindelerfüllt schwankte er zurück. Furcht verdrängte sein bewunderndes Staunen. Seine Haut prickelte, das Schwindelgefühl wuchs. Er mußte weg von hier Irgendwie gelang es ihm sich umzudrehen und trotz des blendenden Lichtes zu einer Straßenmündung zu finden. Aber ihm war, als wate er durch tiefen Morast. Etwas saugte gierig an seiner Kraft — an seiner Lebenskraft! Er stolperte, fiel. Es gelang ihm nicht, sich ganz aufzurichten, so kroch er auf Händen und Knien weiter. Türme erhoben sich nun links und rechts von ihm. Er war also auf der Straße. Aber noch nicht weit genug. Und er würde es nicht schaffen... Er keuchte, bekam nicht mehr genügend Luft, würgte... Er lag nun flach auf dem Bauch, und vergebens versuchten seine Finger sich irgendwo festzukrallen, damit sie ihn vorwärtsziehen könnten. „Komm!“ Hatte er wirklich eine Stimme gehört? Er spürte Hände auf seinen Schultern, wurde von dem sternförmigen Platz mit dem Henkelkreuz weggezerrt. Aber ihm fehlte die Kraft, den Kopf zu drehen, um zu sehen, wer ihm half. Das unangenehme Prickeln schwand, mühsam gelang es ihm, sich auf die Seite zu wälzen, damit er zu seinem Retter hochblicken konnte. „Rita!“ Sie war nicht von Dunstschein umgeben, und es glänzten auch keine Tränen auf ihren Wangen. „Ja, ich bin Rita.“ Ihre Stimme klang eintönig wie die des Herolds, doch ihr Gesicht war nicht so ausdruckslos wie Avalons. Es verriet Besorgnis und noch etwas. Sie musterte ihn, dachte Nick, wie ein Werkzeug, das man zu einem bestimmten Zweck auswählt. „Du hättest dort sterben können, denn du gehörst nicht zum Volk!“ „Bist du allein hier?“ „Allein?“ echote sie erstaunt. Sie schaute sich um, als sähe sie etwas, das er nicht zu sehen vermochte. „Nein, ich bin nicht allein. Aber da du nicht vom Volk bist, sind deine Augen getrübt. Warum bist du hierhergekommen, wenn du nicht eins mit Avalon sein willst?“ „Um herauszufinden, was die Stadt vor Angriff schützt. Deine Leute sind in Gefahr. Sie brauchen Schutz.“ „Für das Volk besteht keine Gefahr. Und die anderen können Schutz bekommen, wenn sie ihn wollen. Ich bin zu ihnen gegangen, doch sie haben mich fortgejagt. Sie sind blind, weil sie nicht sehen wollen, und taub, weil sie nicht hören wollen. „Sie...“ Zum erstenmal zitterte ihre Stimme. „... sie werden verloren sein, wie es ihre eigene Entscheidung war.“ „Sie behaupten, daß du dich verändert hast.“ „Ja, ich bin eins mit dem Volk geworden.“ Sie kniete sich neben ihn und legte ihren Arm neben seinen, doch ohne ihn zu berühren. Ihre Haut war blendend weiß und völlig glatt, ohne auch nur den geringsten Haarflaum. Erst nach einer Weile faßte sie nach seiner Hand, und ihre Finger fühlten sich an, als wären sie aus Marmor. „So ist der ganze Körper derer vom Volk“, erklärte Rita ihm. „Das schützt uns gegen die Waffen der Flieger und gegen andere Gefahren hier. Es gibt Böses, das uns vernichten kann, doch das ist Böses dieser Welt, und es kann uns auf andere Weise schaden, als durch Wunden des Körpers. Wenn deine Gruppe Avalon anerkennt, werden sie Teil davon, so wie ich es wurde.“ Sie blickte ihn eindringlich an. „Du kannst hier nicht bleiben. Da du nicht eins mit Avalon bist, kann das, was von Avalon ist, dich töten. Du hast den Beginn dieses Todes gespürt. Verlaß jetzt die Stadt, sie ist nicht für deinesgleichen.“ Mit einer Fingerspitze berührte sie seine Stirn, und er spürte, wie neue Kraft in ihn drang, so daß er endlich aufstehen konnte.
„Du hast mir das Leben gerettet. Kann ich irgend etwas für dich tun?“ Nie würde er die Tränen in ihren Augen vergessen. „Welche Worte könntest du benutzen, mit denen nicht ich bereits versuchte, sie zu überzeugen?“ fragte Rita. „Ihre Furcht steckt so tief in ihnen, daß sie eher töten würden, als anzunehmen, was ich ihnen bieten könnte. Komm, ich bringe dich aus der Stadt, denn allein kannst du sie nicht verlassen.“ Da schien es ihr erst bewußt zu werden. „Wie bist du überhaupt hereingekommen?“ „Ich folgte einem Herold.“ „Unmöglich... Und doch sehe ich, daß du die Wahrheit sprichst.“ „Ich habe mir den Herold vorgestellt und stofflich gemacht.“ Er hörte, wie sie Luft holte. „Aber du bist nicht vom Volk! Wie hast du das fertiggebracht?“ „Ich lernte es, als ich mein Leben retten mußte. Und Avalon selbst hat mich darauf hingewiesen. Auch die anderen versuchen es...“ „Nein!“ schrie sie erschrocken auf. „Das dürfen sie nicht! Es führt zu ihrer Vernichtung, daß sie Kräfte des Volkes haben. Sie sind Kinder, die mit allesverschlingendem Feuer spielen!“ „Komm mit und sag es ihnen selbst!“ „Sie werden nicht auf mich hören...“ „Bist du sicher? Jetzt, da sie die Kraft benutzen, sind sie vielleicht etwas aufgeschlossener. Und der Vikar wird bestimmt auf dich hören.“ „Ja, er hat ein gütiges Herz und klaren Verstand. Ich komme mit.“ „Stroud!“ rief Nick, als sie den Kamm erreichten und er sich vergebens nach ihm umgesehen hatte. Doch nicht Stroud antwortete, sondern das Krächzen eines Raben, der sich mit flatternden Flügeln aus dem Gras in die Lüfte schwang. Rita beobachtete den Vogel. „Es besteht große Gefahr für deine Gruppe. Das Gleichgewicht ist gestört, die Gedankenkräfte haben das Böse befreit! Stroud ist geflohen und zieht es hinter sich her. Der Rabe ist hiergeblieben, um uns, das Volk, zu warnen, uns nicht einzumischen. Und doch werde ich euch helfen. Ich bin herzgebunden und gehöre noch nicht lange genug zum Volk, als daß diese Bande sich gelöst hätten. Komm, wir müssen uns beeilen!“
15. Rita zog ihn hinter sich her, ohne nach rechts oder links zu schauen. Der Himmel hatte sich so stark bewölkt, daß Nick kaum noch etwas sehen konnte, und die Ausstrahlung des Bösen preßte fast würgend auf ihn ein. Erst als plötzlich ein riesiger Rabe mit rotglühenden Augen kreischend auf sie herabtauchte, fiel Nick auf, daß von Rita ein Schimmern ausging. Um den Vogel abzuwehren, zog Nick hastig den Dolch, doch da wich Rita zurück. „Eisen! Du kannst es benutzen, doch komm mir damit nicht zu nahe! Für uns vom Volk ist es tödlich!“ Nick brauchte den Dolch jedoch nicht zu benutzen, da der Rabe krächzend davonflog. Dafür sah er jetzt Augen in allen Büschen ringsum und überall kaum merkliche Bewegung. Aber der Angriff, den er erwartete, erfolgte nicht. Langsamer schritt Rita nun voran und er mit ihr — und zwergenhafte Gestalten in einem größeren Kreis um sie bewegten sich mit ihnen. Ihnen folgten menschengroße, skelettartige Wesen, aber auch wolfähnliche und solche, die an riesige Spinnen und gewaltige Echsen erinnerten. Waren sie echt oder nur durch Alptraumphantasie geschaffen? Und plötzlich gellten Schreie durch die Luft, und Pfeile sirrten. „Schnell!“ rief Rita. „Ich kann den Doppelschutz nicht mehr lange aufrechterhalten.“ Erstaunt sah Nick, daß das Schimmern um Rita auch ihn einhüllte und die Pfeile davon abprallten. Und nun knallten auch noch Gewehre. Unwillkürlich wollte er sich auf den Boden werfen, doch Rita zerrte ihn mit sich. Das Schimmern hatte sich verdichtet, trotzdem war er sicher, daß er durch es hindurch Männer in schwarzen Uniformen sah. Rita und er bewegten sich mitten durch eine Armee hindurch, von der der würgende Gestank des Bösen auf sie einschlug. Voraus erhoben sich bereits die äußeren Felsbrocken der Höhle, als das Rattern eines Maschinengewehrs einsetzte und rings um sie Schwarzuniformierte fielen. Woher hatten die Engländer das MG? „Schnell!“ hauchte Rita erneut. Sie kletterten die Felsen zum Eingang hoch. Das Knallen der Gewehrschüsse war ohrenbetäubend. Waren sie auf sie gerichtet? Nick wußte es nicht, jedenfalls drang nichts durch den Schirm, den Rita um sie beide errichtet hatte. Allerdings fiel ihm auf, daß das Schimmern schwächer wurde. Mit letzter Kraft sprangen sie in die Deckung der Postengrube. Der Schimmer schwand. Ein Mann stand vor Nick und richtete die Pistole auf ihn. „Er ist nur eine Illusion!“ Da verschwand der Fremde im Kampfanzug auch bereits. Nick stolperte hinter Rita her in die Höhle. „Du!“ Sie waren alle da, auch Stroud, der blutend auf dem Boden lag. Die anderen standen aufrecht, entschlossen, sich bis zum letzten Atemzug zu verteidigen. Es war Crocker, der aufgeschrien hatte, und seine Stimme echote in der Höhle, nun, da das Gewehrfeuer verstummt war. Jean hatte den Piloten am Arm gefaßt, als er sich mit ausgestrecktem Dolch Rita zuwandte. Lung hüpfte erfreut an Rita hoch — er war der einzige, der sie freundlich begrüßte. „Verschwinde!“ Crocker schüttelte Jean ab und ging mit dem Dolch auf Rita zu. „Zurück, Barry!“ Der Vikar schob sich zwischen sie. Er blickte jedoch nicht den Piloten, sondern Rita an. „Weshalb bist du hier?“ „Ich gehörte doch einmal zu Ihnen, nun muß ich versuchen, Ihnen zu helfen. Sie haben Kräfte gerufen, die Sie nicht verstehen, und so das Böse herbeigezogen!“
„Sie ist eine von ihnen! Sie will nur an uns herankommen!“ Crocker versuchte den Vikar zur Seite zu schieben, aber durch seinen Respekt vor ihm nur halbherzig. „Ich bin von Avalon“, bestätigte Rita und nun blickte sie Crocker an. „Ihr habt Tore der Finsternis geöffnet, die ihr nicht mehr schließen könnt...“ „Und während wir hier reden, greifen die draußen an“, unterbrach Lady Diana sie. „Wir müssen unsere Illusionen aufrechterhalten...“ „Sie helfen Ihnen nicht gegen das Böse, denn das, was vor der Höhle lauert, ist acht! Verstehen Sie das nicht? Wir vom Volk haben Feinde — und Sie haben ihnen die Möglichkeit zum Angriff gegeben. Sie haben keine Waffen gegen sie. Spüren Sie nicht selbst, wie Ihre Kräfte Sie verlassen? Es kostet Energie, Illusionen aufzubauen. Dadurch, daß Sie sich zusammengetan haben, hatten Sie bisher einigen Erfolg. Die Frage ist nur — wie lange können Sie weitermachen? Der Feind ist weder durch Zeit noch Schwächen des Körpers behindert wie Sie. Und Sie dürfen mir glauben, es ist besser, tot zu sein, als ihnen in die Fänge zu geraten. Die Zeit der finsteren Flut hat begonnen. Von allen Orten des Bösen strömen jene herbei, die bisher dort nur lauerten. Wer in ihre Gewalt gerät, wird völlig zu ihrer Kreatur. Andere versuchen vor ihnen davonzulaufen — die Wanderer, die Sie gesehen haben. Doch letztendlich wird es ihnen nicht viel besser ergehen, denn die Himmelsjäger überwältigen sie. Zu Ihnen jedoch sind die Finsteren ihrer Zeit voraus gekommen. Avalon wird Ihnen nicht helfen, weil Sie seine Freiheit abgelehnt haben. Sogar wenn Sie sich selbst den Dolch in die Brust stoßen, können manche der Finsteren Ihren Körper wie eine Kleidung übernehmen und ihn bewegen...“ „So wie du Ritas benutzt?“ fragte Crocker wild. „Ich bin Rita, bin mehr Rita als zuvor, ehe ich die Freiheit annahm. Zuvor war ich lediglich wie eine Schlafende, Träumende, jetzt erst bin ich wach und lebe wirklich. Ja, ich bin Rita, Barry, auch wenn du es nicht glauben willst, es nicht glauben kannst, weil etwas in dir ist, das mich als geringer, gemeiner sehen will. Habe ich nicht recht? Erst heute sagte ich zu ihm, mit dem ich hierherkam, daß ich noch herzgebunden bin. Das stimmte vielleicht — zuvor. Als ich damals, kurz nach meiner Veränderung zu dir — zu Ihnen, meine ehemals teuren Freunde, kam, war es als Bettlerin. Doch das ist vorbei, denn was könnten Sie mir schon geben?“ „Vielleicht nichts“, antwortete Hadlett statt Crocker. Rita lachte. „Sie haben es erkannt.“ Sie blickte von einem zum anderen. „Doch Ihr Mut ist groß, obgleich falsch angebracht. Und selbst wenn Sie es nicht glauben, ich meine es nur gut mit Ihnen und werde für Sie tun, was ich kann. Nur fürchte ich, ist das nicht sehr viel, denn Sie haben die Freiheit nicht, und das Böse, das Sie durch Unbedacht gerufen haben, ist sehr stark!“ „Aber es war Avalon, der mir den Hinweis zur Benutzung der Geisteskraft gab“, wandte Nick ein. „Wenn das so schlimm und so verkehrt war, weshalb hat er es dann getan?.“ „Das weiß ich nicht“, antwortete Rita. „Die Herolde haben ihre eigenen Pflichten unter dem König. Wir haben Wechselzeit...“ „Eine Zeit der Veränderung also“, warf der Vikar ein, „die Ungewohntes mit sich bringt. Wieder einmal steht Logos dem Chaos gegenüber. Und Sie sind der Ansicht, daß unsere Kräfte nicht zu unserem Schutz genügen?“ „Sie können es nicht. Wir mit der Freiheit bekommen unsere Kraft aus Avalon selbst. Sehen Sie selbst.“ Sie bückte sich und drückte eine Hand auf den Boden. Unter ihrer Berührung löste sich der Fels auf und ihr Handabdruck grub sich ein. „Das ist keine Illusion — vergewissern Sie sich, indem Sie Ihre Hand darauf drücken. Dergleichen zu tun sind Sie nicht imstande, selbst wenn Sie Ihre Kräfte vereinen, wie Sie es getan haben. Und da ist auch noch das, daß das Land Sie nicht ernähren wird.“ Lung sprang wieder an ihr hoch, und sie strich über sein Fell. Da rannte auch Jeremiah herbei,
schmiegte sich an ihre Beine und schnurrte laut. Sie streichelte ihn ebenfalls lächelnd. Als sie den Kopf hob, war ihr Gesicht jedoch sehr ernst, „Wie kommt es, daß einige die Freiheit annehmen, während andere sich für die Ketten entscheiden? Warum?“ „Weil wir wir sind!“ platzte Crocker heraus. „Wir wollen nicht verändert werden. Wir wollen nicht wie...“ „Wie ich werden? Wie bin ich denn, Barry?“ „Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß du nicht Rita bist. Und ich hasse dich, weil du das aus ihr gemacht hast!“ „Aber ich bin Rita, voll und ganz! Furcht begleitet Haß. Du haßt, weil du Angst hast.“ Nick sah, wie Crockers Gesicht sich verzerrte. So mochte einer aussehen, wenn er zu töten beabsichtigte. „Sehen Sie?“ wandte Rita sich an den Vikar, „Seine Vernunft ist verbarrikadiert, weil er es so will. Menschen bauen ihre eigenen Mauern um sich. Was ist Ihre Mauer, Mr. Hadlett?“ „Mein Glauben, Rita. Mein ganzes Leben habe ich mit ihm verbracht. Ich bin Priester meiner Religion. Als solcher kann ich sie nicht verraten.“ Sie neigte den Kopf. „Sie sind blind, doch Ihre Wahl ist nach Ihrer Anschauung berechtigt. Und Sie, Lady Diana?“ „Vielleicht ist es auch bei mir der Glaube. Der Glaube an die Vergangenheit, an das, was mein Leben lebenswert machte...“ „Das ist verständlich. Und du, Jean? O ja, ich verstehe, was dich an Gefahr und Finsternis bindet.“ Das andere Mädchen errötete, und ihr Mund verzog sich verärgert. Doch sie schwieg und stellte sich nur noch dichter an Crocker. „Mrs. Clapp?“ Es war, als brauchte Rita eine persönliche Ablehnung von jedem einzelnen. „Hm. Vielleicht, weil ich mein Leben lang in die Kirche gegangen bin. Wenn der Vikar es für falsch hält — nun, ich richte mich nach ihm.“ „Und Sie, Mr. Stroud.“ „Es ist, wie Lady Diana sagte. Man trifft einmal seine Wahl und bleibt dabei.“ „Und Sie?“ Rita wandte sich an Linda. „Wenn man Avalon wählt, besteht dann noch die Chance, in seine eigene Welt und Zeit zurückzukehren?“ „Das weiß ich nicht. Doch der Wunsch zu bleiben wird stärker sein, als der zurückzukehren, da man Teil Avalons wird.“ „Dann ist es wohl auch für mich ‘nein’. Aber hat Lung seine Wahl getroffen?“ Linda blickte auf Lung vor Ritas Füßen. „Fragen Sie ihn.“ „Lung — Lung...“, rief Linda sanft. Der Pekinese blickte sie an und kam, obgleich zögernd, zu ihr. „Er wird bei Ihnen bleiben, denn er ist an Sie herzgebunden, genau wie Jeremiah an Sie, Mrs. Clapp.“ Nick wußte, daß nun er an die Reihe kommen würde. Er wappnete sich, weil er seine Antwort und ihre Folgen kannte. Aber warum mußte er diese Last auf sich nehmen? Er war nicht herzgebunden, wie Rita es nannte. Trotzdem mußte er gegen sein eigenes Verlangen ablehnen und das, ohne daß er den Grund hätte nennen könne. „Ich bleibe bei den anderen“, sagte er, ehe sie fragte. Rita runzelte die Stirn. „Bei dir ist es etwas anderes. Du sagst die Worte, doch etwas anderes kann sich entwickeln. Wir werden sehen. Doch wie auch immer, ich werde Ihnen jetzt helfen, so gut ich es kann. Was Sie draußen gegenwärtig bedroht, ist nur die erste Welle des Kommenden. Unterstützen Sie mich mit Ihrer Willenskraft, und wir werden eine Barriere errichten, die wenigstens eine Weile halten wird.“ „Wir wollen nichts von dir!“ brauste Crocker auf.
„Das haben Sie nicht allein zu entscheiden, Barry!“ mahnte der Vikar. „Ich bin überzeugt, daß Rita es gut mit uns meint. Stimmen wir ab!“ Crocker und Jean waren dagegen, die anderen dafür. Sie faßten einander an der Hand und spürten die gewaltige Kraft, die von Rita ausging. Doch Rita schüttelte traurig den Kopf. „Der Schützschirm wird nicht lange halten. Mehr als eine kurze Verschnaufpause kann er Ihnen nicht geben.“ „Sie haben getan, was Sie konnten, mein Kind. Wir danken Ihnen“, sagte Hadlett. „Und wir wünschen Ihnen alles Gute.“ Rita hob die Rechte und zeichnete ein Symbol in die Luft — ein Anch —, das ein paar Sekunden in bläulicher Flamme glühte. „Ich wünsche Ihnen — Frieden. Und daß nichts ihn stört.“ Wieder perlten Tränen über ihre weiße Wangen. Hastig drehte sie sich um, und der leuchtende Schimmer formte sich um sie, so daß niemand sehen konnte, wie sie verschwand. „Sie wünschte uns den Tod!“ rief Jean bitter. „Sie wünschte uns das Beste, das sie für uns vorhersehen konnte.“ Hadlett klang sehr müde. „Ich bin sicher, daß sie die Wahrheit gesprochen hat.“ „Ja“, pflichtete Lady Diana ihm bei. „Wir könnten einen Weg zurück finden!“ wandte Linda sich eifrig an Nick. „In unsere eigene Welt“, fügte sie auf seinen fragenden Blick hinzu. „Wir müssen nur zusehen, daß wir zum Jeep kommen, und dort erdenken wir uns ein Tor zurück. Schließlich haben wir hier Soldaten mit einem Maschinengewehr herbeigedacht, da muß das doch auch zu schaffen sein.“ „Selbst wenn es zu machen wäre“, gab Nick zu bedenken, „würden wir uns nie bis zum Jeep durchkämpfen können, nicht mit all den Kreaturen da draußen!“ Sie war hartnäckig. „Wir können Illusionen benutzen...“ „Was habt ihr vor?“ fragte Jean mit feindseligem Ton. „Wir müssen versuchen, in unsere eigene Welt zurückzukommen. Wir können es schaffen!“ versicherte ihr Linda aufgeregt und erklärte ihr, was sie beabsichtigte. Zu Nicks Erstaunen war Jean sofort Feuer und Flamme, doch Crocker, der sich ihnen zugesellt hatte, schüttelte den Kopf. „Unmöglich. Ja, wenn das Land frei wäre, käme es auf einen Versuch an. Aber diese lange Strecke können wir uns nicht durchkämpfen!“ „Also bleiben wir einfach hier und lassen uns von diesen Ungeheuern überwältigen?“ Linda hatte die Hände auf die Hüften gestemmt und funkelte den Piloten wütend an. „Ist dir das lieber? Es muß eine Möglichkeit geben, zum Jeep zu gelangen!“ Sie blickte von einem zum anderen. In Jean mochte sie ja nun eine Verbündete haben, doch Nick wußte, wie unmöglich ein solcher Marsch sein würde, denn er war selbst querfeldein gekommen, und ohne Ritas Schutzschirm wäre es nicht zu schaffen gewesen. Sie jedoch hatten keinen Schutz, sondern den greisen Vikar, die geschwächte Mrs. Clapp und den verwundeten Stroud. „Wir müssen zurück!“ beharrte Linda. „Ich — ich will nicht sterben. Und du hattest recht, Jean. Rita wünschte uns den Tod. Sie — das Volk — wird uns nicht mehr helfen. Also müssen wir uns selbst helfen, und nur auf unserer Welt wären wir in Sicherheit. Vielleicht brauchen wir gar nicht bis zum Jeep zu gehen. Vielleicht könnten wir hier in der Höhle ein Tor errichten?“ Ihre Worte überschlugen sich vor Aufregung fast. Nick wandte sich ab und ging tiefer in die Höhle. Die Müdigkeit drückte ihn nieder. Er glaubte nicht, daß Ritas Hoffnung realisierbar war. Erschöpft setzte er sich auf den Boden und wurde sich Mrs. Clapps erst bewußt, als sie ihm eine Holzschale mit würziger Flüssigkeit in die Hand drückte. „Hier, mein Junge, trinken Sie das. Sie waren draußen, Sie wissen, wie es aussieht. Glauben Sie, daß wir irgend etwas zur Verbesserung unserer Lage tun können?“ Nick schlürfte. Das Getränk war bitter, aber es wärmte. Nur die innere Kälte vermochte es nicht zu vertreiben.
„Ich fürchte nein“, antwortete er wahrheitsgetreu. „Rita hat gesagt, die Mächte der Finsternis können die Menschen zu ihren Kreaturen machen, und ich habe unterwegs einige gesehen, die es vermutlich geworden sind. Ich weiß auch nicht, wie lange die Barriere halten wird.“ Mrs. Clapp nickte. „Ich hatte ein schönes, zufriedenes Leben, aber ihr Jungen hättet ein längeres verdient. Ich wollte, Jeremiah und der kleine Hund wären mit ihr gegangen. Es ist nicht richtig, daß gute Tiere nur aus Treue das Schlimme mit uns durchmachen müssen.“ Sie seufzte und nahm ihm die leere Schale ab. Nick sehnte sich danach, sich auszustrecken und zu schlafen. Aber es wußte ja niemand, wann der von Rita errichtete Schutzschirm zusammenbrechen würde. Er sollte lieber nachsehen, was draußen vor sich ging. Er kämpfte sich auf die Füße und kletterte durch den Höhleneingang zur Postengrube. Kein Phantommaschinengewehr ballerte jetzt dort, wohl aber schimmerte etwa einen Meter davor ein deutlich erkennbarer Schirm. Wenn sich außerhalb davon irgend etwas bewegte, war es zumindest von innen nicht zu sehen. Er bezweifelte jedoch nicht, daß die Kreaturen der Finsternis sie noch belagerten. Und sobald der Schirm zusammenbrach... Nick stützte die Ellbogen auf einen Felsbrocken und legte den Kopf in die Hände. Seine Gedanken ließen sich nicht ausschalten. Rita und der Herold hatten recht. Diese eigensinnigen Engländer! Er und Linda warfen ihr Leben für nichts und wieder nichts weg. An Avalon war nichts Böses, davon war er überzeugt. Auch in der Energie, die das Henkelkreuz in der Stadt ausstrahlte, und die ihn fast getötet hätte, war nichts von der Finsternis. Er hatte sie in seinem schwachen, zerbrechlichen Menschenkörper nur nicht vertragen. Die Fluten der Finsternis überschwemmten das Land. Nur in der Stadt war Licht. Und jene, die es nicht akzeptierten, öffneten der Finsternis die Tore. Sie hatten versucht, die Gabe des Lichtes für ihre eigenen Zwecke zu benutzen und dadurch, wie Rita sagte, die Finsternis erst recht zu sich gezogen. Aber warum hatte Avalon ihm den Hinweis zur Entdeckung dieser Kräfte gegeben? Zweifellos hatte er etwas damit bezweckt. War es eine Prüfung gewesen, die er nicht bestanden hatte, weil er die Kräfte falsch angewandt hatte? Das mochte es sein! Jedenfalls mußte er sich seinem Schicksal jetzt stellen und das Beste daraus machen. Vermutlich war ein schneller Tod wirklich das beste, das Rita ihnen hatte wünschen können. Er dachte über den Tod nach. War er ein Ende oder ein Anfang? In einem Land wie diesen konnte der Tod Erlösung — Frieden sein. „Nicholas...“ Nick hob den Kopf. Im Glühen des Schirmes konnte er Hadlett sehen, nicht jedoch seinen Gesichtsausdruck. „Ja?“ „Sie waren in der Stadt, wie Sam uns berichtet hat. Wie ist es dort?“ Müde erzählte Nick von den Wänden und Straßen und schließlich von dem gewaltigen Anch und der Energie, die töten konnte, wenn man auf ihre Kraft nicht vorbereitet war. „Das Henkelkreuz“, murmelte der Vikar. „Der Schlüssel zur Ewigkeit, wie die Ägypter es nannten, als sie es in die Hände ihrer Götter gaben. Eine Quelle der Energie, die nur jene aufnehmen können, die sich ihr ergeben haben.“ „Sie sind nicht böse“, entgegnete Nick. „Ich habe das Böse kennengelernt. Nichts von ihm ist in der Stadt.“ „Nein. Es ist nicht böse, doch es verlangt die Aufgabe des eigenen Willens, dessen, was man ist.“ „So, wie es auch unsere eigene Art der Gottesverehrung verlangt.“ Nick wußte selbst nicht, woher er diese Worte hatte. „Doch das ist eine ältere Art, von der wir uns lange schon abwandten. Uns ihrer Macht zu ergeben, Nicholas, käme dem Verrat an unserem Glauben gleich.“ „Oder zu entdecken, daß es nur eine einzige Quelle gibt, die viele Flüsse speist...“ Wieder war Nick sich seiner Worte nicht bewußt gewesen, bis er sie ausgesprochen hatte.
„Was haben Sie da gesagt?“ Hadletts Ton war scharf, heftig, fordernd.
16. Nick kam nicht dazu zu antworten. Von jenseits der schimmernden Barriere drang ein Laut zu ihnen, den er schon gehört hatte: der zwingende, schmerzerregende Befehl, der den Mönch mit seinem Trupp willenlos gemacht und fortgezogen hatte. Er preßte die Hände auf die Ohren, doch der Laut war in seinem Kopf. Glücklicherweise war er diesmal nicht so schlimm. Nick biß die Zähne zusammen und wappnete sich gegen den Befehl. Im schwachen Licht sah er Hadlett, der ebenfalls die Hände an die Ohren drückte und sich vor Schmerzen krümmte. Kämpf dagegen an! befahl Nick sich. Da wurde er sich bewußt, daß jemand sich an ihm vorbeidrängte. Er streckte die Arme aus, um diesen Jemand zurückzuhalten und erntete dafür einen Fausthaken, der ihn taumelnd zurückwarf. Benommen sah er Crocker zum Schirm eilen. Ihm folgten weitere: Jean dichtauf, Lady Diana mit verzerrtem Gesicht und den Händen an den Ohren, und Stroud, der wie ein Betrunkener torkelte. Die vier erreichten die Barriere, ehe Nick hochkam, und verschwanden dahinter. Hadlett schwankte darauf zu, doch jetzt war Nick auf den Beinen. Wie beim Football-Spiel warf er sich auf den Vikar und zog ihn schließlich mit sich zum Höhleneingang und hindurch. Er mußte auch Linda und Mrs. Clapp zurückhalten, wenn er es konnte. Der entsetzliche Zwang in seinem Kopf wollte nicht aufhören, aber er konnte ihm widerstehen. In der Höhle sah er Mrs. Clapp auf dem Boden liegen und versuchen aufzustehen. Linda kniete neben ihr, doch half sie ihr nicht, sondern drückte ihre Schultern auf den Boden, während die Ältere sich wand und mit den Armen um sich schlug. Vor den beiden kauerten die Tiere. Lung knurrte drohend, und die Katze fauchte und peitschte mit dem Schwanz. Sie beobachteten die Frauen, als wären sie bereit, jeden Moment in den Kampf einzugreifen. Lindas Gesicht war schmerzverzerrt. Sie wimmerte und stöhnte. Mrs. Clapp schrie schrill. „Hilfe!“ krächzte Linda, als sie Nick sah. Nick schob den Vikar heftig tiefer in die Höhle und rannte zu den beiden Frauen. „Sie — darf — nicht — fort...“ „Nein“, pflichtete Nick Linda bei. Doch ehe er dazu kam, ihr zu helfen, erschlaffte Mrs. Clapp und blieb reglos liegen. „Nein!“ rief Linda verstört. Sie hob den Kopf der Älteren vorsichtig auf ihren Arm und berührte sanft ihr Gesicht. „Nick, sie ist doch nicht tot!“ „Nein, ich glaube nicht. Paß bitte auf sie auf.“ Er drehte sich zu Hadlett um. Der Vikar war auf den Boden gesackt, wo er nun mit ausgestreckten Beinen saß, den Kopf auf die Brust gesunken und die Arme schlapp herabhängend, daß die Handflächen kraftlos auf dem Boden ruhten. Er schnaufte schwer, doch das war das einzige Zeichen, daß er bei Bewußtsein war. Der schreckliche, befehlende Laut wurde schwächer. Nick vermochte wieder klarer zu denken und sich ein bißchen zu entspannen. Die Katze und der Pekinese waren sichtlich noch wachsam, hatten jedoch zu fauchen, beziehungsweise zu knurren aufgehört. Offenbar war ihnen allen eine Atempause vergönnt. „Sie — sie lebt, Nick!“ Linda blickte erleichtert hoch. „Aber die anderen — sie sind wie Marionetten hinaus — wohin?“ „Ich weiß es nicht.“ „War das — war das wieder ein Angriff der Finsteren?“ Auch darauf wußte Nick keine Antwort. „Ich weiß es nicht. Es war das gleiche, das die Wanderer rief, die mich gefangengenommen hatten. Aber ich habe auch da nicht gesehen,
was diesen entsetzlichen Laut verursachte, nur, daß sie davon fortgezogen wurden.“ „Wie die anderen hier.“ Linda legte Mrs. Clapps Kopf bequemer auf ihren Arm. „Ich wollte ihm auch folgen, Nick, doch Lung sprang mich an und warf mich zu Boden. Und Jeremiah hat so lange an Mrs. Clapps Rock gezogen, bis sie darüber stolperte und fiel. Sie — beide — halfen mir klar zu denken, hämmerten mir geradezu ein, daß ich nicht fortgehen durfte, und Mrs. Clapp genausowenig. Aber wie ist es dir und Mr. Hadlett gelungen zu widerstehen, Nick?“ Zum dritten Mal mußte er gestehen, daß er es nicht wußte. Er wußte nur, daß er sich, so zwingend er auch gewesen war, gegen den qualvollen Befehl aufgelehnt hatte und es ihm irgendwie geglückt war, Hadlett zurückzuhalten. Ihm wurde ganz übel, wenn er daran dachte, was den anderen zugestoßen sein mochte. Es war besser, sich im Augenblick nur damit zu befassen, daß sie dem Feind wenigstens soweit hatten trotzen können. „Vielleicht, weil ich diesen Laut schon einmal gehört hatte und nicht imstande gewesen war, ihm zu folgen“, antwortete er nachdenklich. „Möglicherweise hat er beim zweitenmal nicht mehr diese zwingende Wirkung. Und Hadlett war zu dem Zeitpunkt bei mir und folgte dem Befehl nicht sofort, das gab mir die Chance...“ „Mich zu retten, Nicholas.“ Der Vikar hob langsam den Kopf. Sein hageres Gesicht wirkte so eingefallen, als wäre er schwerkrank. Während er sprach, zuckten ein paar Muskeln unkontrollierbar und verzerrten seine Züge zu einer gräßlich Grimasse. „Mich vor des Teufels höchsteigener Falle zu retten, Nicholas.“ Er richtete sich auf und zuckte zusammen, als protestiere sein Körper. „Wir dürfen nicht zulassen, daß die anderen in die Klauen dieser — dieser Kreatur geraten! Sie sind besessen...“ „Jeremiah!“ Mrs. Clapp hob die Lider und blickte benommen in Lindas Gesicht. „Jeremiah — er hat mich angesprungen! Mein eigener alter Kater — er muß tollwütig sein!“ „Nein“, beruhigte Linda sie. „Er wollte Sie retten, und das ist ihm auch gelungen. Sie können ihm dafür dankbar sein.“ Die Katze kam näher. Sie setzte beide Vorderpfoten auf Mrs. Clapps Brust und beugte sich vor, um ihre Nase ganz leicht mit der eigenen zu stupsen, dann fuhr er mit der rauhen Zunge liebevoll über ihr Gesicht. „Jeremiah.“ Mrs. Clapp hob eine Hand und legte sie auf den Kopf der Katze. „Warum...“ „Um Sie zu retten“, wiederholte Linda. „So wie Lung mich, und Nick Mr. Hadlett gerettet hat.“ „Aber...“ Mrs. Clapp versuchte sich aufzusetzen, und Linda half ihr dabei. Die Ältere blickte sich um. „Wo sind die anderen? Lady Diana — sie war doch gerade noch hier... Und Jean — und Barry?“ „Sie sind fort“, antwortete Hadlett. „Und wir müssen alles tun, was wir können, um ihnen zu helfen — so schnell wie möglich.“ Er stand auf, und es sah aus, als würde er mit dem gleichen Ungestüm davonrennen wie die anderen. Nick stellte sich vorsichtshalber zwischen ihn und den Eingang. „Das können wir nicht, solange wir nicht wissen, womit wir es zu tun haben. Wir würden vielleicht lediglich die geringe Chance verwirken, die wir haben, wenn wir blindlings hinaus in die Dunkelheit stürmen.“ Einen Augenblick glaubte er, der Vikar würde aufbrausen, ja sogar versuchen, sich an ihm vorbeizuschieben. Doch dann ließ Hadlett die Schultern hängen und antworte dumpf: „Sie haben natürlich recht, Nicholas. Aber irgend etwas müssen wir unternehmen.“ „Das beabsichtige ich auch.“ Wieder fühlte Nick sich zu einer Entscheidung gezwungen, die er nicht treffen wollte, und einen Kurs einzuschlagen, an dessen Gefährlichkeit er nicht zweifelte. Glücklicherweise war zumindest der quälende Laut verstummt. Bedeutete das, daß die Bedrohung sich mit ihren so leicht gewonnenen Opfern zurückgezogen hatte, oder daß sie nur eine Pause einlegte, um zu einem neuen, vielleicht stärkeren Angriff anzusetzen? „Nicht allein!“ Kraft war in Hadletts Ton zurückgekehrt. „Wir müssen zusammenbleiben...“
„Ja“, pflichtete Linda ihm bei. Nick wollte protestieren, bis er dachte, daß sie vielleicht vernünftiger war als er. Denn zwei Frauen allein hierzulassen — er wußte, der Vikar würde sich nicht überreden lassen hierzubleiben —, wäre Wahnsinn. Sobald der Schutzschirm zusammenbrach, würden die Kräfte der Finsternis die Höhle stürmen. Linda und Mrs. Clapp hätten nicht die geringste Chance. Nick hatte genug der Belagerer gesehen, um zu ahnen, was ihnen durch sie bevorstünde. Natürlich war es Irrsinn, sich überhaupt hinauszuwagen. Doch erklärte er sich nicht dazu bereit, würde Hadlett allein losziehen, oder auch mit den Frauen. Was blieb ihm da schon übrig? Also sorgte er dafür, daß sie ihre Habe zusammenschnürten. Die größeren Packen nahmen er und Linda, obgleich Mrs. Clapp und der Vikar darauf bestanden, ihren Teil selbst zu tragen. „Gibt es, außer dem, den ich fand, noch einen Weg ins Freie?“ erkundigte sich Nick. „Am Bach entlang...“ Mrs. Clapp blickte den Vikar fragend an. Hadlett runzelte zweifelnd die Stirn. „Das ist ein sehr anstrengender Weg, Maude.“ „Mag schon sein, aber wenn er uns an einen Ort bringt, wo diese Ungeheuer uns nicht erwarten, ist er jede Mühe wert“, entgegnete sie fest. „Das schon, aber...“ „An welchem Bach?“ fragte Nick. „Einem unterirdischen. Wir haben ihn nicht sehr weit verfolgt. Aber Sam sagte einmal, daß es ein gutes Stück von hier...“ Hadlett deutete auf den Eingang. „... eine Öffnung ins Freie gibt.“ „Sehr gut“, sagte Nick erleichtert. Er hätte vorschlagen müssen, den von ihm gefundenen Ausgang zu nehmen. Aber den hätten der Vikar und Mrs. Clapp vermutlich überhaupt nicht geschafft. Wenn sie nur ein echtes Maschinengewehr, kein herbeigedachtes, hätten oder andere Waffen ihrer eigenen Welt. Er hatte den Dolch der verwahrlosten Prinzessin noch, und nun kramte er aus einer Satteltasche sein Jagdmesser, das er fast vergessen hatte. Da Hadlett einen der anderen, von den geflohenen Wanderern mitgebrachten Dolche hatte, gab er das Messer Linda. Eisen — aber zur Verteidigung kaum ausreichend. Genausogut könnten sie mit bloßen Händen kämpfen, dachte Nick grimmig. Mrs. Clapp schaute sich noch einmal um. Sie hatte das Holzgeschirr und ein paar grobgeflochtene Matten eingepackt. Offenbar glaubte sie nicht daran, daß so schnell jemand hierher zurückkommen würde. „Es war nicht so komfortabel wie bei uns zu Hause“, sagte Mrs. Clapp, „aber wir haben uns hier wohl gefühlt.“ „Ja, Maude“, bestätigte Hadlett leise. „Manchmal träume ich, daß ich den Gartenweg entlanggehe, wo ich die Rosen und Lilien pflanzte, die von Mrs. Lansdowne, und dann komme ich zur Tür und da sitzt Jeremiah auf der Stufe und wartet auf mich. Und es ist immer so wirklich, wenn ich es träume...“ „Ich weiß, Maude. Ich frage mich, ob die Bombe St. Michaels getroffen hat. Fast fünfhundertfünfzig Jahre war die Kirche alt. Wie auch immer, für mich steht sie jetzt noch.“ „Wir haben unsere Erinnerungen, die kann uns niemand wegnehmen. Manchmal, wenn ich die Augen schließe, sehe ich alles ganz deutlich vor mir. Wenn wir zurückkämen... Hin und wieder glaube ich, daß ich es besser sehe, als es war. Doch ich rede zuviel. So kommen wir nicht von hier weg. Aber es war schön hier, trotz allem. Komm, Jeremiah.“ Linda trat näher an Nick. „Ich könnte weinen, wenn ich sie so reden höre. O Nick, ich will mich nicht erinnern, nicht jetzt. Es macht mich fertig. Manchmal glaube ich, ich drehe durch. Ich möchte davonrennen und brüllen: ,Ich will heim!’ Geht es dir auch so?“ „Weißt du“, sagte er, während er sich die Satteltaschen umhängte. „Es kommt darauf an, was einen zu Hause erwartet. Aber es hat keinen Sinn, jetzt darüber nachzudenken. Wir müssen uns auf die Gegenwart konzentrieren und zusehen, daß wir hinauskommen.“
„Nick“, unterbrach sie ihn. „Was können wir tun — um ihnen zu helfen? Glaubst du, daß wir sie überhaupt finden?“ „Ich bezweifle es. Aber die zwei...“ Er deutete mit einem Kopfnicken auf den Vikar und Mrs. Clapp, die zu einer kleinen Nebenhöhle gingen, „... werden nicht aufgeben, es zumindest zu versuchen. Und wir können sie nicht alleinlassen.“ Linda biß in die Unterlippe und zog die Brauen zusammen. „Nein, natürlich nicht. Aber werden sie denn nicht einsehen, daß es hoffnungslos ist? Was glaubst du, ist den anderen passiert, Nick?“ „Ich weiß es nicht mehr als du.“ Er versuchte, seine Phantasie zu zügeln, die ihm die schlimmsten Bilder vorgaukeln wollte. Hadlett ging nun einen natürlichen Höhlengang mit sehr unebenem Boden entlang, und bald mußten sie hintereinandergehen, weil er immer schmaler wurde. Für Lung und Jeremiah war es viel einfacher, über die zahllosen Felsbrocken zu klettern und über Löcher zu springen, die das Vorankommen so beschwerlich machten, und bald waren sie weit voraus. Hin und wieder rief Linda besorgt nach ihnen, und immer antwortete der Pekinese mit einem kurzen Bellen. Nach einer Weile führte der Gang schräg abwärts. Zweimal mußten sie eine längere Strecke tief gebückt gehen. Glücklicherweise hatten sie Nicks Taschenlampe, mit der Hadlett vorausleuchtete, so daß sie auf alle Hindernisse rechtzeitig aufmerksam wurden. Sie mußten schon ziemlich weit gekommen sein, als sie das Plätschern von Wasser hörten, und nach einer mühsamen Kletterei gelangten sie schließlich in einen breiteren Tunnel, den das Wasser im Lauf von Jahrhunderten für sich ausgehöhlt haben mußte, obgleich der Bach, der hindurchrauschte, weit schmaler als der Höhlengang war. „Nach links“, wies Hadlett sie an. Das mußte sie, Nicks Schätzung nach, weit vom Höhleneingang entfernt an die Oberfläche bringen. Er fragte sich, ob die Barriere an der Höhle noch hielt. Bei diesem Gedanken drehte er sich besorgt um und lauschte, doch das Plätschern des Wassers und ihre eigenen Geräusche übertönten alles, was hinter ihnen zu hören sein mochte. Er wünschte sich, Jeremiah und Lung wären in ihrer Nähe geblieben. Ihre Ohren waren weit besser als seine, und sie könnten sie im Notfall warnen. Nick wäre größere Eile lieber gewesen, aber er konnte sie Mrs. Clapp mit ihren steifen, schmerzenden Beinen und dem Vikar in seinem Alter nicht zumuten. Vorsichtshalber zog er seinen Dolch und lauschte weiter angespannt auf andere Laute als die des Wassers und ihrer eigenen Schritte. „Da!“ Hadlett leuchtete nach links. In der Tunnelwand war eine Lücke. Doch um sie zu erreichen, mußten sie durch den Bach. Nick fragte sich, wie tief er war. Er sah Jeremiah am anderen Ufer sitzen, während Lung winselnd zu Linda rannte und sichtlich bettelte, hochgehoben zu werden. Er hielt den Bach also offenbar für zu tief, oder hatte einen anderen Grund, nicht in dieses Wasser steigen zu wollen? Die Katze, deren Fell nicht naß war, schien darübergesprungen zu sein. „Nicht in den Bach steigen!“ warnte Nick und zwängte sich neben den Vikar. „Bitte, geben Sie mir die Taschenlampe.“ „Ihnen ist also auch Lungs Benehmen aufgefallen“, sagte Hadlett. Nick kauerte sich auf die Fersen und leuchtete ins Wasser. Die Strömung war nicht groß, es gab keine Strudel, und es schien auch nicht tief zu sein, aber er war in dergleichen nicht sehr bewandert. Der Bach mochte eine Falle sein und das hatte ihr Instinkt den Tieren verraten. Fest stand nur, daß er für sie zu breit war, einfach darüberzuspringen, denn leider hatten sie Jeremiahs Talent dazu nicht. „Nick!“ Linda kauerte sich neben ihn. Sie schwang ihren Arm vor seine Brust und deutete bachaufwärts. Ganz deutlich war jetzt eine Bewegung im Wasser zu erkennen. Es war kein Wirbel, denn es kam auf sie zu. „Halt bitte die Lampe“, wies Nick Linda an. Er hielt den Dolch kampfbereit in der Hand.
Das Wasser beruhigte sich, aber Nick war sicher, daß die Kreatur, was immer sie auch war, nur einstweilen Deckung unter der Wasseroberfläche gesucht hatte. „Nicki“ Lindas schriller Schrei gellte in den Ohren, aber ihre schnellen Reflexe retteten sie alle. Die aus dem Wasser schnellende Hand mit den Schwimmhäuten zwischen den Fingern griff ins Leere. Linda hatte die Taschenlampe bereits außerhalb ihrer Reichweite. Nick stach mit dem Dolch ins Wasser. Etwas wirbelte dort, dann tauchten Kopf und Schultern des Geschöpfs heraus, das ihnen das Licht hatte stehlen wollen. Es war nicht menschlich, zweifellos nicht sehr viel größer als Jeremiah, und es hatte ein Fell wie ein Otter oder Seehund. Große runde Augen schauten sie über einer kurzen Schnauze mit Barthaaren, aus der scharfe Fänge blitzten, drohend an. Dann warf es sie schulterlange Mähne zurück und fauchte. Nick streckte die Hand mit der Klinge aus. Das Wassergeschöpf zischte beunruhigend, wich jedoch zurück. Obwohl es ihnen sichtlich feindlich gesinnt war, glaubte Nick nicht, daß es zu den Finsteren gehörte. An seiner Ausstrahlung war nichts vom Bösen, wie er es kennengelernt hatte. „Warten Sie, Junge.“ Mrs. Clapp kam nun ebenfalls heran. „Eisen wird es zwar fernhalten, aber es gibt etwas, das es vielleicht vertreibt.“ Nick blickte erstaunt hoch, als sie in ihrem Korb fummelte und einen kleinen Zweig zum Vorschein brachte. Ernst, als spräche sie ein Gebet, rief sie: „Nixe, Wassermann, das Wasser läuft aus, euer schönes Zuhause zerfällt. Die Rinder stampfen und trampeln darüber. Nichts bleibt übrig. Beim Holler, bei der Esche, Dreimal — hinweg!“ Mit ihrem Zweig schlug sie dreimal auf die Wasseroberfläche. Das Geschöpf hielt mitten im Zischen inne und beobachtete sie wachsam. Erst als sie „dreimal“ sagte, stieß es einen gespenstischen Schrei aus und tauchte unter. Sie sahen, wie es blitzschnell bachaufwärts schwamm. Lung rannte am Ufer hinterher und kläffte aufgebracht, bis Linda ihn zurückrief. Mrs. Clapp lachte. „Ich hätte nie gedacht, daß ich das mal aufsagen würde. Ich habe es von meiner Großtante gelernt, mehr als hundert Jahre ist sie alt geworden. Sie hatte große Heilkräfte und das Zweite Gesicht, und die Leute sind zu ihr gekommen, wenn sie Hilfe brauchten, die ihnen sonst niemand geben konnte. Ja, Tante Meg konnte die vom Hügelvolk sehen. Ich weiß es, obwohl sie kaum darüber gesprochen hat. Und sie konnte mit ihnen umgehen. Das da war ein Nixenwesen. Tante Meg sagte, daß sie ihren Schabernack mit den Menschen treiben, einen bösen, manchmal. Die, die im Sumpf leben, führten so manchen in die Irre. Sie hat mich den Spruch gelehrt und auch den Wert von Holunder. Gegen die vom Volk, die nur Unsinn im Sinn haben, schützt nichts besser als Holunder und Esche. Ich habe von jedem immer ein Zweiglein dabei gehabt, wenn ich Milch von der Barstow-Farm geholt und die Abkürzung durchs Moor genommen habe. Aber ich habe nie so ein Nixenwesen gesehen — damals.“ „Wird es zurückkommen?“ Linda hatte Lung auf den Arm genommen. „Nicht, wenn wir es richtig machen.“ Mrs. Clapp schien absolutes Vertrauen in ihre Abwehrmethode zu haben. „Schauen wir erst mal, wie tief das Wasser hier ist.“ Sie benutzte ihren Holunderzweig als Meßstab. „Kniehoch, würde ich sagen.“ „Und jetzt“, bestimmte sie, „krempeln Sie Ihre Hosen hoch und ich schürze meinen Rock. Unsere Beine trocknen schneller als unser Zeug.“ „Sie haben recht.“ Hadlett schlüpfte bereits aus seinen Mokassins und rollte die Hosenbeine hoch. „Und den“, erklärte Mrs. Clapp, „werde ich so hineinstecken!“ Sie stieß den Holunderzweig ins Bachbett, wo er aufrecht stehenblieb. „Er schützt uns.“
Sie wateten durch das Wasser. Nick achtete auf Bewegungen, die die Rückkehr des Nixenwesens ankünden mochten, und durchquerte den Bach als letzter. Mrs. Clapp rief ihm zu. „Bringen Sie den Zweig mit, Junge. Wer weiß, wann ich wieder einen schönen Hollerbusch sehe. Sie sind selten hier.“ Er zog den Zweig heraus und als zusätzliche Vorsichtsmaßnahme hinter sich her durch das Wasser, dann gab er ihn seiner Besitzerin zurück. Mrs. Clapp schüttelte die Tropfen ab und verstaute ihn gleichmütig wieder im Korb, als wäre ihre Handlung so selbstverständlich gewesen wie Essen oder Schlafen. Nun führte der Weg verhältnismäßig steil aufwärts und war sehr beschwerlich für Mrs. Clapp. Manchmal mußten alle drei sie schieben oder ziehen. Sie atmete schwer, beschwerte sich jedoch nie. Hin und wieder machte sie sogar ein paar humorvolle Bemerkungen über die Hilfe, die man ihr leisten mußte oder ihre eigene Unbeholfenheit. „Es kann jetzt nicht mehr weit sein. Ich schalte die Lampe lieber aus.“ Würgende Dunkelheit hüllte sie ein, und Nick begann zu protestieren, aber der Vikar fuhr bereits fort: „Warten wir, bis unsere Augen sich angepaßt haben. Draußen ist jetzt Nacht, und der Mond müßte am Himmel stehen. Wir sollten also etwas sehen können.“ „Erlauben Sie, daß ich jetzt vorausgehe.“ Nick war zwar von dem Gedanken nicht sehr begeistert, aber er wollte nicht hinter zwei Frauen und einem älteren Mann her tappen. Etwas streifte an ihm vorbei, und er hätte fast aufgeschrien, ehe ihm bewußt wurde, daß es Jeremiah war. Nick prallte ziemlich heftig gegen eine Wand. Er tastete sich an ihr entlang und stellte so fest, daß der Gang eine Biegung machte. Mit einer Hand an der Wand, der anderen um den Dolch, setzte er vorsichtig Fuß vor Fuß, und tatsächlich sah er eine hellere Stelle voraus. „Warten Sie hier“, wisperte er. „Ich will schauen, ob ich etwas sehen kann.“ Ganz vorsichtig tastete er sich vorwärts, um nur nicht zu stolpern oder ein Geräusch zu verursachen. Es wäre ja möglich, daß die Belagerer der Höhle hier einen Vorposten hatten. Endlich spürte er kühle Nachtluft im Gesicht und sah Mondschein. Er duckte sich und lauschte. Da bemerkte er Jeremiah. Die Katze saß im Freien, aber mit ihrem grauen Fell hob sie sich kaum von der Umgebung ab. Er empfing eine dieser Gedankenbotschaften von ihr: es war nichts Bedrohliches in der Nähe. Für den Augenblick hatten sie die Finsteren nicht zu fürchten. Er tastete sich zu der Biegung zurück und teilte den anderen flüsternd die gute Neuigkeit mit. Kurz darauf standen sie alle im Freien. „Wohin jetzt?“ fragte Linda. Sie trug Lung immer noch. „Geradeaus, würde ich vorschlagen.“ Hadlett blickte auf Nicks Kompaß, den er sich ausgeliehen hatte. „Wir sollten uns eine Weile ostwärts halten, ehe wir nach Süden abbiegen. So schlagen wir einen Bogen um die vor der Höhle.“ „Wenn sie noch dort sind“, murmelte Nick. Er glaubte eher, daß sie mit ihren Gefangenen weitergezogen waren. Wenn die anderen drei noch Gefangene waren und nicht... Hastig verdrängte er die schlimmen Gedanken. Es war das beste, auf den Vorschlag des Vikars einzugehen, selbst wenn sie dadurch Zeit verloren. Je länger sie den Grauensgestalten aus dem Weg gehen konnten, desto besser. „Nicholas.“ Aus den Gedanken gerissen, wandte er sich dem Vikar zu, der Mrs. Clapp an der Hand führte, weil sie ziemlich nachtblind war. „Ja?“ „Wir sind nicht mehr allein!“ Genau das hatte Nick befürchtet, seit sie ins Freie getreten waren.
17. Nick fühlte es ebenfalls. Doch was um sie war, gehörte nicht zu den Finsteren, das verriet seine Ausstrahlung. Er hörte ein leises Maunzen von Jeremiah. Da sah er die Katze und Lung, der offenbar von Lindas Arm gesprungen war. Die beiden standen dicht beisammen vor einem der gespenstischen Waldgeschöpfe, das größer als sie war, jedoch den Kopf beugte und mit seiner Nase erst gegen Jeremiahs, dann Lungs stupste. Es leuchtete ganz leicht, ähnlich dem Schimmern des Herolds, und in diesem Schein waren sein Fuchskopf, sein Windhundkörper, seine adlerähnlichen Krallenbeine vorne, und seine Hundehinterpfoten, sowie seine Wolfsrute zu sehen. Was für ein Gedankenaustausch zwischen den Tieren stattfand, wußte Nick nicht. Jedenfalls hob sich der Fuchskopf und stieß einen fast melodischen Schrei aus, der aus der Dunkelheit in verschiedenen Tonlagen und stärken erwidert wurde, als wären die Menschen jetzt von seltsamen und fremdartigen Tieren umringt. Der Fuchskopf blickte die Menschen mit flammendgelben Augen an — und war verschwunden. „Wa-as... ?“ fragte Linda zittrig. „Wir haben nichts von ihnen zu befürchten“, sagte Nick überzeugt. „Sie haben uns gestattet, uns frei im Wald zu bewegen“, fügte Hadlett hinzu. „Wovon sprechen Sie beide?“ fragte Linda verstört. „Was war das für ein Tier? Und Nick, den Schreien nach sind wir umzingelt...“ „Wir haben von ihnen nichts zu befürchten“, wiederholte er. Hatten sie nun vielleicht gar einen Begleitschutz? Oder würden die Tiere lediglich neutral bleiben? Er wußte, daß sie noch hier waren, obgleich er sie nicht sehen konnte. Und ohne den Schein des Fuchskopfwesens sah er auch Jeremiah und Lung nicht mehr. „Gehen wir weiter“, schlug Nick vor. Im Grunde genommen wollte er sich nur vergewissern, ob die unsichtbaren Wesen mitkommen würden. „Ja.“ Linda wollte nichts als weg von hier. „Lung!“ rief sie. Der Pekinese kam sofort zu ihr, und sie hob ihn hoch, als befürchtete sie, man könnte ihn stehlen. Da spürte Nick, wie Jeremiah den Kopf an seinem Knie rieb und hochschaute. Nick bückte sich, da sprang der Kater auf seine Arme und kletterte zu seiner Schulter, wo er sich wie ein Pelzkragen um seinen Hals legte. Nick war die Last etwas unbequem, aber er wußte, daß er stolz sein durfte, weil Jeremiah ihn ausgewählt hatte. Sie folgten dem Kompaß ostwärts. Nach einer längeren Weile bemerkte Nick, daß Mrs. Clapp immer langsamer wurde und der Vikar schwer schnaufte. Niemand erhob deshalb Einwand, als er eine Rast vorschlug. Hinter dichtem Buschwerk setzten sie sich ins Gras. Jeremiah sprang von Nicks Schultern und tauchte in die Dunkelheit. Vermutlich waren sie weit genug gekommen, um südwärts abbiegen zu können, aber Nick meinte, es sei besser, bis zum Morgen zu warten, und erstaunlicherweise pflichtete Hadlett ihm bei. Er, Nick und Linda wollten abwechselnd Wache halten, während Mrs. Clapp sich gründlich ausruhen sollte. Nick übernahm freiwillig die erste Wache. Der Mond schien nicht mehr so hell, und so mußte er sich mehr auf seine Ohren als die Augen verlassen. Er schob die Klingenspitze zwischen die Knie, legte die Hand um den Griff und hing seinen Gedanken nach. Er glaubte nicht, daß sie eine Chance hatten, die anderen zu retten, ja überhaupt zu finden. Das bedeutete jedoch nicht, daß sie die Suche nach ihnen aufgeben würden. Und danach — was dann? Würden sie Lindas Vorschlag aufnehmen und versuchen, ein Tor in ihre Welt durch Gedankenkraft zu
öffnen? Nick zweifelte an einem Erfolg. Was blieb dann? Ein unsicheres Leben, von ständiger Gefahr bedroht, entweder von den UFOs oder den Finsteren erwischt zu werden. Vielleicht könnten sie in das Bauernhaus zurückkehren. Aber wovon sollten sie sich ernähren? Die beste Lösung wäre die Stadt. Doch wenn der Vikar und Mrs. Clapp sich weiterhin weigerten? Nick zuckte zusammen und riß den Dolch hoch. Er hatte nichts gehört, er sah nichts — aber etwas war da. Eines der seltsamen Tiere? Seit ihrer Begegnung waren sie von ihnen begleitet worden, davon war Nick überzeugt. Jetzt hörte er ein unsanftes Winseln. Lung löste sich von Lindas Schlafplatz und kam herbei. Als Nick ihm die Hand auf den Rücken legte, spürte er, wie der kleine Hund am ganzen Körper zitterte, doch Nick fühlte, daß es nicht aus Furcht war, sondern weil er jemanden, den er mochte, begrüßen wollte. Ein schwaches Schimmern bildete sich in der Luft. Nick sprang auf, um sich, was immer es auch war, zu stellen. Das Schimmern wurde stärker und die Gestalt, die es umgab, fester. Nick hatte Avalon erwartet, doch es war Rita. „Du! Ich dachte...“ Plötzlich regte sich Ärger in ihm. „Du hast uns sehr dramatisch Lebewohl gesagt. Wieso kommst du jetzt zurück?“ Ihr weißes Marmorgesicht blieb ausdruckslos. „Es müßte euch genügen, daß ich überhaupt wiedergekommen bin. Jene, die ihr sucht, wurden von den Fliegern entführt, nicht von den Finsteren.“ „Wieso sagst du mir das überhaupt?“ fragte Nick immer noch nicht sehr freundlich. „Du gehörst zu Avalon und hast selbst gesagt, daß ihr von Avalon euch nicht um uns kümmert.“ „Stimmt.“ Plötzlich wirkte ihre Miene leicht besorgt. „Aber wenn ihr eure Freunde bei den Finsteren sucht, seid ihr verloren. Ich möchte, daß ihr euch rettet.“ „Und die anderen?“ Rita schüttelte den Kopf. „Wie könntet ihr sie retten? Jene, die sie gefangennahmen, sind weit mächtiger als ihr. Und ihre Waffen sind denen eurer Welt so weit überlegen. Für ihre Gefangenen besteht keine Hoffnung mehr.“ „War der zwingende Laut eine ihrer Waffen?“ „Ja, er ist wie ein Magnet und unwiderstehlich.“ „Wieso konnten dann wir ihm widerstehen?“ „Du bist — anders. Die Hohe Macht berührte dich. Auch der Vikar, Maude und das Mädchen glauben, obgleich sie es abstreiten. Maude und Adrian Hadlett steckt der alte Glauben durch ihre Vergangenheit im Blut. Dem Mädchen hat der Hund die Tür geöffnet. Jeder von euch hatte einen, wenngleich geringen Schutz gegen jene Waffe, Lung und Jeremiah sogar einen völligen. Auf ihre Weise sind sie von Avalon.“ Im Schein des hellen Schimmerns um sie sah er, daß die Katze und der Pekinese zu ihren Füßen saßen und sie wie berückt anblickten. Sie bückte sich und kraulte beide flüchtig — und verschwand. „Glaubst du ihr?“ Plötzlich stand Linda neben ihm. Als er nickte, sagte sie: „Ich mag sie zwar nicht — vielleicht hasse ich sie sogar —, aber ich glaube ihr ebenfalls. Was können wir tun, Nick? Wenn die UFO-Leute die anderen haben, besteht keine Hoffnung mehr.“ „So hoffnungslos ist es wiederum auch nicht.“ Der Vikar war ebenfalls aufgewacht, jedoch nicht aufgestanden. „Und ich glaube ihr, genau wie Sie. Erinnern Sie sich? Auch wir wurden von den Fliegern gefangengenommen und auf diesen Kontinent gebracht. Sie hatten ein Hauptquartier, gar nicht so weit von unserer Absturzstelle. Bestimmt halten sie die Gefangenen dort.“ „Möglich, aber wie sollen wir hineingelangen? Sie haben gehört, was Rita über ihre Waffen sagte.“ Aber der Vikar würde nicht aufgeben, das war Nick klar. „Wir haben zumindest einen Teilschutz gegen den Laut.“ Hadlett schien überhaupt nicht auf. Nicks Worte geachtet zu haben. „Was hat Rita zu Ihnen über Maude und mich gesagt? Daß
uns der alte Glaube durch unsere Vergangenheit im Blut steckt? So wird es wohl sein. Maude ist aus Sussex, dem ganz alten Landesteil. Und Sie haben selbst gehört, wie sie von ihrer Tante mit dem Zweiten Gesicht erzählt hat. Und meine Familie ist seit zehn Generationen in Minton Parva, wo Eisen und Kirche das Hügelvolk vertrieb...“ „Ja“, warf Mrs. Clapp ein, die ebenfalls aufgewacht war. „Aber diese fliegenden Jäger sind von anderer Art. Wenn sie Lady Diana, Barry, Sam und Jean gefangen haben, wie sollen wir sie da befreien?“ „Das müssen wir uns gut überlegen, Maude“, antwortete der Vikar. „Zumindest wissen wir nun, daß wir im Norden, nicht im Süden, nach ihnen suchen müssen.“ Nick sah die Hoffnungslosigkeit ein, die Engländer zur Aufgabe der Suche überreden zu können. Und sie zu verlassen, brachte er nicht übers Herz. So stellte er dem Vikar methodische Fragen, um möglichst viel über die UFO-Leute zu erfahren, und Hadlett berichtete, was ihm während ihrer Gefangenschaft aufgefallen war. Die UFO-Leute lahmten ihre Gefangenen mit einem Strahl und luden sie dann in ihr Luftschiff. Die Engländer hatten sie in eine Art Käfig im Schiff gesperrt, in dem die Lähmung allmählich nachgelassen hatte. Ihr Entkommen verdankten sie einem Zufall. Aus irgendeinem Grund hatte der Antrieb ausgesetzt, und das Schiff war bruchgelandet, dabei war die Käfigtür aufgerissen worden. „Wir haben zwei der Besatzung gefunden, deren Helme zerschmettert waren“, erzählte Hadlett. „Ganz offensichtlich können sie die Luft hier nicht ohne die Rüsselmasken einatmen, die Teil ihres Kopfschutzes sind. Das ist schon ein Vorteil für uns...“ Aber ein unbedeutender, dachte Nick. Wie sollten sie den Burschen die Helme zerbrechen, wenn die imstande waren, sie aus der Ferne niederzustrahlen? Je mehr er darüber nachdachte, desto sicherer wurde er, daß ein Befreiungsversuch ein Selbstmordunternehmen war. „Wurden sie durch den Absturz alle getötet?“ fragte er. „Ja. Barry und Sam kehrten ins Schiff zurück — Barry hoffte festzustellen, wie das Schiff geflogen wurde. Er entdeckte jedoch nur, daß es eine automatische Steuerung hatte, die sich nicht verstellen ließ. Alle Besatzungsmitglieder waren tot. Sie waren sehr klein — von Zwergenwuchs — und hatten blaue Haut. Mehr konnten sie in der Eile nicht herausfinden, weil eine Maschine offenbar ein Notsignal ausschickte. Wir zogen uns schleunigst zurück und sahen tatsächlich bald darauf — glücklicherweise aus guter Deckung — einen Flieger, der offenbar seine abgestürzten Kameraden suchte.“ „Eine unverstellbare automatische Steuerung“, echote Nick nachdenklich. „Wenn man an ein solches Flugschiff herankäme, würde es einen zu ihrem Hauptquartier bringen — vielleicht.“ „Aber natürlich!“ rief der Vikar aufgeregt. „Dadurch käme man unbemerkt in den Stützpunkt des Feindes! Einfach perfekt!“ „Perfekt, geradewegs in die Gefangenschaft!“ dämpfte Nick seine Begeisterung, „Vielleicht, vielleicht auch nicht. Man sollte diese Möglichkeit im Auge behalten, Nicholas, überlegen Sie doch, Junge! Wenn ihre Geräuschwaffe bei uns nicht hundertprozentig wirkt, könnten wir uns doch gestatten, uns scheinbar von ihnen gefangennehmen zu lassen, und dann das Blatt umdrehen.“ Phantastisch! Glaubte der Vikar wirklich an einen Erfolg? Es war der verrückteste Vorschlag überhaupt. Sein Eindringen in die Stadt war dagegen ein Kinderspiel gewesen. „Könnten wir es?“ Nick wirbelte wütend zu Linda herum. Irgendwie hatte er erwartet, daß sie vernünftiger war und ihn unterstützen würde, und jetzt das! „Könnten wir vielleicht Illusionen als Köder benutzen?“ fuhr sie fort. Nicks Ärger schwand. Einem UFO einen Hinterhalt stellen? Aber sie hatten ja außer ihren Messern keine Waffen... „Oh, Miß Linda, das ist eine gute Idee!“ lobte Mrs. Glapp. „Und wie wollen wir sie überwältigen, wenn sie mit dem Netz herunterkommen?“ gab Nick
zu bedenken. Da schlug Jeremiah die Krallen in seine Wade, um Nicks Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. „Jeremiah.“ Nick ging auf ein Knie und streichelte die Katze. „Was willst du mir sagen?“ Nebelhafte Gestalten bildeten sich. Nick erkannte Lung, das Fuchskopfwesen und zahllose fremdartige Tiere. Versprach Jeremiah ihnen ihre Hilfe? Die Gedankengestalten schwanden, und Nick spürte das feste Ja der Katze. Es wäre ein komplexer Plan, der zu einem großen Teil vom Zufall abhing. Aber vielleicht ließe er sich durchführen. Nick überlegte Einzelheiten und weihte die anderen ein. Einige Stunden später befanden sie sich in der heißen Sonne dicht am Waldrand. Nach der Besprechung des gefährlichen Plans hatten sie sich ausgeschlafen, und danach hatten die Tiere von Avalon sie hierhergeführt. Nun waren sie miteinander verbunden, die Männer, Frauen, der Hund und die Katze und sammelten die Kraft. Vielleicht mißbrauchten sie sie wieder — wovor Rita sie gewarnt hatte. Aber sie war ihr einziger Schlüssel. Sie lagen alle gut versteckt, doch im Freien spazierten zwei Gestalten. Ihre Kraft der Projektion war beschränkt, deshalb hatte Mrs. Clapp vorgeschlagen, nur zwei Illusionen zu schaffen und zwar ihr Abbild und das des Vikars. Sie und Hadlett hatten die beiden Gestalten aufgebaut, und Nick, Linda und die Tiere erhielten sie durch ihre vereinten Kräfte aufrecht. Jeremiah und Lung waren draußen bei den Illusionen, und andere Tiere hatten sich im hohen Gras versteckt. Nick hatte gewarnt, daß sie trotzdem von oben zu sehen sein würden, aber Jeremiahs Belustigung darüber war unverkennbar gewesen. Vielleicht hatten die Tiere Avalons ihre eigene Art, sich unsichtbar zu machen. Vermutlich würden sie die Illusionen immer wieder aufbauen müssen, denn ihre Kräfte reichten nicht, sie übermäßig lange aufrechtzuhalten, bis endlich ein UFO vorüberflog. Kaum hatte Nick das gedacht, tauchte eines scheinbar aus dem Nichts auf, wie es ihre übliche Art war. Es flog über die Illusionen. Jetzt! Nick deutete. Die Truggestalten fielen aufs Gesicht. Schon sank aus dem Bauch des UFOs ein Netz herab. An der Bewegung des Grases sah Nick, daß die Tiere unterwegs waren. Nun war er an der Reihe. Er schwitzte, doch nicht von der Sonnenhitze. Alles hing davon ab, ob sie wirklich Schutz vor den Waffen der Fremden hatten. Im Zickzack rannte er los, obgleich ihm das gegen einen Angriff vermutlich wenig helfen würde. Ein Besatzungsmitglied glitt bereits am Seil herunter, ein zweiter schlüpfte aus der Luke, um ihm zu folgen. Da traf Nick eine Kraft aus dem UFO wie ein Fausthieb. Wie geplant, ließ er sich fallen. Sie würden ihn für einen Gefangenen halten — was er vielleicht auch war. Aber er sammelte seine ganze Willenskraft, befahl seinem Körper, sich zu bewegen — und er konnte es. Das Gras um ihn war hoch, so sah er nicht viel von der Szene um das Netz. Hadlett, Mrs. Clapp und Linda würden die Illusion der liegenden Gestalten aufrechthalten, solange sie konnten. Sollte ihr Plan Erfolg haben, mußte es ihnen zumindest gelingen, bis er das Netz erreichte. Jetzt sah er einen der Fremden das Netz um die Hadlett-Truggestalt legen. Ein kleines graues Wesen sprang dem Fremden von hinten auf die Schulter und krallte nach seinem Helm. Ein Fuchskopfgeschöpf eilte herbei und half ihm. Der andere Fremde, der schon fast unten war, machte sich daran, wieder hochzuklettern. Da schoß plötzlich ein Tier herbei und schwang sich mit der Geschmeidigkeit seines Affenkörpers, auf dem ein Eulenkopf saß, hoch und warf den Fremden ins Gras. Nick war nun unter dem UFO. Je länger er gegen den Lähmstrahl ankämpfte, desto leichter fiel es ihm, sich zu bewegen. Er erreichte das Netz. Wie viele Besatzungsmitglieder waren wohl noch im UFO? Eine große Zahl der Tiere zogen am Netz. Mit ein bißchen Glück müßte es ihnen gelingen, das UFO zu verankern. Nick griff nach dem Kletterseil, doch der Eulenaffe war vor ihm und sprang es hoch, als wäre es eine Treppe — und seine Umrisse veränderten sich: er wurde zu einem der Fremden. Nick kletterte hoch. Schafften seine verborgenen Freunde es? Sah er nun ebenfalls wie ein
behelmter Zwerg aus? Der Eulenaffe in Zwergentarnung verschwand über ihm durch die Luke, und als Nick ihm folgte, durch eine Tür. Nick eilte hinterher und gelangte in die Zentrale des UFOs. Flammen hüllten den Eulenaffen ein, dessen Illusionskörper verschwunden war, aber es störte ihn genausowenig, wie der Strahlenbeschuß je den Herold gestört hatte. Nick sprang. Es waren nur zwei Fremde hier, und der Eulenaffe hatte einem die Waffe aus der Hand geschlagen und ihn selbst auf den Sitz zurückgeworfen, von dem er hochgeschossen war. Den zweiten warf Nick durch die Wucht seines Sprunges gegen die Wand. Schlaff sackte der Zwerg zusammen. Da stürzte sich Jeremiah, der durch die Tür gesaust war, auf ihn und drückte sein knurrendes Gesicht gegen die Helmsichtscheibe, hinter der die Augen des Fremden geschlossen waren. Der andere Fremde kämpfte vergebens gegen den Eulenaffen, der ihn zur Tür zerrte, während Nick das Schiff durchsuchte. Die Besatzung hatte offenbar nur aus diesen vier, bereits überwältigten Zwergen bestanden. Drei lebten noch, der vierte hatte sich bei dem Sturz vom Kletterstrick den Helm aufgeschlagen und war gestorben. Nick hätte keinen kaltblütig töten können, aber er fand, daß es eine passende Strafe war, sie hier im Freien auszusetzen, als Gefangene der Tiere. Hadlett und Linda kletterten bereits an Bord. Für Mrs. Clapp und Lung mußten sie das Netz hinunterlassen. Als es zurück war, klappte die Luke von selbst zu, und das Schiff setzte sich in Bewegung. Nick ließ sich hastig in den schmalen Kontrollsitz fallen, obwohl er die Armaturen nicht bedienen konnte. Doch sie waren unterwegs. Und nun, da er nichts mehr tun konnte, begann er sich wieder Sorgen zu machen. Sie hatten bisher erstaunliches Glück gehabt, aber das konnte ja nicht anhalten!
18. „Das ist unsere Chance!“ Linda zwängte sich in den Sitz neben Nicks. Nick hatte sich im Schiff umgesehen und war auf allerlei gestoßen, was Waffen der Flieger sein mochten, aber er wagte es im Innern des Schiffes nicht, mit ihnen zu experimentieren. Er blickte Linda fragend an. „Die Chance, auf unsere eigene Welt zurückzukehren. Diese UFOs können zweifellos dorthingelangen. Sie sind ja oft genug gesehen worden. Wir müssen nur dahinterkommen, wie man es macht.“ „Das dürfte eine Weile dauern“, gab Nick zu bedenken. „Dazu fehlt uns bestimmt die Zeit. Wenn das hier landet...“ „Können wir wieder Illusionen benutzen“, tat Linda es als unwichtig ab. Sie dachte nur noch ans Heimkehren. „Ich weiß, daß wir zurückkehren werden!“ erklärte sie optimistisch. „Du scheinst den Zeitfaktor zu vergessen“, erinnerte Nick sie. „Wovon sprichst du?“ „Die anderen glaubten, nur vier Jahre hiergewesen zu sein, dabei waren es dreißig! Wie lange sind wir hier? Tage? Wochen? Ich habe es nicht gezählt. Die Frage ist nur: wieviel Zeit ist inzwischen zu Hause vergangen?“ „Nick...“ Sie blickte ihn entsetzt an. „Glaubst du... Nein, es kann nicht sein! Wir sind bestimmt noch keine Monate fort! Was wird Dave denken...“ „Wer ist Dave?“ „Mein Vater. Er ist bei der NASA. Er hat bei Tante Peg Urlaub gemacht. Nick, wir müssen zurück! Und die UFO-Leute wissen wie!“ „Alles der Reihe nach...“ Nick wußte nicht, wie er ihr die Unmöglichkeit klarmachen konnte. Er suchte nach Worten, als das UFO offenbar zur Landung ansetzte. Nun würde sich herausstellen, ob sie sich vor jenen, die sie erwarten würden, schützen konnten. So weich setzte das Schiff auf, daß sie es kaum merkten. Nick ging zur Luke. Sie hatten alles gut durchdacht und würden zumindest den Überraschungseffekt auf ihrer Seite haben. Wieder hatte er die aktive Rolle. Die anderen vereinten erneut ihre Kräfte, um ihm zu helfen. Als sich an der Seitenwand des UFOs eine Tür öffnete und eine Rampe hinausschob, holte Nick tief Luft und stieg hinunter. Er wußte nicht, ob es den Freunden gelungen war, eine Schutzillusion um ihn zu errichten und er nun wie einer der Fremden ausschaute. Was er sah, war nicht sehr ermutigend. Vor ihrem UFO ruhte ein anderes auf Stelzenbeinen, und rechts davon, auf einem freien Platz, kauerte eine Gruppe Wanderer. Nick sah keinen Zaun und auch keine Wächter, trotzdem unternahm keiner einen Fluchtversuch. Nick ging auf sie zu und befürchtete, jeden Augenblick angerufen oder einfach niedergestrahlt zu werden. Er studierte die Gefangenen, um festzustellen, was sie an dieser Stelle hielt. Hinter den Gefangenen, in einiger Entfernung, erhob sich von einem breiten Erdsockel ein hoher Mast. Von seiner Spitze gingen fächerförmig glitzernde, auf Rahmen gespannte Drähte aus. Während Nick sie beobachtete, richteten sie sich langsam auf, bis sie über der Mastspitze zusammentrafen. An den Drähten entlang glühte Licht, das sich zu feurigem Rot verstärkte. Die Luft um Nick knisterte vor Energie. Es war der Ausstrahlung des Anchs ähnlich und wiederum auch nicht. Ungeheure Kräfte mußten hier am Werk sein. Jetzt sah er auch sechs behelmte Zwerge um den Sockel des Mastes. Was sie dort taten, wußte er nicht. Ihm genügte, daß sie viel zu beschäftigt waren, auf ihn zu achten. „Die wir suchen — dort...“, nahm er Jeremiahs Gedanken an ihn auf. Die Katze lief rechts von ihm, der Hund links. Und zum erstenmal nahm er nun auch Lungs Gedanken auf:
„Können nicht hindurch — Mauer voraus.“ Noch vorsichtiger ging Nick weiter. Jeremiah lief voraus und blieb abrupt stehen, als berühre seine Nase eine unsichtbare Barriere. Ein Kraftfeld? Nick streckte die Hand aus, sie berührte zwar nichts, aber ein elektrischer Schlag riß ihn fast von den Füßen. Jetzt verstand er, wieso die Gefangenen keinen Fluchtversuch unternahmen. Aber wie konnte er an sie heran? Die Gefangenen wurden auf ihn aufmerksam. Zwei sichtlich mitgenommene standen auf und kamen auf ihn zu — Crocker und Jean. Sahen sie ihn als Nick, oder hüllte die Illusion ihn noch ein? Da durchzuckte ihn ein Gedanke. Hadlett hatte einmal gesagt, daß der Mensch hier durch seine eigenen Ängste Abbilder von dem schuf, das er am meisten fürchtete. Wenn er nur wüßte, wovor die UFO-Leute sich fürchteten! Er zerbrach sich den Kopf. Den Herold hatten sie angegriffen, ohne ihm etwas anhaben zu können, aber er glaubte nicht, daß sie Angst vor ihm hatten. Da fiel ihm ein, daß einmal ein zigarrenförmiges Luftschiff eine fliegende Untertasse angegriffen hatte. Aber waren sie überhaupt imstande, eine solch riesige Illusion zu erschaffen? Jean, Crocker und Lady Diana halfen Stroud auf die Füße. Wenn seine Annahme stimmte, mußte er jetzt seine eigene Deckung aufgeben und seine ganze Kraft in die Projektion stecken. „Zusammenschluß!“ wandte er sich an Jeremiah, damit die Katze es an die im Schiff weiterübermittle. Der große Kater duckte sich, und seine Schwanzspitze zitterte, als lauere er auf Beute. Er blickte Nick nicht an, aber Nick spürte, daß die Katze weitersendete. Und schon schoß Lung die Rampe hoch. Wieviel Zeit hatten sie? Nick konzentrierte sich auf den Himmel über dem Mast und stellte sich das Zigarrenschiff vor, wie er es gesehen hatte. Seine Gedankenbotschaft war von allen verstanden worden. Schon bildete sich über der Energiequelle der UFO-Leute das, was für sie der Teufel — der Feind war. Er hörte keinen Laut von den Fremden, die am Mastsockel arbeiteten, aber er sah, wie sie einen Augenblick zu erstarren schienen, dann rannten sie zu Stellungen im Gras, wo sie offenbar Strahlengeschütze hatten. Sie schossen auf die Projektion mit einer Verzweiflung, als wäre der Energiemast für sie lebenswichtig. Nick hatte aus dem Schiff etwas mitgenommen, das er für eine Waffe hielt. Es war ein zur Hälfte hohler, unterarmlanger Stab mit zwei Knöpfen an einem Ende. Er kannte weder die Wirkung dieser Waffe — wenn sie eine war —, noch wußte er, wie sie zu bedienen war. Aber er mußte es einfach auf einen Versuch ankommen lassen. Er rannte los. Einige Gefangene riefen etwas, doch er achtete nicht auf sie. Wichtig war im Augenblick nur der Mast. Er legte mit dem hohlen Stabende darauf an, drückte auf den vorderen Knopf und zielte auf die Drahtfächer an der Mastspitze. Es tat sich nichts. Kein Strahl war aus dem Rohr gekommen. Doch plötzlich wurde das leuchtende Rot der Drähte zum versengenden Weiß. Nick schlang einen Arm vor die geblendeten Augen. Ein ohrenbetäubendes Krachen erfüllte die Luft und der Boden unter seinen Füßen bebte. Blind taumelte er fort, um Schutz im Schiff zu suchen. Aber wo war es? Selbst das Atmen fiel ihm schwer, als würde die Luft davongesogen. Und dann kroch er durch eine Feuersbrunst, und er dachte, so müßte die Hölle sein, wie man sie sich früher vorgestellt hatte... Nick lag auf dem immer noch bebenden Boden, und etwas wie die Faust eines Riesen drückte auf seinen Rücken. Er schrie mit versagender Stimme auf, und dann kam eine Dunkelheit, die das Höllenfeuer löschte. Das Henkelkreuz ragte glühend hoch. Licht strahlte von ihm aus, verbreitete sich ringsum. Und unter diesem Licht war Frieden. Der Fächermast funkelte böse. Er zog die Lebenskraft Avalons an sich, und der Frieden war gebrochen. Von den Orten uralten Bösen strömten die Kreaturen der Finsternis wieder über das Land. Der Friede floh vor der Kraft des Mastes, vor der Finsternis, und zog sich in die Stadt zurück,
an jene Orte, von denen Avalon seine Kraft bezog. Hin und her wurden jene gejagt, die weder vom Licht noch von der Finsternis waren, und leichte Beute wurden... Unwissende Geschöpfe waren es, die sinnlos durch das Land irrten, verfolgt und überfallen von ihren eigenen Ängsten, denen sie unwissentlich Form und abscheuliches Leben gaben. Für alles waren sie blind, außer für ihre selbst geschaffene Geißel. Das Gleichgewicht war erschüttert. In den Städten sammelte sich das Volk: Rita und jene anderen, die Avalon anerkannt hatten. Dort stand der Herold, der den Namen dieses Landes trug, und hinter ihm waren seine vier Persevanten zu sehen: Eiche und Apfel, Weißdorn und Erle, jeder mit dem Wappen seiner Benennung. Und vor ihnen allen erhob sich Wappenkönig Logos. Von gewaltiger Macht war er und nicht mit dem farbenprächtigen Wappenrock eines Herolds bekleidet, sondern einem dunkelblauen Gewand mit silbernen Runen, die sich wanden und drehten, Worte großer Weisheit formten und verschwanden, um neuen Platz zu machen. Ein gewaltiges Schwert hielt er, dessen Spitze in der Scholle Avalons ruhte, aus dessem Metall es vor unendlicher Zeit geschmiedet worden war. Auch auf der Klinge dieses Schwertes hoben sich Runen ab, doch sie waren unveränderlich für alle Zeit eingeprägt und das auf eine Weise, die längst in Vergessenheit geraten war, selbst auf dieser Welt, wo die Zeit wenig bedeutete. Zwei Hände hielten das Schwert aufrecht, darüber breite Schultern, stolz gestrafft, und über ihnen der Kopf: das Gesicht eines Mannes, dem der Sturm untertan war, der dem Wind befahl und dem Wasser, und der doch seine Macht nicht für sich selbst einsetzte. Silbern war sein Haar wie die lebendigen Runen seines Gewandes. Es gab einen Namen für diesen Wappenkönig, einen Namen, der sehr alt war in Avalon, und Sage auf einer anderen Welt: Merlin. Und nun wandte der Wappenkönig Logos der Stadt den Rücken. Seine starken Hände zogen das Schwert aus dem Boden, hoben mühelos sein gewaltiges Gewicht und hielten es mit der stählernen Spitze voraus in Herzhöhe. Seine Lippen bewegten sich, doch seine Worte drangen nicht als Laute aus ihnen — sie waren nicht für die Ohren minderer Menschen oder Geister bestimmt. Scharlachrotes Feuer züngelte vom Fächermast der Fremden, und schwarzer Rauch senkte sich verunstaltend über das Land. Wo die häßlichen Flecken sich ausbreiteten, taten es auch die Kreaturen der Finsternis, und sie krochen zu den Städten. Die saugende Kraft der Fremden schwächte die von Avalon, so daß das Leben unter ihr dahinschmolz. Aber... Da war ein Branden von Kraft, so gewaltig, daß alles, was zu sehen war, von ihr verschlungen wurde. Alles war rot, dann weiß. Die Welt war nicht mehr. Nichts war mehr. „Nichts — nichts...“, hörte Nick. Schleppend kehrte seine Besinnung zurück. „Nichts — nichts...“ Seine eigene Stimme war es, die das wiederholte. Er — er war Nick Shaw — und er lebte. Aber er wollte die Augen nicht öffnen, wollte nicht noch einmal dieses schreckliche Nichts sehen, das das Ende von Avalon gewesen war. Wie konnte er noch leben, wenn alles andere, ja selbst eine Welt, tot war? „Nick! Nick! Bitte, wach doch auf!“ Wer sprach da zu ihm? Es interessierte ihn nicht wirklich. Er war müde — so müde. Avalon war nicht mehr. Er empfand eine unendliche Trauer und Tränen quollen aus den Augen, deren Lider er nicht heben wollte. „Bitte! Können Sie ihm denn nicht helfen? Tun Sie doch was!“ „Nur er selbst kann sich helfen!“ Nick kannte diese Stimme. Aber Avalon war nicht mehr! Er hatte mit der ihm unbekannten Waffe auf den Fächermast gezielt, und dann war eine ungeheuerliche Explosion erfolgt. Merlin mit dem Schwert war dagewesen. Aber die Explosion des Fächermasts mußte die Kräfte, auf denen Avalon beruht hatte, aus dem Gleichgewicht gerissen haben, und nun gab es
Avalon nicht mehr. „Nick!“ Hände schüttelten ihn. Es tat weh. Aber die Schmerzen seines Körpers waren gering gegenüber jenen seines Geistes, gegenüber der Erkenntnis, daß er durch seine Tat Avalon ungewollt zerstört hatte. „Nick! Mach die Augen auf!“ Er öffnete sie. Doch wie er gewußt hatte, da war nichts, gar nichts. „Da ist nichts! Avalon ist nicht mehr“, sagte er in die Leere. „Wovon redet er denn. Ist er — ist er blind?“ Schrecken sprach aus dieser Stimme aus dem Nichts. „Er ist blind auf seine Weise.“ Wieder diese andere Stimme aus der Vergangenheit. Der Herold! Aber es gab ihn nicht mehr. „Avalon, Tara, Broceliande, Carnac“, murmelte Nick. „Eiche und Apfel, Erle und Weißdorn, und der Wappenkönig Logos — sie sind nicht mehr.“ „Er — er spricht irr.“ Die erste Stimme klang, als kämpfe sie gegen Tränen an. „Was ist mit ihm geschehen?“ „Er glaubt, und was er glaubt, ist“, antwortete Avalon. „Du bist Avalon“, sagte Nick, „aber Avalon gibt es nicht mehr. Bin ich tot?“ Vielleicht war der Tod dieses - Nichts? „Natürlich nicht, Nick! Helfen Sie ihm doch! Sie können es!“ „Er muß glauben!“ „Nick, hör zu!“ Jemand war so nahe bei ihm, daß er den Atem im Gesicht spürte. Atem war Leben. Wie konnte jemand in diesem Nichts leben? „Nick, du bist hier bei uns. Irgendwie hast du diesen Leitungsmast, oder was immer es war, in die Luft gejagt! Und dann geschah alles auf einmal! Die Gefangenen kamen frei, und die Fremden starben alle, und ihre Schiffe explodierten. Und plötzlich war der Herold da. Nick, du mußt es dir ansehen! Etwas regte sich in ihm. Das war ja Linda! Linda und Avalon waren hier bei ihm. Er fühlte ihre Berührung, sie drückte seinen Kopf an ihre Brust, und er hörte ihr Herz schlagen l Das war Leben! Und wenn es Avalon für Linda gab, konnte es doch auch für ihn nicht verloren sein! Wieder öffnete er die Augen — in Nichts! Aber das durfte nicht sein! Hier war Avalon! Seinen ganzen Willen setzte er ein. Avalon! Hier war Avalon! Sein Augenlicht kehrte zurück — nicht in einem Bersten schmerzenden Lichtes, wie es verschwunden war, sondern allmählich. Aus Weiß wurde Grau, aus Grau Farben und Formen. Da war Linda mit besorgtem Gesicht. Da war Jeremiah, der ihn unbewegt anstarrte. Und als er den Kopf ein wenig hob, sah er leuchtende Farben — den Herold. Und hinter ihm ein Schlachtfeld — nicht von Menschen, sondern ungeheuren Kräften. Und ein UFO, das von seinen Stelzenbeinen gekippt war und sich mit einer Seite tief in den Boden gebohrt hatte. Dieser Anblick riß ihn aus seiner Selbstversunkenheit. Er setzte sich auf und schaute sich um. Linda schien unverletzt zu sein, genau wie Jeremiah und Lung, der sich an das Mädchen schmiegte. Aber Hadlett, Mrs. Clapp, die Gefangenen... „Die anderen?“ fragte er Linda. „Wie geht es den anderen?“ Sie antwortete nicht sofort, und Tränen glitzerten in ihren Augen als sie deutete: „Da drüben!“ Sie versuchte ihn zurückzuhalten, als es ihm irgendwie gelang, auf die Füße zu kommen. „Da drüben“ war bei dem zweiten UFO. In seinem kuppelförmigen Oberteil war ein gewaltiger Riß, und die Rampe war verbogen. An ihrem Fuß sah er Crocker und Jean. Mrs. Clapp und Lady Diana knieten neben jemandem auf dem Boden. Taumelnd ging Nick darauf zu, ihm war seltsam schwindlig. „Nick!“ Ehe er sich dagegen wehren konnte, hatte Linda seinen Arm um ihre Schultern gelegt und stützte ihn. Er versuchte nicht, sich zu befreien. Wenn ihre Hilfe ihn schneller zu den anderen brachte, um so besser. Er kam dort an und blickte, immer noch von Linda gestützt, hinunter auf den Vikar. Hadletts Augen waren offen, und als er Nick sah, lächelte er. „Daß der heilige Georg und der Erzengel
Michael Helden waren, ist ja bekannt, aber von Sankt Nicholas habe ich nicht gehört, daß er in die Schlacht gezogen ist, ich kenne ihn nur als Bringer von Gaben...“ Nick kniete sich neben ihn. „Mr. Hadlett...“ Bis zu diesem Augenblick war ihm nicht bewußt gewesen — obwohl er es irgendwie gespürt hatte —, wie sehr er an diesem Mann hing. Herzgebunden, hatte es Rita genannt. Jetzt verstand er, was sie gemeint hatte. „Sie haben den Sieg für uns errungen, Nicholas. Und...“ Hadlett wandte schwach den Kopf, den Mrs. Clapp stützte. „... ich glaube, es war ein beachtlicher Sieg. Habe ich recht?“ Da erst wurde Nick klar, daß der Vikar zu jemand hinter ihm sprach. Er drehte den Kopf und sah, daß der Herold ihnen gefolgt war. „Er hat die Freiheit Avalons errungen, und nicht nur für sich allein.“ „Es bestand also nicht nur für uns, sondern auch für Sie Gefahr“, sagte Hadlett. „Doch waren wir nicht verbündet...“ „Nur zum Teil. Avalen hat seine eigenen Gesetze, die nicht die der Menschen sind.“ Hadlett nickte schwach. „Das war...“ Er hielt inne. Sein Gesicht verriet den inneren Kampf. „Das war, wonach ich mich richten mußte. Das Gute mag in Avalon regieren — aber es — ist nicht — von meiner — Art...“ Roter Schaum entquoll seinem Mundwinkel und Blut sickerte zum Kinn. Nick wandte sich an den Herold. „Hilf ihm, bitte!“ „Nein, Nicholas.“ Nicht Avalon, sondern Hadlett antwortete. „Jeder hat seine Lebensspanne. Einmal endet sie. „Sie und ich“, wieder wandte er sich an Avalon, „wissen es. Nur wenigen Menschen ist es vergönnt, den Frieden zu finden. Ich bin — zufrieden. Nicholas, Sie haben mir einmal gesagt, daß viele Flüsse von einer einzigen Quelle gespeist werden. Das ist so. Aber jeder wählt seinen eigenen. Und nun laßt mich in meinen Frieden ziehen.“ Danach sprach er ein Gebet, Worte seiner Priesterschaft, seines eigenen Glaubens, des Glaubens, den er nicht für Avalon aufgeben wollte. Nick konnte ihm nicht zuhören. Es war zu unfair. Der Vikar hatte aus vollem Herzen gegeben — und was bekam er als Lohn dafür? Er riß sich von Linda los und entfernte sich von den anderen, indem er sich mit einer Hand auf das Wrack des UFOs stützte. Vor ihm erstreckte sich das freie Land mit einem Krater, umgeben von glasiger Schlacke, wo der Mast gestanden hatte. War er der Schlüssel zur Welt der zwergenwüchsigen Fremden gewesen? Wenn ja, war diese jetzt für sie für immer verschlossen. Was würde mit ihm und seinen Freunden nun geschehen? Würde die finstere Flut, vor der Rita und der Herold gewarnt hatten, weiterfließen? Oder war seine Vision, sein Traum, was immer auch, Wahrheit gewesen: daß die Kraft der Fremden die Finsteren angeregt und befreit und ihnen die Macht verliehen hatte, sich über diese Welt auszubreiten? „Nick?“ Er wandte sich nicht um. „Du wirst jetzt nicht mehr durch ihre Technik zurückkehren können!“ sagte er hart. „Ich weiß.“ Aber sie klang nicht niedergeschlagen. Jetzt drehte er sich zu ihr um. In ihrer arg mitgenommenen Kleidung, das Haar lose über die Schultern hängend, eine offene Schürfwunde auf der Wange, stand Linda vor ihm. Sie hielt Lung auf dem Arm, als wäre er das einzige, das sie je so halten konnte. Allein und verlassen sah sie aus. „Ich hoffe — ich hoffe, Dave...“ Ihre Stimme brach. „Nein...“ Sie wich zurück, als Nick einen Schritt auf sie zu machte. „Nein, sag es nicht... Wir werden nie zurückkehren können. Nach und nach werden wir vergessen, glaube ich. Die Vergangenheit wird uns wie ein Traum vorkommen. Vielleicht werde ich Avalon anerkennen, Nick. Ich muß es! Wenn nicht — werde ich mich immer erinnern, und das kann ich nicht ertragen!“ „Und was ist mit ihnen?“ Nick deutete auf die anderen. „Der Vikar — ist tot, Nick.“ Nun rannen Tränen über ihre Wangen, die sie gar nicht fortzuwischen versuchte. „Und der Rest — Stroud ist ebenfalls tot. Er kam in dem
Energierückstoß um. Genau wie es dir hätte passieren können, Nick — und wie ich es anfangs schon befürchtet hatte.“ Angst und Entsetzen sprachen nun aus ihren Augen. „Die anderen — sie wissen jetzt, was sie tun müssen. Und du, Nick?“ „Ich habe es immer gewußt — nachdem ich die Stadt gesehen hatte. Es kann nur eine Art von wahrem Leben in Avalon geben. Wenn wir mehr als die bedauernswerten menschlichen Tiere sein wollen, die im Wald herumirren, müssen wir Avalon wählen.“ Er streckte die Hand aus. Linda, die Lung auf dem anderen Arm an sich drückte, legte ihre in seine. Gemeinsam kehrten sie zu den anderen zurück. Bei dieser Wahl, dachte Nick, war nicht so sehr er, der gab Was er erhielt, war weit mehr. Avalon, der Herold, wartete auf sie, und das Leuchten um ihn war von wundersamem Zauber und viel versprechend.
ENDE