Carsten G. Ullrich Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates
Carsten G. Ullrich
Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates Präfer...
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Carsten G. Ullrich Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates
Carsten G. Ullrich
Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates Präferenzen, Konflikte, Deutungsmuster
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fritz-Thyssen-Stiftung.
. 1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Monika Mülhausen Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15702-3
Abbildungsverzeichnis
5
Inhalt
Abbildungsverzeichnis........................................................................................... 7 Vorbemerkung ...................................................................................................... 11 1
Einleitung .................................................................................................... 13
2
Wohlfahrtsstaatstheorie und die Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen ................................................................................................ 19 Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates.................................................................................. 19 2.1.1 Was ist Akzeptanz? Annäherungen an ein »amorphes« Konzept ........... 19 2.1.2 Wohlfahrtsstaatsakzeptanz............................................................................. 28 Wohlfahrtsstaatstheorie und die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates........................ 33 2.2.1 Funktionalistische Ansätze ............................................................................ 33 2.2.2 Konflikttheoretische Ansätze........................................................................ 36 2.2.3 Wohlfahrtskulturelle Ansätze ........................................................................ 46 2.2.4 Institutionentheoretische Ansätze ................................................................ 50
2.1 2.2
3 3.1 3.2
Ergebnisse und Defizite der wohlfahrtsstaatlichen Akzeptanzforschung ..56 Hintergründe und zentrale Ergebnisse der Akzeptanzforschung............................ 56 Akzeptanzmessung und Akzeptanzerklärung: Defizite und Aporien ..................... 61
4 4.1 4.2 4.3
Zur Operationalisierung und Erklärung von Akzeptanz ............................68 Angaben zur Umfrage »Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates«.............................. 68 Indikatoren der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz ................................................................ 69 Erklärungsfaktoren für die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme ........................ 82
5
Höhe und Verteilung der Akzeptanz in der Bundesrepublik Deutschland.................................................................................................93 Akzeptanz des »Status quo« ........................................................................................... 93 Akzeptanz der Wohlfahrtsstaatlichkeit....................................................................... 103 »Erweiterte Wohlfahrtsstaatlichkeit« und allgemeine Wirkungen des Wohlfahrtsstaates........................................................................................................... 115 Zusammenfassung: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates und der Wohlfahrtsstaatlichkeit in Deutschland ..................................................................... 124
5.1 5.2 5.3 5.4
6
Inhalt
6
Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«: Mögliche Erklärungsfaktoren von Akzeptanzurteilen und Akzeptanzunterschieden ........................................................................... 128 Klassen, Parteien und die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates ................................. 131 6.1.1 Einleitung........................................................................................................ 131 6.1.2 Arbeiter und »Mittelklassen«: Unterschiede zwischen sozialen Klassen bei der Beurteilung sozialer Sicherungssysteme ....................................... 138 6.1.3 Politisierte Gegensätze? Zum Einfluss der Parteiaffinität auf die Akzeptanzurteile...................................................................................... 146 Neue Konfliktlinien im Wohlfahrtsstaat (I): Versorgungsklassen ......................... 153 6.2.1 Einleitung........................................................................................................ 153 6.2.2 Versorgungsklassenstatus und subjektive Interessendefinitionen .................................................................................. 158 6.2.3 Fazit ................................................................................................................. 168 Neue Konfliktlinien im Wohlfahrtsstaat (II): Generationenkonflikte .................. 171 6.3.1 Zur Möglichkeit von Generationenkonflikten im Wohlfahrtsstaat.............................................................................................. 171 6.3.2 Generationenkonflikte um die Gesetzliche Rentenversicherung? ..................................................................................... 177 6.3.3 Generationsunterschiede bei der Beurteilung von Familienleistungen......................................................................................... 186 6.3.4 Fazit ................................................................................................................. 188 Eine Frage der Moral? Zum normativen Fundament der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz........................................................................................... 190 6.4.1 Wohlfahrtsstaatliche Prinzipien und normative Orientierungen........... 190 6.4.2 Die Bedeutung von Gerechtigkeitsüberzeugungen und grundlegender Sozialorientierungen für die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme .......................................................................... 198 6.4.3 Fazit ................................................................................................................. 208 Die Bedeutung des »Leistungsempfängerbildes« für die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme........................................................................................... 212 6.5.1 Einleitung: »Deservingness« und Akzeptanz ............................................ 212 6.5.2 Die Wahrnehmung der Leistungsempfänger............................................ 224 6.5.3 Der Einfluss der Leistungsempfängerwahrnehmung auf die Akzeptanzurteile ............................................................................................ 229 6.5.4 Fazit ................................................................................................................. 238
6.1
6.2
6.3
6.4
6.5
7
Zusammenfassung: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates und ihre Bestimmungsgründe .......................................................................... 241
Literaturverzeichnis ............................................................................................ 252 Anhang................................................................................................................ 265
Abbildungsverzeichnis
7
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 2.1 »Akzeptanzrelevante« Beziehungskonstellationen und Entscheidungen ...... 24 Abbildung 2.2
Konfliktwahrscheinlichkeiten in unterschiedlichen Wohlfahrtsregimen ...... 45
Abbildung 2.3
Wohlfahrtsstaatstheorie und Wohlfahrtsstaatsakzeptanz ............................... 55
Abbildung 4.1
Hauptindikatoren zur Messung der Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme und -bereiche ........................................................................ 76
Abbildung 4.2
Systemmerkmale der einzelnen wohlfahrtsstaatlichen Akzeptanzobjekte .... 81
Abbildung 4.3
Mögliche Erklärungsfaktoren der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz ...................... 86
Abbildung 4.4
Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen: allgemeines Orientierungsschema ............................................................................................ 92
Abbildung 5.1a Gesetzliche Krankenversicherung: Institutionenakzeptanz (Häufigkeiten)...... 95 Abbildung 5.1b Gesetzliche Rentenversicherung: Institutionenakzeptanz (Häufigkeiten)........ 96 Abbildung 5.1c Arbeitslosenversicherung: Institutionenakzeptanz (Häufigkeiten) ................. 97 Abbildung 5.1d Sozialhilfe: Institutionenakzeptanz (Häufigkeiten)............................................ 97 Abbildung 5.1e Leistungen für Familien: Institutionenakzeptanz (Häufigkeiten).................... 98 Abbildung 5.1f Positive Beurteilungen des »gesellschaftlichen Wertes« (Institutionenakzeptanz) im Vergleich (Häufigkeiten).............................................................. 99 Abbildung 5.2a Systemvertrauen (Häufigkeiten) ........................................................................101 Abbildung 5.2b Positive Vertrauenswerte im Vergleich (Häufigkeiten)...................................102 Abbildung 5.3a Gesundheitsversorgung: gewünschte staatliche Zuständigkeit (Häufigkeiten) .......................................................................................................105 Abbildung 5.3b Alterssicherung: gewünschte staatliche Zuständigkeit (Häufigkeiten) .........105 Abbildung 5.3c Unterstützung Arbeitsloser: gewünschte staatliche Zuständigkeit (Häufigkeiten) .......................................................................................................106
8
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 5.3d Armut: gewünschte staatliche Zuständigkeit (Häufigkeiten) .........................107 Abbildung 5.3e Hilfe für Familien: gewünschte staatliche Zuständigkeit (Häufigkeiten) .....107 Abbildung 5.3f Befürwortung einer überwiegend staatlichen Zuständigkeit im Vergleich (Häufigkeiten) .....................................................................................108 Abbildung 5.4a Gesetzliche Krankenversicherung: »Leistungsbewertung« (Häufigkeiten).....110 Abbildung 5.4b Gesetzliche Rentenversicherung: »Leistungsbewertung« (Häufigkeiten) .......111 Abbildung 5.4c Arbeitslosenversicherung: »Leistungsbewertung« (Häufigkeiten).................112 Abbildung 5.4d Sozialhilfe: »Leistungsbewertung« (Häufigkeiten) ...........................................113 Abbildung 5.4e »Leistungsbewertung«: Präferenzen für Leistungserhöhungen und Leistungskürzungen im Vergleich (Häufigkeiten) ...........................................114 Abbildung 5.5a Erweiterte Wohlfahrtsstaatlichkeit: »Arbeitsplätze« (Häufigkeiten) .............116 Abbildung 5.5b Erweiterte Wohlfahrtsstaatlichkeit: »Verringerung der Einkommensunterschiede« (Häufigkeiten) ..............................................................................117 Abbildung 5.5c Erweiterte Wohlfahrtsstaatlichkeit: »mehr finanzielle Unterstützung von Familien« (Häufigkeiten) .............................................................................118 Abbildung 5.5d Erweiterte Wohlfahrtsstaatlichkeit: »Kinderbetreuungseinrichtungen« (Häufigkeiten) .......................................................................................................119 Abbildung 5.6
Zustimmung zu wohlfahrtsstaatlichen Wirkungen (Häufigkeiten)...............122
Abbildung 6.1.1 »Leistungsbewertung« von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe nach sozialen Klassen (Häufigkeiten).............................................................................138 Abbildung 6.1.2 Befürwortung staatlicher Zuständigkeit: »Arbeitsplätze« und »Abbau von Einkommensunterschieden« nach sozialen Klassen (Häufigkeiten).....140 Abbildung 6.1.3 »Leistungsbewertung«: Arbeitslosengeld – Klassen, soziale Lage (OLS-Regressionen) ............................................................................................142 Abbildung 6.1.4 »Leistungsbewertung«: Sozialhilfe – Klassen, soziale Lage (OLS-Regressionen) ............................................................................................143 Abbildung 6.1.5 Staatliche Zuständigkeit: »Arbeitsplätze« und »Einkommensunterschiede« – Klassen, soziale Lage (Ordinale logistische Regressionen) ........................144 Abbildung 6.1.6 »Leistungsbewertung« von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe nach Parteiaffinität (Häufigkeiten) ..............................................................................147 Abbildung 6.1.7 Befürwortung staatlicher Zuständigkeit: »Arbeitsplätze« und »Abbau von Einkommensunterschieden« nach Parteiaffinität (Häufigkeiten)..........149
Abbildungsverzeichnis
9
Abbildung 6.1.8 »Leistungsbewertung«: Arbeitslosengeld und Sozialhilfe; Einfluss der Parteiaffinität (OLS-Regressionen) ............................................................150 Abbildung 6.1.9 Staatliche Zuständigkeit: »Arbeitsplätze« und »Abbau von Einkommensunterschieden«; Einfluss der Parteiaffinität (Ordinale logistische Regressionen) ....................................................................................................... 151
Abbildung 6.2.1 Wahrscheinlichkeit von Versorgungsklassengegensätzen .............................156 Abbildung 6.2.2 »Leistungsbewertung« nach Versorgungsklassen: Arbeitslosengeld und Sozialhilfe (Häufigkeiten)............................................................................160 Abbildung 6.2.3 »Leistungsbewertung«: Höhe des Arbeitslosengeldes und der Sozialhilfe – Versorgungsklassen und subjektive Interessendefinitionen (OLSRegressionen) .......................................................................................................161 Abbildung 6.2.4 Institutionenakzeptanz: Arbeitslosenversicherung und Sozialhilfe – Versorgungsklassen und subjektive Interessendefinitionen (OLSRegressionen) .......................................................................................................163 Abbildung 6.2.5 Erweiterte Wohlfahrtsstaatlichkeit: »Arbeitsplätze« – Versorgungsklassen und subjektive Interessendefinitionen (Ordinale logistische Regressionen) ..164 Abbildung 6.2.6 »Leistungsbewertung« (Rentenhöhe) und Institutionenakzeptanz (GRV) – Versorgungsklassen und subjektive Interessendefinitionen (OLSRegressionen) .......................................................................................................166 Abbildung 6.2.7 Institutionenakzeptanz: Gesetzlichen Krankenversicherung – subjektive Interessendefinitionen (OLS-Regressionen) .............................168
Abbildung 6.3.1 Wahrnehmung einer »Benachteiligung Jüngerer« und eines Generationenkonflikts in der Gesetzlichen Rentenversicherung (Häufigkeiten) ...............178 Abbildung 6.3.2 Anspruchserwerb durch Rentner nach Alterskategorien (Häufigkeiten) ........180 Abbildung 6.3.3 Anspruchserwerb durch Rentner (Ordinale logistische Regressionen).......181 Abbildung 6.3.4 Mögliche Konfliktlagen im Kontext wohlfahrtsstaatlicher Sicherung .......182 Abbildung 6.3.5 Institutionenakzeptanz der Gesetzlichen Rentenversicherung nach Altersgruppen (Häufigkeiten).............................................................................183 Abbildung 6.3.6 Gesetzliche Rentenversicherung: Institutionenakzeptanz und Leistungsbewertung« (OLS-Regressionen).......................................................................184 Abbildung 6.3.7 Einschätzung der eigenen Absicherung im Alter (Ordinale logistische Regressionen) .......................................................................................................186 Abbildung 6.3.8 Staatliche Unterstützung für Familien und für die Kinderbetreuung (Ordinale logistische Regressionen)..................................................................187
10
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 6.4.1 Wohlfahrtsstaatliche Bereiche und inkorporierte Gerechtigkeitsprinzipien ..193 Abbildung 6.4.2 Institutionenakzeptanz der Gesetzlichen Rentenversicherung (OLS-Regressionen) ............................................................................................200 Abbildung 6.4.3 Institutionenakzeptanz der Sozialhilfe (OLS-Regressionen).........................202 Abbildung 6.4.4 »Leistungsbewertung« – Renten (OLS-Regressionen) ...................................203 Abbildung 6.4.5 »Leistungsbewertung« – Sozialhilfe (OLS-Regressionen)..............................204 Abbildung 6.4.6 Erweiterte Wohlfahrtsstaatlichkeit: »Bereitstellung von Arbeitsplätzen« und »Abbau von Einkommensunterschieden« (Ordinale logistische Regressionen) .......................................................................................................206
Abbildung 6.5.1 Mögliche Zielgruppen- und Leistungsempfängerbilder.................................214 Abbildung 6.5.2 Verteilung der untersuchten »deservingness«-Kriterien ...............................219 Abbildung 6.5.3a Wahrnehmung der Leistungsempfänger: »positive« Eigenschaften (Häufigkeiten) ...........................................................................................................225 Abbildung 6.5.3bWahrnehmung der Leistungsempfänger: »negative« Eigenschaften (Häufigkeiten) ............................................................................................................227 Abbildung 6.5.4 Staatliche Zuständigkeit für Gesundheitsversorgung und »Leistungsbewertung« (GKV-Leistungen) (OLS-Regressionen) ...................................230 Abbildung 6.5.5 Staatliche Zuständigkeit für die Alterssicherung und »Leistungsbewertung« (Rente) (OLS-Regressionen).........................................................232 Abbildung 6.5.6 Staatliche Zuständigkeit für die Unterstützung von Arbeitslosen und »Leistungsbewertung« (Arbeitslosengeld) (OLS-Regressionen) ...................234 Abbildung 6.5.7 Staatliche Zuständigkeit bei Armut und »Leistungsbewertung« (Sozialhilfe) (OLS-Regressionen) ......................................................................235 Abbildung 6.5.8 Staatliche Zuständigkeit für Familien (OLS-Regressionen) ..........................236 Abbildung 6.5.9 Präferenzen für höhere Ausgaben für Familien (Ordinale logistische Regressionen) .......................................................................................................237
Vorbemerkung
Diese Arbeit befasst sich mit der Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates in der Bundesrepublik Deutschland. Sie ist aus einem umfangreichen Forschungsprojekt hervorgegangen, dass ich von 2002 bis 2005 an der Universität Mannheim geleitet habe. Das hier vorliegende Buch stellt die geringfügig überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift dar, die im Juni 2006 von der Fakultät für Sozialwissenschaften der Universität Mannheim angenommen wurde. Wie immer bei umfangreichen Forschungsvorhaben wäre ihre Realisierung ohne die Unterstützung vieler Kolleginnen und Kollegen nicht möglich gewesen. An erste Stelle ist hier Johannes Berger zu nennen, dem ich gleich dreifach zu danken habe: als Co-Projektleiter, als Gutachter meiner Habilitationsschrift sowie als langjähriger Inhaber des Lehrstuhls, an dem ich den notwendigen Freiraum hatte, mich dieser intensiven Forschung zu widmen. Ohne Einschränkung kann ich dies auch für Bernhard Ebbinghaus sagen, der Johannes Berger als Lehrstuhlinhaber nachfolgte. Er hat mir nicht nur in Zeiten hoher Lehrstuhlbelastung ein relativ »druckfreies« Beenden meiner Forschungen ermöglicht, sondern unterstützte mich auch darüber hinaus in vielerlei Hinsicht. Die Zusammenarbeit mit Bernhard Ebbinghaus werde ich als ausgesprochen konstruktiv und solidarisch in Erinnerung behalten. Mein besonderer Dank gilt auch Bernhard Christoph, der als mein langjähriger Projektmitarbeiter für die Durchführung des Forschungsprojekts unverzichtbar war. Fast alle Aspekte der vorliegenden Arbeit sind in intensiver Zusammenarbeit und anregenden Diskussionen mit Bernhard Christoph entstanden. Ihm gebührt dabei das Verdienst, mich ein ums andere Mal vor vorschnellen Interpretationen gewarnt zu haben (und sofern es diese dennoch geben sollte, ist dies bestimmt nicht seine Schuld). Wichtige Anstöße gingen auch vom Kollegenkreis am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung (MZES) aus, insbesondere im Rahmen der dort regelmäßig abgehaltenen Kolloquien. Als sehr wertvoll für die Projektarbeit erwies sich auch die Unterstützung durch das Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen (ZUMA). Patrick Sachweh und Valentin Eck haben über einen langen Zeitraum als studentische Hilfskräfte wertvolle und engagierte Projektarbeit geleistet. Beide haben zudem herausragende Diplomarbeiten zu Teilfragen des Forschungsprojekts verfasst. Auch ihnen sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Zu erwähnen sind hier auch
12
Vorbemerkung
Tim Müller, Nadine Reibling, André Schaffrin und Sebastian Koos, die mich als studentische Hilfskräfte des Lehrstuhls in unterschiedlicher Form bei meiner Arbeit unterstützt haben. Im Rahmen des wissenschaftlichen Austausches haben auch viele Kolleginnen und Kollegen durch Anregungen und Kritik Einfluss auf mein Forschungsvorhaben genommen; ihnen sei hier kollektiv gedankt. Zuletzt sei auch der Fritz-ThyssenStiftung und dem Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung für die Finanzierung des Forschungsprojektes sowie dieser Publikation gedankt. Mannheim, im Juli 2007
1
Einleitung
Diese Arbeit befasst sich mit der Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen in der Bundesrepublik Deutschland. Es wird untersucht, auf welches Maß an Akzeptanz der Wohlfahrtsstaat stößt, welcher Art diese Akzeptanz ist und wie die Akzeptanzurteile gegenüber sozialen Sicherungssystemen und sozialpolitischen Zielen erklärt werden können. Grundlage für diese Analysen sind die Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage zur Wohlfahrtsstaatsakzeptanz in Deutschland, die im Sommer 2004 durchgeführt wurde. Diese Umfrage ist die erste für die Bundesrepublik Deutschland durchgeführte Primärerhebung, in der Aspekte der wohlfahrtsstaatlichen Akzeptanz in größerem Umfang und in detaillierter Form thematisiert wurden. Die Frage, wie der Sozialstaat insgesamt, einzelne Sicherungssysteme sowie spezifische Teilaspekte und Regelungen von der Bevölkerung beurteilt werden, ist von großer Bedeutung für die Ausgestaltung des Systems der sozialen Sicherung. Dies gilt zum einen in legitimatorischer Hinsicht: Soziale Rechte und individuelle Sicherungsbedürfnisse bilden die Grundlage zumindest im Kern legitimer Ansprüche und Erwartungen der Sozialbürger an den Staat. Sie sollten insofern ein zentrales Anliegen staatlicher Politik sein und sich zumindest restringierend auf (sozial)politische Entscheidungsspielräume auswirken. Aber auch für den Erhalt, die Funktionstüchtigkeit und die Umgestaltung sozialer Sicherungsinstrumente ist die Frage ihrer Akzeptanz von entscheidender Bedeutung. Denn nur soweit die in ihnen inkorporierten Handlungserwartungen – an die Solidaritätsbereitschaft, Eigenverantwortung oder auch »compliance« – bei einer Mehrheit der wohlfahrtsstaatlichen Adressaten grundsätzlich auf Zustimmung stoßen und insofern von einer supportiven Wohlfahrtskultur getragen werden, können soziale Sicherungssysteme ihren vielschichtigen Anforderungen gerecht werden. Als reine Zwangsapparate – so zumindest die weit geteilte Auffassung – lassen sich derart anspruchsvolle Institutionen wie die Gesetzliche Rentenversicherung oder die Sozialhilfe in einem demokratischen Rechtsstaat jedenfalls nicht aufrechterhalten. Gerade in Zeiten intensiver Bemühungen um eine grundlegende Umgestaltung des Wohlfahrtsstaates gewinnen Fragen der sozialen Akzeptanz daher zunehmend an Bedeutung und angesichts des Ausmaßes des notwendigen – oder auch nur als notwendig erachteten – Reformbedarfs im Bereich der sozialen Sicherung auch an Dringlichkeit.
14
1 Einleitung
Trotz ihrer zentralen Bedeutung hat die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme jedoch sowohl im politisch-öffentlichen als auch im wissenschaftlichen Diskurs bisher eher wenig Beachtung gefunden. Ein entscheidender Grund für die Vernachlässigung von Fragen der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz ist in der lange Zeit vorherrschenden Auffassung zu sehen, der Wohlfahrtsstaat der Nachkriegszeit generiere durch die Gewährung von Leistungsansprüchen seine Unterstützung gewissermaßen selbst. Doch bereits in der Hochphase der wohlfahrtsstaatlichen Expansion mehrten sich die Zweifel an einer unverbrüchlichen Unterstützung sozialpolitischer Programme in der Bevölkerung. Die Richtungen, aus denen diese Zweifel geäußert wurden, waren denkbar unterschiedlich – so wechselten sich im Gefolge der politischen Großwetterlagen neomarxistische, neokonservative und neoliberale Krisenszenarien ab. Gemeinsam sind ihnen die eher politisch-weltanschauliche Sichtweise und eine meist völlige Abstinenz gegenüber womöglich irritierenden Fragen tatsächlicher (empirischer) Akzeptanz. Ihre skeptischen Annahmen über vermeintliche Legitimationsdefizite des Wohlfahrtsstaates sind daher wesentlich ideologischer Natur. Wie die Bevölkerung das System der sozialen Sicherung beurteilt und wie sie möglichen Reformalternativen gegenübersteht, ist jedoch eine empirische Frage und kann nicht einfach aus theoretischen Axiomen abgeleitet werden. Eine positive Akzeptanz der wohlfahrtsstaatlichen Institutionen ist dabei alles andere als selbstverständlich. Sie ist, im Gegenteil, äußerst voraussetzungsvoll, setzt sie doch beim Gros der Beitrags- und Steuerzahler in erheblichem Maße ein Verzicht auf unmittelbare Konsuminteressen voraus. Die vorliegende Arbeit verfolgt daher ein doppeltes Ziel: Zum einen soll ein repräsentatives Bild über den Grad der Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen in der Bundesrepublik Deutschland sowie über Akzeptanzunterschiede zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen gewonnen werden. Darüber hinaus zielt sie auf die Erklärung positiver und negativer Akzeptanzurteile mittels multivariater Erklärungsmodelle. Entsprechende Analysen werden für insgesamt fünf Leistungsbereiche bzw. Sicherungssysteme durchgeführt: für die Bereiche Alterssicherung/Gesetzliche Rentenversicherung, Gesundheitsversorgung/Gesetzliche Krankenversicherung, Arbeitslosigkeit/Arbeitslosenversicherung, Armut/Sozialhilfe sowie für Leistungen für Familien. Angesichts der Vielschichtigkeit der für die Beurteilung sozialer Sicherungssysteme infrage kommenden Bezüge – wie u.a. unmittelbare und langfristige Interessen, gegensätzliche Wertorientierungen und unterschiedliche Situationseinschätzungen – und der institutionellen Komplexität und Widersprüchlichkeit des Wohlfahrtsstaates ist jedoch für beide hier zentralen Fragen – nach dem Art und Umfang der Akzeptanz sowie nach den möglichen Erklärungsfaktoren – nicht mit »einfachen« Antworten zu rechnen. Insgesamt gliedert sich die Untersuchung in zwei Teile. Der erste Teil, der die Kapitel 2 bis 4 umfasst, behandelt zunächst verschiedene theoretische und konzep-
1 Einleitung
15
tionelle Fragen der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz. Im Hauptteil dieser Arbeit (Kapitel 5 und 6) werden dann die einzelnen empirischen Analysen zu den im ersten Teil entwickelten Annahmen über die Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen vorgestellt. Im folgenden Kapitel (Kapitel 2) werden zwei grundlegende theoretische Aspekte diskutiert. Im ersten Abschnitt stehen Bemühungen im Vordergrund, den Akzeptanzbegriff genauer zu bestimmen (Abschnitt 2.1). Dabei sind Antworten auf zwei Fragen zu finden: Zum einen ist zu klären, wie Akzeptanz allgemein definiert werden und von vordergründig ähnlichen Phänomenen wie Toleranz oder Legitimität sinnvoll unterschieden werden kann. Auf dieser Grundlage werden dann die spezifischen Akzeptanzbedingungen erörtert, die im Kontext der wohlfahrtsstaatlichen Sicherung bestehen. Ein anderer theoretischer Zugang zur Wohlfahrtsstaatsakzeptanz wird im zweiten Abschnitt (2.2) gesucht. Hier werden die dominanten Richtungen der Wohlfahrtsstaatstheorie danach befragt, welchen Stellenwert sie Akzeptanzfragen beimessen und vor allem, welche Annahmen sie über die allgemeine Beschaffenheit der Akzeptanz und über mögliche Erklärungsfaktoren treffen bzw. welche Hypothesen über die Wohlfahrtsstaatsakzeptanz sich aus ihnen ableiten lassen. Dieser Abschnitt dient der Gewinnung noch eher allgemeiner Annahmen über die Akzeptanz von Wohlfahrtsstaaten insgesamt sowie über die spezifischen Akzeptanzbedingungen des deutschen, »konservativen« Wohlfahrtsstaatsmodells. Das dritte Kapitel gibt einen kurzen Überblick über den internationalen Forschungsstand zur Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates. In einem ersten Schritt werden die gebräuchlichen Formen der (wohlfahrtsstaatlichen) Akzeptanzmessung dargelegt und die zentralen Befunde zusammengefasst, wobei sich die Darstellung vor allem auf vergleichende Untersuchungen stützt (3.1). Daran anknüpfend wird verdeutlicht, worin die Probleme und Defizite der Akzeptanzforschung zum Wohlfahrtsstaat bestehen und welche Alternativen sich anbieten (3.2). Die Kritik an der Akzeptanzforschung zum Wohlfahrtsstaat bildet den Ausgangspunkt für die Entwicklung der Akzeptanzindikatoren und die Bestimmung möglicher Erklärungsfaktoren für die Akzeptanzurteile (Kapitel 4). Nach einigen allgemeinen Angaben zur Datenbasis (4.1) erfolgt zunächst eine detaillierte Darstellung der Akzeptanzindikatoren (4.2). Dabei geht es nicht nur um allgemein-methodische und messtechnische Fragen, sondern vor allem um die Angemessenheit der verwendeten Indikatoren im Hinblick auf die in Abschnitt 2.1 herausgestellten Besonderheiten wohlfahrtsstaatlicher Akzeptanz. Die Vor- und Nachteile verschiedener Formen der Akzeptanzmessung sowie methodologische »Aporien« werden hier ausführlich diskutiert. Da sie nur analytisch von der Frage der Angemessenheit von Akzeptanzindikatoren zu trennen ist, erfolgt in diesem Abschnitt schließlich auch die nähere Festlegung des »Akzeptanzobjekts Wohlfahrtsstaat«. Dabei wird deutlich, dass nur
16
1 Einleitung
einzelne Sicherungssysteme, Leistungen und Aufgabenbereiche die Analyseeinheiten bilden können. Im dritten Abschnitt dieses Kapitels (4.3) werden die Erklärungsfaktoren erläutert, die im Rahmen dieser Untersuchung zur Erklärung der Akzeptanzurteile über soziale Sicherungssysteme herangezogen werden. Auch hier gilt es, die Kritik an der traditionellen Akzeptanzforschung produktiv für die Erweiterung des Spektrums möglicher Erklärungsfaktoren zu nutzen. Neben in der politischen Einstellungsforschung häufig verwendeter Indikatoren der sozialen Lage und politischer Präferenzen werden hier zudem subjektive Interessendefinitionen, grundlegende Wertorientierungen und spezifische Deutungsmuster hinsichtlich ihres möglichen Erklärungswerts diskutiert. Im fünften Kapitel werden die allgemeinen (deskriptiven) Befunde zur Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates in der Bundesrepublik Deutschland dargelegt. Dabei werden zwei kategoriale Dimensionen unterschieden: In einem ersten Abschnitt (5.1) wird die Akzeptanz der bestehenden wohlfahrtsstaatlichen Institutionen bzw. Leistungsbereiche betrachtet. Dazu werden das Systemvertrauen und die allgemeine Beurteilung der Wohlfahrtsinstitutionen für insgesamt fünf Bereiche analysiert (Gesetzliche Rentenversicherung, Gesetzliche Krankenversicherung, Arbeitslosenversicherung, Sozialhilfe und Leistungen für Familien). Zusätzlich zum wohlfahrtsstaatlichen Status quo wird auch die Akzeptanz der »Wohlfahrtsstaatlichkeit«, des gewünschten Umfangs und der gewünschten Intensität der sozialen Sicherung, untersucht (Abschnitt 5.2). Im Vordergrund stehen dabei die Frage einer staatlichen Zuständigkeit für sozialpolitische Aufgaben sowie die Beurteilung des Niveaus der für den deutschen Wohlfahrtsstaat zentralen Leistungsarten (gesetzliche Rente, Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung, Arbeitslosengeld und Sozialhilfe). Ergänzend wird schließlich auch die Akzeptanz von sozialpolitischen Zielsetzungen und Aufgaben untersucht, die nicht zum Kanon der institutionalisierten wohlfahrtsstaatlichen Funktionen zu rechnen sind (Abschnitt 5.3). Im zweiten und umfangreicheren Teil der empirischen Analysen (Kapitel 6) werden unterschiedliche und zum Teil konkurrierende Annahmen über die maßgeblichen Erklärungsfaktoren der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz eingehend analysiert. Dies erfolgt abschnittsweise anhand von insgesamt fünf thematischen Schwerpunkten. Dabei werden die im zweiten Kapitel aus den Theorien der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung abgeleiteten, noch allgemeinen Annahmen über die Wohlfahrtsstaatsakzeptanz und über Unterschiede zwischen Bevölkerungsgruppen in den einzelnen Abschnitten zu spezifischen Hypothesen weiterentwickelt und ausführlich erläutert. Im ersten Abschnitt dieses analytischen Teils (6.1) steht zunächst die klassische Frage im Mittelpunkt, ob sich traditionelle Klassengegensätze, die gerade auch in der Arena der sozialstaatlichen Sicherung ausgetragen wurden, in den Akzeptanzurteilen über den Wohlfahrtsstaat wieder finden lassen. Demnach müssten vor allem Arbeiter und Personen in ähnlichen sozialen Positionen das System der sozialen Sicherung
1 Einleitung
17
mehr unterstützen und ein höheres Absicherungsniveau präferieren als andere Bevölkerungsteile, insbesondere wenn diese dem Lager der traditionellen Wohlfahrtsstaatsgegner zuzurechen sind (wie vor allem Selbständige). Neben dem zentralen Aspekt traditioneller Klassengegensätze wird in diesem Abschnitt geprüft, inwiefern sich gegenläufige Annahmen über die Integration der Mittelklassen in den Wohlfahrtsstaat mit Akzeptanzurteilen belegen lassen. Schließlich wird hier auch der Frage nachgegangen, inwiefern bei der Beurteilung der sozialen Sicherung Gegensätze zwischen Personen mit unterschiedlicher parteipolitischer Orientierung zu erkennen sind. In Abschnitt 6.2 wird untersucht, in welchem Maße Interessengegensätze bei der Beurteilung der sozialen Sicherung bestehen, die sich unmittelbar aus den redistributiven Wirkungen des Wohlfahrtsstaates ergeben. Das wichtigste Kriterium sind hierbei Versorgungsklassenpositionen, die vor allem bei Sicherungssystemen mit existenzoder lebensstandardsichernden Leistungen (Renten, Arbeitslosengeld, Sozialhilfe) deutlich sichtbar sind und ein spezifisches Interesse gegenüber den entsprechenden Sicherungssystemen und Leistungen konstituieren. Neben der objektiven sozialpolitischen Interessenlage wird in diesem Abschnitt zudem die Bedeutung subjektiver Interessendefinitionen für die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme untersucht. Die Möglichkeit eines wohlfahrtsstaatlichen Generationenkonflikts ist das dritte Thema dieses Kapitels (6.3). Ähnlich wie bei den Versorgungsklassen handelt es sich hier um einen latenten Gegensatz, der erst durch die Form der sozialen Sicherung selbst mitbedingt ist und angesichts eines schrumpfenden »Kuchens« virulent zu werden droht. An besonders lebensphasenspezifischen Leistungen wird daher untersucht, ob sich aus Akzeptanzunterschieden zwischen Altersgruppen ein Potenzial für intergenerationelle Konflikte ablesen lässt und wie die Befragten selbst die Möglichkeit eines wohlfahrtsstaatlichen Generationenkonflikts einschätzen. Kreisen die bisherigen thematischen Schwerpunkte vor allem um Erklärungen von Akzeptanzurteilen und Akzeptanzunterschieden, die letztlich auf vom Wohlfahrtsstaat unabhängige oder durch ihn strukturierte Interessen rekurrieren, so befassen sich die beiden letzten Abschnitte des analytischen Teils mit Erklärungsversuchen, die Akzeptanzurteile durch Einflüsse jenseits des unmittelbaren Eigeninteresses motiviert sehen. Zunächst wird in Abschnitt 6.4 die Bedeutung unterschiedlicher Handlungs- und Wertorientierungen für die Erklärung von Akzeptanzurteilen betrachtet. Dabei wird nicht nur gezeigt, dass sich normative Überzeugungen auf die Wohlfahrtsstaatsakzeptanz auswirken können; vielmehr wird auch den spezifischen, kontextabhängigen Einflüssen der einzelnen Handlungsorientierungen nachgegangen. Denn Wertorientierungen, so die hier zugrunde gelegte Annahme, wirken sich nur in dem Maße auf die Akzeptanzurteile über soziale Sicherungssysteme aus, wie sie auch im jeweiligen Sicherungskontext relevant erscheinen. Dabei wird vor allem für Orientierungen an grundlegenden Normen der Verteilungsgerechtigkeit (u.a. Bedarfsgerechtigkeit) eine ent-
18
1 Einleitung
sprechende Wirkung auf die Beurteilung sozialer Sicherungssysteme angenommen. Ein ähnlicher Einfluss auf die Akzeptanzurteile wird aber auch von allgemeinen »Sozialorientierungen« (z.B. einer Befürwortung von Eigenverantwortung) erwartet. Im abschließenden Analyseabschnitt (6.5) werden schließlich institutionalistische Überlegungen zur Akzeptabilität sozialer Sicherungssysteme überprüft. Diesen ist die Vorstellung gemeinsam, dass die Chancen einer Institution auf Akzeptanz auch durch deren institutionelle Spezifika geprägt werden. Die Untersuchung dieser institutionalistischen Grundüberzeugung erfolgt hier für einen wichtigen Teilbereich, und zwar für die Wahrnehmung und Beurteilung der Leistungsempfänger. Ausgangspunkt ist dabei die Annahme, dass ein positives Bild der Leistungsempfänger sich verstärkend, ein negatives dagegen abträglich auf die Akzeptanz der entsprechenden Sicherungssysteme auswirkt. Hierzu werden Beurteilungen der Leistungsempfänger anhand mehrerer Eigenschaften erfasst und hinsichtlich ihres Einflusses auf die Akzeptanzurteile untersucht. Abschließend werden die wichtigsten Ergebnisse der empirischen Analysen zusammengefasst und ihre Implikationen diskutiert (Kapitel 7). In einem Anhang findet sich eine ausführliche Darstellung der verwendeten Akzeptanzindikatoren und Erklärungsfaktoren nebst Itemformulierungen und Antwortskalen.
2 Wohlfahrtsstaatstheorie und die Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen
Dieses Kapitel führt in die allgemeine Thematik dieser Arbeit ein. Dazu wird dargelegt, auf welche soziale Phänomene und Problemlagen das Konzept der Akzeptanz reagiert und welche Erklärungen unterschiedliche Wohlfahrtsstaatstheorien für die Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen anbieten. Im ersten Teil (2.1) wird zunächst näher erläutert, was unter »Akzeptanz« zu verstehen ist. Im Vordergrund stehen dabei begriffliche und theoretische Präzisierungen. Diese erfolgen zunächst in allgemeiner Form (2.1.1). In einem zweiten Schritt wird dann verdeutlicht, was man im Kontext der wohlfahrtsstaatlichen Sicherung mit Akzeptanz meint und wo sich hier Akzeptanzprobleme stellen können (2.1.2). Der zweite Teil diese Kapitels (2.2) befasst sich dann eingehend mit den einzelnen Annahmen über die Bedeutung und die Ursachen der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz, die sich aus konkurrierenden Ansätzen der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung ergeben. 2.1 Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates 2.1.1
Was ist Akzeptanz? Annäherungen an ein »amorphes« Konzept
»Akzeptanz« ist ein schwieriges, empirisch wie theoretisch nur schwer zu fassendes Phänomen. Die Thematik sozialer Akzeptanz weist dabei zahlreiche theoretische Bezüge auf; eine allgemeine und umfassende Theorie der Akzeptanz steht aber noch aus. Auch sind – etwa im Unterschied zum Begriff der politischen Unterstützung, der aus dem Kontext der kybernetischen Systemtheorie hervorgegangen ist – kaum spezifische Affinitäten zu einzelnen Theorierichtungen auszumachen. Entsprechend heterogen und theoretisch unbestimmt erscheint daher auch oft die Verwendung des Akzeptanzbegriffs. Eingang in wissenschaftliche Diskussionszusammenhänge fand das Konzept der Akzeptanz in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts (vgl. Kneer 2000). Eine wichtige Rolle spielte der Akzeptanzbegriff dabei zunächst in der Techniksoziologie im Zusammenhang mit der Einführung neuer Technologien und der damit verbundenen Risiken (vgl. u.a. Dierkes 1986; Jaufmann 1999; Kistler/Jaufmann 1990), wobei eine theoretische Reflexion des Akzeptanzphänomens – wie etwa bei Rammert (1990) –
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2 Wohlfahrtsstaatstheorie und die Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen
jedoch eher die Ausnahme blieb. Eine gewisse Verbreitung hat er aber auch in der Verwaltungssoziologie (Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen; Kneer 2000) und vor allem in der Rechtssoziologie gefunden (Akzeptanz von Gesetzen und richterlichen Entscheidungen; vgl. u.a. Limbach 1998; Würtenberger 1999). Schließlich hat der Akzeptanzbegriff auch in der deutschsprachigen Wohlfahrtsstaatsforschung seit den 90er Jahren immer mehr Verwendung gefunden und ältere Terminologien zunehmend verdrängt (s. hierzu 2.1.2). Grundsätzlich liegen jeder Form von Akzeptanzforschung zwei allgemeine Prämissen zugrunde: So wird zum einen angenommen, dass ein bestimmtes Mindestmaß an (positiver) Akzeptanz eine Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit sozialer Institutionen ist. Nur mit Protest, Ablehnung oder Desinteresse – so diese integrations- und stabilitätstheoretische Prämisse – lässt sich keine gesellschaftliche Ordnung aufrechterhalten. Zum anderen wird das empirisch feststellbare Maß an Akzeptanz als Kriterium für die Legitimität insbesondere von Herrschaftsverhältnissen angesehen (legitimitätstheoretische Prämisse), ohne dass jedoch (empirische) Akzeptanz und (normative) Legitimität gleichzusetzen wären. Die Akzeptanzthematik gewinnt zudem durch die Annahme an Brisanz, dass Fragen sozialer Akzeptanz immer häufiger gestellt werden. Sowohl als gesellschaftliches Phänomen als auch als theoretisches Konzept steigt demnach die Bedeutung von Akzeptanz. Für einen wachsenden Bedarf an sozialer Akzeptanz lassen sich dabei mindestens zwei theoretische Argumente anführen (vgl. a. Lucke 1995, 1996): In modernisierungstheoretischer Sicht kann von einer stärkeren und weiter wachsenden Demokratisierung bzw. Partizipation ausgegangen werden. Dies bedeutet, dass immer mehr Bürgern immer mehr Partizipations- und Mitbestimmungsrechte eingeräumt werden und dass diese gleichzeitig immer mehr willens sind, diese Rechte auch wahrzunehmen. Dadurch werden vor allem politische Entscheidungen im steigenden Maße von Akzeptanz abhängig – sei es tatsächlich oder nur im Sinne eines Anspruches auf »Akzeptanzbeachtung«.1 Auch systemtheoretische Überlegungen legen einen steigenden Akzeptanzbedarf nahe, wenn man der grundlegenden Annahme einer »thematischen Reinigung« der Funktionssysteme und ihrer »legitimen Indifferenz« (Tyrell 1978) gegenüber systemfremden Belangen folgt. Denn aufgrund dieser Eigenschaften produzieren Funktionssysteme permanent »Systemexternalitäten«, die – allerdings weniger in einer system- als in einer akteurstheoretischen Perspektive – Akzeptanzprobleme aufwerfen. Durch Inklusionsprozesse und wachsende Interdependenzen werden zudem immer mehr Menschen zu Beteiligten und Betroffenen unterschiedlicher Funktionssysteme, was zugleich zu einem gesteigerten Kontingenzbewusstsein führt. Mit modernisierungs- und systemtheoretischen Überlegungen lässt sich also die Vermutung begründen, dass immer mehr Menschen von einer wachsenden Zahl 1
Nach Lucke (1995) leben wir bereits in einer »Abstimmungsgesellschaft«.
2.1 Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates
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von Entscheidungen anderer betroffen sind, dass ihnen immer häufiger ein »Anspruch auf Akzeptanz« zugestanden wird und dass parallel die Erwartung und Bereitschaft steigt, diesen Anspruch einzulösen und vor allem negative Akzeptanz mittels öffentlicher Proteste und anderer Formen des Widerstands (z.B. rechtliche Klagen) zum Ausdruck zu bringen. Für die Annahme eines gestiegenen Akzeptanzbedarfs gibt es insofern gute theoretische Gründe. Entsprechende empirische Nachwiese dürften dennoch schwer fallen (vgl. aber die Beiträge in Lucke/Hasse 1998). Dies gilt vor allem für die aus dem gestiegenen Akzeptanzbedarf und einer vermeintlich gesunkenen Zustimmungsbereitschaft abgeleitete Annahme einer grundlegenden Akzeptanzkrise. Angesichts der unterschiedlichen und oft eher unspezifischen Verwendungsweisen scheint es fraglich, ob Akzeptanz sinnvoll als eigenständiges, vom jeweiligen Akzeptanzobjekt unabhängiges Phänomen aufzufassen ist und zum Gegenstand einer allgemeinen Akzeptanztheorie gemacht werden kann. So kommt Lucke (1995; vgl. a. 1998) in ihrer umfassenden begriffsanalytischen Arbeit, in der sie auch die unterschiedlichen Verwendungszusammenhänge des Akzeptanzbegriffs untersucht, trotz des offensichtlichen Bemühens, »Akzeptanz« als eigenständigen, von konkreten Akzeptanzkontexten unabhängigen Untersuchungsgegenstand zu begründen, nicht zu einer allgemeinen Theorie der Akzeptanz. Ihr Vorschlag für eine kontextunabhängige Definition von Akzeptanz läuft schließlich auf eine enge Anbindung an den Weberschen Herrschaftsbegriff hinaus (Lucke 1995: 104).2 Die Möglichkeit einer »allgemeinen Theorie der Akzeptanz« ist also eher skeptisch zu beurteilen. Es ist jedoch auch zu fragen, ob es einer solchen allgemeinen Theorie (Theorie im engeren Sinne) überhaupt bedarf und ob nicht vielleicht allgemeinere Plausibilisierungen eines gestiegenen Akzeptanzbedarfs bzw. einer wachsenden Akzeptanzabhängigkeit von Entscheidungen und Institutionen ausreichen – sowie natürlich jeweils konkrete, auf die spezifischen Akzeptanzanforderungen zugeschnittene Hypothesen. Auch hier kann keine abschließende Antwort auf die Frage gegeben werden, was Akzeptanz denn ganz allgemein sei. Wohl aber soll im Folgenden versucht werden, mehr theoretische Klarheit über das Phänomen Akzeptanz zu erlangen. Dazu sollen einige begriffliche Erörterungen dienen, mit denen Akzeptanz besser von zumindest vordergründig ähnlichen Sachverhalten unterschieden werden kann. Dadurch sollte es auch möglich sein, einem zu ungenauen und ausufernden Gebrauch des Akzeptanzkonzepts entgegenzuwirken. 2
Kneer (2000), der das Theoriedefizit der Akzeptanzforschung beklagt, unternimmt den Versuch, das Akzeptanzphänomen systemtheoretisch zu fassen. Er geht davon aus, dass sich »von Akzeptanz sprechen lässt, wenn die Annahme einer Kommunikation kommuniziert wird« (2000: 97). Eine solche Definition unterstreicht jedoch nur, dass mit spät- bzw. postluhmannianischen Theoriestrategien vordem durchaus substantielle Konzepte jeglicher theoretischen Prägnanz beraubt und zu semantisch verklausulierten Trivialitäten herabgewürdigt werden.
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2 Wohlfahrtsstaatstheorie und die Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen
In ihrer allgemeinen Form kann Akzeptanz als Bewertung (und Reaktion) auf Handlungen und Entscheidungen anderer definiert werden. Fragen der Akzeptanz stellen sich immer dann, wenn Entscheidungen und Handlungen, auch in »institutionalisierter« Form, Auswirkungen auf Akteure haben, die am Zustandekommen dieser Entscheidungen nicht (maßgeblich) beteiligt waren. (Individuelle) Akzeptanz kann insofern als der Grad bezeichnet werden, in dem intendierte und nicht-intendierte Wirkungen von Entscheidungen und Handlungen anderer – bzw. diese Entscheidungen oder Entscheidungsträger selbst – bei einer Person oder einem Personenkollektiv auf Zustimmung (positive Akzeptanz) oder Ablehnung (negative Akzeptanz) stoßen.3 Diese Definition hat eine Reihe von Implikationen und zwei grundlegende Voraussetzungen; zunächst zu den beiden Voraussetzungen: (1) Die erste ist die »Entdinglichung« der Akzeptanzobjekte. Akzeptanzprobleme können nur insoweit auftreten, wie man sich der grundsätzlichen Kontingenz von Entscheidungen und institutionellen Arrangements bewusst ist. Dinge, die uns natürlich oder zumindest unabänderlich (weil funktional notwendig und zugleich alternativlos) erscheinen, können wir nicht »akzeptieren«, jedenfalls nicht im Sinne der hier zugrunde gelegten Begriffsverwendung. Dies gilt nicht nur für primär natürliche Phänomene wie das Wetter, die eigene Sterblichkeit oder die Schwerkraft, sondern auch für viele »soziale Tatsachen« sowie für das eigene Handeln (man kann die eigenen Entscheidungen zwar später bereuen, aber nicht ablehnen).4 Ungleich komplizierter ist die Situation bei vielen sozialen Phänomenen, die oft zum Teil, aber fast nie ausschließlich, auf Entscheidungen zurückgeführt werden können – und wenn, dann womöglich auf mehrere Entscheidungsträger, die ihre Entscheidungen unkoordiniert oder gar mit entgegengesetzten Zielsetzungen treffen. Ein Beispiel hierfür ist Arbeitslosigkeit, die – je nach wirtschaftspolitischem Handeln – vielleicht höher oder niedriger sein könnte, deren vollständige Beseitigung durch staatliches Handeln aber nicht ernsthaft erwartet werden kann (auch wenn manche dies – entgegen gut fundierter systemtheoretischer Einsichten – dennoch tun). (2) Die zweite grundlegende Voraussetzung besteht darin, dass alternative Reaktionsmodi bekannt sind. Das heißt, die Beziehung der »Entscheidungsbetroffenen« zum Entscheidungsträger ist nicht durch bedingungslosen Gehorsam (Gehorsamspflicht) und Unterwürfigkeit gekennzeichnet. Neben der Zustimmung muss daher auch deren Verweigerung (bzw. eine Ablehnung) als Beurteilungsoption zur Verfügung stehen.
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Durch diese »bipolare« Bestimmung unterscheidet sich dieser Definitionsvorschlag vom häufigeren Sprachgebrauch, der den Begriff auf Zustimmung beschränkt (Lucke 1995; Kneer 2000). Dass sich in diesen Fällen keine Akzeptanzfragen stellen, hat selbstverständlich unterschiedliche Gründe: Beim eigenen Handeln ist man selbst Entscheidungsträger (Kriterium der passiven Betroffenheit); das Wetter und andere natürliche Phänomene sind dagegen überhaupt nicht von Entscheidungen abhängig.
2.1 Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates
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Als Reaktionsform auf Entscheidungen anderer, von denen man betroffen ist, unterscheidet sich Akzeptanz z.B. von »Anerkennung« (Honneth 1992; Nullmeier 2003). Gesellschaftlich oder individuell anerkannte Ansprüche, z.B. eine besondere Schutzbedürftigkeit von Kindern oder der Anspruch von Kriegs- und Gewaltopfern auf Versorgung, können zwar eine wesentliche Quelle positiver Akzeptanz sein (im umgekehrten Fall einer Nicht-Anerkennung der Ansprüche von negativer). Akzeptanzfragen stellen sich aber erst in dem Moment, in dem derartige Ansprüche zur Grundlage politischer Entscheidungen gemacht werden. Erst diese Entscheidungen und ihre unmittelbaren, zurechenbaren Folgen können »akzeptiert« werden. Von »Toleranz« unterscheidet sich Akzeptanz demgegenüber durch die Betroffenheit der Urteilenden. Andere Lebensstile, Geschmäcker, Karrieren usw., aber z.B. auch politische Entscheidungen, von denen man nicht betroffen ist, können »toleriert« werden, müssen aber nicht »akzeptiert« werden. Anders formuliert: Man toleriert etwas so lange, wie man davon nicht betroffen ist. Erst durch die »Betroffenheit« wird die Toleranz- zur Akzeptanzfrage. (3) Die erste Implikation der vorgeschlagenen Akzeptanzdefinition betrifft die Art der sozialen Beziehungen, in denen Akzeptanzprobleme entstehen können. So sind »Herrschaftsbeziehungen« sicherlich ein besonders wichtiger Typus sozialer Beziehungen, bei denen sich Akzeptanzfragen stellen, denn bindende und sich auf die Situation der »Beherrschten« in vielfacher Weise auswirkende Entscheidungen stellen hier den Normalfall dar. Dennoch wäre es m.E. wenig sinnvoll, Akzeptanzfragen auf Herrschaftsbeziehungen zu beschränken, selbst wenn man diese im weiteren, Weberschen Sinne definiert. Denn auch innerhalb horizontaler sozialer Beziehungen und Interaktionen können zahlreiche Probleme auftreten, die sich nicht grundlegend von der Akzeptanz von »Befehlen« und politischen Entscheidungen unterscheiden. So können etwa Entscheidungen des Ehepartners (z.B. berufliche wie die Aufnahme einer Berufstätigkeit in einer anderen Stadt oder eine Kündigung) beim jeweils anderen durchaus auf Zustimmung oder Ablehnung stoßen, sofern dieser nicht an der Entscheidung beteiligt war. Ebenso können die Handlungsweisen kaum bekannter Nachbarn mit erheblichen Externalitäten verbunden sein (z.B. Ruhestörung). Wichtig ist zudem die Unterscheidung von intendierten und nicht-intendierten Folgen. Die Frage, ob die Folgen von Entscheidungen von Handelnden beabsichtigt waren oder nicht, mag sich in vielen Fällen erheblich auf die Akzeptanzurteile auswirken. Aber auch nicht-intendierte Folgen und Handlungsexternalitäten – sogar solche, die den Handelnden selbst im Nachhinein nicht bewusst werden – sind prinzipiell genauso »akzeptanzrelevant« wie Entscheidungen, deren Folgen beabsichtigt sind. Entscheidend ist allein die prinzipielle Zurechenbarkeit der Handlungen und Handlungsfolgen. Insgesamt ergeben sich damit vier grundlegende »Beziehungskonstellationen«, in denen sich Akzeptanzprobleme entwickeln können (Abbildung 2.1).
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2 Wohlfahrtsstaatstheorie und die Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen
Abbildung 2.1
»Akzeptanzrelevante« Beziehungskonstellationen und Entscheidungen intendierte Folgen
nicht-intendierte Folgen (inkl. Externalitäten)
Herrschaftsbeziehung
(a) politischer Entscheidungen: z.B. geringere Steuerlast (infolge einer Steuersenkung) (b) nicht-politischer Entscheidungen: z.B. größere Mitarbeiterloyalität (infolge einer Gehaltserhöhung)
(a) politischer Entscheidungen: z.B. Steuerhinterziehung (infolge einer Steuererhöhung) (b) nicht-politischer Entscheidungen: z.B. sinkende Arbeitsmoral (infolge der Ablehnung einer Gehaltserhöhung)
horizontale Beziehung
z.B. psychische Schäden (infolge von »Mobbing« oder Ehebruchs)
z.B. Lärmbelästigung (durch feiernde Nachbarn)
Auch auf Marktbeziehungen lässt sich der Akzeptanzbegriff in der hier vorgeschlagenen Definition anwenden5 – nämlich immer dann, wenn nicht alle Marktbedingungen vollständig erfüllt sind. So kann man von Entscheidungen monopolistischer oder quasi-monopolistischer Anbieter in ähnlicher Weise betroffen sein wie etwa in Herrschaftsbeziehungen (z.B. wenn Bahnstrecken stillgelegt oder Portogebühren erhöht werden). Erst unter optimalen Marktbedingungen, bei vollständiger Konkurrenz, macht es keinen oder doch nur sehr wenig Sinn, von Akzeptanz zu sprechen: Zwar sind Zustimmung (z.B. Kauf) und Ablehnung (Nicht-Kauf) die gängigen Optionen im Marktgeschehen, jedoch ohne dass es hier zu Akzeptanzproblemen kommt. Wird der Preis für eine Ware nicht »akzeptiert«, kommt es eben nicht zum Verkauf. Der Marktpreis ist in diesem Sinne immer der »Akzeptanzpreis«.6 Nicht für die Frage, ob Entscheidungen anderer akzeptiert werden, wohl aber dafür, dass zustimmende oder ablehnende Akzeptanz eine soziologische oder normative Bedeutung erlangen, ist schließlich maßgeblich, dass auf Seiten der Entscheidungsbetroffenen, eines neutralen Beobachters oder sogar der Entscheidungsträger ein moralisch begründeter Anspruch auf »Akzeptierung« besteht – egal welcher Art dieser ist und woraus ein solcher Anspruch abgeleitet wird. Ein moralisch begründeter Anspruch besteht z.B. nicht (oder zumindest nicht unumstritten) in totalen Institutionen (Gefängnisse, psychiatrische Anstalten etc.) oder bei Vormundschaftsverhältnissen, z.B. bei Entscheidungen von Eltern, die Auswirkungen auf ihre Kinder haben. (4) Eine weitere Implikation der vorgeschlagenen Definition ist, dass sich Akzeptanz immer auf Entscheidungen und ihnen unmittelbar zurechenbare Folgen be5
6
Hiermit ist allerdings nicht die im Marketing verbreitete Benutzung des Akzeptanzbegriffs im Sinne von Produktakzeptanz gemeint. Bei dieser geht es um die »Annahme« eines (neuen) Produkts auf dem Markt, die sich an der Entwicklung der Verkaufszahlen ablesen lässt. Dies gilt allerdings nur für »reine« Marktbeziehungen. Sobald moralökonomische Aspekte (etwa eines »gerechten Preises«) berücksichtigt werden (müssen), kann es sehr wohl auch im Bereich wirtschaftlicher Transaktionen zu Akzeptanzproblemen kommen.
2.1 Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates
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zieht. Wie oben am Beispiel der Arbeitslosigkeit bereits angedeutet wurde, kommen die Folgen von Entscheidungen und Handlungen nur insofern als Akzeptanzobjekt in Frage, wie sie auf diese Entscheidungen zurückgeführt werden können. Nicht allgemeine Folgen (oder »outcomes«), sondern nur die als Ergebnisse (oder »outputs«) von Entscheidungen und Handlungen identifizierbaren Folgen sind akzeptanzrelevant. Davon unbenommen können von spezifischen Folgen Betroffene diese in sehr unterschiedlichem Maße Entscheidungen und Entscheidungsträgern zurechnen. Zumindest in Herrschaftsbeziehungen können auch Entscheidungsträger Akzeptanzobjekte sein. Dies jedoch nicht als Person (Personen sind schließlich keine Entscheidungen), sondern nur insoweit, wie Entscheidungen dieser Entscheidungsträger akzeptanzrelevant waren bzw. sind oder solche akzeptanzrelevanten Entscheidungen sinnvollerweise erwartet werden können. Zudem können Entscheidungsträger als Ergebnis von Entscheidungen, an denen man nicht beteiligt, von denen man aber betroffen ist, akzeptanzrelevant sein. Auch in diesem Fall können wir aber nicht die Person selbst akzeptieren (ihr »zustimmen« oder sie »ablehnen«), sondern nur die Entscheidung, die diese zu einem Entscheidungsträger gemacht hat. Auch gesellschaftliche Institutionen (wie die Gesetzliche Rentenversicherung, das Rechtsfahren oder die Bundesversammlung) können Akzeptanzobjekte sein. Wenn diese auch häufig »historisch gewachsen« sind, so beruhen sie doch auf zurechenbaren Entscheidungen (einschließlich der Entscheidungen, sie nicht zu verändern oder abzuschaffen), sind gewissermaßen »geronnene Entscheidungen«. Dies schließt auch die Leistungen oder Ergebnisse mit ein, die gesellschaftliche Institutionen produzieren. (5) Aus der allgemeinen Definition von Akzeptanz folgt auch, dass Akzeptanz ein Einstellungsphänomen ist. Verhaltensweisen wie die bekannten, von Hirschman (1974) untersuchten Optionen der »Abwanderung« (exit) und des »Widerspruchs« (voice) lassen zwar Rückschlüsse über die Akzeptanz zu (und insofern kann man hier auch von Akzeptanzverhalten sprechen), sie sind aber keine Akzeptanz.7 Zudem wäre es voreilig, aus bestimmten Verhaltensweisen oder aus dem Ungenutztlassen von Handlungsoptionen direkt auf bestehende Akzeptanz zu schließen. Denn weder folgt aus der Zustimmung oder Ablehnung zwangsläufig ein bestimmtes Verhalten, noch dürften Akzeptanzurteile i.d.R. der einzige Grund für die Entscheidung für eine bestimmte Handlungsweise sein. Für die Analyse sozialer Akzeptanz sind Verhaltensweisen, die etwas über Akzeptanz verraten, dennoch von großer Wichtigkeit. Grundsätzlich ist dabei jedoch von einer systematischen Schieflage auszugehen: Handlungsweisen, die auf Ablehnung schließen lassen (wie Protestverhalten), sind wahrscheinlicher und besser beobachtbar als ihre »positiven« Gegenstücke. So bestehen selbst bei Herrschaftsbeziehun7
Dies ist ein weiterer Punkt, durch den sich die hier vorgeschlagene Definition von Akzeptanz von der Luckes unterscheidet. Nach Lucke (1995: 394) hat Akzeptanz (immer?) »von außen beobachtbare, wenn auch nicht immer kurzfristige und unmittelbar eintretende Handlungskonsequenzen«.
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2 Wohlfahrtsstaatstheorie und die Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen
gen mehrere Handlungsalternativen bei negativer Akzeptanz: Die naheliegendste ist gewiss der öffentliche und private Protest. Aber auch Abwanderung (Emigration; Kündigung) ist, wenn auch mit mehr Kosten verbunden und daher weniger verbreitet, eine mögliche Reaktionsweise. Darüber hinaus bestehen jedoch auch Möglichkeiten, die in Hirschmans (1974) Analysen nicht vorkommen. Hierzu können Ausweichund Vermeidungsverhalten (z.B. Rollendistanz, »innere Emigration«, »Rückzug ins Private«; Nichtwählen) oder Defektion (Missbrauch; shirking) gezählt werden. (6) Aus der vorgeschlagenen Definition ergibt sich ferner, dass Akzeptanz weder als Zustimmung noch als Ablehnung spezifische Akzeptanzmotive erfordert. Sie präjudiziert auch keine Annahmen über die generelle Art der Akzeptanzmotivierung. So kann Akzeptanz gleichermaßen auf (unterschiedlichen) moralischen Überzeugungen von der Richtigkeit von Entscheidungen und der Legitimität von Institutionen beruhen oder auf subjektiven Eigeninteressen. Positive Akzeptanz setzt aber immer eine »echte« Zustimmung voraus (sowie negative »echte« Ablehnung). Hierdurch unterscheidet sich Akzeptanz u.a. von Fatalismus, Desinteresse, »Teilnahmslosigkeit« oder auch »blindem Gehorsam«. (7) Akzeptanzfragen stellen sich nur für »Betroffene«. Akzeptanzprobleme können nur bei Akteuren auftreten, die durch Handlungen und Entscheidungen (an denen sie nicht unmittelbar beteiligt waren) direkt oder indirekt betroffen sind. Hierdurch unterscheidet sich Akzeptanz vom Urteil der »Öffentlichkeit« (vgl. u.a. Habermas 1962; Merten 1987). Die Öffentlichkeit beurteilt nur politisches und anderes, »öffentlich gemachtes« Geschehen, ohne dass damit eine Form der Betroffenheit verbunden wäre. Dies gilt im Übrigen auch für »veröffentlichte Meinungen« in Form von Meinungsumfragen.8 Aber was heißt, »von Entscheidungen betroffen sein« oder »Auswirkungen haben«? Eine Möglichkeit wäre eine subjektive Bestimmung (»betroffen ist, wer sich betroffen fühlt«). So kann man sich z.B. auch von den Kriegsopfern in entfernten Regionen betroffen fühlen (wenn diese Auswirkungen auf das eigene psychische Wohlbefinden haben). Ganz abwegig ist eine rein subjektive Festlegung also nicht. Hierbei besteht jedoch die Gefahr, dass der Bereich individueller Betroffenheit beliebig ausgedehnt wird und dass sich infolgedessen die Grenze zwischen Toleranz und Akzeptanz völlig verwischt. Um diesen »konstruktivistischen Dilemma« zu entgehen, muss der »Kreis der Betroffenen« (bzw. der Kreis derjenigen, die sich legitimerweise betroffen fühlen könnten) begrenzt werden. Für eine solche Begrenzung kann es keine allgemeine Regel geben; sie muss aus den jeweiligen Kontextbedingungen ab-
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Sofern hier unterschiedslos alle Bevölkerungsteile befragt werden, werden nicht Akzeptanzurteile von Betroffenen, sondern nur Meinungen erhoben. Dies ist jedoch dann nicht der Fall, wenn – wie bei vielen politischen Fragen – die gesamte (erwachsene) Bevölkerung als »betroffen« gelten kann.
2.1 Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates
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geleitet und für diese begründet werden. Dabei scheint es angemessen, unterschiedliche Grade und Arten der Betroffenheit zu unterscheiden.9 Grundsätzlich können sowohl die Entscheidungsträger als auch die Entscheidungsbetroffenen, bei denen sich ein Akzeptanzproblem stellen kann, ebenso individuelle wie kollektive oder korporative Akteure sein. Akzeptanzforschung kann sich also auch auf soziale Gruppen und korporative Akteure erstrecken. Dies gilt insbesondere für Organisationen, die von den jeweiligen Entscheidungen unmittelbar betroffen sind und ein entsprechendes Organisationsinteresse ausbilden, und für solche, die sich als kollektive Interessenorganisationen und/oder als »advokatorische Interessenvertreter« verstehen und in dieser Funktion individuelle Interessenlagen zu bündeln und artikulieren versuchen (z.B. Selbsthilfeorganisationen von Betroffenen, Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbände, Krankenkassen).10 (8) Aber ab wann kann man von positiver Akzeptanz sprechen, wenn mehrere Akteure von Entscheidungen betroffen sind? Ähnlich wie bei der Frage der »Betroffenheit« kann es hierfür keinen allgemeinen Algorithmus geben, sondern nur mehr oder weniger kontingente Lösungen, die sich – wie etwa Armutsgrenzen oder Äquivalenzskalen – nicht unmittelbar aus einem materiellen Substrat ableiten, sondern als Konventionen vor allem der Vereinfachung der Kommunikation dienen. Die einfachste »Aggregationsregel« wäre hier, dass eine positive Akzeptanz nur dann vorliegt, wenn alle Betroffenen zustimmen. Dies scheint aber nur bei einer relativ kleinen Zahl von Betroffenen angemessen. Für alle anderen Kontexte wird man zu weniger »anspruchsvollen« Regelungen greifen müssen.11 Zudem scheinen weitere Differenzierungen (z.B. »hohe« positive Akzeptanz) möglich und sinnvoll. Ein weiterer Klärungsbedarf besteht hinsichtlich des Umgangs mit »Akquieszenz«.12 Damit soll hier das Phänomen »neutraler« Akzeptanz bezeichnet werden,
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Als ein Beispiel kann hier die Gesetzliche Rentenversicherung dienen: Von Reformentscheidungen sind bei dieser nicht nur die unmittelbaren Adressaten (Rentenversicherte) betroffen, sondern auch deren Familienangehörige und evtl. sogar Personengruppen, die selbst nicht rentenversichert sind. Zudem bestehen auch zwischen den unmittelbaren Adressaten Unterschiede: So sind z.B. aktuelle Rentner unmittelbarer und vermutlich stärker von Rentenkürzungen betroffen als rentenversicherte Beitragszahler. Insbesondere bei politischen Entscheidungen können sich also auf mehreren gesellschaftlichen Ebenen Akzeptanzprobleme ergeben. Von positiver sozialer Akzeptanz kann man daher im Grunde nur sprechen, wenn auf allen diesen Ebenen (oder den meisten) zustimmende Einstellungen dominieren. In jedem Fall aber ist positive soziale Akzeptanz nicht mit der Summe positiver individueller Akzeptanzurteile gleichzusetzen. Als Kriterien zur Bestimmung positiver Akzeptanz bieten sich u.a. eine einfache absolute Zustimmungsmehrheit (über 50 Prozent der Betroffenen), eine relative Zustimmungsmehrheit (mehr Zustimmung als Ablehnung) oder auch eine absolute Mehrheit der Nicht-Ablehnung (Ablehnung geringer als 50 Prozent) an. »Akquieszenz« ist ein vor allem in der Surveymethodologie gebräuchlicher Ausdruck und bezeichnet dort die Zustimmungs- oder Jasage-Tendenz. International findet »acquiescence« jedoch eine breitere Verwendung, u.a. in der Motivationspsychologie, im Versicherungswesen und in den Rechts-
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2 Wohlfahrtsstaatstheorie und die Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen
also alle Akzeptanzurteile, die sich nicht als Zustimmung (positive Akzeptanz) oder Ablehnung interpretieren lassen. Akquieszenz gewinnt dabei vor allem dadurch an Brisanz, dass eine »Zustimmung durch Schweigen« als ausreichend für die Legitimierung politischer Entscheidungen angesehen werden kann. Ein offenes und wohl nie wirklich befriedigend lösbares Problem ist schließlich auch die Gewichtung unterschiedlicher Akteure.13 2.1.2 Wohlfahrtsstaatsakzeptanz In den 90er Jahren hat sich der Akzeptanzbegriff auch in der Wohlfahrtsstaatsforschung zunehmend durchgesetzt. Üblicherweise werden damit Einstellungen zu wohlfahrtsstaatlichen Einrichtungen (oder zum gesamten Sozial- oder Wohlfahrtsstaat) bezeichnet (vgl. Ullrich 2000a). Er verdrängte ältere Terminologien wie »Unterstützung«, »Ansprüche an den Wohlfahrtsstaat« (z.B. Gangl 1997) oder schlicht »Einstellungen zum Wohlfahrtsstaat« (Roller 1992). Diese Entwicklung ist allerdings auf den deutschsprachigen Raum beschränkt; im internationalen Sprachgebrauch ist – neben »attitudes« – »support« die übliche Bezeichnung für die Gesamtheit der Einstellungen zum Wohlfahrtsstaat geblieben, evtl. noch als »political«, »public« oder »popular support« qualifiziert. Mit den verschiedenen Begriffsverwendungen sind jedoch nur selten explizite theoretische Vorstellungen verknüpft.14 Als Akzeptanz werden dabei meist ganz allgemein Einstellungen und Präferenzen gegenüber wohlfahrtsstaatlichen Einrichtungen bezeichnet (z.B. Dehlinger/Brennecke 1992; Klein/Schilling 1994; Norden 1986). Kommt in diesen eine zustimmende Haltung oder der Wunsch nach »mehr« Wohlfahrtsstaatlichkeit (z.B. nach höheren Leistungen) zum Ausdruck, spricht man meist von positiver Akzeptanz (zur Problematik der Akzeptanzmessung im sozialpolitischen Kontext vgl. Kapitel 3). Wie alle politischen Entscheidungen und Institutionen handelt es sich auch im Bereich Sozialpolitik/Wohlfahrtsstaat vor allem um Herrschaftsbeziehungen: Sozialpolitische Entscheidungen und Institutionen zeitigen dabei primär intendierte Folgen (z.B. Erhöhung oder Senkung des Renteniveaus), haben aber auch eine Reihe nicht-intendierter Wirkungen. Die Beurteilung staatlicher Politik durch die Be-
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wissenschaften. In allgemeiner Form lässt sich »acquiescence« als »Zustimmung durch Schweigen« (durch ausbleibenden Widerspruch) übersetzen. So scheint klar, dass z.B. bei politischen Entscheidungen, die die Ärzte betreffen, die Akzeptanz des Ärzteverbandes nicht nur tatsächlich mehr Einfluss hat als die eines einzelnen Arztes, sondern dass sie auch für die Beurteilung der sozialen Akzeptanz dieser Entscheidung ein höheres Gewicht haben muss. Ungleich schwieriger ist es dagegen, diese Akzeptanz auch nur einigermaßen zufriedenstellend zu gewichten. Dies gilt im Übrigen auch für die »politische Unterstützung«, obwohl die Entstehung dieses Konzepts eindeutig auf die politische Systemtheorie Eastons zurückgeführt werden kann (Easton 1965).
2.1 Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates
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völkerung sowie deren normative und tatsächliche Bedeutung für den politischen Prozess werden dabei meist unter dem Begriff der Legitimität diskutiert. Der Unterschied zum Akzeptanzbegriff, so wie er hier verwendet wird, besteht vor allem darin, dass Legitimität in erster Linie15 ein normatives Konzept ist. Fragen der normativen Legitimität und solche der empirischen Akzeptanz unterscheiden sich also kategorial. So ist Akzeptanz gewiss ein wichtiger Aspekt bei der Beurteilung der Legitimität staatlicher Politik.16 Dennoch ist es sehr wohl möglich, dass politische Entscheidung mehrheitlich akzeptiert werden, aber dennoch nicht legitim sind (und umgekehrt).17 Ein enger Zusammenhang besteht auch zwischen Akzeptanz und Legitimierung (oder Legitimation). Als Legitimierung werden dabei im Anschluss an Weber (1922) und Berger/Luckmann (1980 [1966]) meist jene Prozesse umschrieben, mit denen Herrschende (oder Entscheidungsträger) versuchen, ihre Herrschaft (oder einzelne Maßnahmen) zu rechtfertigen, sie als legitim erscheinen zu lassen. Sofern ihnen dies gelingt und ein entsprechender »Legitimitätsglaube« besteht, ist mit hoher Akzeptanz zu rechnen. Legitimierungsstrategien sind aber nur eine Möglichkeit der Erklärung von Akzeptanz, die auch andere Ursachen haben kann. Daher ist sowohl positive Akzeptanz ohne Legitimierung als auch negative Akzeptanz trotz des Versuchs einer Legitimierung möglich. Zudem werden keineswegs alle Entscheidungen oder Institutionen (auch nicht alle politischen) explizit legitimiert. In der empirischen Forschung sind Legitimität und Legitimierung vor allem im Konzept der politischen Unterstützung umgesetzt worden. Dieses auf die politische Systemtheorie Eastons zurückgehende Konzept (Easton 1965; vgl. a. Fuchs 1989: 12ff. und Westle 1989) unterscheidet bekanntlich zwei Unterstützungsdimensionen, die diffuse und die spezifische Unterstützung. Während die spezifische Unterstützung sich aus (kurzfristigen) Nutzenüberlegungen bezüglich der herrschenden Au15 16
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Der Legitimitätsbegriff wird allerdings alles andere als einheitlich verwendet (vgl. u.a. Mandt 1996). In allgemeiner Form können politische Entscheidungen und Entscheidungsträger bereits als »legitim« (oder »legitimiert«) gelten, sofern die Entscheidungsträger durch ein legitimes Verfahren in ihre Position gekommen sind und ihre Entscheidungen nicht gegen Verfassungsgrundsätze verstoßen. So ist z.B. eine gesetzlich verordnete Beschränkung der Ausgaben im Gesundheitsbereich sicher politisch »legitim(iert)«, wird bei den davon Betroffenen deshalb aber nicht unbedingt auch auf Zustimmung stoßen. Positive und negative Akzeptanz sind also auch bei (prinzipiell) legitimierten Entscheidungen möglich und wahrscheinlich. Zunächst waren es jedoch nicht die Legitimität und Legitimation der wohlfahrtsstaatlichen Sicherung, die von Theoretikern des Wohlfahrtsstaates als gefährdet oder auch nur problematisierungswürdig empfunden wurden – zu offensichtlich schienen in den ersten Nachkriegsjahrzehnten die »segensreichen Wirkungen« des Sozialstaates. Vielmehr stand lange Zeit die Legitimierungsleistung, die das System der sozialen Sicherung für das politische System erbringt, im Vordergrund. Bekannt wurden hier insbesondere neomarxistische Ansätze, die die Funktion des Wohlfahrtsstaates in der Erzeugung bzw. Gewährleistungen von Massenloyalität sahen (Narr/Offe 1975; Offe 1984). Der Wohlfahrtsstaat erzeuge demnach durch seine Sozialleistungen in der Bevölkerung Massenloyalität, die vorwiegend im Interesse an den erhaltenen Leistungen begründet ist und sich dadurch von echter Legitimität unterscheide (vgl. a. Ullrich 2006).
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toritäten speist (und damit z.B. für Wahlentscheidungen maßgeblich ist), ist die diffuse Unterstützung unabhängig von unmittelbaren Nutzenkalkülen. Neben der Identifikation mit einer »politischen Gemeinschaft« umfasst sie sowohl ein generalisiertes Vertrauen in den langfristigen Nutzen von »Autoritäten« und »Regimen« als auch den Glauben an deren Legitimität. Akzeptanz weist also viele Berührungspunkte mit Konzepten politischer Legitimierung und Unterstützung auf.18 Ein wichtiger Unterschied besteht jedoch auch darin, dass sich »Legitimität« und »politische Unterstützung« explizit auf politische Herrschaft – und insbesondere auf die Herrschaftsstabilisierung – beziehen, während »Akzeptanz« auf ein größeres Spektrum sozialer Beziehungen bezogen ist und Fragen der Stabilität und Legitimität von Herrschaft hier von nachgeordneter Bedeutung sind.19 Akzeptanzprobleme können bei jeder Einzelentscheidung auftreten. Im Bereich politischer Herrschaft ist dies aber eher die Ausnahme bzw. auf das »tagespolitische Geschäft« der Reformen und Einzelmaßnahmen beschränkt. Von grundlegender Bedeutung ist dagegen die Akzeptanz allgemeiner Sturkurmerkmale und Funktionsprinzipien. Dies gilt auch für die Wohlfahrtsstaatsakzeptanz. Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates ist daher im Wesentlichen die Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen. Daraus dass Institutionen die Akzeptanzobjekte sind, ergeben sich einige Besonderheiten. Vor allem kann Akzeptanz nicht im unmittelbaren Sinne als Zustimmung oder Ablehnung erfasst werden, weil dies weder sprachlich noch »konzeptionell« die typischen Reaktionsweisen auf Institutionen sind. Einer Institution wie der Gesetzlichen Rentenversicherung oder dem Subsidiaritätsprinzip stimmt man nicht einfach zu, und nur sehr wenige werden sie pauschal ablehnen. Notwendig sind hier zugleich differenzierte und umfassende Formen der Akzeptanzmessung, die es erlauben, so verschiedene Aspekte wie das Institutionenvertrauen, die wahrgenommene allgemeine Nützlichkeit von Institutionen oder auch deren aktuelle Performanz zu erfassen (vgl. hierzu Abschnitt 4.2). Eine weitere Besonderheit der Institutionenakzeptanz besteht darin, dass institutionelle Teilregelungen (insbes. Strukturprinzipien wie das Solidarprinzip in der Gesetzlichen Krankenversicherung, das Subsidiaritätsprinzip oder das Äquivalenzprinzip) maßgebliche Faktoren der Gesamtbeurteilung des Wohlfahrtsstaates sein können. Entsprechen z.B. die grundlegenden Organisationsformen der Sicherungssysteme den allgemeinen Interessen und Wertüberzeugungen der »Betroffenen«, so 18
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Man kann Akzeptanz auch durchaus als »empirische Legitimität« bezeichnen. Zur Vermeidung empiristischer Fehlschlüsse halte ich es jedoch für ratsamer, den Begriff Legitimität für die Beurteilung von Herrschaft unter ethischen Gesichtspunkten zu reservieren. Vor allem zum relativ »ausgearbeiteten« Konzept der politischen Unterstützung bestehen noch weitere Unterschiede: So schließt dieses auch Handlungsformen ausdrücklich mit ein (Easton 1965: 163f.). Zudem ergeben sich hier einige theoretische Unklarheiten und Inkonsistenzen sowie Schwierigkeiten bei der Übersetzung in empirische Forschungsfragen (vgl. hierzu Westle 1989: 165ff.).
2.1 Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates
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kann dies zu einer höheren Gesamtakzeptanz des Wohlfahrtsstaates führen, als wenn die gleichen Ziele auf anderen Wegen erreicht werden. Bei der theoretischen Beurteilung der Akzeptanzchancen des Wohlfahrtsstaates in der Bundesrepublik wird dabei oft von einer besonders hohen Akzeptabilität des deutschen Wohlfahrtsstaates (bzw. des konservativen Wohlfahrtsstaatsmodells) ausgegangen (vgl. u.a. Mackscheidt 1985; Offe 1990). Dieser sei – u.a. infolge der großen Bedeutung des Versicherungsprinzips und des Subsidiaritätsgedankens – in besonderem Maße »moralisch anspruchslos« und daher besser als andere Wohlfahrtsstaaten gegen moralische und interessenbasierte Anfeindungen gefeit.20 Die in der Akzeptanzforschung zum Wohlfahrtsstaat erhobenen Beurteilungen und Präferenzen beziehen sich meist jedoch nicht auf die wohlfahrtsstaatlichen Institutionen selbst. Typisch sind eher Einstellungen zu einzelnen Maßnahmen (z.B. höhere Selbstbeteiligungen bei Arzneimitteln) oder Präferenzen zu spezifischen Aspekten wie der Leistungs- oder Ausgabenhöhe und der staatlichen Zuständigkeit für Bereiche der sozialen Sicherung (vgl. hierzu Kapitel 3).21 Da Akzeptanz ein Einstellungsphänomen ist, stellt sich hier auch nicht das Problem der Handlungsrelevanz von Akzeptanzurteilen. Zwar gibt es auch im Bereich der sozialen Sicherung Handlungsformen, die man als Akzeptanzverhalten bezeichnen kann, weil sie Rückschlüsse über die Akzeptanz erlauben (z.B. der Wechsel von einer gesetzlichen in eine private Krankenversicherung). Gegenüber direkten Akzeptanzurteilen sind sie aber sekundär. Wohlfahrtsstaatsakzeptanz kann daher mittels standardisierter oder qualitativer Interviews erhoben werden, in denen die Beurteilung wohlfahrtsstaatlicher Institutionen und Regelungen zum Thema gemacht wird. Die Frage, wer von sozialpolitischen Entscheidungen und wohlfahrtsstaatlichen Institutionen betroffen ist, lässt sich nicht pauschal beantworten. Es kann jedenfalls nicht umstandslos vorausgesetzt werden, dass bei allen wohlfahrtsstaatlichen Akzeptanzfragen jeweils die gesamte Bevölkerung »betroffen« ist. Denn die meisten wohlfahrtsstaatlichen Institutionen sind auf spezifische Adressaten ausgerichtet und haben insofern auf viele Bürger keine unmittelbaren Auswirkungen. Gleichzeitig bestehen aber auch bei Nicht-Adressaten unterschiedliche Möglichkeiten mittelbarer Auswirkungen.22 20
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Ob sich dies auch in einer entsprechend höheren Akzeptanz niederschlägt, kann nur durch vergleichende Untersuchungen geklärt werden. Erste Ergebnisse scheinen die Annahme einer besonders hohen Akzeptabilität des deutschen Wohlfahrtsstaates allerdings nicht zu bestätigen (vgl. Ullrich 2001). Nur sofern mit dem Begriff Wohlfahrtsstaat eine bestimmte staatliche Entwicklungsstufe (und nicht ein Politikbereich) bezeichnet wird, kann mit »Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates« auch mehr als nur die wohlfahrtsstaatlicher Leistungen und Institutionen gemeint sein. Das Akzeptanzobjekt wäre in diesem Fall eine bestimmte Form staatlichen Selbstverständnisses, die u.a. durch ein hohes Maß an Interventionen gekennzeichnet ist (so etwa bei Klein/Schilling 1994). So sind etwa Arbeitslose und der sozialversicherungspflichtige Teil der Erwerbsbevölkerung die unmittelbaren Adressaten der Arbeitslosenversicherung, die diese entweder mit Leistungen versorgt
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2 Wohlfahrtsstaatstheorie und die Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen
Die fast immer sehr weitreichenden Wirkungen vor allem der zentralen wohlfahrtsstaatlichen Leistungsbereiche rechtfertigen es jedoch in gewissem Maße, bei der Frage der Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates zumindest solange von der Gesamtbevölkerung als »akzeptanzrelevanter Grundgesamtheit« auszugehen, wie keine Gründe für eine engere Definition der »Betroffenheit« vorliegen. Notwendig scheint es dann aber, unterschiedliche Arten und Grade von Betroffenheit zu unterscheiden und bei der Beurteilung der Gesamtakzeptanz zu berücksichtigen. Im Einzelfall wird allerdings oft nur schwer zu entscheiden sein, welches Gewicht man den unterschiedlichen »Betroffenengruppen« beimisst. Dennoch dürfte zumindest grundsätzlich klar sein, dass z.B. die Beurteilung der Leistungshöhe durch einen Leistungsempfänger eine andere Bedeutung hat als bei Personen, die nicht einmal zur Gruppe der potenziell Leistungsberechtigten gehören, und dass das Vertrauen, das erwerbstätige Rentenversicherte der Gesetzlichen Rentenversicherung entgegenbringen, anders zu beurteilen ist als das von Rentnern oder von Beamten. Wichtig ist hier vor allem die differenzierte Betrachtung und Behandlung von Leistungsempfängern (und ihren Angehörigen), Leistungsfinanzierern (Steuer- und Beitragszahler) sowie der nur mittelbar Betroffenen. Wie bereits bei der allgemeinen Bestimmung von Akzeptanz betont wurde, ist soziale Akzeptanz nicht per se identisch mit der Gesamtheit der individuellen Akzeptanzurteile. Diese sind jedoch der vielleicht wichtigste und am besten erfassbare Indikator sozialer Akzeptanz. Zudem basieren individuelle Akzeptanzurteile auf sozialen Deutungsmustern, die Teil der allgemeinen Wohlfahrtskultur sind, und bieten insofern einen privilegierten Zugang zum Phänomen sozialer Akzeptanz. Individuelle Akzeptanzurteile zum Wohlfahrtsstaat können insofern als Ausdruck und Indikator sozialer Akzeptanz aufgefasst werden.23 Schließlich gilt auch für die Erforschung der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz, dass die Motive, die den Akzeptanzurteilen zugrunde liegen, in keiner Weise präjudiziert werden. Aufgrund welcher Überlegungen und anhand welcher Kriterien Akzeptanzurteile über wohlfahrtsstaatliche Institutionen gefällt werden, ist keine definitorische Frage, sondern eine, die es empirisch zu klären gilt. Eigeninteressen, die sich aus der allgemeinen sozialen Lage, der »Versorgungsklassenlage« (z.B. Leistungsempfänger) oder allgemeinen subjektiven Interessendefinitionen (z.B. Risikoneigung) ergeben, kommen
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oder zur Finanzierung dieser Leistungen heranzieht. Indirekt sind aber weit mehr Personen von der Arbeitslosenversicherung betroffen, z.B. Ehepartner und Kinder von Arbeitslosen. Erweitert man die Perspektive, wird schnell deutlich, dass die Arbeitslosenversicherung Auswirkungen auch auf Personengruppen hat, die nicht zu den Adressaten der Arbeitslosenversicherung zählen, wenn sicher auch in anderer, weniger unmittelbarer Form. So werden Arbeitgeber durch die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung belastet und selbst Beamte und Rentner können zu den Nutznießern arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen gerechnet werden (z.B. durch die Entlastung der anderen Sozialversicherungen bei geringerer Arbeitslosigkeit). Das Problem des Verhältnisses von individueller und sozialer Akzeptanz stellt sich dabei vor allem bei der Interpretation bzw. Bewertung der Akzeptanzurteile auf der Individualebene.
2.1 Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates
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als Ursachen individueller Akzeptanzurteile gegenüber wohlfahrtsstaatlichen Institutionen daher ebenso in Betracht wie z.B. allgemeine Handlungsorientierungen und grundlegende Wertüberzeugungen.24 2.2 Wohlfahrtsstaatstheorie und die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates Der folgende Abschnitt befasst sich mit dem Verhältnis von Wohlfahrtsstaatstheorie und der Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen. Dabei stehen zwei Fragen im Vordergrund: Zum einen soll geklärt werden, welche Bedeutung die einzelnen Ansätze der Wohlfahrtsstaatstheorie Problemen der sozialen Akzeptanz beimessen. Zum anderen soll die Beschäftigung mit den unterschiedlichen Ansätzen zur Erklärung der Entstehung und Entwicklung von Wohlfahrtsstaaten dazu dienen, zunächst noch allgemeine Annahmen über die soziale Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen und vor allem über ihre Bestimmungsfaktoren zu entwickeln. Neben der zu erwartenden Höhe der Akzeptanz (bzw. dem Vorhandensein positiver Akzeptanz) sollten sich aus den unterschiedlichen wohlfahrtsstaatstheoretischen Ansätzen begründete Vermutungen über Akzeptanzunterschiede zwischen Wohlfahrtsstaatstypen und Sicherungsformen, über die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme in den einzelnen Bevölkerungsteilen sowie darüber, welche Beweggründe (Interessendefinitionen, Deutungsmuster, Wertüberzeugungen etc.) den Akzeptanzurteilen zugrunde liegen, gewinnen lassen. Die Vielfalt wohlfahrtsstaatlicher Erklärungsansätze kann dabei zu vier grundlegenden Paradigmen verdichtet werden (vgl. Ullrich 2005b), die sich sowohl hinsichtlich der Relevanzzuschreibung als auch möglicher Erklärungen von Akzeptanz zum Teil deutlich unterscheiden. Dies sind funktionalistische (2.2.1), konflikttheoretische (2.2.2), wohlfahrtskulturelle (2.2.3) sowie institutionalistische Ansätze (2.2.4) zur Erklärung der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung. 2.2.1 Funktionalistische Ansätze Funktionalistische Ansätze erklären die Entstehung und Entwicklung von Wohlfahrtsstaaten mit gesellschaftlichen, sozialen oder ökonomischen Notwendigkeiten. Auch wenn dabei zum Teil ganz unterschiedliche Erfordernisse angenommen werden, so teilen sie doch die Grundidee, dass die Einführung umfassender sozialer Sicherungssysteme ab einem bestimmten Punkt der gesellschaftlichen Entwicklung unvermeidbar war. Insgesamt können mindestens drei grundlegende Varianten des funk24
In diesem Punkt unterscheidet sich das hier vorgeschlagene Akzeptanzkonzept von der von Claus Offe vorgeschlagenen terminologischen Unterscheidung von Akzeptanz und Legitimität, bei der Akzeptanz auf interessenrationale (und »routinemäßige«) Unterstützung beschränkt ist (Offe 1990).
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2 Wohlfahrtsstaatstheorie und die Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen
tionalistischen Ansatzes unterschieden werden: der sozioökonomische, der modernisierungstheoretische und der neomarxistische. Sozioökonomische Ansätze sehen im wirtschaftlichen Wandel des 19. Jahrhundert die Ursache für die Entstehung des Wohlfahrtsstaates. So habe die Industrialisierung mit ihren Begleiterscheinungen – hierzu sind vor allem die soziale Mobilisierung, die Urbanisierung und die demografischen Veränderungen zu zählen – zu einer Überforderung traditioneller Sicherungsformen geführt (u.a. Wilensky 1975). Dementsprechend waren alle Gesellschaften, die sich mit Problemen der Industrialisierung konfrontiert sahen (und sehen), früher oder später dazu gezwungen, wohlfahrtsstaatliche Sicherungssysteme einzuführen. Hinsichtlich der weiteren Entwicklung von Wohlfahrtsstaaten wird angenommen, dass das Niveau der wohlfahrtsstaatlichen Absicherung (meist an der Höhe der Sozialausgaben abgelesen) vom wirtschaftlichen Entwicklungsstand bestimmt wird und mit der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit steigt.25 Eine Erweiterung dieser »Industrialismusthese« stellen modernisierungstheoretische Ansätze dar (u.a. Flora et al. 1977). Ebenfalls in einer funktionalistischen Perspektive erweitern diese das Spektrum der Wohlfahrtsstaatsursachen um kulturelle und politische Modernisierungsprozesse, in denen ebenso wie in der wirtschaftlichen Entwicklung ein Grund für die Notwendigkeit neuer Sicherungsformen gesehen wird. Die wohlfahrtsstaatliche Sicherung wird zudem oft als Voraussetzung für die weitere gesellschaftliche Modernisierung verstanden (vgl. z.B. Huf 1998). Gegen funktionalistische Ansätze wurden verschiedene Einwände geltend gemacht. Neben der grundlegenden epistemologischen Kritik an funktionalistischen Erklärungen wurde vor allem auf mehrere Unzulänglichkeiten und »blinde Flecken« der funktionalistischen Perspektive hingewiesen. So sehr das generelle Argument, dass (irgend)eine Form der kollektiv-staatlichen sozialen Sicherung im 19. und vor allem im 20. Jahrhundert unabdingbar geworden war, auch zutreffen mag, so wenig sind funktionalistische Erklärungen der Entstehung und Entwicklung von Wohlfahrtsstaaten in der Lage, die konkreten wohlfahrtsstaatlichen Erscheinungsformen auf spezifische funktionale Erfordernisse zurückzuführen. Unterschiede zwischen Wohlfahrtsstaaten, die ein ähnliches sozioökonomisches Niveau und einen ähnlichen Modernisierungsgrad aufwiesen, aber zu unterschiedlichen Zeitpunkten soziale Sicherungssysteme implementierten oder unterschiedliche Sicherungsformen entwickelten, vermögen funktionalistische Ansätze im Allgemeinen ebenso wenig zu erklären wie die sozialpolitische Pionierrolle von wirt25
Den sozioökonomischen Erklärungsmodellen sehr ähnlich sind neomarxistische Ansätze (u.a. Narr/Offe 1975; O'Connor 1974), die das Erfordernis sozialpolitischer Interventionen ebenfalls aus wirtschaftlichen Faktoren ableiten, nun jedoch nicht aus der industriellen Wirtschaftsform, sondern aus der kapitalistischen Produktionsweise. Dem Wohlfahrtsstaat komme dabei primär die Aufgabe zu, das kapitalistische Wirtschaftssystem vor seinen selbstzerstörerischen Tendenzen zu schützen (»saving capitalism from itself«).
2.2 Wohlfahrtsstaatstheorie und die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates
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schaftlich und politisch eher rückständigen Ländern wie Deutschland und Österreich.26 Die Akzentuierung funktionaler Erfordernisse und die dezidiert makrosoziologische Perspektive verhindern, dass Fragen der sozialen Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Sicherungssysteme eine höhere Relevanz beigemessen wird. Denn wenn Umfang und Form der sozialen Sicherung zumindest im Wesentlichen den jeweiligen funktionalen Imperativen folgen, sind die Zustimmung oder Ablehnung wohlfahrtsstaatlicher Politik bestenfalls erfreuliche, schlechtestenfalls störende Begleiterscheinungen im Prozess der kontinuierlichen Anpassung an sich wandelnde Anforderungen.27 Annahmen über die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme lassen sich aus funktionalistischen Ansätzen daher nur in sehr allgemeiner Form ableiten. So kann vermutet werden, dass z.B. das wohlfahrtsstaatliche Anspruchsniveau – die Erwartungen, die bezüglich des Umfangs und der Generosität der Absicherung bestehen – zumindest grob am sozioökonomischen Entwicklungsstand und dem Modernisierungsgrad (also den funktionalen Erfordernissen) orientiert ist. So wie die Menschen des 19. Jahrhunderts geringere Erwartungen (oder Hoffnungen) bezüglich einer sozialen Absicherung hegten, als dies im 21. Jahrhundert der Fall ist, so werden die Wohlfahrtsansprüche in Entwicklungsländern auch weit geringer sein als in hochindustrialisierten Ländern. Eine mögliche, dieser Logik eines parallelen Wachstums von Wirtschaft und gesellschaftlicher Modernisierung auf der einen Seite und wohlfahrtsstaatlichem Leistungsumfang auf der anderen zum Teil entgegengesetzte, aber ebenso funktionalistische These könnte etwa lauten, dass ab einem bestimmten (hohen) wirtschaftlichen Entwicklungsstand oder Modernisierungsgrad eine wohlfahrtsstaatliche Absicherung immer weniger zwingend ist und dass sich dies in einer sinkenden Akzeptanz insbesondere umfassender, egalitärer und etatistischer Sicherungssysteme auswirkt. Als Gründe für einen sinkenden Bedarf an einer wohlfahrtsstaatlichen Absicherung ließen sich dabei neben dem hohen Wohlstandsniveau auch das gestiegene Bildungsniveau und eine entsprechend wachsende Vorsorgebereitschaft und -fähigkeit anführen. Zwischen der sozioökonomischen Entwicklung und den »Wohlfahrtsansprüchen« bestände demzufolge ein kurvlinearer (umgekehrt U-förmiger) 26
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Auch die jüngere wohlfahrtsstaatliche Entwicklung, die vor allem durch den Abbau wohlfahrtsstaatlicher Leistungen gekennzeichnet ist, lässt sich zumindest mit den »alten« funktionalistischen Argumenten nicht erklären. Denn weder die sozioökonomische Entwicklung (insbes. das Wirtschaftswachstum) noch die gesellschaftliche Modernisierung sind stagnierende oder gar rückläufige Prozesse. Immerhin aber war es einer der prominentesten Vertreter des sozioökonomischen Funktionalismus in der Wohlfahrtsstaatstheorie, Harold Wilensky, der auf das in manchen Wohlfahrtsstaaten zu beobachtende Phänomen des »welfare backlash«, einem wachsenden Widerstand in den Mittelschichten gegen expandierende Wohlfahrtsstaatlichkeit, aufmerksam gemacht hat (Wilensky 1975). Dies ändert jedoch nichts an dem Umstand, dass derartige Phänomene innerhalb des funktionalistischen Paradigmas nicht befriedigend erklärt werden können. (Zum »welfare backlash« s.a. Abschnitt 2.2.2).
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2 Wohlfahrtsstaatstheorie und die Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen
Zusammenhang: Mit dem Entwicklungsstand würde zunächst das Bedürfnis nach wohlfahrtsstaatlicher Absicherung steigen, dann aber einen Scheitelpunkt erreichen und schließlich wieder abnehmen.28 Aus funktionalistischen Überlegungen lassen sich insofern durchaus Annahmen über Akzeptanzunterschiede zwischen Wohlfahrtsstaaten und im historischen Vergleich ableiten –nämlich solche, die den gesellschaftlichen Entwicklungsstand reflektieren. Für die hier zentrale Frage der Erklärung von Akzeptanz und Akzeptanzunterschieden innerhalb eines Wohlfahrtsstaates und zu einem Zeitpunkt bietet eine funktionalistische Perspektive dagegen kaum Anhaltspunkte; sie soll hier daher nicht weiter verfolgt werden. 2.2.2 Konflikttheoretische Ansätze Die vielleicht einflussreichsten Ansätze in der Wohlfahrtsstaatsforschung sind diejenigen, die zur Erklärung der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung auf Interessen und Interessenunterschiede, deren Bündelung durch unterschiedliche Formen der Organisation sowie auf die Konfrontation zwischen unterschiedlichen Interessengruppen rekurrieren. Sie werden unter anderem als Machtressourcen-, Parteienstärke-, interessentheoretische oder konflikttheoretische Ansätze bezeichnet. In ihnen ist zum Teil auch eine Reaktion auf die vermeintlichen Unzulänglichkeiten funktionalistischer Erklärungen, die vor allem den Unterschieden zwischen Wohlfahrtsstaaten nicht gerecht werden, zu sehen. Diese im Einzelnen sehr unterschiedlichen und zum Teil von gegensätzlichen Annahmen ausgehenden Ansätze versuchen, wohlfahrtsstaatliche Entwicklungen auf den Einfluss gesellschaftlicher Interessengruppen und politischer Machtkämpfe zurückzuführen. Den größten Einfluss hatte hierbei die Sozialdemokratie-These, die ihre moderne Ausdeutung vor allem in der skandinavischen Wohlfahrtsstaatstheorie erhalten hat (vgl. u.a. Castles 1978; Korpi 1983).29 In ihrer allgemeinen Form geht diese These davon aus, dass das System der sozialen Sicherung umso stärker ausgebaut wird, je größer das relative politische Gewicht sozialdemokratischer Parteien ist. In Ländern, in denen die Sozialdemokratie über einen längeren Zeitraum einen hegemonialen Status erlan-
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Ein solcher Zusammenhang erscheint allerdings vor allem für die im engeren Sinne sozioökonomische Entwicklung plausibel. In modernisierungstheoretischer Sicht kann angesichts von Individualisierungs- und Destandardisierungstendenzen auch für die Zukunft ein wachsender Bedarf an sozialer Sicherung angenommen werden Ein Vorläufer bzw. früher Vertreter der Sozialdemokratie-These ist Eduard Heimann (1980 [1929]), der im reformistisch orientierten Teil der Arbeiterbewegung die treibende Kraft bei der Entstehung und vor allem beim weiteren Ausbau der sozialen Sicherung sah.
2.2 Wohlfahrtsstaatstheorie und die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates
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gen konnte (z.B. in Schweden), sei der Wohlfahrtsstaat daher auch am weitesten entwickelt.30 Gegen die Annahme, dass die Stärke der (sozialdemokratischen) Arbeiterparteien und ihrer Verbündeten (insbes. der Gewerkschaften) entscheidend für die sozialpolitische Entwicklung war, spricht vor allem, dass wichtige Sozialgesetze oft bereits eingeführt worden waren, bevor sozialdemokratische Parteien überhaupt einen größeren parlamentarischen Einfluss gewinnen konnten (vgl. Alber 1982: 127ff.). Zudem wurden soziale Sicherungssysteme auch in Ländern ausgebaut, in denen Arbeiterparteien nie einen hegemonialen Status innehatten.31 Eher geeignet, die Entwicklung in nicht von sozialdemokratischen Parteien dominierten Wohlfahrtsstaaten zu erklären, sind daher Ansätze, die in christlichen bzw. christdemokratischen Parteien die maßgeblichen Antreiber sozialpolitischer Reformen sehen (z.B. van Kersbergen 1995). Die Christdemokratie-These kann insofern als wichtige Ergänzung des Parteienstärkeansatzes angesehen werden.32 Eine etwas andere Erklärung bietet die »Mittelklassenthese« (u.a. Baldwin 1990; Goodin/Le Grand 1987), die davon ausgeht, dass auch Angehörige mittlerer Schichten, die traditionell eher zu den Wohlfahrtsstaatsgegnern gerechnet werden, in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ein stärkeres Interesse an einer umfassenden sozialen Sicherung entwickelt haben. Diese Annahme wird vor allem damit begründet, dass Angehörige der Mittelschichten in vielen Wohlfahrtsstaaten in erheblichem Maße von Sozialleistungen profitieren, insbesondere wenn diese, wie häufig im Gesundheits- und Bildungsbereich, universalistisch ausgerichtet sind. Dabei wird oft ein »Matthäuseffekt« (Deleeck 1984) angenommen, demzufolge Angehörige der Mittelschichten überproportional viele Sozialleistungen erhalten. In konflikttheoretischer Perspektive stellen sich Akzeptanzfragen nur bedingt. Anders als funktionalistische Ansätze wird jedoch davon ausgegangen, dass bezüglich wohlfahrtsstaatlicher Präferenzen erhebliche Unterschiede bestehen. Dabei wird 30
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Als neomarxistische Variante der Sozialdemokratie-These kann die »Pazifizierungsthese« gelten. Nach dieser stellen sozialpolitische Programme Konzessionen der bürgerlichen Eliten an die aufbegehrenden Arbeiter (bzw. andere deprivierte Schichten) dar. Sozialpolitik soll daher vor allem die Ausgebeuteten und Benachteiligten beruhigen und diene damit den langfristigen Interessen der herrschenden Klassen (vgl. u.a. Piven/Cloward 1977). Angesichts dieser Erklärungsnot verwundert es nicht, dass es schnell zu Modifizierungen der ursprünglichen These kam. Als eine Weiterentwicklung der Sozialdemokratie-These können dabei Ansätze gelten, die in spezifischen sozialreformerischen Koalitionen unter Führung sozialistischer und sozialdemokratischer Parteien – im Fall Schwedens etwa von sozialdemokratischer Arbeiterbewegung und Bauern – als entscheidend für die expansive Dynamik von Wohlfahrtsstaaten ansehen. Wenn solche Parteienkoalitionsthesen auch eine gewisse empirische Plausibilität haben, so vermögen sie die Entwicklung in nicht sozialdemokratisch geprägten Wohlfahrtsstaaten ebenso wenig zu erklären wie die Sozialdemokratie-These. Ähnlich wie die Sozialdemokratie-These ist aber auch die Christdemokratie-These vor allem für Wohlfahrtsstaaten plausibel, in denen entsprechende Parteien über längere Zeiträume politisch dominant waren (wie in den Niederlanden, Deutschland und Italien).
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jedoch implizit unterstellt, dass diese Unterschiede von der sozialen Position abhängen und dass allgemeine Interessenorganisationen und politische Parteien diese gruppenspezifischen Interessen an der sozialen Sicherung adäquat zum Ausdruck bringen. Eine Ausnahme ist hier die neomarxistische »Pazifizierungsthese«: Sollen Sozialleistungen Massenloyalität sicherstellen, so muss gewährleistet sein, dass diese auch gewollt werden. Gemeinhin wird dabei jedoch davon ausgegangen, dass die Sicherstellung der politischen Unterstützung durch wohlfahrtsstaatliche Leistungen und deren Erhöhung unproblematisch ist (dass die »Massen« also Sozialleistungen wollen und dass mehr Leistungen auch zu mehr politischer Unterstützung oder Akquieszenz führen). Erst vor dem Hintergrund eines zumindest in Teilen der Bevölkerung wachsenden Widerstandes gegen den weiteren Ausbau der sozialen Sicherung wurde dieser Automatismus – mehr Sozialleistungen bedeute mehr politische Unterstützung – zunehmend hinterfragt. Abgesehen von der »Pazifizierungsthese« ergeben sich aus konflikttheoretischen Ansätzen aber insgesamt nur wenig unmittelbare Impulse für die theoretische Reflexion des Akzeptanzphänomens. Dessen ungeachtet üben sie einen erheblichen Einfluss auf die wohlfahrtsstaatliche Akzeptanzforschung aus, wenn auch eher über den »Umweg« politikwissenschaftlicher »cleavage«-Ansätze, die als maßgebliche Quelle für die Hypothesenbildung im Bereich der wohlfahrtsstaatlichen Akzeptanzforschung gelten können (vgl. z.B. Roller 1992). So sind traditionale Klassen- und Schichtunterschiede der vielleicht am häufigsten verwendete Prädiktor sozialpolitischer Einstellungen. Unterschiede hinsichtlich der wohlfahrtsstaatlichen Präferenzen und entsprechend differente Akzeptanzurteile können in mehrfacher Hinsicht durch die soziale Positionierung bedingt sein. Dabei ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die Bedeutung sozialstruktureller Unterschiede auch von der institutionellen Ausgestaltung der Sicherungssysteme abhängt. Ob und wie sich soziale Unterschiede in Akzeptanzunterschieden niederschlagen, hängt auch davon ab, in welchem Maße sich die sozialen Sicherungssysteme an sozialstrukturellen Unterschieden orientieren und z.B. nur Leistungen für bestimmte soziale Gruppen bereitstellen. Insgesamt können vier zentrale Konfliktlinien ausgemacht werden, die zu entsprechend unterschiedlichen Urteilen über den Wohlfahrtsstaat bzw. über einzelne Sicherungssysteme führen können. (1) Zunächst gilt dies natürlich für den traditionalen Klassenkonflikt, dessen Niederschlag in konträren wohlfahrtsstaatlichen Interessenpositionen der »Sozialdemokratie-These« zugrunde liegt. Für die einzelnen Wohlfahrtsregime können hier unterschiedliche Annahmen abgeleitet werden. So ist zum einen zu vermuten, dass der Konflikt zwischen »Arbeitnehmern« und »Arbeitgebern« im konservativen Modell besonders stark auf die wohlfahrtsstaatliche Sicherung durchschlägt, weil hier die Unternehmer durch die so genannte paritätische Finanzierung unmittelbar belastet
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werden. In liberalen Wohlfahrtsstaaten sollte der Konflikt zwischen Unternehmern und Beschäftigten dagegen schwächer ausgeprägt sein. Die unmittelbare Belastung der Unternehmen entfällt hier und die Leistungshöhen sind vergleichsweise gering.33 In sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten ist dagegen wiederum von einer etwas höheren Wahrscheinlichkeit von Klassenkonflikten im Bereich der wohlfahrtsstaatlichen Absicherung auszugehen. Zwar ist auch hier die direkte Belastung der Unternehmen im Vergleich zum konservativen Wohlfahrtsstaatsmodell eher gering; das hohe Leistungsniveau und entsprechende Steuersätze dürften hier aber dafür sorgen, dass der »Klassencharakter« der sozialen Sicherung deutlicher hervortritt. Innerhalb der einzelnen Wohlfahrtsstaaten sollten sich – unabhängig vom konkreten Wohlfahrtsstaatstyp – bei der Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme deutliche Unterschiede ergeben: nicht so sehr bei der Beurteilung von Sicherungsformen, sondern vor allem bei der der Leistungshöhe. Abhängig Beschäftigte (insbes. Arbeiter) sollten demnach eher Präferenzen für ein hohes Leistungsniveau haben, Selbständige (und Freiberufler) dagegen für ein deutlich geringeres. Weiter kann angenommen werden, dass die Präferenzen der abhängig Beschäftigten für höhere Leistungen desto ausgeprägter sind, je stärker der Leistungsbezug an Erwerbstätigkeit gebunden ist und je höher daher die Wahrscheinlichkeit ist, dass ein »Arbeitnehmer« diese Leistungen im Rahmen einer »Normalerwerbsbiografie« erhält. Grundsätzlich ist zu vermuten, dass sich der traditionale kapitalistische Klassengegensatz in entsprechenden politischen Orientierungen auswirkt und dass die Anhänger unterschiedlicher Parteien entsprechend gegensätzliche Vorstellungen über die soziale Sicherung haben. Zumindest was die beiden »großen Volksparteien« betrifft, widerspricht dem allerdings die Christdemokratie-These. Sowohl christlichkonservative als auch sozialdemokratische Kräfte haben sich maßgeblich an der Ausgestaltung der Sozialpolitik in Deutschland beteiligt. Insofern wären keine grundlegenden Unterschiede zwischen den Anhängern der beiden »Volksparteien« zu erwarten – vielleicht mit der Einschränkung, dass die sozialdemokratische Anhängerschaft weitergehende Erwartungen hat: so z.B. bei typisch sozialdemokratischen Zielen und Werten wie der Verringerung sozialer Ungleichheit und der Sicherung von Arbeitsplätzen.34 (2) Neben den Selbständigen (und historisch vor allem auch den selbständigen Landwirten) gilt der »alte Mittelstand« als Hort wohlfahrtsstaatsfeindlicher Einstellun33
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Zudem gibt es in liberalen Wohlfahrtsstaaten nicht zuletzt wegen des geringen Leistungsniveaus naheliegendere Konfliktarenen zum Austragen der Interessengegensätze zwischen »Kapital« und »Arbeit«. Deutlichere Unterschiede können dagegen bei den Anhängern der kleineren Parteien erwartet werden: bei FDP-Anhängern eine kritischere Haltung gegenüber dem Wohlfahrtsstaat, bei Anhängern der PDS eine starke Unterstützung für eine umfassendere Wohlfahrtsstaatlichkeit und eine entsprechende Unzufriedenheit mit dem Status quo und bei den Anhängern der Grünen eine eher kritische Beurteilung klassischer sozialpolitischer Zielsetzungen (z.B. Alterssicherung) und womöglich eine stärkere Unterstützung (oder zumindest Aufgeschlossenheit) für »weiche«, nicht-erwerbsarbeitszentrierte Sozialpolitikbereiche (Familie, Ausländer, Grundeinkommen etc.).
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gen, was sich u.a. mit dem Distinktionsbedürfnis gegenüber der Arbeiterschaft erklären lässt. Die massiven sozialstrukturellen Veränderungen nach dem Zweiten Weltkrieg haben jedoch zu einem Aufstieg der Angestellten und zu einem immer geringeren Anteil des alten Mittelstandes und der Landwirte an der Erwerbsbevölkerung geführt, sodass das Lager traditionaler Wohlfahrtsstaatsgegner deutlich zusammengeschrumpft ist. Durch die sukzessive Ausweitung sozialer Sicherungssysteme erwarben zudem auch Angestellte und Beamte, zum Teil auch Selbständige und Freiberufler, zunehmend wohlfahrtsstaatliche Ansprüche. Die Veränderungen in der Erwerbsstruktur und die Ausweitung der wohlfahrtsstaatlichen Adressatendefinition bilden die Grundlage für die Mittelklassenthese, nach der der Wohlfahrtsstaat mit einer breiten Unterstützung durch die »neuen« Mittelschichten rechnen kann.35 Für die Frage der Akzeptanz bedeutet dies, dass wohlfahrtsstaatliche Sicherungssysteme bei Angehörigen der Mittelschichten auf Zustimmung stoßen, sofern diese aufgrund der Art ihrer Erwerbstätigkeit auf kollektive Absicherung angewiesen sind und insoweit sie davon ausgehen können, dass die Sozialleistungen auch ihnen selbst zugute kommen (können). Auf der Ebene der Wohlfahrtsregime würde dies zunächst bedeuten, dass konservative Wohlfahrtsstaaten wegen der weitreichenden Geltung des Äquivalenzprinzips (wer mehr Beiträge zahlt, erhält auch höhere Geldleistungen) und durch die institutionelle Aufrechterhaltung von Statusunterschieden auf hohe Akzeptanz in den Mittelschichten stoßen. Verstärkend könnte hier der in vielen konservativen Wohlfahrtsstaaten, und gerade auch in Deutschland, vergleichsweise früh erfolgte Einbezug der Mittelschichten in das System der sozialen Sicherung wirken. Liberale Wohlfahrtsstaaten sind dagegen durch eine misslungene (oder nie angestrebte) Integration der Mittelschichten gekennzeichnet. Hier ist bei Angehörigen der Mittelschichten daher auch mit einer geringen Akzeptanz, wenn nicht Ablehnung sozialstaatlicher Programme zu rechnen, weil »welfare«, so lautet die Vermutung, aufgrund der geringen Wahrscheinlichkeit eines eigenen Bezugs vorwiegend als (steuerliche) Belastung wahrgenommen wird. Entgegen einer verbreiteten Selbstwahrnehmung vieler skandinavischer Sozialpolitikforscher sollten sozialdemokratische Wohlfahrtsstaaten bei der Frage nach dem Rückhalt des Wohlfahrtsstaates in den Mittelklassen eher eine mittlere Position einnehmen. Für eine Mittelklassenunterstützung spricht die hohe Verbreitung universalistischer Leistungen (die auch Angehörigen der Mittelschichten zugute kommen) – ein Effekt, der aber durch die hohe steuerliche Belastung zumindest stark
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Mit Papadakis (1993: 257ff.) können drei Arten von Interesse unterschieden werden, die das Verhältnis der Mittelschichtangehörigen zum Wohlfahrtsstaat prägen können: Dies sind die beiden »positiven« Interessen als »Konsument« von Leistungen und als Leistungsanbieter (z.B. im Gesundheitswesen), dem das »negative« Interesse als Beitrags- und Steuerzahler entgegensteht.
2.2 Wohlfahrtsstaatstheorie und die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates
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relativiert werden könnte, zumal hier (im Unterschied zu konservativen Wohlfahrtsstaaten) wohlfahrtsstaatliche Privilegien gegenüber den Arbeitern weitgehend fehlen. Argumente für eine eher hohe Akzeptanz sozialer Sicherung in den Mittelschichten in sozialdemokratischen und konservativen Wohlfahrtsstaaten scheinen der These eines »welfare backlash« (der Mittelschichten) zu widersprechen. Als »welfare backlash« wird die ablehnende Haltung gegenüber dem Wohlfahrtsstaat in Teilen der Bevölkerung, die sich zu anti-wohlfahrtsstaatlichen Bewegungen steigert, bezeichnet (Wilensky 1975). Vor allem in konservativen Wohlfahrtsstaaten mit ihrer Dominanz von Sozialversicherungen (Äquivalenzprinzip) und dem Festhalten an »ständischen« Organisationsprinzipien ist die Wahrscheinlichkeit eines solchen »welfare backlash« sehr gering – und in der Tat gibt es bisher auch kaum einen solchen Fall (vgl. Wilensky 2002: 380f.).36 Aufgrund der universalistischen Grundstruktur (bzw. soweit diese reicht) gilt dies im Grunde auch für die sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten. Die Lage scheint hier jedoch weniger eindeutig, denn wie der Fall Dänemarks zeigt (vgl. Wilensky 2002: 377f.), kann es wegen der hohen Finanzierungslasten gerade der mittleren Einkommensschichten durchaus zu »welfare backlash«-Phänomenen kommen. Die Mittelklassenthese und die Annahme eines »welfare backlash« stehen mithin also nicht in einem Widerspruch, sondern beleuchten einen ähnlichen Sachverhalt aus unterschiedlicher Richtung: Dort wo die Integration der Mittelschichten in den Wohlfahrtsstaat gelungen ist, ist die Wahrscheinlichkeit eines »welfare backlash« gering. Klassische »welfare backlash«-Länder sind daher auch nur liberale Wohlfahrtsstaaten, denn hier sind direkte und selektive Transferleistungen für Bedürftige typisch, während weite Teile der Mittelschichten nur in geringem Maße wohlfahrtsstaatliche Leistungen erhalten (können). Ein einfacher Umkehrschluss (keine breite Unterstützung der Mittelschichten, also »welfare backlash«) wäre jedoch voreilig. So ist selbst für liberale Wohlfahrtsstaaten die Wahrscheinlichkeit eines »welfare backlash« eher gering, wie die insgesamt geringe Zahl von historischen Beispielen zeigt (vgl. Wilensky 2002: 363ff.). Denn ob aus einer fehlenden Unterstützung offener Widerstand wird, hängt noch von einer Reihe weiterer Faktoren ab, u.a. von der steuerlichen Belastung, die aber gerade in liberalen Wohlfahrtsstaaten eher gering ist. (3) Interessengegensätze bei der sozialen Sicherung können sich aber nicht nur aus der allgemeinen sozialen Lage ergeben, sondern auch aus Interessenlagen, die erst durch das System der sozialen Sicherung selbst gebildet werden. So konstituieren viele Sicherungssysteme dauerhafte Versorgungsklassenlagen, die zu sehr unterschiedlichen Präferenzen bezüglich des Wohlfahrtsstaates führen können. Als (positiv privilegierte) Versorgungsklassen werden nach Lepsius (1979) Bevölkerungsgruppen bezeichnet, die ihren Lebensunterhalt vorwiegend aus Sozialtransfers 36
Die stärksten »welfare backlash«- Phänomene eines konservativen Wohlfahrtsstaates stellt Wilensky für Frankreich fest (2002: 365f.), das auf der von ihm entwickelten »welfare backlash«-Skala immerhin einen Wert von 3 (max. 5) erhält (2002: 381).
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bestreiten (also insbesondere Rentner, Arbeitslosengeldempfänger und Sozialhilfeempfänger). Dabei können zwei grundsätzliche Formen möglicher »Versorgungsklassenkonflikte« unterschieden werden: Interessengegensätze zwischen Leistungsempfängern (bzw. Nettoempfängern) und Leistungsfinanzierern (oder Nettozahlern37) und Verteilungskämpfe zwischen den verschiedenen (»positiv privilegierten«) Versorgungsklassen (also z.B. zwischen Rentner und Arbeitslosengeldempfängern). Angesichts des enormen sozialpolitischen Verteilungsaufwands scheint insbesondere ein Konflikt zwischen Leistungsbeziehern und Leistungsfinanzierern wahrscheinlich. Aber auch das zweite Konfliktszenario ist zumindest insofern plausibel, als es wegen zunehmend begrenzter Mittel für einzelne Gruppen von Leistungsempfängern (z.B. Rentner) durchaus nahe liegend sein kann, ihre Interessen auf Kosten anderer Versorgungsklassen und Leistungsempfängergruppen (z.B. Arbeitslose) durchzusetzen. Dass aus solchen Interessengegensätzen manifeste Konflikte werden, setzt allerdings die Organisation dieser Interessen voraus, was selbst bei den größeren Leistungsempfängergruppen bisher nur in Ansätzen zu beobachten ist (für Rentner vgl. z.B. Wolf/Kohli 1998). Die Möglichkeit von Konflikten zwischen Versorgungsklassen wurde für die Bundesrepublik schon früh von Jens Alber (1984) untersucht. Alber findet insgesamt jedoch nur wenig Anhaltspunkte für Verteilungskonflikte, die sich aus der Versorgungsklassenposition ableiten, auch wenn die Zahl der Leistungsempfänger und damit auch die Abgabenlast offensichtlich gestiegen sind. Das Ausbleiben von Versorgungsklassenkonflikten führt er u.a. darauf zurück, dass die meisten Steuer- und Beitragszahler in der einen oder anderen Form auch Leistungsempfänger sind (oder sein werden). Daher sieht Alber die »mittlere Masse der Einkommensbezieher (...) fest in den Wohlfahrtsstaat integriert« (1984: 233). Mithin gebe es nur wenige »strukturelle Anknüpfungspunkte für eine Widerstandsbewegung gegen den Wohlfahrtsstaat« (1984: 233). Auch für Konflikte zwischen einzelnen (positiven) Versorgungsklassen sieht Alber wenig Anzeichen. Er führt dies auf die Heterogenität der einzelnen Versorgungsklassen zurück sowie auf die Schwierigkeit, eine individuelle Bilanz von Leistungen und Belastungen zu erstellen. Auch die spezifische institutionelle Struktur des deutschen Wohlfahrtsstaates (u.a. die Einkommensabhängigkeit der Leistungen) trage zu einem insgesamt geringen Konfliktpotenzial bei (1984: 234, 246). Auch über 20 Jahre nach Albers Analysen scheint sich an dieser Situation kaum etwas geändert zu haben. Die potenzielle Konfliktträchtigkeit der wohlfahrtsstaatlichen Umverteilung besteht unverändert. Dass Verteilungskonflikte zwischen Versorgungs- und »Finanzierungsklassen« bisher aber nicht virulent wurden, unter37
Als Nettozahler und Nettoempfänger werden »sozialpolitische Verteilungspositionen« bezeichnet, die durch eine Parallelität von Finanzierung und Leistungserhalt gekennzeichnet sind (wie insbes. in der Gesetzlichen Krankenversicherung). Die entsprechenden wohlfahrtsstaatlichen Adressaten können dann eine aus ihrer Sicht positive (Nettoempfänger) oder negative (Nettozahler) »BeitragsLeistungs-Bilanz« ziehen.
2.2 Wohlfahrtsstaatstheorie und die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates
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streicht die Vermutung, dass der deutsche (konservative) Wohlfahrtsstaat gegen die Gefahr solcher Verteilungskonflikte gut gerüstet ist. Entscheidend dürfte hierfür die starke »Mittelschichtorientierung« des deutschen Wohlfahrtsstaates sein, und dass vertikale Umverteilungen entsprechend gering sind. Auch manifeste Verteilungskonflikte zwischen unterschiedlichen (positiv privilegierten) Versorgungsklassen (etwa zwischen Rentnern und Sozialhilfeempfängern) sind bisher bestenfalls in Ansätzen zu erkennen. Angesichts eines großen, aber immer kleiner werdenden »Kuchens« werden solche Verteilungskonflikte jedoch wahrscheinlicher und sollten für die Zukunft nicht ausgeschlossen werden. Sozialdemokratische Wohlfahrtsstaaten weisen bei der Anfälligkeit für Versorgungsklassenkonflikte viele Ähnlichkeiten mit denen des konservativen Typs auf. Wie schon bei der Diskussion des »welfare backlash« deutlich wurde, sind hier aber aufgrund der geringeren Erwerbsabhängigkeit der Leistungen, der Nivellierung von Statusunterschieden durch die universalistische Leistungsstruktur und der direkten und hohen Finanzierungslasten Konflikte zwischen Finanzierungs- und Versorgungsklassen zumindest wahrscheinlicher als in konservativen Wohlfahrtsstaaten. Wegen des geringen Leistungsniveaus kann demgegenüber für liberale Wohlfahrtsstaaten angenommen werden, dass Interessenkonflikte zwischen den positiven Versorgungsklassen eher unwahrscheinlich sind. Aufgrund der hohen »Sichtbarkeit« der Transferleistungen müssen liberale Wohlfahrtsstaaten dagegen als anfällig für manifeste Interessenkonflikte zwischen Leistungsempfängern und Leistungsfinanzierern gelten – auch wenn diese möglicherweise »einseitig« in Form eines »welfare backlash« der Mittelschichten ausgetragen werden. Unabhängig von der Frage, ob solche Konfliktlagen auch virulent werden, ist davon auszugehen, dass sich auch latente wohlfahrtsstaatliche Interessengegensätze in entsprechenden Unterschieden bei den Präferenzen hinsichtlich der sozialen Absicherung sowie bei der Beurteilung bestehender Sicherungsinstrumente niederschlagen. Die grundlegende Annahme lautet daher, dass die »Grenzen der Versorgungsklassen« auch Demarkationslinien wohlfahrtsstaatlicher Akzeptanz sind. Die Zugehörigkeit zu einer Finanzierungs- oder Versorgungsklasse wird dabei in erster Linie die Akzeptanzurteile über die jeweiligen Sicherungssysteme maßgeblich bestimmen, darüber hinaus aber auch die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates insgesamt. Die Bewusstheit dieser wohlfahrtsstaatlichen Interessengegensätze – wenn man so will: das »Versorgungsklassenbewusstsein« – wird sich dabei vermutlich verstärkend auswirken. Grundsätzlich ist aber davon auszugehen, dass die Akzeptanzurteile durch die individuelle sozialpolitische Verteilungsposition und weniger durch spezifische Konkurrenz- und Missgunstbeziehungen geprägt sind, dass relevante Akzeptanzunterschiede zwischen Versorgungsklassen also auch bereits ohne ein entsprechendes Konfliktbewusstsein bestehen. (4) Versorgungsklassenkonflikte sind Konfliktlagen, die erst durch das System der sozialen Sicherung entstehen. Im weiteren Sinne trifft dies auch für Interessen-
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gegensätze zwischen »Generationen« zu, die im wohlfahrtsstaatlich relevanten Sinne zum Teil erst durch die Regelungen der Sicherungssystemen (z.B. Rentenalter) geschaffen werden. Der Begriff »Generationenkonflikt« gehört dabei zu den zahlreichen, sowohl in der öffentlichen Diskussion als auch in der Soziologie verwendeten Begriffen mit mehrdeutigem und normativ aufgeladenem Gehalt. Im Kontext der wohlfahrtsstaatlichen Sicherung sind damit meist strukturelle Konfliktlagen zwischen Angehörigen unterschiedlicher Alterskohorten bzw. Generationslagen gemeint. Ähnlich wie bei den Versorgungsklassen kann angenommen werden, dass durch die Art der wohlfahrtsstaatlichen Absicherung und der durch sie bedingten Verteilung von Lasten und Leistungen Interessenlagen entstehen, die sich an die Zugehörigkeit zu einer Generation oder Altersgruppe knüpfen. Demgemäß ergäbe sich also ein (latenter) Generationenkonflikt bereits aus dem objektiven Interessengegensatz zwischen »altersstrukturierten« sozialpolitischen Lagen. Das große Volumen intergenerationeller Umverteilungen und sich daran anschließende Fragen der »Generationengerechtigkeit« bilden dabei das materielle Substrat für Generationenkonflikte in Wohlfahrtsstaat, die durch die hohe Aufmerksamkeit, die diese Fragen in den Massenmedien erfahren, zunehmend ins öffentliche Bewusstsein gerückt sind. Generationenkonflikte auf der Ebene der wohlfahrtsstaatlichen Sicherung können völlig unabhängig von der spezifischen Ausgestaltung der sozialen Sicherung auftreten. So führt der demografische Wandel in allen Wohlfahrtsstaaten zu Finanzierungsproblemen; gleichzeitig gibt es in allen Wohlfahrtsstaaten viele alters- bzw. lebensphasenspezifische Leistungen, die eine Grundlage für wohlfahrtsstaatliche Generationenkonflikte bieten. Unterschiede zwischen Wohlfahrtsstaaten ergeben sich aber daraus, wie sehr kollektive Sicherungssysteme für Schwankungen in der Bevölkerungsentwicklung anfällig sind. Dass Sicherungssysteme unterschiedlich stark durch den Bevölkerungsrückgang belastet werden, wird vor allem an der umlagefinanzierten Rentenversicherung deutlich, auch wenn kapitalgedeckte Verfahren alles andere als eine vollständige Immunisierung gegen den demografischen Faktor sind (vgl. Wagner et al. 1998).38 Die Anfälligkeit für demografische Veränderungen wird schließlich auch durch die unterschiedlich starke Altersorientierung der Wohlfahrtsstaaten beeinflusst (vgl. Lynch 2001). So stellt der Bevölkerungsrückgang insbesondere solche Wohlfahrtsstaaten vor Probleme, die einen sehr hohen Anteil an Leistungen für Ältere vorsehen wie insbesondere die mediterranen Wohlfahrtsstaaten. Wie Lynch (2001) betont, fol-
38
Ein instruktives Beispiel sind hier auch die unterschiedlichen Finanzierungskonzepte der gesetzlichen und der privaten Krankenversicherungen. Während letztere aufgrund des Fehlens eines sozialen Ausgleichs von demografischen Entwicklungen weitgehend unabhängig sind, kommt es in der Gesetzlichen Krankenversicherung infolge des Solidarprinzips zu intergenerationellen Umverteilungen und somit zu einer stärkeren Belastung der (zahlenmäßig) schwächeren Alterskohorten.
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gen diese Unterschiede in der Altersorientierung insgesamt jedoch nicht dem Muster der Wohlfahrtsstaatstypen. Die meisten Beobachter stimmen wohl darin überein, dass der deutsche Wohlfahrtsstaat vor allem wegen seiner umlagefinanzierten Rentenversicherung, der großzügigen Vorruhestandsregelungen und der Erwerbsarbeitszentrierung (das Gros der Leistungen wird durch lohnabhängige Beiträge finanziert) besonders »demografieanfällig« ist (vgl. a. Kaufmann 1997: 69ff.). Noch mehr als andere hat der deutsche (konservative) Wohlfahrtsstaat ein stetiges Bevölkerungswachstum unterstellt und kann daher mit dem alten sozialpolitischen Instrumentarium nicht angemessen auf den Bevölkerungsrückgang reagieren. Wohlfahrtsstaatliche Generationenkonflikte sollten unter diesen Bedingungen eher auftreten als in Wohlfahrtsstaaten mit einem geringeren Ausmaß an intertemporalen und intergenerationellen Umverteilungen. Da aber alle Wohlfahrtsstaaten einen hohen Anteil altersspezifischer Programme aufweisen, besteht auch in allen die Möglichkeit von Generationenkonflikten; Unterschiede zwischen Wohlfahrtsstaaten sind hier eher gradueller Natur. Abbildung 2.2:
Konfliktwahrscheinlichkeiten in unterschiedlichen Wohlfahrtsregimen liberaler Wohlfahrtsstaat
konservativer Wohlfahrtsstaat
sozialdemokratischer Wohlfahrtsstaat
gering-mittel (selektive Leistungen)
eher hoch (Arbeitgeberbeiträge)
mittel (universale Leistungen)
»welfare backlash«Wahrscheinlichkeit (vs. Mittelklassenunterstützung)
mittel (geringes Leistungsniveau); aber nur geringe Mittelklassenunterstützung wegen selektiver Leistungen
gering (Statusprinzip)
mittel (universale Leistungen; hohes Leistungsniveau); mittlere bis hohe Mittelklassenunterstützung
Konflikte zwischen: (a) Versorgungs- und Finanzierungsklassen (b) positiven Versorgungsklassen
(a) hoch (hohe »Sichtbarkeit«) (b) eher gering (geringes Leistungsniveau)
(a) gering (Statusprinzip) (b) mittel (hohes, aber sinkendes Leistungsniveau)
(a) mittel (universale Leistungen) (b) mittel (hohes, aber sinkendes Leistungsniveau)
eher gering (?)
eher hoch
eher gering (?)
traditioneller Klassenkonflikt
Generationenkonflikt(e)
Wie bei den Versorgungsklassenkonflikten gilt auch für wohlfahrtsstaatliche Generationenkonflikte, dass sie nicht manifest sein müssen, um sich auf die Akzeptanzurteile auszuwirken. Sofern die Annahme strukturell angelegter Interessengegensätze zwischen Altersgruppen richtig ist, müssten sich zwischen den Generationen bzw. Altersgruppen deutliche Unterschiede bei der Beurteilung der sozialen Sicherung ergeben – zumindest bei lebensphasenrelevanten Sicherungssystemen wie der Kranken- und der Rentenversicherung. Anzunehmen wäre etwa eine höhere Akzeptanz der
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Rentenversicherung bei den Älteren als bei Jüngeren. Aber auch umgekehrt müssten bei jüngeren Personen stärkere Präferenzen für Ausbildungshilfen und Familienleistungen vorhanden sein (vgl. hierzu auch Kapitel 6.3). Die Wahrscheinlichkeiten der verschiedenen Konfliktformen im Kontext wohlfahrtsstaatlicher Absicherung sind der folgenden Tabelle zusammengefasst (Abb. 2.2). Dabei ist zu beachten, dass die jeweils zugewiesenen Konfliktwahrscheinlichkeiten notwendig nur sehr grobe Annäherungen sein können und dass nicht alle »Gegenthesen« aufgeführt werden konnten. 2.2.3 Wohlfahrtskulturelle Ansätze Untersuchungen, die zur Erklärung der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung auf unterschiedliche kulturelle Aspekte rekurrieren, können zusammenfassend als wohlfahrtskulturelle Ansätze bezeichnet werden (vgl. a. Ullrich 2003). Wohlfahrtskulturelle Ansätze können sich jedoch hinsichtlich der vermuteten Erklärungsfaktoren und der Analyseebene erheblich unterscheiden. Darüber hinaus sind Aussagen über die Ursachen und Kausalmechanismen der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung gemeinhin vager und seltener, als dies bei funktionalistischen und konflikttheoretischen Ansätzen der Fall ist. Zu den wohlfahrtskulturellen Arbeiten sind alle Arbeiten zu rechnen, die die Bedeutung von Ideologien und Werten für die Entstehung und Entwicklung von Wohlfahrtsstaaten betonen. Der Einfluss politischer Ideologien auf die Entstehung und institutionelle Struktur von Wohlfahrtsstaaten sowie auf den Umfang der Absicherung wurde vor allem in historisch-vergleichenden Studien verdeutlicht (z.B. Rimlinger 1971). Auch religiöse Orientierungen (wie Katholizismus oder Pietismus) sind als mögliche Erklärungsfaktoren wohlfahrtsstaatlicher Entwicklungen herangezogen worden (vgl. u.a. Kaufmann 1988; Manow 2002). Insgesamt besteht eine weit geteilte Überzeugung, dass die Entstehung und die Expansion der sozialen Sicherung eine Reihe kognitiver und moralischer Entwicklungen zur Voraussetzung hatten. So habe es umfangreicher kollektiver Lernprozesse bedurft, um den Wohlfahrtsstaat sowohl den bürgerlichen Eliten als auch der revolutionären Arbeiterbewegung als »historischen Kompromiss« zwischen einem ungezügelten, auf soziale Problemlagen keine Rücksicht nehmenden Kapitalismus einerseits und einer radikalen sozialistischen Umgestaltung andererseits »schmackhaft« zu machen (vgl. u.a. Heclo 1974; De Swaan 1988).39 39
Zu den wichtigsten »moralischen Lernschritten« werden hier die Einsicht, dass die freiwilligen Selbsthilfeorganisationen der Arbeiter den Sicherungsbedarf in industrialisierten Gesellschaften nicht mehr decken können, eine breite Sensibilisierung für die Risiken der modernen Lohnarbeiterexistenz sowie die Überzeugung, dass die Absicherung dieser Risiken eine kollektiv-staatliche Lösung erfordere, gerechnet (vgl. De Swaan 1988).
2.2 Wohlfahrtsstaatstheorie und die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates
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Den wohlfahrtskulturellen Ansätzen zuzurechnen sind auch Beschreibungen nationaler Wohlfahrtskulturen (vgl. z.B. für Frankreich: Bode 1999) sowie Vergleiche zwischen Ost- und Westdeutschland (Roller 1997). Eher selten sind dagegen explizite Versuche einer Typisierung von Wohlfahrtskulturen.40 Für Arbeiten, die von wohlfahrtskulturellen Annahmen ausgehen, ist allgemein aber die Befassung mit einzelnen kulturellen Aspekten und spezifischen Fragestellungen eher typisch. Dies gilt für so unterschiedliche Arbeiten wie Richard Titmuss Studie über Blutspenden (1970), Arbeiten zu wohlfahrtsstaatlichen Ideologien von Eliten (z.B. George 1998) oder auch solche im Rahmen des »culture of poverty«-Ansatzes (Lewis 1968). Wohlfahrtskulturelle Ansätze verfolgen insgesamt also kein klar umrissenes oder gar einheitliches Forschungsprogramm. Sie sind eher als »sensitizing concepts« zu verstehen, die die Bedeutung kultureller Aspekte für die Entstehung und Entwicklung von Wohlfahrtsstaaten betonen. Eine eindeutige theoretische Verortung von Fragen der Akzeptanz sozialer Sicherungsleistungen und die Zurechnung eines entsprechenden Stellenwerts des Akzeptanzaspektes können daher kaum erwartet werden. Wohlfahrtskulturelle Ansätze interessieren sich jedoch in besonderem Maße für Deutungsmuster, Ideologien und Diskurse – und somit auch dafür, welche Erwartungen an die soziale Sicherung bestehen und welche sozialpolitische Vorstellungen dominant sind. Zu letzteren gehören u.a. »Armutsbilder« (Ursachenattribution bei Armut; Armutsdefinition etc.), Ungleichheitssemantiken oder auch Deutungsmuster von Leistungsempfängern (soziale Wertschätzung/Sympathie, Victimisierung etc.). Die Akzeptanz der wohlfahrtsstaatlichen Sicherung und insbesondere deren kulturelle Hintergründe können daher als ein zentraler Themenbereich der Wohlfahrtskulturforschung angesehen werden (vgl. Ullrich 2003: 14). Aus wohlfahrtskulturellen Überlegungen lassen sich drei grundlegende und zu einem guten Teil gegenläufige Annahmen über die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates ableiten: (1) Arbeiten, die die Bedeutung kollektiver Lernprozesse für die wohlfahrtsstaatliche Entwicklung untersuchen (z.B. De Swaan 1988), legen zunächst die Annahme einer »supportiven« Wohlfahrtskultur als Voraussetzung für die Entstehung von Wohlfahrtsstaaten (insbesondere aber wohl für die »entwickelter« Wohlfahrtsstaaten) nahe. Von besonderer Bedeutung ist hier das Konzept der Moralökonomie (Thompson 1980), das vor allem von Kohli (1987, 1989) für wohlfahrtsstaatliche Fragestellungen fruchtbar gemacht wurde. Moralökonomisch argumentierende Studien gehen meist 40
So unterscheidet Zijderveld (1986) drei grundlegende Formen eines nationalen »Ethos«, von denen er annimmt, dass sie in einem direktem Verhältnis zur Ausgestaltung der jeweiligen Wohlfahrtsstaaten stehen. Das für die USA und Japan typische »moralische Ethos« betone etwa die individuelle Verantwortung und wirke sich daher restringierend auf die Expansion wohlfahrtsstaatlicher Einrichtungen aus. Umgekehrt verhalte es sich beim »immoralischen Ethos« (z.B. in Deutschland), während das »amoralische Ethos« (z.B. Italiens) gegenüber wohlfahrtsstaatlicher Politik indifferent sei.
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davon aus, dass sich im Zuge der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung allgemeine Normen entwickelt haben, die wohlfahrtsstaatliche Leistungsansprüche, Zahlungsbereitschaften und Umverteilungen legitimieren und sie dadurch von der unmittelbaren Notwendigkeit entbinden, eine Mehrheit allein interessenmotivierter Unterstützer zu sichern. Dies impliziert jedoch nicht, dass diese Normgenese der Institutionalisierung wohlfahrtsstaatlicher Regelungen und Ansprüche vorausgegangen sein muss. (2) Die Vermutung, dass die wohlfahrtsstaatliche Entwicklung an entsprechende kulturelle Veränderungen gebunden war, bedeutet jedoch keinesfalls, dass das Verhältnis von Wohlfahrtsstaat und Wohlfahrtskultur grundsätzlich unproblematisch ist. Es muss im Gegenteil von einem latent spannungsreichen Verhältnis ausgegangen werden: Wohlfahrtsstaatliche Institutionen müssen sich nicht nur an Veränderungen auf der Ebene der Wohlfahrtskultur anpassen; auch können (funktional womöglich notwendige) wohlfahrtsstaatliche Entwicklungen durch eine »resistente« Wohlfahrtskultur gebremst wenn nicht gar blockiert werden. Selbst wenn man also die grundlegende Annahme eines wechselseitigen Bedingungsverhältnisses von Wohlfahrtsinstitutionen und Wohlfahrtskultur akzeptiert, besteht durchaus noch die Möglichkeit eines erneuten Auseinanderdriftens von institutioneller und wohlfahrtskultureller Entwicklung. Je nachdem, welche Seite sich hier »bewegt«, kann dies dazu führen, dass die Bevölkerung entweder die bestehende Form der sozialen Sicherung immer weniger unterstützt oder aber sich (notwendigen) Reformen verweigert. Beide Szenarien werden von Wohlfahrtsstaatstheoretikern unterschiedlicher Provenienz beschworen. Insbesondere der schon ältere Diskurs um die von einigen Beobachtern vermutete »Legitimitätskrise« des Wohlfahrtsstaates (vgl. u.a. Moran 1988; Ringen 1987) hat hier Bedeutung erlangt. Der empirische Teil der Legitimitätskrisenthese besteht in der Annahme, dass wohlfahrtsstaatskritische Einstellungen in der Bevölkerung dominieren und dass es daher für den Wohlfahrtsstaat keine unterstützende Mehrheit (mehr) gebe oder dass diese zumindest gefährdet sei. Neben den hohen Finanzierungslasten in Form von Beiträgen und Steuern können als Ursachen für einen solchen Legitimationsentzug gestiegene und zunehmend schwerer zu erfüllende Erwartungen an den Wohlfahrtsstaat, die Zunahme interessenrationaler Einstellungen, aber auch allgemeine Entwicklungen, wie die Verschlechterung der ökonomischen und sozialstrukturellen Rahmenbedingungen und der allgemeine Wertewandel, angeführt werden (vgl. u.a. Offe 1987: 527ff.; Ringen 1987: 47ff.; Schmidt 1988: 183ff.).41
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Der Annahme einer Legitimitätskrise sind schon früh Entwicklungen entgegengehalten worden, die in die entgegengesetzte Richtung einer höheren Unterstützung des Wohlfahrtsstaates weisen. Doch unabhängig von der Frage ihrer empirischen Plausibilität ist für den hier interessierenden Zusammenhang entscheidend, dass von der Legitimitätskrisenthese unmittelbare Impulse – wenn nicht gar der entscheidende Anstoß – zur Erforschung der Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates ausgingen.
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In jüngerer Zeit ist die These einer Auseinanderentwicklung von Wohlfahrtsinstitutionen und Wohlfahrtskultur – wenn auch vor einem ganz anderen Hintergrund und mit ganz anderen Zielsetzungen – von neoliberalen Wohlfahrtsstaatskritikern erneuert worden. Demnach brauchen und wollen »mündige Staatsbürger« keine bevormundenden staatlichen Regelungen. Auf der politischen Ebene finden diese Vorstellungen in Forderungen nach mehr Wahlmöglichkeiten, einem Abbau von Zwangsregelungen und einer Förderung privater Vorsorge oder auch einer aktivierenden Sozialpolitik ihren Ausdruck. Eine dem entgegengesetzte Situationseinschätzung (bei gleicher politischer Stoßrichtung) liegt der Annahme einer reformunwilligen Bevölkerung zugrunde. Dieser zufolge erweist sich eine als »unzeitgemäß« empfundene Wohlfahrtskultur als entscheidender Hemmschuh für die als notwendig erachteten sozialpolitischen Reformen. Vertreter dieser Position verweisen insbesondere auf empirische Untersuchungen, die eine mangelnde Reformbereitschaft (im Sinne einer Privatisierung der Absicherung) nahe legen (z.B. Föste/Janßen 1997). (3) Die Vermutung einer zunehmenden Spannung zwischen wohlfahrtsstaatlichen Institutionen und Wohlfahrtskultur kann schließlich noch durch die Behauptung »radikalisiert« werden, dass dieser Entwicklungsprozess durch das System der sozialen Sicherung selbst, also endogen, erzeugt wird: Fehlallokationen von Mitteln, Leistungsmissbräuche, bürokratische Auswüchse und andere Missstände, vor allem aber die hohe Beitragslast, haben demnach dazu geführt, dass sich immer mehr Menschen vom Wohlfahrtsstaat zumindest in seiner »anspruchsvollen« Form abwenden. In ähnlicher Weise können auch die vermeintlich gestiegenen und zunehmend unerfüllbaren Erwartungen der Bevölkerung auf reale oder nur unterstellte wohlfahrtsstaatliche Leistungsversprechungen zurückgeführt werden. Ihre dramatisierende Form erhält diese Variante der Wohlfahrtsstaatskritik in der Metapher einer »Anspruchsspirale«, bei der sich die wohlfahrtsstaatlichen Leistungsversprechen und die Erwartungshaltungen und Mentalitäten der Adressaten wechselseitig verstärken (und dadurch das Leistungsniveau, das für eine Befriedigung der Wohlfahrtsansprüche ausreicht, immer höher schrauben). Wie sehr man solchen Diagnosen im Einzelnen auch immer folgen mag: Aus ihnen lassen sich allgemeine Annahmen über die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates gewinnen. Dazu ist jedoch zunächst zu klären, wie plausibel die einzelnen Vermutungen für die Situation des deutschen Wohlfahrtsstaates sind. Allgemein kann hier zunächst vermutet werden, dass die Ausbildung einer supportiven Moralökonomie vor allem für »starke« Wohlfahrtsstaaten eine Voraussetzung war und dass in erster Linie auch nur diese durch die Möglichkeit eines Auseinanderdriftens von wohlfahrtsstaatlichen Institutionen und Wohlfahrtskultur vor größere Probleme gestellt werden: Je höher das Leistungsniveau und je stärker die redistributiven und dekommodifizierenden Wirkungen, desto mehr werden Wohlfahrtsstaaten auf eine kulturelle Verankerung angewie-
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sen sein und desto weniger können sie sich auf vordergründige Interessenkalküle ihrer Adressaten verlassen. Folgt man der ersten, allgemeinen Annahme einer supportiven Wohlfahrtskultur ist für die Akzeptanz sozialer Sicherungssystemen in Deutschland vor allem eine zumindest (grobe) Korrespondenz von Wohlfahrtsinstitutionen und Wohlfahrtskultur zu erwarten, d.h. eine starke normative und mentale Verankerung der grundlegenden Prinzipien der sozialen Sicherung. Neben etatistischen und paternalistischen Orientierungen schließt dies auch eine hohe Solidaritätsbereitschaft und eine gewisse »Permissivität« gegenüber Leistungsempfängern sowie eine geringe Neigung zu deren Victimisierung42 ein. Schließlich sollten Präferenzen für eine umfangreiche Absicherung und für ein hohes Leistungsniveau ausgeprägt sein. Demgegenüber sollten z.B. in liberalen Wohlfahrtsstaaten u.a. individualistische und victimisierende Einstellungen sowie Präferenzen für ein geringes Leistungsniveau vorherrschen. Aus der »skeptischen« wohlfahrtskulturellen Annahme, dass Wohlfahrtskultur und Wohlfahrtsinstitutionen nicht (länger) im Einklang sind, lassen sich entsprechend gegenläufige Vermutungen über die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates ableiten. Die generelle Annahme ist hier, dass die Akzeptanz in allen »starken« Wohlfahrtsstaaten zurückgeht, weil sich die Wohlfahrtskultur »liberalisiert«. Dies müsste sich u.a. in einem Wunsch nach mehr Wahlfreiheit und der Ablehnung eines Staatspaternalismus, in einer generell stärkeren Bedeutung des Eigeninteresses, in einer kritischeren Sicht der Leistungsempfänger sowie in einer kritischeren Beurteilung der wohlfahrtsstaatlichen Performanz niederschlagen. Welchem Entwicklungsszenario man aber auch immer zuneigt: Die grundsätzliche Annahme zur Wohlfahrtsstaatsakzeptanz lautet in jedem Fall, dass eine hohe Kongruenz von Wohlfahrtskultur und Wohlfahrtsinstitutionen zu einer hohen Akzeptanz des bestehenden wohlfahrtsstaatlichen Arrangements führt. Dies gilt auch für Unterschiede zwischen Bevölkerungsteilen: Je stärker die allgemeinen Ideologien oder spezifische Wertorientierungen (z.B. Gerechtigkeitsüberzeugungen) einer Person mit der normativen Logik eines sozialen Sicherungssystems übereinstimmen, desto positiver wird sie – ceteris paribus – dieses beurteilen. 2.2.4 Institutionentheoretische Ansätze Die Grundidee institutionalistischer Ansätze besteht in der Annahme, dass die gesellschaftlichen Institutionen selbst, wenn sie erst einmal implementiert sind, sowohl die Interessen der betroffen Akteure (hier also gegenüber der sozialen Sicherung) prägen als auch ihre moralischen Überzeugungen. 42
Als Victimisierung (victim blaming) wird allgemein die Auffassung bezeichnet, dass Leistungsempfänger selbst dafür verantwortlich sind, in eine Abhängigkeit von Sozialleistungen geraten zu sein.
2.2 Wohlfahrtsstaatstheorie und die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates
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In der Wohlfahrtsstaatstheorie haben in jüngerer Zeit vor allem Erklärungsversuche besonderes Interesse hervorgerufen, die auf die Historizität wohlfahrtsstaatlicher Institutionen und auf Rückkoppelungseffekte rekurrieren. Oft liegt ihnen die aus Modellen der »Pfadabhängigkeit«43 entlehnte Annahme zugrunde, dass die wohlfahrtsstaatlichen Entwicklungsmöglichkeiten maßgeblich von der bereits bestehenden institutionellen Struktur eines Wohlfahrtsstaates bestimmt werden. Frühere sozialpolitische Entscheidungen erweisen sich dann rückblickend als entscheidende Weichenstellungen. Wohlfahrtsstaatliche Rückkoppelungseffekte sind alle durch den Wohlfahrtsstaat ausgelösten Veränderungen in der Umwelt, die wieder auf den Wohlfahrtsstaat zurückwirken. Solche Rückwirkungen können verstärkend oder destruktiv sein. Als positive Rückkoppelung (Verstärkung) kann z.B. die durch den Wohlfahrtsstaat mit verursachte Veränderung der Beschäftigungsstruktur in Richtung einer Zunahme abhängig Beschäftigter gelten. Diese hat dazu geführt, dass immer mehr Menschen auf eine sozialpolitische Absicherung angewiesen sind, während gleichzeitig die Zahl der klassischen Wohlfahrtsstaatsgegner (Selbständige, Landwirte) zurückging.44 Eine typische negative Rückkoppelung besteht dagegen, wenn wohlfahrtsstaatliche Programme durch die Veränderung der individuellen Opportunitätsstrukturen Verhaltensweisen begünstigen, die zu einer Belastung der sozialen Sicherungssysteme führen. Hierzu gehören u.a. die oft beklagte »Anspruchsmentalität« und die Verteuerung der Arbeitskraft durch Sozialabgaben. Aber auch im »welfare backlash« (vgl. Abschnitt 2.2.2) ist eine destruktive Rückwirkung auf den Wohlfahrtsstaat zu sehen, zumindest soweit diese Ablehnung auf die hohe finanzielle Belastung durch Steuern und Sozialversicherungsbeiträge zurückzuführen ist. Die Frage der Akzeptanz wird in der institutionentheoretischen Perspektive in »umgekehrter Richtung« zum Thema: Nicht die Bedeutung der sozialen Akzeptanz für die Stabilität und Performanz sozialer Sicherungsinstitutionen ist in dieser Sichtweise zentral, sondern der Einfluss, den diese auf die Präferenzen und Einstellungen der Wohlfahrtsstaatsbürger und auf die gesamte Wohlfahrtskultur haben (können). Die grundlegende Vorstellung besteht darin, dass sich die Unterschiede, die bei der Akzeptanz zwischen sozialen Sicherungssystemen deutlich werden, maßgeblich auf die divergenten institutionellen Strukturen der Sicherungssysteme zurückzuführen lassen. Die weitergehende Hoffnung lautet dann, dass man mit einer »geschick43
44
Zur Anwendung von Modellen der Pfadabhängigkeit auf den Wohlfahrtsstaatskontext vgl. u.a. Ebbinghaus (2005); für einen Überblick über unterschiedliche Pfadabhängigkeitskonzepte Beyer (2005). Als Rückkoppelungseffekte, die zu einer Verfestigung der bestehenden wohlfahrtsstaatlichen Strukturen geführt haben, werden u.a. auch die Wohlfahrtsstaatsbürokratie und die durch den Wohlfahrtsstaat gebildeten »Versorgungsklassen« angesehen, die jeweils, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Gründen, ein starkes Interesse am Bestand des Wohlfahrtsstaates bzw. am Ausbau wohlfahrtsstaatlicher Leistungen haben.
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ten« Ausgestaltung der sozialen Sicherung – und nicht nur mit einer möglichst »generösen« Leistungsgestaltung – deren Chancen auf Akzeptanz (ihre »Akzeptabilität«) erhöhen kann (vgl. Ullrich 2001). Institutionalistische Annahmen über die Akzeptabilität sozialer Sicherungssysteme werden typischerweise auf zwei Ebenen gemacht: auf der wohlfahrtsstaatlicher Regime und auf der Ebene spezifischer Systemeigenschaften. (1) Auf der Regimeebene wird angenommen, dass die Wohlfahrtsstaatstypen in unterschiedlichem Maße in der Lage sind, Akzeptanz zu generieren. Dabei werden jedoch ganz konträre Positionen vertreten. So wird einerseits schlanken, also vor allem liberalen, Wohlfahrtsstaaten eine hohe Akzeptabilität attestiert, weil das Umverteilungsvolumen gering ist und Leistungen vergleichsweise zielgenau den Bedürftigen (und nur diesen) zugute kommen (vgl. hierzu kritisch: Greenstein 1991). Andererseits werden aber auch dem sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaatstyp privilegierte Akzeptanzchancen nachgesagt. Dies wird mit fast entgegengesetzten Argumenten begründet. So sei der Rückhalt sozialdemokratischer Wohlfahrtsstaaten in der Bevölkerung gerade aufgrund des hohen Leistungsniveaus und des Umstands, dass fast jeder in der einen oder anderen Form Leistungen erhält oder darauf hoffen kann, Leistungen zu erhalten, besonderes stark (Rothstein 1998: 134ff.; 156ff.). Schließlich wird auch dem konservativen Wohlfahrtsstaat eine hohe Akzeptabilität zugeschrieben. Die Gründe werden dabei im geringen Maß interpersoneller Umverteilungen und in der engen Bindung der Leistungsberechtigung an Vorleistungen (insbes. Beitragszahlungen) gesehen. (2) Diese Annahmen über die Akzeptabilität unterschiedlicher Wohlfahrtsregime basieren letztlich auf der Unterstellung, dass bestimmte, für die einzelnen Wohlfahrtsstaatstypen typische Systemmerkmale akzeptanzförderlich oder -abträglich sind. Zu den akzeptanzförderlichen Eigenschaften sozialer Sicherungssysteme werden u.a. die Zahl der potenziellen Leistungsempfänger, das (Sozial)Versicherungsprinzip bzw. die Bindung von Leistungsansprüchen an vorherige Beitragszahlungen, die Restriktivität des Leistungszugangs (z.B. Karenzzeiten) und das Ausmaß interpersoneller Umverteilungen gezählt (vgl. u.a. Esping-Andersen 1997; Karl et al. 1998; Mackscheidt 1985; Offe 1990; Ullrich 2001; Skocpol 1991). Im weiteren Sinne können aber auch die zugeschriebenen Eigenschaften von Leistungsempfänger sowie die »normative Kompatibilität« der Sicherungssysteme mit der Wohlfahrtskultur als Akzeptabilitätskriterien gelten. Für den deutschen Wohlfahrtsstaat wurde insbesondere wegen des hohen Anteils von Sozialversicherungen eine höhere Akzeptabilität angenommen. Claus Offe sieht hier ein »ausgeklügeltes Ensemble vertrauenssichernder Vorkehrungen« (1990: 182) am Werk, das vor allem vor zwei Dingen schütze: dass Unberechtigte Leistungen erhalten und dass Leistungsberechtigte keine Leistungen erhalten (1990: 181f.). Zu den Strukturmerkmalen, durch die dies erreicht werde, zählt er u.a. die Pflichtversicherung, die Staatsaufsicht, das Äquivalenzprinzip und die Unabhängigkeit vie-
2.2 Wohlfahrtsstaatstheorie und die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates
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ler Leistungen von der Bedürftigkeit (1990: 182ff.). Diese und weitere Merkmale setzen laut Offe »die moralischen Anforderungen in puncto Solidarität (...) so weit herab (...), dass rational begründete Vorbehalte gegen das Sicherungssystem selbst nicht leicht aufkommen können«. Das System der sozialen Sicherung sei daher »in geradezu idealer Weise kognitiv und moralisch anspruchslos« (1990: 185; Hervorhebungen d. O. sind weggelassen). Wenn die allgemeine Akzeptabilitätsvermutung im Grundsatz zutrifft und die institutionelle Struktur für die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme bedeutsam ist, so gilt dies nicht nur für die Höhe der Akzeptanz, sondern auch für den »Inhalt« der wohlfahrtsstaatlichen Präferenzen und Einstellungen. Das heißt, die Einstellungen und Präferenzen der wohlfahrtsstaatlichen Adressaten müssten weitgehend den Strukturmerkmalen folgen bzw. sich an ihnen orientieren. Im Fall des »konservativen« deutschen Wohlfahrtsstaates wäre etwa eine hohe Akzeptanz von Sozialversicherungen, ein Befürwortung paternalistischer Staatseingriffe und eine hohe Solidaritätsbereitschaft im Bereich der Gesundheitsversorgung zu erwarten; andererseits aber auch eine geringe Akzeptanz von Umverteilungen und steuerfinanzierter, von Vorleistungen unabhängiger Leistungen. Wie wohlfahrtskulturelle legen also auch institutionalistische Ansätze eine hohe Kongruenz der Präferenzen und Einstellungen mit den institutionalisierten Wohlfahrtsstaatsstrukturen nahe. Die Erwartungen hinsichtlich der Akzeptanz und der Akzeptanzmotive unterscheiden sich daher nicht grundsätzlich von denen der in Abschnitt 2.2.3 dargelegten wohlfahrtskulturellen Perspektive. Wodurch sich die beiden Ansätze unterscheiden, ist primär die vermutete Kausalrichtung: Während wohlfahrtskulturelle Ansätze davon ausgehen, dass bestimmte Präferenzen und Einstellungen auf Seiten der (späteren) Adressaten eine Voraussetzung für die Durchsetzung und den Bestand wohlfahrtsstaatlicher Institutionen sind, sind es in der institutionalistischen Perspektive die wohlfahrtsstaatlichen Institutionen, die sich erst eine konforme Wohlfahrtskultur schaffen (oder diese zumindest zu entsprechenden Anpassungsleistungen zwingen). Inwiefern solche und weitere Annahmen über die Akzeptabilität und Akzeptanz von Wohlfahrtsstaaten zutreffen, ist bisher jedoch kaum untersucht worden. Dies dürfte wesentlich darauf zurückzuführen sein, dass für eine systematische Überprüfung insgesamt zu wenige Vergleichsmöglichkeiten bestehen. Unterschiede zwischen Wohlfahrtsstaaten (vgl. hierzu Kap. 3.1) und einfache Vergleiche von Systemtypen (Ullrich 2001) bestätigen aber zumindest den »Generalverdacht«, dass die institutionelle Form der Absicherung einen Einfluss auf die soziale Akzeptanz haben kann. Darüber hinaus finden sich Hinweise, dass die Beurteilung sozialer Sicherungssysteme sich auch als Folge sozialpolitischer Reformen verändert (vgl. Hills 2002; Smith/Wearing 1987). Eine fundierte Einschätzung institutionalistischer Annahmen über die Akzeptabilität sozialer Sicherungssysteme würde jedoch eine genaue empi-
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2 Wohlfahrtsstaatstheorie und die Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen
rische Überprüfung der Bedeutung einzelner Systemeigenschaften (z.B. Bedürftigkeitsprüfungen) für die Gesamtbeurteilung eines Sicherungssystems erfordern.45 Die kursorische Darstellung der wichtigsten wohlfahrtsstaatstheoretischen Paradigmen hatte den Zweck zu prüfen, welche grundlegenden Annahmen über die Wohlfahrtsstaatsakzeptanz sich aus den unterschiedlichen Ansätzen der Wohlfahrtsstaatstheorie ergeben. Dabei ging es zum einen um den Stellenwert, der »Akzeptanzfragen« beigemessen wird, und zum anderen um Vermutungen über Akzeptanzursachen und -unterschiede. Diese grundlegenden Annahmen stellen das Bindeglied zwischen der allgemeinen Wohlfahrtsstaatstheorie und der in Kapitel 6 erfolgenden Entwicklung und Begründung spezifischer Hypothesen zur Erklärung der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz dar. Insgesamt wurde deutlich, dass sich vor allem aus konflikttheoretischen Ansätzen allgemeine (und zum Teil gegensätzliche) Annahmen über die Wohlfahrtsstaatsakzeptanz und insbesondere über Akzeptanzunterschiede zwischen Bevölkerungsgruppen entwickeln lassen. Eine wichtige Ergänzung stellen wohlfahrtskulturelle und institutionalistische Konzepte und Überlegungen dar, die zu durchaus ähnlichen Annahmen über die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates und über mögliche Erklärungsfaktoren führen. Dagegen erwiesen sich funktionalistische Erklärungen des Wohlfahrtsstaates, obwohl sich aus ihnen durchaus Annahmen über die Akzeptanz von Wohlfahrtsstaaten ableiten lassen, für die hier interessierenden Fragen der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz (in einem Wohlfahrtsstaat und zu einem Zeitpunkt) als nicht weiterführend. Die zentralen Befunde dieses kurzen Durchgangs durch die Hauptströmungen der Wohlfahrtsstaatstheorie und der Diskussion möglicher Implikationen für Fragen der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz sind in Abbildung 2.3 festgehalten. Die aus den einzelnen Erklärungsansätzen gewonnenen Annahmen über die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates werden in Kapitel 6 eingehender untersucht.
45
Zumindest für die Eigenschaften von Leistungsempfängern konnte eine entsprechende Wirkung zumindest in einem Fall (Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates in den USA) nachgewiesen werden (Cook/Barrett 1992). Die »deservingness« der Leistungsempfänger nimmt unter den Akzeptabilitätskriterien allerdings einen Sonderstatus ein (vgl. hierzu ausführlich: Kapitel 6.5).
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2.2 Wohlfahrtsstaatstheorie und die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates
Abbildung 2.3:
Wohlfahrtsstaatstheorie und Wohlfahrtsstaatsakzeptanz
funktionalistischer Ansatz
konflikttheoretischer wohlfahrtskultureller institutionalistischer Ansatz Ansatz Ansatz
allgemeine Merkmale; Varianten
- wohlfahrtsstaatliche - wohlfahrtsstaatliche - Analyse der kulturelEntwicklung folgt Entwicklung ist Folge len Voraussetzungen funktionalen Erforsozialer Interessenvon Wohlfahrtsstaatdernissen konflikte lichkeit - sozioökonomische, - u.a. Sozialdemokratie-, - historische LernproMittelklassen- und zesse; Deutungsmusmodernisierungstheoretische und neomarVersorgungsklassenter- und Diskursanaxistische Ansätze these lysen
Bedeutung von Akzeptanzfragen
- gering: Akzeptanz folgt funktionalen Notwendigkeiten (oder muss ignoriert werden)
- Akzeptanz passt sich dem Entwicklungsniveau an - evtl.: sinkende Funkallgemeine tionalität der AbsiAnnahmen cherung o sinkende über AkzepAkzeptanz tanz
- keine spezifischen Annahmen über die Akzeptanz des deutschen Wohlfahrtsstaates
- Akzeptanz wichtig, gilt als abhängig von der sozialen Position, insbes. der Versorgungsklassenlage
- Akzeptanz zentrales Thema; akzentuiert kulturelle Faktoren
- wohlfahrtsstaatliche Institutionen schaffen Bedingungen für weitere Entwicklung (Pfadabhängigkeiten)
- Akzeptanz wichtig, wird als Folge institutioneller Strukturen aufgefasst (»Akzeptabilität«)
- Akzeptanzunter- relativ hohe Kongruenz zwischen Wohlschiede zwischen fahrtskultur und Wohlfahrtsinstitutionen Klassen, Versor- Unterschiede zwis- institutionell bedingte gungsklassen und chen WohlfahrtsUnterschiede zwiGenerationen staatstypen bei schen Wohlfahrts- unterschiedliche Akzeptanzmotiven staaten (konkurrie»Konfliktanfällig- Möglichkeit eines rende Annahmen) keiten« je nach WohlAuseinanderdriftens fahrtsstaatstyp von Wohlfahrtskultur und Wohlfahrtsinstitutionen - geringe Wahrscheinlichkeit größerer Akzeptanzunterschiede zwischen Klassen und Versorgungsklassen - höhere Wahrscheinlichkeit eines Generationenkonflikts
- spezifische Akzeptanzmotive (z.B. »Paternalismus«) - evtl.: sinkende Akzeptanz infolge kulturellen Wandels
- hohe Akzeptabilität des deutschen Wohlfahrtsstaates aufgrund relativer »moralischer Anspruchslosigkeit«
3 Ergebnisse und Defizite der wohlfahrtsstaatlichen Akzeptanzforschung
3.1 Hintergründe und zentrale Ergebnisse der Akzeptanzforschung Lange Zeit bestand in der politischen Öffentlichkeit und in der sozialwissenschaftlichen Forschung kein kontinuierliches und systematisches Interesse an Fragen der Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen. Dieses Desinteresse kann auf mindestens drei Gründe zurückgeführt werden. Zum einen schienen die Vorteile einer sozialen Absicherung offenbar zu »selbstverständlich«. So wurde der weitere Ausbau des Sozialstaates nicht nur im Interesse der wohlfahrtsstaatlichen Adressaten vorangetrieben, sondern auch – so die im Nachkriegsdeutschland lange vorherrschende Lehrmeinung – zum Nutzen der gesamten Volkswirtschaft. Zweitens fehlte es in Zeiten wirtschaftlichen Aufschwungs an exogenen Anreizen, die wohlfahrtsstaatliche Expansionsdynamik zu begrenzen. Steigende Sozialversicherungsbeiträge konnten lange durch entsprechende Produktivitätssteigerungen und eine daran angepasste Lohnentwicklung kompensiert werden. Die Vernachlässigung der Frage, ob die Sozialbürger eine umfangreiche soziale Sicherung und die bestehende und sich weiter entwickelnde Form der Wohlfahrtsstaatlichkeit überhaupt wollen, ist schließlich auch darauf zurückzuführen, dass sich die aus der amerikanischen Politische Kultur-Forschung stammende (und im amerikanischen Demokratieverständnis verwurzelte) Auffassung, nach der die politische Unterstützung ein entscheidender Faktor für die Stabilität politischer Systeme und Regierungen sowie vor allem auch für deren Legitimierung ist, nur langsam durchgesetzt hat. Die USA, in denen politische Meinungsumfragen eine längere Tradition haben als in den europäischen Ländern, sind daher auch das einzige Land, für das Umfrageergebnisse für weiter zurückliegende Zeitpunkte vorliegen (vgl. Coughlin 1979; Schiltz 1970). In Deutschland blieben Studien aus dem Bereich Sozialpolitik, die sich zumindest mit Teilaspekten sozialer Akzeptanz befasst haben, dagegen selten und waren meist mit sehr spezifischen Fragen befasst (vgl. Braun 1972; von Friedeburg/Weltz 1958; Schmaltz 1969), sodass bis in die 1970er Jahre nur äußerst wenig über die Akzeptanz der sozialen Sicherung in Deutschland bekannt ist. Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates als eigenständiger Erkenntnisgegenstand hat erst seit Ende der 1970er Jahre vermehrt Aufmerksamkeit in der politisch inter-
3.1 Hintergründe und zentrale Ergebnisse der Akzeptanzforschung
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essierten Öffentlichkeit und im wissenschaftlichen Diskurs erlangt. Den wissenschaftshistorischen Hintergrund für diese Hinwendung zu Akzeptanzfragen im Bereich Sozialpolitik bilden der durch den »Ölschock« (1973) ausgelöste Abschied von einem geradezu »naiven« Wachstumsoptimismus und der damit verbundenen Einsicht, dass die expansive Dynamik der wohlfahrtsstaatlichen Sicherung nicht ungebremst bleiben kann. Bestimmend war dabei zunächst der »linke« Diskurs um eine mögliche Legitimitätskrise des Wohlfahrtsstaates bzw. des »Spätkapitalismus«. Für diesen war die Annahme grundlegend, dass sich kapitalistische Wohlfahrtsstaaten (denen »echte« Legitimität verwehrt sei) durch umfangreiche sozialpolitische Zugeständnisse zumindest eine »Massenloyalität« sicherten (Narr/Offe 1975) – und dass gerade die Erfüllung dieser Funktion der Loyalitätsherstellung angesichts wachsender Finanzierungsprobleme durch das System der sozialen Sicherung zunehmend weniger erfüllt werden könne. Durchaus ähnlich argumentierend, wenn auch mit umgekehrtem politischem Vorzeichen, diagnostizierte später die »Unregierbarkeitsthese« eine Dynamik wachsender Wohlfahrtsansprüche, die zu einer Überforderung – und in der Konsequenz zur Handlungsunfähigkeit – demokratisch gewählter Regierungen führe (vgl. u.a von Beyme 1984; Heidorn 1982). Gestützt sahen sich derartige Krisenszenarien insbesondere durch empirische Beobachtungen wie die als »welfare backlash« bekannt gewordenen Proteste gegen hohe Steuerbelastungen (vgl. Wilensky 1975: 28ff., 2002: 363ff.; vgl. a. Kap. 2.2.2). Die Auseinandersetzung um die legitimatorische und, im engen Verbund damit, um die stabilitätsbildende Funktion der sozialen Sicherung wurde zunächst jedoch von theoretischen Argumenten und eher alltagsweltlichen Beobachtungen (etwa über eine vermeintliche »Anspruchsmentalität« der Bürger) bestimmt. Nur allmählich setzte sich die Einsicht durch, dass die Frage der Akzeptanz oder Unterstützung sozialer Sicherungssysteme (wie auch des gesamten Politischen Systems) nicht theoretisch deduziert werden kann, sondern – bei allen damit verbundenen Schwierigkeiten – empirisch untersucht werden muss. Seit den 1980er Jahren liegen mittlerweile einige Untersuchungen zur Akzeptanz westlicher Wohlfahrtsstaaten vor. Der Anteil vergleichender Studien ist dabei erheblich, was nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass seit Mitte der 1980er Jahre mit dem International Social Survey Programme (ISSP)46 und dem Eurobarometer47 deutlich bessere Möglichkeiten für vergleichende Untersuchungen zur Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme bestehen. Dass dabei in den einzelnen Untersuchen oft andere und unterschiedliche Begriffe (insbes. den der »politischen Unterstützung«) verwendet werden, ist grund46 47
Zentral sind hier die Module »Role of Government« I-III und »Social Inequality« I-III. Akzeptanzindikatoren finden sich in vielen Eurobarometerumfragen, z.B. im Eurobarometer 40 »Poverty and Social Exclusion« (1993).
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3 Ergebnisse und Defizite der wohlfahrtsstaatlichen Akzeptanzforschung
sätzlich unproblematisch (vgl. 2.1.2). Unbefriedigend ist hingegen, dass auch mit der stärkeren Hinwendung zu Akzeptanzfragen eine theoretisch-konzeptionelle Präzisierung weitgehend ausblieb. »Akzeptanz« und die alternativ verwendeten Terminologien bleiben meist undefiniert und werden unbestimmt mit einer nicht näher spezifizierten Zustimmung oder positiven Bewertung gleichgesetzt. Die Akzeptanzforschung zum Wohlfahrtsstaat ist zudem »räumlich« ungleich verteilt: Sie hat vor allem in den USA und in Großbritannien eine längere Tradition, während in jüngerer Zeit viele Arbeiten aus den skandinavischen Ländern und vor allem aus den Niederlanden kommen. Obwohl Roller immerhin schon 1992 ihre umfangreichere Arbeit vorgelegt hat, kann Deutschland weder zu den Vorreitern einer wohlfahrtsstaatlichen Akzeptanzforschung gezählt werden noch zu den Ländern, die sich in den letzten Jahren durch eine besonders intensive Bemühung um Akzeptanzfragen ausgezeichnet haben. Neben der Akzeptanzforschung i.e.S. gibt es weitere Forschungsarbeiten, die zwar überwiegend an spezifischeren Fragestellungen interessiert sind, deren Ergebnisse aber dennoch Rückschlüsse über die Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Systeme und Regelungen zulassen. In erster Linie ist hier an meist von Ökonomen initiierte Studien zu denken, die die Reformbereitschaft und -fähigkeit der Bürger bzw. die Akzeptanz (stärker) marktförmiger Absicherungsformen und entsprechender Steuerungsmittel (z.B. Selbstbeteiligungen) untersuchen (vgl. u.a. Boeri et al. 2000; Bulmahn 2003; Föste/Janßen 1997; Wasem 2000; Zok 2003) oder auf die Beurteilung konkreter Reformalternativen zielen (u.a. Börsch-Supan et al. 2004; Hallauer et al. 1996; Pappi/Shikano 2005; Ullrich/Christoph 2006). Zweitens sind hier empirische Studien zur Akzeptanz sozialer Ungleichheit (z.B. Haller 1986, 1987; Kluegel/Smith 1986; Mau 1997; Svallfors 1993) sowie Arbeiten aus dem Bereich der Gerechtigkeitssoziologie zu nennen, die im weiteren Sinne sozialpolitische Fragen zum Gegenstand haben (u.a. Kluegel/Miyano 1995; Marshall et al. 1999; Lewin-Epstein et al. 2003). Beide Forschungsrichtungen haben einen engeren Interessenfokus als die Akzeptanzforschung – im ersten Fall hinsichtlich der abhängigen Variable (soziale Ungleichheit), im zweiten hinsichtlich des Spektrums möglicher oder als zentral angesehener Erklärungsfaktoren. Das Ziel der Verringerung sozialer Ungleichheit gehört jedoch ebenso zum Bereich der wohlfahrtsstaatlichen Aufgaben wie Gerechtigkeitsorientierungen Akzeptanzurteile gegenüber dem Wohlfahrtsstaat motivieren können. Auch aus der »Steuerwiderstandsforschung« lassen sich Einsichten über die Akzeptanz der sozialen Sicherung gewinnen (vgl. u.a. Brook et al. 1996; Confalonieri/Newton 1995; Edlund 1999; Hadenius 1986; Sanders 1988). Sie ist jedoch nicht mit der Akzeptanz sozialer Sicherung gleichzusetzen, da der Erkenntnisgegenstand, die Frage der gewünschten staatlichen Aktivität, einerseits weiter gefasst ist (nicht auf den
3.1 Hintergründe und zentrale Ergebnisse der Akzeptanzforschung
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Bereich der Sozialpolitik begrenzt), zugleich aber auf das Verhältnis Staat – Bürger fokussiert. Als vierter Forschungszweig, der der Akzeptanzforschung zum Wohlfahrtsstaat wichtige Einsichten vermitteln kann, können Arbeiten angesehen werden, die sich mit »Armutsbildern« befassen. Hier liegen mittlerweile einige Arbeiten zur Wahrnehmung von Armen bzw. von Sozialhilfeempfängern vor, die vor allem an die bekannte Unterscheidung von »deserving« und »undeserving poor« anschließen (vgl. u.a. Cook/Barrett 1992; van Oorshot/Halman 2000; Will 1993). Selten sind dagegen Untersuchungen des »Leistungsempfängerbildes« in anderen Sicherungsbereichen (zur Arbeitslosenversicherung vgl. Brenke/Peters 1985). Einen spezifischen Beitrag zur Erklärung der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz leisten schließlich auch qualitative Arbeiten, die sich mit Akzeptanzaspekten befassen (vgl. hierzu a. Ullrich 2002). Allgemein kann von einer qualitativen Akzeptanzforschung die Erfassung eines differenzierteren Akzeptanzbildes und insbesondere ein Ausloten der »Grenzen des Akzeptablen« (z.B. die Solidaritätsbereitschaft gegenüber »stigmatisierten« Adressatengruppen), die »Entdeckung« neuer Erklärungsfaktoren und vor allem auch die Beschreibung und Analyse komplexer Handlungsmotive und ihrer Verwendungskontexte erwartet werden (vgl. u.a. Hamann et al. 2001; Ullrich 2000b). Die folgende Darstellung allgemeiner Forschungsergebnisse konzentriert sich auf die wohlfahrtsstaatliche Akzeptanzforschung im engeren Sinne sowie auf einige zentrale und allgemeine Befunde. Eingehendere Darstellungen zu spezifischen Teilfragen erfolgen in den einzelnen empirischen Abschnitten von Kapitel 6. Bei aller Zurückerhaltung, die ein so allgemeiner Überblick erfordert, können vier zentrale Ergebnisse der internationalen Akzeptanzforschung festgehalten werden: (1) Das wohl übergreifende Ergebnis fast aller Untersuchungen zur Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen und Programmen ist das einer insgesamt hohen Zustimmung zu Systemen der sozialen Sicherung und sozialpolitischen Zielen. Im Grundsatz gilt dies für alle entwickelten Wohlfahrtsstaaten. So erwies sich die gemessene Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme nicht nur in Arbeiten zur Akzeptanz des deutschen Wohlfahrtsstaats meist als groß (vgl. u.a. Andreß et al. 2001; BMAS 1980, 1983; Dehlinger/Brennecke 1992; Gangl 1997; Krüger 1999; Roller 1992, 2000). Eine eher hohe Akzeptanz wurde z.B. auch für Großbritannien (Taylor-Gooby 1982, 1985, 1991, 1995; Whiteley 1981), Österreich (Bacher/Stelzer-Orthofer 1997; Norden 1986), die Niederlande (van Oorschot 2000a, 2000b; van Oorschot/Halman 2000), Schweden (u.a. Svallfors 1995, 1999, 2004), Finnland (u.a. Ervasti 2001; Forma 1997; Pöntinen 1988; Sihvo/Uusitalo1995), Norwegen (Pettersen 2001), Dänemark (Andersen 1993, 1999), Italien (Ferrera 1997), Israel (Cnaan 1989), Tschechien (Sirovatka 2002), Australien (Papadakis 1993; Smith/Wearing 1987) und – wenn zum Teil auch mit widersprüchlichen Ergebnissen – für die USA (vgl. u.a. Cook/Barrett 1992; Coughlin 1979; Feldman/Steenbergen 2001; Shapiro/Young 1989) festgestellt.
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3 Ergebnisse und Defizite der wohlfahrtsstaatlichen Akzeptanzforschung
Auch vergleichende Untersuchungen haben immer wieder die allgemein hohe Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen bestätigt (vgl. Bonoli 2000; Evans 1996; Mau 1998; Newton 1995; Papadakis/Bean 1993; Pettersen 1995; Roller 1995; Svallfors 2003). Darüber hinaus werden mittlerweile über einen recht langen Zeitraum hohe Akzeptanzwerte festgestellt, sodass von einer recht hohen zeitlichen Stabilität positiver Akzeptanz auszugehen ist (Andreß et al. 2001: 146ff.; Evans 1996). (2) Neben einer insgesamt eher hohen Akzeptanz werden aber auch sehr große Unterschiede zwischen den einzelnen Wohlfahrtsstaaten festgestellt. So zeigt sich immer wieder, dass die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates in den USA deutlich geringer ist als in fast allen europäischen Ländern (vgl. u.a. Papadakis 1993; Ringen 1987; Shapiro/Young 1989; Svallfors 2003). Darüber hinaus sind aber nur schwer einheitliche Muster auszumachen. Dies gilt insbesondere für Versuche, Akzeptanzunterschiede zwischen den von Esping-Andersen (1990) unterschiedenen Typen von Wohlfahrtsregimen nachzuweisen. Hier sind die Ergebnisse (bzw. deren Interpretation) zwar nicht übereinstimmend (vgl. u.a. Arts/Gelissen 2001; Bonoli 2000; Evans 1996; Linos/West 2003; Mau 1997; Mehrtens 2004; Papadakis/Bean 1993; Svallfors 1993, 1997, 2003). Insgesamt scheinen aber die »Binnenvariationen« innerhalb eines Wohlfahrtsstaatstyps zu groß und die Unterschiede zwischen den Regimetypen zu gering, um von stabilen Mustern wohlfahrtsstaatlicher Akzeptanz zu sprechen, die den von Esping-Andersen vorgeschlagenen Typen (oder alternativer Typenvorschläge) entsprechen. (3) Weitgehende Übereinstimmung scheint dagegen darüber zu bestehen, dass es Akzeptanzunterschiede zwischen Leistungssystemen gibt und dass die Alterssicherungssysteme, dicht gefolgt von den Gesundheitssystemen, in den meisten Wohlfahrtsstaaten die stärkste Zustimmung erfahren. Die Akzeptanzwerte für Arbeitslosenversicherungen und vor allem für Mindestsicherungs- und Fürsorgeleistungen zur Armutsbekämpfung (wie die Sozialhilfe) sind dagegen deutlich niedriger. Von einer hohen Akzeptanz des gesamten Wohlfahrtsstaates kann daher nicht gesprochen werden. Ein breiter gesellschaftlicher Konsens ist in den meisten Wohlfahrtsstaaten nur für einzelne, besonders »beliebte« Sicherungssysteme festzustellen. Zudem bleiben bei diesen Unterschieden zwischen Sicherungssystemen wichtige Fragen offen: Zum einen sind hier einige »Anomalien« zu beobachten, zu denen u.a. die ungewöhnlich geringen Akzeptanzwerte der Rentenversicherung in Deutschland im ISSP-Modul »Role of Government III« (vgl. Ullrich 2005b: 218) und die relativ großen Schwankungen im Zeitverlauf (etwa in Großbritannien) zu zählen sind. Vor allem fehlt es an überzeugenden Erklärungsangeboten für die beobachteten Akzeptanzunterschiede. Einer schlüssigen Erklärung am nächsten kommen dabei wohl Versuche, diese entweder auf spezifische Systemmerkmale (z.B. Universalität, Beitragsprinzip) oder auf die Wahrnehmung und die »Popularität« der jeweiligen Leistungsempfänger zurückzuführen (vgl. u.a. Cook/Barrett 1992; Gevers et al. 2000; Gelissen 2001; Ullrich 2001). Akzeptanzunterschiede zwischen den einzelnen
3.1 Hintergründe und zentrale Ergebnisse der Akzeptanzforschung
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Sicherungsbereichen könnten aber auch auf unterschiedliche Sicherungsbedarfe bzw. Risikowahrnehmungen zurückzuführen sein oder schlicht auf ein stärkeres Eigeninteresse einer »größeren Zahl« potenzieller Leistungsempfänger. (4) Eher geringe Übereinstimmung zwischen einzelnen Untersuchungen herrscht hinsichtlich der Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme in den einzelnen Bevölkerungsteilen. Eindeutig, wenn auch wenig überraschend, scheint hier nur die höhere Akzeptanz bei den jeweils begünstigten Versorgungsklassen. Widersprüchlich sind dagegen die Ergebnisse hinsichtlich der Unterschiede zwischen verschieden sozialen Lagen (wie Schicht und Klasse, Einkommen, Alter und Geschlecht) sowie zwischen Anhängern unterschiedlicher Parteien. Der alles in allem aber scheinbar so eindeutige (und »positive«) Befund einer hohen Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates wird schließlich dadurch relativiert, dass Leistungskürzungen und alternative, insbes. private Absicherungsformen nicht in gleichem Maße abgelehnt werden, wie den wohlfahrtsstaatlichen Sicherungsformen zugestimmt wird. Denn von einer alternativlosen Befürwortung der bestehenden Regelungen kann – soweit man dies aus den eher spärlichen empirischen Ergebnissen ablesen kann – nicht die Rede sein: Offenbar können sich viele Befragte ganz unterschiedliche und gleichermaßen »akzeptable« Absicherungsformen vorstellen, auch wenn ein Teil der Autoren eine nach wie vor geringe Reformbereitschaft der Bürger beklagt. Eine Bereitschaft, auch andere Formen der sozialen Sicherung zu akzeptieren, scheint dabei jedoch nicht nur gegenüber privaten – und wenn so man will: weniger solidarischen – Formen der Absicherung zu bestehen. Auch für Aufgaben, die zumindest in liberalen und konservativen Wohlfahrtsstaaten nicht zum wohlfahrtsstaatlichen Selbstverständnis gehören (wie Mindestsicherungen, die Reduzierung von Einkommensungleichheit oder die staatliche Arbeitsbeschaffung) wurden in Umfragen wiederholt eine mehr oder weniger deutliche Zustimmung in der Bevölkerung festgestellt (vgl. u.a. Roller 2000). Schwerer als diese hier nur angedeuteten Relativierungen des »positiven« Akzeptanzbildes wiegen jedoch methodische Einwände, die selbst beim allgemeinen Ergebnis einer hohen Akzeptanz Anlass zu massiven Zweifeln geben. Diese methodischen Einwände beziehen sich zum einen auf die Art, wie die Akzeptanz sozialer Sicherungsleistungen gemessen wird, und zum anderen auf die Faktoren, die zur Erklärung der gemessenen Akzeptanz herangezogen werden. 3.2 Akzeptanzmessung und Akzeptanzerklärung: Defizite und Aporien Probleme der Akzeptanzmessung Die Akzeptanz oder Unterstützung sozialer Sicherungssysteme wird vorwiegend mit zwei Akzeptanzindikatoren gemessen, die mit Roller (1992) als Extensität und In-
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3 Ergebnisse und Defizite der wohlfahrtsstaatlichen Akzeptanzforschung
tensität wohlfahrtsstaatlicher Politik bezeichnet werden können.48 Mit »Extensität« ist die gewünschte staatliche Zuständigkeit für sozialpolitische Ziele gemeint. Dabei gilt ein hohes Maß an gewünschter staatlicher Zuständigkeit als hohe Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates. Wird von den Befragten also der Staat als primär zuständig für die Absicherung im Alter, bei Krankheit usw. wahrgenommen, wird dies als hohe Akzeptanz der bestehenden sozialpolitischen Renten- und Gesundheitssysteme interpretiert. Als »Intensität« wird dagegen die Beurteilung des Leistungsniveaus bezeichnet, wobei eine Befürwortung von Leistungserhöhungen (genauer: höherer Ausgaben der Regierung) als positive Akzeptanz interpretiert wird. Während der Extensitätsindikator die gewünschte staatliche Zuständigkeit misst, geht es hier also um den gewünschten Grad dieser Zuständigkeit. Intensitätsindikatoren sind daher eher geeignet, die Akzeptanz oder Beliebtheit einzelner Sicherungssysteme – und entsprechende Unterschiede zwischen den Sicherungssystemen – zu erfassen. Betrachtet man jedoch etwas genauer, worauf diese Akzeptanzindikatoren zielen (und vor allem: worauf nicht), kommen schnell Zweifel auf, ob hier auch tatsächlich die Akzeptanz bestehender Wohlfahrtsinstitutionen gemessen wird:
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So wird die staatliche Zuständigkeit (oder Verantwortung) meist »absolut« erhoben, nur selten dagegen relativ, nämlich im Vergleich mit Alternativen, insbes. betrieblichen und privaten Absicherungsformen. Dadurch kann der falsche Eindruck entstehen, dass die entsprechenden Aufgaben nur vom Wohlfahrtsstaat übernommen werden können. Vor diese falsche Alternative gestellt (entweder der Wohlfahrtsstaat erfüllt diese Funktion oder sie bleibt unerfüllt), wird manch ein Befragter einer staatlichen Zuständigkeit eher zustimmen als dies der Fall wäre, wenn ihm weitere Alternativen (z.B. betriebliche Vorsorge oder karitative Leistungen) angeboten worden wären.49 Fraglich ist zudem, ob mit der gewünschten Extensität sozialpolitischer Absicherung auch die Akzeptanz des bestehenden Wohlfahrtsstaates erfasst wird. Denn die gewünschte Zuständigkeit gibt ja zunächst nur Auskunft über den »idealen« Wohlfahrtsstaat; über die Akzeptanz des bestehenden Wohlfahrtsstaates kann man nur indirekt – nämlich über einen Soll-Ist-Vergleich – Vermutungen anstellen. Ähnlich verhält es sich bei der Intensität. Auch bei der gewünschten Veränderung der Ausgabenhöhe (die Regierung sollte mehr oder weniger für eine Aufgabe ausgeben) darf bezweifelt werden, ob tatsächlich Akzeptanzurteile über Seltener werden auch Indikatoren des Institutionenvertrauens (vgl. u.a. Dallinger 2003; Wendt 2003) und die Zufriedenheit mit der eigenen Absicherung (Bulmahn/Mau 1996) zur Beurteilung der Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme herangezogen. Eine Ausnahme ist hier die im Wohlfahrtssurvey (1984, 1988) gewählte Form der Frageformulierung (vgl. Roller 1992: 113).
3.2 Akzeptanzmessung und Akzeptanzerklärung: Defizite und Aporien
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bestehende Sicherungssysteme erfasst werden. Beide Akzeptanzindikatoren messen Idealvorstellungen oder ein »gewünschtes Maß an Wohlfahrtsstaatlichkeit«, nicht aber die Akzeptanz des wohlfahrtsstaatlichen Status quo.50 Man muss daher davon ausgehen, dass durch diese Art der Akzeptanzmessung ein zu positives Bild der Unterstützung bestehender Wohlfahrtsstaaten gezeichnet wird.51 Insbesondere in älteren Umfragen wurden beide Akzeptanzindikatoren zudem häufig ohne eine Verknüpfung mit den entsprechenden Kosten verwendet. Zu diesen Kosten gehören in erster Linie die direkten Belastungen der Adressaten in Form von Steuern und Beiträgen. Für die meisten Befragten dürfte es aber wohl außer Frage stehen, sich einen möglichst umfangreichen Sozialstaat mit hohem Leistungsniveau zu wünschen, solange damit keine Kostenerhöhungen verbunden sind. Wenn Leistungserhöhungen also »kostenlos« erscheinen, liegt der Verdacht nahe, dass vor allem Fragen nach dem gewünschten Ausgabenniveau zu einem viel zu positiven Bild der Akzeptanz sozialer Sicherungsleistungen führen.52 Kritisch kann gegen die Akzeptanzforschung zum Wohlfahrtsstaat schließlich auch eingewendet werden, dass die Bewertung der Extensität und Intensität wohlfahrtsstaatlicher Leistungen durch das »framing« der Fragen beeinflusst wird (Kangas 1997: 486ff.; Smith 1987). Zudem finden sich Belege für die »These der abnehmenden Zustimmung bei steigender Konkretisierung der Ziele« (Dehlinger/Brennecke 1992: 234). Demzufolge ist die Akzeptanz immer dann hoch, wenn Zielsetzungen sehr allgemein formuliert werden, aber zumindest deutlich geringer (oder gar »negativ«), wenn nach spezifischen Aufgaben oder Leistungsempfängergruppen gefragt wird (Kangas 1997: 483ff.).53
Zur Unterscheidung dieser beiden grundlegenden Akzeptanzdimensionen vgl. Abschnitt 4.2. So ist etwa nicht einzusehen, warum die Befürwortung von Leistungserhöhungen eine positive Akzeptanz einer Leistungsart anzeigen soll. Vielmehr kann hierin ein Ausdruck von Unzufriedenheit mit dem bestehenden Leistungsniveau gesehen werden. Dies verdeutlichen auch die durchgehend hohen Extensitäts- und Intensitätswerte in den osteuropäischen Wohlfahrtsstaaten, die im Durchschnitt deutlich über denen westlicher Wohlfahrtsstaaten liegen. Aufschlussreich ist, dass, wenn die Kosten in Form von Beitragserhöhungen in der Frageformulierung berücksichtigt werden, die Akzeptanzwerte deutlich niedriger sind. So sprachen sich in der Untersuchung von Cook und Barrett (1992: 63ff.) 73 Prozent der Befragten gegen Kürzungen von Sozialversicherungsleistungen aus, aber nur 58 Prozent erklärten sich zu höheren Steuern bereit, wenn dadurch Kürzungen vermieden werden. Die hier nahe liegende Annahme einer besseren Qualität der Antworten auf spezifische Fragen und einer entsprechend »positiven« Verzerrung des Akzeptanzbildes bei allgemeinen Frageformulierungen ist jedoch voreilig. So kann eine höhere Zustimmung zu allgemeinen Zielen auch allein darin begründet sein, dass die Zahl der potenziellen Leistungsempfänger bei einer weiten Zieldefinition größer ist und daher mehr Befragte ein Eigeninteresse an den entsprechenden Leistungen haben.
64
3 Ergebnisse und Defizite der wohlfahrtsstaatlichen Akzeptanzforschung
Insgesamt zeigt sich somit, dass die zumeist verwendeten Indikatoren der Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme sehr vorsichtig interpretiert werden müssen. Wenn überhaupt, so sind »Extensität« und »Intensität« Indikatoren der Wohlfahrtsstaatlichkeit. In jedem Fall wäre es voreilig, aus der relativ großen Zustimmung für umfangreiche sozialpolitische Aktivitäten des Staates eine hohe Akzeptanz der bestehenden Sicherungssysteme oder gar einen latenten öffentlichen Widerstand gegen sozialpolitische Reformen abzuleiten, die auf einen Rückbau des Sozialstaates hinauslaufen. Kritik der Akzeptanzerklärung Ganz in der Tradition der politischen Einstellungsforschung werden zur Erklärung wohlfahrtsstaatlicher Akzeptanz sowohl Interessenindikatoren als auch kulturelle Faktoren herangezogen (vgl. u.a. Andreß et al. 2001; Roller 1992). Individuelle Interessen werden dabei überwiegend aus der allgemeinen sozioökonomischen Lage und soziodemografischen Merkmalen (u.a. Alter, Schichtzugehörigkeit, Einkommen und Bildung) abgeleitet. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass die individuelle soziale Position bereits grundlegende Interessen gegenüber den sozialen Sicherungssystemen bestimme (z.B. das Alter bei der Rentenversicherung). Zudem werden spezifische, erst durch das System der sozialen Sicherung definierte Interessenlagen herangezogen, vor allem das Eigeninteresse als Leistungsempfänger (Rentner, Arbeitsloser etc.). Vergleichsweise selten sind dagegen Versuche, Akzeptanzurteile auf »subjektive Interessendefinitionen« wie Reziprozitätserwartungen (Bowles/Gintis 2000) oder den individuellen Sicherungsbedarf zurückzuführen. Andere Erklärungsansätze stellen bei der Erklärung wohlfahrtsstaatlicher Akzeptanz demgegenüber zusätzlich auf grundlegende kulturelle Orientierungen ab. Dies können allgemeine, meist nationale, Ideologien wie (anglo-amerikanischer) Individualismus und (kontinentaleuropäischer) Kollektivismus sein (Coughlin 1979) oder aber spezifische Wertdimensionen mit individuell unterschiedlichen Ausprägungen wie politische Orientierungen, Postmaterialismus/Materialismus (Roller 1992) oder Gerechtigkeitsorientierungen (u.a. Kluegel/Miyano 1995; Marshall et al. 1999). Sowohl die Interessenindikatoren als auch die kulturellen Orientierungen, die zur Erklärung sozialpolitischer Akzeptanzurteile herangezogen werden, weisen jedoch meist keinen spezifischen Bezug zu wohlfahrtsstaatlichen Aspekten auf. Die von ihnen erwarteten Kausalwirkungen sind entsprechend unspezifisch, wenn sie nicht sogar völlig unklar bleiben. Dies wirkt sich abträglich auf den Erklärungswert der einzelnen Erklärungsfaktoren aus. Entsprechend unbefriedigend sind die Ergebnisse der Akzeptanzforschung zum Wohlfahrtsstaat, wenn man die Befunde der Akzeptanzforschung in ihrer Gesamtheit betrachtet. Denn auch wenn in vielen Untersuchungen kausale Zusammenhänge gefunden werden, sind die Ergebnisse insgesamt sehr widersprüchlich.
3.2 Akzeptanzmessung und Akzeptanzerklärung: Defizite und Aporien
65
So konnte z.B. in einigen Untersuchungen ein Einfluss von Einkommens-, Bildungs-, Berufs- und Klassenunterschieden aufgezeigt werden (vgl. u.a. Dehlinger/Brennecke 1992; Gangl 1997; Svallfors 1995, 2004), in anderen gelang ein solcher Nachweis jedoch nicht (vgl. u.a. Cook/Barrett 1992: 155ff.; Roller 1992; Taylor-Gooby 1991).54 Dieser scheinbare Widerspruch könnte zum Teil auf die unterschiedlichen nationalen Voraussetzungen zurückzuführen sein. So haben Esping-Andersen (1990) und viele andere die These vertreten, dass nur in liberalen Wohlfahrtsstaaten Klassengegensätze in stärkerem Maße bestehen (bleiben), während ihre Bedeutung für die Unterstützung konservativer und sozialdemokratischer Wohlfahrtsstaaten zumindest abnimmt. Eindeutig scheint dagegen, dass sich das unmittelbare Eigeninteresse als Leistungsempfänger positiv auf die Beurteilung des entsprechenden Leistungssystems auswirkt (vgl. u.a. Blekesaune/Quadango 2003; Cook/Barrett 1992, Dehlinger/Brennecke 1992; Gangl 1997; Gelissen 2000; Roller 1992; Svallfors 2003). Dies kann jedoch kaum überraschen, insbesondere wenn Akzeptanz als Befürwortung höherer Ausgaben gemessen wird. Überraschend(er) ist vielmehr, dass die Akzeptanz der meisten Sicherungssysteme auch bei Befragten hoch ist, die keine Leistungen erhalten und (z.B. aufgrund ihrer ökonomischen Situation oder ihres Berufes) auch nicht damit rechnen können, innerhalb eines überschaubaren Zeithorizonts Leistungen zu erhalten. Auch für den Einfluss von Ideologien, politischen Orientierungen und Wertüberzeugungen ergeben die Forschungsarbeiten kein einheitliches Bild. So konnten in mehreren Untersuchungen Zusammenhänge zwischen spezifischen Wertorientierungen und Einstellungen zum Wohlfahrtsstaat nachgewiesen werden (vgl. u.a. Blekesaune/Quadango 2003; Gangl 1997; Gelissen 2000; van Oorshot 2000). Häufig werden aber auch keine oder nur schwache Zusammenhänge gefunden (vgl. u.a Coughlin 1979, Feldman/Zaller 1992; Roller 1992; Taylor-Gooby 1983). Ein möglicher Grund für diese widersprüchlichen Ergebnisse ist, dass unterschiedliche Wertedimensionen verwendet werden. So lässt sich zumindest vermuten, dass für Wertorientierungen mit einem relativ engen Wohlfahrtsstaatsbezug (wie Solidaritätsvorstellungen und egalitaristische Gerechtigkeitsüberzeugungen) eher ein Einfluss auf Akzeptanzurteile gegenüber der sozialen Sicherungssystemen nachgewiesen werden kann. Dagegen lässt sich ein solcher Einfluss für allgemeine Wert-
54
Eine Ausnahme ist hierbei die Altersvariable, für die zumindest in einigen Untersuchungen ein relativ konsistenter Einfluss auf die Beurteilung »altersspezifischer« Programme (z.B. Rentenversicherung, Bildungsausgaben) gefunden werden konnte (vgl. Cook/Barrett 1992: 154; Dehlinger/Brennecke 1992; Taylor-Gooby 1983), wobei das Alter hier jedoch deutlich mit dem Interesse als Leistungsempfänger kovariiert.
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3 Ergebnisse und Defizite der wohlfahrtsstaatlichen Akzeptanzforschung
haltungen (z.B. Postmaterialismus) und für politische Orientierungen, wie insbesondere für die Parteiaffinität, offenbar nicht bestätigen.55 Ingesamt ist zu konstatieren, dass der Kenntnisstand über die Bedeutung von Interessen- und Wertorientierungen für die Akzeptanzurteile gegenüber sozialen Sicherungssystemen unbefriedigend ist. Übereinstimmung hinsichtlich der Einflussfaktoren besteht zwischen den einzelnen empirischen Untersuchungen nur bei Variablen, deren Erklärungswert – wie beim Eigeninteresse als Leistungsempfänger – nahezu selbstevident ist. Eine Änderung dieser Situation scheint nur dadurch möglich, dass diese Erwartungen über spezifische Kausalwirkungen jeweils explizit formuliert werden und dass nur solche Variablen zur Erklärung von Akzeptanzurteilen herangezogen werden, für die ein entsprechender Einfluss theoretisch begründet werden kann. Darüber hinaus erfordert eine adäquate Erklärung der Akzeptanzurteile die Entwicklung kontextspezifischer Erklärungsfaktoren wie die subjektive Risikoeinschätzung oder spezifische normative Orientierungen. Die hier nur kursorisch dargelegten Probleme und Aporien der Akzeptanzforschung zum Wohlfahrtsstaat56 verdeutlichen, dass die Untersuchungen in ihrer Gesamtheit kaum eindeutige und zuverlässige Aussagen über das Ausmaß und über die Ursachen der Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme zulassen. Zu kritisieren ist aber vor allem, dass aufgrund einseitiger Operationalisierungen (der Wohlfahrtsstaatlichkeit) ein wahrscheinlich unrealistisch »positives« Ergebnis erzeugt wird. Der wichtigste Grund für die unbefriedigenden Ergebnisse der Forschungen zur Akzeptanz sozialer Sicherung ist vor allem das Fehlen geeigneter Indikatoren. Gezielte und umfassende Primärerhebungen wie von Cook und Barrett (1992) oder wie die niederländische TISSER-Studie (vgl. u.a. van Oorschot 2000a, 2000b; van Oorschot/Halman 2000) sind nach wie vor die Ausnahme. Arbeiten auf der Basis von Primärdaten liegen daher auch nur für wenige Wohlfahrtsstaaten vor und fehlen praktisch völlig für den Wohlfahrtsstaatsvergleich. Gerade hier ist man ausschließlich Einstellungsmessungen im Rahmen des Eurobarometers, des International Social Survey Programme und anderer Umfrageprogramme (z.B. der European Values Study) angewiesen. Die dort verwendeten Fragen sind jedoch meist zu unspezifisch und vor allem zu spärlich, um hinreichenden Aufschluss über die Art und die Ursachen der sozialen Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen geben zu können. Die erste Voraussetzung für eine tragfähige Akzeptanzforschung im Bereich der sozialen Sicherung ist daher die Erhebung von Primärdaten. Denn nur dies er55
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Ähnlich wie bei der sozialen Position (bzw. Klassenlage) ist jedoch auch hier denkbar, dass der Einfluss von politischen Orientierungen in den einzelnen Wohlfahrtsstaaten sehr unterschiedlich ist. Entscheidend dafür, ob die Parteiaffinität die Akzeptanzurteile beeinflusst, dürfte dabei sein, wie sehr pro- und anti-wohlfahrtsstaatliche Haltungen durch parteipolitische Gegensätze geprägt sind. Für eine ausführlichere Auseinandersetzung vgl. insbes. Ullrich (2000a).
3.2 Akzeptanzmessung und Akzeptanzerklärung: Defizite und Aporien
67
laubt eine differenzierte Erfassung von Akzeptanzurteilen durch die Verwendung von Akzeptanzindikatoren, die die unterschiedliche Aspekte oder Dimensionen von Akzeptanz erfassen. Auf eine solche gezielte Primärerhebung zur »Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates« stützen sich die empirischen Analysen in den Kapiteln 5 und 6. Eine kurze Beschreibung der Studie und eine ausführliche Erläuterung der verwendeten Akzeptanzindikatoren und Erklärungsfaktoren erfolgt im nächsten Kapitel.
4 Zur Operationalisierung und Erklärung von Akzeptanz
Dieses Kapitel befasst sich mit den allgemeinen technischen und konzeptionellen Voraussetzungen der empirischen Analysen in den Kapiteln 5 und 6. Im ersten Abschnitt werden zunächst einige Rahmendaten der Umfrage »Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates« vorgestellt. Im folgenden Abschnitt werden dann die Indikatoren erläutert, mit denen die Wohlfahrtsstaatsakzeptanz erfasst wird (4.2). Zugleich wird hier das »Akzeptanzobjekt Wohlfahrtsstaat« näher bestimmt. In Abschnitt 4.3 werden schließlich die wichtigsten Faktoren dargelegt, die zur Erklärung der sozialen Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen herangezogen werden. 4.1 Angaben zur Umfrage »Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates« Die Datengrundlage für die empirischen Analysen in den Kapiteln 5 und 6 bildet eine Umfrage zur Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen in der Bundesrepublik Deutschland, die im Rahmen des Forschungsprojektes »Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates« durchgeführt wurde.57 Diese Umfrage war direkt auf die Erfassung von Akzeptanzurteilen zu Systemen der sozialen Sicherung ausgerichtet. Zum einen sollte dadurch ein repräsentativeres Bild über die Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen in der Bundesrepublik Deutschland ermöglicht werden. Darüber hinaus zielte diese Umfrage auf die Erfassung eines breiten Spektrums möglicher Einflussfaktoren für die Erklärung der Akzeptanzurteile. Die Erhebung fand im Sommer 2004 statt. Ingesamt wurden 1534 standardisierte face-to-face-Interviews im paper&pencil-Verfahren durchgeführt (davon 1218 in West- und 316 in Ostdeutschland).58 Das Erhebungsgebiet war die Bundesrepublik Deutschland, die Grundgesamtheit bildete die deutschsprachige erwachsene Wohnbevölkerung in privaten Haushalten. Der Befragung lag ein umfangreicher
57
58
Hierbei handelt es sich um ein von der Fritz Thyssen-Stiftung gefördertes Eigenprojekt, das von Herbst 2002 bis Ende 2005 am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung (MZES) durchgeführt wurde. Die Erhebung wurde durch ein externes Forschungsinstitut im Random-Route-Verfahren (vgl. hierzu Diekmann 1999: 332ff.) durchgeführt.
4.1 Angaben zur Umfrage »Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates«
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Fragebogen zugrunde, der thematisch ausschließlich auf die verschiedenen Aspekte der sozialen Sicherung und entsprechende Akzeptanzurteile fokussierte. Bei der Entwicklung des Fragebogens wurden in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen (ZUMA) in Mannheim kognitive Pretests59 eingesetzt. Durch gezielte Nachfragen und das Protokollieren von »Spontanreaktionen« konnten die Verständlichkeit und der Schwierigkeitsgrad der Fragen überprüft und etwaige Mehrdimensionalitäten aufgedeckt und eliminiert werden.60 Aufgrund dieses Forschungsdesigns ist das Projekt »Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates« die erste Untersuchung für die Bundesrepublik Deutschland, die sich in größerem Umfang auf gezielt erhobene Primärdaten zur Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Sicherungssysteme stützen kann. Damit kann für den deutschen Wohlfahrtsstaat erstmalig von einer sowohl »dichten«als auch »breiten« Erfassung der Akzeptanz sozialer Sicherungsinstitutionen ausgegangen werden: Sie ist »dicht«, weil jeweils ganze Sätze von Indikatoren, die auf jeweils andere Akzeptanzaspekte zielen, verwendet wurden; und sie ist »breit«, weil sie einen weiten Bereich sozialer Sicherungseinrichtungen abdeckt. Insgesamt wurden zu fünf zentralen sozialpolitischen Bereichen Akzeptanzurteile erhoben. Im Einzelnen sind dies die Bereiche Alterssicherung (vornehmlich Gesetzliche Rentenversicherung), Gesundheitsversorgung und Gesetzliche Krankenversicherung, Arbeitslosigkeit und Arbeitslosenversicherung, Armut und Sozialhilfe sowie der Bereich familienpolitischer Leistungen. Ergänzt wurden Fragen zu Aspekten der »erweiterten Wohlfahrtsstaatlichkeit« (vgl. 4.2). Grundsätzlich müssen zur Untersuchung der Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen drei konzeptionelle Fragen befriedigend gelöst werden: Dies sind die Bestimmung des Akzeptanzobjekts, die Frage der Akzeptanzmessung und die Festlegung der möglichen Erklärungsfaktoren. Die beiden ersten Aspekte, die sich nur analytisch trennen lassen, werden im folgenden Abschnitt, die möglichen Erklärungsfaktoren in 4.3 erörtert. 4.2 Indikatoren der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz Wie in Kapitel 2.1.2 ausgeführt wurde, kann man als Akzeptanz allgemein die Zustimmung (positive Akzeptanz) oder Ablehnung (negative Akzeptanz) von Entscheidungen und institutionellen Regelungen bei den davon als »Objekte« (nicht als Entscheidungsträger) Betroffenen definieren. Die Erfassung von Akzeptanz ist dabei nicht so einfach, wie man vielleicht auf den ersten Blick meinen könnte.
59 60
Zu den Verfahrensweisen in kognitiven Pretests vgl. Prüfer/Rexroth (1996). Für die Entwicklung des Erhebungsinstruments konnte zudem auf umfangreiche Erkenntnisse aus zwei qualitativen Forschungsprojekten zur Akzeptanz einzelner Sicherungsbereiche zurückgegriffen werden (vgl. u.a. Hamann et al. 2001; Karl et al. 2002; Ullrich 2000b, 2004, 2005a).
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4 Zur Operationalisierung und Erklärung von Akzeptanz
So stellen sich mehrere Definitions- und Messprobleme. Vor allem ist Akzeptanz im Allgemeinen nicht direkt messbar. Gilt dies noch grundsätzlich für alle Akzeptanzbereiche, so steht die Akzeptanzforschung zu wohlfahrtsstaatlichen (und anderen staatlichen) Bereichen vor dem zusätzlichen Problem, dass die jeweiligen Adressaten den Entscheidungen der staatliche Akteure meist ohne »realistische« exit-Möglichkeiten ausgesetzt sind und somit quasi zur »Hinnahme« der entsprechenden Entscheidungen gezwungen werden. Während man also etwa bei der Technik- oder Produktakzeptanz diese anhand der Diffusion (neuer Techniken) oder schlicht am Verkauf eines Produktes zumindest implizit messen kann, steht eine solche Option bei politisch bindenden Entscheidungen nicht zur Verfügung. Zudem ist Akzeptanz – auch dies ging bereits aus der Darstellung in Abschnitt 2.1 hervor – ein mehrdimensionales Phänomen. So ist es zwar grundsätzlich möglich, von »der« Akzeptanz »des« Wohlfahrtsstaates zu sprechen – sinnvoller scheint es jedoch, von unterschiedlichen Akzeptanzdimensionen auszugehen. Wenn diese auch erst in ihrer Gesamtheit ein vollständiges Akzeptanzbild ergeben, so ist zunächst davon auszugehen, dass die einzelnen wohlfahrtsstaatlichen Bereiche und Organisationsprinzipien auf unterschiedliche Akzeptanz stoßen und dass für ihre Akzeptanz zudem jeweils unterschiedliche Erklärungen gefunden werden müssen. In der Umfrage »Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates« wurde dieser Mehrdimensionalität von Akzeptanz dadurch Rechnung getragen, dass mehrere, auf unterschiedliche Akzeptanzaspekte zielende Indikatoren verwendet wurden. Der Auswahl bzw. Konstruktion von Akzeptanzindikatoren und Erklärungsfaktoren lagen zwei Anforderungen zugrunde: Sie sollten möglichst plausibel und gegendstandsnah sein sowie unterschiedliche Akzeptanzdimensionen berücksichtigen. Zugleich sollte ein Höchstmaß an Anschlussfähigkeit an die bisherige Akzeptanzforschung gewährleistet werden. Sich daraus ergebende Zielkonflikte wurden jedoch meist zugunsten der theoretischen Plausibilität entschieden. Dies hat zwei wesentliche Konsequenzen: zum einen, dass »etablierte« Akzeptanzindikatoren zum Teil entscheidend modifiziert wurden, und zum anderen, dass zur Erfassung der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz weitere Indikatoren ergänzt wurden. Von grundlegender Bedeutung ist die Unterscheidung von zwei Akzeptanzdimensionen, der Akzeptanz des Status quo und der Akzeptanz der Wohlfahrtsstaatlichkeit. Die Akzeptanz des Status quo bezieht sich auf den Ist-Zustand, auf die konkret existierenden wohlfahrtsstaatlichen Institutionen, und damit auf das »Wie« des bestehenden Wohlfahrtsstaates. Mit der zweiten Akzeptanzdimension, der Wohlfahrtsstaatlichkeit werden alle Präferenzen und Vorstellungen umschrieben, die sich auf das »richtige« Maß der Absicherung beziehen. Dies gilt sowohl für die »Breite« der so-
4.2 Indikatoren der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz
71
zialen Sicherung – die Grenzen des Bereiches, der als wohlfahrtsstaatlich (oder sozialpolitisch) gelten soll – als auch für das »Niveau« der Absicherung.61 Die Berücksichtigung dieser zwei Akzeptanzdimensionen ergibt sich zum einen aus der theoretischen Feststellung, dass Wohlfahrtsstaatsakzeptanz ganz wesentlich die Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen ist (vgl. Abschnitt 2.1.2), und zum anderen aus der Kritik an der Akzeptanzforschung. Dieser wurde vorgehalten, dass sie sich zu sehr auf Einstellungen zu wohlfahrtsstaatlichen Zielen stützt, den Institutionenaspekt entsprechend vernachlässigt und aus diesem Grund zu einer Überschätzung der Akzeptanz kommt (vgl. Abschnitt 3.2). Hier wird demgegenüber davon ausgegangen, dass sich ein vollständiges Bild der sozialen Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen erst aus beiden Dimensionen zusammensetzt, also sowohl aus der Akzeptanz bestehender Sicherungssysteme und Regelungen als auch aus den allgemeinen Präferenzen hinsichtlich der Wohlfahrtsstaatlichkeit. Vordergründig weist die Unterscheidung von wohlfahrtsstaatlichem Status quo und Wohlfahrtsstaatlichkeit Ähnlichkeiten mit der von Roller (1992) vorgeschlagenen Konzeption auf. Roller unterscheidet bekanntlich wohlfahrtsstaatliche Ziele, die sie in die wohlfahrtsstaatliche »Extensität« (staatliche Zuständigkeit) und »Intensität« (Leistungshöhe) unterteilt, Mittel (Programme und Institutionen), sowie Folgen (einschließlich der nicht-intendierten Nebenfolgen).62 Vor allem die Unterscheidung der »Extensität« und »Intensität« wohlfahrtsstaatlicher Ziele kann mittlerweile als in der Akzeptanzforschung zum Wohlfahrtsstaat etabliert gelten. Zugleich ist darin aber auch der Ausdruck einer übermäßigen Fixierung auf die Zieldimension zu sehen. Nicht zuletzt wohl den Formulierungsanforderungen in internationalen Umfragen wie dem Eurobarometer und dem ISSP geschuldet, werden vor allem Items verwendet, die sehr allgemein – und das heißt immer auch: unabhängig von den konkreten wohlfahrtsstaatlichen Institutionen – formuliert sind. Dies führt zu einer Verengung der Akzeptanzperspektive auf die Zieldimension und zu einer entsprechenden Vernachlässigung der wohlfahrtsstaatlichen Institutionen (für eine diesbezüglich instruktive Übersicht vgl. a. Andreß et al. 2001: 24). Wie in Abschnitt 3.2 ausgeführt wurde, hat dies zur Folge, dass man in entsprechenden Untersuchungen vergleichsweise viel über Wunschvorstellungen über den Wohlfahrtsstaat, aber kaum etwas über die Beurteilung der wohlfahrtsstaatlichen Wirklichkeit erfährt.63 61
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Bei beiden Akzeptanzdimensionen handelt es sich m.E. nicht um »Einstellungen«, sondern um »Bewertungen« bzw. um »Präferenzen« (vgl. hierzu auch Rohwer/Pötter 2002: 41ff.). Roller (1992) verwendet hier jedoch nicht den Akzeptanzbegriff, sondern lehnt sich eng an die politische Einstellungsforschung an. Konsequenterweise spricht sie daher auch von Einstellungen zum Wohlfahrtsstaat sowie von Einstellungsobjekten. Hier kann nicht weiter erörtert werden, inwiefern neben dem terminologischen auch konzeptionelle Unterschiede bestehen. Es sei jedoch angemerkt, dass es zumindest als fraglich gelten muss, ob man, wie Roller anzunehmen scheint, Einstellungen gegenüber Folgen haben kann. Auch der Versuch von Andreß et al. (2001: 86ff.), Rollers Unterscheidung von Extensität und Intensität mit inhaltlichen Aspekten (Sozialpolitikbereichen) zu verknüpfen, stellt keinen Ausweg aus
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4 Zur Operationalisierung und Erklärung von Akzeptanz
Aber auch über diese Perspektivenverengung hinaus wird die konzeptionelle Unterscheidung von wohlfahrtsstaatlichen Zielen, Mitteln und Folgen als einzelne Akzeptanzobjekte in der Forschungspraxis schnell problematisch. So sind die in Umfragen erhobenen Ziele – näher betrachtet – im Allgemeinen gar keine Ziele, sondern eher »Aufgabenzuschreibungen« an den Wohlfahrtsstaat (z.B. mehr Geld für etwas auszugeben).64 Entsprechende Präferenzen ermöglichen daher bestenfalls indirekte Rückschlüsse über die Akzeptanz der damit verbundenen Ziele – und dies auch nur mit hoher Unsicherheit, da solche Aufgabezuschreibungen nicht immer einwandfrei allgemeinen sozialpolitischen Zielsetzungen zugerechnet werden können. Bei den Folgen wäre zwischen den unmittelbaren »outputs« sozialer Sicherungssysteme (z.B. Renten) und den weitreichenderen Wirkungen (oder »outcomes«) zu unterscheiden. Dabei stellt sich bei den »outputs« das Problem, dass sie bestenfalls analytisch von der Institutionenebene zu trennen sind. So macht es etwa wenig Sinn, von Renten als einer Folge der Rentenversicherung zu sprechen. In den »outcomes« ist dagegen eher eine Ursache für Akzeptanzurteile gegenüber Sicherungssystemen als ein eigenständiges Akzeptanzobjekt zu sehen. Ein »angemessener Lebensstandard älterer Menschen« ist z.B. eine Wirkung, die zu einer positiven Beurteilung der Rentenversicherung führen kann, aber wohl kaum ein eigenständiges wohlfahrtsstaatliches Akzeptanzobjekt. Akzeptanz der bestehenden wohlfahrtsstaatlichen Institutionen (Status quo) Für die Akzeptanz der bestehenden Form der sozialen Sicherung (des wohlfahrtsstaatlichen Status quo) stehen zwei Typen von Indikatoren zur Verfügung. Der erste zielt auf die Beurteilung des allgemeinen »gesellschaftlichen Wertes« bzw. Nutzens der einzelnen sozialen Sicherungssysteme. Die Frage nach dem gesellschaftlichen Wert kann dabei als »allgemeinstes« Maß der Akzeptanz sozialer Sicherungsinstitutionen gelten, weil hier ohne eine spezifische Bezugnahme (z.B. auf die Wirkungen) zu einer allgemeinen Beurteilung aufgefordert wird. Dieser Indikator wird im Folgenden als allgemeine oder »Institutionenakzeptanz« bezeichnet. Die Institutionenakzeptanz wurde für insgesamt fünf Leistungsbereiche (Gesetzliche Krankenversicherung, Gesetzliche Rentenversicherung, Arbeitslosenversicherung, Sozialhilfe sowie Leistungen für Familien) erfasst. Der beigemessene »gesellschaftliche Wert« der Sicherungssysteme wurde dabei mit einer endpunktbeschrifteten Skala von 0 (Beurteilung des Sicherungssystems als »sehr schlecht«) bis
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dieser Verengung der Akzeptanzperspektive auf die Zielebene dar und ist konzeptionell insofern nicht weiterführend. Dass allgemeine sozialpolitische Ziele gemeinhin kein Gegenstand der Akzeptanzforschung sind, dürfte in erster Linie auf die Schwierigkeit zurückzuführen sein, diese zu messen. Ziele wie »soziale Sicherheit«, »Chancengleichheit«, »gesellschaftliche Teilhabe« oder »soziale Gerechtigkeit« sind hierfür wohl auch zu vage und mehrdeutig.
4.2 Indikatoren der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz
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10 (»sehr gut«) erhoben (zur genauen Frageformulierung und Skalierung s. Anhang A2.1). Die Institutionenakzeptanz war in dieser Form kein Bestandteil früherer Umfragen zur Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme. Anders verhält es sich beim zweiten Indikator, dem Vertrauen in Sicherungssysteme.65 Das Systemvertrauen wurde für vier Sicherungssysteme – für die Gesetzliche Rentenversicherung, die Gesetzliche Krankenversicherung, die Arbeitslosenversicherung und die Sozialhilfe – mittels einer 4er-Skala (mit den Ausprägungen »ja, auf jeden Fall«, »eher ja«, »eher nein« und »nein, auf keinen Fall«) erfasst (vgl. Abbildung 4.1). Wie Dallinger (2003: 5) für die Rentenversicherung hervorhebt, beziehen sich Vertrauensindikatoren im Unterschied zu den sonst meist verwendeten Extensitätsund Intensitätsindikatoren stärker auf die wohlfahrtsstaatlichen Institutionen. Während aber der Institutionenakzeptanz-Indikator – vor allem durch die Art der Frageeinleitung – dabei eher auf eine Beurteilung unabhängig von der individuellen »sozialpolitischen Situation« der Befragten abstellt, zielt der Vertrauens-Indikator zusätzlich auf die Berücksichtigung der individuellen Perspektive.66 Es kann insofern davon ausgegangen werden, dass die beiden Indikatoren der Akzeptanz des Status quo das gleiche Akzeptanzphänomen in leicht veränderter Perspektive und mit einer etwas anderen Akzentuierung erfassen. Akzeptanz von Wohlfahrtsstaatlichkeit Präferenzen hinsichtlich der Wohlfahrtsstaatlichkeit beziehen sich auf »Idealvorstellungen« vom Wohlfahrtsstaat. Dabei ist jedoch davon auszugehen, dass die entsprechenden Präferenzen immer auch an den sozialpolitischen Realitäten orientiert sind, die ihnen gewissermaßen als Ankerpunkt dienen. Häufig werden sie daher auch als Wunsch nach einem »Mehr« oder »Weniger« im Vergleich zum Status quo der wohlfahrtsstaatlichen Sicherung formuliert. Vor allem wegen ihrer Berücksichtigung in den ISSP-Modulen »Role of Government« können dabei in der wohlfahrtsstaatlichen Akzeptanzforschung Indikatoren als etabliert gelten, die die gewünschte Leistungshöhe und Präferenzen hinsichtlich des staatlichen Engagements in bestimmten Sicherungsbereichen zu erfassen versuchen. Seit Roller (1992) haben sich hierfür die Bezeichnungen »Intensität« (für die gewünschte Leistungshöhe bzw. gewünschte Richtung der Veränderung des Leistungsniveaus) und »Extensität« (für die gewünschte staatliche Zuständigkeit) eingebürgert. Auch in der Befragung »Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates« wur65
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So enthielt z.B. der Allbus 2000 eine Frage zum Vertrauen in die Gesetzliche Rentenversicherung (vgl. Dallinger 2003). Dies ergibt sich bereits aus der Logik von »Vertrauensfragen«, denn wie sollte »man« vertrauen können, wenn »man selbst« dies nicht tut (und vice versa). Diese allerdings eher feinen Unterschiede wurden im Übrigen auch durch die kognitiven Pretests bestätigt.
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4 Zur Operationalisierung und Erklärung von Akzeptanz
den diese beiden Dimensionen der Wohlfahrtsstaatlichkeit erfasst, wobei jedoch versucht wurde, die bisher damit zusammenhängenden Probleme (vgl. a. 3.1) soweit wie möglich zu vermeiden. (1) Eine häufige Kritik lautet, dass die gewünschte staatliche Zuständigkeit (»Extensität«) ohne entsprechende Alternativen erfragt wird (also z.B. private Vorsorge oder Hilfe durch karitative Organisationen), sodass der Eindruck entstehen kann, dass die zur Disposition stehenden Aufgaben entweder vom Staat übernommen werden oder aber überhaupt nicht ausgefüllt werden. Die meisten Indikatoren der staatlichen Zuständigkeit sind daher insofern unscharf, als geringe Werte auf der Extensitätsskala ebenso durch eine »anti-etatistische« Orientierung wie durch eine Geringschätzung der jeweiligen sozialpolitischen Aufgabe (oder auf beides) verursacht sein können. Diesem Problem sollte durch die Verwendung eines Indikators entgegengewirkt werden, der die Alternative67 in der Frageformulierung und in den Antwortkategorien explizit anführt.68 Die Beantwortung erfolgt dabei auf einer 11er-Skala, bei der in 10-Prozent-Schritten eine unterschiedliche sozialpolitische Aufgabenverteilung angeboten wird, die von ausschließlich privater bis zu ausschließlich staatlicher Zuständigkeit reicht (vgl. Anhang A2.1).69 Diese Form eines Extensitätsindikators 67
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Hierbei wurden allerdings die unterschiedlichen nicht-staatlichen Akteure zusammengefasst (Absicherung bzw. Fürsorge durch Betriebe, Kirchen und Wohlfahrtsverbände sowie durch die Familie und durch individuelle Vorsorge). Ein weiteres, mit Indikatoren der »Extensität« verbundenes Problem kann durch diese Form der Frageformulierung jedoch nicht behoben werden. So wird eine hohe Zustimmung zur staatlichen Zuständigkeit in der Akzeptanzforschung zum Wohlfahrtsstaat üblicherweise als hohe Akzeptanz interpretiert. Dies scheint jedoch nur insoweit berechtigt, wie man von einer etatistischen Grundhaltung ausgeht, der zufolge Aufgaben desto eher an den Staat verwiesen werden, je größer die ihnen zugeschriebene Bedeutung ist. Durch das Anbieten einer Alternative (private bzw. nichtstaatliche Vorsorge) wird der Schwerpunkt dagegen von der Frage, ob eine sozialpolitische Aufgabe wichtig ist (und daher vom Staat ausgefüllt werden muss), auf die des Anteils des Staates bei der Aufgabenerfüllung verschoben. Eine deutliche Befürwortung staatlicher Zuständigkeit weist bei dieser Fassung des Extensitätsindikators daher immer auch auf eine stark etatistische Orientierung hin – eine Akzentverschiebung, die bei der unterschiedlichen Beurteilung der staatlichen Zuständigkeit durch Ost- und Westdeutsche klarer hervortritt (vgl. hierzu Kapitel 5). Diese »Vermischung« von Etatismus und Bedeutsamkeitszuschreibung sollte jedoch nicht überbewertet werden. Denn die Akzeptanz von Wohlfahrtsstaatlichkeit (wohlfahrtsstaatlicher Aufgaben) setzt beide Aspekte – die Einschätzung einer Aufgabe als wichtig und deren Adressierung an den Staat – gleichermaßen voraus. Streng genommen ist die Bezeichnung »staatliche Zuständigkeit« ungenau, weil hier offen bleibt, in welcher Form eine Zuständigkeit (Regulierung?, Finanzierung?, Leistungsorganisation?) erfüllt wird bzw. ab wann sie als erfüllt gilt. Jedenfalls zeigt die wohlfahrtsstaatliche Vielfalt, dass es sich hierbei nicht um eine Ja-Nein-Frage handelt, sondern dass nicht nur unterschiedliche Grade, sondern auch sehr unterschiedliche Formen einer wohlfahrtsstaatlichen Aufgabenübernahme möglich sind. Zumindest für den deutschen Wohlfahrtsstaat ergibt sich das zusätzliche Problem, dass das Gros der wohlfahrtsstaatlichen Institutionen nicht im eigentlichen Sinne staatlich ist. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass Institutionen wie die Gesetzliche Rentenversicherung und die Ge-
4.2 Indikatoren der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz
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steht insgesamt für sechs (potenzielle) sozialpolitische Aufgabenbereiche zur Verfügung, und zwar für die Bereiche Gesundheitsversorgung, Alterssicherung, Armut, Arbeitslosigkeit, Unterstützung von Studenten sowie für die Unterstützung von Familien und Alleinerziehenden. (2) An der Verwendung von Indikatoren sozialpolitischer »Intensität« (gewünschte Leistungshöhe70) wurde zum einen kritisiert, dass immer dann, wenn mögliche Kosten (höhere Leistungen/Ausgaben bei höheren Beiträgen/Steuern) nicht berücksichtigt werden, aufgrund der vermeintlichen »getting something for nothing«-Logik unrealistisch hohe Akzeptanzwerte regelrecht »generiert« werden (vgl. Abschnitt 3.2). Diese Verzerrung kann noch leicht durch entsprechende Hinweise in der Frageformulierung vermieden werden. Schwerer wiegt dagegen, dass die Art der ItemFormulierungen weder zum tatsächlichen noch zum vom Befragten wahrgenommenen Leistungsniveau einen Bezug herstellt. Dies führt dazu, dass z.B. der Wunsch nach höheren Leistungen sowohl Ausdruck einer hohen Unzufriedenheit mit dem bestehenden (niedrigen) Leistungsniveau sein kann als auch die Folge eines hohen Anspruchsniveaus (im Falle eines hohen Leistungsniveaus).71 Die verbreitete Interpretation, nach der die Befürwortung höherer Leistungen eine höhere Akzeptanz bedeutet, ist daher zumindest im ersten Fall eher abwegig. Diesem Problem ist durch eine getrennte Messung der wahrgenommenen und der gewünschten Leistungshöhe begegnet worden. Beide wurden mit einer endpunktbeschrifteten 11er-Skala von 0 (Beurteilung der Leistungshöhe als »sehr niedrig«) bis 10 (»sehr hoch«) erfasst (vgl. Abbildung 4.1). Dieses Verfahren führt zum einen zu einer »Verankerung« der gewünschten mit der jeweils unmittelbar davor erfragten wahrgenommenen Leistungshöhe, sodass die gewünschte relativ zur wahrgenommenen Leistungshöhe erfasst wird. (Die Befragten können an den ihnen vorliegenden Skalen gewissermaßen »sehen«, wie sehr ihre Wünsche vom wahrgenommen Ist-Zustand abweichen.) Die Differenz zwischen gewünschter und wahrgenommener Leistungshöhe wird in den empirischen Analysen als Akzeptanzindikator verwendet und kurz als »Leistungsbewertung« bezeichnet. Sie kann als Zufriedenheit mit der Leistungshöhe
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71
setzliche Krankenversicherung zumindest als »parastaatlich« wahrgenommen werden. (Zudem könnten die großen Sozialversicherungen ohne staatliche Rückendeckung bzw. Richtliniensetzung nicht existieren.) In der Befragung wurde diesem Problem dadurch entgegengewirkt, dass in der Eingangsformulierung explizit darauf hingewiesen wurde, dass bei der Aufgabenteilung zwischen privaten Kräften und dem Staat die Sozialversicherungen als staatlich gelten sollen. Genauer müsste es eigentlich heißen: Die gewünschte (Richtung der) Änderung des Leistungsniveaus bzw. – wie in den ISSP-Modulen – die gewünschte (Richtung der) Änderung der Regierungsausgaben, deren Erhöhung sich bekanntlich nicht immer auch in einem höheren Leistungsniveau niederschlägt (ebenso wenig wie eine Kürzung immer zu niedrigeren Beiträgen führt). Der Einfachheit halber soll aber auch im Folgenden die Formulierung »gewünschte Leistungshöhe« verwendet werden. Dies verdeutlichen die hohen Intensitätswerte in Wohlfahrtsstaaten mit völlig unterschiedlichen Voraussetzungen (z.B. Großbritannien und Russland) wie sie im ISSP-Modul »Role of Government III« deutlich werden.
76
4 Zur Operationalisierung und Erklärung von Akzeptanz
interpretiert werden, wobei ein höherer Wert (eine höhere Abweichung) eine größere Unzufriedenheit anzeigt – und zwar unabhängig davon, ob er ein positives oder negatives Vorzeichen hat.72 Wird der Skalenwert der gewünschten Leistungshöhe (Soll-Höhe) vom Skalenwert der wahrgenommenen Leistungshöhe (Ist-Höhe) subtrahiert, bringt ein positiver Wert den Grad der gewünschten Leistungserhöhung, ein negativer dagegen den Grad der gewünschten Leistungskürzung zum Ausdruck.73 Ein so konstruierter Indikator der »Leistungsbewertung« steht insgesamt für vier Sicherungssysteme (die Gesetzliche Krankenversicherung, die Gesetzliche Rentenversicherung, die Arbeitslosenversicherung und die Sozialhilfe) zur Verfügung. Abbildung 4.1: Akzeptanzdimension
Hauptindikatoren zur Messung der Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme und -bereiche
Akzeptanzindikator
»Was meinen Sie: Wie gut oder wie schlecht sind alles in allem die folgenden Bereiche der sozialen Sicherung für unsere Gesellschaft?«
Gesetzl. Rentenversicherung; Gesetzl. Krankenversicherung; Arbeitslosenversicherung; Sozialhilfe; Leistungen für Familien
Systemvertrauen
»Wenn Sie die Situation in Deutschland insgesamt betrachten: Glauben Sie, dass wir uns in Zukunft auf die zentralen sozialen Sicherungssysteme verlassen können? Sagen Sie mir bitte für jedes der Sicherungssysteme auf der Liste, ob wir uns in Zukunft darauf verlassen können.«
Gesetzliche Rentenversicherung; Gesetzliche Krankenversicherung; Arbeitslosenversicherung; Sozialhilfe
staatliche Zuständigkeit
»Wir würden gerne von Ihnen wissen, für welchen Anteil der Staat und die Sozialversicherungen bei den folgenden Aufgaben zuständig sein sollten und welchen Anteil private Kräfte übernehmen sollten.«
Alterssicherung; Gesundheitsversorgung; Arbeitslose, Arme, Familien
»Leistungsbewertung«
Differenz aus: (a) wahrgenommener Leistungshöhe: »Wie beurteilen Sie, allgemein betrachtet, die [Leistungshöhe]?« und (b) gewünschter Leistungshöhe: »Wie hoch sollte [Leistung] Ihrer Ansicht nach sein? Bitte berücksichtigen Sie (...), dass sich Änderungen der [Leistungshöhe] auf [Kosten des Sicherungssystems] auswirken.«
Rente (gesetzliche); Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung; Arbeitslosengeld, Sozialhilfe (»Hilfe zum Lebensunterhalt«)
Wohlfahrtsstaatlichkeit
73 74
Sicherungssysteme und -bereiche
Institutionenakzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Status quo
72
Itemformulierung (Kurzform74)
Gegen die Interpretation der Differenzen zwischen wahrgenommener und gewünschter Leistungshöhe als Präferenzen für Leistungserhöhungen bzw. -kürzungen mag man einwenden, dass hierzu keine expliziten Aussagen vorliegen und die entsprechenden Präferenzen quasi »hinter dem Rücken« der Befragten konstruiert werden. Angesichts der expliziten Berücksichtung möglicher Kosten bei der Frage nach der gewünschten Leistungshöhe, scheint eine solche Interpretation doch nicht sehr riskant: Sie ist nicht mehr als die logische Konsequenz der beiden Teilpräferenzen. Bei der Differenz zwischen Soll- und Ist-Höhe ergeben sich Werte zwischen -10 und +10. Diese Übersicht gibt immer nur die zentralen Frageformulierungen wieder. Die vollständigen Formulierungen (insbesondere auch die einleitenden Erläuterungen) und die Skalierungen finden sich im Anhang A2.1.
4.2 Indikatoren der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz
77
Die Besonderheit dieses Akzeptanzindikators besteht darin, dass die »Leistungsbewertung« aus der Differenz zwischen wohlfahrtsstaatlichem Status quo (wahrgenommene Leistungshöhe) und der gewünschten Wohlfahrtsstaatlichkeit (präferierte Leistungshöhe) gebildet wird und insofern beiden Akzeptanzdimensionen zuzurechnen ist. Durch diese Relationierung der Präferenzen mit dem wahrgenommenen Zustand lässt sich dieser Akzeptanzindikator besonders einfach interpretieren und scheint geeignet, auch kleinere Akzeptanzunterschiede und schwächere Einflüsse auf die Akzeptanzurteile sichtbar zu machen. (3) Der Erfassung der Akzeptanz von Wohlfahrtsstaatlichkeit wären aber zu enge Grenzen gesetzt, beschränkte sich deren Messung auf die bereits bestehenden wohlfahrtsstaatlichen Aufgabenbereiche (wie Alterssicherung und Armutsbekämpfung) und auf die Intensität, mit der der Wohlfahrtsstaat diesen Aufgaben nachkommt. Wünschenswert ist darüber hinaus die Eruierung der Grenzen der gewünschten oder erwarteten Übernahme sozialpolitischer Aufgaben durch staatliche Instanzen durch den Einbezug entsprechender Aufgabenbereiche. Auch wenn der Phantasie hier grundsätzlich keine Grenzen gesetzt sind, so können potenzielle sozialpolitische Aufgabenbereiche doch nur sinnvoll erfasst werden, wenn sie »realitätsnah« sind. In der Studie »Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates« wurden Fragen zu vier solcher Bereiche gestellt. Dabei handelt es sich um die Aufgaben bzw. Ziele »staatliche Sorge für Arbeitsplätze«, »Verringerung der Einkommensunterschiede«, »höhere Ausgaben für Familien und Alleinerziehende« sowie »höhere Ausgaben für Kinderbetreuung«. Die Befragten konnten hier anhand einer endpunktbeschrifteten 6er-Skala äußern, inwiefern sie diese Aufgaben als staatliche ansehen (zur Frageformulierung und Skalierung s. Anhang A2.1). In Abgrenzung zu den Präferenzen hinsichtlich der Kerninstitutionen des Wohlfahrtsstaates können diese Aufgaben zusammenfassend als »erweiterte Wohlfahrtsstaatlichkeit« bezeichnet werden. Sie unterscheiden sich dabei erheblich in dem Maße, in dem sie gemeinhin zu den sozialpolitischen Aufgaben gerechnet werden. Darüber hinaus kann vermutet werden, dass über die Ziele »Arbeitsplatzgarantie« und »Verringerung der Einkommensungleichheit« ein weitaus größerer gesellschaftlicher Dissens besteht als über die beiden »familienpolitischen«. Gemeinsam ist allen vier Aufgaben dagegen ihre Randständigkeit (oder »Stiefmütterlichkeit«) in der sozialpolitischen Realität des deutschen Wohlfahrtsstaates. Insgesamt werden in den empirischen Analysen (Kapitel 5 und 6) also vier Hauptindikatoren wohlfahrtsstaatlicher Akzeptanz verwendet75, die jeweils für mehrere Sicherungssysteme bzw. sozialpolitische Aufgaben zu Verfügung stehen: die Institutionenakzeptanz (zugeschriebener gesellschaftlicher Wert), das Systemvertrauen, die gewünschte staatliche Zuständigkeit für wohlfahrtsstaatliche Kernbereiche 75
Im Rahmen der Umfrage »Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates« wurden zudem noch weitere Akzeptanzindikatoren (insbes. zu spezifischen Systemmerkmalen und zu Verhaltensweisen) erhoben, die im Weiteren jedoch nicht verwendet werden.
78
4 Zur Operationalisierung und Erklärung von Akzeptanz
und die »Leistungsbewertung« (Differenz von gewünschter und wahrgenommener Leistungshöhe).76 Sofern dies zur Vervollständigung des Akzeptanzbildes sinnvoll erschien, wurden zusätzlich auch die verschiedenen Aspekte der »erweiterten Wohlfahrtsstaatlichkeit« in die Analysen einbezogen. Die Bestimmung des Akzeptanzobjekts »Wohlfahrtsstaat« Bei der Bestimmung des Akzeptanzobjekts geht es im Kern um die Frage, wie »Wohlfahrtsstaat« zu definieren ist und welche Bereiche, Institutionen und Regelungen dem Wohlfahrtsstaat zuzurechnen sind. Dabei besteht immer auch die Gefahr, dass »Wohlfahrtsstaat« und »Wohlfahrtsstaatlichkeit« erst durch das Erhebungsinstrument »konstruiert« werden. Für den Begriff Wohlfahrtsstaat gibt es bekanntlich keine einheitliche und allseits geteilte Definition. Explizite Definitionen sehen sich daher meist sehr schnell einer Übermacht oft berechtigter Kritik ausgesetzt, unter deren Last sie kaum durchzuhalten sind. Vor allem gegen operationale Definitionen lassen sich nur zu leicht Einwände formulieren, da diese notwendigerweise mehr oder minder willkürliche Vereinfachungen erfordern und sich bei der Auswahl der Definitionskriterien zudem auch von forschungspragmatischen Überlegungen leiten lassen müssen. So scheinen viele Definitionsversuche für die Erfassung der wohlfahrtsstaatlichen Wirklichkeit unzureichend, weil sie zu sehr auf einzelne Aspekte fokussieren oder einseitig an einem (nationalen) Wohlfahrtsstaatsmodell ausgerichtet sind. Auf der anderen Seite sind sie wiederum oft zu allgemein und undifferenziert, was insbesondere die Möglichkeiten vergleichender Analysen erheblich einschränkt.77 Diese hier nur angedeuteten Probleme ändern jedoch nichts an der Notwendigkeit einer operationalen Definition, wenn man die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates empirisch untersuchen möchte. Als Wohlfahrtsstaat soll hier daher die Gesamtheit der als wohlfahrtsstaatlich (bzw. sozialpolitisch) definierten Institutionen und Politiken bezeichnet werden. Als »wohlfahrtsstaatlich« können dabei ganz allgemein Institutionen bezeichnet werden, wenn sie, erstens, Funktionen der Existenzsicherung, der sozialen Sicherung und der Gewährung von Chancengleichheit für alle oder einen Teil ihrer Adressaten unmittelbar erfüllen und wenn, zweitens, diese
76
77
Sowohl die Unabhängigkeit dieser vier Akzeptanzindikatoren als auch deren Gruppierung (Akzeptanz des Status quo und Akzeptanz der Wohlfahrtsstaatlichkeit) konnte mittels explorativer Faktorenanalysen bestätigt werden. Dies hat dazu geführt, dass Versuche einer exakten Definition des Wohlfahrtsstaates oftmals ganz unterlassen werden. Entsprechend häufig sind daher Klagen über den Mangel an Definitionen, zugleich aber auch über die Vergeblichkeit von Definitionsversuchen (vgl. etwa bereits Kaufmann 1977).
4.2 Indikatoren der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz
79
Funktionen überwiegend (oder zumindest zu einem bedeutenden Teil) von staatlichen oder öffentlichen Instanzen erfüllt werden.78 Grundsätzlich muss davon ausgegangen werden, dass mit dem Begriff Wohlfahrtsstaat in der Bevölkerung häufig »falsche« oder widersprüchliche, oft aber auch gar keine Bedeutungen verbunden werden (vgl. hierzu auch Roller 1992: 68). Ein einheitliches »Akzeptanzobjekt Wohlfahrtsstaat« existiert insofern nicht. Schon hieraus folgt, dass Versuche, eine allgemeine, von den einzelnen Wohlfahrtsinstitutionen unabhängige Akzeptanz des gesamten Wohlfahrtsstaates zu ermitteln, wenig aussichtsreich sind, weil dieser als Akzeptanzobjekt zu diffus ist. Zu einem fundierten Bild der Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates gelangt man nur durch die Erfassung der Akzeptanz der für den Einzelnen »erfahrbaren« wohlfahrtsstaatlichen Institutionen (wie »die Rentenversicherung«). Die Akzeptanz »des« Wohlfahrtsstaates ist allein aus der Summe der Akzeptanzen seiner Teilelemente zu erschließen. Eine empirische Akzeptanzanalyse muss daher bei identifizierbaren Wohlfahrtsinstitutionen ansetzen. Wünschenswert, aber forschungstechnisch ausgeschlossen wäre es, alle wohlfahrtsstaatlichen Institutionen in die Analyse einzubeziehen. Es muss daher das Ziel einer operationalen Definition sein, die zentralen und »repräsentativen« wohlfahrtsstaatlichen Institutionen zu bestimmen. Bereits aus der vorgeschlagenen Definition des Wohlfahrtsstaates ergibt sich die nicht unerhebliche Beschränkung auf materielle Leistungen und die Fokussierung auf relativ »institutionalisierte« (zeitstabile) Sicherungssysteme. Dadurch werden zum einen nicht-materielle, insbesondere rechtliche Interventionsformen (z.B. Arbeits- oder Familienrecht; vgl. Kaufmann 1982) und zum anderen aktuelle und kurzfristige sozialpolitische Maßnahmen und Programme ausgeschlossen. Abgesehen von dieser Fokussierung auf die »ökonomische Interventionsform« (Kaufmann 1982: 75ff.) und dem Ziel, Vergleichsmöglichkeiten mit früheren Untersuchungen zu ermöglichen, lässt sich die im Folgenden dargestellte Auswahl der einzelnen Akzeptanzobjekte von zwei Gesichtspunkten leiten. Beim ersten steht die Frage im Mittelpunkt, welche Kombination von Wohlfahrtsinstitutionen am ehesten den Wohlfahrtsstaat in seiner Gesamtheit repräsentiert, so dass aufgrund von Akzeptanzurteilen gegenüber einzelnen Akzeptanzobjekten auch auf die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates geschlossen werden kann. Als Auswahlkriterien wurden dabei die Zentralität der Leistungssysteme (gemessen am Ausgabevolumen und/oder der Zahl der Adressaten), ihr anzunehmender Bekanntheitsgrad sowie ihre mutmaßliche Bedeutung für die Befragten herangezogen. Dem liegt die einfache Überlegung zugrunde, dass der Einfluss auf die Gesamtakzeptanz des Wohlfahrtsstaates mit der Zentralität und Bedeutsamkeit eines Sicherungssystems steigt. 78
Auch diese Definition ist zugegebener Maßen noch sehr vage und lässt vieles offen, reicht für den hier vorliegenden Zweck jedoch aus.
80
4 Zur Operationalisierung und Erklärung von Akzeptanz
Theoretische Überlegungen zur Akzeptanz und Akzeptabilität von Sicherungssystemen legen zudem eine systematische Berücksichtigung unterschiedlicher Systemmerkmale nahe (vgl. Karl et al. 1998; Ullrich 2001). Bei der Auswahl sollen daher möglichst alle Systemeigenschaften, von denen ein Einfluss auf die Akzeptanzurteile der Befragten erwartet werden kann, mehrfach und in unterschiedlichen Kombinationen vorkommen. Zu diesen Systemmerkmalen sind vor allem die sozialpolitischen Zielsetzungen, die »Adressatendefinition« (wer erhält unter welchen Bedingungen Leistungen) und die Mittel oder Instrumente zu zählen, mit denen die jeweiligen Ziele erreicht werden sollen (z.B. Versicherungsprinzip, Bedürftigkeitsprüfungen).79 Wie bereits aus der Darstellung der Akzeptanzindikatoren hervorging, wurden in der Befragung »Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates« fünf sozialpolitische Bereiche ausgewählt, die jedoch unterschiedlich intensiv im Erhebungsinstrument thematisiert wurden. Von dieser Auswahl wird angenommen, dass sie den oben genannten Kriterien am besten entspricht und insofern beanspruchen kann, für den gesamten Wohlfahrtsstaat »repräsentativ« zu sein. Im Einzelnen wurden folgende Bereiche als Akzeptanzobjekte festgelegt (vgl. Abbildung 4.2): Die drei großen Sozialversicherungen – Gesetzliche Rentenversicherung, Gesetzliche Krankenversicherung und Arbeitslosenversicherung – bilden mit der Sozialhilfe den Kern des deutschen Wohlfahrtsstaates. Zugleich repräsentieren sie zwei sehr unterschiedliche Varianten des Typus Sozialversicherung. So unterscheidet sich die Gesetzliche Krankenversicherung von der Arbeitslosen- und Rentenversicherung u.a. dadurch, dass das Gros der Leistungen nach dem Bedarfsprinzip gewährt wird, während die beiden anderen Sozialversicherungen eher am Äquivalenzprinzip (wer höhere Beiträge gezahlt hat, bekommt auch höhere Leistungen) orientiert sind. Kranken- und Rentenversicherung unterscheiden sich von der Arbeitslosenversicherung wiederum dadurch, dass sie »Mehrheitsprogramme« sind, bei denen (fast) jeder auch Leistungsempfänger ist, während der Empfang von Arbeitslosengeld nur einer Minderheit möglich ist. Bei der Arbeitslosenversicherung und der Gesetzlichen Rentenversicherung ist zudem die »Sichtbarkeit« der Leistungsempfänger hoch. In beiden Fällen sind die Leistungsempfänger (Rentner, Arbeitslose) soweit typisiert, dass von einem eigenständigen sozialen (oder Versorgungsklassen-) Status auszugehen ist.
79
Wegen ihrer hohen Variabilität, aber auch aufgrund kontroverser theoretischer Auffassungen, ist insbesondere eine möglichst breite Berücksichtigung sozialpolitischer Organisationsformen anzustreben. Dies gilt zunächst für die bekannten Unterscheidungen von selektiven und universellen Programmen (bzw. von Minderheits- und Mehrheitsprogrammen) sowie zwischen Sozialversicherungen, Versorgungssystemen und Fürsorgeleistungen. Oft eng verbunden mit diesen grundlegenden Systemtypen sind zudem aber auch viele weitere Merkmale wie das Äquivalenzprinzip, die Versicherungspflicht oder das Bedarfsprinzip (vgl. Ullrich 2001).
81
4.2 Indikatoren der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz
Abbildung 4.2:
Systemmerkmale der einzelnen wohlfahrtsstaatlichen Akzeptanzobjekte sozialpolitischer Aufgabenbereich
Institutionalisierungsgrad
»Sichtbarkeit« der Leistungsempfänger
Mehrheitsprogramm
Kriterien der Leistungsvergabe
Gesetzliche Krankenversicherung
Gesundheitsversorgung
hoch
eher gering
ja
Bedarf80
Gesetzliche Rentenversicherung
Alterssicherung
hoch
hoch (»typisiert«)
ja
Leistung
Arbeitslosenversicherung
Arbeitslosigkeit
hoch
hoch (»typisiert«)
nein
Leistung > Bedarf
Armut
hoch
hoch (»typisiert«)
nein
Bedarf
Besserstellung von Familien
gering
eher gering
?
Gleichheit > Bedarf
Sozialhilfe (Hilfe zum Lebensunterhalt) Leistungen für Familien
Bis zur Einführung des »Arbeitslosengelds II« (2005) gehörte auch die »Sozialhilfe« (bzw. »Hilfe zum Lebensunterhalt«81) in Deutschland zu den Kerninstitutionen des Wohlfahrtsstaates. Anders als die Sozialversicherungen wird die Sozialhilfe jedoch aus Steuermitteln finanziert und ihre Gewährung ist von Bedürftigkeitsprüfungen abhängig. Wie die Arbeitslosenversicherung ist die Hilfe zum Lebensunterhalt ein »Minderheitsprogramm«, bei dem die Mehrheit der Beitrags- und Steuerzahler nicht in den »Genuss« eines Leistungserhalts kommt. Die Sozialhilfe stellte im Untersuchungszeitraum somit einen eigenständigen Sicherungstyp dar, der als relativ anfällig für »negative Akzeptanz« gelten muss, zumal die »Sichtbarkeit« der Leistungsempfänger hoch ist.82 Ebenso wie die Sozialhilfe werden Leistungen für Familien (Kindergeld, Erziehungsgeld) aus dem allgemeinen Steueraufkommen finanziert. Sie werden jedoch eher nach dem Gleichheitsprinzip als nach Bedarfskriterien vergeben. Leistungen für Familien gehören zudem zu den »weichen« Sozialpolitikbereichen und in Deutschland traditionell nicht zum Kernbereich des wohlfahrtsstaatlichen Selbstverständnis-
80 81
82
Mit Ausnahme des Krankengeldes. Wie durch kognitive Pretests bestätigt werden konnte, werden die Wahrnehmung der Sozialhilfe (als »Institution«) und die der Sozialhilfeempfänger von der Hilfe zum Lebensunterhalt geprägt, auch wenn diese nur einen Teil der Sozialhilfeausgaben ausmacht. In der Befragung wurde zudem explizit gemacht, dass mit Sozialhilfeempfängern Personen gemeint sind, die aufgrund einer materiellen Notlage Sozialhilfe (bzw. Hilfe zum Lebensunterhalt) beziehen. Hieran wird sich auch durch die Umwandlung zum »Arbeitslosengeld II« nichts geändert haben, da wesentliche Strukturprinzipien (z.B. Bedürftigkeitsprüfungen) übernommen oder gar verstärkt wurden.
82
4 Zur Operationalisierung und Erklärung von Akzeptanz
ses. Familienpolitik (oder ihr Unterbleiben) ist in jüngerer Zeit allerdings immer mehr in den Fokus des sozialpolitischen Interesses gerückt. Der geringere Institutionalisierungsgrad und der daraus resultierende Mangel an organisatorisch-institutioneller Präsenz – im Bereich der Familienpolitik fehlen Institutionen, die denen der Arbeitsämter, Krankenkassen oder der Rentenversicherer vergleichbar wären – erschweren hier jedoch die Messung von Akzeptanz: Was institutionell nicht »erfahrbar« ist, kann auch nur schwer zum Gegenstand von Akzeptanzfragen werden. Aus diesem Grund musste bei einigen Indikatoren auf den Bereich der familienpolitischen Maßnahmen verzichtet werden (s. Abbildung 4.1). 4.3 Erklärungsfaktoren für die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme So wie die Indikatoren wohlfahrtsstaatlicher Akzeptanz nur vor dem Hintergrund explizierter Vorstellungen über die allgemeine Beschaffenheit von Akzeptanz entwickelt werden können, sind auch Erklärungsfaktoren nicht von den Annahmen über die für die Erklärung der Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen relevanten Kausalbeziehungen zu trennen. Die genaue Begründung des vermuteten Einflusses der einzelnen Erklärungsfaktoren erfolgt daher jeweils erst im Kontext der spezifischen Fragestellungen, die den einzelnen Abschnitten von Kapitel 6 zugrunde liegen. Im Folgenden soll zunächst nur ein erster allgemeiner Überblick über die wichtigsten Variablen gegeben werden, die als mögliche Erklärungsfaktoren zur Verfügung stehen. Die Klassifizierung und Charakterisierung der Erklärungsfaktoren geschieht dabei notwendig in grober und vorläufiger Form. Darüber hinaus wird in vielen Fällen von kontextdifferenten Effekten ausgegangen. Je nach Sicherungssystem und Akzeptanzindikator können von den potenziellen Erklärungsfaktoren unterschiedlich starke (oft auch keine), unterschiedlich gerichtete und unterschiedlich »geartete« (lineare oder nicht-lineare) Einflüsse auf die Akzeptanzurteile vermutet werden. Von einigen wird zudem angenommen, dass sie nur bei sehr spezifischen Fragen als Erklärungsfaktoren in Betracht kommen.83 Der »dichten«und »breiten« Erfassung der Akzeptanz entspricht eine umfangreiche Berücksichtigung möglicher Erklärungsfaktoren. Allgemein können drei Faktorengruppen unterschieden werden, von denen angenommen wird, dass sie die Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen erklären können. Alle Variablen dieser Faktorengruppen werden dabei als unabhängige Variablen aufgefasst, die jeweils unmittelbar auf die Akzeptanzurteile einwirken. Neben den soziodemografischen Merkmalen und subjektiven Interessendefinitionen sind dies grundlegende Wert- und
83
Die Erläuterung dieser Variablen erfolgt dann in den jeweiligen Abschnitten.
4.3 Erklärungsfaktoren für die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme
83
Handlungsorientierungen sowie die Wahrnehmung der Leistungsempfänger (vgl. Abbildung 4.3). (1) Indikatoren der »sozialpolitischen Lage« (Eigeninteresse) Unterschiedliche Indikatoren der »sozialpolitischen Lage« bilden die größte und vermutlich auch wichtigste Gruppe von Einflussfaktoren, die alle, wenn auch in unterschiedlicher Weise, Formen des Eigeninteresses messen. Für den vorliegenden Zweck der Erklärung von Akzeptanzurteilen können drei Ebenen unterschieden werden, auf denen die »sozialpolitische Lage« der Befragten erfasst werden kann: die Parameter der allgemeinen sozialen Lage, die »objektive« sozialpolitische Lage, wie sie vor allem am Versorgungsklassenstatus abzulesen ist, und schließlich die subjektive Wahrnehmung des Eigeninteresses an Systemen der sozialen Sicherung. (a) Parameter der sozialen Lage Die allgemeine soziale Lage bestimmt ein eher mittelbares Interesse am Wohlfahrtsstaat. Zum einen hat sie einen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit des Leistungsbezugs (und, so kann man vermuten, darüber hinaus auch auf die Wahrnehmung dieser Wahrscheinlichkeit): Je besser die soziale und ökonomische Position einer Person, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, auf das System der sozialen Sicherung angewiesen zu sein. Gleichzeitig steigen mit der Höhe der sozialen Position meist auch die Belastungen, die in Form von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen von den sozialen Sicherungssystemen ausgehen. Insbesondere von Klassen- und Schichtmerkmalen kann daher ein genereller Einfluss auf die Wahrnehmung und Beurteilung des Wohlfahrtsstaates angenommen werden. Aber auch vom Alter und der Art der Erwerbstätigkeit kann dies vermutet werden. Der in den späteren Analysen (Kapitel 6) am häufigsten verwendete Indikator der Schichtzugehörigkeit ist die subjektive Einstufung auf einer Oben-Unten-Skala (endpunktbeschriftete Skala von 1 für »Unten« bis 10 für »Oben«; für die Frageformulierung s. Abb. 4.3 sowie Anhang A2.2). Sie hat zwei wesentliche Vorteile: Anders als z.B. beim Einkommen sind Antwortverweigerungen relativ selten und durch den subjektiven Charakter wird dem Umstand Rechnung getragen, dass nicht der tatsächliche, sondern der wahrgenommene soziale Status für die Bildung von Akzeptanzurteilen über den Wohlfahrtsstaat ausschlaggebend ist. Auch das Haushaltsnettoeinkommen steht als in mancher Hinsicht »verlässlichster« Indikator der sozialen Lage zur Verfügung.84 Aufgrund der relativ hohen Zahl an Antwortverweigerungen ergibt sich jedoch bei vielen Fragestellungen ein Problem zu geringer Fallzahlen. Das Haushaltseinkommen wird aus diesem Grund nur selektiv in den Analysen verwendet und meist nur zur Überprüfung und Erhärtung der 84
Gleiches gilt für das allerdings weniger aussagekräftige Bruttoeinkommen.
84
4 Zur Operationalisierung und Erklärung von Akzeptanz
Effekte der Selbsteinstufung auf der Oben-Unten-Skala. Zur Bedarfsgewichtung des Haushaltsnettoeinkommens wurde die alte OECD-Skala verwendet (vgl. Anhang A2.2). Für die Bestimmung der Klassenlage wurde eine modifizierte Version des von Erikson und Goldthorpe (1992: 38ff.) eingeführten Klassenschemas verwendet.85 Insgesamt werden dabei sechs Klassenlagen unterschieden: Dienstklasse (service class), Angestellte mit Routinetätigkeiten (routine non-manual workers), Selbständige (petty bourgeoisie), Facharbeiter und Meister (skilled workers), an- und ungelernte Arbeiter (unskilled workers) sowie selbständige Landwirte und Arbeiter im primären Sektor (farmers & farm labourers). Ein solcher Einfluss kann auch vom Alter86 erwartet werden, jedoch nicht für alle Sicherungsbereiche gleichermaßen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass das Alter nur in dem Maße wohlfahrtsstaatliche Interessenlagen strukturiert, wie die Sicherungssysteme alters- bzw. lebensphasenspezifisch sind. Dafür sind zwei Fragen entscheidend: Ist ein Leistungsbezug erst ab einem bestimmten Alter möglich (z.B. Altersrente) oder ab einem bestimmten Alter ausgeschlossen (z.B. Leistungen der Arbeitslosenversicherung für Rentner)? Und: Wie stark wird man ab oder bis zu einer Altersgrenze zur Finanzierung der Sicherungsleistungen durch Steuern und Beiträge herangezogen? In diesem Sinne sind alle Sozialleistungen mehr oder weniger altersspezifisch, weil keine völlig gleichmäßig über alle Altersgruppen verteilt wird. Sicherungssysteme unterscheiden sich aber im Grad ihrer Altersspezifität. Grundsätzlich kann wohl davon ausgegangen werden, dass insbesondere die Gesetzliche Rentenversicherung und, wenn auch etwas weniger deutlich, die Gesetzliche Krankenversicherung, einen »Altersbias« haben, der zu Umverteilungen von jüngeren zu älteren Versicherten (bzw. zu »intertemporalen« Umverteilungen) führt. In umgekehrter Richtung gilt dies in ähnlicher Weise für Leistungen für Familien (und für den hier allerdings nicht berücksichtigten Bildungsbereich), während Leistungen der Sozialhilfe und 85
86
Das von Erikson, Goldthorpe und Portocarero (1979) entwickelte Klassenschema – oft auch kurz als EGP-Klassenschema bezeichnet – ist ein kategoriales Differenzierungsschema. Grundlage für die Unterscheidung unterschiedlicher Klassen ist dabei eine durch die Ähnlichkeit der beruflichen Tätigkeit begründete Gemeinsamkeit der Marklage und die dadurch bedingte Ähnlichkeit der Lebenschancen. Die ausführliche Version des Klassenschemas besteht aus insgesamt elf Kategorien (Erikson/Goldthorpe 1992: 36), die von Erikson und Goldthorpe (1992: 38ff.) zu sieben Kategorien zusammengefasst wurden. Das hier verwendete 6-stufige Schema entspricht weitgehend dem 7-stufigen Modell von Erikson und Goldthorpe, wobei jedoch die beiden Kategorien »selbständige Landwirte« und »Landarbeiter im primären Sektor« aufgrund der geringen Fallzahlen zu einer Kategorie zusammengefasst wurden (vgl. a. Anhang A2.2). Hier ist natürlich das chronologische Lebensalter gemeint. Klarer lassen sich Kausalvermutungen allerdings beim wohlfahrtsstaatlich (vor allem durch Ruhestandsregelungen und gesetzliche Schulpflicht) »definierten« oder »konstruierten« Alter formulieren. Die wohlfahrtsstaatlichen Altersgrenzen sind jedoch zunehmend aufgeweicht worden (z.B. durch Vorruhestandsregelungen) und haben zu einer allgemeinen Destandardisierung des Lebenslaufsregimes beigetragen.
4.3 Erklärungsfaktoren für die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme
85
der Arbeitslosenversicherung vor allem den mittleren Altersgruppen zugute kommen. Das Alter wird daher vor allem dann als Erklärungsfaktor herangezogen, wenn eine durch das Lebensalter bedingte Interessenlage plausibel erscheint. (b) Versorgungsklassenstatus Die individuelle Versorgungsklassenposition des Befragten muss als der wichtigste Parameter des Eigeninteresses am System der sozialen Sicherung angesehen werden, da sie darüber entscheidet, ob man zeitpunktbezogen oder dauerhaft durch die sozialen Sicherungssysteme belastet wird oder Leistungen bezieht. Vielleicht mit Ausnahme der Versorgungsklassenposition »Rentner«, die auch das Gesamtinteresse am Wohlfahrtsstaat in gewisser Weise prästrukturieren dürfte, macht es jedoch wenig Sinn, von einem allgemeinen Versorgungsklassenstatus auszugehen. Vielmehr sollte der Versorgungsklassenstatus systemspezifisch aufgefasst werden, sodass ein Befragter in den einzelnen Sicherungssystemen unterschiedliche Versorgungsklassenpositionen einnehmen kann (privilegierte und nicht-privilegierte) und zu entsprechend unterschiedlichen Akzeptanzurteilen bezüglich der einzelnen Sicherungssysteme kommt. Zur Messung der Versorgungsklassenstatus stehen vor allem zwei Variablen zur Verfügung. Zum einen ist dies der Leistungsbezug des Befragten. Hierzu liegen differenzierte Informationen zu einzelnen Leistungsarten vor, und zwar sowohl über den aktuellen als auch über den früheren Leistungsbezug. Die zweite Variable zur Erfassung der Versorgungsklassenposition des Befragten ist der Erwerbsstatus. Mit diesem können nicht nur relativ dauerhafte Versorgungsklassenlagen erfasst werden (Rentner, Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger), sondern auch der »Finanzierungsklassenstatus«, bei dem auch zwischen »Finanzierern« (bei den Sozialversicherungen die beitragspflichtigen Erwerbstätigen) und »Neutralen« (bei den Sozialversicherungen z.B. Beamte) unterschieden werden kann (für eine genauere Darstellung vgl. Anhang A2.2). (c) subjektive Interessendefinitionen Als subjektive Interessendefinitionen können alle Einschätzungen, Erwartungen und Präferenzen der Befragten gelten, die sich auf die eigene sozialpolitische Interessenlage beziehen. Sie können erheblich von der objektiven sozialpolitischen Lage abweichen, sind aber auch dann nicht unbedingt als einfache Fehleinschätzungen aufzufassen. Vielmehr kommen hierin auch grundlegende und legitime Vorstellungen darüber zum Ausdruck, was man als notwendig oder wünschenswert erachtet. In der vorliegenden Untersuchung wird auf zwei solcher subjektiven Indikatoren des sozialpolitischen Eigeninteresses zurückgegriffen. Der erste ist die individuelle Risikoaversion der Befragten. Der Messung der Risikoaversion liegt dabei die Überlegung zugrunde, dass es nicht allein die aktuelle Versorgungsklassenlage und die allgemeine soziale Lage sind, die das Interesse an
86
4 Zur Operationalisierung und Erklärung von Akzeptanz
den sozialen Sicherungssystemen bestimmen, sondern dass dieses auch durch die Erwartungen über den zukünftigen Leistungsbedarf (und eine entsprechende Veränderung der Verteilungsposition) beeinflusst wird. Abbildung 4.3: Faktorengruppe
Eigeninteresse (a) Soziale Lage
Mögliche Erklärungsfaktoren der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz Erklärungsfaktoren
Erläuterungen/Beispiele
Oben-Unten-Skala
wird als Schichtindikator verwendet
Haushalts(netto)einkommen
dient vor allem der Kontrolle der Oben-Unten-Skala
Alter des Befragten
insbes. bei stärker altersstrukturierten Sicherungssystemen
soziale Klasse
vereinfachtes EGP-Schema
(b) Versorgungsklassen
Versorgungsklassenposition des Befragten
(positive, konkurrierende) Versorgungsklassen sowie Versorgungs- vs. Finanzierungsklasse(n)
(c) subjektive Interessendefinitionen
»Risikoaversion«
setzt sich aus subjektiver Wahrscheinlichkeit und Bewertung eines längeren Leistungsbezugs zusammen
Reziprozitätserwartungen
misst ein stark generalisiertes (subjektives) Interesse
Gerechtigkeitsüberzeugungen
drei Items: Gleichheit (egalitaristische Gerechtigkeitsüberzeugung), Bedarfsgerechtigkeit und Leistungsgerechtigkeit
allgemeine Handlungsund Sozialorientierungen
hier drei Items: Eigenverantwortung, Solidarität und Reziprozitätsverpflichtung
»Leistungsempfängerbild«
zugeschriebene Leistungsempfängereigenschaften
fünf Eigenschaften: Bedürftigkeit, Anspruchsberechtigung, Unterstützungswürdigkeit, Missbrauch und Victimisierung
Kontextabhängige Erklärungsfaktoren, für die je nach Teilfragestellung unterschiedliche Erwartungen bestehen
Geschlecht
-
Bildung
drei Bildungsniveaus nach modifizierter CASMINKlassifikation; Interessen- oder kultureller Indikator
Landesteil
Ost-/Westdeutschland (nach Erhebungsgebiet)
Handlungs- und Wertorientierungen
Die individuelle Risikoaversion wird anhand von zwei Variablen gemessen: der subjektiven Wahrscheinlichkeit eines Leistungsbezugs bzw. eines »Schadens«, der zu einem Wechsel der Verteilungsposition führen würde, sowie der subjektiven Bewertung dieses Schadens« (zur Verknüpfung vgl. Anhang A2.2). Zur Messung der subjektiven Wahrscheinlichkeit eines Leistungsbezugs wurden die Befragten gebeten, auf einer endpunktbeschrifteten 11er-Skala (von »sehr unwahrscheinlich« bis »sehr wahrscheinlich«) für die Risiken chronische Erkrankung, Arbeitslosigkeit und Sozialhilfebezug anzugeben, für wie wahrscheinlich sie es halten, dass diese »Ereignisse« sie in den nächsten Jahren treffen. Die Bewertung der entsprechenden »Schä-
4.3 Erklärungsfaktoren für die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme
87
den« erfolgte ebenfalls auf einer endpunktbeschrifteten 11er-Skala, die von »sehr schlimm« bis »überhaupt nicht schlimm« reichte. Ein weitaus generalisierteres Interesse wird durch Reziprozitätserwartungen erfasst. Hier werden die Befragten danach gefragt, ob sie der Meinung sind, dass auch primäre Beitragszahler (Finanzierungsklasse) auf lange Sicht vom System der sozialen Sicherung profitieren. Aufgrund der Geltung von Reziprozitätsnormen und daran anknüpfender Verpflichtungen bewegen sich Reziprozitätserwartungen im Grenzbereich zwischen (reinen) Interessenorientierungen und normativen Überzeugungen. Durch ihre Eigenart, »anfällig« für stärkere Generalisierungen zu sein (und zwar sowohl in zeitlicher als auch in sozialer und sachlicher Hinsicht), ermöglicht eine Orientierung am Reziprozitätsprinzip zudem eine auch längere Zurückstellung unmittelbarer Eigeninteressen. Wie ich an anderer Stelle verdeutlicht habe (Ullrich 1999), sind das Reziprozitätsprinzip und an soziale Sicherungssysteme geknüpfte Reziprozitätserwartungen nicht zuletzt wegen dieser Eigenschaft für die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme zentral (für ähnliche Argumentationen s.a. Mau 2002 und Lessenich/Mau 2005). Die Messung der Reziprozitätserwartungen erfolgte mit einem Indikator, der die soziale Sicherung gerichtete Reziprozitätserwartungen in generalisierter Form erfasst. Diese bestehen dann nicht hinsichtlich konkreter Leistungen oder auch nur einzelner Sicherungsbereiche, sondern beziehen sich auf einen sowohl sachlich als auch zeitlich vagen Ausgleich im Rahmen der sozialen Sicherung (zur Frageformulierung s. Abb. 4.3). Die Reziprozitätserwartung wurde mittels einer endpunktbeschrifteten 6er-Skala von »stimme überhaupt nicht zu« bis »stimme voll und ganz zu« erfasst. (2) Handlungs- und Wertorientierungen Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass Akzeptanzurteile gegenüber sozialen Sicherungssystemen nicht nur von objektiven und subjektiven Eigeninteressen bestimmt werden, sondern auch von Wertüberzeugungen und allgemeinen Handlungsorientierungen. Schon bei den zuvor erläuterten generalisierten Reziprozitätserwartungen kann strenggenommen nicht mehr von einem reinen subjektiven Eigeninteresse ausgegangen werden. So gehört es geradezu zu den Wesensmerkmalen der Reziprozität, unterschiedliche, wenn nicht gar widersprüchliche Handlungsorientierungen zu kompatibilisieren (vgl. Gouldner 1960). Neben Reziprozitätserwartungen, die aber zumindest der Form nach zu den subjektiven Interessendefinitionen zu rechnen sind, werden zur Erklärung der Akzeptanzurteile zwei weitere Arten allgemeiner Handlungs- und Wertorientierungen herangezogen. Zum einen sind dies Gerechtigkeitsüberzeugungen, die an unterschiedlichen Kriterien der Verteilungsgerechtigkeit orientiert sind. Dass sich Gerechtigkeitsüberzeugungen auf die Akzeptanzurteile über wohlfahrtsstaatliche Institutionen auswirken
88
4 Zur Operationalisierung und Erklärung von Akzeptanz
können, scheint naheliegend. Denn soziale Sicherungssysteme berühren in vielfältiger Form Verteilungsfragen – und dies nicht nur bei der Leistungsgewährung, sondern auch bei der Verteilung der Finanzierungslasten. Die Stärke des Einflusses auf die Akzeptanzurteile und vor allem, welche Gerechtigkeitsüberzeugungen einen Einfluss ausüben, wird dabei vermutlich variieren. Entscheidend dürften hierfür das Umverteilungsvolumen und die jeweilige »Gerechtigkeitsstruktur« der Sicherungssysteme sein, die unterschiedlichen Verteilungslogiken folgen. Zur Erfassung der Gerechtigkeitsüberzeugungen wurden drei Items verwendet, die jeweils die Orientierung auf eines der drei zentralen Kriterien der Verteilungsgerechtigkeit »Gleichheit«, »Bedarf/Bedürftigkeit« und »Leistung« (vgl. a. Miller 1976) messen. Bei der Formulierung der Items wurde darauf geachtet, dass mit diesen grundlegende, allgemeine Gerechtigkeitsorientierungen und nicht konkrete Einstellungen erfasst werden.87 Die Orientierung an Gerechtigkeitskriterien wurde mit einer endpunktbeschrifteten 6er-Skala (von »stimme überhaupt nicht zu« bis »stimme voll und ganz zu«) gemessen. Bei der zweiten Gruppe von grundlegenden Handlungsorientierungen handelt es sich um allgemeine Vorstellungen und Regeln über den Umgang mit anderen bzw. über das Verhältnis zu einem größeren Kollektiv. Sie bewegen sich im Bedeutungsfeld der Dimensionen »Individualismus – Kollektivismus« und »Egoismus – Solidarität« und werden im Folgenden zusammenfassend als Handlungs- und Sozialorientierungen bezeichnet. Ingesamt werden drei allgemeine Handlungs- und Sozialorientierungen in den späteren Analysen verwendet. Hierbei handelt es sich um die Betonung von Solidarität (»Solidaritätsorientierung«), die Anerkennung des verpflichtenden Charakters von erhaltenen Leistungen (»Reziprozitätverpflichtung«) und die Befürwortung von »Eigenverantwortung«. Auch die Handlungs- und Sozialorientierungen wurden jeweils mit einer endpunktbeschrifteten 6er-Skala erfasst, die von »stimme überhaupt nicht zu« bis »stimme voll und ganz zu« reicht. Die Items wurden wiederum so formuliert, dass grundlegende Handlungsorientierungen erfasst werden, die keinen Bezug zur Akzeptanzthematik aufweisen. Wie für die Gerechtigkeitsüberzeugungen kann auch für die allgemeinen Handlungs- und Sozialorientierungen angenommen werden, dass sie einen erheblichen Einfluss auf die Akzeptanzurteile gegenüber sozialen Sicherungssystemen ausüben können. Ebenso gilt aber auch hier, dass dieser Einfluss unterschiedlich stark sein kann und sowohl akzeptanzverstärkend oder -mindernd sein kann. So ist z.B. anzunehmen, dass eine starke »Solidaritätsorientierung« vor allem bei Sicherungssystemen, die stärker am Solidarprinzip orientiert sind (Gesetzliche Krankenversicherung, Sozialhilfe), zu einer höheren Akzeptanz führt. 87
Zur Unterscheidung von (grundlegenden) Gerechtigkeitsurteilen und (spezifischen, kontextnahen) Gerechtigkeitseinstellungen vgl. Liebig (2002).
4.3 Erklärungsfaktoren für die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme
89
(3) Eigenschaften der Leistungsempfänger Neben den unterschiedlichen Parametern des Eigeninteresses und allgemeinen Wertund Handlungsorientierungen wird in dieser Untersuchung noch eine dritte Gruppe von Variablen als mögliche Erklärungsfaktoren wohlfahrtsstaatlicher Akzeptanz herangezogen. Hierbei handelt es sich um die Eigenschaften, die bei Leistungsempfängern wahrgenommen werden bzw. die ihnen zugeschrieben werden.88 Dass die Wahrnehmung von Leistungsempfängern einen Einfluss auf die Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen hat, ist nicht nur theoretisch plausibel, sondern konnte bereits auch empirisch nachgewiesen werden (vgl. u.a. Cook/Barrett 1992). Unzweifelhaft scheint, dass sich ein positives Empfängerbild akzeptanzförderlich, ein negatives dagegen akzeptanzabträglich auswirkt. Weniger klar ist dagegen, welche wahrgenommenen oder zugeschriebenen Eigenschaften der Leistungsempfänger für deren Beurteilung und für die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme entscheidend sind. Aufgrund der vorliegenden empirischen Befunde sowie allgemeiner theoretischer Überlegungen, wurden zur Erfassung des Leistungsempfängerbildes folgende Eigenschaftsdimensionen einbezogen:
die allgemeine soziale Wertschätzung (Unterstützungswürdigkeit) der unterschiedlichen »Leistungsempfänger-Grundgesamtheiten« (ältere Menschen, Kranke, Arme etc.); die Bedürftigkeit der Leistungsempfänger (Gelten diese als »wirklich« bedürftig?); die Frage der Anspruchsberechtigung (z.B. ein Anspruchserwerb durch Beitragszahlungen); die »Missbrauchsvermutung« (Vorkommen von Leistungsmissbrauch); die Victimisierung der Leistungsempfänger (Wird diesen eine Mitschuld an ihrer Situation gegeben?).
Mit Ausnahme des Bereichs »Familie«89 stehen für alle Sicherungssysteme Indikatoren für mindestens vier dieser Eigenschaftsdimensionen zur Verfügung. Dazu 88
89
Allgemein betrachtet nehmen Leistungsempfängereigenschaften bei der Erklärung der Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme einen Sonderstatus als intervenierende (oder endogene) Variablen ein. Sie sind nicht nur wichtige Erklärungsfaktoren der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz, sondern selbst ein erklärungsbedürftiges Phänomen. Hier wird jedoch davon ausgegangen, dass die Wahrnehmung der Leistungsempfänger einen von den anderen Erklärungsfaktoren unabhängigen Einfluss auf die Akzeptanzurteile ausübt. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass Familien (und Alleinerziehende) als Leistungsempfängertyp deutlich weniger in Erscheinung treten bzw. weniger typisiert sind als die Leistungsempfänger anderer Sicherungsbereiche. Wesentlich ist hierin auch eine Folge des geringeren Institutionalisierungsgrads familienpolitischer Leistungen zu sehen.
90
4 Zur Operationalisierung und Erklärung von Akzeptanz
wurden den Befragten Aussagen über die Leistungsempfänger vorlegt, zu denen sie auf einer endpunktbeschrifteten 6er-Skala (von »stimme überhaupt nicht zu« bis »stimme voll und ganz zu«) Stellung nehmen konnten (zu den Itemformulierungen s. Anhang A2.2). Variablen, die »proxy« für unterschiedliche Erklärungsfaktoren sind Neben den bisher genannten Faktoren werden zur Erklärung der Akzeptanzurteile gegenüber dem Wohlfahrtsstaat drei soziodemografische Merkmale herangezogen, die als »proxy« für unterschiedliche Einflussgrößen angesehen werden und daher in Abhängigkeit von der jeweiligen Fragestellung unterschiedlich interpretiert werden. Das erste dieser Merkmale ist die formale Bildung. Die Höhe der formalen Bildung kann zum einen als Indikator für kulturelle Eigenschaften wie Toleranz, Empathiefähigkeit, Permissivität und soziales Bewusstsein angesehen werden (vgl. u.a. Bobo/Licari 1989; Coenders/Scheepers 2003). Die allgemeine Vermutung ist hier, dass diese Eigenschaften positiv mit dem Bildungsniveau korreliert sind und dass sie mit einer höheren Solidaritätsbereitschaft verbunden sind, die nicht durch das Eigeninteresse motiviert ist. Eine hohe Bildung sollte daher zu einer höheren Akzeptanz von Sicherungssystemen und Leistungsempfängergruppen führen, bei denen kein direktes Eigeninteresses (an den Empfang von Leistungen) besteht (z.B. bei Beamten und der Sozialhilfe). Andererseits ist Bildung aber in erster Linie eine Variable des Humankapitals. Höhere Bildung sollte daher zum einen mit besseren Kenntnissen über sozialpolitische Zusammenhänge und zum anderen mit einem höheren Selbsthilfepotenzial verbunden sein. Im ersten Fall würde dies bedeuten, dass mit höherer formaler Bildung bessere »Einsichten« über sozialpolitische Realitäten und Machbarkeiten einhergehen; der zweite bedeutet, dass mit dem Bildungsgrad auch die »Marktfähigkeit« steigt und dass daher Angehörige der Bildungsunterschichten ein stärkeres Interesse am Festhalten an wohlfahrtsstaatlichen Absicherungsformen haben müssten. Unabhängig von anderen Schichtungsfaktoren wie dem Einkommen sollten beide Bildungskorrelate – bessere Kenntnisse sozialpolitischer Zusammenhänge und das größere Selbsthilfepotenzial – dazu führen, dass bei höherem Bildungsniveau ein hohes staatliches Engagement kritischer beurteilt wird und dass parallel dazu eine höhere Aufgeschlossenheit gegenüber »marktlichen« Elementen besteht als bei einem geringen formalen Bildungsgrad. Zur Bestimmung des Bildungsgrads wurde eine aktualisierte Version der CASMIN-Klassifikation90 verwendet (vgl. Brauns/Steinmann 1999). Insgesamt werden 90
Die CASMIN-Bildungsklassifikation wurde zur internationalen Vergleichbarkeit von Bildungsabschlüssen entwickelt (vgl. König et al 1987). Mittlerweile liegt eine aktualisierte Fassung der CASMIN-Klassifikation vor, in der neuere Veränderungen in den Bildungssystemen berücksichtigt werden (vgl. Brauns et al. 2003).
4.3 Erklärungsfaktoren für die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme
91
dabei neun Bildungsgradkategorien unterschieden, die hier zu analytischen Zwecken zu drei Kategorien zusammengefasst wurden. Diese entsprechen der übergeordneten Gliederungsebene der CASMIN-Klassifikation und werden als hohe, mittlere und niedrige Bildung bezeichnet (vgl. Anhang A2.2). Die zweite Variable, für die die Eingangsbemerkungen zutreffen, ist der »Landesteil« mit den beiden Ausprägungen Ost- und Westdeutschland. Zunächst gilt hier wie bei der Bildungsvariable, dass Unterschiede zwischen ost- und westdeutschen Befragten auch auf die unterschiedliche sozialstrukturelle Zusammensetzung der beiden Landesteile zurückzuführen sind. Sofern diese sozialstrukturellen Unterschiede durch den Einbezug von Interessenindikatoren, wie vor allem dem Versorgungsklassenstatus, kontrolliert werden können, lassen sich verbleibende Unterschiede zwischen ost- und westdeutschen Befragten am besten als kulturelle Unterschiede erklären. So wurde bereits auf die unterschiedlichen sozialpolitischen Traditionen in den beiden Landesteilen hingewiesen (Roller 1997). Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen sind demnach insbesondere bei der Akzeptanz der Wohlfahrtsstaatlichkeit (gewünschter Umfang der wohlfahrtsstaatlichen Absicherung) anzunehmen. Vor allem etatistische Neigungen, die im Staat den Hauptadressaten einer Risikoabsicherung sehen, sollten sich eher bei ostdeutschen Befragten finden lassen. Ähnliches lässt sich für die »erweiterte Wohlfahrtsstaatlichkeit« vermuten, nämlich dass Ostdeutsche im stärkeren Maße als Westdeutsche eine Ausweitung des Wohlfahrtsstaates auf Bereiche präferieren, die nicht zum Kernbestand des (westdeutschen) Sozialversicherungsstaates gehören.91 Die dritte Variable, die als proxy für unterschiedliche Einflussfaktoren gelten kann, ist das Geschlecht der Befragten. Vor allem aufgrund der geringen Eingebundenheit in den Arbeitsmarkt und durch die stärkere Belastung mit den Aufgaben der Kindererziehung unterscheiden sich die sozialpolitischen Interessenlagen von Männern und Frauen oft deutlich. Dabei sollten sich die geringere Arbeitmarktnähe und eine schwächere »Erwerbsbiografieorientierung« von Frauen insbesondere bei der Beurteilung erwerbsarbeitsabhängiger Leistungen auswirken. Komplementär können für Frauen auch eine »Familienorientierung« angenommen werden und entsprechende Unterschiede zwischen Männern und Frauen bei der Beurteilung familienpolitischer Leistungen. Männer und Frauen unterscheiden sich aber nicht nur in ihren allgemeinen sozialpolitischen Interessenlagen. Durch geschlechtsspezifische Sozialisationserfahrungen und Rollenerwartungen können sich auch geschlechtstypische Wertmuster entwickeln. Nach verbreiteten Vorstellungen sind Frauen z.B. eher an Werten wie »Fürsorge« und »Toleranz« orientiert, Männer demgegenüber an Werten wie »Ge91
Der »Landesteil« wurde durch das Bundesland erfasst (Ost- und Westberlin getrennt), in dem das Interview durchgeführt wurde.
92
4 Zur Operationalisierung und Erklärung von Akzeptanz
rechtigkeit« und »Leistung«.92 Solche geschlechtstypischen Unterschiede bei grundlegenden Wertorientierungen sind umstritten und oft nur schwer nachzuweisen. Ohne hieraus spezifische Hypothesen ableiten zu wollen, sollte aber die Möglichkeit, dass sich geschlechtstypische Wertmuster auf die Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Sicherungssysteme auswirken, in Betracht gezogen und entsprechend »kontrolliert« werden. Mit der differenzierten Erfassung der verschiedenen sozialpolitischen Interessenparameter, allgemeiner Handlungsorientierungen sowie der wahrgenommenen (bzw. zugeschriebenen) Eigenschaften der Leistungsempfänger sollten hinreichend viele potenzielle Erklärungsfaktoren für eine tragfähige Erklärung der Akzeptanzurteile gegenüber den wohlfahrtsstaatlichen Institutionen zur Verfügung stehen. Bei der Behandlung spezifischer Fragen werden zudem selektiv weitere Erklärungsfaktoren ergänzt (für eine vollständige Übersicht der verwendeten Erklärungsfaktoren s. A2.2 und A2.3) Alle hier beschriebenen Erklärungsfaktoren, und dies gilt ausdrücklich auch für die wahrgenommenen Leistungsempfängereigenschaften, werden dabei in den späteren Analysen zur Erklärung von Akzeptanzurteilen (Kapitel 6) gleichberechtigt als unabhängige Variablen verwendet. Die in Abbildung 4.4 dargestellte Gesamtstruktur ist dabei weniger im Sinne eines expliziten Erklärungsmodells, sondern als übergreifendes Orientierungsschema zu verstehen.
Abbildung 4.4:
Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen: allgemeines Orientierungsschema
sozialpolitische Interessenlage (allgemeine soziale Lage; Versorgungsklassenstatus; subjektive Interessendefinitionen)
allgemeine Handlungs- und Wertorientierungen
Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates (1) Akzeptanz des wohlfahrtsstaatlichen Status quo (2) Akzeptanz der Wohlfahrtsstaatlichkeit
Wahrnehmung der Leistungsempfänger
92
Ein bekanntes Beispiel ist hier die Kritik Gilligans (1982) an Kohlbergs Theorie der Moralentwicklung.
5 Höhe und Verteilung der Akzeptanz in der Bundesrepublik Deutschland
Das Ziel der folgenden Abschnitte besteht darin, ein möglichst genaues und umfassendes Bild über die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates in Deutschland zu gewinnen. Zu diesem Zweck werden beide Akzeptanzdimensionen (vgl. Kap. 4.2), die Akzeptanz des bestehenden wohlfahrtsstaatlichen Arrangements (oder auch des »wohlfahrtsstaatlichen Status quo«) und die Präferenzen bezüglich der Wohlfahrtsstaatlichkeit – analysiert. Beide Akzeptanzdimensionen werden für die fünf unterschiedlichen Sicherungssysteme bzw. -bereiche (vgl. 4.1) untersucht. Darüber hinaus werden allgemeinere Akzeptanzurteile und Präferenzen bezüglich der Wohlfahrtsstaatlichkeit, die nicht einzelnen Aufgabenbereichen zugerechnet werden können, analysiert. In Abschnitt 5.1 wird zunächst die Beurteilung der bestehenden wohlfahrtsstaatlichen Institutionen betrachtet. Der zweite Abschnitt (5.2) befasst sich dann mit der Akzeptanz der Wohlfahrtsstaatlichkeit, wiederum unterteilt nach den unterschiedlichen Sicherungsbereichen. Allgemeinere, über den bereits institutionalisierten Kernbestand hinausgehende Präferenzen hinsichtlich der Wohlfahrtsstaatlichkeit werden zusammenfassend in Abschnitt 5.3 erläutert. Mit diesen auf drei Ebenen angelegten Akzeptanzanalysen sollte es gelingen, ein differenziertes Bild der Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates in Deutschland zu gewinnen. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei Unterschieden zwischen Ost- und Westdeutschen. Es wird untersucht, inwiefern bei der Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates Trennungslinien zwischen den beiden Landesteilen bestehen und ob man (immer noch?) von zwei unterschiedlichen Wohlfahrtskulturen in Deutschland auszugehen hat. Andere Unterschiede oder gar Gegensätze zwischen Bevölkerungsteilen und sozialen Kategorien werden – wie beim Erwerbsstatus, der Schichtzugehörigkeit und dem Alter – in gesonderten Abschnitten (in Kapitel 6) behandelt. 5.1 Akzeptanz des »Status quo« Wie in Kapitel 4.2 dargelegt wurde, kann bei der Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates zwischen zwei grundlegenden Dimensionen unterschieden werden: der Akzeptanz der bestehenden wohlfahrtsstaatlichen Institutionen und der gewünschten Wohlfahrtsstaatlichkeit. Im Folgenden soll zunächst die Akzeptanz der bestehenden wohl-
94
5 Höhe und Verteilung der Akzeptanz in der Bundesrepublik Deutschland
fahrtsstaatlichen Institutionen untersucht werden. Dies geschieht für die Bereiche Alterssicherung (bzw. Gesetzliche Rentenversicherung), Gesundheit (Gesetzliche Krankenversicherung), Arbeitslosigkeit (Arbeitslosenversicherung), Armut (Sozialhilfe) und Familie (u.a. Kindergeld und Erziehungsgeld). Die Akzeptanzanalyse stützt sich in erster Linie auf die Verteilung der Häufigkeiten bei der Beurteilung der Sicherungssysteme, wobei in den Grafiken die Häufigkeiten für Ost- und Westdeutsche jeweils getrennt dargestellt werden. Für den Vergleich zwischen den einzelnen Sicherungssystemen werden die »positiven« Akzeptanzwerte herangezogen. Ergänzend wird bei der Interpretation der Ergebnisse auch auf Mittelwerte und Mittelwertdifferenzen zwischen Ost- und Westdeutschen zurückgegriffen. Zur Beurteilung der Akzeptanz des Status quo der wohlfahrtsstaatlichen Sicherung stehen zwei Arten von Indikatoren zur Verfügung. Wie in Kapitel 4.2 erläutert wurde, handelt es sich dabei um Fragen nach dem gesellschaftlichen Wert der einzelnen Sicherungssysteme (Institutionenakzeptanz) und zum allgemeinen Vertrauen in die sozialen Sicherungssysteme. Institutionenakzeptanz Zunächst zur Institutionenakzeptanz der sozialen Sicherungssysteme. Betrachtet man die Beurteilung des gesellschaftlichen Wertes der Gesetzlichen Krankenversicherung, fällt bei der Verteilung der Häufigkeiten (vgl. Abb. 5.1a) zunächst auf, dass die Institutionenakzeptanz – zumindest in ihrer groben Struktur – annähernd »normalverteilt« ist. Dies bedeutet, dass die Gesetzliche Krankenversicherung bei diesem, die allgemeine Akzeptanz eines Sicherungssystems am besten erfassenden Indikator eher »durchschnittlich« beurteilt wird: Positive und negative Beurteilungen halten sich in etwa die Waage, wenn auch bei einem leichten Übergewicht der positiven Einschätzungen. 48,3 Prozent der Befragten beurteilen den gesellschaftlichen Wert der GKV als gut, aber immerhin 35,2 Prozent sind der gegenteiligen Ansicht; und nur 9,2 Prozent der Befragten beurteilen die Gesetzliche Krankenversicherung als »sehr gut« (Werte 9 bis 10 auf Skala von 0 bis 10). Der Mittelwert93 beträgt 5,35 für Gesamtdeutschland und liegt damit nur wenig über dem theoretischen Mittelwert (5,00). Die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen sind dabei sehr gering. Die Mittelwertdifferenz beträgt nur 0,11 Skalenpunkte, wobei die Ostdeutschen die Gesetzliche Krankenversicherung insgesamt weniger günstig beurteilen als die Westdeutschen. Schon dieses erste Ergebnis zeigt, dass die Akzeptanz der Gesetzlichen Krankenversicherung nicht sehr hoch ist. Denn auch wenn es keine objektiven »Akzeptanz(wert)grenzen« gibt, so lässt sich eine im Durchschnitt nur knapp positive Beurteilung des gesellschaftlichen Wertes der Gesetzlichen Krankenversicherung kaum 93
Sofern nicht anders angegeben, ist hiermit immer das arithmetische Mittel gemeint.
95
5.1 Akzeptanz des »Status quo«
als »überragende« Akzeptanz interpretieren. (So sind immerhin 4,5 Prozent der Bevölkerung sogar der Meinung, dass die Gesetzliche Krankenversicherung für die Gesellschaft »sehr schlecht« ist.) Dieses Ergebnis steht damit in einem deutlichen Kontrast zu den Ergebnissen früherer Untersuchungen, die für soziale Krankenversicherungen und nationale Gesundheitsdienste überwiegend eine hohe bis sehr hohe Akzeptanz feststellen (vgl. Kap. 3). Abbildung 5.1a:
Gesetzliche Krankenversicherung: Institutionenakzeptanz (Angaben in Prozent) 19,8
20
18
15,8
15,7 16
13,4
14
12,8
12
12,4
12,1
11,9 11,6
11,2
10,5 10
9,3
8
Westdeutsche Ostdeutsche
7,0 6,4
5,7
6
4,8
4,5
4,1 4
1,3
2
0
3,9 3,2
2,7
Sehr schlecht
1
2
3
4
5
6
7
8
9
Sehr gut
N=1519
Auch bei der Institutionenakzeptanz der Gesetzlichen Rentenversicherung fällt zunächst auf, dass die Häufigkeiten relativ gleichmäßig verteilt sind (vgl. Abb. 5.1b). Es besteht somit unter den Befragten alles andere als ein Konsens über den gesellschaftlichen Wert der Rentenversicherung. Die Beurteilung des gesellschaftlichen Wertes fällt hier insgesamt sogar noch etwas schlechter aus als bei der Gesetzlichen Krankenversicherung, sodass der Gesamtmittelwert (4,64) sogar unter dem theoretischen Mittelwert liegt. Insgesamt gibt sich nur wenig mehr als ein Drittel der Befragten (37,2 %) vom gesellschaftlichen Wert der Gesetzlichen Rentenversicherung überzeugt, während immerhin 47 Prozent meinen, dass die Gesetzliche Rentenversicherung eher »schlecht« für die Gesellschaft sei.94 Im Unterschied zur Beurteilung der Gesetzlichen Krankenversicherung veranschlagen die westdeutschen Befragten dabei den gesellschaftlichen Wert der Rentenversicherung noch etwas geringer als die ostdeut94
Wie anhand der weiteren Akzeptanzindikatoren noch deutlich wird, ist diese kritische Sicht der Rentenversicherung als Institution vermutlich auf die Wahrnehmung eines Leistungsdefizits zurückzuführen, nicht aber auf Zweifel an der Notwendigkeit einer »staatlichen« Rentenversicherung.
96
5 Höhe und Verteilung der Akzeptanz in der Bundesrepublik Deutschland
schen, wobei der Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschen wiederum unbedeutend ist (Mittelwertdifferenz: 0,19). Abbildung 5.1b:
Gesetzliche Rentenversicherung: Institutionenakzeptanz (Angaben in Prozent)
20
18,2 18
16
15,1
14
13,0
12,7 11,4 11,4
12
13,0 11,3
11,0 10,5
9,8
10,1
9,4
10
Westdeutsche Ostdeutsche
8,1 7,2
8
5,8
5,8
6
3,6 3,5 3,2
4
3,2 2,6
2
0
Sehr schlecht
1
2
3
4
5
6
7
8
9
Sehr gut
N=1483
Ein ähnliches Bild ergibt sich für die Institutionenakzeptanz der Arbeitslosenversicherung (Abb. 5.1c). Wiederum liegt der Gesamtmittelwert (4,85) unter dem theoretischen. Auch hier sind also mehr Befragte von einer »schlechten« Wirkung der Arbeitslosenversicherung überzeugt (41,3 %) als von einer positiven (40,9 %), auch wenn der Unterschied hier sehr gering ist. Auffällig ist zudem der relativ große Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschen. Die ostdeutschen Befragten schätzen dabei den gesellschaftlichen Wert der Arbeitslosenversicherung deutlich niedriger ein. Nur knapp ein Drittel der ostdeutschen Befragten (33,1 %) ist von einer positiven Wirkung überzeugt (bei den Westdeutschen sind es immerhin noch 42,9 Prozent). Für die Sozialhilfe (Abb. 5.1d) ergibt sich eine ähnliche Verteilung wie bei der Arbeitslosenversicherung. Während 40,7 Prozent der Befragten ihr einen positiven Wert zubilligen, sind immerhin 41,3 Prozent vom Gegenteil überzeugt. Bei der Einschätzung der Sozialhilfe ist zudem eine noch größere Differenz zwischen ostdeutschen und westdeutschen Befragten festzustellen. Bei einem insgesamt etwas höheren Mittelwert (4,91) beträgt die Mittelwertdifferenz zwischen Ostdeutschen (4,26) und Westdeutschen (5,08) immerhin 0,82 Skalenpunkte. Der Sozialhilfe wird also etwas eher eine positive Funktion zuerkannt als der Renten- und der Arbeitslosenversicherung. Wie die Ergebnisse zu den anderen Akzeptanzindikatoren zeigen (s.u.),
97
5.1 Akzeptanz des »Status quo«
wäre es jedoch voreilig, hieraus auf eine größere Akzeptanz der Sozialhilfe zu schließen. Offensichtlich scheint aber, dass insbesondere die Unzufriedenheit mit der Rentenversicherung größer ist. Abbildung 5.1c:
Arbeitslosenversicherung: Institutionenakzeptanz (Angaben in Prozent)
20
18,4 18
15,9 15,5
16
14,9
14
13,1 12,1
12
11,3
10,7
10,3
10
9,2
8
Westdeutsche Ostdeutsche
8,6
8,5
8,2 7,2
7,2 6,5
6,2
6
4,2 3,3 3,1
4
3,4 2,1
2
0
Sehr schlecht
1
2
3
4
5
6
7
8
9
Sehr gut
N=1421
Abbildung 5.1d:
Sozialhilfe: Institutionenakzeptanz (Angaben in Prozent)
20
19,1
18
16
13,4
14
11,7
11,3
11,7
12
11,3
11,5 11,3 10,9
10,6
10,0
9,8
10
8,5
Westdeutsche Ostdeutsche
8,5
8,3
8
6
5,0
5,3
5,0
5,1 3,9
4,2 3,5
4
2
0
Sehr schlecht
N=1373
1
2
3
4
5
6
7
8
9
Sehr gut
98
5 Höhe und Verteilung der Akzeptanz in der Bundesrepublik Deutschland
Die Leistungen für Familien sind neben der Gesetzlichen Krankenversicherung der einzige Bereich, bei dem die positiven Einschätzungen die negativen überwiegen (Mittelwert: 5,68); und nur hier gibt es sogar eine »absolute Mehrheit« der Befragten (53,5 %), die von einem positiven gesellschaftlichen Wert ausgeht (vgl. Abb. 5.1e). Die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen sind wiederum recht deutlich, wenn auch geringer als bei der Institutionenakzeptanz der Sozialhilfe oder der Arbeitslosenversicherung. Sie zeigen, dass mit Ausnahme der Gesetzlichen Rentenversicherung durchgehende Muster einer kritischeren Einschätzung durch ostdeutsche (Mittelwert 5,46) als durch westdeutsche Befragte (5,73) zu erkennen sind. Abbildung 5.1e:
Leistungen für Familien: Institutionenakzeptanz (Angaben in Prozent)
18
16,3 16
15,3 14,2
14,2
14,0
14
12,5 12
11,4 10,4
10
8,8
9,7
9,7
9,2 Westdeutsche Ostdeutsche
8,1 7,6
8
6,9
6
5,2
5,6
5,4
5,6
4,8 4
2,9 2,1 2
0
Sehr schlecht
1
2
3
4
5
6
7
8
9
Sehr gut
N=1444
Das Auffälligste an den Ergebnissen zur Institutionenakzeptanz ist zweifellos die äußerst geringe Einschätzung des gesellschaftlichen Wertes für alle hier erfragten Sicherungssysteme. Bei drei der fünf Akzeptanzobjekte (Gesetzliche Rentenversicherung, Arbeitslosenversicherung und Sozialhilfe) ist die Institutionenakzeptanz sogar negativ, d.h. eine relative Mehrheit der Befragten ist hier jeweils der Ansicht, dass diese Sicherungssysteme für die Gesellschaft »schlecht« sind. Dieses Ergebnis ist zumindest überraschend (und wenn man so will: auch »schockierend«). Gewiss spricht einiges dafür, die negativen Urteile nicht wörtlich zu nehmen und »schlecht für die Gesellschaft« im Sinne von »geringer Wert für die Gesellschaft« zu interpretieren. Aber nicht einmal dann kann angesichts des Umstandes, dass mit Ausnahme der Leistungen für Familien weniger als die Hälfte der
99
5.1 Akzeptanz des »Status quo«
Befragten vom Wert der Sicherungssysteme überzeugt ist, nicht von einer hohen Akzeptanz der wohlfahrtsstaatlichen Institutionen gesprochen werden. Abbildung 5.1f:
Positive Beurteilungen des »gesellschaftlichen Wertes« im Vergleich (Angaben in Prozent)
Gesetzliche Krankenversicherung
48,3
37,2
Gesetziche Rentenversicherung
40,9
Arbeitslosenversicherung
40,7
Sozialhilfe
53,5
Leistungen für Familien
20
25
30
35
40
45
50
55
60
Auch die Unterschiede zwischen den Sicherungssystemen (Abb. 5.1f) entsprechen nicht den Erwartungen auf der Basis früherer Forschungsergebnisse. Überraschend ist dabei vor allem die sehr geringe Institutionenakzeptanz der Gesetzlichen Rentenversicherung, wo Alterssicherungssysteme sonst doch als besonders beliebt gelten (vgl. Ullrich 2000a).95 Auf der anderen Seite sind die Akzeptanzwerte für die Sozialhilfe – sonst erfahren vergleichbare Sicherungssysteme die geringste Unterstützung (und dies meist mit deutlichem Abstand) – im Vergleich zu den anderen Sicherungssystemen eher hoch. In beiden Fällen könnte eine mögliche Erklärung lauten, dass hier – ganz im Sinne der Intentionen bei der Entwicklung der Akzeptanzindikatoren (vgl. 4.2) – tatsächlich die konkreten wohlfahrtsstaatlichen Institutionen beurteilt werden und nicht Wunschvorstellungen vom Wohlfahrtsstaat; und deren Beurteilung fällt womöglich umso schlechter aus, je weiter Wunsch und Wirklichkeit auseinander klaffen.
95
Als Hinweis auf eine skeptische Wahrnehmung der Gesetzlichen Rentenversicherung kann aber die gerade im internationalen Vergleich geringe Zustimmung für höhere Ausgaben bei der Alterssicherung angesehen werden, die in den ISSP-Modulen »Role of Government I und II« (1990 und 1996) festzustellen ist.
100
5 Höhe und Verteilung der Akzeptanz in der Bundesrepublik Deutschland
Mit Ausnahme der Gesetzlichen Rentenversicherung, die ohnehin die schlechtesten »Noten« bekommt, urteilen Ostdeutsche über die zentralen Wohlfahrtsinstitutionen stets kritischer als die Westdeutschen. Über die Gründe hierfür kann an dieser Stelle nur spekuliert werden. Denkbar sind u.a. enttäuschte Erwartungen, kulturelle Traditionen und eine größere Abhängigkeit von Sozialleistungen. Zu beachten ist jedenfalls auch bei den Unterschieden zwischen ost- und westdeutschen Befragten, dass es bei der Institutionenakzeptanz um die Beurteilung des wohlfahrtsstaatlichen Status quo geht und nicht um allgemeine Präferenzen hinsichtlich der sozialen Sicherung. Systemvertrauen Wie unterscheiden sich diese Ergebnisse nun von denen zum Vertrauen in soziale Sicherungssysteme, das für die vier hoch institutionalisierten Sicherungssysteme (Gesetzliche Krankenversicherung, Gesetzliche Rentenversicherung, Arbeitslosenversicherung und Sozialhilfe) erfragt wurde? Zunächst zum Vertrauen in die Gesetzliche Krankenversicherung. Beim Blick auf die Häufigkeitsverteilung (Abb. 5.2a) fällt hier auf, dass das Misstrauen das Vertrauen offenbar überwiegt. Nur 42,6 Prozent der Befragten sind von der Zuverlässigkeit der Gesetzlichen Krankenversicherung überzeugt; entsprechend (da es keine Mittelkategorie gibt) haben 57,4 Prozent kein Vertrauen in die Gesetzliche Krankenversicherung. Noch deutlicher wird dieses »Misstrauensvotum«, wenn man die Extremwerte betrachtet: So beantworten die Frage, ob man sich in Zukunft auf die Gesetzliche Krankenversicherung verlassen könne, nur 6,7 Prozent der Befragten mit »Ja, auf jeden Fall« und immerhin mehr als doppelt so viele (15,8 %) mit »Nein, auf keinen Fall«. Damit sind die Vertrauenswerte hier noch niedriger als bei der Beurteilung der Institutionenakzeptanz. Waren dort immerhin noch mehr von einem solchem Wert der Gesetzlichen Krankenversicherung überzeugt als vom Gegenteil, überwiegen bei der »Vertrauensfrage« ganz eindeutig die skeptischen Einschätzungen. Die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen sind hier dagegen praktisch bedeutungslos. Angesichts der kritischen Beurteilung des gesellschaftlichen Wertes der Rentenversicherung kann es nicht mehr sehr überraschen, dass auch das Vertrauen in die Gesetzliche Rentenversicherung überaus gering ist. Insgesamt bejaht nur ein knappes Viertel der Befragten die Frage, ob man sich auf die Gesetzliche Rentenversicherung verlassen könne (und nur 4,6 Prozent zeigen sich davon sehr überzeugt). Damit ist das Vertrauen in die Rentenversicherung noch deutlich geringer als das in die Gesetzliche Krankenversicherung. Das Vertrauen (bzw. Misstrauen) ist dabei in Ostund Westdeutschland ungefähr gleich groß.
101
5.1 Akzeptanz des »Status quo«
Abbildung 5.2a:
Systemvertrauen (Angaben in Prozent)
Gesetzliche Krankenversicherung
Gesetzliche Rentenversicherung
55
46,9
50
50
41,8 40,9
45
45
36,6 40
40
33,1 35
35
30
30
25 20
29,5 26,6 19,4
25
15,2 17,9
17,9 20
15
15
6,4
10
8,1
4,2
10
5 0
49,7
55
5,8
5
nein, auf keinen Fall
eher nein
eher ja
ja, auf jeden Fall
N = 1498
0
Westdeutsche
nein, auf keinen Fall
eher nein
eher ja
ja, auf jeden Fall
Ostdeutsche
N = 1494
Arbeitslosenversicherung
Sozialhilfe
52,2 55
55
47,4
50
50
42,5 43,1
45
45
40
40
31,4
35
23,7
30
30
21,6
21,6
25 20
35,9
35
27,1
25
17,2
20
15
15,8
15
4,0
10
4,7
5,7
10
5
6,0
5
0
nein, auf keinen Fall N = 1439
eher nein
eher ja
ja, auf jeden Fall Westdeutsche
0
nein, auf keinen Fall Ostdeutsche
eher nein
eher ja
ja, auf jeden Fall N = 1423
Die Vertrauenswerte für die Arbeitslosenversicherung liegen zwischen denen der Gesetzlichen Rentenversicherung und denen der Gesetzlichen Krankenversicherung. Ungefähr ein Drittel der Befragten meint, dass man sich in Zukunft auf die Arbeitslosenversicherung verlassen könne, zwei Drittel dagegen misstrauen auch der Arbeitslosenversicherung. Anders als bei der Renten- und der Krankenversicherung gibt es beim Vertrauen in die Arbeitslosenversicherung jedoch deutliche Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen. Während immerhin 35,4 Prozent der Westdeutschen der Arbeitslosenversicherung vertrauen, ist es in den östlichen Bundesländern nur ein gutes Viertel der Befragten (26,2 %). Für die Sozialhilfe ist ähnliches festzustellen. Das Vertrauen in die Sozialhilfe (39,8 %) ist dabei geringfügig größer als das in die Arbeitslosenversicherung – und erreicht damit den »höchsten« Wert nach der Gesetzlichen Krankenversicherung. Die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen sind hier insgesamt am stärksten ausgeprägt (vgl. Abb. 5.2a). So »vertrauen« der Sozialhilfe immerhin noch 41,6 Prozent der Westdeutschen, aber nur ein Drittel der Ostdeutschen (33,1 %).
102
5 Höhe und Verteilung der Akzeptanz in der Bundesrepublik Deutschland
Abbildung 5.2b:
Positive Vertrauenswerte im Vergleich (Angaben in Prozent)
Gesetzliche Krankenversicherung
42,6
Gesetzliche Rentenversicherung
23,6
33,5
Arbeitslosenversicherung
39,8
Sozialhilfe
0
10
20
30
40
50
60
Auffälligstes Ergebnis ist hier gewiss das äußerst geringe Vertrauen, das allen Sicherungssystemen entgegengebracht wird. Bei allen Sicherungssystemen, für die das Vertrauen gemessen wurde, überwiegt das Misstrauen. Selbst im »besten« Fall, der Gesetzlichen Krankenversicherung, sind weit über die Hälfte der Befragten nicht davon überzeugt, dass man sich in Zukunft auf sie verlassen könne (Abb. 5.2b). Welche Relativierungen man dabei auch immer für dieses »Misstrauensvotum« konzedieren mag: Über den Gesamteindruck, dass das Vertrauen in die zentralen wohlfahrtsstaatlichen Institutionen in Deutschland als zutiefst erschüttert erscheint, kann dies nicht hinwegtäuschen. Zwischenresümee: Die Akzeptanz der bestehenden wohlfahrtsstaatlichen Institutionen Auch wenn die beiden bisher untersuchten Akzeptanzindikatoren schon aufgrund der unterschiedlichen Skalierungen nur begrenzt vergleichbar sind, so fällt doch auf, dass die Vertrauenswerte offenbar noch geringer sind (in allen Fällen überwiegt das Misstrauen) als die bei der Institutionenakzeptanz (Beurteilung des gesellschaftlichen Wertes).96 Wichtiger als dieser eher graduelle Unterschied ist aber, dass beiden Akzeptanzindikatoren zufolge die Akzeptanz der bestehenden wohlfahrtsstaatlichen Arrangements auch bei einer zurückhaltenden Interpretation als zumindest mäßig zu bezeichnen ist. Beim Vergleich der beiden Akzeptanzindikatoren des wohlfahrtsstaatlichen Status quo wird zudem deutlich, dass das »Ranking« der Sicherungssysteme in beiden Fällen gleich ist. So sind die Akzeptanzwerte der Gesetzlichen Krankenversicherung in 96
Dieses geringe Systemvertrauen mag zudem auch ein Grund für die geringe Institutionenakzeptanz der Sicherungssysteme sein.
5.1 Akzeptanz des »Status quo«
103
beiden Fällen die höchsten, gefolgt von denen der Sozialhilfe, der Arbeitslosenversicherung und der Gesetzlichen Rentenversicherung. Dies spricht für die Stabilität der Messung und für die Annahme (vgl. 4.2), dass beide Akzeptanzindikatoren mit leicht unterschiedlichen Akzentuierungen die Akzeptanz des Status quo der wohlfahrtsstaatlichen Absicherung erfassen. Auffällig ist dabei vor allem der erhebliche Unterschied zwischen den beiden großen Sozialversicherungen. Wird die Gesetzliche Krankenversicherung noch einigermaßen gut (d.h. hier also »durchschnittlich«) beurteilt, muss die Gesetzliche Rentenversicherung nicht nur als das Sicherungssystem mit der relativ geringsten, sondern auch als das mit einer besonders geringen Akzeptanz gelten.97 Dagegen sind die Werte der Sozialhilfe vergleichsweise hoch: Sowohl beim Vertrauen als auch beim gesellschaftlichen Wert genießt sie eine höhere Akzeptanz als die Arbeitslosenversicherung und die Rentenversicherung. Mögliche Erklärungen hierfür könnten insgesamt geringere Erwartungen (vgl. 5.2) und eine geringere potenzielle Angewiesenheit auf Sozialhilfe sein (vgl. hierzu 6.2). Auffällig sind schließlich auch die Parallelitäten bei den Unterschieden zwischen Ost- und Westdeutschen. So besteht sowohl beim Institutionenvertrauen als auch bei der Einschätzung des gesellschaftlichen Wertes weitgehende Übereinstimmung bei der Kranken- und bei der Rentenversicherung. Da die Unterschiede zwischen Ostund Westdeutschen hier eher gering sind, könnte man von einem »gesamtdeutschen Konsens« bei der noch »respektablen« Beurteilung der Gesetzlichen Krankenversicherung wie bei der äußerst skeptischen Wahrnehmung der Rentenversicherung sprechen. Demgegenüber unterscheiden sich ost- und westdeutsche Befragte erheblich bei der Beurteilung von Arbeitslosenversicherung und Sozialhilfe, die von den Ostdeutschen sowohl beim Vertrauensindikator als auch bei der Institutionenakzeptanz deutlich schlechter beurteilt werden als von den Westdeutschen.98 5.2 Akzeptanz der Wohlfahrtsstaatlichkeit Auch zur Erfassung der Präferenzen hinsichtlich der Wohlfahrtsstaatlichkeit stehen je zwei bereichsspezifische Indikatoren zur Verfügung. Wie in Abschnitt 4.2 ausgeführt wurde, handelt es sich dabei zum einen um die »gewünschte staatliche Zuständigkeit« für sozialpolitische Aufgaben (oder »wohlfahrtsstaatliche Extensität«), zum anderen um den aus der Differenz von gewünschter und wahrgenommener Leis97
98
So sehr dieses »schlechte« Ergebnis für die Rentenversicherung auch überraschen mag, so bestätigen vor allem die geringen Vertrauenswerte doch frühere Forschungsergebnisse (vgl. Dallinger 2003: 6; Krüger 2001: 161). Diese Konstanz bei den Unterschieden zwischen Ost- und Westdeutschen bestätigt erneut, dass mit den beiden Akzeptanzindikatoren des Status quo tatsächlich das gleiche Akzeptanzobjekt gemessen wird.
104
5 Höhe und Verteilung der Akzeptanz in der Bundesrepublik Deutschland
tungshöhe gebildeten Indikator »Beurteilung der Leistungshöhe« (oder »wohlfahrtsstaatliche Intensität«).
Gewünschte staatliche Zuständigkeit (wohlfahrtsstaatliche Extensität) Der Akzeptanzindikator »gewünschte staatliche Zuständigkeit« für sozialpolitische Aufgaben, bei der die Befragten gebeten werden, die ihrer Meinung nach richtige Aufgabenteilung zwischen einer staatlichen und einer nicht-staatlichen Zuständigkeit anzugeben, weist keinen unmittelbaren Bezug zu konkreten Sicherungssystemen auf. Wie in Abschnitt 4.2 erläutert wurde, ist die »gewünschte staatliche Zuständigkeit« daher vor allem ein Indikator für die Wichtigkeit, die die einzelnen Sicherungsaufgaben für die Befragten haben. Bei der Frage, wie die Verantwortung zwischen Staat (inkl. Sozialversicherungen) und »privaten Kräften« bei der Finanzierung der Gesundheitsversorgung verteilt sein soll, wird deutlich, dass eine überwiegend staatliche Zuständigkeit von den meisten Befragten präferiert wird (vgl. Abb. 5.3a). Zwei Drittel der Westdeutschen und sogar drei von vier Ostdeutschen wünschen sich, dass sich der Staat zu mindestens 60 Prozent um die Finanzierung der Gesundheitsversorgung kümmern soll. Und immerhin 14,1 Prozent der Westdeutschen und 26,8 Prozent der Ostdeutschen sind sogar der Ansicht, dass die Gesundheitsversorgung ausschließlich in staatlicher Hand liegen sollte. Der Gesamtmittelwert liegt mit 6,82 deutlich über dem theoretischen Mittelwert (5,00). Die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen sind beim Wunsch nach einer staatlichen Zuständigkeit bei der Gesundheitsversorgung recht groß. Ostdeutsche (Mittelwert: 7,58) neigen weit mehr zur Befürwortung einer staatlichen Zuständigkeit als Westdeutsche. Die Mittelwertdifferenz beträgt immerhin 0,97 Skalenpunkte. Bei der Frage der Alterssicherung fällt das Votum für einen hohen Staatsanteil noch deutlicher aus (Abb. 5.3b). 86,6 Prozent der Ost- und 72,8 Prozent der Westdeutschen sprechen sich dafür aus, dass der Staat den überwiegenden Teil der Alterssicherung übernimmt. Und fast jeder dritte Ostdeutsche (30,6 %) und immerhin noch jeder fünfte Westdeutsche (21,5 %) ist der Meinung, dass die Alterssicherung eine rein wohlfahrtsstaatliche Aufgabe ist. Die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen sind hier etwas geringer als bei der Gesundheitsversorgung, weisen aber in die gleiche Richtung eines ausgeprägteren »Etatismus« in Ostdeutschland.
105
5.2 Akzeptanz der Wohlfahrtsstaatlichkeit
Abbildung 5.3a:
Gesundheitsversorgung: gewünschte staatliche Zuständigkeit/ Aufgabenteilung (Angaben in Prozent)
30 26,8 25
20
18,3 17,6
16,9 15
14,3
13,7
6,1 5
4,0
3,4 3,8
1,3
0,6
Westdeutsche Ostdeutsche
5,8 3,2
2,3 0,3
14,1
9,9
9,4
10
0
13,7
13,7
0,6
nur private 100% Kräfte private Kräfte
Staat und 50% private Kräfte Staat/ gleich 50% private Kräfte
nur Staat 100% Staat
N=1469
Abbildung 5.3b:
Alterssicherung: gewünschte staatliche Zuständigkeit/ Aufgabenteilung (Angaben in Prozent)
35 30,6 30
25 22,0
21,5
20,6 20
18,2
14,1
15
12,2 11,1
Westdeutsche Ostdeutsche 10,9
10 7,6
3,9 3,5
5 1,5 0
0,6
nur private Kräfte
2,1 2,2
1,3
5,1
4,2
4,8
1,6
0,3 50% Staat und Staat/ private Kräfte 50% gleich private Kräfte
nur Staat
N=1485
Auch für die finanzielle Unterstützung von Arbeitslosen ergibt sich ein ähnliches Bild (vgl. Abb. 5.3c): Fast zwei Drittel aller Befragten befürworten eine überwiegend staatliche Zuständigkeit; und immerhin noch 15,4 Prozent vertreten die Auffassung, dass
106
5 Höhe und Verteilung der Akzeptanz in der Bundesrepublik Deutschland
die finanzielle Unterstützung von Arbeitslosen ausschließlich eine staatliche Aufgabe sei. Die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen sind hier wieder beträchtlich, wenn auch etwas geringer als bei der Alterssicherung und der Gesundheitsversorgung. Die Mittelwertdifferenz beträgt aber immerhin noch 0,76 Skalenpunkte (bei einem Mittelwert für Westdeutsche von 6,39). Insgesamt befürworten 74,4 Prozent der Ostdeutschen (Westdeutsche: 61,8 %) eine überwiegende und 21,1 Prozent (Westdeutsche: 13,9 %) eine ausschließliche staatliche Zuständigkeit bei der finanziellen Unterstützung von Arbeitslosen. Abbildung 5.3c:
Unterstützung Arbeitsloser: gewünschte staatliche Zuständigkeit/Aufgabenteilung (Angaben in Prozent)
25
21,1 20 17,6 16,3 15,0
15,3
14,4
15
13,9
13,4 11,8 10,8 9,9
Westdeutsche Ostdeutsche
10 7,8
7,4 6,6 4,8 5
3,5
3,2 2,0 1,4 1,3
1,9
0,6 0
nur private Kräfte
Staat und 50% private Kräfte Staat/ gleich 50%
nur Staat
private Kräfte
N=1473
Besonders stark ist die Präferenz für eine staatliche Zuständigkeit bei der »finanziellen Absicherung bei Armut« (Abb. 5.3d). So sprechen sich 72,6 Prozent aller Befragten für eine überwiegend staatliche Zuständigkeit aus und jeder fünfte (20,8 %) sogar für eine alleinige Zuständigkeit des Staates. Die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen sind hier – mit Ausnahme der alleinigen staatlichen Zuständigkeit, die immerhin von 27,1 Prozent der Ostdeutschen befürwortet wird – vergleichsweise gering. Die Mittelwertdifferenz liegt bei 0,68 Skalenpunkten (bei einem Mittelwert der westdeutschen Befragten von 6,95) und ist damit niedriger als bei den drei bisher dargestellten Aufgabenbereichen.
107
5.2 Akzeptanz der Wohlfahrtsstaatlichkeit
Abbildung 5.3d:
Armut: gewünschte staatliche Zuständigkeit/Aufgabenteilung (Angaben in Prozent)
30 27,1
25
19,1
20 17,9
17,2
15,1
14,6 14,1 13,1
15
Westdeutsche Ostdeutsche
11,1 9,7 10
9,8
8,3 5,5 4,1
5 2,8 0,3 0
3,5 2,5
1,9
1,3 0,5 0,3
Staat 50%und private Kräfte Staat/ gleich 50% private Kräfte
nur private Kräfte
nur Staat
N=1472
Abbildung 5.3e:
Hilfe für Familien: gewünschte staatliche Zuständigkeit/Aufgabenteilung (Angaben in Prozent)
35 30,6 30
25 21,6 20
18,5 18,2 16,6
15
14,0 13,4
12,7
8,9
10
Westdeutsche Ostdeutsche
13,0
9,0 7,6
5
0,3 0
nur private Kräfte
0,0
3,8
2,8
2,1
1,3
1,2
1,0
2,5 1,0 Staat und 50% private Kräfte Staat/ gleich 50% private Kräfte
nur Staat
N=1475
Auch bei der finanziellen Unterstützung von Familien (Abb. 5.3e) fällt die Präferenz für eine staatliche Zuständigkeit besonders deutlich aus. Gut drei Viertel aller Befragten
108
5 Höhe und Verteilung der Akzeptanz in der Bundesrepublik Deutschland
(78,2 %) plädieren für eine überwiegende und ein knappes Viertel (23,5 %) sogar für eine ausschließliche staatliche Zuständigkeit. Der Mittelwert liegt mit 7,41 deutlich über dem theoretischen Mittelwert (5,00), wobei der Unterschied zwischen Ostund Westdeutschen vergleichsweise moderat (0,73 Skalenpunkte), wenn auch insbesondere bei der alleinigen staatlichen Zuständigkeit gut erkennbar ist. Abbildung 5.3f:
Befürwortung einer überwiegend staatlichen Zuständigkeit im Vergleich (zusammengefasste Werte in Prozent)99 78,2
75,8
80
72,6 68,5 64,5
70
60
54,7
52,4
50
51,8 51,7 überwiegend staatlich nur staatlich
49,1
40
30
20
23,4 10
0
16,8
Gesundheit
20,8
23,5
15,4
Alterssicherung
Arbeitslosigkeit
Armut
Familien
Schon dieser kurze Durchgang durch die wichtigsten Befunde macht deutlich, dass sich bei der Frage der staatlichen Zuständigkeit für sozialpolitische Aufgaben ein ganz anderes Bild ergibt als bei den zuvor betrachteten Akzeptanzindikatoren. Zumindest für die Frage der »wohlfahrtsstaatlichen Extensität« gilt insofern, dass die Akzeptanz der Wohlfahrtsstaatlichkeit offenbar weit größer ist als die der konkreten wohlfahrtsstaatlichen Institutionen. Bei allen Aufgabenbereichen wird von einer Mehrheit der Befragten eine überwiegend staatliche Zuständigkeit befürwortet. Dass die Werte insgesamt dennoch niedriger sind als in früheren Untersuchungen100, dürfte in erster Linie auf die veränderte Frageformulierung zurückzuführen sein, die stärker auf die
99
100
Als »überwiegend staatliche Zuständigkeit« sind hier alle Aufgabenteilungen zusammengefasst, die eine staatliche Zuständigkeit zwischen 60 und 90 Prozent befürworten (zur Skala vgl. Anhang A2.1). So sprachen sich im ISSP (1996) 80,4 Prozent der westdeutschen Befragten bei Arbeitslosigkeit, 96,6 Prozent bei der Finanzierung der Gesundheitsversorgung und 96,0 Prozent bei der Alterssicherung für eine staatliche Zuständigkeit aus.
5.2 Akzeptanz der Wohlfahrtsstaatlichkeit
109
Aufgabenverteilung und entsprechend weniger auf die Frage, ob der Staat überhaupt zuständig sein soll, zielt (vgl. 4.2). Ein Vergleich der Aufgabenbereiche macht deutlich, dass die Unterschiede bei der gewünschten staatlichen Zuständigkeit nicht unerheblich sind (vgl. Abb. 5.3f): Die Gesamtmittelwerte bewegen sich hier zwischen 7,41 (Unterstützung von Familien und Alleinerziehenden) und 6,55 (Unterstützung von Arbeitslosen). Das »Ranking« der Sicherungssysteme bei der Frage der staatlichen Zuständigkeit reflektiert dabei vermutlich zweierlei: zum einen die Einschätzung der Wichtigkeit der Aufgaben, zum anderen aber auch die sozialpolitischen Realitäten bzw. »Machbarkeiten«. Die zugeschriebene Bedeutung eines Ausgabenbereichs könnte z.B. für die hohen Werte für die Alterssicherung und für die Unterstützung von Familien ursächlich sein. Eng damit verbunden ist auch ein möglicherweise stärkeres Eigeninteresse, insbesondere bei der Alterssicherung. Insgesamt dürfte das potenzielle Eigeninteresse bei der gewünschten staatlichen Zuständigkeit aber wenig ins Gewicht fallen. Hierfür sprechen schon die vergleichsweise geringen Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen bei der Arbeitslosigkeit und Armutsvermeidung (zur Bedeutung des Eigeninteresses vgl. a. Kapitel 6, insbes. die Abschnitte 6.1. und 6.2). In der im Vergleich zur Unterstützung von Arbeitslosen und zur Gesundheitsversorgung größeren Präferenz für eine staatliche Zuständigkeit bei der Armutsvermeidung ist dagegen wohl kein Ausdruck einer besonders hohen Wertschätzung dieses Aufgabenbereichs zu sehen (und schon gar keiner, die auf subjektiven Interessendefinitionen beruht). Sie ist auf die eher geringen Möglichkeiten einer nichtstaatlichen Armutsvermeidung zurückzuführen und einer entsprechenden »Alternativlosigkeit« staatlicher Armutspolitik. Deutlich sind hier wiederum die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen. Letztere plädieren durchgehend für eine etwas geringere staatliche Zuständigkeit als die Ostdeutschen, wobei die Mittelwertdifferenz bei der Gesundheitsversorgung fast einen Skalenpunkt beträgt. Dies könnte zum einen auf die höheren Bedarfe in Ostdeutschland zurückzuführen sein. Durchaus komplementär zur kritischeren Sicht des gesellschaftlichen Wertes und des geringeren Vertrauens wird von den Ostdeutschen ein starkes staatliches Engagement und – so darf man spekulieren – ein stärkeres als bisher gewünscht. Gegen eine solche Interpretation spricht jedoch die relative Konstanz der OstWest-Unterschiede bei der gewünschten staatlichen Zuständigkeit, die bei allen Aufgaben relativ hoch ist. Wenn das stärkere Eigeninteresse der Ostdeutschen für deren höhere Befürwortung einer staatlichen Zuständigkeit ursächlich sein soll, müsste sich dies vor allem in Unterschieden in den Bereichen Armut und Arbeitslosigkeit auswirken – aber gerade hier sind die Unterschiede zwischen ost- und westdeutschen Befragten geringer als z.B. bei der Gesundheitsversorgung. Daher ist zu vermuten, dass dieses Ergebnis auch auf grundlegende Handlungsorientierungen zurückzuführen ist, dass also etatistische Haltungen im Osten Deutschlands verbreite-
110
5 Höhe und Verteilung der Akzeptanz in der Bundesrepublik Deutschland
ter sind als bei den Westdeutschen. Aber auch insgesamt wird in den Ergebnissen zur gewünschten staatlichen Zuständigkeit ein ausgeprägter Etatismus deutlich. Dabei ist allerdings zu beachten, dass sich zwar die meisten Befragten eine überwiegend staatliche Aufgabenübernahme in allen Sicherungsbereichen wünschen, andererseits aber auch jeweils nur eine Minderheit eine alleinige staatliche Zuständigkeit präferiert. Den »privaten Kräften« (u.a. jeder Einzelne, Betriebe und Kirchen) wird somit zumindest eine ergänzende Funktion zugebilligt. Leistungsbewertung (wohlfahrtsstaatliche Intensität) Wie in Abschnitt 4.2 erläutert wurde, ist die »Leistungsbewertung« ein aus der Differenz von gewünschter und wahrgenommener Leistungshöhe konstruierter Akzeptanzindikator, wodurch das gewünschte Niveau der Absicherung mit der wahrgenommenen Leistungshöhe relationiert wird. Aus diesem Grund scheinen Akzeptanzunterschiede hier besonders aussagekräftig. Abbildung 5.4a:
Gesetzliche Krankenversicherung: »Leistungsbewertung« (zusammengefasste Werte in Prozent101)
50
45
Die Leistungen der GKV sollten sein:
41,8
40 35,6 35
30 26,0 25
Westdeutsche Ostdeutsche
21,8 19,6 19,1
20
15
11,2 9,5
10 5,2 5 0,7 0
1,9
5,1
2,2
0,3
sehr viel geringer
viel geringer
etwas geringer
genau gleich
etwas höher
viel höher
sehr viel höher
N=1494
Bei den Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung (vgl. Abb. 5.4a) wird eine Befürwortung von mehr Leistungen deutlich. Zwei Drittel der Befragten (66,3 %) haben eine Präferenz für höhere Leistungen, wenn auch nur eine Minderheit (5,2 %) der 101
Als »sehr viel höher/mehr« werden hier alle Skalenwerte von 7 bis 10 (auf einer Skala von -10 bis +10) bezeichnet (als »viel höher« die Werte von 4 bis 6 und als »etwas höher« die Werte von 1 bis 3).
111
5.2 Akzeptanz der Wohlfahrtsstaatlichkeit
Ansicht ist, dass die Leistungen der GKV sehr viel höher sein sollten. Die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen sind dabei verschwindend gering (Mittelwertdifferenz: 0,21 Skalenpunkte). Auch bei der Beurteilung der Rentenhöhe wird offensichtlich, dass die Mehrheit der Befragten diese als zu niedrig ansieht (vgl. Abb. 5.4b). Hier befürworten sogar 71,4 Prozent höhere Leistungen, 20,5 Prozent meinen, die Höhe der Rente sollte so bleiben, wie sie ist, und nur 8,1 Prozent sind für niedrigere Renten. Der Anteil der Befragten, die sehr viel höhere Leistungen präferieren, ist mit 6,6 Prozent allerdings hoch geringer. Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen sind bei der Frage der Beurteilung der Rentenhöhe gering.102 Abbildung 5.4b:
Gesetzliche Rentenversicherung: »Leistungsbewertung« (zusammengefasste Werte in Prozent)
48,3
50 45
42,7
Die Rente sollte sein:
40
35 30
Westdeutsche Ostdeutsche
25
21,3
20,8
20,9
17,5
20 15 10
7,3
5 0,2 0
0,0
sehr viel geringer
0,8
6,9
6,3
5,6
1,3
viel geringer
etwas geringer
genau gleich
etwas höher
viel höher
sehr viel höher
N=1444
Im Vergleich zu den beiden großen Sozialversicherungen fällt die »Mehrheit« für ein höheres Arbeitslosengeld etwas schwächer aus (Abb. 5.4c). Hier präferieren »nur« 53,5 Prozent der Befragten ein höheres Arbeitslosengeld (3,2 Prozent ein sehr viel höheres) und immerhin 19,4 Prozent ein niedrigeres. Auffällig ist zudem die hier sehr starke Befürwortung des Beibehaltens der aktuellen Leistungshöhe. Über ein Viertel aller Befragten (27,1 %) sind offenbar der Ansicht, dass sich bei der Höhe des Ar102
Dies gilt im Übrigen nicht nur für die Differenz von gewünschter und wahrgenommener Rentenhöhe, sondern auch für das »Prätentionsniveau«, also das Niveau, auf dem diese Differenz besteht.
112
5 Höhe und Verteilung der Akzeptanz in der Bundesrepublik Deutschland
beitslosengeldes nichts ändern sollte. Anders als bei den GKV-Leistungen und der Rentenhöhe sind hier die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen wiederum relativ groß: Die Mittelwertdifferenz beträgt 1,20 Skalenpunkte. Die ostdeutschen Befragten (67,9 %; westdeutsche: 49,6 %) sind also weit häufiger der Ansicht, dass das Arbeitslosengeld höher sein sollte. Dies gilt insbesondere für den Anteil derjenigen, die meinen, das Arbeitslosengeld sollte viel oder sehr viel höher sein (29,9 % der Ostdeutschen; 13,1 % der Westdeutschen). Abbildung 5.4c:
Arbeitslosenversicherung: »Leistungsbewertung« (zusammengefasste Werte in Prozent)
50
45
Das Arbeitslosengeld sollte sein:
40
36,5
38,0
35 29,1 30
26,1
Westdeutsche Ostdeutsche
25 19,9 17,4
20
15
11,1 10,0
10
0,8 0
3,1
3,2
5 0,0
sehr viel geringer
3,8
1,0 viel geringer
etwas geringer
genau gleich
etwas höher
viel höher
sehr viel höher
N=1332
Auch bei der Sozialhilfe überwiegt der Wunsch nach einem höheren Leistungsniveau (Abb. 5.4d). Im Unterschied zu den drei anderen Sicherungssystemen gibt es hier aber keine »absolute Mehrheit« für Leistungserhöhungen. Denn nur 47,0 Prozent aller Befragten wünschen sich ein höheres Sozialhilfeniveau (4 Prozent ein sehr viel höheres), während immerhin 31,2 Prozent ein niedrigeres Leistungsniveau präferieren. Anders als bei den Sozialversicherungen kann hier also nicht von einem breiten »Erhöhungskonsens« gesprochen werden. Ebenso sind die Unterschiede zwischen ostdeutschen und westdeutschen Befragten hoch. Die Mittelwertdifferenz beträgt hier 1,56 Skalenpunkte, wobei der Mittelwert der Westdeutschen (0,20) nur knapp über dem theoretischen Mittelwert (0,00) liegt.
113
5.2 Akzeptanz der Wohlfahrtsstaatlichkeit
Abbildung 5.4d:
Sozialhilfe: »Leistungsbewertung« (zusammengefasste Werte in Prozent)
50
45
Die Sozialhilfe sollte sein:
40 32,4
35 29,7 30
24,4
Westdeutsche Ostdeutsche
23,6
25
21,7
20
16,7 15,3
15 9,6
9,9 10
6,9 3,2
3,6 2,4
5
0,7 0
sehr viel geringer
viel geringer
etwas geringer
genau gleich
etwas höher
viel höher
sehr viel höher
N=1276
Die Beurteilungen der Leistungshöhen machen vor allem deutlich, dass die Zufriedenheit mit dem bestehenden Leistungsniveau insgesamt gering ist. Die Leistungsbewertungen sind zugleich die Akzeptanzindikatoren mit dem höchsten Werten für die Akzeptanz der Wohlfahrtsstaatlichkeit. Denn in ihnen kommen gleichermaßen die Unzufriedenheit mit dem bestehenden Leistungsniveau und die grundsätzliche Befürwortung einer umfangreichen wohlfahrtsstaatlichen Absicherung zum Ausdruck. Deutliche Unterschiede bestehen dabei allerdings zwischen den Sicherungssystemen (Abb. 5.4e). Denn die starke und weitgehend konsensuelle Befürwortung höherer Leistungen beschränkt sich auf die Rente und auf die Leistungen der Krankenversicherung. Da mit der »Leistungsbewertung« die Distanz zwischen Präferenzen hinsichtlich des Leistungsniveaus und der Wahrnehmung des wohlfahrtsstaatlichen Status quo erfasst wird, lässt sich der Unterschied zwischen den beiden großen Sozialversicherungen auf der einen und der Arbeitslosenversicherung (Arbeitslosengeld) und der Sozialhilfe auf der anderen Seite am besten als Unterschiede in der Bedeutung und »Beliebtheit« dieser Sicherungsleistungen interpretieren. Die offenbar große Unzufriedenheit mit der Rentenhöhe bietet zudem eine Erklärungsmöglichkeit für die geringen Akzeptanzwerte der Rentenversicherung bei den beiden Akzeptanzindikatoren des Status quo.
114
5 Höhe und Verteilung der Akzeptanz in der Bundesrepublik Deutschland
Abbildung 5.4e:
»Leistungsbewertung«: Präferenzen für Leistungserhöhungen und Leistungskürzungen im Vergleich (Angaben in Prozent)
80 70 60 50 40 30 20 10 0 GKV
GRV
Arbeitslosenversicherung
Ostdeutsche: Erhöhung Ostdeutsche: Kürzung
Sozialhilfe
Westdeutsche:Erhöhung Westdeutsche: Kürzung
Wenn also so etwas wie ein nationaler »Erhöhungskonsens« besteht, so ist dieser auf die GKV-Leistungen und die Rentenhöhe begrenzt. Die Präferenzen hinsichtlich der Höhe von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe sind – im Unterschied zur Frage der staatlichen Zuständigkeit – offenbar deutlich divergenter als bei den beiden großen Sozialversicherungen. Auffällig sind zudem die großen Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen beim Arbeitslosengeld und bei der Sozialhilfe. Dabei zeigt ein Vergleich der Einzelvariablen (gewünschte Leistungshöhe und wahrgenommen Leistungshöhe), dass sich diese Differenz fast ausschließlich aus Unterschieden bei der Wahrnehmung der aktuellen Leistungshöhe, die von den ostdeutschen Befragten deutlich niedriger eingeschätzt wird, erklärt und nicht auf ein höheres Anspruchsniveau der Ostdeutschen zurückzuführen ist. Zwischenresümee: Akzeptanz der Wohlfahrtsstaatlichkeit Die empirischen Befunde zur Akzeptanz der Wohlfahrtsstaatlichkeit ergeben ein anderes Bild als bei der Beurteilung der bestehenden Wohlfahrtsinstitutionen. Insgesamt sind die Präferenzen für eine staatliche Zuständigkeit für sozialpolitische Aufgaben und für höhere Leistungen sehr deutlich. Diese Einschätzung ist nur für die Präferenzen bezüglich der Sozialhilfehöhe einzuschränken. In der hohen Akzeptanz der Wohlfahrtsstaatlichkeit muss kein Widerspruch zur geringen Akzeptanz des wohlfahrtsstaatlichen Status quo gesehen werden. Im Gegenteil: Die geringe Akzeptanz der bestehenden Wohlfahrtsinstitutionen kann zu
5.2 Akzeptanz der Wohlfahrtsstaatlichkeit
115
einem guten Teil auf die starken Präferenzen für höhere Leistungen zurückgeführt werden. Hierfür sprechen vor allem die Ergebnisse für die Gesetzliche Rentenversicherung. Diese weist einerseits die geringste Akzeptanz auf (Institutionenakzeptanz und Systemvertrauen); andererseits sind hier die Präferenzen für höhere Leistungen am stärksten (wie auch für eine staatliche Zuständigkeit bei der Alterssicherung). Ein Vergleich der beiden Akzeptanzindikatoren der Wohlfahrtsstaatlichkeit zeigt kaum Übereinstimmungen bei den Unterschieden zwischen den Sicherungssystemen. Nur für die Rentenversicherung bzw. Alterssicherung bestehen in beiden Fällen jeweils die stärksten Präferenzen. Während aber z.B. bei der Gesetzlichen Krankenversicherung ebenfalls ein deutlicher Wunsch nach höheren Leistungen zum Ausdruck kommt, ist der Anteil der gewünschten staatlichen Zuständigkeit für die Gesundheitsversorgung im Vergleich zu anderen Sicherungssystemen eher gering. Für die Frage der staatlichen Zuständigkeit für die soziale Sicherung sind offenkundig andere Kriterien ausschlaggebend als bei der Beurteilung der Leistungshöhe. Die Vermutung, dass dabei die bestehende Aufgabenteilung eine Rolle spielt, wird zumindest durch eine Übereinstimmung der Präferenzen mit den sozialpolitischen Realitäten gestützt. Eindeutig sind schließlich die Unterschiede zwischen ostdeutschen und westdeutschen Befragten. Ostdeutsche präferieren in stärkerem Maße als Westdeutsche sowohl eine höhere staatliche Zuständigkeit als auch höhere Leistungen. Auffällig ist dabei vor allem die deutliche Diskrepanz bei der Leistungsbewertung von Sozialhilfe und Arbeitslosengeld. 5.3 »Erweiterte Wohlfahrtsstaatlichkeit« und allgemeine Wirkungen des Wohlfahrtsstaates Wie in Kap. 4.2 erläutert wurde, ist der Wohlfahrtsstaat als Ganzes ein diffuses Akzeptanzobjekt. Eine unmittelbare Messung der Akzeptanz »des« Wohlfahrtsstaates und entsprechende Operationalisierungsversuche scheinen daher nicht möglich bzw. nicht sinnvoll. Zumindest in vager Form erfahr- und erfassbar ist der gesamte Wohlfahrtsstaat jedoch in seinen allgemeinen Wirkungen (»outcomes«), sofern diese nicht einzelnen Sicherungssystemen zugerechnet werden können. Sie lassen daher, wenn auch nur in begrenzter Form, Rückschlüsse über die Akzeptanz des bestehenden wohlfahrtsstaatlichen Arrangements zu. Zur Vervollständigung des Akzeptanzbildes tragen auch die verschiedenen Optionen einer »erweiterten Wohlfahrtsstaatlichkeit« bei. Wie die in Abschnitt 5.2 untersuchten Indikatoren der gewünschten Wohlfahrtsstaatlichkeit zielen sie auf allgemeine Präferenzen bezüglich der sozialen Sicherung. Sie unterscheiden sich von diesen jedoch dadurch, dass sie nicht auf institutionalisierte Sicherungsformen bezogen werden können.
116
5 Höhe und Verteilung der Akzeptanz in der Bundesrepublik Deutschland
Beide Aspekte einer allgemeinen Wohlfahrtsstaatsakzeptanz – die wahrgenommenen Wirkungen des Wohlfahrtsstaates und die Akzeptanz der »erweiterten Wohlfahrtsstaatlichkeit« – werden im Folgenden untersucht. Akzeptanz »erweiterter Wohlfahrtsstaatlichkeit« Indikatoren »erweiterter Wohlfahrtsstaatlichkeit« erfassen die Akzeptabilität von sozialpolitischen Aufgabenbereichen, die im bestehenden Wohlfahrtsstaat nicht oder nur in einem sehr geringen Maße umgesetzt sind und für die kein allgemeiner öffentlicher und politischer Konsens unterstellt werden kann (vgl. 4.2). Zu insgesamt vier dieser Bereiche einer potenziellen wohlfahrtsstaatlichen Aufgabenübernahme liegen Einschätzungen der Befragten dazu vor, ob diese Aufgaben vom Staat übernommen werden sollten oder nicht. Abbildung 5.5a:
Erweiterte Wohlfahrtsstaatlichkeit: »Arbeitsplätze« (Angaben in Prozent)
70
70,1
60
50
45,5
40
Westdeutsche Ostdeutsche 30
18,9 20
15,9 12,9 9,1 7,6
6,0
10
4,8
3,8
2,9
2,5
0
Stimme überhaupt nicht zu
2
3
4
5
Stimme voll und ganz zu
N=1512
Zunächst zur Frage der »Arbeitsplatzgarantie« bzw. zur Beurteilung der Aussage, der Staat solle »einen Arbeitsplatz für jeden bereitstellen, der arbeiten will«. Diese klassisch-sozialdemokratische Forderung erfährt eine überraschend hohe Zustimmung (80,1 %). Sogar etwas mehr als die Hälfte der Befragten stimmt dieser Aussage »voll und ganz« zu (vgl. Abb. 5.5a). Aber trotz dieses insgesamt eindeutigen Votums für eine »Arbeitsplatzgarantie« gibt es noch deutliche Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen. Die Mittelwertdifferenz beträgt hier 0,74 Skalenpunkte, bei einem Mittelwert für Ostdeutsche von 5,37. Insgesamt befürworten über 90 Prozent der
5.3 »Erweiterte Wohlfahrtsstaatlichkeit« und allgemeine Wirkungen des Wohlfahrtsstaates
117
Ostdeutschen (Westdeutsche: 77,3 %) eine staatliche Zuständigkeit. Dass der Staat für jeden, der arbeiten will, einen Arbeitsplatz bereitstellen soll, wird also in Ostund Westdeutschland so gesehen, aber im Osten Deutschlands doch noch etwas entschiedener. Abbildung 5.5b:
Erweiterte Wohlfahrtsstaatlichkeit: »Verringerung der Einkommensunterschiede« (Angaben in Prozent)
70
60
53,2
50
40
29,3 30
Westdeutsche Ostdeutsche
20,5
18,8 18,6 20
13,4 11,0
7,7
10
2,6 0
13,1
8,8
Stimme überhaupt nicht zu
2,9
2
3
4
5
Stimme voll und ganz zu
N=1498
Die Verringerung von Einkommensunterschieden gehört noch weniger als die Bereitstellung von Arbeitsplätzen zum Selbstverständnis »konservativer« Wohlfahrtsstaaten. Insofern muss es auch hier als überraschend gelten, dass mehr als zwei Drittel der Befragten (71,0 %) es als eine staatliche Aufgaben ansehen, »Einkommensunterschiede zwischen Arm und Reich ab(zu)bauen« (Abb. 5.5b). Die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen sind hier noch größer als bei der »Arbeitsplatzgarantie« (Mittelwertdifferenz: 0,93 Skalenpunkte). So meinen 86,9 Prozent der Ostdeutschen, aber nur 66,8 Prozent der Westdeutschen, dass der Abbau von Einkommensunterschieden eine staatliche Aufgabe sei, und über die Hälfte der Befragten in Ostdeutschland stimmt dieser Aussage »voll und ganz zu« (aber nur 29,3 Prozent der Westdeutschen). Angesichts der Ergebnisse bei diesen beiden ersten Aufgabenbereichen kann man insgesamt also von einer breiten Verankerung des sozialdemokratischen Sozialpolitikverständnisses sprechen. Neben der anderen inhaltlichen Ausrichtung der Fragen ist bei den »familienpolitischen« Aufgaben zu beachten, dass die beiden Items nicht die generelle staatliche Zuständigkeit zur Disposition stellen, sondern danach fragen, ob der Staat Fa-
118
5 Höhe und Verteilung der Akzeptanz in der Bundesrepublik Deutschland
milien und Alleinerziehende finanziell stärker unterstützen und mehr Mittel für die Kinderbetreuung bereitstellen soll. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Items besteht darin, dass im ersten Fall eher eine traditionale Form von Familienpolitik angesprochen wird, die dem »konservativen« Wohlfahrtsstaatstyp mit seiner Orientierung am »male breadwinner«-Modell entspricht. Die Forderung nach mehr Mitteln für die Kinderbetreuung (»so dass jedes Kind einen Betreuungsplatz erhalten kann«) steht dagegen eher für eine Familienpolitik, die vor allem den Interessen berufstätiger Frauen bzw. von Doppelverdienerhaushalten entgegenkommt und eher für »sozialdemokratische« Wohlfahrtsstaaten charakteristisch ist. Abbildung 5.5c:
Erweiterte Wohlfahrtsstaatlichkeit: »mehr finanzielle Unterstützung von Familien« (Angaben in Prozent)
70
60
48,2 50
39,7 40
25,6
30
Westdeutsche Ostdeutsche
26,1
19,6 17,6 20
8,1 10
3,5
0
4,6
3,6 2,0
1,6
Stimme überhaupt nicht zu
2
3
4
5
Stimme voll und ganz zu
N=1484
Beiden Anforderungen an wohlfahrtsstaatliches Handeln wird von einer deutlichen Mehrheit der Befragten zugestimmt (vgl. Abb. 5.5c und 5.5d). Der Grad der Zustimmung ist hier sogar noch etwas höher (86,3 % bzw. 89,7 %) als bei der »Arbeitsplatzgarantie« und bei der Verringerung der Einkommensunterschiede. Die Unterschiede bei der gesamten Zustimmung sind bei den familienpolitischen Zielen gering und nur bei der höchsten Zustimmungskategorie (51,4 Prozent bei Kinderbetreuung, 41,4 Prozent bei finanzieller Unterstützung von Familien) und – hier wiederum vor allem bei den Ostdeutschen (61,7 % zu 48,2 %) – sind deutlichere Unterschiede erkennbar. Anders als bei den beiden »sozialdemokratischen« Zielen sind die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen hier jedoch insgesamt moderat, wobei sich die ostdeutschen Befragten noch etwas häufiger ein stärkeres staat-
119
5.3 »Erweiterte Wohlfahrtsstaatlichkeit« und allgemeine Wirkungen des Wohlfahrtsstaates
liches Engagement bei der Unterstützung von Familien und bei den finanziellen Mitteln für die Kinderbetreuung wünschen.103 Abbildung 5.5d:
Erweiterte Wohlfahrtsstaatlichkeit: »Kinderbetreuungseinrichtungen« (Angaben in Prozent)
70
61,7 60
48,7 50
40
Westdeutsche Ostdeutsche
30
24,0
24,1
15,6
20
9,0 5,5
10
3,4
2,7
0
Stimme überhaupt nicht zu
2,9
1,6
0,6 2
3
4
5
Stimme voll und ganz zu
N=1485
Insgesamt ist die Akzeptanz der »erweiterten Wohlfahrtsstaatlichkeit« überaus hoch. Sie liegt nicht nur deutlich über der des wohlfahrtsstaatlichen Status quo, sondern übertrifft auch die in Abschnitt 5.2 dargelegte Akzeptanz der Wohlfahrtsstaatlichkeit in den Kernbereichen. Dies spricht erneut dafür, dass die Unzufriedenheit mit den bestehenden Wohlfahrtsinstitutionen zwar groß ist, aber nicht mit einer Abkehr vom Prinzip der Wohlfahrtsstaatlichkeit einhergeht. Mehr noch: Die Ergebnisse zur »erweiterten Wohlfahrtsstaatlichkeit« zeigen, dass auf der Akzeptanzseite viel Spielraum für einen weiteren Ausbau der wohlfahrtsstaatlichen Sicherung besteht. Ostdeutsche präferieren dabei in allen vier Aufgabenereichen eine höhere Wohlfahrtsstaatlichkeit als Westdeutsche. Insbesondere bei den Zielen »Abbau von Einkommensunterschieden« (Mittelwertdifferenz: 0,93) und »Bereitstellung von Arbeitsplätzen« (Mittelwertdifferenz: 0,74) sind die Unterschiede sehr groß. Man kann insofern folgern, dass Ostdeutsche stärker als Westdeutsche an sozialdemokratischen Sozialpolitikmustern orientiert sind. Angesichts der unterschiedlichen Erfahrungen und Traditionen in den beiden Landesteilen sind die Unterschiede bei den »Mitteln für Kinderbetreuung« demge103
Die Mittelwertdifferenzen liegen hier bei 0,30 bzw. 0,39 Skalenpunkten.
120
5 Höhe und Verteilung der Akzeptanz in der Bundesrepublik Deutschland
genüber überraschend gering. Dass dies so ist, liegt jedoch nicht an einer geringen Akzeptanz dieser Aufgabe bei den ostdeutschen Befragten, sondern an der sehr hohen Unterstützung in den westlichen Bundesländern. Die auch im Westen hohen Zustimmungswerte machen offensichtlich, dass die sozialpolitischen Realitäten bei der staatlichen Sorge für die Kinderbetreuung auch im Westen immer weniger den Präferenzen in der Bevölkerung entsprechen. Beurteilung allgemeiner Wirkungen des Wohlfahrtsstaates Bei den allgemeinen Wirkungen des Wohlfahrtsstaates wurde um die Beurteilung von insgesamt vier möglichen Folgen gebeten. Zwei davon sind positiver (weniger soziale Konflikte; mehr soziale Gerechtigkeit) und zwei negativer Art (höhere Arbeitslosigkeit; sinkende Hilfsbereitschaft). Die Auffassung, dass der Wohlfahrtsstaat durch redistributive und vor allem durch seine Sicherungsfunktion soziale Konfliktlagen (insbes. Klassenkonflikte) abschwäche und dadurch zum »sozialen Frieden« beitrage (wenn nicht gar eine Voraussetzung für die Integration moderner Gesellschaften sei104), gehört wohl zu den ältesten und zugleich am wenigsten ausformulierten Theoremen der wohlfahrtsstaatlichen Apologetik. Wenn diese Sichtweise auch etwas aus der Mode gekommen ist, ihre Vertreter der Gefahr ausgesetzt sind, als »Wohlfahrtsstaatskonservative« abgestempelt zu werden, und ein entsprechender Wirkungszusammenhang ohnehin nur schwerlich nachweisbar sein dürfte: In der vermeintlichen Integrationsfunktion des Wohlfahrtsstaates ist dennoch ein nach wie vor zentraler Legitimationsgrund für den Wohlfahrtsstaat zu sehen. »Integration« ist ein abstraktes Konzept und daher für eine direkte Erfassung denkbar ungeeignet. Einer in der Soziologie bereits seit Durkheim (1988 [1893])] verbreiteten Auffassung zufolge kann Integration (bzw. Desintegration) jedoch indirekt an der Existenz bzw. dem Ausbleiben sozialer Konflikte und anderer Desintegrationserscheinungen abgelesen werden.105 In der Befragung »Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates« wurde daher auch danach gefragt, ob die soziale Sicherung dazu führe, dass es »weniger Konflikte zwischen Armen und Reichen«106 gibt. Die Häufigkeitsverteilung zeigt hier für Gesamtdeutschland zunächst keine positive Beurteilung (Abb. 5.6). Nur 47,6 Prozent der Befragten halten die Aussage für richtig, dass das System der sozialen Sicherung zu »weniger Konflikten zwischen Armen und Reichen« führe (52,4 Prozent der Befragten teilen diese Auffassung also 104 105
106
Vgl. hierzu insbes. Kaufmann (1997b). Auf diese Weise operationalisieren auch Goodin et al. (1999: 187ff.) die Integrationsfunktion des Wohlfahrtsstaates. Diese Konkretisierung und zugleich Verengung auf die »vertikale Konfliktlinie« erwies sich aufgrund der Ergebnisse der kognitiven Pretests als notwendig. Angesichts der redistributiven Intentionen des Wohlfahrtsstaates scheint hiermit aber auch die wesentliche Konflikt- bzw. Integrationslinie benannt.
5.3 »Erweiterte Wohlfahrtsstaatlichkeit« und allgemeine Wirkungen des Wohlfahrtsstaates
121
nicht). Die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen sind allerdings beträchtlich: So ist immerhin über die Hälfte der Westdeutschen (51,0 %) von der konfliktreduzierenden Wirkung des Wohlfahrtsstaates überzeugt, aber nur wenig mehr als ein Drittel der ostdeutschen Befragten (34,8 %). Die Mittelwertdifferenz beträgt 0,53 Skalenpunkte (bei einem Mittelwert für Ostdeutsche von 2,95 und für Westdeutsche von 3,48). Auffällig ist auch, dass viele der ostdeutschen Befragten der Aussage, dass das System der sozialen Sicherung Konflikte zwischen Armen und Reichen reduziere, »überhaupt nicht« zustimmen (31,6 %). In vielerlei Hinsicht ähnlich sind die Ergebnisse zur möglichen Folge (höherer) »sozialer Gerechtigkeit«. Wie die Verringerung sozialer Konflikte ist auch die soziale Gerechtigkeit eine der klassischen wohlfahrtsstaatlichen Legitimationsressourcen, war jedoch in weit stärkerem Maße Gegenstand theoretischer Reflexionen und politischer Auseinandersetzungen (vgl. u.a. Döring et al. 1995; Kersting 2000; Leisering 2004). Auch die Aussage, dass das System der sozialen Sicherung zu mehr sozialer Gerechtigkeit führe, ist für etwa die Hälfte (49,5 %) der Befragten richtig (Abb. 5.6). Die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen sind erneut groß: Während immerhin noch eine knappe Mehrheit der Westdeutschen der Ansicht ist, dass das System der sozialen Sicherung zu mehr sozialer Gerechtigkeit führe, ist dies nur bei 38,4 Prozent der Ostdeutschen der Fall. Offensichtlich bestehen bei diesen beiden ersten Folgen deutliche Parallelen: Ostdeutsche sind hinsichtlich der positiven Wirkungen des Wohlfahrtsstaates weit skeptischer als die Westdeutschen. Möglicherweise ist dies darauf zurückzuführen, dass Ostdeutsche mit dem bestehenden Leistungsniveau unzufriedener sind (vgl. Abschnitt 5.2). Es kann aber nicht ausgeschlossen werden, dass auch grundsätzliche Zweifel hinsichtlich des Konfliktreduzierungspotenzials und der »Gerechtigkeitsrelevanz« des Wohlfahrtsstaates in den östlichen Bundesländern verbreiteter sind. Eine mögliche negative Folge des Wohlfahrtsstaates, die insbesondere von neokonservativen Kritikern betont wird, ist das Absterben lebensweltlicher Solidaritäts- und Hilfsantriebe (»crowding out«-Hypothese). Demnach untergrabe der Wohlfahrtsstaat durch sein umfangreiches Leistungsangebot nicht nur die Selbsthilfefähigkeit und -bereitschaft der Leistungsempfänger, sondern auch die Unterstützungsbereitschaft im sozialen Umfeld.
122
5 Höhe und Verteilung der Akzeptanz in der Bundesrepublik Deutschland
Abbildung 5.6:
Zustimmung zu wohlfahrtsstaatlichen Wirkungen107 (zusammengefasste Werte in Prozent)
47,6
weniger soziale Konflikte
49,5
mehr soziale Gerechtigkeit
64,4
sinkende Hilfsbereitschaft
53,1
höhere Arbeitslosigkeit
20
25
30
35
40
45
50
55
60
65
Die Ansicht, dass das System der sozialen Sicherung zu einer sinkenden Hilfsbereitschaft führe, wird von fast zwei Dritteln der Befragten (64,4 %) geteilt (vgl. Abb. 5.6). Die Unterschiede zwischen ost- und westdeutschen Befragten sind hier wiederum groß. Im Westen neigen 67,3 Prozent zu dieser Ansicht; in den östlichen Bundesländern sind es dagegen nur 53,9 Prozent. Die Mittelwertdifferenz beträgt hier 0,52 Skalenpunkte (Mittelwert für Westdeutsche: 4,08). Auch bei der negativen Folge »sinkende Hilfsbereitschaft« sind Ostdeutsche also von der Wirkung des Wohlfahrtsstaates weniger überzeugt als Westdeutsche. Am häufigsten wird die Forderung eines Abbaus wohlfahrtsstaatlicher Leistungen wohl damit begründet, dass sie die mit dem System der sozialen Sicherung verbundenen Belastungen die Arbeitskosten in die Höhe treiben und dadurch zu höherer Arbeitslosigkeit führen. Zusätzlich wird behauptet, dass die als großzügig bewerteten Leistungen der Sozialhilfe und der Arbeitslosenversicherung sowie der vermeintlich 107
Die möglichen wohlfahrtsstaatlichen Wirkungen wurden mittels einer endpunktbeschrifteten 6erSkala erhoben (zur Itemformulierung s. Anhang A2.3). Als »Zustimmung« wurden hier die Skalenwerte von 3 bis 6 zusammengefasst. Aufgrund des Fehlens einer Mittelkategorie ergeben sich die zusammengefassten Prozentwerte der ablehnenden Einschätzungen aus der Differenz von Gesamtzahl und den Werten für die »Zustimmung«.
5.3 »Erweiterte Wohlfahrtsstaatlichkeit« und allgemeine Wirkungen des Wohlfahrtsstaates
123
leichte Zugang zu diesen Leistungen falsche Anreize setzen. Dieser als disincentiveThese bekannten Annahme zufolge bleiben Arbeitlose freiwillig arbeitslos, weil sie eine komfortable, wohlfahrtsstaatlich abgefederte Arbeitslosigkeit der Erwerbstätigkeit vorziehen. Dass sich die Vorstellung, die soziale Sicherung führe zu höherer Arbeitslosigkeit, auch bei den wohlfahrtsstaatlichen Adressaten durchgesetzt hat, wird durch die Beurteilung der entsprechenden Aussage bestätigt. Ihr stimmt die Mehrheit der Befragten (53,1 %) zu (Abb. 5.6). Die Verhältnisse sind hier jedoch weniger eindeutig als noch bei der »sinkenden Hilfsbereitschaft«. Denn auch der Anteil der Befragten, der die Behauptung, das System der sozialen Sicherung führe zu mehr Arbeitslosigkeit, ablehnt, ist hoch. Zudem gibt es mehr Befragte, die dieser Aussage »überhaupt nicht« zustimmen, als solche, die ihr »voll und ganz« zustimmen, so dass der Gesamtmittelwert (3,52) dem theoretischen Skalenmittel fast genau entspricht. Hinsichtlich der Frage, ob der Wohlfahrtsstaat zu mehr Arbeitslosigkeit führt, besteht also keine eindeutige Tendenz unter den Befragten. Auch die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen sind wiederum sehr groß. Nur 36,3 Prozent der Befragten aus Ostdeutschland, aber 57,5 Prozent der Westdeutschen sind der Meinung, dass das System der sozialen Sicherung zu einer höheren Arbeitslosigkeit führe. Dass der Wohlfahrtsstaat den Arbeitsmarkt stark belaste, ist also vor allem eine »westliche« Vorstellung. Insgesamt fällt bei der Wahrnehmung allgemeiner Wirkungen der wohlfahrtsstaatlichen Absicherung auf, dass die negativen Wirkungen mehr Zustimmung finden als die positiven. Im Kern entspricht dies den kritischen Beurteilungen der bestehenden wohlfahrtsstaatlichen Institutionen (vgl. 5.1) ebenso wie den Präferenzen für höhere Leistungen und den dabei zu beobachtenden Unterschieden zwischen Ost- und Westdeutschen. Die Einschätzungen der allgemeinen Wirkungen des Wohlfahrtsstaates bestärken damit den Gesamteindruck einer insgesamt mäßigen Akzeptanz des bestehenden Systems der sozialen Sicherung. Bei der Beurteilung der weiterreichenden Wirkungen gehen – mit Ausnahme der »sinkenden Hilfsbereitschaft« – die Meinungen aber offenbar weit auseinander. Weder bei den »Segnungen« des Wohlfahrtsstaates, noch bei seinen »perversen Effekten« besteht also ein Konsens in der Bevölkerung.108 Eine Besonderheit ist hier, dass die ostdeutschen Befragten sowohl von den negativen als auch den positiven Wirkungen des Wohlfahrtsstaates weniger überzeugt sind als die westdeutschen. Man könnte daher fast den Eindruck gewinnen, dass im Osten Deutschlands die Skepsis hinsichtlich der wohlfahrtsstaatlichen Gestaltungsund Wirkungsmöglichkeiten generell größer ist. Wahrscheinlicher ist aber wohl eine andere Interpretation: nämlich dass die geringere Zustimmung zu den positiven 108
Bei dieser Einschätzung ist allerdings zu berücksichtigen, dass hier nicht das ganze Spektrum aller denkbaren direkten und indirekten Wirkungen des Wohlfahrtsstaates erfasst werden konnte.
124
5 Höhe und Verteilung der Akzeptanz in der Bundesrepublik Deutschland
Wirkungen von einer größeren Unzufriedenheit mit dem wohlfahrtsstaatlichen Status quo herrührt, während die geringere Zustimmung bei den Negativfolgen ihre Ursache in der höheren allgemeinen Präferenz für Wohlfahrtsstaatlichkeit hat. 5.4 Zusammenfassung: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates und der Wohlfahrtsstaatlichkeit in Deutschland Die hier dargelegten Befunde zur Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates in der Bundesrepublik Deutschland ergeben insgesamt ein zwiespältiges Bild. Einerseits sind die Akzeptanzwerte überraschend niedrig, wenn es um die Beurteilung konkreter wohlfahrtsstaatlicher Institutionen geht. Anderseits bestehen deutliche Präferenzen für eine umfangreiche soziale Sicherung und sogar für »mehr Wohlfahrtsstaat«. Dass in der Akzeptanzforschung zum Wohlfahrtsstaat oft wohl überzeichnete Bild einer hohen Akzeptanz muss entsprechend zurechtgerückt werden: Nicht die Akzeptanz des bestehenden wohlfahrtsstaatlichen Arrangements ist hoch, sondern die der Wohlfahrtsstaatlichkeit. Wie immer man dabei die Ergebnisse für die Institutionenakzeptanz und das Systemvertrauen im Einzelnen einschätzen mag109: Sie lassen sich jedenfalls nicht als ein überzeugendes Votum für die bestehende Ausgestaltung der sozialen Sicherung deuten. Aber auch für eine grundsätzliche Abkehr vom Wohlfahrtsstaat gibt es keine Anzeichen. Die kritischen Beurteilungen sind vielmehr weitgehend auf die konkreten wohlfahrtsstaatlichen Institutionen beschränkt. Es bestehen fundamentale Zweifel an deren Funktionserfüllung, nicht aber am generellen Sinn der Wohlfahrtsstaatlichkeit. In den unterschiedlichen Ergebnissen zur Akzeptanz der bestehenden wohlfahrtsstaatlichen Institutionen und der Wohlfahrtsstaatlichkeit ist kein Widerspruch zu sehen. Beide Ergebnisse ergänzen sich durchaus und können sich zum Teil sogar wechselseitig erklären. Grundsätzlich gilt dabei: je größer die Differenz zwischen Präferenzen und wahrgenommener »Performanz«, desto kritischer die Beurteilung des wohlfahrtsstaatlichen Status quo.110 Dieses allgemeine Ergebnis zur Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates steht in einem zum Teil deutlichen Kontrast zu den Befunden vieler früherer Untersuchungen, die vorwiegend auf Indikatoren der Wohlfahrtsstaatlichkeit basieren.111 Sofern hier aufgrund der Verwendung unterschiedlicher Indikatoren ein Vergleich möglich ist, sind 109
110
111
Bereits in Abschnitt 5.1 wurde deutlich gemacht, dass die »negativen« Bewertungen nicht unbedingt wörtlich zu interpretieren sind. So kann z.B. die im Vergleich zu anderen Sicherungssystemen relativ hohe »Institutionenakzeptanz« der Sozialhilfe damit plausibilisiert werden, dass vergleichsweise geringe Leistungsdefizite wahrgenommen werden (was wiederum womöglich auf ein gegenüber den Sozialversicherungen geringeres Anspruchsniveau zurückzuführen ist). Beim Vertrauen in die Sicherungssysteme und bei der Zufriedenheit mit der eigenen Absicherung sind jedoch auch schon frühere Untersuchungen zu skeptischeren Einschätzungen gekommen (vgl. u.a. Bulmahn 1997; Dallinger 2003).
5.4 Zusammenfassung
125
allerdings auch bei der gewünschten Wohlfahrtsstaatlichkeit die festgestellten Präferenzen nicht ganz so stark, wie dies insbesondere auf der Basis von ISSP- und Eurobarometer-Daten wiederholt festgestellt worden ist. Diese Unterschiede sind vermutlich gleichermaßen auf eine tatsächlich sinkende Akzeptanz der Wohlfahrtsinstitutionen und auf die andere – und wie wir meinen realistischere – Art der Akzeptanzmessung zurückzuführen. Dieser »Realismus« besteht zum einen in der stärkeren Fokussierung auf Akzeptanz der bestehenden wohlfahrtsstaatlichen Institutionen (Institutionenakzeptanz, Systemvertrauen) und zum anderen in der Relationierung der beiden Indikatoren der Wohlfahrtsstaatlichkeit durch die Berücksichtigung von Sicherungsalternativen (staatliche Zuständigkeit) und durch die Verknüpfung mit der wahrgenommenen Leistungshöhe (»Leistungsbewertung«). Bei den einzelnen Akzeptanzindikatoren wurden bereits Unterschiede zwischen ostdeutschen und westdeutschen Befragten deutlich, die sich als überaus konstant und konsistent erwiesen. Diese Unterschiede lassen sich zu zwei Mustern zusammenfassen. Das erste besteht beim gewünschten Umfang der staatlichen Zuständigkeit. Hier wird von den ostdeutschen Befragten nicht nur in höherem Maße als von westdeutschen eine staatliche Zuständigkeit für die als Kernbereiche definierten sozialpolitischen Aufgaben präferiert. Entsprechende Differenzen sind vielmehr auch bei der »erweiterten Wohlfahrtsstaatlichkeit« festzustellen: Auch hier wünschen sich Ostdeutsche bei allen zur Disposition gestellten Aufgaben eher als Westdeutsche ein starkes staatliches Engagement. Dass diese Unterschiede auf eine stärkere tatsächliche Angewiesenheit auf soziale Leistungen oder auch auf die größere Bedrohung durch die zentralen Risiken zurückgeführt werden kann, ist eher unwahrscheinlich. Dagegen sprechen vor allem die vergleichsweise geringen Ost-West-Unterschiede bei der Frage der »wohlfahrtsstaatlichen Intensität« sowie die Gleichförmigkeit der Unterschiede bei der staatlichen Zuständigkeit, die schließlich auch bei Aufgabenbereichen bestehen, bei denen nicht von einem stärkeren Eigeninteresse der ostdeutschen Befragten auszugehen ist (Gesundheitsversorgung, Alterssicherung). Plausibler ist es hier daher, von wohlfahrtskulturellen Unterschieden auszugehen. Wie erwähnt bietet sich hier insbesondere ein bei Ostdeutschen deutlich stärkerer Etatismus als Erklärung an. Hierin kann wiederum ein »sozialistisches Erbe« gesehen werden, das auch der Grund für die geringe Akzeptanz von Einkommensunterschieden sein dürfte.112 Das zweite grundlegende Muster bei den Unterschieden zwischen Ost- und Westdeutschen sind die differenten Beurteilungen von Arbeitslosenversicherung und Sozialhilfe. Ostdeutsche unterscheiden sich in diesen beiden Bereichen von den 112
Dies bestätigen im Übrigen auch Forschungsergebnisse von Roller (1997). So führt Roller (1997: 138) Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen bei der Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen vor allem auf »Sozialisationsfaktoren« zurück, während sie für »ökonomische Einflussfaktoren« keine signifikanten Effekte feststellen kann.
126
5 Höhe und Verteilung der Akzeptanz in der Bundesrepublik Deutschland
westdeutschen Befragten durch eine geringere Institutionenakzeptanz, ein geringeres Systemvertrauen sowie durch Präferenzen für eine höhere wohlfahrtsstaatliche Extensität und Intensität. Noch mehr als bei den allgemeinen Präferenzen bezüglich der Wohlfahrtsstaatlichkeit erscheint es hier nahe liegend, diese Unterschiede auf eine höhere Betroffenheit von Arbeitslosigkeit und eine stärkere Angewiesenheit auf diese beiden Sicherungssysteme zurückzuführen. Auch die stärkere Präferenz der ostdeutschen Befragten für eine »Arbeitsplatzgarantie«, ließe sich so erklären. Erneut kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass auch unterschiedliche kulturelle Traditionen und landesteilspezifische Sozialisationserfahrungen dazu beitragen, dass sich Ost- und Westdeutsche bei ihren Akzeptanzurteilen über die Sozialhilfe und die Arbeitslosenversicherung und bei den entsprechenden Präferenzen unterscheiden.113 Neben den zwischen Ost- und Westdeutschen bestehenden Unterschieden sind auch allgemeine Unterschiede bei der Akzeptanz der einzelnen Sicherungssysteme zu erkennen. So ist bei der Gesetzlichen Rentenversicherung die Unzufriedenheit offenbar am größten. Sie weist die niedrigste Institutionenakzeptanz aller Sicherungssysteme auf und ihr wird das geringste Vertrauen entgegengebracht. Gleichzeitig bestehen hier die stärksten Präferenzen für höhere Leistungen und für eine staatliche Zuständigkeit für die Alterssicherung. Die Gesetzliche Krankenversicherung steht demgegenüber am anderen Ende des Spektrums, wenn man die Ergebnisse für die Institutionenakzeptanz und das Systemvertrauen zugrunde legt. Wie gezeigt schließt dies jedoch nicht aus, dass auch hier deutliche Präferenzen für ein höheres Leistungsniveau bestehen. Ganz ähnlich fällt auch die Beurteilung der Leistungen für Familien aus, für die allerdings weniger Akzeptanzindikatoren vorliegen. Auch hier wird trotz einer vergleichsweise hohen Institutionenakzeptanz ein deutlich stärkeres finanzielles Engagement des Wohlfahrtsstaates gewünscht. Die Beurteilung dieser beiden wohlfahrtsstaatlichen Bereiche macht deutlich, dass auch eine Parallelität von gewünschter Wohlfahrtsstaatlichkeit und Akzeptanz der bestehenden Wohlfahrtsinstitutionen möglich ist. Leistungen für Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger nehmen im Vergleich zu den anderen Sicherungsbereichen eine mittlere Position ein. Weder ist die Unzufriedenheit mit der bestehenden Form der Sicherung so groß wie bei der Gesetzlichen Rentenversicherung, noch sind die Forderungen nach höheren Leistungen so ausgeprägt wie bei den beiden großen Sozialversicherungen. Die Sozialhilfe und das Arbeitslosengeld sind zudem die einzigen Leistungsarten, bei denen sich ein bedeuten113
Dass sich die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen in der Tat nicht auf Unterschiede in den sozialpolitischen Interessenlagen reduzieren lassen, zeigen die entsprechenden Analysen in den Kapiteln 6.1 und 6.2. In diesen erweisen sich die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen als weitgehend stabil, wenn die soziale Lage und insbesondere der Versorgungsklassenstatus kontrolliert werden.
5.4 Zusammenfassung
127
der Teil der Befragten auch für ein geringeres Leistungsniveau ausspricht. Bei der Sozialhilfe kann sogar von einem »Patt« zwischen Befürwortern einer höheren Sozialhilfe und solchen, die eine Absenkung des Leistungsniveaus präferieren, ausgegangen werden. Diese Unterschiede zwischen den einzelnen Sicherungssystemen und Leistungsarten lassen sich dabei nicht ohne weiteres in ein »Beliebtheitsranking« übersetzen. Wohl aber zeigen die starken Präferenzen für höhere Renten und umfassendere GKV-Leistungen, dass die beiden großen Sozialversicherungen bzw. die entsprechenden sozialpolitischen Aufgabenbereiche von besonderer Bedeutung für das Sicherheitsempfinden sind. Hierüber kann auch nicht hinwegtäuschen, dass dies sehr unterschiedliche und vor allem kritische Beurteilungen der konkreten Wohlfahrtsinstitutionen nicht ausschließt.
6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«: Mögliche Erklärungsfaktoren von Akzeptanzurteilen und Akzeptanzunterschieden
Schon bei der Darstellung der wohlfahrtsstaatstheoretischen Ansätze (Kapitel 2.2) wurde deutlich, dass sich aus den konkurrierenden Erklärungen der Entstehung und Entwicklung von Wohlfahrtsstaaten auch unterschiedliche Annahmen über die Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen gewinnen lassen. In den folgenden Abschnitten sollen mehrere dieser Annahmen einer genaueren empirischen Prüfung unterzogen werden. Dies geschieht in fünf Abschnitten, wobei in jedem dieser Abschnitte eine übergreifende Fragestellung verfolgt wird, die sich zum Teil wieder in mehrere Einzelfragen unterteilt. Vor allem in einer konflikttheoretischen Perspektive (vgl. Abschnitt 2.2.2) lassen sich mehrere Hypothesen über Akzeptanzursachen und -unterschiede entwickeln: Die klassische Annahme vor allem interessen- und machttheoretischer Ansätze ist hier, dass der Klassengegensatz zwischen »Kapital« und »Arbeit« auch und gerade in der sozialpolitischen Arena ausgetragen wird. Dementsprechend wird in Kapitel 6.1 zunächst untersucht, inwiefern bei der Beurteilung der sozialen Sicherungssysteme und sozialpolitischen Aufgaben Hinweise auf traditionale Klassengegensätze zu finden sind. Neben der Frage, ob diese klassischen »cleavages« im Bereich der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz (noch) nachweisbar sind, wird in Anlehnung an die »Mittelklassenthese« auch untersucht, ob, soweit dies an Akzeptanzurteilen abgelesen werden kann, die Integration der Mittelklassen in den Wohlfahrtsstaat gelungen ist oder ob sich die mittleren Schichten – im Sinne der Annahme eines »welfare backlash« – durch eine kritischere oder gar ablehnende Haltung gegenüber dem Wohlfahrtsstaat auszeichnen. Schließlich wird in diesem ersten Kapitel untersucht, in welchem Maße die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme durch die parteipolitischen Orientierungen erklärt werden kann. Hierzu wird der Einfluss der Parteiaffinität114 auf die Akzeptanzurteile analysiert.
114
Als »Parteiaffinität« wird hier eine Operationalisierungsvariante des Konzepts der »Parteiidentifikation« bezeichnet (vgl. Anhang A2.3), ohne dass dessen theoretischen Implikationen hier übernommen werden (zur »Parteiidentifikation« vgl. a. Schoen/Weins 2005: 206ff.).
6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«
129
Als eine besondere Form von Konfliktpotenzial können Interessengegensätze gelten, die sich erst aus der umfassenden sozialen Absicherung und vor allem infolge der damit verbundenen redistributiven Wirkungen ergeben. Denn vor allem zeitpunktbezogen, aber auch in der »Lebenslaufbilanz« begünstigt und benachteiligt der Wohlfahrtsstaat einzelne Bevölkerungsgruppen. Offensichtlich wird dies insbesondere dann, wenn soziale Sicherungssysteme zur Herausbildung von Versorgungsklassen führen. Im zweiten Abschnitt (6.2) wird daher vor allem der Frage nachgegangen, wie sich der Versorgungsklassenstatus bzw. die sozialpolitische Verteilungsposition auf die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme auswirkt. Dies geschieht in einer doppelten Perspektive: zum einen für die unterschiedlichen »positiv privilegierten« Versorgungsklassen (Rentner, Sozialhilfeempfänger und Arbeitslose), zum anderen für mögliche Gegensätze zwischen positiven Versorgungsklassen und »Finanzierungsklassen«. Da davon auszugehen ist, dass die Akzeptanzurteile nicht nur von den objektiven, durch die Klassen- oder sozialpolitische Verteilungsposition bestimmten Interessenlagen beeinflusst werden, wird zusätzlich untersucht, welche Bedeutung subjektive Interessendefinitionen für die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme haben. Die Möglichkeit einer neuen Konfliktlinie ergibt sich aus den intergenerationellen Verteilungswirkungen des Wohlfahrtsstaates. Ob ungleiche Belastungen und Begünstigungen durch soziale Sicherungssysteme wahrgenommen werden und wie sie gegebenenfalls beurteilt werden, wird in Kapitel 6.3 untersucht. An den Beispielen der Gesetzlichen Rentenversicherung und von Leistungen für Familien und Alleinerziehende wird vor allem der Frage nachgegangen, inwiefern sich in den Akzeptanzurteilen zu diesen beiden Sicherungsbereichen Gegensätze zwischen unterschiedlichen Generationen oder Altersgruppen widerspiegeln, aus denen auf einen latenten Generationenkonflikt geschlossen werden kann. Im Gegensatz zu interessen- und konflikttheoretischen Wohlfahrtsstaatstheorien betonen wohlfahrtskulturelle Ansätze (vgl. Abschnitt 2.2.3) die Bedeutung, die Ideologien, Deutungsmuster und Wertorientierungen sowie die öffentlichen Diskurse, in denen konkurrierende Deutungen durchgesetzt und verändert werden, für die wohlfahrtsstaatliche Entwicklung haben. Dazu gehören zum einen hier nicht zu behandelnde Aspekte nationaler Ideologien und nationalstaatlicher Diskursverläufe, zum anderen aber auch kulturelle Unterschiede und »Verwerfungen« auf der Mikroebene der wohlfahrtsstaatlichen Adressaten. Insofern ist zu vermuten, dass sich auch normative Orientierungen auf die Beurteilung sozialer Sicherungssysteme auswirken. Aus diesem Grund wird in Abschnitt 6.4 untersucht, welche Bedeutung normative Orientierungen für die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates haben. Hierzu wird der Einfluss betrachtet, den Gerechtigkeitsüberzeugungen und grundlegende Handlungs- und Sozialorientierungen auf die Akzeptanzurteile haben. Sowohl auf wohlfahrtskulturelle als auch auf institutionalistische Überlegungen (vgl. Abschnitt 2.2.4) stützen sich Erklärungen, die die Unterschiede zwischen Wohl-
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6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«
fahrtsstaaten und die offenkundige Variabilität wohlfahrtsstaatlicher Institutionen auf moralökonomische Faktoren zurückführen. Ein wichtiger Bestandteil der »wohlfahrtsstaatlichen Moralökonomie« sind Vorstellungen eines »legitimen« Leistungsempfangs sowie daraus abgeleitete Wahrnehmungen und Be- bzw. Verurteilungen der unterschiedlichen Leistungsempfängertypen. Zentral ist hierbei die Kategorie der »deservingness«. Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, dass die »Leistungsempfängerbilder« einen erheblichen Einfluss auf die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme haben. Im abschließenden Kapitel des analytischen Teils (6.5) wird daher untersucht, wie sich Typisierungen von Leistungsempfängern auf die Akzeptanz der korrespondierenden Sicherungssysteme auswirken. In den detaillierten Analysen zur Bedeutung, die die unterschiedlichen Faktoren für die Erklärung der Akzeptanzurteile über wohlfahrtsstaatliche Institutionen haben, werden für die einzelnen Themenbereiche jeweils unterschiedliche Sicherungssysteme und unterschiedliche Akzeptanzindikatoren verwendet. Bereits aufgrund rein pragmatischer Erwägungen ist klar, dass nicht alle Akzeptanzindikatoren für alle Sicherungsbereiche und für jeden Schwerpunkt untersucht werden können. Angesichts der großen Zahl möglicher Kombinationen – allein für den Kernbereich wären 90 Einzelanalysen erforderlich – würde die Darstellung schnell ins Uferlose gehen. Welche Akzeptanzindikatoren und Sicherungsbereiche im Einzelnen herangezogen werden, ergibt sich dabei aus der Relevanz für die jeweilige Fragestellung. In einigen Fällen ist eine solche Auswahl fast »selbstevident«115, in anderen muss sie nach genauer Abwägung der einzelnen Vor- und Nachteile – und bei einem gewissen Maß an unvermeidbarer Kontingenz – getroffen werden.116 Eine genaue Erläuterung der Auswahl findet sich in den jeweiligen Kapiteln (für eine Gesamtübersicht über die verwendeten Akzeptanzindikatoren und untersuchten Sicherungssysteme vgl. Anhang A1).
115
116
So kann z.B. die Bedeutung von Versorgungsklassen (6.2) nur für Sicherungssysteme untersucht werden, in denen es auch zur Herausbildung derart stabiler Verteilungslagen kommt. Der Frage, ob sich ein Generationenkonflikt um die soziale Sicherung abzeichnet (6.3), wird dagegen am Beispiel der Sicherungssysteme nachgegangen, bei denen ein Gegensatz zwischen Altersgruppen am wahrscheinlichsten ist (Rentenversicherung und Leistungen für Familien). Ganz verzichtet wird auf das Systemvertrauen. Der Grund hierfür ist denkbar einfach: Zum einen haben die Häufigkeitsanalysen gezeigt, dass die Unterschiede zwischen dem Systemvertrauen und der Institutionenakzeptanz immer nur gering sind. Da das Systemvertrauen zudem ein niedrigeres Skalenniveau aufweist als die Institutionenakzeptanz, scheint es gerechtfertigt, bei der Akzeptanz des Status quo ausschließlich auf die Institutionenakzeptanz zurückzugreifen. Darüber hinaus ist Systemvertrauen ein vergleichsweise enges Konzept und daher für einige Fragestellungen weniger geeignet als die Institutionenakzeptanz.
6.1 Klassen, Parteien und die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates
131
6.1 Klassen, Parteien und die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates 6.1.1 Einleitung Der Wohlfahrtsstaat ist wesentlich ein Produkt von Klassenauseinandersetzungen und die verschiedenen Wohlfahrtsstaatstypen können entsprechend als unterschiedliche Versionen eines »Kompromisses« der gegensätzlichen Klasseninteressen zwischen Unternehmern und Arbeiterbewegung angesehen werden – oder aber auch als Erfolg einer sozialreformerisch ausgerichteten Arbeiterbewegung (vgl. u.a. Baldwin 1990; Esping-Andersen 1990; Heimann 1980). Arbeiter – zumindest alle in nicht-revolutionären Arbeiterparteien jeglicher Couleur organisierten Arbeiter – und ihnen nahe stehende Bevölkerungsgruppen gelten daher auch als Hauptunterstützer des Wohlfahrtsstaates und der sozialreformerische Teil der Arbeiterbewegung als wichtigster Motor des weiteren Ausbaus der sozialen Sicherung. Als traditionale Wohlfahrtsstaatsgegner standen ihnen vor allem die Unternehmerschaft, der »alte Mittelstand« und die selbständigen Landwirte gegenüber. Die Gründe für eine wohlfahrtsfeindliche Haltung dieser Bevölkerungsgruppen sind dabei durchaus unterschiedlich; hauptsächlich dürfte sie aber durch die materiellen Nachteile (Belastung der Unternehmer durch Sozialversicherungsbeiträge) und durch die Distinktionsbedürfnisse von Angestellten und Beamten gegenüber der Arbeiterklasse motiviert (gewesen) sein. Die Vermutung einer höheren Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme bei Arbeitern basiert weniger auf der gewiss zutreffenden Überlegung, dass wohlfahrtsstaatliche Prinzipien in der »Arbeiterkultur« stärker verankert sind als in anderen sozialen Milieus. Ihr liegt vielmehr die allgemeine Annahme zugrunde, dass die Akzeptanz bei den Bevölkerungsgruppen am höchsten ist, die den größten Risiken (vor allem denen des Arbeitsmarktes) ausgesetzt sind und in geringem Maße über die materiellen und kognitiven Ressourcen für eine private Vorsorge verfügen; kurz: die am stärksten auf eine staatlich organisierte und garantierte Absicherung angewiesen sind. Demzufolge müssten u.a. Arbeiter und Bezieher niedriger Einkommen den Wohlfahrtsstaat stärker unterstützen als insbesondere Selbständige (inkl. Freiberufler) und abhängig Beschäftigte in privilegierten Positionen (Beamte, leitende Angestellte). Die sozialstrukturelle Entwicklung hat insbesondere nach 1945 zu einer Veränderung des Kräfteverhältnisses zwischen Unterstützern und Gegnern des Wohlfahrtsstaates geführt. So ist die Zahl der traditionellen Wohlfahrtsstaatsgegner (Landwirte, kleine Selbständige) deutlich zurückgegangen. Parallel haben die neuen »Mittelklassen« (oder Mittelschichten) zunehmend an Gewicht gewonnen. Im Unterschied
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6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«
zum »alten Mittelstand« setzen diese sich in erster Linie aus Angestellten und Beamten zusammen, von denen ein großer Teil im öffentlichen Sektor beschäftigt ist.117 Die Angehörigen der neuen Mittelschichten sind den Risiken der modernen Arbeitsmarktexistenz meist in ähnlicher Weise ausgesetzt wie die Arbeiter, unterscheiden sich von diesen jedoch durch die im Durchschnitt günstigere ökonomische Lage und eine dadurch bedingte größere Selbsthilfefähigkeit. Anders als beim »alten Mittelstand« kann bei ihnen daher ein grundsätzliches, wenn auch im Vergleich zu den Arbeitern schwächeres Interesse an einer wohlfahrtsstaatlichen Sicherung vorausgesetzt werden. Wie in Kapitel 2.2 dargelegt wurde, gehen die Einschätzungen darüber, wie Angehörige der »neuen Mittelkassen« über den Wohlfahrtsstaat denken, auseinander. Während Vertreter der »Mittelklassenthese« (Baldwin1990; Goodin/Dryzek 1987) deren erfolgreiche, vor allem durch die Berücksichtigung spezifischer Mittelklasseninteressen gelungene Integration in den Wohlfahrtsstaat annehmen, sehen andere Beobachter in den Mittelklassen das größte wohlfahrtsstaatsfeindliche Protestpotenzial. Einiges spricht jedoch dafür, dass die Evidenz für diese gegenläufigen Annahmen mit den nationalen wohlfahrtsstaatlichen Rahmenbedingungen variiert (vgl. Abschnitt 2.2.2). Die Zweifel daran, ob sozialstrukturanalytisch relevante Klassenunterschiede (noch) bestehen bzw. inwieweit sie grundlegende politisch-weltanschauliche Demarkationslinien darstellen (Rokkan/Lipset 1967), sind jedoch immer lauter geworden, ohne dass die Kontroverse über den Nutzwert von Klassenbegriffen für die soziologische Forschung und Theoriebildung in irgendeiner Weise als abgeschlossen gelten könnten (vgl. zusammenfassend: Berger 1998). Unterschiedliche Einschätzungen der jetzigen und zukünftigen Bedeutung von Klassenunterschieden wirken sich dabei auch auf Annahmen über klassenbasierte Unterschiede bei der Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen aus (vgl. a. Svallfors 2004). So nimmt ein Teil der Beobachter an, dass Klassenunterschiede schon deshalb zunehmend weniger auf die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates durchschlagen, weil mit steigendem Wohlstand die Angewiesenheit auf eine wohlfahrtsstaatliche Absicherung in allen Bevölkerungsgruppen dramatisch zurückgegangen sei und die mit dem Wohlfahrtsstaat verbundenen Nachteile (Steuer-/Beitragslast; staatliche Bevormundung) gleichzeitig immer mehr in den Vordergrund gerückt seien. Entsprechend wird ein allgemeiner Rückgang der Akzeptanz angenommen (vgl. u.a. Inglehart 1990; Offe 1997).
117
Aufgrund ihrer zahlenmäßigen Stärke, aber auch wegen der strategisch günstigen Position als »Mehrheitsbeschaffer« wird häufig angenommen, dass den Mittelschichten für den Ausbau des Wohlfahrtsstaates entscheidende Bedeutung zukam. Sofern deren Einbezug erfolgreich gelungen war, konnte das System der sozialen Sicherung deutlich stärker ausgebaut werden als dort, wo sich die Mittelklassen in einer latenten oder offenen Opposition zum Wohlfahrtsstaat befanden.
6.1 Klassen, Parteien und die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates
133
Diese auch als »Sättigungsthese« bekannte Annahme findet jedoch wenig empirische Unterstützung (vgl. explizit: Ervasti 2001; Evans 1996): Weder schwinden bei der Beurteilung des Wohlfahrtsstaates die Unterschiede zwischen den Klassen völlig, noch sind sie in Wohlfahrtsstaaten mit hohem Wohlstandsniveau besonders gering. Auch die »Mittelklassenthese«, nach der die Klassenunterschiede bei der Unterstützung des Wohlfahrtsstaates zurückgehen, weil die Abhängigkeit von sozialen Sicherungssystemen aller Erwerbstätigen sehr hoch ist bzw. sich die Risikolagen klassenübergreifend angeglichen haben, wird in diesem Sinne (einer Angleichung der Akzeptanzwerte auf hohem Niveau) kaum durch die Ergebnisse der Umfrageforschung gestützt (vgl. a. Papadakis 1993; Svallfors 1999). Gleiches gilt jedoch auch für die gegenläufige und nur selten vertretene Auffassung einer zunehmenden Bedeutung von Klassenunterschieden bei der Unterstützung des Wohlfahrtsstaates. So geht z.B. Breen (1997) von einer »Rekommodifizierung« (erneut wachsenden Marktabhängigkeit) und einem entsprechenden Anwachsen von Klassengegensätzen im Kontext der wohlfahrtsstaatlichen Sicherung aus.118 Wie sich die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates in einzelnen Klassen und Schichten verändert hat, kann im Folgenden nicht geklärt werden. Vielmehr soll untersucht werden, ob sich überhaupt Auswirkungen der Klassenpositionen auf die Akzeptanzurteile nachweisen lassen. Wie schon in Abschnitt 3.2 betont wurde, ergeben die Befunde der Akzeptanzforschung hier in ihrer Gesamtheit für Klassen-, Schicht- und Einkommenseffekte kein einheitliches Bild. Während einige Autoren eine höhere Unterstützung des Wohlfahrtsstaates bei Arbeitern insbesondere im Verhältnis zu Selbständigen feststellen (u.a. Evans 1996; Gangl 1997; Svallfors 1995, 2004), schätzen andere die Akzeptanzunterschiede zwischen Klassen- und Schichtpositionen als eher unerheblich ein (u.a. Cook/Barrett 1992; Roller 1992; Papadakis 1993). Häufig wird daher auch vermutet, dass Klassendifferenzen bei der Beurteilung der sozialen Sicherung in den einzelnen Wohlfahrtsstaatstypen unterschiedlich stark »durchschlagen«. Nach Esping-Andersen (1990) ist der stärkste Klassengegensatz in liberalen Wohlfahrtsstaaten zu erwarten, während er in sozialdemokratischen allmählich verschwinde und in konservativen zunehmend durch die Trennlinie zwischen »Insidern« (voll gesicherten Lohnabhängigen) und »Outsidern«, die nicht oder nur teilweise durch den Sozialstaat erfasst werden, ersetzt werde. Auch die Gefahr
118
Alle diese Vermutungen über sinkende oder wachsende Klassenunterschiede bei der Unterstützung des Wohlfahrtsstaates basieren auf Annahmen über Veränderungen in der Abhängigkeit von der sozialen Sicherung. Denkbar ist aber auch, dass klassenspezifische Präferenzen bestehen, die nicht auf das kollektive Sicherungsinteresse zurückzuführen sind, etwa wenn Arbeiter auch angesichts einer geringeren Angewiesenheit auf staatliche Absicherungsformen an wohlfahrtsstaatlichen Prinzipien und Überzeugungen festhalten und sich aus diesem Grunde hinsichtlich der Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen von anderen Bevölkerungssegmenten unterscheiden.
134
6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«
eines »welfare-state backlash« der Mittelklassen sieht er nur für die liberalen Wohlfahrtsstaaten.119 Die empirischen Anhaltspunkte für derartige Unterschiede zwischen Wohlfahrtsstaatstypen sind allerdings gering. Schon Evans (1996) konnte in seinem Vergleich von acht Wohlfahrtsstaaten nur eher allgemeine Unterschiede zwischen anglo-amerikanischen und europäischen Wohlfahrtsstaaten feststellen; die Akzeptanzunterschiede zwischen den sozialen Klassen ergeben dabei kein konsistentes Muster (1996: 200ff.). Auch Svallfors (2004) findet Esping-Andersens Annahmen nicht bestätigt. So stellt er z.B. in seinem Vergleich von Schweden, Deutschland, den USA und Großbritannien für Schweden die größten Unterschiede zwischen sozialen Klassen fest. Für die anschließenden Analysen soll daher auch an den in Abschnitt 2.2.2 skizzierten Annahmen festgehalten werden. Demnach ist für den »konservativen« deutschen Wohlfahrtsstaat durchaus davon auszugehen, dass sich der Konflikt zwischen »Kapital« und »Arbeit« auch in Einstellungen zum Wohlfahrtsstaat wiederfinden lässt. Dies wurde in erster Linie auf die zentrale Bedeutung der Sozialversicherungen zurückgeführt, bei denen die »Arbeitgeber« unmittelbar an der Finanzierung beteiligt sind. Ein »welfare state backlash« der Mittelklassen ist aufgrund der starken Mittelschichtorientierung der sozialen Sicherung (Beitragsfinanzierung; Äquivalenzprinzip; Aufrechterhaltung von Statusunterschieden) dagegen unwahrscheinlich. Zwar sind Unterschiede zwischen Arbeitern und Angehörigen der Mittelklassen insbesondere bei der Akzeptanz von Leistungen zu erwarten, die traditionell durch eine gewisse »Mittelklassenferne« gekennzeichnet sind (z.B. Sozialhilfe)120, durchaus vorstellbar – nicht jedoch eine grundlegende Abkehr der Mittelklassen vom Wohlfahrtsstaat. Für die Frage, wie sehr sich politische Orientierungen auf die Beurteilung der sozialen Sicherung auswirken, ist ähnlich wie für die sozialen bzw. Klassenpositionen festzustellen, dass die Ergebnisse der Akzeptanzforschung hierzu bisher uneinheitlich und insgesamt unbefriedigend sind.121 Einerseits ist davon auszugehen, dass sich Unterschiede in der Parteipräferenz in dem Maße auswirken, wie wohlfahrtsstaatliche Leistungen Gegenstand parteipolitischer Auseinandersetzungen sind oder waren.122 Je nachdem, ob und wie der grundsätzliche strukturelle Gegensatz von »Kapital« und »Arbeit« gelöst bzw. institutionalisiert wurde, wurde auch die soziale 119
120
121 122
»The risks of welfare-state backlash depend not on spending, but on the class character of welfare states. Middle-class welfare states, be they social democratic (as in Scandinavia) or corporatist (as in Germany), forge middle-class loyalties. In contrast, the liberal, residualist welfare states found in the United States, Canada and, increasingly, Britain, depend on the loyalties of a numerically weak, and often politically residual, social stratum« (Esping-Andersen 1990: 33). Grundsätzlich gilt dies auch für den umgekehrten Fall von »mittelklassennahen« Leistungen z.B. für Bildung und Kultur, die hier jedoch nicht untersucht werden. Zu unterschiedlichen Einschätzungen für die Bundesrepublik vgl. u.a. Roller (1992) und Gangl (1997). Hier ist dann allerdings die Frage von Ursache und Wirkung nicht mehr genau zu klären.
6.1 Klassen, Parteien und die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates
135
Sicherung zum Gegenstand parteipolitischer Auseinandersetzungen zwischen Linksparteien auf der einen und liberalen und konservativen Parteien auf der anderen Seite. Vor allem in liberalen Wohlfahrtsstaaten bzw. in zwischen liberalen und sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaatsmodellen changierenden Wohlfahrtsstaaten des »lib-lab-Pfades« (Hicks et al. 1995; vgl. a. Borchert 1998) ist daher ein deutlicherer Niederschlag parteipolitischer Präferenzen auf die Beurteilung der sozialen Sicherung zu erwarten. In konservativen Wohlfahrtsstaaten ist dagegen eher von einem breiten parteipolitischen Konsens auszugehen – nicht zuletzt auch aufgrund des großen Einflusses christlicher und christdemokratischer Parteien auf die wohlfahrtsstaatliche Entwicklung (vgl. u.a. Kaufmann 1988, van Kersbergen 1995). Auch für Deutschland scheint die Annahme eines breiten Konsenses über den Wohlfahrtsstaat zutreffend: Der Wohlfahrtsstaat (oder nach einem in der alten Bundesrepublik verbreiteten Verständnis: der Sozialstaat) wurde, zumindest was seine Kerninstitutionen betrifft, lange von einem parteiübergreifenden Konsens getragen. Andererseits hat sich die wohlfahrtsstaatliche Agenda dramatisch gewandelt und es ist alles andere als klar, ob in Zeiten des wohlfahrtsstaatlichen Rückbaus weiterhin von einem parteiübergreifenden Konsens bezüglich der wohlfahrtsstaatlichen Basisinstitutionen ausgegangen werden kann. Es ist daher durchaus möglich, dass sich die Bedingungen für eine »Politisierung« der wohlfahrtsstaatlichen Sicherung verändert haben. Erste »Auflösungserscheinungen« des (westlichen) Nachkriegskonsenses sind seit den 1990er Jahren zu beobachten, wofür vor allem die »Neoliberalisierung« der FDP und die Erweiterung des Parteienspektrums (PDS) Anhaltspunkte sind.123 Ein Einfluss von Parteiaffinitäten auf die Akzeptanzurteile ist aber wohl vor allem bei nicht institutionalisierten Leistungsarten und Absicherungsformen zu erwarten sowie bei konkreteren Reformvorhaben, die zumindest in Teilen Parteien und Parteiblöcken zugerechnet werden können (vgl. z.B. Ullrich/Christoph 2006). Für den deutschen Wohlfahrtsstaat ist daher allgemein anzunehmen, dass die Unterschiede zwischen den Anhängern verschiedener Parteien bei der Beurteilung des Kernbereichs der sozialen Sicherung insgesamt gering sind. Größere Unterschiede können dagegen bei Fragen der »erweiterten Wohlfahrtsstaatlichkeit« erwartet werden. Zur Untersuchung der Frage, ob bei der Beurteilung der sozialen Sicherung Unterschiede zwischen Klassen bzw. sozialen Positionen sowie nach Parteiaffinität bestehen, wird in den folgenden Analysen auf zwei Arten von Akzeptanzindikatoren zurückgegriffen (für eine ausführliche Beschreibung vgl. Abschnitt 4.2): Zum einen sind dies die Beurteilungen der Leistungshöhe von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe, zum 123
Inwiefern sich hier aber ein grundlegender wohlfahrtsstaatlicher Dissens zwischen den Parteien abzeichnet (oder schon besteht), ist nur schwer zu beurteilen. Zumindest scheinen – wie u.a. die Diskussion um Grundeinkommen und Bürgergeld zeigt – die »Binnenvariationen« oftmals größer als die Differenzen zwischen den Parteien.
136
6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«
anderen die staatliche Zuständigkeit für Arbeitsplätze und für die Verringerung der Einkommensunterschiede, zwei sozialpolitische Zielsetzungen, die der »erweiterten Wohlfahrtsstaatlichkeit« zugerechnet wurden, weil sie nicht zum institutionalisierten Kernbestand des deutschen Wohlfahrtsstaates gehören. Das Arbeitslosengeld und die Sozialhilfe sind die zwei Leistungsarten des Kernbereichs der sozialen Sicherung, die bei der Wahrscheinlichkeit einer Angewiesenheit die größten Unterschiede zwischen Klassen- und Einkommenslagen aufweisen. Im Gegensatz zur Renten- und zur Krankenversicherung sind sie zudem Minderheitsprogramme. Es ist daher anzunehmen, dass bei der Beurteilung dieser Sicherungsbereiche eher Klassenunterschiede zu finden sind. Grundsätzlich ist jedoch auch für die Arbeitslosenversicherung und die Sozialhilfe von einem eher hohen Konsens über die generelle wohlfahrtsstaatliche Absicherung dieser Ziele auszugehen (vgl. auch Sachweh et al. 2006). Nennenswerte Unterschiede zwischen sozialen Lagen oder nach Parteiaffinität sind daher erst bei der Frage nach dem Umfang der Absicherung (Präferenzen bezüglich der Leistungshöhe) zu erwarten. Auch hinsichtlich der Ziele »staatliche Sorge für Arbeitsplätze« und »Abbau von Einkommensunterschieden« ist eher als bei anderen wohlfahrtsstaatlichen Aufgaben und Bereichen von einem Einfluss der sozialen Lage und der Parteiaffinität auf die Beurteilung auszugehen – zum einen, weil die Vorteile (und zumindest, was die Frage der Reduzierung von Einkommensunterschieden betrifft, auch die Nachteile) sozial sehr unterschiedlich verteilt sind, und zum anderen, weil es sich um nichtkonsensuelle Ziele handelt. Diese Auswahl von Akzeptanzindikatoren und Sicherungsleistungen stellt somit den Versuch einer Fokussierung auf die Bereiche dar, bei denen am ehesten mit Klassenunterschieden zu rechnen ist. Sollten selbst hier keine Unterschiede zwischen Angehörigen unterschiedlicher sozialer Klassen und Lagen zu finden sein, so kann dies auch für andere Sicherungsziele und -bereiche ausgeschlossen werden. Von der allgemeinen, der Auswahl der Akzeptanzindikatoren zugrunde liegenden Annahme ausgehend, dass sich Unterschiede zwischen sozialen Klassen und Lagen sowie zwischen Anhängern unterschiedlicher Parteien vor allem dann finden lassen müssten, wenn es um den Umfang der sozialen Sicherung (Höhe der Leistungen) oder um Leistungen geht, bei denen der potenzielle Nutzen (etwa die Chancen eines Leistungsbezugs) klassen- oder lagespezifisch ungleich verteilt sind, werden den nachstehenden Analyen (6.1.2) folgende Annahmen zugrunde gelegt: Wegen der höheren potenziellen Angewiesenheit auf Arbeitslosengeld und Sozialhilfe wird bei Arbeitern eine stärkere Präferenz für höhere Leistungen erwartet (H1). Dabei sollte der Unterschied zu den Selbständigen, die beim Arbeitslosengeld noch zusätzlich durch die Arbeitgeberbeiträge belastet werden, besonders deutlich sein. Solche durch die soziale Lage und die Art der Erwerbstätigkeit bestimmten Unterschiede sind grundsätzlich zunächst einmal unabhängig vom Einkommen. Ent-
6.1 Klassen, Parteien und die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates
137
sprechend wird daher angenommen, dass Unterschiede zwischen sozialen Klassen auch bei Kontrolle des Einkommens bestehen bleiben (H1.1). Die Unterschiede entlang von Klassen- und Einkommensgrenzen sollten beim beitrags- bzw. einkommensabhängigen Arbeitslosengeld stärker sein als bei der Sozialhilfe (H2). Bei der Sozialhilfe ist zu vermuten, dass zusätzlich eine Trennlinie zwischen Erwerbstätigen und Nicht-Erwerbstätigen – bzw. zwischen Personen in »Normalarbeitsverhältnissen« und solchen in prekärer Beschäftigung und mit diskontinuierlichen Erwerbsbiografien – verläuft (vgl. hierzu auch Abschnitt 6.2). Die Akzeptanz der traditional-materialistischen Aspekte der »erweiterten Wohlfahrtsstaatlichkeit« (»Arbeitsplätze« und »Abbau von Einkommensunterschieden«) sollte bei Arbeitern (Facharbeiter und ungelernte) und den unteren Einkommensgruppen größer sein (H3). Die wichtigsten Gründe für diese Annahme sind der höhere potenzielle und unmittelbare Nutzen (höheres Arbeitslosigkeitsrisiko und geringeres Einkommen). Aufgrund der starken »Mittelschichtorientierung« des deutschen Wohlfahrtsstaates, wird – trotz Unterschieden im Vergleich zu den Arbeiterklassen – insgesamt eine positive Akzeptanz der »Mittelklassen« erwartet (H4). Wegen der vergleichsweise hohen Befürwortung von Leistungskürzungen bei der Sozialhilfe (vgl. Kap. 5; Abb. 5.4e) und aufgrund der für Angehörige der Mittelkassen deutlich geringeren Sozialhilfewahrscheinlichkeit wird diese allgemeine Annahme jedoch für die Höhe der Sozialhilfe relativiert. Wenn es zumindest so etwas wie »Ressentiments« (wenn vielleicht auch keinen »welfare backlash«) der Mittelklassen gegen die soziale Sicherung gibt, dann sollten sich diese bei der »Leistungsbewertung« der Sozialhilfe nachweisen lassen (H4.1). Im Unterschied zu Wohlfahrtsstaaten, in denen die soziale Sicherung in stärkerem Maße Gegenstand parteipolitischer Auseinandersetzungen war (oder ist), ist für Deutschland ein geringer Einfluss der Parteineigung auf die Beurteilung des Wohlfahrtsstaates anzunehmen. Aufgrund des lange Zeit breiten, parteiübergreifenden Konsenses sollten sich die Anhänger unterschiedlicher Parteien bei der Beurteilung sozialer Sicherungssysteme insgesamt nicht allzu sehr unterscheiden, wenn für sozialstrukturelle Faktoren kontrolliert wird (H5). Dies gilt jedoch nur für die Kerninstitutionen der sozialen Sicherung (hier also für die Beurteilung der Leistungshöhe von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe). Deutlichere Unterschiede sollten dagegen bei der »erweiterten Wohlfahrtsstaatlichkeit« erkennbar sein. Denn sowohl bei der staatlichen Sorge für Arbeitsplätze als auch beim Abbau von Einkommensunterschieden handelt es sich um klassische »sozialdemokratische« Ziele (vgl. a. Roller 2002). Ihre Akzeptanz sollte unter den Anhängern der SPD (und der PDS) größer sein als bei denen anderer Parteien (H6).
138
6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«
6.1.2 Arbeiter und »Mittelklassen«: Unterschiede zwischen sozialen Klassen bei der Beurteilung sozialer Sicherungssysteme Ein erster Blick auf die Häufigkeitsverteilungen bei der Beurteilung der Leistungshöhe von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe macht für die Frage von Unterschieden zwischen Angehörigen unterschiedlicher soziale Klassen – hier wird ein auf sechs Klassen verdichtetes Klassenschema nach Erikson und Goldthorpe (1992) verwendet (im Folgenden auch als EGP abgekürzt; vgl. 4.3) – zweierlei deutlich (vgl. Abb. 6.1.1): Erstens sind bereits auf der deskriptiven Ebene Unterschiede erkennbar, die den allgemeinen Erwartungen zumindest grob entsprechen. Angehörige der Dienstklassen und Selbständige befürworten deutlich häufiger ein geringeres Arbeitslosengeld und eine niedrigere Sozialhilfe als Arbeiter.124 So sprechen sich nur 40,8 Prozent der Angehörigen der Dienstklassen für eine höhere Sozialhilfe aus, aber immerhin 57,4 Prozent der ungelernten Arbeiter. Die Unterschiede zwischen »Facharbeitern« und »an- und ungelernten Arbeitern« bei der Befürwortung höherer Leistungen sind allerdings jeweils relativ groß. Abbildung 6.1.1: »Leistungsbewertung« (Präferenzen für Leistungskürzungen und -erhöhungen) von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe nach sozialen Klassen (Häufigkeiten in Prozent)125 Arbeitslosengeld 80
74,1
70 57,0
64,5
60 53,1 53,1
Dienstklasse 50
Nichtmanuelle Routinetätigkeit
43,5
Selbstständige 40 31,5 30
Facharbeiter, Techniker, Meister Un- und angelernte Arbeiter
25,0 18,5
25,0 21,9
19,9
17,0
20
Landwirte, Landarbeiter
29,0
29,8
14,0 15,6 7,4
10
0
Kürzung
Niveau beibehalten
Erhöhung
N=1151 124
125
Die »selbständigen Landwirte und Arbeiter im primären Sektor« werden aufgrund der (trotz des Zusammenlegens der beiden Klassen) insgesamt geringen Fallzahl nicht in die Analysen einbezogen. Für den Zweck der Darstellung wurden die Werte der Variablen zusammengefasst. Als »Erhöhung« wurden dabei alle positiven Werte der Differenz von gewünschter und wahrgenommener Leistungshöhe definiert, als »Kürzung« entsprechend alle negativen.
139
6.1 Klassen, Parteien und die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates
Sozialhilfe 80
70
57,4
60 51,9 50,8 48,3
50 40,8 40
42,6
Dienstklasse Nichtmanuelle Routinetätigkeit Selbstständige
34,6 32,9 34,5 29,6
Landwirte, Landarbeiter
28,3
30
26,1
Facharbeiter, Techniker, Meister
24,7 24,4 18,5 17,2
20
20,9
Un- und angelernte Arbeiter 16,5
10
0
Kürzung
Niveau beibehalten
Erhöhung
N=1105
Andererseits kommt in diesen Unterschieden bei der Beurteilung der Leistungshöhe kein grundlegender Gegensatz zwischen den einzelnen sozialen Klassen zum Ausdruck. So befürworten auch Angehörige der Dienstklassen und Selbständige eher höhere als niedrigere Leistungen bei der Arbeitslosenversicherung und der Sozialhilfe, während immerhin ungefähr ein gutes Viertel der Arbeiter sich für Kürzungen bei der Sozialhilfe ausspricht (26,1 und 28,3 Prozent). Ein ähnliches Bild ergibt sich für die staatliche Sorge um Arbeitsplätze und für die Reduzierung von Einkommensunterschieden (Abb. 6.1.2). So überwiegt in allen sozialen Klassen die Zustimmung zu den genannten wohlfahrtsstaatlichen Zielen ganz deutlich. Die zusammengefassten Werte der Zustimmung schwanken zwischen 70,6 Prozent (Selbständige) und 90,1 Prozent (ungelernte Arbeiter) bei der staatlichen Sorge für Arbeitplätze und zwischen 58,5 Prozent (Dienstklasse) und 82,5 Prozent (ungelernte Arbeiter) beim Abbau von Einkommensunterschieden. Andererseits sind jedoch auch hier die Unterschiede im Grad der Zustimmung unverkennbar. Die ablehnenden Haltungen sind insbesondere bei den Angehörigen der Dienstklassen und bei den Selbständigen deutlich häufiger als bei Arbeitern. Insgesamt verdeutlichen die Häufigkeitsverteilungen, dass Unterschiede zwischen sozialen Klassen bei den Präferenzen hinsichtlich des Leistungsniveaus und des Umfangs des Wohlfahrtsstaates bestehen und dass diese Unterschiede der Erwartung entsprechen, dass Arbeiter stärker als Angehörige anderer sozialer Klassen eine umfassende und generöse Wohlfahrtsstaatlichkeit präferieren. Die Unterschiede zwischen den Klassen sind jedoch nicht so groß, dass hier von einem grundlegenden Gegensatz bei der Beurteilung der sozialen Sicherung ausgegangen werden kann. Auch bei den Mittelklassen (vor allem »Angestellte mit Routinetätigkeiten«) ist
140
6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«
keine grundsätzliche Ablehnung des Wohlfahrtsstaates zu erkennen. Auch hier überwiegt – wie bei allen Befragten – der Wunsch nach einem stärkeren Wohlfahrtsstaat. Abbildung 6.1.2: Befürwortung staatlicher Zuständigkeit: »Arbeitsplätze« und »Abbau von Einkommensunterschieden« nach sozialen Klassen (Häufigkeiten in Prozent) Arbeitsplätze 100
90,1 87,1
90
82,5
80
78,9 70,6
70,7
70
Dienstklasse 60
Nichtmanuelle Routinetätigkeit
50
Selbstständige
40
Landwirte, Landarbeiter 29,3
29,4
Facharbeiter, Techniker, Meister
30
21,1
Un- und angelernte Arbeiter
17,5 20
12,9
9,9
10 0
Ablehnung
Zustimmung
N=1276 Einkommensunterschiede 100
90
82,5 78,1 74,1
80
70
72,4 61,8
Dienstklasse
58,5 Nichtmanuelle Routinetätigkeit
60
Selbstständige 50
41,5
Landwirte, Landarbeiter
38,2 40
30
Facharbeiter, Techniker, Meister
25,9
21,9
27,6
Un- und angelernte Arbeiter
17,5 20
10
0
Ablehnung
N=1267
Zustimmung
6.1 Klassen, Parteien und die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates
141
Welche Bedeutung diese Unterschiede zwischen den Klassen für die Erklärung der Akzeptanzurteile haben, soll im Folgenden untersucht werden. Dazu werden Regressionsanalysen verwendet, die jeweils drei Modelle umfassen: Im ersten wird nur der Effekt der sozialen Klassen (nach dem EGP-Schema) betrachtet, im zweiten dann auch für weitere sozialstrukturelle Variablen kontrolliert. Im dritten Modell werden schließlich auch das Haushalts(netto)einkommen126 und die Beschäftigung im Öffentlichen Dienst einbezogen. Das Haushaltseinkommen wird dabei als zum Klassenschema konkurrierender Prädiktor der sozialen Lage verstanden.127 Eine Beschäftigung im Öffentlichen Dienst dient hier dagegen als zusätzlicher Mittelklassenindikator, der die »Mittelklassenthese« gewissermaßen zur »öffentlichen Sektor«These zuspitzt.128 Zunächst zur »Leistungsbewertung« von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe. Die im ersten Modell für das Arbeitslosengeld dargestellten Effekte der sozialen Klassen (Abb. 6.1.3) entsprechen zunächst den formulierten Erwartungen und bestätigen damit den Eindruck aus den Häufigkeitsverteilungen. Vor allem Arbeiter, aber auch einfache Angestellte (»nicht-manuelle Routinetätigkeiten«) befürworten im stärkeren Maße als Angehörige der Dienstklassen ein höheres Arbeitslosengeld, während der Effekt für die Selbständigen nicht signifikant ist. Der R²-Wert ist hier jedoch sehr klein, so dass insgesamt von einem schwachen Einfluss der Klassenlage auf die Beurteilung der Höhe des Arbeitslosengeldes auszugehen ist. Dies bestätigt das zweite Modell. Wenn für die Variablen Bildung, Alter, Geschlecht und Landesteil (Ost-/Westdeutschland) kontrolliert wird, reduziert sich der Einfluss der Klassenzugehörigkeit auf die Präferenzen hinsichtlich der Höhe des Arbeitslosengeldes. Hier ergeben sich nur noch für die beiden Arbeiterkategorien (schwach) signifikante Effekte. Sehr deutlich ist dagegen der Einfluss des Landesteils: Ostdeutsche sprechen sich auch unabhängig von der Klassenzugehörigkeit eher für ein höheres Arbeitslosengeld aus als Westdeutsche. Von den anderen soziodemografischen Variablen gehen dagegen keine signifikanten Wirkungen aus. Der R²Wert ist im zweiten Modell dennoch höher (0,066).
126
127
128
Das Haushaltseinkommen wurde hier nach der alten OECD-Skala bedarfsgewichtet (vgl. Anhang A2.2). Da beim Haushaltseinkommen die Anzahl der Antwortverweigerungen relativ hoch ist, wurde auf ein Konstanthalten der Fallzahlen verzichtet, wenn das Haushaltseinkommen zusätzlich in die Regressionsmodelle aufgenommen wurde. Beschäftigte im Öffentlichen Dienst sind zwar überwiegend den Mittelschichten zuzurechnen, weisen aber die für die Frage der Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen wichtige Besonderheit auf, dass sie weniger auf Systeme der sozialen Sicherung angewiesen und in geringerem Maße an ihrer Finanzierung beteiligt sind als andere Angehörige der Mittelschichten. Dies gilt natürlich insbesondere für Beamte, in abgeschwächter Form aber auch für Angestellte.
142
6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«
Abbildung 6.1.3: »Leistungsbewertung« (Präferenzen für Leistungskürzungen und -erhöhungen): Arbeitslosengeld – Klassen, soziale Lage (OLSRegressionen) Modell 1
Modell 2
Modell 3
0,019 0,012 0,056 0,096* 0,092*
0,041 0,048 0,052 0,133** 0,091
(Ref.Kat.: Dienstklasse129)
Soziale Klassen (EGP) Nicht-manuelle Routinetätigkeiten Selbstständige (ohne Landwirte) selbst. Landwirte/Arbeiter im prim. Sektor Facharbeiter, Techniker, Meister Un- und angelernte Arbeiter Bildung (Ref.Kat.: niedrig) mittel hoch Alter des Befragten
0,081* 0,024 0,091** 0,135*** 0,133***
-0,006 -0,070 -0,048
0,021 -0,009 -0,064
Geschlecht: Frau
0,053
0,047
Landesteil: Ostdeutschland
0,188***
0,167*** 0,002
Beschäftigung im Öffentlichen Dienst Haushaltsnettoeinkommen (bedarfsgewichtet; pro 1000 €) R² (korrigiertes R²) N
-0,070 0,024 (0,019)
0,066 (0,057) 1121
0,067 (0,052) 765
* p