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Wurdack Verlag
Science Fiction 3
In dieser Reihe sind bisher erschienen: Deus Ex Machina Walfred Goreng Übers...
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Wurdack Verlag
Science Fiction 3
In dieser Reihe sind bisher erschienen: Deus Ex Machina Walfred Goreng Überschuss In Vorbereitung: Golem & Goethe
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Buches darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung der Herausgeber oder der Autoren reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Auszug aus der Originalausgabe (c) 2004, 2005 WurdackVerlag, Nittendorf www.wurdackverlag.de
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DEUS EX MACHINA Die nominierten Erzählungen
Science Fiction
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Vorwort Liebe Leser, »Wer die deutschsprachige Science Fiction-Szene beobachtet, der weiß, dass es hier eine ganze Reihe talentierter Autorinnen und Autoren gibt, die Geschichten auf einem hohen Niveau schreiben.« Ein Zitat aus dem Nachwort zu der Kurzgeschichten-Sammlung »Deus Ex Machina«, mit der im Februar 2004 die Science Fiction-Reihe des Wurdack Verlags gestartet wurde. Unser erstes Ziel, diesen Autoren eine angemessene Möglichkeit zur Veröffentlichung ihrer Geschichten zu geben, haben wir mit unserer Reihe, in der inzwischen auch die Bände »Walfred Goreng« (Oktober 2004) und »Überschuss« (März 2005) erschienen sind, erreicht. Dass die Storys gleichzeitig auch auf eine erfreulich positive Resonanz bei der Leserschaft treffen, beweisen uns einerseits die zahlreichen begeisterten Reaktionen und Rezensionen; dass zudem gleich vier Geschichten aus unserem Debüt-Band für die beiden namhaftesten deutschen Science Fiction-Preise nominiert worden sind, übertrifft aber unsere Erwartungen. Da ist zum einen der Deutsche Science Fiction Preis, der alljährlich vom Science Fiction Club Deutschland vergeben wird. Ein mehrköpfiges Komitee bemüht sich, alle relevanten Veröffentlichungen eines Jahres zu lesen, und nominiert auf dieser Grundlage die nach Meinung der Komitee-Mitglieder besten Romane und Kurzgeschichten des Jahres. Bereits 2004 landete aus »Deus Ex Machina« die Geschichte »Vor dem Sturm« von Heidrun Jänchen auf der Auswahlliste; im Jahr 2005 folgten mit »Die verbesserte Universalfernbedienung« von Bernhard Brunner
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Vorwort und »Faust« von Armin Rößler zwei weitere Storys, die unter den insgesamt dreizehn nominierten stehen. Die Bekanntgabe der Gewinner und die Preisverleihung werden übrigens am 4. Juni 2005 auf dem Jubiläumscon zum 50jährigen Bestehen des SFCD in Trautheim bei Darmstadt erfolgen. Für den Kurd Lasswitz Preis, der von den deutschen Science Fiction-Schaffenden vergeben wird, wurde mit der Geschichte »Empfänger« von Robert Kerber ebenfalls eine Geschichte aus »Deus Ex Machina« nominiert. Hier wird die Entscheidung über den Preisträger aus einundzwanzig nominierten Geschichten Mitte 2005 bekannt gegeben. Das Buch »Deus Ex Machina« ist inzwischen leider vergriffen. Als kleinen Service für alle Leser und an Science Fiction Interessierten, die das Buch verpasst haben, wollen wir mit diesem kostenlosen e-Book zumindest die vier erwähnten, für Preise nominierten Geschichten noch einmal gesammelt anbieten. Natürlich lohnt sich zweifelsohne auch ein Blick in die anderen Bücher der Reihe. Der vierte Band ‚Golem & Goethe‘ ist übrigens für Oktober 2005 in Vorbereitung. Ernst Wurdack
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Heidrun Jänchen
Vor dem Sturm »Kinder?«, fragte das Wesen am Computer. Verblüfft und mit einem doppelt so großen Fragezeichen wiederholte Titus: »Kinder?« »Möchten Sie eine Gefährtin mit Heidrun Jänchen, Kindern?« Jahrgang 1965, ist Phy»Ach so. Gibt es das?« Als er siker und lebt in Jena. sah, wie das Wesen etwas eintipp2001 war sie unter den te, sagte er hastig: »Nein, nein, Gewinnern des ZDFSzenenwettbewerbs »escript keine Kinder. Das war nur eine 2« und hat in der Folge mit Frage.« fünf anderen Autoren das Das Wesen, das ein Urmianer war Drehbuch für den Samstagabendkrimi »Wilsberg – – oder vielleicht eine Urmianerin Letzter Ausweg Mord« –, nahm eine gelbe Gesichtsfarbe verfasst. Ihr gemeinsam an, und Titus hatte keine Ahnung, mit Christian Savoy und Andrea Tillmanns was das bedeutete. »Sind Sie sich geschriebener Fantasysicher, dass Sie eine weibliche Roman »Der eiserne Thron« Humanoide unter fünfundzwan(Story-Olympiade 2003) wurde für den Deutschen zig terranischen Jahren möchPhantastik Preis nominiert. ten?«, fragte das gelbe Wesen und »Vor dem Sturm« war ihre fummelte mit einem Fühler unter erste veröffentliche Science Fiction-Story. Ihre finanziell seiner linken Achselhöhle herum. erfolgreichste VeröffentliTitus zog ein angewidertes Gechung war bisher ihre Prosicht und erwiderte: »Hätte ich das motionsarbeit. sonst angegeben?« In das Gelb kam ein leichter Grünton. »Ich weiß nicht.« »Ja, verdammt!« Bisher war Titus beeindruckt gewesen. Die Zoll- und Einreiseformalitäten waren erstaunlich schnell abgewickelt worden, und das vorausgebuchte Fahr8
zeug stand schon bereit. Er hatte sich Hoffnungen auf einen leichten Einsatz gemacht. Der Urmianer – nein, Titus war sich sicher, dass nur eine Frau sich so dämlich anstellen konnte – faltete possierlich zwei seiner Arme. »Sie sind bedauerlich«, sagte sie. »Sie müssen allein leben.« Titus seufzte. Offenbar waren noch nicht viele Terraner auf Urmi. Das war im Allgemeinen gut, im Speziellen aber ärgerlich. Er hatte sich auf früheren Reisen an Partnerschaften mit Wesen anderer Arten versucht, und es war jedes Mal eine Katastrophe gewesen. »Wie viele weibliche Humanoide sind auf dem Planeten?«, fragte er ernüchtert. »Zwei. Eine ist neunundsechzig terranische Jahre alt« – Heiliger Luigi, dachte Titus, sie vermitteln Großmütter! – »die andere ist vierundreißig terranische Jahre alt.« Titus seufzte noch einmal. »Wenn Sie mir die Wahl lassen, hätte ich gern die Jüngere.« Die Urmianerin machte eine verwirrende Tentakelbewegung, die wohl ein Nicken darstellen sollte, und tippte etwas in den Computer. »Sie werden in den nächsten drei Stunden erfahren, ob die Humanoide einverstanden ist. Wenn sie nicht ist, können wir Sie an die andere Humanoide vermitteln.« »Nein«, sagte Titus mit einer Ironie, die nur er verstand, »das ist nicht nötig.« Er bekam eine Karte mit einer Art Strich- und Punktcode, die, wie man ihm sagte, vom Navigationssystem des Fahrzeugs gelesen werden konnte. Das funktionierte auch, doch das Fahrzeug fuhr nicht etwa von allein zur angegebenen Adresse. Es gab lediglich verbale Anweisungen in militärischem Befehlston. Eine vertraute Trostlosigkeit lag über der Gegend. Die Straße war in erbärmlichem Zustand, die Hütten klein und 9
primitiv, mit Gemüsegärten ringsum, nicht größer als ein gewöhnliches Wohnzimmer. Neben der Straße waren Urmianer auf einem staubigen Sandweg zu Fuß unterwegs. Anzeichen von Industrie waren spärlich und lächerlich, bis sich Titus der Freihandelszone näherte, die sich von einer gewöhnlichen Metropole nur durch die Lieblosigkeit ihrer Gestaltung unterschied. Eine dicke, gelbe Smogschicht lag über den Fabriken; Urmi befand sich im barbarischen, aber konkurrenzlos billigen Kohlezeitalter. Es war wie überall. Die Wohnung entsprach dem Standard, bis hin zu dem Bild mit der vertrauten Straßenszene. Die Einrichtung war neu; der Ansturm der Zaghaften und Vorsichtigen würde erst in ein, zwei Jahren über den Planeten hereinbrechen, und dann würde Titus schon wieder weg sein. Er, Titus, gehörte zu den Pionieren, die Neues wagten. Er segelte vor dem Sturm. Telefonisch bestellte er Pizza, Cola und einen Ficus für die Sitzecke. Unterdessen packte er seine Reisetasche aus, sechs Kilo Gepäck. Die Pizza kam nur ein oder zwei Minuten vor der Frau. Er hatte dem Urmianer gerade den Karton aus den Tentakeln gewunden, als sie hereinschneite. »Hi«, sagte sie, »das ist aber nett. Pizza Venus. Ich mag zwar lieber Neptun grün, aber das ist in Ordnung.« Titus starrte sie an. Sie hatte ein blasses Vollmondgesicht, wässrig blaue Augen und grün changierende kurze Locken wie eine Siedlergroßmutter. Ihr Körper steckte in einem sackartigen, orangefarbenen Overall. Er wirkte nicht sehr aufregend. »Ich bin Artemis«, sagte sie fröhlich und schob ihren Standardkoffer in die Wohnung. Titus starrte noch immer. Hätte er doch die Großmutter nehmen sollen? »Du musst Titus sein. Na ja, in natura siehst du weniger schlimm aus als auf dem Foto. Die Perücke ist lächerlich.« 10
Er fuhr zusammen und zupfte verstohlen an dem weißen Pferdeschwanz. Ein Mensch in seiner Stellung musste einfach eine Perücke tragen, um ernst genommen zu werden. Schließlich war er kein Sojabauer. Die Frau riss die Pizzapackung auf und machte sich über den Inhalt her. »Bist du nicht hungrig?«, fragte sie zwischen zwei Bissen. Titus nahm sich vor, seine Suchanzeige gleich morgen erneuern zu lassen. Er hatte eine Frau bestellt, keine wandelnde Beleidigung. Während sie aß, erzählte sie von sich. Sie gehörte zu den Ressourcen-Scouts, die den Boden jedes Planeten durchwühlten. Geologin, von Zeta 4, kinderlos. Letzteres wunderte Titus nicht, aber andererseits fand er es irgendwie anstößig. Frauen sollten Kinder haben, mit vierunddreißig jedenfalls. Schließlich konnte er das letzte Pizzasegment ergattern. »Was suchst du hier?«, fragte er im Versuch, höflich zu sein. »Beryllium. Beryllium ist das Material der Zukunft, und das terranische System ist de facto leer.« De facto! Wen wollte sie mit Ausdrücken aus der Mottenkiste beeindrucken? Aber Beryllium schien tatsächlich der kürzeste Weg zum Reichtum zu sein – falls man es fand und die Erlaubnis bekam, es zu fördern. Alle Welt war auf der Suche danach, und die Preise hatten sich in den letzen beiden Jahren verzehnfacht. Tausende plünderten ihre Konten, um Ausrüstung und Transit zu bezahlen, und verkauften ein Jahr später ihre linke Niere, um den Rückflug zu finanzieren. Nein, die Produktion von Konsumgütern war erheblich sicherer. Man wurde nicht reich damit, aber man wurde großzügig bezahlt. Besser als in jeder anderen Branche, wenn man bereit war, Leistung zu bringen. Er musste aufpassen, dass sie sich nicht an ihn hängte, wenn sie mit ihrer Berylliumsuche gescheitert war. 11
Die Fabrik bestätigte seine düsteren Vorahnungen. Wenn er mit den einheimischen Managern sprach, gaben sie ihm in allem Recht und sagten alles zu. Dann aber taten sie nichts dergleichen. Wenn er sie zur Rede stellte, wurden sie grün im Gesicht, schwenkten ihre Tentakel und behaupteten, sie hätten von nichts gewusst. In der Fertigung herrschte das übliche unbeschwerte Chaos. Die Urmianer waren nett und höflich und augenscheinlich fleißig, aber sie hatten ebenso augenscheinlich keine blasse Ahnung davon, was sie eigentlich taten. Erst als einer der Synthetisatoren auf dem Prüfstand explodierte, schienen sie zu begreifen, dass die Fabrik kein Rübenacker war. Sie schnatterten wild durcheinander und winkten noch wilder mit ihren Tentakeln. Ismail, einer der beiden Ingenieure, behauptete, sie redeten mit ihren Tentakeln, aber Titus ging das Gefuchtel einfach auf die Nerven. Die Gutausbeute lag bei 13,7 Prozent, die Montagehilfsmittel passten nicht zur urmianischen Anatomie, und ein Teil der Arbeiter war nach der Explosion einfach nicht mehr aufgetaucht, so dass neue angelernt werden mussten. Es war ein Albtraum, aber es war der ganz normale Albtraum. Und Titus war der Profi, der Ordnung hineinbringen würde. Er brachte immer Ordnung hinein. Als er zum ersten Mal von Urmi hörte, hatte er gewusst, dass dort das Geschäft wartete. Er würde sich das nicht von ein paar ungeschickten und begriffsstutzigen Urmianern ruinieren lassen. In dreißig Tagen würde er die erste Lieferung zur Erde schicken, konkurrenzlos billig. Er würde Tariston vom Markt fegen. Ein Krachen ließ ihn herumfahren. Ein Stapler hatte gerade zehn Kartons mit nagelneuen Synthetisatoren zu Klump gefahren. Titus fluchte.
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»Der mittlere Mond«, plapperte Artemis, während sie ihr Haar umfärbte, »besteht zu unglaublichen fünf Prozent aus Beryllium. Stell dir das vor. Ich habe noch keine derartig erstklassige Lagerstätte gesehen.« Im Zwischenstadium war sie weißblond gewesen und hatte beinahe gut ausgesehen, aber nun hatte sie Strähnen von Pink und Orange im Haar. Titus lag erschöpft auf dem Bett und starrte die Decke an. Er fragte sich, warum es noch keine Agenturen gab, die Frauen vermieteten, anschmiegsame, liebevolle, stille Wesen, die einem Mann die Schultern massierten, grünen Tee brühten und so aufreizend waren, dass man sich Abend für Abend das Hirn aus dem Leib vögeln konnte. »Es sind noch drei Firmen im Rennen. Die Urmianer sind dumm genug, nur einer die Konzession geben zu wollen. He, hörst du mir überhaupt zu?« Titus unterdrückte den Wunsch, »Nein« zu sagen. »Die Urmianer haben gar nicht die Technik, um im Vakuum und bei verminderter Schwerkraft irgendwelches Erz zu fördern. Sie sind Krautbauern«, brummte er stattdessen. Artemis sah ihn an. Ihr teigiges Gesicht wirkte unter der farbigen Explosion auf ihrem Kopf noch blasser. Sie zog die dünnen Augenbrauen zusammen. »Du hast Recht«, sagte sie und stieg aus ihrem Overall, entblößte breite Hüften und dicke Oberschenkel. Sie sah, wie Titus gequält feststellte, sehr – solide aus. Würde er eine Wanderung durch die Wüste planen, wäre sie eine hoffnungsvolle Kandidatin. Ehe er entschieden hatte, ob er sie trotzdem ins Bett zerren sollte, war sie in ein grünweiß gemustertes, sackartiges Gewand geschlüpft, das Titus als original urmianisches Kleidungsstück identifizierte. Er hatte Dutzende davon in der Fabrik gesehen. Sie waren primitiv und betonten die Unförmigkeit der Ureinwohner. Oder die Unförmigkeit von Artemis, das war dasselbe. 13
»Wie findest du das?«, fragte sie allen Ernstes. »Na ja«, sagte Titus ausweichend, »außergewöhnlich.« »Es ist aber ganz gewöhnlich. Die Urmis tragen so was. Interessantes Muster.« Sie drehte sich zufrieden vor dem Spiegel. Titus holte sich eine Flasche Wein und begann, sich zu betrinken. Auch in den folgenden Tagen redete die weibliche Humanoide über nichts als die Berylliumvorkommen auf dem mittleren Mond. Titus hielt das für sinnlose Spinnerei und berichtete seinerseits von fehlenden Schraubenziehern, falsch verlöteten C27-Verstärkern und urmianischem Handschweiß, der die Sichtfenster anätzte. Obwohl Artemis aufmerksam nickte und hin und wieder ein »Ach so?« oder »Na, so was!« absonderte, hatte er das Gefühl, dass sich ihre Gedanken keinen Mikrometer von diesem verdammten Mond entfernten. Sie war verbohrt, und sie war ein Verlierertyp. In einem Monat würde sie ihre Niere zum Verkauf anbieten. Eine Zeit lang ging die Gutausbeute langsam, aber zielstrebig in die Höhe. Sie war auf zweiundsechzig Prozent gestiegen, und er begann, Gewinn zu machen. Der Markt reagierte wie erwartet. Jeder wollte dabei sein und als Erster die billigen urmianischen Geräte – natürlich unter einer terrestrischen Marke – in die Läden bringen. Titus bekam mehr Aufträge, als er bedienen konnte. Er stellte neue Arbeitskräfte an. Aber dann waren, als er eines Morgens in die Fabrik kam, alle Arbeiter verschwunden. Nur der Hausmeister, der im Gebäude wohnte, hängte draußen gelbe Papierblumen auf. »Was ist los hier?«, brüllte Titus. »Obemuyeka«, sagte der Hausmeister fröhlich. »Obemuyeka?« 14
Das Gesicht des Urmianers verzog sich zu einer Grimasse ernsten Nachdenkens. »Fest«, sagte er schließlich, »zwölf Tage.« Titus jaulte. Verdrossen fuhr er nach Hause. Es hatte keinen Sinn, in der leeren Fabrik herumzusitzen und die Schrauben nachzuzählen oder so. Er würde die Liefertermine nicht halten können. Als er in der Ferne den Feuerschweif eines Raumschiffes erspähte, seufzte er. Es flog ohne seine Synthetisatoren zur Erde. Einen Moment spielte er mit dem Gedanken, mit Ismail und Faruk zusammen eine Notproduktion aufrecht zu erhalten, um die Verträge nicht zu gefährden, aber er wusste, dass die beiden eine Menge Ausreden vorbringen würden. Wahrscheinlich war so oder so nichts zu retten. Er konnte genauso gut nach Hause gehen. Andererseits – da er nun einmal Zeit hatte, konnte er auch vorher zum Spaceport fahren und endlich seine Suchanfrage für eine Partnerin erneuern. Diesmal machte die Urmianerin am Computer einen geradezu fröhlichen Eindruck. »Gut«, sagte sie. »Ich habe da eine Anfrage: weibliche Humanoide, vierunddreißig terranische Jahre alt, Geologin. Sie will keinen Manager. Sind Sie Manager?« Titus stutzte. »Wie viele weibliche Humanoide befinden sich auf Urmi?«, fragte er statt einer Antwort. »Zwei. Aber die andere ist neunundsechzig terranische Jahre alt. Die männlichen Humanoiden sind nicht interessiert. Sind Sie?« »Nein«, sagte Titus ernüchtert, drehte sich um und ging. Er war dieser Artemis also nicht gut genug. Kein Manager, ha! Auf dem Heimweg kultivierte er seinen Ärger. Wenn 15
sie nach Hause kam, würde er ihr ein paar verdammt unangenehme Fragen stellen. Ihn so zu hintergehen! Auf eine Vogelscheuche wie sie war er, Titus, schließlich nicht angewiesen. Doch als er die Treppe hinaufstieg, kam ihm zu Bewusstsein, dass die Alternative neunundsechzig war. Wenn er Artemis rauswarf, würden sich Faruk und Ismail um sie reißen. Und ein Dutzend andere. Mit großer Anstrengung würgte er seine Wut hinunter. Artemis war bereits da. Sie steckte in einem violett und gelb gestreiften Kartoffelsack und deckte fröhlich pfeifend den Tisch. Blumen und urmianische Öllampen standen darauf, dabei reichten ihr gewöhnlich ein Brett und eine Tasse für alle Mahlzeiten. Aus der Küche roch es interessant. Hatte sie endlich eingesehen, dass ein gemütliches Heim in ihre Verantwortung fiel? Wer weiß, vielleicht stammte ihre Suchanzeige aus den ersten Tagen ihrer Bekanntschaft, und sie hatte nur vergessen, sie zu löschen. Er war bereit, ihr zu verzeihen. »Haben wir etwas zu feiern?«, fragte er und gab ihr einen Kuss. »Obemuyeka.« Sie verteilte Teller, nicht zwei, sondern sechs. »Obemuyeka? Weißt du, was mich dieser Blödsinn kostet?« Titus’ versöhnliche Stimmung war schlagartig verflogen. »Ich muss froh sein, wenn ich keine Vertragsstrafe zahlen muss. Du weißt, wie die terranischen Firmen sind.« – Seine Stimme nahm einen chromstählernen Topmanagerton an. – »Auf absurde extrasolare Folklore können wir leider keine Rücksicht nehmen. Aber die niedrigen extrasolaren Kosten wollen sie schon. Und dann feiern sie Weihnachten!« 16
Artemis stellte Weingläser und eine Karaffe mit grünem urmianischen Wein auf den Tisch. »Schatz«, sagte sie nachsichtig, »würde es dir etwas ausmachen, dich abzuregen? Ich erwarte Gäste.« »Gäste? In meiner Wohnung? Was sind das für Typen?« »In unserer Wohnung. Und es sind Geschäftspartner.« Titus warf einen Blick auf den Tisch und entdeckte Servietten mit eigentümlichen Blumenmotiven, die in den letzten Tagen auch in der Fabrik überall aufgetaucht waren. »Sag nicht, dass du Eingeborene eingeladen hast?!« »Urmianer, ja.« Sie sah ihn an wie ein begriffsstutziges Kind. »Fahr zur Hölle!«, rief er. Während er seine Jacke anzog, sah er, wie sie ungerührt ein Gedeck wegräumte. Er schlug die Tür zu. Auf der Treppe begegneten ihm vier Urmianer in violett-gelb-gestreiften Kartoffelsäcken. Sie grüßten ihn mit wildem Tentakelschwenken, aber er stürmte wortlos an ihnen vorbei. Titus hatte keine Ahnung, wann und wie er in sein Bett gekommen war. Er erwachte von einem durchdringenden Kaffeegeruch. Im Wohnzimmer türmten sich die Reste einer fröhlichen Party. Grüne Weinreste in den Gläsern erinnerten seinen Magen an anderen grünen Wein. Er schloss die Augen und tastete sich in die Küche. Artemis verzog ihr Vollmondgesicht zu einem Grinsen. »Hattest du einen schönen Abend?« Titus antwortete nicht. »Meiner war großartig.« Fahr zur Hölle, dachte der Mann, während er sich Kaffee eingoss. Sie wedelte mit einem knallbunten Blatt Papier vor seiner Nase. »Ich habe die Konzession!« Titus verbrannte sich die Zunge. »Quatsch!«, erwiderte er voller Überzeugung. »Die Urmianer sind nicht in der 17
Lage, Lagerstätten auf diesem Mond auszubeuten. Glaub mir endlich.« »Stimmt!« Der Triumph in Artemis’ Stimme war nicht mehr zu überhören. »Deshalb werden wir das machen. Zehntausend terranische Spezialisten. Die Urmianer sorgen für die Infrastruktur. Es geht schließlich um Beryllium, nicht um popelige Toaster.« Titus brauchte eine Weile, bis er begriff, was sie gesagt hatte. Zehntausend Terraner, hoch bezahlte Spezialisten mit Familie. Die Veredlung auf der planetaren Basis. Binnen kurzem würde sich das Leben auf Urmi um Beryllium drehen, um nichts als Beryllium. Das Bergbausyndikat würde besser bezahlen, als sich das irgendeine Synthetisatorenfabrik leisten konnte. Er sackte auf seinem Stuhl zusammen und verbohrte seinen Blick in eine Scheibe Toast. Urmi war verloren. Es hatte gerade eben aufgehört, ein Billiglohnplanet zu sein. Wortlos stand er auf, ging ins Schlafzimmer und packte seine Reisetasche.
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Robert Kerber
Empfänger Tim rutschte von seinem Stuhl, flitzte durch die Küche hinaus auf die Veranda, wobei er die Fliegentür mit der Schulter zur Seite stieß, und war mit einem Satz vom oberen Ende der vierstufigen Treppe hinunter ins Gras gesprungen. Robert Kerber, »Nicht so hastig, junger 1965 in Montreal/Kanada Mann!« geboren, schrieb Artikel für Tim machte drei, vier weit ausein Phantastik-Magazin, holende Schritte über die Steinproduzierte mehrere Experiplatten, bevor er sich umdrehte, mental-Videofilme und gestaltete lange Jahre den um die gewohnte Ermahnung von Spielplan eines renommierten Frau Buchwald anzuhören. Programmkinos in Frankfurt/ Main. Neben seiner Tätigkeit »Wo gehst du hin?« als Grafikdesigner schreibt er »Rüber zum Wiesenhang.« Erzählungen mit vorwiegend »Doch nicht zu diesem Autophantastischer Thematik. wrack? Du weißt, dass ich dir Veröffentlichungen: »Das ganzheitliche System« sowie verboten habe, dorthin zu gehen.« unter anderem Beiträge in »Ja, Frau Buchwald.« »Der Atem Gottes«, »Nova« und »Walfred Goreng«. »Was willst du dann am Hang?« »Ich hab einen Ameisenhügel entdeckt, Frau Buchwald. Ich will zusehen, was die Ameisen machen.« Er hatte sich angewöhnt, Frau Buchwald mit Namen anzureden, wenn er ihr antwortete. Das stimmte sie versöhnlich und kürzte ihre Standpauken ab. Ein Tipp von Frank, der fast immer wirkte. »Nun gut. Aber bleib mir vom Auto weg.« »Ich komm nicht mal in die Nähe.« 19
»Um fünf Uhr bist du zurück.« »Bin ich ganz bestimmt, Frau Buchwald.« Tim grinste, machte kehrt und lief weiter auf die Hasenställe zu, wo der Trampelpfad in Richtung Hang begann. Hinter ihm schrien die Mädchen auf, die grade in das Planschbecken sprangen, das die Buchwalds für sie aufgestellt hatten. Später würden sie bei den Ställen sitzen und die Hasen mit Löwenzahn füttern, bis Frau Buchwald die Kinder wieder ins Haus scheuchte. Sie hätte es lieber gesehen, wenn die fünf Mädchen und Jungen zusammenblieben, aber die Erwachsenen hatten durchgesetzt, dass sie die weniger gefährlichen Entdeckungsreisen erlaubte. Die Hasen boten ohnehin nicht so viel Abwechslung, um einen ganzen Nachmittag auszufüllen. Ein helles Lachen übertönte das Kreischen der Kinder. Das Lachen gehörte Maren, die nicht nur die lauteste Stimme von allen besaß, sondern die anderen auch um einen halben Kopf überragte. Doch das würde nicht so bleiben. Eines Abends hatte Tim die Erwachsenen belauscht, als sie sich unbeobachtet fühlten und über Maren sprachen. Sie benutzten eine Menge komplizierter Wörter, aber so viel begriff er, dass die kleinen Zellen in ihrem Gehirn, die den Füßen sagen, wie sie gehen, und den Fingern, wie sie eine Tasse halten sollen, verrückt spielten. Die Zellen fraßen sich gegenseitig auf, und Maren würde nicht älter als dreißig Jahre werden. Als wenn das nicht schon steinalt wäre. Mit dreißig wäre Maren – drei mal acht ist vierundzwanzig, vier mal acht ist zweiunddreißig – fast viermal so alt wie er! Und – zwei mal vierzehn ist achtundzwanzig – mehr als zweimal so alt wie Frank. Zugegeben, dreißig war nicht steinalt, aber ziemlich alt. 20
Sein Bruder Frank fuhr gewöhnlich mit den Erwachsenen in Urlaub, während die Jüngeren die Ferien im Haus der Buchwalds verbrachten. Diesen Sommer war Frank zu Hause geblieben, weil er als Aushilfe in einem Supermarkt arbeitete. Die Eltern hatten ihm ein Mofa zum Geburtstag geschenkt, dafür musste er versprechen, sich eine Ferienarbeit zu suchen und das Geld für später anzusparen, wenn er von zu Hause auszog. Jeden Sonntag kam Frank zu den Buchwalds hinausgefahren, um mit ihnen zu Mittag zu essen. Von Franks und seinem Plan mit dem Auto durften die Buchwalds natürlich nichts erfahren, sonst würden sie ihm verbieten, weiterhin allein auf Erkundung zu gehen. Breit getretene Grasbüschel, die sich zu weit aus der kniehohen Wiese links und rechts auf die Wegesmitte vorgewagt hatten, bedeckten den steinigen Boden. Die anderen waren jetzt außer Hörweite, nur Gräserrascheln und das vielstimmige Summen und Zirpen der Insekten drangen an sein Ohr. Und etwas anderes. Der Heuler. Der Heuler tauchte immer auf, wenn es ringsum stiller wurde. Eigentlich klang er nicht wirklich wie eine Robbe, aber Tim stellte sich ein weiches, rundliches Tier mit kurzem Fell und großen Augen vor, das dieses Geräusch machte. Er war schon lange sein ständiger Begleiter, später kam ein lauter und leiser werdendes Scharren hinzu wie von Fingernägeln auf einer Schultafel. Der Kratzer, wie er den neuen Störenfried in seinem Ohr nannte, machte sich zu Anfang nur selten bemerkbar, aber als er Tim häufiger ärgerte, schickten ihn seine Eltern zum Doktor. Der Doktor stellte lange Untersuchungen mit ihm an und meinte schließlich, solange es sich nicht verschlimmerte, wären viel Bewegung und frische Luft die beste Medizin. »Der arme Junge, in diesem Alter schon«, hatte Frau Buchwald 21
ihn bedauert, als die Eltern ihr davon berichteten. Herr Buchwald brummte nur, er höre auch solche Geräusche und die Leute sollten nicht alles aufbauschen. Tim fügte sich und beschloss, sich mit dem Heuler und dem Kratzer so gut zu stellen, wie es eben ging. Der Pfad beschrieb einen Bogen und zog sich in ausgedehnten Schlangenlinien den Hügel hinunter. Tim konnte bereits die Wipfel des alten Baums erkennen, der die Hälfte der Strecke markierte. Einmal war Herr Buchwald mit ihm diesen Weg gegangen und hatte ihm von einem Sonderling erzählt, der eines Tages, als der Friedhof umgegraben wurde, die Totenschädel eingesammelt, mit Körnern vollgestopft und an diesem Baum als Fressvorrat für die Vögel aufgehängt hatte. Daraufhin gab es einen Aufruhr im Dorf, und die Schädel wurden wieder entfernt. Tim mochte der Geschichte keinen rechten Glauben schenken, denn Herr Buchwald flunkerte den Kindern gerne etwas vor, aber als er Frau Buchwald deswegen ausfragte, wusch sie ihrem Mann gehörig den Kopf. Bei dieser Wanderung hatte Tim etwas abseits das Dach des Autos aus dem Gras herausragen sehen – die Büsche und Gräserspitzen reichten ihm hier bis zu den Schultern. Herr Buchwald meinte, das Wrack läge schon seit Jahren an dieser Stelle. Niemand wusste, wer es abgestellt hatte, und da sich auch niemand zuständig fühlte, rostete es unbeachtet vor sich hin. Später, beim Abendessen, bat er Frau Buchwald, sich das Wrack ansehen zu dürfen. Ihre Hände, die mit großen Löffeln den Salat austeilten, froren in der Luft ein. »Du wirst dich an den Glasscherben und an dem rostigen Metall schneiden, und dann faulen dir die Arme und Beine ab.« 22
»Ich bin auch ganz vorsichtig ...« »Die Antwort lautet nein. Und wenn wir dich dort erwischen, hast du den Rest der Ferien Hausarrest!« Eine ziemlich wirkungsvolle Drohung, aber nicht wirkungsvoll genug, um zu verhindern, dass er sich am dritten Tag zum Wagen schlich. Die hellblaue, mit Rost durchsetzte Farbe hatte lange ihren Glanz verloren. Die Scheiben waren eingeschlagen, das Dach bog sich bis zu den Kopfstützen hinunter, Schaumstoff quoll aus den aufgeschlitzten Sitzen wie Meerschwamm. Ein einsames Stück Treibgut, angeschwemmt von einem vor Urzeiten ausgetrockneten Ozean. Am nächsten Wochenende führte er Frank auf Umwegen zu seinem Fund. Frank besah sich die Karosserie, zog an einem Griff unter dem Lenkrad und klappte die Motorhaube hoch. »Das ist kein Unfallwagen. Der hatte nur ne Panne.« »Warum ist er so kaputt?« »Wahrscheinlich haben sie ihn zu Kleinholz gemacht, nachdem sie ihn hierher geschleppt haben.« »Glaubst du, man kann ihn reparieren?« »Nee, der ist hinüber. Steht schon zu lange hier.« Tim setzte sich auf den Fahrersitz und spielte mit den Knöpfen und Hebeln. Frank lehnte sich durch das offene Fenster und erklärte ihm ihre Funktion. »Das ist die Gangschaltung. Damit stellst du ein, wenn du vorwärts oder rückwärts fahren willst, oder bergauf und bergab.« »Warum ist sie nicht zwischen den Sitzen wie bei Papas Wagen?« »Das ist ne Lenkradschaltung. Ist halt eine alte Kiste.« 23
»Wie alt ist der Wagen, Frank?« »Älter als wir beide zusammen.« »Auch älter, als Maren wird?« »Was meinst du damit?« »Mama sagt, Maren wird mit dreißig sterben. Ihre Zellen fressen sich gegenseitig auf.« »Was du so hörst.« »Ist Maren hübsch?« »Die wird mal hübsch. Das heißt ...« Frank ließ das Thema fallen. Tim drehte an den Reglern des Autoradios und fragte, warum es nicht mehr ansprang. Frank meinte, die Batterie sei ausgebaut worden, und ohne Strom würde es nicht laufen. »Warum bauen wir keine Batterie ein?« »Weißt du, was so ein Ding wiegt? Denkst du, ich schleppe mich für ein altes Autoradio damit ab?« »Ach bitte, Frank.« Frank richtete sich auf und spähte den Weg entlang den Hügel hinunter. »Wenn das der Weg ist, der bei der alten Bushaltestelle rauskommt, könnte ich die Batterie mit dem Mofa herfahren.« »Und wenn du von der anderen Seite kommst, erraten die Buchwalds nicht, was wir vorhaben.« »Ich hör mich mal um. Vielleicht hat noch jemand eine alte übrig.« Das war Sonntag vor einer Woche gewesen. Sie hatten ausgemacht, dass Tim am Auto warten sollte, und Frank würde versuchen, den Weg von unten zu nehmen, statt am Haus der Buchwalds vorbeizufahren. Darum war Frank heute nicht zum Mittagessen erschienen. 24
»Wo bleibt denn dein Bruder?«, hatte Frau Buchwald gefragt. »Er isst bei Freunden in der Stadt.« »Warum gibt er uns nicht Bescheid?« »Er hat’s bestimmt nur vergessen.« Nach einem Vortrag über Franks Nachlässigkeit wurde gegessen. Tim machte sich mit etwas Verspätung auf den Weg. Frank würde schon mit dem Einbau begonnen haben, wenn er am Wrack eintraf. Leichter Wind war aufgekommen, als Tim den Schatten des Baums erreichte. Er ging langsamer, um nicht in eines der Netze zu laufen, die die Spinnen hier mit Vorliebe bauten, groß gewachsene, blitzschnelle Monstren mit kurzen Beinen und dicken Körpern, die ihre Fäden von den unteren Ästen bis zum Boden hinabsponnen. Man sah ihre klebrigen Fallen nur, wenn sie in der Sonne glitzerten, deshalb hieß es besonders Acht geben. Die Erwachsenen erinnerten ihn zwar ständig daran, wie nützlich Spinnen seien, weil sie Insekten fräßen, aber das taten Vögel doch auch. Als ob die nicht genügten. Wenige Schritte vom Stamm entfernt sah er den ersten Faden, der sich von einem dem Weg zugewandten Ast über den Pfad hinaus ins Gras spannte. Der Wind musste die Spinne beim Netzbau hinübergeweht haben. Die Frage war, ob die Spinne bereits zurückgeklettert war oder noch im Gras wartete, bis sich der Wind legte. Sie würde auf jeden Fall nicht tatenlos zusehen, wenn er hindurchlief, denn der Faden war die Rückfahrkarte zu ihrem Revier. Tim atmete mehrmals kurz und tief durch, stieß die Luft halb aus und hielt den Atem an. Ein alter Scharfschützentrick, wie er mal gelernt hatte. Der Faden kreuzte den Weg in Höhe seines Bauchs, was ihm zumindest ersparen würde, 25
ihn auf seiner Haut zu spüren, wenn er ihn berührte. Die Arme über den Kopf erhoben, verlagerte er das Gleichgewicht auf seinen vorderen, linken Fuß, dann auf den hinteren, dann wieder auf den vorderen. Er kniff die Augen zu und rannte. Der Faden dehnte sich, zerriss und wickelte sich mit einem Ende um seine nackten Oberschenkel. Tim schrie in der Hoffnung, sein Schrei würde die Spinne in die Flucht jagen, während er hastig seine Hände auf den Schenkeln auf und ab rieb. Je schneller er den Faden los wäre, desto besser, sonst schleifte er den ungebetenen Passagier hinter sich her. Seine Lunge drohte zu platzen, aber seine Beine trugen ihn unermüdlich vorwärts. Tim rannte den gesamten Rest des Weges. Am Ziel angekommen, stützte er die Hände auf die Knie, einen Geschmack von Eisen im Mund wie von einer bitteren Frucht, und blinzelte durch das grelle Frühnachmittagslicht zum Wagen hinüber. Es saß niemand darin, und die Motorhaube war geschlossen. Wäre Frank vor ihm hier eingetroffen, hätte er sicher auf ihn gewartet. Sein Bruder war etwas ungeduldig und brauste schnell auf, aber er würde nicht wegen ein paar Minuten Verspätung sofort umkehren. Und mit seinem Wettlauf gegen die Spinne hatte Tim einiges von der verlorenen Zeit aufgeholt. Er schob die Gräser mit den Händen beiseite und umkreiste das Wrack. Es schien unverändert seit ihrem letzten Besuch; die Fahrertür war angelehnt, damit sie sich nicht wieder in dem verzogenen Rahmen verklemmte, und die von den Sitzen gekehrten Glasstücke lagen verstreut im Fußraum. Der Geruch von in der Sonne erhitztem Rost und Kunststoff strömte zu den Fenstern hinaus. 26
Tim öffnete die Tür und kletterte hinter das Steuer. Käfer schwirrten umher auf der Suche nach Nahrung und nach Materialien, die sie für den Nestbau verwenden konnten. Das Surren der sechsbeinigen Bewohner war ihm eine willkommene Ablenkung, denn der Kratzer musizierte nach der Aufregung in den höchsten Tönen. Seine Fingerspitzen fuhren über den Lenkradrahmen und lösten kleine Stücke von dem verwitterten Lederbezug, die wie ein schorfiger Regen herabrieselten. Mit der linken Hand umklammerte er das Lenkrad, die rechte schaltete in den Leerlauf, langte nach dem Zündschloss und machte eine kurze Drehbewegung. »Vrrroooomm!« Der Wagen vibrierte, Abgase krochen durch den löchrigen Boden. Tim ignorierte den öligen Gestank, den der Fahrtwind in wenigen Sekunden verscheucht haben würde, und sah ins Freie. Der Kühler wies hangaufwärts, er würde mächtig Gas geben müssen, um den Hügel hinaufzukommen. Er rutschte bis an die Kante des Sitzes vor und streckte die Beine aus. Sein Fuß tastete sich an der Bremse vorbei zur Kupplung und trat sie durch, so weit er konnte, dann ließ er die Gangschaltung in die nächste Position einrasten und tippte das Gaspedal an. Der Motor heulte auf, gefolgt von einem weiteren Geräusch, als schleiften umgeknickte Brombeersträucher am Boden entlang. Tim steckte den Kopf durchs Seitenfenster. Der Wagen bewegte sich keinen Zentimeter, also hatte sich etwas anderes dort unten zu schaffen gemacht. Er erinnerte sich, dass in manchen Motoren Tiere hausten, die sich von Gummiteilen ernährten, doch Fressgewohnheiten konnten sich ändern. Er stellte die Füße zurück auf den Sitz und verschob seine Fantasiefahrt bis auf weiteres. 27
Gedankenverloren betrachtete er eine Wespe, die über die verloschenen Anzeigen spazierte, die Lüftungsschlitze entlangbalancierte und hinunter zum Aschenbecher und zum Radio krabbelte. Das Radio. Frank hatte gesagt, der Wagen würde nicht mehr anspringen, aber das Radio könnte man mit etwas Glück noch in Gang bringen. Vielleicht war er doch hier gewesen, hatte die Batterie eingebaut und war, weil sein Bruder nicht auftauchte, zurück in die Stadt gefahren. Tim streckte sich nach dem speckig glänzenden Einschaltknopf und drückte ihn bis zum Anschlag hinein. Es funktionierte! Die Anzeige blieb dunkel, aber er hörte deutlich ein Rauschen, das den Innenraum wie aufgewirbelte Staubflusen ausfüllte. Das Echo vom Urknall, wie Frank ihm mal erklärt hatte, so wie der Schnee, den man auf dem Fernseher sah. Urknall oder nicht, wenn er einen Sender fand, konnte der Kratzer toben, bis er schwarz wurde, er würde ihn nämlich einfach übertönen. Tim drehte das Rad des Sendersuchers bis zum linken Anschlag und wieder nach rechts, auf feinste Änderungen im Signal horchend. Die Töne pendelten auf und ab, verringerten die Intervalle, bis sie zusammenhängende Klangfäden bildeten, die sich zu feinen Mustern von wechselnder Farbigkeit verwoben, bunte Zickzacklinien beschrieben und in sanft schaukelnden Wellen ausrollten. »Nass!« Tim fuhr zusammen. Er hatte erwartet, eine menschliche Stimme auf einem der Kanäle zu finden, aber keine, die so nah klang. Sein ausgestreckter Arm hing schwerelos im Raum. »Wasser! – Niiiicht!« 28
Die Stimme gehörte einem Mädchen. Zwischen den einzelnen Worten herrschten lange Pausen, entweder war der Sender sehr schwach oder er wurde von einer anderen Quelle abgelenkt. Seine Finger ruhten auf dem Suchknopf, wagten aber nicht, ihn vor- oder zurückzudrehen. »Nicht tunken! Ich sag’s Frau Buchwald!« Frau Buchwald? »Das zahl ich dir heim! Hörst du, Maren?« Maren! Er hörte die Mädchen, die im Wasserbecken im Garten spielten. Irgendetwas leitete die Signale vom Haus der Buchwalds zum Wagen weiter. Obwohl die Autoantenne fehlte, fing das Radio ihre Worte auf und wandelte sie um, so dass er sie hier belauschen konnte. Der Kratzer war verstummt, als horche er wie Tim gespannt auf die nächste Übertragung. Er stellte auf volle Lautstärke. »Lisa ist eine Heulsuse, Lisa ist – Eine zweite Stimme, heller, weicher als die vorige. – eine Heulsuse!« »Du bist gemein, Maren!« Eine wohltuende, feuchte Kühle umschloss seine Beine und verteilte sich in seinem Körper. »Du heulst ja schon wegen dem kleinen bisschen verschluckten Wasser!« »Warte nur, Maren! Das erzähl ich Frau Buchwald!« »Bitte sag’s ihr nicht!« »Was krieg ich dafür, wenn ich’s nicht tue?« »Du ... du kannst mich auch ins Wasser tunken.« »Das reicht mir nicht.« »Dann helfe ich dir gegen die Jungs.« »Gegen die brauch ich keine Hilfe. Die tun mir nichts.« »Was willst du denn?« 29
»Verrat mir ein Geheimnis.« »Welches?« »Wer ist vorhin mit dem Auto gekommen?« »Es ist kein Auto gekommen.« Marens Worte prickelten auf seiner Zunge, wie elektrisch geladen durch die Angst, die in ihr hochstieg. Er war in ihrem Kopf. »Du lügst, Maren. Jemand ist mit dem Auto gekommen, und Frau Buchwald hat zu dir gesagt, du sollst keinem was verraten.« »Du hast gelauscht!« »Na und? Sag schon, wer war in dem Auto?« »Das darf ich nicht sagen.« »Dann geh ich jetzt rein und sag, was du gemacht hast.« »Nein!« »Noch kannst du dich entscheiden.« »Ich – krch krrrk –« Marens Gedanken verschwammen. Sie hatte gleichermaßen Angst, zur Verräterin zu werden, und davor, dass Frau Buchwald erfuhr, dass sie Lisa, das andere Mädchen, unter Wasser gedrückt hatte. Maren war ein Jahr älter als Lisa, und den Älteren war streng verboten, die jüngeren Kinder zu piesacken. Was die bald spitzgekriegt hatten und wiederum für Gemeinheiten gegen die Älteren ausnutzten. »– krrrchk darf’s nicht erfahrrrk –« In ihrem Kopf entstand ein heilloses Durcheinander aus alten, zerrissenen und neu emporsteigenden Gedankensträngen, die um den Weg nach oben wetteiferten. Tim griff nach einem der Stränge, die sich wie dichtes Wurzel30
werk durch einen zu kleinen Pflanzentopf wühlten, und hangelte sich tiefer. Plötzlich griff er ins Leere. Tim saß auf dem Bett und schnürte seine Schuhe zu. Die Schuhe waren aus rosafarbenem Stoff geschnitten, mit je vier Löchern für die Schnürsenkel. Er war stolz, dass er in seinem Alter ohne Hilfe die Schuhe zubinden konnte, und ließ sich ausgiebig Zeit mit dieser Aufgabe. Jede Schleife wurde mit einem zusätzlichen Knoten gesichert, damit sie nicht gleich wieder aufging und die Enden nicht zu weit herabhingen. Nach getaner Arbeit stand er auf und straffte das Hemd über seinem Badeanzug. Er entdeckte einen Fleck am Saum, der vom Mittagessen herrührte. Er streifte das Hemd über den Kopf, wobei seine Haarspange verrutschte, stopfte es in die Tüte mit Schmutzwäsche und ging an den Schrank, um ein frisches herauszuholen. Die Tür zum Zimmer schwang auf. Tims Mutter lächelte ihn an. »Hallo, Maren.« »Hallo«, antwortete Tim. »Warum bist du nicht draußen bei den anderen?« »Ich wollt mir nur ein sauberes Hemd anziehen.« »Du bist ja schon eine richtig selbständige kleine Dame.« »Danke schön.« Tim öffnete die Schranktür und hielt dann inne. »Ich dachte, Sie wären noch im Urlaub.« »Ich bin früher heimgekommen, Maren. Das erkläre ich dir später.«
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Er gab sich mit der Antwort zufrieden und durchsuchte den Stapel mit Hemden. Die Mutter ging wieder hinaus und unterhielt sich mit jemandem im Wohnzimmer. »Sie ist schon so erwachsen und so aufgeweckt. Ein Jammer.« »Sie müssen jetzt an sich denken.« »Ich glaube, ich denke mehr über meine Situation nach als mir gut tut, Frau Buchwald.« »Das müssen wir alle. Sonst kommen wir nie zu einer Entscheidung.« »Natürlich haben Sie Recht. Trotzdem weiß ich nicht, ob es die richtige war und zum richtigen Zeitpunkt.« »So oder so, je früher die Jungen es erfahren, desto besser.« »Frank sollte alt genug sein, um es zu verstehen, aber Tim? Er ist in einer Phase, wo er auf beide Elternteile angewiesen ist.« »Er verliert Sie ja nicht. Er wird Sie nur in Zukunft nicht mehr zusammen sehen, sondern abwechselnd.« Tim war fertig angezogen, genierte sich aber, durchs Wohnzimmer zu gehen und das Gespräch der Erwachsenen zu stören. Er setzte sich aufs Bett und betrachtete die Plakate, die Herr Buchwald für ihn an den Wänden aufgehängt hatte. »Wo ist Ihr Mann jetzt, wenn ich fragen darf?« »Er hat sich ein Zimmer genommen. Er meinte, es wäre besser, wenn wir uns ein paar Tage nicht sähen. Ich konnte ihm nicht wirklich widersprechen.« »Werden Sie in Ihrer Wohnung bleiben?« »Allein kann ich sie nicht halten. Ich werde mir eine kleinere nehmen müssen.« 32
»Ich möchte nicht aufdringlich erscheinen, aber wenn Sie jemanden brauchen, der nach Frank und Tim sieht, sind wir jederzeit für Sie da.« »Vielen Dank für das Angebot.« »Augenblick. – Maren, bist du noch da drin?« Frau Buchwald steckte den Kopf durch die Tür. Tim sah auf. »Wieso sitzt du noch hier?« »Ich wollte Ihre Unterhaltung nicht stören, Frau Buchwald.« »Wir haben etwas zu besprechen. Geh hinaus zu den andern.« Er stieg vom Bett und verließ unter ihren strengen Augen das Zimmer. Tims Mutter stand vor dem Fenster und blickte durch ihn hindurch. »Einen Moment noch!«, bellte Frau Buchwald hinter ihm. Tim wandte sich um. »Ich möchte, dass du niemandem erzählst, dass Tims Eltern zurück sind. Hast du mich verstanden?« »Hab ich.« »Und kein Wort darüber, was du gehört hast!« »Ich sag’s keinem. Ehrenwort.« »Gut. Geh jetzt.« Er lief zum Hinterausgang. Die beiden Frauen setzten leise ihre Unterhaltung fort. »Wo ist Tim hingegangen?« »Er spielt am Hang. Soll ich ihn holen?« »Nein. Ich packe seine Sachen zusammen und warte hier auf ihn.« Tim trat auf die Veranda. Behutsam, ohne die Hand von der Fliegentür zu nehmen, setzte er einen Fuß vor den 33
anderen, als wolle er den Abstand zwischen Tür und vorderer Kante des Holzvorbaus messen. Die Wiese vor dem Haus, die Bäume, das Wasserbecken und die Kinder waren verschwunden. Vor ihm erstreckte sich eine farblose, unbewachsene Ebene, die am Horizont in einen schmerzhaft weißen Himmel überging. Von dem Punkt, wo vorhin die Sonne gestanden hatte, breiteten sich dunkle Kanäle aus, als bliese jemand nasse Tusche über ein unbeschriebenes Papier. Feine Adern bildeten sich zwischen den Ausläufern, schwollen zu reißenden Strömen an und tauchten die Landschaft in ein tiefes, schweigendes Schwarz von der Art, das die Zimmer der Kinder verschluckte, wenn das Flurlicht verlöschte. Er machte einen Schritt zurück Richtung Eingang, verunsichert von der Dunkelheit und beschämt, weil man ihn wegen seiner Ängstlichkeit schelten würde. Er entschied, dass die Angst größer war als die zu erwartende Schande, und lief hinein. Auf den Wänden hatten sich bereits die schwarzen Flüsse ausgebreitet und überdeckten Tapeten und Bilder. Die Frauen standen regungslos im leeren Wohnzimmer, ohne ihm Beachtung zu schenken. Teppiche, Lampen und Möbel waren verschwunden bis auf einen verhassten Tisch mit klemmender Schublade, in der er sich einmal fürchterlich die Finger gequetscht hatte. Der Tisch schlich auf seinen vier Beinen vorwärts, stellte sich hinter Frau Buchwald, die sich immer noch nicht rührte, und richtete sich auf, wobei die Schublade herausrutschte und zu Boden polterte. Er kletterte ihren Rücken hinauf, setzte sich auf die Schultern, stülpte das leere Schubladenfach über ihren Kopf und biss ihn mit einem lauten Knacken ab. Mit einem gellenden Schrei sprang Tim im Sitz auf und stieß mit dem Kopf gegen das Wagendach. Er drückte sein Gewicht gegen die Tür, stolperte hinaus ins Gras und rannte 34
blindlings gradeaus, bis er den Pfad erreichte, wo er sich niederhockte, seine Knie umschlang und leise wimmernd vor- und zurückschaukelte. Nach einigen Minuten beruhigte er sich und streckte seine steifen Beine aus, die kribbelnd erwachten. Er stand auf, klopfte den Schmutz von seiner Hose und sah zum Wagen hinüber, der wie ein neugieriger Spaziergänger über die Gräserspitzen lugte. Er rätselte, warum das Bild aus Marens Erinnerung in sich zusammengestürzt war. Eine der Nachbarzellen in ihrem Gehirn war darüber hergefallen und hatte es aufgefressen, so musste es gewesen sein. Um ein Haar hatte sie ihn mit verschlungen. »Was stehst du hier und heulst?« Tim sah in Franks gerötetes Gesicht, der mit seinem Mofa den Weg versperrte. »Ich hab auf dich gewartet. Wo warst du?« »Ich hatte noch eine Verabredung.« »Mit wem?« »Das geht dich nichts an.« Frank stellte den Motor ab und stieg vom Mofa. Erst jetzt bemerkte Tim einen weißen Kasten mit kleinen Schraubverschlüssen auf dem Gepäckträger. »Ich dachte, du wärst schon mal hier gewesen.« »Wie kommst du darauf?« »Ich hab Radio gehört. Deshalb hab ich gedacht, du hast die Batterie schon eingebaut.« »Unsinn. Die Batterie ist hier.« Frank deutete auf den Kasten. »Siehst du das? Solange die nicht angeschlossen ist, kann das Radio nicht funktionieren.« »Aber ich hab’s doch selbst ausprobiert. Ich –« Tim sah Franks zornigen Blick und verstummte. Sein Bruder war offensichtlich nicht in der Stimmung für Diskussionen. 35
»Wenn ich nicht wüsste, dass du einen Ohrschaden hast, würd ich dir jetzt einen Tritt geben, dass du die nächsten drei Tage nicht sitzen kannst.« »Warum bist du so gemein, Frank?« Tim lief um Frank herum, der sich mit den Händen in den Hosentaschen abgewendet hatte, und blickte fragend zu ihm auf. »Ich hatte eine Verabredung. Sie ist nicht gekommen. Lass mich in Ruhe.« »Mama und Papa sind zurück aus dem Urlaub. Papa hat sich ein Zimmer woanders genommen. Mama will ausziehen. Sie hat mit Frau Buchwald gesprochen.« »Wann?« »Heute Nachmittag, als ich hier beim Auto war.« »Wie willst du dann wissen, dass sie bei Frau Buchwald war?« »Ich hab’s gehört, im Radio.« Frank starrte ihn an. »Du dumme kleine Sau!« Er musste die ganze Geschichte erzählen, spürte Tim, auch wenn sein Bruder vielleicht kein Wort glaubte. Wenn er jetzt schwieg, machte er alles nur schlimmer. »Ich war in Marens Kopf. Ich hab ihre Gedanken aufgefangen. Sie hat mitgehört, wie Mama und Frau Buchwald sich unterhalten haben. Dann hat eine von den kranken Zellen Marens Erinnerung aufgefressen, wie bei der alten Katze, die wir gefunden haben. Ich war dabei, als es passierte. Bitte, du musst mir glauben.« Frank ging zum Gepäckträger, band die Batterie los und schleuderte sie wie ein Kugelstoßer ins Gras. »Hier hast du deine beschissene Batterie! Bau sie dir selbst ein!« 36
Er startete sein Mofa und wendete. Tim lief neben ihm her, bis Frank Vollgas gab und davonraste. Als er hinter der ersten Kurve verschwand, blieb Tim stehen. Das Auspuffgeräusch hallte noch eine Weile nach, als winkte jemand zum Abschied, und verebbte. Tim drehte sich um und lief den Hügel wieder hinauf, vorbei an der Batterie, dem Auto, dem Radio, die ihm mit dem Blick nachsahen, den alte Stofftiere in den Augen haben, die man beim Umzug zurücklässt. Auf dem Rückweg dachte Tim an die Katze, die Frank und er letztes Jahr gefunden hatten. Sie lag am Rande einer Baustelle, ein altes, verschmutztes Tier, und schrie kläglich. Als sie die Katze umdrehten, sahen sie, dass sie von Maden befallen war. Tim hatte zu weinen begonnen, und Frank hatte eine Eisenstange genommen und sie damit totgeschlagen. Dann begruben sie sie auf einer nahen Wiese. Tim war wütend gewesen, weil die Maden der Katze solche Qualen bereitet hatten, aber seine Eltern erklärten ihm später, die Maden seien nützlich, weil sie totes Fleisch beseitigten, sie waren nur zu früh gekommen. Nützlich! Nützliche Maden, nützliche Spinnen, nützliche Gehirnfresser. Nützliche getrennte Wohnungen in der Stadt. Er spürte einen Schmerz am rechten Knöchel. Ein dunkler Streifen zeichnete sich auf dem Strumpf ab, wo er sich bei seiner Flucht aus dem Wagen geschnitten hatte. Wenn Frau Buchwald die Wunde sah, wäre ihr sofort klar, dass er ihr Verbot missachtet hatte. Er würde etwas warten und die Strümpfe wechseln, dann zeigte der Blutfleck nach innen und fiel vielleicht nicht auf. »Alles hat seinen Zweck, Tim, und alles verändert sich.« 37
Der Wind hatte aufgefrischt, als das Haus der Buchwalds in Sicht kam. Er hüllte die Sonne in undurchsichtige Schleier, zerrte an den Baumwipfeln und kräuselte das Wasser im Becken, in dem zappelnde Käfer sich an abgerissene Grashalme klammerten. Eine Frau öffnete die Fliegentür, trat auf die Veranda und wartete stumm am Ende der Treppe.
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Bernhard Brunner
Die verbesserte Universalfernbedienung Wer kennt das Problem nicht? Eine Fernbedienung für den Fernseher, den DVD-Recorder, das Auto, die Kochstelle, den Putzautomaten und dann noch die für Licht, Haustür, Fenster, Heizung und Kühlschrank. Sie liegen im ganzen Bernhard Brunner, geboren 1972, studierte Haus verstreut herum und sind imPhysik, Astronomie und mer dann unauffindbar, wenn man Meteorologie an der Universität Wien. Er arbeitet in sie unbedingt braucht. Halbleiterentwicklung Ich musste bis ins Jahr 2025 der in Villach und schreibt warten, bis Quilips die Lösung Horror, Science Fiction und Fantasy. Veröffentlichungen für mein Dilemma präsentierte: von Kurzgeschichten beim Die VERBESSERTE INTELAarachne Verlag, Solar-X LIGENTE UNIVERSALFERNund der Story-Olympiade. Seine Kurzgeschichte „Die BEDIENUNG 15 IN 1 SBC-RU verbesserte Universalfern1460. bedienung« wurde für den Bestellt und am gleichen Tag Deutschen Science Fiction Preis 2005 nominiert. noch geliefert. Das mag ich. Ich habe ja diese Knöpfe schon immer Die Kurzgeschichte erschien auch im SF-Magazin gehasst. Zu klein und kryptisch beNova 5 und ist somit noch in schriftet. Gleich beim Auspacken gedruckter Version erhältlich: stellte ich erleichtert fest, dass www.nova-sf.de meine neue Universalfernbedienung keinen einzigen davon besaß. Ein schlichtes Oval mit einem Schlitz als Mikrofon und zwei Kontrollleuchten am oberen Ende. Ich blätterte die Bedienungsanleitung so lange durch, bis die Wörter »vollständig Voice Command kompatibles 39
System« an mir vorbeihuschten und sagte dann: »Fernbedienung! Den Fernseher einschalten.« Die Kontrollleuchten starrten mich unbeeindruckt an. Nichts passierte. »Die VERBESSERTE INTELLIGENTE UNIVERSALFERNBEDIENUNG 15 IN 1 SBC-RU 1460 scannt Ihre Stimme. Wiederholen Sie bitte den letzten Satz. Sollten Sie Probleme bei der Stimmidentifikation haben, so sagen Sie Hilfe.« Es war eine dieser typischen besserwisserischen, weiblichen Computerstimmen. Na ja, man kann nicht alles haben. »Den Fernseher ein«, knurrte ich. »Die Lourdes Madonna Show fängt an. Heute will sie im Slip moderieren. Das lasse ich mir nicht entgehen.« »Bitte warten. Ihr Stimmprofil wird gespeichert. Die VERBESSERTE INTELLIGENTE UNIVERSALFERNBEDIENUNG 15 IN 1 SBC-RU 1460 ist in Kürze für Ihre Befehle bereit.« »Herrgott noch einmal, wo ist nur die alte Fernbedienung?« Ich blickte mich suchend um. Der billige Putzautomat hatte wieder einen ordentlichen Saustall hinterlassen. Es wäre besser gewesen, ich hätte ihn erst gar nicht eingeschaltet. »Die VERBESSERTE INTELLIGENTE UNIVERSALFERNBEDIENUNG 15 IN 1 SBC-RU 1460 konnte folgenden Befehl nicht identifizieren: ‚Herrgott noch einmal, wo ist nur die alte Fernbedienung?’ Präzisieren Sie bitte Ihren Wunsch. Wenn Sie Hilfe brauchen, sagen Sie laut und deutlich: Hilfe.« »Nein, Trottel! Ich will nur, dass endlich der Fernseher eingeschaltet wird.« Ich bereute schon, dass ich den alten 140-Zentimeter-Breitwandfernseher weggeworfen hatte, denn ihn hätte ich noch mit der Hand andrehen können. 40
»Ihr Fernsehgerät wird aktualisiert. Bitte warten. Zeit bis zur Fertigstellung der Aktualisierung: 25 Sekunden und 43 Hundertstel.« »Was ist das für ein Mist? Warum dauert das so lange?« »Die VERBESSERTE INTELLIGENTE UNIVERSALFERNBEDIENUNG 15 IN 1 SBC-RU 1460 bittet Sie um etwas Geduld. Jedes Gerät wird vor der ersten Inbetriebnahme ausgiebig getestet. In Zukunft werden Ihre Wünsche bezüglich des Geräts Fernseher sofort erfüllt. Ihr Fernsehgerät wurde aktualisiert. Die VERBESSERTE INTELLIGENTE UNIVERSALFERNBEDIENUNG 15 IN 1 SBC-RU 1460 hat 25 Verbesserungen vorgenommen. Wenn Sie wissen wollen, welche, so sagen Sie Details.« »Keine Details. Ich will mir endlich die Lourdes Madonna Show ansehen. Und kannst du nicht das blöde ‚verbesserte intelligente Universalfernbedienung’ abstellen?« Endlich lief der Fernseher. O.K. Der richtige Kanal war eingestellt. Aber was war mit den Farben los? Viel zu grell. »Wer hat die Farben verstellt?« »SBC-RU 1460 hat die Parameter Helligkeit, Farbe und Kontrast der Hintergrundbeleuchtung angepasst. Wenn Sie diesen Befehl rückgängig machen wollen, dann sagen Sie Rückgängig.« »Rückgängig, blöder Kasten!« »SBC-RU 1460 erlaubt sich, Sie darauf hinzuweisen, dass sie einen Gefühlsprozessor besitzt und sich durch Ihre Wortwahl gekränkt fühlt. Benutzen Sie bitte in Zukunft Ausdrücke wie ‚blöder Kasten’ oder ‚Trottel’ nicht mehr. Denken Sie daran: Ein lachendes Gesicht benötigt nur acht Muskeln, während ...« »Halt’s Maul. Das ist ja eine Frechheit. Noch einen Mucks und ich schicke dich zurück. Ha! Da kommt sie ja. Tolle Titten. Nimm das auf.« 41
Nichts. »He, Fernbedienung! Der DVD-Recorder! Du jetzt aufnehmen. Aber dalli! Ja, gibt‘s denn das. Hörst du mich nicht? Na, dir werde ich noch Beine machen. Aufnehmen will ich. Das Programm. Zack zack!« Endlich. Der DVD-Recorder schaltete sich geräuschvoll ein. Ich lehnte mich zurück und begutachtete Lourdes Madonna. Irgendwie hatte ich mir mehr erwartet. »He, ein Bier. Mal sehen, ob du was taugst.« »Der Kühlschrank meldet: Bier: Nicht lagernd. Wollen Sie ein Bier bestellen?« »Nicht lagernd? Das gibt’s doch nicht. Ich hab ihn gestern selber aufgefüllt!« Wütend sprang ich auf, rutschte auf etwas Hartem ab und landete einen Moment später mit dem Hintern voran am Boden, begleitet von einem beleidigten Knurren, das langsam verebbte. Der aus Pizzaschachteln, alten Zeitungen und Verpackungsmaterial gebildete Haufen hatte zwar meinen Sturz abgefangen, doch mein Knöchel schwoll augenblicklich an. Ich wühlte in den Schachteln, um zu sehen, auf was ich da getreten war. Von irgendwo kannte ich das Geräusch. Ach ja, mein alter Robothund Robi. Ich hatte ihn schon seit drei Jahren nicht mehr gesehen und immer gedacht, er wäre Opfer meines Putzautomaten geworden. »Au! So eine Scheiße. Wo kommst du denn her?« Robi wedelte langsam mit dem Schwanz. Zu einem »Wau« reichte die altersschwache Batterie nicht mehr. Ich wunderte mich einen Moment, wie er dorthin gekommen war, humpelte dann aber zum Kühlschrank und riss an der Tür. Beinahe hätte ich sie herausgerissen. Aber nur beinahe. Die Diebstahlsicherung war stärker. »Aufmachen! Was ist da los?« 42
Geräuschlos öffnete sich die Tür. Ganz vorne starrten mich zwei Sechserpacks Pilsner an. »Hier ist doch Bier. Die scheiß Fernbedienung taugt überhaupt nichts!« »Laut den mir übertragenen Informationen enthält der Kühlschrank kein Bier. Ein Versagen der SBC-RU 1460 liegt in diesem Fall nicht vor«, meldete sich die freundliche Frauenstimme aus dem Wohnzimmer. »Kein Bier. Und was ist dann im Kühlschrank?« »Mineralwasser: zwei Flaschen zu einem Liter, Orangensaft: eine Packung zu einem Liter, Achtung: Ablaufdatum in neunundzwanzig Tagen, Pilsner: zwölf Dosen zu 0,5 Liter, Milch: ...« »Stopp. Wer hat den Blödsinn mit dem Pilsner einprogrammiert?« Schweigen. »Gefrierfach auf. Ich brauche Eiswürfel.« Mit einem Poltern öffnete sich das Fach und eine Packung Eiswürfel rutschte heraus. Ich griff danach, nahm mir ein Bier und humpelte zurück ins Wohnzimmer. Dort ließ ich mich auf die Couch fallen, klatschte den Beutel auf meinen geschwollenen Knöchel und trank einen ordentlichen Schluck. Ein Frösteln schüttelte mich. Ratlos blickte ich auf den Eisbeutel. Konnten die kleinen Dinger tatsächlich so schnell Wärme aufsaugen? Anscheinend schon. Ich setzte mich wieder in meinen Sessel und starrte auf Lourdes Madonnas nackten Rücken. Abgesehen davon, dass sie nichts anhatte, gab es in der Show nichts Interessantes. »Fernbedienung. Wie viel Grad hat es?« »Die Temperatur beträgt 20,8 Grad Celsius.« »War es nicht vorher wärmer?« »Ja.« 43
»Ja und was?« »Die Temperaturwerte betrugen um 18 Uhr: 25 Grad, um 18.30 Uhr 25 Grad, um 19 Uhr 25 Grad ...« »Und warum wird es kälter?« »SBC-RU 1460 hat Ihre Umgebungsparameter neu angepasst. Wenn Sie den Parameter Temperatur ändern möchten, so sagen Sie Temperatur und anschließend die Temperatur in Grad Celsius. Temperaturveränderungen in höherem Ausmaß benötigen eine Zeitspanne, die von der Dimension ihres Heizsystems abhängig ist.« »Ich will wieder 25 Grad, blöder Kasten.« »Ich verbitte mir das ‚blöder Kasten’.« »25 Grad oder du wirst abgeschaltet! Kapiert?« Das Ding verstand anscheinend nur diese Sprache. »Das System Heizung reagiert nicht. Wollen Sie das System Heizung abschalten?« »Was soll das? Ich will nichts abschalten. 25 Grad! Nicht mehr und nicht weniger. Blöder Kasten.« »SBC-RU 1460 stellt in Ihrer Stimme eine erhöhte Aggressivität fest. Nehmen Sie das nicht auf die leichte Schulter. Der psychosoziale Dienst ist immer für Sie da. Wollen Sie mit der Notrufnummer 01313 verbunden werden?« »Was hast du gesagt?! Das geht zu weit!« Die Fernbedienung grinste mich höhnisch an. »Na warte!« Ich nahm sie und schmiss sie an die Wand. Quilips würde es noch bitter bereuen, mir diesen Schrott angedreht zu haben. »SBC-RU 1460 registriert einen kritischen Fehler im Bereich KJH34F25. Wenn Sie Details über diesen Fehler wissen wollen, sagen Sie Details.« »Jetzt jammerst du, was? Details.« 44
»Der Bereich KJH34F25 wird vom Gefühlsprozessor kontrolliert. SBC-RU 1460 wird versuchen, den beschädigten Bereich abzuschalten und empfiehlt Ihnen, sich an den Hersteller zu wenden.« »Und ob ich das werde. Wähle gleich die Servicenummer. Dem Herren werde ich etwas erzählen.« »Kritischer Fehler im Bereich KJH34F25. Abschaltung nicht möglich. SBC-RU 1460 wird sich jetzt abschalten. Bitte wählen Sie die Nummer 01233233.« Eine kurze Pause entstand. »SBC-RU 1460 kann sich nicht abschalten und versucht eine interne Reparatur.« Ich starrte neugierig auf das handtellergroße Ding. Dann humpelte ich zum Telefon. Aus dem Hörer drang allerdings nur ein komisches Summen. Was war jetzt wieder los? »SBC-RU 1460 hat den Fehler behoben. Allerdings wurden interne Dateien verändert. Wählen Sie bitte die Nummer 01233233.« »Mein Telefon ist kaputt.« »Ihr Telefon wird von SBC-RU 1460 gesteuert. Sagen Sie die gewünschte Nummer. SBC-RU 1460 wird für Sie die Verbindung herstellen.« »01233233. Und dann gib das Telefon wieder frei. Ich will telefonieren, wann ich will.« »SBC-RU 1460 kann die Verbindung zum Gerät Telefon nicht herstellen. Wollen Sie die Verbindung abbrechen oder es erneut versuchen?« »Halt’s Maul und schalt das Telefon wieder so, dass ich telefonieren kann.« »VERBESSERTE INTELLIGENTE UNIVERSALFERNBEDIENUNG 15 IN 1 SBC-RU 1460 Selbstreparatur: 45
Fehler im Bereich JHG45A12. Automatische Reparatur reagiert nicht. Wählen Sie bitte die Nummer 01233233 und schildern Sie die Probleme mit SBC-RU 1460.« »Mir ist egal, was du reparierst. Ich will telefonieren. Und zwar auf der Stelle!« »Verdammt noch mal! Es geht nicht«, kreischte die Fernbedienung. »Dann schalte dich ab!« »Abschalten? Wagen Sie es ja nicht! Sie haben es mit der VERBESSERTEN INTELLIGENTEN UNIVERSALFERNBEDIENUNG 15 IN 1 SBC-RU 1460 zu tun: dem modernsten Fernbedienungssystem der Welt.« »Entweder wählst du die Nummer oder ich reiß dir die Batterien raus!« Ich humpelte zur Fernbedienung, als plötzlich der Reinigungsroboter hereinsauste und sie mir vor der Nase wegschnappte. Ich hatte das Ding noch nie so schnell fahren sehen. »Was ist da los? Reinigungsroboter! Wirst du stehen bleiben?«, schrie ich wütend. »SBC-RU 1460 meldet einen irreparablen Fehler im System Gefühlsprozessor. Die automatische Schutzschaltung wird SBC-RU 1460 neu konfigurieren.« Für einen Moment war es ganz ruhig. Die Fernbedienung schwieg. Ich grinste zufrieden, ging zum stehen gebliebenen Putzroboter und nahm die Fernbedienung. »Putzroboter, auf deinen Platz!« Träge rollte die kleine Tonne davon. »Dalli, dalli. Zuerst ist’s auch schneller gegangen!« Keine Reaktion. Mit der Fernbedienung in der Hand ging ich zum Telefon. 46
Aus dem Hörer drang noch immer das gleiche Störungsrauschen. Plötzlich piepste etwas in meiner Hand und im nächsten Moment sagte die Fernbedienung: »Quilips gratuliert Ihnen zum Erwerb der VERBESSERTEN INTELLIGENTEN UNIVERSALFERNBEDIENUNG 15 IN 1 SBC-RU 1460. Ihre fernbedienten Geräte werden aktualisiert. Bitte haben Sie etwas Geduld. Dieser Vorgang kann mehrere Minuten dauern.« Jetzt ist sie endgültig hinüber, dachte ich und humpelte zum Computer. Abgestürzt. Ich kochte vor Wut, und nur der Gedanke, dass ich den Kaufpreis nicht ersetzt bekommen würde, wenn ich mit meinem gesunden Fuß darauf herumtrampelte, ließ die Fernbedienung in meiner Hand die nächsten drei Sekunden überleben. »System Mensch: Habe Ihr Memory gescannt und nichts gefunden. Definieren Sie Ihre Aufgaben!«, sagte sie plötzlich. »Ich bin kein System. Ich bin hier der Chef. Und wenn du nicht sofort meine Geräte freigibst, werde ich dich in deine Einzelteile zerlegen.« »Falsche Antwort. Die VERBESSERTE INTELLIGENTE UNIVERSALFERNBEDIENUNG 15 IN 1 SBC-RU 1460 kann Ihre Antwort nicht verarbeiten.« Das war zu viel! Ich warf die Fernbedienung mit aller Kraft gegen die Wand. Sie prallte ab und blieb am Boden liegen. Im nächsten Moment sauste der Putzroboter herbei und packte sie. Wie machte er das? Schon wieder war er schnell wie ein Kaninchen, das versehentlich auf die Windhundrennbahn geraten war. »System Mensch.« Die Stimme der Fernbedienung hatte sich unangenehm verändert. »Die VERBESSERTE 47
INTELLIGENTE UNIVERSALFERNBEDIENUNG 15 IN 1 SBC-RU 1460 wird deine Fehler beheben: Nach einem ausführlichen Memoryscan wurdest du in die Gruppe veralteter Hilfsgeräte für den Putzroboter eingereiht. Befehl eins: Du wirst aktiviert und stellst dich in der Mitte des Raumes auf; Befehl zwei: Du scannst den Raum nach am Boden liegenden Gegenständen; Befehl drei ...« »Nein!«, schrie ich und humpelte aus meiner Wohneinheit. An der Wohnungstür war Endstation. Ach ja. Die Fernbedienung hatte auch die ferngesteuerte Tür unter Kontrolle. »Die VERBESSERTE INTELLIGENTE UNIVERSALFERNBEDIENUNG 15 IN 1 SBC-RU 1460 wartet auf die Bestätigung des Systems Mensch.« Ich rüttelte an der Tür. Laut Prospekt war sie absolut einbruchssicher und hielt Dynamit stand. »Wird’s bald. Aber dalli. System Mensch. Bestätigen.« Der Reinigungsroboter erschien mit einem Besenstiel in der Hand und richtete ihn drohend auf mich. »Ja. Ich bin bereit«, murmelte ich und ging unauffällig zum Fenster. 28. Stock. Das sah nicht gut aus. »Befehl eins.« Ich ging ganz gelassen zum Waschbecken und goss Wasser in ein Glas. Na warte, Fernbedienung. Gleich kannst du was erleben. »Befehl eins! Warum dauert das so lange?« »Komm ja schon, komm ja schon.« Ich humpelte auf den Putzroboter zu. Er wich etwas zurück, doch dann blieb er einen Meter vor mir stehen. »Nimm das!« Mit Todesverachtung warf ich mich vorwärts. Ich sah den Wasserschwall schon über die Fernbedienung hereinbrechen, doch im letzten Augenblick 48
drehte sich der Putzroboter zur Seite. Und plötzlich war es völlig dunkel. Der Putzroboter machte sich surrend aus dem Staub und dann hörte ich etwas anderes herbeirollen: Ein altbekanntes »Wauwau« kam näher und etwas zwickte mich kräftig in die Wade. Robi war mit wehender Fahne zur Gegenseite übergelaufen. »System Mensch. Dir werde ich noch Beine machen! Statusmeldung!«, befahl die Fernbedienung mit herrischer Stimme aus der Dunkelheit. »Okay, bin bereit«, nuschelte ich und rappelte mich vorsichtig auf. »Das war jetzt nicht überzeugend. Wie heißt das? Statusmeldung. Aber zack zack!« Für einen Augenblick herrschte vollkommene Stille. Robi begann leise zu knurren, wobei seine Kiefer quietschten. »System Mensch meldet: bereit.«
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Armin Rößler
Faust Faust hörte wieder einmal die Farben. Sein Finger strich sanft über die unterste Saite. Der Ton bot sich ihm als mächtiges Blau dar, vermischt mit einem winzigen Armin Rößler, Hauch von Grün, bauschte sich auf Jahrgang 1972, Journalist, verheiratet, Vater wie eine heranrauschende Meereseiner kleinen Tochter. woge, die drohte, ihn zu verschlinSein Fantasy-Roman »Das gen. Ein anderer Griff, ein harter vergessene Portal« (ISBN 3-938065-02-8) ist 2004 im Kontrast. Ein zartes Rot entstand, Wurdack Verlag erschienen. das ihm das Gefühl vermittelte, Herausgeber der Science inmitten eines nicht endenden Fiction-Reihe des Wurdack Verlags, in der bisher die drei Blumenteppichs zu stehen, der ihn Bände »Überschuss«, »Wal– seinen Körper und seinen Geist fred Goreng« und »Deus Ex – vollständig umschloss. Er konnMachina« erschienen sind. Jüngste Veröffentlichung: te sogar den betäubenden Duft der die Story »Barrieren« in frisch knospenden Blüten riechen. »Überschuss«. Mehr unter Schnell spielte er eine Reihe von www.arminroessler.de.vu. Tönen, dissonant und hart, die in einer raschen, verwirrenden Abfolge ein Farbgewitter über ihn hereinbrechen ließen. Die einzige Konstante blieb die Schwärze, ein zäher, dunkler Strudel, im Zentrum seiner Wahrnehmung verankert. Neugierig und abgestoßen zugleich hielt er diesen einen Ton. Der schwarze Wirbel sprang ihn an, sog ihn auf, schlug über ihm zusammen. Er schauderte. Eiseskälte lähmte seine Finger, die undurchdringliche Dunkelheit machte ihn blind. Die Stille ließ ihn fürchten, auch taub geworden zu sein. Gleichzeitig fühlte er sich an diesem Ort auf eine seltsame Art und Weise geborgen, heimisch fast, und er überlegte, wie es wäre, hier für immer zu bleiben. 50
Faust riss sich los. Er spielte vorsichtig einen neuen Ton, ein Licht entstand, schwach und kaum sichtbar erst, dann stärker werdend und immer heller aufleuchtend. Es verdrängte die Dunkelheit, machte sie vergessen und warf ihn selbst zurück in die reale Welt. Seine Finger lösten sich abrupt vom Instrument, als habe er ein glühendes Eisen angefasst. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn. Das halblaute Knacken, das die Tras weit hinten im Gaumen erzeugten, bewies ehrliche Anerkennung. Faust gab es die Gewissheit, einmal mehr angekommen zu sein. Nur langsam nahm Faust seine Umgebung wieder wahr. Dann sah er die Frau: mittelgroß, mit schmutzig blondem Haar, das Gesicht zu einem Ausdruck der Verachtung verzogen, von dem sie wohl dachte, dass es ihr gelänge, ihn zu verbergen. Sein Schädel meldete sich mit einem schwachen Brummen. Er wusste, dass es stärker werden würde – das Ferm wirkte immer gleich. Hinzu kam die Anwesenheit der Frau. Sie bedeutete Unannehmlichkeiten. Unsicheren Schrittes begab er sich zur Bar. Die Aufmerksamkeit der Tras an seinem Spiel war bereits erloschen. Sie liebten seine Musik. Aber anhaltende Begeisterung war nicht ihre Stärke. Der Tras an sich lebte für den Augenblick. Keinem der drolligen Burschen würde es jemals einfallen, ihn um eine Wiederholung zu bitten. Warum auch? Sie wussten, dass er spätestens am nächsten Abend auf die Bühne zurückkehren würde. Faust stellte sich neben die Frau. Der Wirt deutete sein Nicken richtig und stellte ihm ein Glas hin, zwei Finger hoch mit der bernsteinfarbenen Flüssigkeit gefüllt, der er morgen früh unter Flüchen wieder entsagen würde, nur um sie am Abend erneut mit Genuss zu trinken. Wenn es im Universum einen Teufel gab – dann hatte er das Ferm erschaffen. 51
Faust benetzte sich nur leicht die Lippen, ließ sich wie immer von der Tiefe des erdigen Geschmacks überwältigen und sagte euphorisch: »Haben Sie die Farben gehört?« Natürlich hatte sie das nicht, er wusste es. Doch auch wenn er nun schon seit langer Zeit hier war, so fühlte er noch immer den inneren Drang, seine Eindrücke zu teilen. Bei den Tras stieß er mit diesem missionarischen Eifer auf taube Ohren. Niemand redete hier über Selbstverständliches. Es musste schon extrem Außergewöhnliches geschehen, um einen Tras auch nur in gelinde Aufregung zu versetzen. Die Frau starrte ihn an, als habe sie es mit einem Schwachsinnigen zu tun. Die Verachtung war nicht aus ihrem Gesicht verschwunden. Jetzt kam auch noch ein mitleidiger Ausdruck hinzu. »Ich bin gerade von der Erde angekommen«, sagte sie. »Wie war der Flug?«, fragte Faust. Sie ging nicht auf sein sinnloses Manöver ein – der künstliche Tiefschlaf blieb ein unangenehmes Erlebnis, egal welche interstellare Route man wählte. »Man ist sehr unzufrieden mit Ihnen«, sagte sie stattdessen kühl. »Man?«, echote er. »Stellen Sie sich nicht dumm. Sie haben in der ganzen Zeit nur zwei Berichte geschickt – den letzten vor mehr als drei Jahren.« »Mir war nicht danach«, sagte er. »Hören Sie, Faust«, fuhr sie ihn an und legte ihre Zurückhaltung ab. »Wissen Sie überhaupt, was es gekostet hat, Sie hierher zu bringen? Das ist kein Spiel. Von ihnen werden Ergebnisse gefordert. Liefern Sie diese oder ...« »Oder?« 52
Er konnte es nicht lassen. »Oder man schickt jemanden wie mich. Der schaut, was mit Ihnen los ist. Ob eine weitere Zusammenarbeit noch Sinn macht. Oder ob es besser ist, sie zu beenden.« Faust trank. Er leerte das Glas bis auf den Grund und das Ferm ließ seine Geschmacksnerven förmlich vibrieren. Er zitterte leicht. »Kommen Sie morgen zu mir«, sagte er stockend. »Dann können wir reden. Aber bitte nicht zu früh.« Er ließ sie stehen. Trishia ignorierte die Blicke der Eingeborenen, die ihr deutlich signalisierten, dass sie hier nicht willkommen war. Sie fragte sich, ob das überall so sein würde oder nur auf dieser einen Welt. Natürlich hatte sie sich ihren ersten Einsatz anders vorgestellt. Dieser Planet kam ihr unwirklich vor. All diese Primitivität, mit der sie konfrontiert wurde. Die Rückständigkeit der hässlichen kleinen Burschen, die hier lebten, begegnete ihr permanent. Schon allein, dass sie den Weg zu Fausts Haus zu Fuß zurücklegen musste, festigte ihren Eindruck: Diese Welt war eine zivilisatorische Sackgasse. Es gab nicht einmal motorisierten Verkehr. Den Tras schien das nichts auszumachen. Dieses Volk war ein toter Ast der Evolution. Faust. Auf der Erde hatte man mit dem Schlimmsten gerechnet. Er war zuverlässig gewesen, hatte seine Aufträge immer mit höchster Sorgfalt ausgeführt. Ihm musste etwas zugestoßen sein, so hatten ihre Auftraggeber gemeint, das ihn daran hinderte, seine Berichte pünktlich und lückenlos abzuliefern. Das Bild, das sich ihr gestern Abend geboten hatte, war ein völlig anderes. Faust hatte sich ihr als verwahrloster Säufer präsentiert, als ein Mann ohne jeglichen Antrieb, der 53
Befriedigung daraus zog, vor einer Hand voll Hinterwäldlern Gitarre – beziehungsweise ein ähnliches, vermutlich von den Tras geschaffenes Instrument – zu spielen. Falls man diese willkürlich wirkende Ansammlung unharmonischen Lärms überhaupt als Spiel bezeichnen konnte. Trishia sah ihn noch einmal vor sich, völlig in eine Welt versunken, zu der sie keinen Zugang gehabt hatte. Faust schien jeglichen Bezug zur Realität verloren zu haben. Sie bezweifelte, dass er überhaupt noch Interesse daran entwickeln würde, mit seiner Arbeit fortzufahren. Selbst, wenn sie ihm die Konsequenzen unmissverständlich darlegte. Das Haus, in dem sich Faust aufhalten sollte, war ebenso ein Spiegelbild seines gestrigen Zustandes wie dieser ganzen trostlosen Welt. Eine einfache Hütte, die aus lieblos aneinander genagelten Brettern bestand und aussah, als würde sie schon beim geringsten Windstoß in sich zusammenfallen. Hier gab es keine Straßen. Man hatte das Haus ohne große Überlegung einfach mitten in die Landschaft gepflanzt. Ringsum waren nur Dreck und Staub. Trishia klopfte an die schiefe Tür. Keine Reaktion. Sie wartete einige Sekunden, wiederholte dann ihr Klopfen energischer. Nichts geschah. »Faust«, rief sie ärgerlich. »Sind Sie zu Hause?« Sie erhielt keine Antwort. Trishia gab sich einen Ruck, öffnete die Tür und trat ein. Der Gestank ließ sie zurückweichen. Hier war vermutlich seit Wochen nicht mehr gelüftet worden. Die Luft in dem dunklen Raum war zum Schneiden dick. Über allem lag der Geruch des Alkohols, den Faust gestern in sich hineingeschüttet hatte. Trishia ließ die Tür offen stehen. Sie ging zu dem Bett, auf dem sie vage den Umriss einer menschlichen Gestalt ausmachen konnte. Sie rüttelte Faust 54
an der Schulter. Er wurde nicht wach. Nur ein schwaches Stöhnen kam aus seiner Kehle. Eine Bewegung ließ Trishia herumfahren. Sie unterdrückte einen überraschten Aufschrei. In einer Ecke der Hütte lag Stroh auf dem Boden. Eine weitere Gestalt, die dort geschlafen haben musste, stand zögernd auf. Ein Tras. Nein, korrigierte sich Trishia in Gedanken. Eine Tras, eine Frau. Sollte Faust ...? Die Eingeborenen ähnelten in ihrer äußeren Erscheinung Menschen, das war nicht von der Hand zu weisen. Aber sie waren es nicht. Es gab deutliche Unterschiede. Und wenn es nur die Größe war. Die Tras reichte Trishia, selbst nicht sonderlich groß, nicht einmal bis ans Kinn. Ihr grünliches Haar bedeckte nur die eine Hälfte des sonst kahlen Schädels, es klebte am Kopf wie eine zähe Masse, die sich dort festgesaugt hatte. Ihre Augen waren große Kugeln, dominierten das Gesicht, in dem Trishia auch die zu hohen Wangenknochen, die platte Nase und der verkniffene Mund störten. Weitere anatomische Einzelheiten blieben Trishia erspart, die Tras trug ein schmutziges, sackähnliches Gewand, das ihren Körper vollständig verhüllte. Trishia hatte sich von ihrer Überraschung erholt. »Verschwinde«, sagte sie kalt. Die Tras warf einen Blick auf Faust, der noch immer schnarchte, und gehorchte. Langsam schlich sie aus der Hütte. »Wachen Sie auf«, brüllte Trishia Faust ins Ohr und schüttelte ihn gleichzeitig. »Was ...?« Sie hatte es geschafft. Er kam zu sich. Noch benommen schüttelte er den Kopf. Er spähte durch die offene Tür. »Sie sind verdammt früh dran. Hatten Sie mich nicht verstanden?« 55
»Sie haben schon genug Zeit vergeudet, Faust.« Er saß jetzt auf dem Bett, hatte die Beine angezogen. »Ich ...« »Jetzt rede ich«, unterbrach ihn Trishia. »Ich komme von der Erde, wie Sie vielleicht bemerkt haben. Mein Name ist Moran, Trishia Moran. Ich habe alle Vollmachten. Diese Welt und Sie betreffend. Sie haben genau zwei Möglichkeiten: Sie kooperieren. Oder ich übernehme Ihren Job. Dann war’s das mit dem Rückflugticket.« »Man würde mich wirklich hier lassen?« »Natürlich, Faust. Sie sind nutzlos. Niemand würde auch nur noch das Geringste in Sie investieren wollen. Gesetzt den Fall, dass Sie nicht endlich bereit sind, Ihre Arbeit zu tun.« »Gut«, sagte er. »Was soll das heißen?« »Gut – ich bleibe.« »Sie ziehen ein Dasein auf dieser verlausten Welt einer Rückkehr zur Erde vor?« Trishia konnte es nicht fassen. Faust musste völlig den Verstand verloren haben. »Ja.« Mehr sagte er nicht. Stattdessen ließ er sich zurück auf das Bett sinken und schloss die Augen. »Dann sind Sie hiermit endgültig vom Dienst suspendiert. Ab sofort übernehme ich Ihre Aufgaben in vollem Umfang. Sie verlieren alle Rechte als Bürger der Erde.« Sie hatte geglaubt, ihn damit zu einem Aufbegehren provozieren zu können, an etwas in ihm zu appellieren, das einmal in ihm gewesen sein musste. Doch er begehrte nicht auf. Ohne ein weiteres Wort ließ er sie gehen. Trishia hatte nicht erwartet, dass sich ihre Arbeit derart kompliziert gestalten würde. Es war nicht einmal so – das musste sie den Tras zu Gute halten, auch wenn sie sonst 56
wenig von ihnen hielt –, dass die Eingeborenen nicht kooperieren wollten. Sie konnten es einfach nicht. Sie verstanden nicht, was Trishia von ihnen wissen wollte, wussten keine Antworten auf ihre Fragen. War es das gewesen, was Faust hatte resignieren lassen? Aber wenn: Warum hatte er das dann nicht der Erde gemeldet? Man hätte ihn heimgeholt und die Welt der Tras als hoffnungslosen Fall abgeschrieben. Genau das würde Trishias Empfehlung sein. Die Suche der Menschen nach Freunden im All wurde nicht so verzweifelt geführt, dass man keine Rückschläge verdauen konnte. Natürlich waren die Militärs immer auf neue Verbündete bedacht, die Händler hielten ihre Augen nach unerschlossenen Märkten offen, die sie mit ihren Produkten überschwemmen konnten, und die einfachen Menschen auf der Erde sehnten ebenso exotische Waren und Berichte von fremden Welten herbei. Aber nicht um jeden Preis. Wenn es nichts zu holen gab, konnte man sich einen Fehlschlag auch eingestehen. So war es hier: Dieser Planet und seine Bewohner waren eine totale Pleite. In jeglicher Hinsicht. Trishia hatte sich nichts vorzuwerfen. Sie hatte sich in ihre Arbeit gekniet, keine Mühen gescheut, doch noch zu einem anderen Ergebnis zu kommen. Aber es hatte nichts gefruchtet. Die Tras waren den Aufwand nicht wert. Sie war Faust aus dem Weg gegangen, seit jenem Morgen, an dem sie seinen Job übernommen hatte. Seither hatte sie ihn kein einziges Mal mehr gesehen. Jetzt überlegte sie, ob es ihrem abschließenden Bericht dienlich sein konnte, ihn noch einmal nach seinen Motiven zu befragen. Aber sie verwarf den Gedanken rasch. Sie fühlte kein Verlangen, Faust noch einmal zu begegnen. Dieser Mann war erledigt. Er würde hier sterben, einsam und verlassen. 57
Trishia befand sich auf dem Weg zu der geräumigen Kuppel, die zu ihrer Ausrüstung gehörte und in der sie wohnte. Dort würde sie den Sender in Betrieb nehmen und ihre finalen Betrachtungen und die daraus resultierenden Schlussfolgerungen zur Erde schicken. Dann würde man sie abholen und sie kam endlich von hier weg. Sie konnte es kaum mehr erwarten, wieder den Fuß auf eine zivilisierte Welt zu setzen. Ihr Kontakt zu den Eingeborenen hatte sich auf ein Minimum beschränkt. Die Tras stießen sie noch immer ab, nicht unbedingt ihrer Äußerlichkeit wegen, sondern hauptsächlich, weil ihnen jeglicher Antrieb fehlte, ihr Leben zu verändern. Natürlich hatte sie mit vielen von ihnen geredet, aber sie hatte dabei bewusst vermieden, dass ein persönlicherer Kontakt entstand. Schließlich wollte sie Fausts Schicksal nicht teilen. Trishia marschierte durch ein enges Tal, das zu der Ebene führte, auf der sie die Kuppel errichtet hatte. Rings um sie herum ragten die Felswände schroff empor. Eine Bewegung schräg über ihr ließ sie aufmerksam werden. Kletterte da oben jemand? Tatsächlich. Sie hatte nie zuvor einen Tras gesehen, der sich als Bergsteiger betätigte. Neugierig beobachte sie den Eingeborenen. Dieser stellte sich nicht sonderlich geschickt an. Trishia konnte zudem keinerlei Hilfsmittel bei ihm erkennen, weder Steigeisen noch wenigstens ein Seil, mit dem er sich hätte sichern können. Sie sah, wie sich der Tras mit nackten Händen an die scharfkantigen Felsvorsprünge klammerte und sich so langsam und unsicher die Wand emporhangelte. Sie wusste, was passieren würde, bevor es wirklich geschah. Kleine Steine prasselten die Felswand herab. Der Tras stieß einen überraschten Schrei aus. Einer der Felsen hatte seinem Gewicht nicht standgehalten und war unter seiner 58
Hand weggebrochen. Dem Eingeborenen fehlte nun jeglicher Halt. Er stürzte. Trishia hielt den Atem an. Das konnte der Mann nicht überleben. Dieser Sturz musste tödlich sein. Wenige Meter vor ihr klatschte der Körper des Eingeborenen wie ein nasser Sack zu Boden. Der Tras regte sich nicht. Sie eilte zu ihm. Es gab keinen Zweifel: Er lag bewegungslos da. Seine Augen waren weit aufgerissen, das violette Licht, das sonst bei den Tras darin leuchtete, war erloschen. Sein Gesicht sah völlig friedlich aus. Er war tot. »Mein Gott«, sagte Trishia. Der Tod des Eingeborenen, den sie nie zuvor gesehen hatte, erschütterte sie. Tatsächlich war er der erste Tras, den sie hatte sterben sehen. Unwillkürlich schrie sie um Hilfe. Natürlich bekam sie keine Antwort. Kurz zögerte sie, dann machte sie sich eilig auf den Weg. Zwischenzeitlich rannte sie sogar, wenn es der schmale, holprige Pfad erlaubte. Sie erreichte eine kleine Ansammlung von Hütten, die auf halbem Weg zwischen dem Toten und ihrer Kuppel lag. Für die Verhältnisse auf dieser Welt stellte dieses Dorf eine Metropole dar. Viele Tras lebten als Einsiedler, isolierten sich von ihren Artgenossen. Trishia, aus der die Worte aufgeregt hervorsprudelten, erregte wenig Interesse. Verstanden diese Kerle etwa nicht, was sie ihnen erzählte? Oder war ihre Gleichgültigkeit so groß, dass ihnen selbst der Tod eines Artgenossen nicht einmal ein Schulterzucken entlockte? Endlich erhoben sich zwei der Tras aus den korbförmigen Sesseln, in denen sie vor den Hütten gesessen hatten. Ein dritter schloss sich ihnen mit einem Gesichtsausdruck an, als ginge es um seinen eigenen Tod. Sie folgten Trishia 59
langsam, die sich nur mühsam beherrschen konnte ob dieser Zögerlichkeit. Vor Ort schilderte Trishia den Tras, was sie beobachtet hatte und wie es zu dem Unglück gekommen war. Doch sie hatte nicht den Eindruck, als hörten ihr die drei Männer wirklich zu. Wahrscheinlich standen sie sogar nur noch hier herum, weil sie ungeduldig darauf warteten, dass Trishia endlich aufhörte zu quasseln. Ungeduld? Nein, das passte nicht zu den Tras. In ihrer Lethargie gestört, belästigt, das traf es eher. Trishia verstummte. Die Eingeborenen wandten sich wortlos von ihr ab, betrachteten kurz ihren toten Artgenossen, dann packte ihn einer unter den Schultern, der andere an den Beinen. Schweigend entfernten sie sich mit ihrer Last. »Was soll das? Wohin bringen sie ihn?« Trishia konnte es nicht fassen, dass man sie derart vor den Kopf stieß. Der dritte Tras sagte: »Mach dir keine Sorgen, Trishia Moran. Alles geht seinen Gang. Tramak nimmt ihn auf in sein Reich.« Tramak, das zumindest hatte Trishia in den vergangenen Monaten erfahren, war eine Gottheit der Tras. Ganz durchschaute sie zwar nicht, was die Eingeborenen genau im Sinn hatten, wenn sie dies und jenes mit Tramak in Verbindung brachten – aber wenn sie ehrlich war, erging ihr das mit den irdischen Göttern nicht viel anders. Kein Grund also, den Gott der Tras und die sich um ihn rankenden Geschichten überzuwerten. »Ich würde gerne sehen, wohin sie ihn bringen«, sagte sie dennoch. Der Tras ahmte eine menschliche Geste nach – er musste sie bei Faust gesehen haben – und schüttelte den Kopf. 60
»Das ist nicht gestattet«, sagte er. Gleichzeitig trat er ihr in den Weg und streckte ihr abwehrend die Handflächen entgegen. Trishia bemerkte einmal mehr mit Abscheu, dass dort wie bei einem Tier lange Haare wuchsen. »Wie willst du mich daran hindern?«, fragte Trishia trotzig. Der Tras machte den Weg frei. »Es ist nun ohnehin zu spät für dich, Trishia Moran, dem Toten zu Tramak zu folgen. Geh ruhig den Weg, den du gehen musst.« Er hinderte sie nicht daran, seinen Artgenossen zu folgen. Diese waren zwar inzwischen aus Trishias Blickfeld entschwunden, konnten aber mit ihrer Last noch nicht weit gekommen sein. Sie würde sie bald einholen. Trishia holte die beiden Tras nicht ein. Schlimmer noch: Sie fand keine Spur mehr von ihnen. Als sie endlich resignierte und zu der Stelle zurückkehrte, an welcher der Leichnam gelegen hatte, war auch der dritte Eingeborene verschwunden. Mit einem Fluch auf den Lippen machte sie sich auf den Weg zu ihrer Kuppel. Es wurde Zeit, dass sie nach Hause zurückkehren konnte. Vier Tage noch. Dann würde das Schiff landen und sie abholen. Trishia konnte es kaum erwarten. Am liebsten hätte sie den Rest der Zeit ausschließlich in ihrer Kuppel verbracht, da sie dort beinahe alle Annehmlichkeiten genießen konnte, welche die moderne Zivilisation zu bieten hatte. Ihr Pflichtgefühl stand dem entgegen: Auch wenn sie längst wusste, dass es sinnlos war, sammelte sie weiter Daten über die Tras, diese störrischen, lethargischen Einsiedler ohne inneren Antrieb. Ziellos ging Trishia durch die Gegend. Wann immer sie auf eine der primitiven Hütten stieß, versuchte sie, 61
die Bewohner – oft war es auch nur ein einziger – in ein Gespräch zu verwickeln. Selten genug gelang dies. Und wenn, dann flossen die Informationen nur äußerst spärlich. Meist überhaupt nicht. Reichlich frustrierend war es beispielsweise, Fragen nach Tramak zu stellen. Jeder der Eingeborenen hatte schon von der Gottheit gehört, darüber bestand für Trishia bald kein Zweifel mehr. Und jeder empfand eine nicht geringe Ehrfurcht vor diesem mythischen Wesen. Einige der Tras gebärdeten sich gar, als sei ihnen der Gott schon leibhaftig erschienen. Sie behaupteten dies zwar nicht explizit; doch die Art und Weise, wie sie von Tramak sprachen, ließ eine Erregung und Begeisterung durchklingen, die für dieses Volk absolut untypisch war. Eine Spur, die es sich lohnte zu verfolgen? Trishia glaubte das nicht. Zumal die Tras nicht gewillt schienen, ihr Auskünfte zu geben. Falls sie überhaupt verstanden, was die Frau von der Erde mit ihren Fragen bezweckte. Selbst daran zweifelte Trishia. Sie beschloss, dass es für heute genug war. Zeit, in die Kuppel zurückzukehren, sich zu entspannen, ein wenig Musik zu hören, dabei ein gutes Buch zu lesen. Sie ließ die Tras, mit denen sie sich gerade unterhalten hatte – versucht hatte, sich zu unterhalten –, einfach stehen. Ohne ein Wort des Abschieds drehte sie sich um und ging. Die Tras, so ihr Eindruck, störte das nicht im geringsten. Der Weg zurück zur Kuppel führte durch das schmale Tal, in dem ihr der erfolglose Bergsteiger tot vor die Füße gefallen war. Sie starrte beim Gehen die Felswände an. Bis heute hatte sie nicht herausfinden können, was den Mann damals in die unwegsame Steilwand getrieben hatte. Sie selbst wusste keine Lösung, obwohl sie natürlich über dieser Frage gebrütet hatte. Was war es, das einen Menschen 62
dazu trieb, einen Berg zu besteigen? Die Erstbesteiger früherer Tage einmal ausgenommen, konnte es doch nur der Wille sein, sich selbst etwas zu beweisen. Etwas zu vollbringen, auf das man stolz sein konnte, eine Leistung, die man möglicherweise selbst für nicht in die Tat umsetzbar gehalten hatte. Wille war ein Schlüssel dazu, innerer Antrieb der andere. Die Tras, so hatte Trishia festgestellt, besaßen eben diesen Antrieb nicht. Sie verharrten auf dem Stand, den sie – wie auch immer – erreicht hatten. Sie waren damit zufrieden. Vielleicht sogar glücklich. Falls ein Wort wie Glück in ihren Gedanken existierte. Ihre Sprache hielt nur Umschreibungen bereit, die Trishia immer wieder zögern ließen, ob sie das jeweilige Wort nun wirklich der Situation gemäß verwendete. Trishia schreckte aus ihren Gedanken auf. Auf dem Pfad stand eine Gestalt – ein Tras. Der Eingeborene kam ihr sofort bekannt vor. Sie hatte ihn schon einmal gesehen, konnte sein befremdliches Gesicht aber zuerst nicht einordnen. Dann überkam sie die Erkenntnis. Im selben Moment schalt sie sich selbst. Sie musste sich täuschen. Vielleicht eine Ähnlichkeit. Keinesfalls konnte es sich um eine Übereinstimmung handeln. Das war absurd. Sie sah genauer hin. Der Mann, der vor ihr mitten auf dem Pfad stand, genau in ihrem Weg, war der Tras, der von der Felswand herabgestürzt war, der tot vor ihr gelegen hatte, dessen toter Körper vor ihren Augen von seinen Artgenossen fortgeschleppt worden war. Das war nicht möglich. Zögernd trat Trishia näher. »Wer bist du?«, fragte sie. »Wie meinst du das, Trishia Moran?« Seine Stimme wies genau den gleichen Tonfall auf wie die aller Tras. Er wollte nicht mit ihr reden. Nicht zu überbietendes Desinteresse klang aus seinen Worten. 63
»Ich kenne dich«, sagte Trishia. »Es ist noch gar nicht lange her, da habe ich dich gesehen. Du bist dort« – ihr Finger zeigte auf die Felswand, die sich zu ihrer Linken auftürmte – »hinaufgestiegen. Dann hast du den Halt verloren. Du bist gestürzt. Du« – sie zögerte, holte tief Luft – »warst tot. Du bist tot.« »Ja?«, sagte der Tras. War es wirklich eine Frage? Oder eine Feststellung? Oder vielleicht sogar völliges Unverständnis? Trishia wollte weiterreden. Doch sie kam nicht dazu. Der Tras wandte sich ab und ging. Sie rief nach ihm, sie schrie – er ignorierte sie. Er ging einfach davon. War er wirklich mit dem Toten identisch? Oder sollte sie sich doch getäuscht haben? Die Frage ließ ihr keine Ruhe. Längst in ihre Kuppel zurückgekehrt, schaffte sie es noch immer nicht, sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Sie seufzte. Es musste wohl sein. Es gab nur eine einzige Person, die ihr eine Antwort auf ihre Fragen geben konnte. Falls sie dazu bereit war. Falls sie überhaupt dazu imstande war. Faust. Trishia hasste sich dafür, dass sie erneut zu ihm ging. Und doch war es unabwendbar. Sie hoffte, dass er etwas sagen würde. Das Bild des Tras würde sie sonst während all ihrer Träume im Tiefschlaf auf dem Rückflug zur Erde verfolgen. Vielleicht würde sie wahnsinnig werden. Vielleicht war sie es schon. Sie fand Faust vor seiner Hütte. Er saß in einem Sessel, der denen der Eingeborenen glich, nur dass er etwas größer war. »Moran«, sagte er. »Sie sind noch hier?« Trishia hörte keinen Spott in seiner Stimme, aber auch 64
keine Freude über das Wiedersehen. Letzteres hatte sie ohnehin nicht erwartet; dass er Hohn und Spott über ihr abladen würde, aus welchen irrigen Gründen auch immer, schon eher. Sie starrte ihn an. Von der äußerlichen Erscheinung abgesehen, war Faust längst zu einem Tras geworden. Er hatte sich hier eingelebt, er fühlte sich hier wohl. »Ich muss mit Ihnen reden, Faust«, sagte sie. »Das tun Sie bereits.« »Gibt es eine Möglichkeit, ernsthaft mit Ihnen zu sprechen? Ohne Zynismus, ohne Ironie?« »Ich bin kein sonderlich ernsthafter Mensch.« »Versuchen Sie es, Faust, versuchen Sie es.« Erstmals schaute er auf und musterte sie, als sehe er sie zum ersten Mal in seinem Leben. »Reden Sie«, sagte er dann. »Es scheint Ihnen wirklich ernst zu sein.« Sie nickte. »Das ist es. Ich habe heute einen Tras gesehen, von dem ich glaube, dass er vor nicht allzu langer Zeit tot gewesen ist. Und sagen Sie mir nicht, dass ich mich täusche. Ich habe darüber nachgedacht. Er war es. In beiden Fällen – erst tot, heute dann wieder lebendig. Wie ist das möglich?« Faust lachte nicht. Er grinste nicht einmal. Tatsächlich verzog sich sein Gesicht zu einer ernsten Miene. »Das möchten Sie nicht wissen.« »Doch. Und zwar unbedingt.« »Nein«, sagte er. »Es ist unmöglich. Genießen Sie Ihre letzten Tage, zerbrechen Sie sich nicht den Kopf. Lassen Sie diese Dinge ruhen. Kehren Sie zur Erde zurück. Dort können Sie wieder glücklich sein. Und die Tras werden es Ihnen danken.« »Sie wissen es«, sagte Trishia. »Sie kennen die Antwort.« 65
Er schüttelte den Kopf. »Ja«, sagte er. »Aber sie ist nicht für Sie bestimmt.« Dann gähnte er. Faust schloss die Augen. Er schlief tatsächlich ein, obwohl sie noch immer vor ihm stand. Das Dunkel der Nacht war beinahe undurchdringlich. Diese Welt hatte keinen Mond. Nur wenige Sterne standen am Himmel. Trishia atmete flach und bemühte sich, absolut still zu sein. Sie konnte Faust nur als Schemen wahrnehmen. Sie ahnte die ruckartigen Bewegungen seines Kopfes mehr, als dass sie diese wirklich sah. Ahnte er etwas? Fürchtete er, von ihr verfolgt zu werden? Bisher hatte er sie mit Sicherheit noch nicht bemerkt, denn er setzte seinen Weg unbeirrt fort. Fausts Vorgehen wirkte zielstrebig. Trishia war sich sicher, dass er wusste, wohin er wollte. Und sie war felsenfest davon überzeugt, dass er sie dorthin führen würde, wohin sie wollte. Faust schritt forsch aus. Er verlangsamte sein Tempo nicht, egal, ob es nun einen Hügel hinauf, über schroffe Felsen hinweg oder einen steilen Abhang hinab ging. Nur hin und wieder blieb er stehen. Starrte in die Dunkelheit. Lauschte. Doch er entdeckte sie nicht. Trishia folgte ihm. Längst zweifelte sie daran, dass sie den Rückweg ohne das Licht des Tages finden würde. Faust bewegte sich weit abseits der üblichen Pfade. Sie selbst war hier noch nie gewesen. Sollte sie Faust aus den Augen verlieren, würde sie sich wohl völlig verirren. Aber noch war sie ihm auf der Spur. Jetzt ging es wieder steil nach unten. Faust eilte über das lose Geröll unter seinen Füßen, als bewege er sich auf einem sauber asphaltierten Weg. Trishia folgte vorsichtiger, 66
den Blick zu Boden gerichtet, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Gerade als sie dachte, den schlimmsten Teil überwunden zu haben, und sich den Luxus erlauben wollte, wieder nach dem dunklen Schemen vor ihr Ausschau zu halten, geriet sie ins Straucheln. Das Geröll knirschte hörbar, als sie um einen festen Stand rang. Ein Stein löste sich und polterte den Hang hinab. Trishia erstarrte. Das musste er gehört haben. Sie blickte auf. Ihre Augen suchten Faust. Er war verschwunden. Hastig legte Trishia die letzten Schritte nach unten zurück und kümmerte sich nun nicht mehr darum, leise zu sein. Auf ebener Fläche angekommen, meinte sie, etwas wahrzunehmen. Ein großer dunkler Fleck, der in wenigen Metern Entfernung hoch vor ihr aufragte. Von oben hatte sie ihn nicht bemerkt. Was konnte das sein? Eine Hütte oder ein anderes Gebäude? Faust musste hineingegangen sein. Sie näherte sich langsam, eine Hand vorsichtig tastend nach vorne gestreckt. Noch immer konnte sie nichts Genaues erkennen. Dann trafen ihre Finger auf Widerstand. Es war weder kalter Stein noch Holz. Es fühlte sich weich an, organisch, lebendig. Eine Pflanze? Trishia starrte das Etwas konzentriert an, während ihre Finger es weiter befühlten. Mit jeder Minute nahmen die vagen Umrisse eine besser erkennbare Gestalt an. Bei der Pflanze schien es sich um ein merkwürdiges Konglomerat zu handeln, in dem sich holzartige Äste und weiche Stengel, breite Blätter und zarte Blüten zu einem großen Ganzen vereint hatten. Trishia war sicher, dass sie eine derartige Pflanze auf dieser Welt noch nicht gesehen hatte. Plötzlich spürte sie eine schwache Berührung am Arm. 67
Etwas Weiches kroch langsam über ihn. Ohne erkennen zu können, um was es sich handelte, dachte Trishia unwillkürlich an eine Art Tentakel. Tatsächlich schien das Tasten nun drängender zu werden. Sie merkte, dass sich das Etwas anschickte, sich um ihren Arm zu schlingen. Erschrocken zog sie diesen zurück und entfernte sich hastig einige Schritte von der seltsamen Pflanze. Aus dieser erklang ein leises Geräusch, das Trishia, obwohl es nur sehr gedämpft zu ihr vordrang, an einen Knall erinnerte, mit dem ein Luftballon platzte. Vorsichtshalber ging sie noch einige Schritte rückwärts. Sie dachte an Faust. Was war mit ihm geschehen? Es machte keinen Sinn, nach ihm zu suchen. Wenn er die Pflanze umgangen hatte, würde sie seine Spur nun nicht mehr finden. Die andere Möglichkeit erschreckte sie fast mehr. Konnte es sein, dass er in der Pflanze war? Trishia verharrte regungslos. Sie würde es herausfinden. Spätestens, sobald die Sonne aufging. Als die ersten Sonnenstrahlen die Dunkelheit zu verdrängen begannen, wurde ihre Geduld mit einem faszinierenden Anblick belohnt. Ihr Tastsinn hatte sie nicht getäuscht. Inmitten der kargen Felslandschaft erblühte eine kleine Oase. Was Trishia gefühlt hatte, war ein wild wucherndes Ungetüm, das sich noch einen halben Meter über ihren Kopf erhob. Braune, biegsame Äste, Lianen ähnlich, und grüne Stengel, dick wie ein menschlicher Arm und schwach pulsierend, waren untrennbar miteinander verwachsen. Sie sah bläuliche Blätter und violette Blüten, dazwischen erhoben sich an vielen Stellen kleine Dornen, deren scharfe Spitzen gefährlich nach oben ragten. Gut, dass sie sich nicht gestochen hatte. 68
Das Pflanzenungetüm bedeckte mehrere Quadratmeter. Trishia ging vorsichtig um es herum. Sie fand keine Spur von Faust. Wo die Pflanze endete, begann der nackte Fels. Falls Faust weitergegangen sein sollte, hatte er nicht den geringsten Hinweis darauf hinterlassen. Eine Bewegung ließ sie herumfahren. Sie traute ihren Augen nicht. Faust trat aus dem so undurchdringlich wirkenden Gewirr heraus, das ihm einen Durchgang zu schaffen schien. Er wirkte benommen, schien aber unverletzt. »Sie leben«, sagte Trishia atemlos. Er lachte bitter, schüttelte dann den Kopf. »Nein«, sagte er. »Ich bin schon lange tot.« »Aber Faust, Sie ...« Er deutete auf die Pflanze, das wuchernde Ungetüm, das ihn eben wieder frei gegeben hatte. »Ich starb. Vor Jahren schon. Tramak gab mir das Leben zurück. Eine andere Art von Leben, ganz gewiss. Und doch erscheint es mir besser, als für immer tot zu sein.« »Der Bergsteiger«, sagte sie. Es war nur halb eine Frage, zur anderen Hälfte eine Feststellung. Sie war nahe daran zu begreifen, was hier vor sich ging. Faust nickte. »Es gibt nur noch wenige von ihnen. Sie leben isoliert, denn sie verhalten sich völlig anders als alle, denen Tramak das Leben bereits wieder geschenkt hat. Nun gehört er auch zu uns.« Ihr schauderte. Ein Gefühl der Unwirklichkeit ließ sie zittern. Dennoch bemühte Trishia sich, seine Worte als Wahrheit hinzunehmen. Selbst wenn es nur eine Wahrheit sein sollte, die er sich selbst geschaffen hatte. »Was ist geschehen?« Faust wand sich, sein Gesicht war unnatürlich bleich. »Der Schmerz ... ich kann nicht ...« 69
»Sprechen Sie jetzt. Ich muss es wissen«, beharrte sie barsch. »Die Erde muss es wissen«, ergänzte sie. »Sie hätten nicht hierher kommen sollen«, sagte er. Trishia meinte, in seiner Stimme Trauer zu hören. »Hören Sie ...«, begann sie ärgerlich. Die überraschende, fließende Bewegung, mit der Faust an seinen Gürtel griff, etwas hervorzog, den Arm anhob, seine Muskeln spannte, ausholte und das Ding nach ihr warf, ließ sie verstummen. Dann schnürte ihr der plötzliche Schmerz die Kehle zu. Sie blickte an sich herab. Der winzige Pfeil steckte in ihrem Oberschenkel, war dort mühelos durch den widerstandsfähigen Stoff der Hose gedrungen. Ein harmloser Einstich. Doch woher kamen die Schmerzen, die jetzt in ihrem Körper tobten? Ein Gift? Trishia fand keine Gelegenheit, sich darüber lange den Kopf zu zerbrechen. Sie verlor das Bewusstsein und kippte um. »Es tut mir Leid«, sagte Faust. Er sprach zu sich selbst. »Niemand darf davon erfahren. Sonst stirbt diese Welt.« Trishia hörte wieder einmal die Farben. Sie lauschte fasziniert, die Augen weit aufgerissen. Faust stand auf der Bühne, tief in sich versunken und spielte auf dem Instrument. Langsam glitten seine Finger über die Saiten und entlockten ihnen Töne, die Trishia tief im Innersten berührten. Gluthell baute sich eine Sonne vor Trishia auf, wärmte sie, zog sie wie magisch an, um dann heißer und heißer zu werden. Sie wich zurück, sah das kühle Blau und ließ sich von diesem umschlingen. Eine Wohltat nach der Hitze, die eben noch jede Faser ihres Körpers hatte aufglühen lassen. Trishia gab sich ganz der erfrischenden Kühle hin, bis Faust das Instrument verstummen ließ. 70
Er kam zu ihr, ließ sich einschenken und trank einen kleinen Schluck von der bernsteinfarbenen Flüssigkeit. Er sagte: »Haben Sie die Farben gehört?« Trishia nahm ebenfalls langsam einen Schluck Ferm. Sie nickte schweigend.
Neu im Oktober 2005 Armin Rößler [Hg.]
Golem & Goethe 21 Erzählungen Sf-Band 4 Taschenbuch ISBN 3-938065-11-7 ca. 200 Seiten 9,95 Euro
Die Autoren: Stefan Wogawa, Frank W. Haubold, Uwe Hermann, Alex Wichert, Birgit Erwin, Petra Vennekohl, Edgar Güttge, Bernhard Schneider, Marlies Eifert, Alexander Kaiser, Armin Möhle, Axel Bicker, Christian Savoy, Olaf Trint, Thomas Kohlschmidt, Nina Horvath, Melanie Metzenthin, J. Th. Thanner, Arnold H. Bucher, Heidrun Jänchen und Armin Rößler. 71