SCIENCE FICTION Herausgegeben von Wolfgang Jeschke
SIMON HAWKE
DER ZAUBERER AUS
DER 4TH STREET
Aus dem Amerikanisch...
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SCIENCE FICTION Herausgegeben von Wolfgang Jeschke
SIMON HAWKE
DER ZAUBERER AUS
DER 4TH STREET
Aus dem Amerikanischen übersetzt von
PETER PAPE
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 0.605.332 Titel der amerikanischen Originalausgabe THE WIZARD OF 4™ STREET Deutsche Übersetzung von Peter Pape Das Umschlagbild malte Karel Thole Redaktion: Wolfgang Jeschke Copyright © 1987 by Simon Hawke Erstausgabe by Warner Books, Inc. New York Mit freundlicher Genehmigung des Autors und Thomas Schluck, Literarische Agentur, Garbsen (# T 20.741) Copyright© 1995 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 1995 Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Technische Betreuung: Manfred Spinola Satz: Schaber, Satz- und Datentechnik, Wels Druck und Bindung: Presse-Druck, Augsburg ISBN 3-453-08.579-5
Für meinen hochgeschätzten Gastgeber John ›Bud‹ Sjoden, Leadvil le, Colorado, in Erinnerung an die stillen Nächte, in denen er uns mit gut gekühltem Bier und noch besserer Konversation versorgte, in denen die Glimmstengel nicht ausgingen und wir die alten ’78er Schellack-Platten hörten; in Erinnerung an die erholsamen friedli chen Tage an den Flußufern, auf den Pfaden und Minenzufahrten hoch oben in den Colorado Rockies; und nicht zuletzt auch in Erin nerung an die vielen spitzzüngigen Kommentare über meinen Stet son.
KAPITEL
D
EINS
er Taxifahrer war ein Anfänger. Wyrdrune fand das immer sehr schnell heraus. Das Foto auf der Fahrlizenz am Armaturenbrett zeig te einen jungen dunkelhaarigen Puertoricaner mit einem ebenmäßi gen weißen Gebiß und pockennarbiger Haut, der einen flammneuen gelben Turban trug und in die Kamera lächelte. Die Lizenz wies den Fahrer als Jesus Dominguez, von der New York City Taxi and Li mousine Commission geprüfter ortskundiger Fahrer der Klasse Vier für Öffentliche Verkehrsmittel aus. Die anfangs ohnehin spärliche Unterhaltung war inzwischen ganz versiegt. Wyrdrune hob den Blick zum Gesicht des Fahrers im Rückspiegel. Deutlich sichtbar beweg ten sich seine Lippen und sagten fortwährend die einfachen Impuls formeln vor sich hin. Ein älterer Cabdriver hätte ohne Mühe den verhältnismäßig einfachen Schwebezustand und die Impulsformeln beibehalten und dabei doch eine intensive Unterhaltung führen kön nen, aber die Neulinge, die gerade das Adepten-Examen der Ersten Ebene abgelegt hatten, waren anfangs immer etwas nervös. Wyrdru ne schloß die Augen und dachte: Bitte, bau jetzt keinen Unfall, okay? Nicht heute. Bring uns nur rechtzeitig und unversehrt in einem Stück ans Ziel. Es hängt zuviel davon ab. Er schaute aus dem Fenster, während das leicht schildkrötenför
mige Taxi lautlos etwa zwei Fuß über der Oberfläche der zerfallenen Straße dahinschwebte. Auf der Fifth Avenue herrschte in der Zeit zwischen der morgendlichen Rushhour und der Mittagspause, in der sich die Straßen füllten und Scharen von Fußgängern die Gehsteige bevölkerten, nur schwacher Verkehr. Später wäre es nahezu unmög lich gewesen, in der Stadt voranzukommen… Das Cab schwebte an teuren Boutiquen und Buchläden vorbei. Sie passierten Fiorello, den modischen und überteuerten Alchemi sten, der den Chic-Set mit Kräutern und thaumaturgischen Utensilien belieferte, Blooms Department Store, in dessen Schaufenstern Man nequins die neueste Mode vorführten – kurzgeschnittene Mäntel in vielerlei Pastelltönen, weite Hosen, deren Säume sich über kurzen Stiefeln wölbten, eingefaßte Tuniken mit paillettenbesetzten Ärmeln. Sie überholten einen elefantenähnlich geformten Bus, an dessen Breitseite ein großes Plakat für ›Chorus Line – die am längsten lau fende Show am Broadway!‹ warb. Es war das jüngste einer ganzen Reihe von Revivals aus der Zeit vor dem Zusammenbruch – der sogenannten pre-Collapse-Ära – und ein ausgesprochener Renner. Wyrdrune konnte diese pre-Collapse-Nostalgiewelle einfach nicht verstehen. Während der Vorbereitungen zu einer Dissertation hatte er sich einmal mehrere Wochen im Broadcasting Museum alte preCollapse-Bänder angeschaut. Im Gegensatz zu anderen Leuten, die Unterhaltungsprogramme vorzogen, hatte er sich auf Nachrichten sendungen und Dokumentationen beschränkt und dabei wirklich nicht herausfinden können, was denn an der ›guten alten Zeit‹ so gut gewesen sein sollte. Es überstieg seine Vorstellung, wie die Men schen damals hatten leben können – als die Luft, die sie einatmeten, ihre Lungen schwarz verfärbte und der Lärm ringsum ihre Ohren taub werden ließ. Es war eine vergiftete Welt gewesen damals, befal len vom Krebsgeschwür der Technik. Der Zusammenbruch hatte dem ein für allemal ein Ende gesetzt. Der große Kollaps ereignete sich gegen Ende des 22. Jahrhun derts, einer dunklen Epoche, gezeichnet durch viele internationale Konflikte und ständigen Mißbrauch des Ökosystems. Solarenergie, Kernspaltung und andere alternative Energieprogramme konnten das Schwinden der natürlichen Ressourcen nicht annähernd kompensie ren, zumal fortwährend politische und ökonomische Zwistigkeiten eine vollständige Entwicklung dieser Alternativen verhinderten. Die pre-Collapse-Generation hatte sich aus purem Profitstreben selbst vergiftet, und ihr war die Zeit davongelaufen. Städte brannten, und
die Welt schlitterte in eine totale Anarchie. Die Menschen brachten sich für eine Mahlzeit um, aßen sogar Ratten und froren sich zu Tode. Damals war der Himmel über Manhattan von einem schmutzi gen Bräunlichgrau gewesen, das sich nachts in ein helles Purpur verwandelte. Das Wasser im Hudson River war so verdreckt, daß man fast darüber hinweggehen konnte, und die New Yorker Hafen becken waren die reinsten Schlammpfühle. Die Straßen trugen mil limeterdicke Ölschichten, die Gehwege waren aufgebrochen und von Schlaglöchern zerfressen. Jetzt, ein Jahrhundert später, hatte eine blühende Grasdecke sie überzogen, und überall waren kleine Gärten angelegt worden, deren Pflanzen in der sauberen Luft gedeihen konnten. Zwar waren überall in der Stadt die Spuren ihres Alters unverkennbar, aber neben dem Verfall mehrten sich die Anzeichen einer Wiedergeburt. Der Regen, nicht mehr sauer von all den Abga sen, wusch allmählich die alten Häuser sauber, und obwohl die Stadt immer noch schmutzig und überbevölkert war, ließ sich ihr Ausse hen doch nicht mehr mit dem Zustand jener Tage vergleichen, als die Thaumaturgie noch nicht als Energiestandard zählte. Ohnehin mochte sich niemand mehr daran erinnern. Stattdessen betrachtete man die Vergangenheit durch die romantische Brille, verkaufte gar ›neues mittelalterliches Spielzeug‹ für die Kinder – kleine Autos zum Aufziehen mit Gummirädern, die im Kreis auf dem Boden herumfuhren, Motorengeräusche von sich gaben und dunklen ›authentischen‹ Kohlenwasserstoff-Rauch ausstießen. Krankhaft! Es war zwar eine Sache, den grazilen Schnitt der Kleider aus dem 12. Jahrhundert mit der Mode des 20. Jahrhunderts zu ver mengen und das ganze dann als ›den neuen Stil des Mittelalters oder der Renaissance‹ zu verkaufen, aber was, zum Teufel, war schon mittelalterlich an einem Auto? Sie alle streckten ihren Arsch in Richtung Vergangenheit. Das Cab schleuderte plötzlich, und der Fahrer schickte dem ande ren Taxi, das sie geschnitten hatte, mit erhobener Faust einen spani schen Fluch hinterher. »’tschuldigen Sie«, sagte er nach hinten und warf dabei einen ner vösen Blick in den Rückspiegel. »Keine Ursache«, meinte Wyrdrune. »Ist mein erster Tag«, brummte der Fahrer, als wolle er sich für seine Unerfahrenheit entschuldigen. »Mein erster Tag in dem Job hier, und gleich bekomme ich einen Zauberer als Fahrgast.« Er schüttelte den Kopf. »Mann, und Sie sagen, Sie stünden unter
Druck!« Der Wagen schleuderte erneut, und der Fahrer konzentrierte sich fluchend auf seine Fahrformel. »Schon gut. Nehmen Sie’s leicht, dann ist alles in Ordnung«, sag te Wyrdrune. Aufgrund der langen weißen Haare, des bis zum Boden reichen den Gewandes und dem Zielort der Fahrt hielt der Taxifahrer seinen Fahrgast für einen Zauberer – eine völlig logische Vermutung. Viele Adepten trugen ihre Haare lang, bei den Zauberern dagegen reichten sie bis über die Schultern hinab. Zauberkünstler trugen mönchsähnli che Kutten, Hexenmeister dreiviertellange Capes. Zauberer dagegen trugen Roben. Dies war jedoch keine Vorschrift oder Regel, nur eine allgemein respektierte Tradition. Obwohl lange Haare und Roben schon seit Jahren aus der Mode waren, bot dieser Aufzug den mei sten Leuten die Möglichkeit, Zauberer und Hexenmeister auf den ersten Blick zu erkennen, und es war keineswegs ratsam, sich das Aussehen eines Hexenmeisters zuzulegen, wenn man nicht minde stens ein Adept von niederem Grad war. Man könnte ja einem wirk lichen Zauberer begegnen, und der wäre dann bestimmt nicht sonder lich erfreut über diese Anmaßung. Was die Magier betraf, trugen sie in der Regel Roben, die die Funktion ihres Genres andeuteten, doch ansonsten kleideten sie sich ganz nach eigenem Gutdünken. Es gab nur fünf auf der ganzen Welt, und sie kannten sich gegenseitig. Auch daher war es logisch, daß der Cabbie in Wyrdrune einen Zauberer vermutete, zumal er auf dem Weg zu Christie’s war, wo die überall angekündigte Versteigerung der Euphrat-Artefakte stattfinden sollte. Aber seine Vermutung war falsch. Wyrdrune war kein Zauberer, nicht einmal ein Hexenmeister. Er war bestenfalls ein Zauberkünstler von niederem Grad, und zudem noch einer, der von der Schule ge flogen war – ein Zustand, der, wie er hoffte, nur von kurzer Dauer sein würde. Denn genau in diesem Moment war er dabei, etwas da gegen zu unternehmen. Er vermutete, daß die Polizei den Taxifahrer später verhören wür de, wie sie es üblicherweise tat. Der Cabbie würde den Schnüfflern berichten, daß sein Fahrgast ein Zauberer gewesen sei. Etwa sechzig oder siebzig Jahre alt, würde er sagen – vielleicht auch älter, jeden falls schwer zu schätzen. Langes weißes Haar und weißer Bart, grüne Robe, Schlapphut, etwa fünf bis sechs Fuß groß, leicht gekrümmte Haltung beim Gehen. Er würde ihnen berichten, daß er ihn beim Plaza Hotel aufge nommen und zur Versteigerung bei Christie’s gefahren hatte. Sie
hätten kaum ein paar Worte miteinander gewechselt. Der Zauberer habe ihm ein gutes Trinkgeld gegeben. Bei diesem Gedanken runzel te Wyrdrune die Stirn. Er konnte sich kaum die Taxifahrt leisten, viel weniger ein ansehnliches Trinkgeld, aber er würde wohl nicht daran vorbeikommen – ebensowenig wie an dem Trinkgeld, das er dem Portier des Plaza geben mußte, als dieser ihm das Taxi herbeige winkt hatte. Am Tag zuvor hatte er mehrmals das Gebäude betreten und wieder verlassen. Der Portier sollte ihn sehen und annehmen, daß er im Hotel wohnte. Nach Wyrdrunes Plan sollte es so aussehen, als habe ein Zauberer von außerhalb der Stadt die Tat begangen, ein Mann mit Geld, hinter dem möglicherweise sogar eine Organisation stand. War der Job erst mal erledigt, würde Geld tatsächlich nicht mehr das Problem sein. Wyrdrune haßte das, was er vorhatte, aber er mußte es tun, weil er keinen anderen Weg sah. Das Taxi stoppte hinter einer langen schwarzen Limousine, die vor dem Eingang von Christie’s gehalten hatte. Sicher irgendein Konzern-Zauberer, der im Wagen seines Unternehmens vorgefahren war. Der Bursche stieg aus und glättete seine glänzende nachtblaue Robe. Sehr hübsch. Im nächsten Augenblick öffnete der Türsteher den hinteren Schlag des Taxis und trat beiseite, um Wyrdrune aus steigen zu lassen. »Guten Morgen, Sir«, murmelte er. Wyrdrune ignorierte ihn und schritt, gestützt auf seinen Rohr stock, leicht vorgebeugt auf den überdachten Eingang zu. Ein Schild an der Tür verkündete: PRIVAT-AUKTION DER EUPHRAT-ARTEFAKTE.
BEGINN 11 UHR.
DAS BIETEN IST NUR LIZENSIERTEN MAGIERN, ZAUBE
RERN UND HEXENMEISTERN ODER IHREN BEVOLL
MÄCHTIGTEN VERTRETERN GESTATTET.
KAMERAS SIND NICHT ZUGELASSEN.
Die Kameras, im Innern der Galerie nicht erlaubt, waren draußen auf dem Gehsteig neben dem Eingang aufgebaut worden. Die Presseleu te blieben diskret auf Distanz, während sie die eintreffenden Teil nehmer an der Auktion filmten. Politiker und Berühmtheiten mußten damit leben, daß man ihnen Mikrofone vor die Nase hielt und sie mit
einer Unzahl von Fragen bestürmte. Doch seitdem ein erzürnter und irritierter Zauberer dafür gesorgt hatte, daß einer Reporterin binnen Minuten die Haare ausfielen, war die Presse im Umgang mit den Anwendern von magischen Künsten vorsichtig geworden. Und dann war Wyrdrune drinnen. Hineinzukommen war also kein Problem. Aber es würde ungleich schwieriger werden, wieder hin auszugelangen, besonders dann, wenn etwas schiefging. Im Raum verteilt standen einige Polizisten, doch sonst waren die Sicherheits vorkehrungen eher lasch. Wer würde es schon wagen, in Anwesen heit so vieler Zauberer ein Ding zu drehen? Wohl niemand, der sei nen Verstand noch beisammen hatte! Und genau darauf baute Wyr drune. Ein gelangweilt dreinschauender Ober näherte sich ihm mit einem Tablett voller gefüllter Champagnergläser, aber Wyrdrune winkte ab. Er würde einen klaren Verstand brauchen – und freie Hände dazu. Er durchschnitt den Raum und vermied, um nicht in eine Unterhaltung verwickelt zu werden, jeglichen Blickkontakt. Es war wie bei einem Kongress von Magiern. Die Luft war erfüllt vom leisen Gemurmel der Unterhaltungen und dem Rascheln der Capes und Roben. Wyr drune schlenderte zur Ostseite des Saales und stellte sich dicht vor den schweren Vorhängen hinter eine Marmorsäule. Der Auktionator, ein großer, konservativ wirkender Mann mit einem dünnen Oberlip penbart und kunstvoll geometrisch gestutztem Haar nahm seinen Platz hinter dem Pult ein und schlug mit seinem Holzhammer drei mal hart auf einen Mahagoni-Block. »Ladies und Gentlemen! Darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bit ten? Wir werden gleich mit der Versteigerung beginnen.« Er wartete, bis es still wurde. »Vielen Dank. Und einen schönen guten Morgen. Ich möchte Sie alle zu der gemeinschaftlichen Versteigerung der Euphrat-Artefakte willkommen heißen, die Christie’s Associates im Auftrag der Annendale Corporation und dem Ministerium für Anti quitäten der Vereinigten Semitischen Republiken im weiteren mit VSR abgekürzt, durchführen wird. Aber ehe wir beginnen, darf ich Sie daran erinnern, daß Gebote nur von lizensierten Magiern, Zaube rern und Hexenmeistern oder deren autorisierten Vertretern abgege ben werden können. Um Unannehmlichkeiten und Mißverständnisse zu vermeiden, hat man mich gebeten, Sie darüber zu informieren, daß Sie beim Kauf unaufgefordert Ihre Referenzen und Ausweispa piere vorlegen. Alle zur Versteigerung kommenden Gegenstände sind per Zertifikat der Archäologischen Fakultät der Universität von
Bagdad als prähistorische mesopotamische Antiquitäten bestätigt. Ebenso wurden diese Artefakte von dem Untersuchungsausschuß der Internationalen Thaumaturgischen Kommission, kurz ITK genannt, unter Vorsitz Seiner Hoheit des Scheichs Rashid Ilderim Al’Hassan, Ehrendekan der Thaumaturgischen Fakultät an der Universität von Kairo, als thaumaturgisches und somit wundertätiges Potential ein gestuft. Wir beginnen mit der Katalognummer 43, einem zusammen gehörenden Paar heidnischer Statuetten aus Obsidian, möglicherwei se babylonischen Ursprungs, die vermutlich prähistorische Gotthei ten darstellen. Das Mindestgebot liegt bei 25.000 Dollar.« Interessant, dachte Wydrune. Fünfundzwanzig Riesen für ein Paar drei Fuß großer Figuren aus schwarzem Felsgestein. Klar, ein Unter suchungsausschuß von Zauberern hatte sich darauf geeinigt, daß den Figuren wundertätige Kräfte innewohnten, was soviel hieß, daß man Spuren einer sehr alten Strahlung bei ihnen gemessen hatte, die eventuell für bestimmte Zauberaktionen verwendbar war – wenn man diese speziellen Zauberformeln herausfand. Aber das war ziem lich einfach. Man mußte nur ein Suchprogramm in dem gemeinsa men Firmendatenspeichern aufrufen, das dann die gesammelten thaumaturgischen Daten aus Tausenden von altertümlichen Quellen und archäologischen Berichten durchforstete. Wenn es in den Spei chern eine dementsprechende Information gab, bekam man vielleicht einen Hinweis, der einen dann auf die richtige Spur setzte. Es war jedoch immer eine riskante Sache. Man gab sein Geld und versuchte sein Glück. Es mußte schön sein, viel Geld zu haben, dachte Wyrdrune. Oder einen Firmensponsor im Hintergrund zu haben! Er nannte nicht mal 25 Dollar sein eigen, viel weniger 25.000. Aber schließlich hatte er ja auch nicht vor, etwas zu ersteigern. Aus seiner Ecke verfolgte er den Fortgang der Auktion. Der Auk tionator stand hinter einem kunstvoll geschnitzten Pult auf einem Podium. Die Versteigerungsobjekte waren mit Nummern katalogi siert und wurden, wie er feststellen konnte, nicht in einer bestimmten Reihenfolge aufgerufen. Nach der Vorstellung vor dem Podium stellte man sie für jeden sichtbar auf das Pult, bis das höchste Gebot abgegeben worden war. Das alles lief in einem sehr wohlgeordneten, klassischen Stil ab. Leise Gebote, kein lautes Rufen von Zahlen. Köpfe neigten sich zustimmend, diskret wurden Finger gehoben, um ein Angebot anzuzeigen – alles sehr vornehm und stilvoll. Ausge zeichnet, dachte Wyrdrune. Um so mehr würde seine Aktion wie
eine Bombe einschlagen. Jedenfalls hoffte er das. Und genau die gleichen Gedanken hatte in diesem Moment eine andere Person in der entgegengesetzten Ecke des Saales. Eine Gestalt in einer langen dunklen Robe bewegte sich langsam nach vorn. Das Gesicht war unter einer tiefen Kapuze verborgen. Die Person blieb dicht bei der Marmorsäule im vorderen Teil des Saales stehen, genau gegenüber der Säule, hinter der Wyrdrune sich verbarg. Die Arme hatte sie vor der Brust verschränkt, die Hände in die Ärmel geschoben. Langsam kam nun die rechte Hand zum Vor schein, und das vermummte Gesicht schaute auf einen kleinen schwarzen Zylinder hinab. »75.000 sind geboten. Höre ich 80.000? 75.000 zum ersten… 75.000 zum zweiten… und zum dritten. Zuschlag an den Gentleman in der dritten Reihe. Herzlichen Dank, Sir. Dürfte ich nun bitte das nächste Versteigerungsobjekt haben?« Wyrdrune entfaltete den ausgeschnittenen Zeitungsartikel aus der Times von letzter Woche, in dem die Auktion angekündigt wurde und einige der Versteigerungsobjekte beschrieben worden waren, und überflog ihn noch einmal. Dabei fragte er sich, welche Objekte das VSR-Ministerium für Archäologie wohl behalten haben mochte. Darüber hatte natürlich nichts in der Zeitung gestanden. Möglich, daß nach einiger Zeit infolge industrieller Spionage oder Transaktio nen auf dem Aktienmarkt etwas darüber durchsickern würde, doch über die wertvollsten thaumaturgischen Besitztümer wurde immer strengstes Stillschweigen bewahrt, besonders in den Vereinigten Semitischen Republiken. Der Sonderbeitrag über die jüngsten Funde im Euphrat-Tal hatte auch ein Porträt von Scheich Al’Hassan gebracht, Sproß einer der ältesten Herrscherfamilien und einer der mächtigsten Adepten auf der Welt. Seitdem sein Land seinen Ölreichtum beim Collapse ein büßte, hatte es Jahre gebraucht, um sich von den Auswirkungen mehrerer mörderischer Bürgerkriege zu erholen. Zwar war seine Nation immer noch sehr arm, doch hatte Scheich Al’Hassan mit grimmiger Entschlossenheit ein beträchtliches privates Vermögen über die Kriegswirren hinüberretten können, welches ihm erlaubte, zur früheren Lebensart der arabischen Königsfamilien zurückzukeh ren. Dieselbe Entschlossenheit trieb ihn dazu, seinen Wissensdurst über die Weisheiten und Kenntnisse seiner Pharaonen-Vorfahren zu stillen. Er nutzte dazu geschickt seine Position in der Regierung der VSR und seinen Sitz im Vorstand der ITK.
Er gehörte zudem zu der Handvoll von Leuten, die den Zugang zu den archäologischen Anlagen und Ausgrabungen in den VSR kon trollierten, und es ging das Gerücht, daß ein großer Teil seines Ver mögens aus veruntreuten Lizenzgebühren für archäothaumaturgische Expeditionen stammte. Der Scheich war eine sehr schillernde Per sönlichkeit, ein Mann, der seinen Reichtum so unverfroren zur Schau stellte, daß sogar der Regierende Rat der VSR nicht länger beiseite schauen konnte. Die Opposition leitete eine Untersuchung gegen ihn ein, was nur einen Teil ihrer Bestrebungen ausmachte, ihn aus sei nem Regierungsamt zu entfernen. Sogar der Vorwurf ›thaumaturgi schen Mißbrauch‹ wurde erhoben – in der Tat beides sehr schwere Beschuldigungen. Dabei zeigte sich aber wieder die politische Dop pelzüngigkeit, denn in Wirklichkeit handelte es sich dabei um den kaum verschleierten Vorwurf der Anwendung von Schwarzer Magie. Diese Auktion, eine Gemeinschaftsaktion des Ministeriums für Antiquitäten der VSR und der Annendale Corporation, dem Sponsor der Euphrat-Expedition, diente dazu, die jämmerliche Finanzsituati on der VSR zu verbessern, und dabei schauten eine Menge Leute Al’Hassan über die Schulter. Trotzdem war es ihm gelungen, die ganze Sache in einen PR-Coup zu verwandeln, indem er mit der Annendale Corporation einen weltweit publizierten Vertrag aushan delte, der dieser Gesellschaft im Gegenzug für ihre Verdienste um die Aufbesserung der VSR-Staatskasse einen hübschen Stapel Staatsobligationen, unbeschränkten Zugriff auf die Archive des VSR-Ministeriums für Archäologie sowie gute Konditionen für spätere Lizenzverträge sicherte. Obwohl dieser ›Überden-Tisch‹ Verkauf wertvoller antiker Stücke hier so vornehm gehandhabt wur de, konnte Wyrdrune sich nicht der Frage erwehren, was wohl hinter den Kulissen, unter dem Tisch, ablaufen mochte. Er wußte, daß auch viele andere Leute sich diese Frage stellten, und das konnte sich zu seinem Vorteil auswirken. »Meine Damen und Herren! Als nächstes folgt die Versteigerung der Katalognummer 25. Dabei handelt es sich um drei Edelsteine, die in einer Höhle auf dem Gelände der Annendale-Euphrat-Grabungen gefunden wurden, Runensteine mit unbekannten Eigenschaften.« Wyrdrunes Körper spannte sich. Das war es. Rasch warf er einen Blick auf den Zeitungsausschnitt in seiner Hand. Er hatte drei Zeilen unterstrichen: die Beschreibung einer kleinen Juwelendose aus Bronze, die drei grobgeschnittene, ungeschliffene Steine enthielt, in die obskure, kaum sichtbare Symbole geritzt waren, die aussahen
wie Keilschrift-Buchstaben. Ein Rubin, ein Smaragd und ein Saphir. Sehr wertvolle Steine. Klein. Leicht zu verstecken und zu transpor tieren. Und noch leichter zu veräußern. Er zerknüllte den Zeitungsausschnitt und ließ ihn zu Boden fallen. »Mir liegt ein Eröffnungsgebot von 100.000 vor. Höre ich ein hundertzehn? Vielen Dank, einhundertzehn sind geboten. Höre ich einhundertzwanzig?« Wyrdrune griff in die Innentasche seiner Robe und zog einen kleinen weichen Lederbeutel hervor. Darin wand sich etwas hin und her. Auf der anderen Seite des Saales sah sich die vermummte Ge stalt verstohlen um und holte vorsichtig den schwarzen Zylinder hervor. Wyrdrune öffnete die Kordel, drehte den Beutel um und schüttelte eine kleine Eidechse auf seine Handfläche. Rasch schloß er die Hand zur Faust und schob den leeren Beutel in seine Tasche zurück. Dann deckte er seine freie Hand über die Faust mit dem Salamander und sprach mit lautlosen Lippenbewegungen eine elementare Feuerzau berformel. Seine Hände begannen sich zu erwärmen. Er öffnete sie vorsichtig und verfolgte, wie der Salamander ein sanftes rotes Glü hen ausstrahlte. Mit einer raschen Bewegung aus dem Handgelenk heraus warf er das Tier in die schweren Vorhänge. Es klammerte sich in den weichen Stoff. Sein Glühen verstärkte sich, und die Vor hänge begannen zu kokeln. Wyrdrune entfernte sich unauffällig von der Säule und begab sich zum anderen Ende des Podiums. Die vermummte Gestalt am anderen Ende des Saales schob sich ebenfalls vorwärts und zog dabei den Sicherungsstift aus dem schwarzen Zylinder. Plötzlich standen die Vorhänge in hellen Flammen. »Feuer!« rief Wyrdrune. »Geht zur Seite!« rief ein Hexenmeister in der Menge und hob seine Arme. »Ich blase es aus.« »Nein, ein Regenzauber muß her!« rief ein anderer. Und ein dritter: »Ich werde es löschen!« »Wartet, schaut hierher!« Als die Flammenzungen in die Höhe leckten, rief eine Reihe von Hexenmeistern gleichzeitig ihre Beschwörungsformeln – mit dem Ergebnis, daß plötzlich eine Sturmbö, begleitet von einem kleinen Gewitter, das wieder jemand anderer heraufbeschworen hatte, durch die Auktionshalle fuhr und rasch an Stärke gewann, als mindestens sechs andere Regenzauber ihre Kräfte freisetzten. Roben wehten im
Wind, Donner grollte, Blitze zuckten, und aus dunklen Wolken, die plötzlich über die Saaldecke trieben, ergoß sich ein Platzregen. Alle Anwesenden schrien laut durcheinander. »Idiot! Ich sagte, ich mache das!« »Ich habe den ersten Zauber gesprochen!« »Will wohl endlich einer den verdammten Regen abstellen?« Wyrdrune schoß auf das Podium zu. Die vermummte Gestalt fluchte, steckte hastig den Sicherungsstift in die Granate zurück, riß sich den schwarzen Umhang vom Leib und ließ ihn zu Boden sinken. Darunter kam eine junge Frau in einer mit Metallnägeln besetzten Lederjacke mit Stehkragen zum Vor schein. Sie trug eine hautenge gelbe Bundhose und schwarze Schaft stiefel. Sie stürmte zum Podium, wobei sie den Auktionator einfach zur Seite stieß, und erreichte es gleichzeitig mit Wyrdrune. Beide griffen sie nach der Dose mit den Steinen, verharrten aber mitten in der Bewegung und sahen sich verblüfft an. »Diebe! Haltet sie!« »Verdammt!« fauchte Wyrdrune und packte ihr Handgelenk. »Was soll…?« »Laß sofort meinen Arm los!« Sie versuchte, sich seinem Griff zu entwinden, aber Wyrdrune hielt ihr Gelenk eisern umklammert. »Keine Zeit…« Er sprach rasch eine Teleportationsformel, und beide verschwan den. Wyrdrune tauchte mit einem leisen Plopp, verursacht durch die Luftverdrängung des rematerialisierenden Körpers, in seinem Apartment in der East 4th Street wieder auf. Er fiel etwa anderthalb Fuß tief und kam unsicher auf dem Boden auf. Er fühlte sich schwindlig. Teleportationszauber gehörten zur fortgeschrittenen Thaumaturgie und forderten fast immer seine ganze Kraft. Noch nie hatte er sie voll meistern können. Er taumelte, als das Schwindelge fühl sich verstärkte und sein Blick sich verwischte. Das Zimmer schien sich um ihn zu drehen. Er seufzte erleichtert, daß er es ge schafft hatte und schloß kurz die Augen, bis der Raum aufhörte sich zu drehen. »Wow! Das war knapp. Alles in Ordnung mit dir?« Keine Antwort. Er öffnete die Augen. Das Mädchen war nirgends zu sehen. »Wo ist sie denn abgeblieben?« fragte Wyrdrune sich selbst. Er fühlte sich immer noch ein wenig desorientiert. »Herrjeh!« Er nagte
an seiner Unterlippe. Er hatte die Formel nur für sich gesprochen, um nach dem geglückten Diebstahl zu entkommen. Was, wenn er sich verschätzt hatte und sie innerhalb der Wand materialisiert war… Ein lautes Klopfen unterbrach seine Gedanken. »Wo bist du?« Das Klopfen wiederholte sich noch zweimal. Der Wandschrank. Wyrdrune ging zum Schrank hinüber, der von der Zimmermitte, wo er selbst rematerialisierte, fünf Fuß entfernt war. Er entriegelte die Tür und öffnete sie. Die Frau stand in dem engen Gelaß und hatte einen Arm gegen die Wand gestützt. Beim Öffnen der Tür hatte Wyrdrune den Atem angehalten. Er leichtert über ihre Anwesenheit stieß er nun hörbar die Luft aus. »Junge, hast du mir einen Schrecken eingejagt.« Er streifte die falsche Nase ab und zog sich die Perücke vom Kopf. Darunter ka men schulterlange blonde Locken zum Vorschein. Wyrdrune schüt telte sie aus, strich sich die Haare aus der Stirn und befreite sein Gesicht von der Latexmasse, die ihm das Aussehen eines alten Man nes verliehen hatte. Von einem Moment zum anderen wurde er fünf zig Jahre jünger. Er öffnete die Robe und zog sie aus. Darunter trug er eine kurze, ockerfarbene Kutte mit Kapuze, die ihm gerade bis an die Knie reichte, eine weite braune Hose mit vielen Taschen und hohe rote Ledersportschuhe mit blauen gezackten Streifen. »Eine Sekunde länger, und sie hätten uns erwischt!« sagte er, während er sich aus seiner Verkleidung schälte. »Ich kann es nicht glauben! Ich kann es einfach nicht glauben! Ich hatte alles so genau geplant. Es konnte nichts schiefgehen, jedenfalls nicht nach mensch lichem Ermessen. Aber…« Ihre rechte Faust traf sein Kinn mit voller Wucht. Er fiel nach hin ten und stürzte hart zu Boden. Einen Augenblick lang blieb er benommen liegen, ehe er sich mühsam aufsetzte. Sie stand über ihm und starrte wütend auf ihn herab. Verblüfft schaute er zu ihr auf und rieb sich dabei das schmerzende Kinn. »Wofür, zum Teufel, sollte das gut sein?« »Zum Beispiel dafür, daß du mich beinahe in die Wand gesteckt hast. Und dafür, daß du mir meinen Job verdorben hast!« »Deinen Job!« fuhr er wütend auf. »Du vereitelst meinen großen Coup. Ich rette deinen Arsch vor dem Gefängnis! Und das ist der Dank dafür?« »Ich hatte die Sache ausbaldowert«, zischte sie erregt. »Ich
brauchte nur die Blackout-Bombe zu zünden, mir die Steine zu schnappen und mich aus dem Staub zu machen. Und ausgerechnet in dem Moment mußtest du auftauchen!« Wyrdrune kam schwankend auf die Beine. Er war immer noch schwindlig von dem Energieverlust, den er beim Teleportieren erlit ten hatte. »Eine Blackout-Bombe? Eine lausige Rauchgranate? Dein großer Coup basierte also auf einem billigen Groschenroman-Zauber – und das in einem Saal voller Hexenmeister? Das ist stark! Du kannst froh sein, daß ich in der Nähe war.« »Wer, zur Hölle, bist du eigentlich?« fragte sie. »Ich heiße Wyrdrune.« »Wyrdrune? Was ist das für ein komischer Name. Niemand heißt Wyrdrune.« »Das ist mein Zaubername, okay? Adepten sollten sich davor hü ten, ihren wahren Namen preiszugeben. Besen!« Sie schaute sich in dem kleinen Apartment um. Es war eine jener Eisenbahn-Wohnungen, in denen sich die Zimmer in gerader Flucht aneinanderreihten. Die Wohnungstür öffnete sich in die Küche, von der wiederum ein schmaler Alkoven in den Hauptraum des Apart ments führte. Einen Teil dieses Alkovens hatte man zu einem winzi gen Bade umfunktioniert. Hinter dem Wohnzimmer lag das Schlaf zimmer, ein kleiner Raum, kaum größer als der Wandschrank, mit einem hölzernen Hochbett darin, unter dem sich ein improvisiertes kleines Studio mit einem winzigen Schreibtisch befand. Und überall vollgestopfte Bücherregale, wohin man auch sah. Jedes freie Fleck chen war belegt, die Bücher, die nicht mehr in die Regale paßten, türmten sich hüfthoch auf dem Boden, auf abgewetzten Läufern und Holzkisten. Verschiedene Skulpturen, schlechte Kopien, thronten auf hölzernen Kabeltrommeln, die als Kaffee und Eßtische dienten. Die Wände zierten ein paar Phantasie-Kunstdrucke in billigen Rahmen. Die ganze Wohnung wirkte so, als sei in einem Bücherladen eine Bombe hochgegangen. »Besen!« rief Wyrdrune erneut. »Wo, zum Teufel, steckst du? Mach uns einen Tee!« Die Frau trat an eines der Regale und zog einen dicken, in imitier tes Leder gebundenen Wälzer heraus. Es war eine elementare thau maturgische Abhandlung. Sie öffnete das Buch und betrachtete das in kitschigen Lettern gedruckte Exlibris, das auf das Deckblatt ge klebt war: ›EX LIBRIS – Melvin Karpinsky.‹ »Melvin?« sagte sie.
»Stell das sofort zurück«, rief Wyrdrune irritiert. »Ich wäre dir dankbar, wenn du meine Sachen nicht anrühren würdest – wer im mer du sein magst!« »Ich heiße Kira.« »Kira was?« »Nur Kira.« Ihre Augen wurden groß, als sie einen spindeldürren Strohbesen aus der Küche hereinkommen sah. Er hatte spinnenartige Gummiar me mit vier Fingern an jeder Hand und trug ein kleines Metalltablett mit Teekanne, Zuckerdose und einer Tasse mit Untertasse herein. »Zwei Tassen, du Dummkopf«, brummte Wyrdrune. »Ich habe einen Gast.« »Tatsächlich?« fragte der Besen. Kira hatte keine Ahnung, woher die Stimme kam. Der Besen hatte kein Gesicht, viel weniger einen Mund. »Ist es noch nicht genug, daß ich alles zubereite und herbei schleppe? Muß ich jetzt auch noch Hellseher sein? Was weiß denn ich schon über Gäste? Ich bin nur ein Besen. Es ist doch nicht meine Schuld, daß du mir nichts von zwei Tassen gesagt hast…« Kira sah staunend zu, wie der Besen das Tablett auf einer Spule, die als Kaffeetisch diente, absetzte. Wyrdrune schloß in gespielter Verzweiflung die Augen. »Warum fällt mir bloß die Zauberformel nicht mehr ein, die dem Ding den Mund verschließt?« murmelte er. »Zwei Tassen will er«, sagte der Besen und verschwand, ge räuschvoll die Atemluft ausstoßend, in der Küche. Vorausgesetzt natürlich, daß er überhaupt atmen konnte. Aber wie sollte er? »Zwei also«, hörte Kira ihn mit sich selbst reden. »Vermutlich will er auch zwei Untertassen, nicht wahr? Und dazu sicher zwei Löffel. Und was kommt als nächstes? Will er dann vielleicht noch ein paar Untersetzer?« Wyrdrune legte die Hand über sein Gesicht. »Du bist nicht sehr gut in diesen Dingen, oder?« bemerkte Kira trocken und traf damit genau seinen wunden Punkt. »Dazu kann ich dir nur sagen, daß ich bei Professor Ambrosius persönlich studiert habe«, gab er gereizt zurück. »Bei wem?« Er starrte sie ungläubig an. »Machst du Witze? Bei Merlin Am brosius. Dem legendären Hexenmeister von König Arthur, Held zahlloser Bücher und TV-Miniserien.« »Noch nie von ihm gehört. Ich mache mir nichts aus Fernsehen.«
Der Besen kam mit einer zweiten Tasse und Untertasse zurück. »Jetzt soll ich euch wohl noch weiter bemuttern, wie?« brummte er. »Ein Stück Zucker oder zwei?« »Du hast nie von ihm gehört?« Wyrdrune war geschockt. »Was ist?« fuhr der Besen dazwischen. »Heilige Zaubererde, jetzt rede ich…« »Eins«, sagte Kira. »Vielen Dank. Ihr seid eine gute Person.« Der Besen goß Tee ein und reichte ihr die Tasse. »Er ist der Mann, der uns aus den Wirren des Collapse herausge führt hat!« behauptete Wyrdrune. Sie zuckte die Achseln. »Ich fasse es nicht«, meinte er. »Wo bist du zur Schule gegangen? Merlin Ambrosius ist ja auch nur der größte Altertumsmagier, der je gelebt hat. Ehe er kam, gab es nichts außer Dunkelheit und Ver zweiflung.« »Dunkelheit und Verzweiflung?« Sie zog die Augenbrauen hoch. »Hast du dich denn nicht über den Collapse informiert? Es war, als wiederholten sich die Dunklen Jahrhunderte – mit Auswirkungen ähnlich den Nachwehen eines nuklearen Holocaust. Und dann kam Merlin zurück.« »Er kam zurück – von woher?« »Aus seinem Grab, in das ihn Morgan LeFay eingesperrt hatte.« »Wer ist der nun wieder?« »Sie – nicht er. Sie war eine Zauberin, die Halbschwester von König Arthur Pendragon.« Sie schaute ihn verständnislos an. »Du machst mich fertig!« rief er. »Weißt du wirklich nichts von alldem?« »Du willst mir also allen Ernstes erzählen, daß sie den Burschen umbrachte und er trotzdem wieder von den Toten auferstand, um dich mit ein paar Hausaufgaben zu beschäftigen?« »Er war doch nicht tot, er… ach was, zum Teufel damit!« »Nein, rede nur weiter, ich möchte das wissen.« »Und was soll das für einen Sinn haben?« »Hast du was Wichtigeres vor? Nun mach schon! Erzähl die Ge schichte zu Ende.« Seufzend gab er nach. »Merlin Ambrosius diente als Magier am Hofe des König Arthur Pendragon von Großbritannien. Habt Ihr je etwas von Camelot gehört? Oder die Ritter der Artusrunde?«
»Ich dachte, wir wären übereingekommen, daß meine Erziehung sehr vernachlässigt wurde, okay? Ich hab’s nicht mal bis zur Ober schule geschafft.« »Oh, das tut mir leid. Ich meine, ich wollte dich nicht…« »Nun erzähl schon weiter.« Sie legte die in Stiefeln steckenden Füße auf den Kabeltrommel-Tisch und lehnte sich in die Polster der durchgesessenen Couch zurück. »Es ist eine lange Geschichte. Aber ich werde versuchen, sie kurz zu fassen. Das alles geschah vor mehr als tausend Jahren. Arthur war der König und Kriegsherr, der Britannien unter seiner Herrschaft vereinte, und sein Magier Merlin half ihm dabei. Er holte die besten Soldaten jener Zeit in sein Schloß Camelot und bildete die Runde der Ritter, die sogenannte Artusrunde. Doch sein Reich zerbrach, als seine Königin Guenievre und sein bester Freund, ein Ritter mit dem Namen Lancelot du Lac, sich ineinander verliebten und eine Affäre begannen. Arthur hatte mit seiner Halbschwester Morgan LeFay einen Sohn namens Modred…« »Ziemlich heiße Kiste, was?« »Willst du sie nun hören oder nicht?« »Sicher, denn jetzt wird sie allmählich interessant.« »Modred erfuhr von dem Verhältnis und benutzte sein Wissen, um seines Vaters Sturz einzuleiten. Es kam zum Krieg. Er bedeutete das Ende des ersten thaumaturgischen Zeitalters. Morgan LeFay war klar, daß Merlin den Plan vereitelt hätte. Aber sie wollte, daß ihr Sohn Modred den Thron bestieg. Während sie ihn also dazu trieb, Arthur zu stürzen, ließ sie Merlin von einer ihrer Schülerinnen, ei nem Mädchen namens Nimue, verführen und ihn mit einem Bann spruch belegen. Dann ließ sie seinen Körper in einen großen Spalt im Stamm einer uralten Eiche schaffen und die Öffnung versiegeln.« »Warum hat sie ihn nicht einfach getötet?« »Meiner Meinung nach wollte sie, daß er langsam starb. Nur, daß er nicht starb. Er lag im Koma, in einer Art Scheintod…« »Einer Art was?« »Ein Zustand ähnlich dem Schlaf, wobei alle Körperfunktionen drastisch verlangsamt werden. Als sei man in Trance. Merlin konnte den Zauber nicht brechen, der ihn gefangenhielt, aber er nutzte seine magischen Kräfte, um sich am Leben zu erhalten. Auch den Baum hielten sie die ganzen Jahre über lebendig. Die Zeit verstrich. Die alten Sitten und Weisheiten gerieten in Vergessenheit. Die Welt veränderte sich. Die Technik wurde entdeckt und entwickelte sich
rasant. Niemand glaubte mehr an die Magie. In dem Maß, wie der technische Fortschritt sich entwickelte, starb die Welt. Die Städte wurden immer größer, und die Menschen begannen in ihrem eigenen Unrat zu ersticken. Sie verschmutzten die Ozeane, sie verpesteten die Luft, sie stapelten ihren Abfall auf Müllkippen und kontaminier ten die Wasserläufe, vergifteten ihre eigenen Wasservorräte…« »Schön, diesen Teil habe ich jetzt kapiert«, unterbrach sie ihn. »Dunkelheit und Verzweiflung. Erzähl weiter von dem Burschen im Baum.« »In Ordnung. Es war im zehnten Jahr des Collapse. Ein pensio nierter britischer Sergeant-Major namens Tom Malory suchte Holz. Es war Winter, und seine Kinder froren. Unerlaubtes Holzschlagen war ein Verbrechen. Er wußte zwar, wo er Holz finden konnte, aber es handelte sich dabei um ein geschütztes Areal, den verschwinden den Überrest des ehemaligen Sherwood Forest, zu diesem Zeitpunkt nur noch ein kleiner Hain. Der ehemalige Soldat schaffte es, an den Wachposten vorbei über den Schutzzaun zu gelangen. Er wußte nicht, wie es weitergehen würde, hatte keinerlei Vorstellung, wie er das Holz an den Wachen vorbeischmuggeln sollte, aber die Ver zweiflung trieb ihn voran. Später wußte er nicht mehr zu sagen, warum er sich ausgerechnet diesen Baum ausgesucht hatte, eine verwitterte uralte Eiche, die mindestens zehnmal höher war als die übrigen Bäume. Er wußte, daß es verrückt war, allein lediglich mit einer Axt einen solchen Baumriesen fällen zu wollen, aber in dem Augenblick, in dem er den Baum sah, rastete irgend etwas in ihm aus. Hier froren sie sich zu Tode und verbrannten alles, was ihnen in die Finger kam, um sich ein wenig zu wärmen, so daß die gesamte Region schon fast völlig abgeholzt war, und da stand diese uralte Eiche, hoch genug, um Brennholz für Jahre zu liefern – so, als wolle der Baum ihn verhöhnen. Er stürzte zu ihm hin und ließ seine Axt gegen den Stamm krachen… Ein greller Blitz zuckte und spaltete den riesigen Baum in der Mitte. Damit war Merlin befreit – und das Ende des Collapse einge leitet. Das zweite thaumaturgische Zeitalter begann. Merlin erweckte die vergessenen Riten und Disziplinen der Magie wieder zum Leben, gründete Schulen und bescherte der Welt einen thaumaturgischen Energiestandard. Das alles geschah vor fast hundert Jahren. Vor wenigen Jahren zog Merlin sich dann aufs Altenteil zurück. Jetzt ist er emeritierter Dekan des Thaumaturgischen College für Zauberer in Cambridge, Massachusetts, und hält Vorlesungen auf der ganzen
Welt. Und ich war einer seiner Paradeschüler.« »In welchen Fächern auch immer«, brummte sie sarkastisch. Der Besen tippte Wyrdrune auf die Schulter. »Willst du jetzt end lich deinen Tee trinken – oder was?« Wyrdrune hielt die Tasse hoch, damit der Besen einschenken konnte. »Also schön, ich habe den Kurs nicht beenden können. Ich brauchte Geld und fand einen Teilzeitjob bei einer Band. Ich machte für sie die Spezialeffekte. Leider ging einer meiner Feuerzauber ein wenig daneben, und die Konzerthalle brannte nieder. Sie strichen mein Stipendium und wiesen mich von der Schule.« »Meinst du das Feuer beim Nazgul-Konzert? Das bist du gewe sen?« »Es war ein Unfall, okay? Das hätte jedem passieren können. Ich wollte diese Steine klauen, um mit dem Geld dafür die Schule zu beenden. Aber das kann ich ja jetzt vergessen. Vielen Dank also, daß du mir das Ding verpatzt hast.« »Wie kommst du darauf, daß ich es verpatzt hätte?« Sie streckte die Hand vor. Auf der Handfläche glitzerten die drei Steine.
KAPITEL
M
ZWEI
ustafa Sharif kniete auf dem auf Hochglanz polierten schwar zen Marmorboden. Er hatte den Kopf gesenkt, und die weichen Fal ten seines besten weißen kaffiyeh reichten über die Ohren herab und bedeckten seine Wangen. Er hatte sich auf diese Audienz wie auf ein Rendezvous mit einer schönen Frau vorbereitet, trug seinen feinsten maßgeschneiderten Anzug, das teuerste Hemd, die blaue Seidenkra watte und die goldenen, mit Obsidian besetzten Manschettenknöpfe. Seine Schuhe glänzten, die Fingernägel waren frisch manikürt, der Schnauzbart akkurat getrimmt. Nun lag er bebend in dem geräumi gen Ballsaal des Palastes vor seinem Herrn auf den Knien und wagte nicht, den Blick zu ihm zu erheben. »Ich konnte es nicht verhindern, Euer Hoheit«, sagte Mustafa, wobei seine Stimme, obwohl er leise sprach, durch die Akustik des Raumes verstärkt wurde. »Ich war mir sicher, das Höchstgebot ab gegeben zu haben – aber die Steine wurden von einem schlauen Zauberer gestohlen…« »Du hast es zugelassen, daß sie gestohlen wurden?« Die tiefe, volle Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, aber sie hallte in dem mit Mosaiken verzierten hohen Saalgewölbe wider. Sie troff vor Bosheit.
»Ich konnte nichts dagegen unternehmen, Euer Hoheit! Der Raum war voller Zauberer, und alle wurden sie von der dreisten Tat über rascht. Es gibt keine Worte, um meinen tiefen Kummer über diese höchst unglückliche…« »Hör auf zu jammern! Und sieh mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede!« Furchtsam hob Mustafa den Kopf und sah zu Scheich Rashid Il derim Al’Hassan auf. Der Herrscher saß in seinem reich verzierten, mit Juwelen besetzten Thron auf einer Empore und blickte starr auf Mustafa herunter. Auf den ersten Blick wirkte Rashid Al’Hassan wirklich nicht zum Fürchten. Tatsächlich war er ein überraschend gutaussehender Mann, dunkelhaarig, elegant, mit dem feingeschnit tenen Gesicht des Ägypters und einem schwarzen, exakt geschnitte nen, bleistiftdünnen Schnurrbart. Er war 55 Jahre, wirkte aber weit jünger. Er trug einen teuren, konservativen, schwarzen Anzug mit feinen Nadelstreifen, dessen Schnitt auch nicht die geringste Kon zession an die zur Zeit gängige Mode machte. Seine blaue Seiden krawatte war tadellos gebunden, sein teures weißes Hemd war sauber und frisch. Die mit zarter Spitze besetzten Manschetten zierten dia mantene Manschettenknöpfe, und an dem dritten Finger jeder Hand blitzte ein Diamantring. Am kleinen Finger seiner Rechten trug er einen Siegelring aus Gold und Obsidian, der sein Familienwappen zeigte. An einer schweren Goldkette um seinen Hals hing ein in Platin gefaßtes Amulett mit einem Skarabäus aus Rubinen. Sein langer kaffiyeh war aus feinstem Leinen und wurde von einem schmalen Goldband gehalten, aus dem sich der Kopf einer Kobra mit winzigen Smaragd-Augen erhob. In der Mitte seiner Stirn prangte ein einzelner Edelstein, ein drittes Auge – ein kleiner, dunkler, blut roter Rubin. Die Augen des Scheichs, die scharf mit seiner olivfar benen Haut kontrastierten, waren von einem blassen Blau und so hell, daß sie fast zu glühen schienen. Der starre, magnetische Blick jagte Schauer über Mustafas Körper. »Ich will, daß diese Runensteine gefunden werden, Mustafa«, sagte der Scheich. »Und ich will die Diebe, die die Dreistigkeit be saßen, sie zu stehlen!« Mustafa senkte den Blick. Er konnte dieses unangenehme, schlangengleiche Starren nicht länger ertragen. »Sie werden gefun den werden, Euer Hoheit! Ich schwöre es!« »Du weißt, welche Strafe dich erwartet, wenn du versagst, Musta fa«, sagte Rashid leise. Das zierliche Juwel auf seiner Stirn begann
zu glühen. Mustafa sank bebend in sich zusammen. »Nein, bitte nicht, Euer Hoheit! Ich flehe Euch an…« »Sieh mir in die Augen, Mustafa.« »Euer Hoheit, ich bitte Euch…« »Sieh mich an!« Mustafa hob langsam den Blick. Auf seiner Oberlippe bildeten sich Schweißtropfen. Das Juwel in Rashids Stirn blitzte auf, und ein weißer Lichtstrahl schoß in Mustafas Kopf. »Schmerz, Mustafa!« Mustafa schrie auf und wand sich im Schimmer des Strahls. Seine Züge waren in schrecklicher Qual verzerrt. »Das ist nur ein winziger Vorgeschmack auf die Qualen, die du erleiden wirst, wenn du mich enttäuschst.« Nie zuvor in seinem ganzen Leben hatte Mustafa einen solch brennenden Schmerz verspürt. Er konnte nicht aufhören zu schreien. Es war, als würden seine Augen in ihren Höhlen schmelzen. »Es gibt schlimmere Dinge als den Tod, Mustafa«, meinte Ras hid. »Erinnere dich.« Im Saal wurde es dunkel, nur die Kohlebecken, die entlang der Wände plaziert waren, verbreiteten ein schwaches Licht. Aus den langen Schatten schienen sich dunkle Gestalten zu winden, vor- und zurückzuwogen, nach ihm zu greifen… »Neiiiin!« heulte Mustafa. »Erinnere dich!« befahl Rashid sanft. Seine Stimme erhielt ein geisterhaftes Echo, schien sich im Saal zu vervielfältigen, hämmerte dröhnend auf Mustafas Verstand ein. »Erinnere dich… erinnere dich… erinnere dich…« Der Schmerz hörte schlagartig auf, und um ihn herum wurde es schwarz. Mustafa krümmte sich am Boden. Er bebte am ganzen Körper, Schweiß tropfte von seiner Stirn. Dünne Rauchfäden stiegen von seinen Kleidern hoch. Er lag mit dem Gesicht nach unten in einer mit Unrat übersäten Gasse in New York City. Wenige Fuß entfernt machte eine Katze einen Buckel und miaute kläglich, sicht lich verschreckt über sein plötzliches Auftauchen aus der dünnen Luft. Wie ein Blinder ertastete Mustafa sich seinen Weg über den Boden und erhob sich schließlich auf Hände und Knie. Sein Herz schlug zum Zerspringen, und jeder einzelne Nervenknoten in seinem Körper schien vor Schmerz zu zerreißen. Vor seinen Augen sah er das spektrale Nachbild von Rashids Gesicht, das ganz allmählich in
der Ferne verblaßte… Er hob den Kopf. Sein Äußeres hatte sich in das eines sehr alten, bleichen Mannes mit tiefen Runzeln verwandelt. Das Haar war schneeweiß geworden. »Erinnere dich…« Wyrdrune und Kira gingen gemeinsam den Gehsteig der Third Avenue entlang. Er hatte sich die Kapuze seiner Halbkutte tief in die Stirn gezogen. Die junge Frau hatte die Hände in die Taschen ge steckt und ging mit dem aufreizenden Schritt eines kessen Straßen mädchens dahin. »Wir teilen sechzig zu vierzig. Mehr gebe ich dir nicht«, sagte sie. Sie blieben vor einer kleinen Treppe stehen, die zum Eingang ei nes Pfandhauses im Untergeschoß hinabführte. Über dem Schaufen ster waren die traditionellen drei Kugeln montiert. »Ich besorge das Reden, klar?« sagte sie. Wyrdrune zog eine Grimasse. »Wer sollte bei dir schon zu Wort kommen?« Sie stiegen die Stufen hinab und traten durch die Tür. Eine kleine Messingglocke klingelte hell. Das Ladeninnere wirkte wie ein winziges Lagerhaus. Jeder ver fügbare Raum war mit Regalen zugestellt, in denen sich alles mögli che, was eben zu verpfänden war, stapelte – Bücher, Musikinstru mente, Zauber-Requisiten, Kunstgegenstände, Schmuck und Kleider. Man meinte inmitten eines aufgeplatzten Füllhorns mit lauter Nippes zu stehen. Ein großer Vogel Greif saß auf einer Stange hinter der Theke, eine Kreation thauma-genetischer Ingenieurskunst mit einem goldschimmernden Federkleid und metallischen Krallen. Bei ihrem Eintreten krächzte er laut. »Kann ich Ihnen helfen? Kann ich Ihnen helfen? Aarrp!« Ein schwergewichtiger Mann trat durch einen Vorhang hinter der Theke. Er brachte gut und gerne über dreihundert Pfund auf die Waage und war beinahe rund wie eine Tonne. Er hatte schwere Hän gebacken, und die kleinen Schweinsaugen lagen tief in den Höhlen. Sein Atem ging schnaufend, als ob dem Mann jede kleinste Bewe gung die größten Anstrengungen bereitete. Er trug einen weißen Anzug und einen dunkelroten Fez mit Troddeln. Um den Hals hing ein Amulett von der Größe einer Untertasse mit der Darstellung des Wurms Ouroboros, der seinen eigenen Schwanz fraß, und dem Auge des Horus in der Mitte. »Sieh da, sieh da!« schnaufte er und fuhr sich mit den Händen
über die Brust, »wenn das nicht meine alte Freundin Kira ist. Wer ist dein Freund da? Und was kann ich diesmal für dich tun?« »Vielleicht sollten wir besser nach hinten gehen, Fats.« »Natürlich, mein Schatz, natürlich. Wenn ihr beide mir freundli cherweise folgen würdet?« Er hob eine Klappe in der Theke und zog den Vorhang vor dem Hinterzimmer zur Seite. »Paß auf den Laden auf, Rick«, keuchte er. »Klare Sache, Fats«, gab der Vogel Greif zur Antwort. »Hab alles im Auge. Aarrp!« »Ist er ein Zauberer?« flüsterte Wyrdrune. »Fats? Nein. Aber bei dem Vogel bin ich mir nicht sicher«, erwi derte Kira. Im Hinterzimmer war es dunkel. In dem kleinen Raum drängten sich Regale voller Krimskrams. Unter einer großen Hängelampe mit mehrfarbigem Glasschirm stand ein zierlicher runder, mit grünem Filz bespannter Spieltisch. Der kleine Fernseher darauf lief ohne Ton und zeigte eine Game-Show. Wyrdrune schaute einen Moment lang mißmutig zu und dachte darüber nach, warum er mindestens vier oder fünf Jahre lang das thaumaturgische College besucht hatte, um stundenlang geisttötende Arbeitskurse und Vorlesungen über sich ergehen zu lassen, zudem noch Examensarbeiten schreiben und sich durch mündliche Prüfungen quälen mußte, damit er die nötige Punktzahl für die Zulassung zu weiteren komplizierten Tests erreich te, um dann schließlich als Ingenieursanwärter in die Öffentlichen Dienste einzutreten und ständig die Zauberformeln zu erneuern, die die alten Kraftwerke in Gang hielten – nur damit Leute wie Fats herumsitzen, Bier trinken und Spielshows anschauen konnten. Er fragte sich, was Merlin wirklich gewollt hatte, als er den Menschen das alte Wissen wieder zugänglich gemacht hatte. »Also«, schnaufte Fats und ließ sich schwerfällig in einen riesigen Armsessel sinken, »ich könnte mir denken, daß ihr wegen eines Geschäfts hergekommen seid. Was habt ihr für mich?« Dabei ließ er Wyrdrune nicht aus den Augen und überließ es Kira, zur Sache zu kommen – um später behaupten zu können, man habe ihm eine Falle gestellt, sollte Wyrdrune sich als Polizist entpuppen. Kira griff in die Tasche ihrer schwarzen Lederjacke und zog den Lederbeutel hervor, den Wyrdrune ihr überlassen hatte. Sie löste die Schnüre und schüt telte die Runensteine auf den Tisch. Wie die Glut im Ofen schienen sie sanft zu schimmern, wunderschön und fremdartig. Fats betrachtete die Steine sehr lange, ehe er den Arm ausstreckte
und einen davon vorsichtig mit dem Zeigefinger berührte. »Was hältst du davon?« fragte Kira. »Sehr hübsch«, sagte Fats gedehnt. »Wirklich – sehr hübsch!« Er holte eine Juwelierslupe aus der Tasche und unterzog die Steine einer sorgfältigen Musterung. »Die stammen doch hoffentlich nicht aus dem Ding, das in der Galerie abgezogen wurde, oder? Aus dem so beschriebenen ›tolldreisten Diebstahl‹?« »Du weißt doch, Fats – keine Fragen. Sind wir nun miteinander im Geschäft oder nicht?« erwiderte Kira kühl. Fats nahm die Juwelierslupe aus dem Auge, lehnte sich zurück und faltete die Hände über seinem mächtigen Bauch. Dabei lächelte er leicht. »Nun, mein Schatz, es wäre schon möglich, daß wir uns einigen…« »Wieviel?« unterbrach ihn Kira. Fats schürzte die Lippen und überlegte. »Okay, sagen wir… mmm… fünftausend.« »Fünftausend?« rief Wyrdrune. »Machst du Witze? Das niedrig ste Gebot für die Steine lag bei…« Kira stieß ihm den Ellbogen in die Rippen. »Versucht noch mal, Fats.« »Komm, komm, mein Schatz. Wir wollen uns doch nichts vorma chen – alte Freunde, die wir sind…« »Wir waren niemals Freunde, Fats. Mit Freunden mache ich keine Geschäfte.« »Nun, dann sind wir eben alte Geschäftspartner – gewissermaßen. Wir sind immer vernünftig miteinander umgegangen und dabei ganz gut gefahren. Du wirst doch zugeben müssen, daß ich dich nie übers Ohr gehauen habe.« »Du würdest deine eigene Mutter betrügen, wenn dabei ein Ge winn für dich herausspränge. Halt mich nicht für dümmer, als ich bin, okay? Du weißt verdammt gut, daß die Steine viel mehr wert sind als deine mickrigen fünftausend.« »Das mag schon sein. Aber andererseits sind die Steine ja auch verdammt heiß – was du selbst am besten weißt. Diese Sache hier ist nun mal nicht mit einer unserer üblichen Transaktionen zu verglei chen, stimmt’s? Du scheinst dich langsam in unserer Welt hochzuar beiten. Persönlich finde ich das sehr ermutigend. Wie du weißt, bin ich der erste, der persönlichen Unternehmungsgeist immer unter stützt. Aber hier haben wir nun mal die auf unlauterem Wege erwor benen Früchte einer weithin publizierten Unternehmung – wenn ihr
versteht, was ich meine. Daher muß ich besondere Mühen und An strengungen auf mich nehmen und sicher sehr lange suchen, um überhaupt einen – sagen wir mal – passenden Kunden zu finden, mit dem ich über den Verkauf dieses Glitzerkrams hier verhandeln kann. Das dürfte weit schwieriger werden als der Verkauf der Ware aus den gewöhnlichen Diebstählen und Einbrüchen, auf die du dich bis her spezialisiert hattest. Es ist daher doch nur recht und billig, daß ich meine Bemühungen auf deine Kosten kompensiere.« »Wenn du schon was auf meine Kosten kompensiert, wie du es nennst«, hielt Kira ihm entgegen, »wie kommt es dann, daß ich nicht mit einem gewissen Anteil am Erlös beteiligt bin? Komm, Fats, hör auf, meine Zeit zu verschwenden. Mach uns ein vernünftiges Ange bot, oder wir verhandeln mit einem anderen.« Er hob die Augenbrauen. »So ist das also? Du hast dir hinter mei nem Rücken neue Weiterverkäufer gesucht. Ich bin zutiefst von dir enttäuscht, Kira. Wo bleibt deine Loyalität? Aber schön, wenn du wirklich denkst, du machst anderswo einen besseren Schnitt, will ich dir nicht im Weg stehen.« »Fein. Das ist nett von dir, Fats.« Kira griff nach den Steinen, doch seine Hand zuckte blitzschnell vor und legte sich über ihre. »Wir sollten nichts überstürzen. Du wirst doch einem alten Mann noch das Vergnügen des Feilschens gönnen, nicht wahr. Ich will mal schauen, ob ich den Topf nicht noch etwas füllen kann – um der alten Zeiten willen. Was würdest du zu achttausend sagen?« »Kommt gar nicht in Frage. Diese Steine da sind locker das Zehn fache wert.« »Das Zehnfache? Das glaube ich kaum. Aber trotzdem lasse ich mit mir reden. An welche Summe hast du gedacht?« »Mindestens zwanzigtausend.« »Völlig unmöglich, gar keine Frage. Mein Gewinn wäre gleich null. Mach mir ein akzeptableres Angebot.« »Also schön – fünfzehn.« »Nein, nein, das läuft nicht. Ich biete dir neun.« »Erhöhe auf zehn.« Fats seufzte. »Also schön. Zehn, aber keinen Penny mehr. Nehmt es oder laßt es. Eine solche Undankbarkeit schmerzt mich zutiefst.« »Wir lassen es«, meldete sich Wyrdrune. »Wir nehmen es«, sagte Kira im gleichen Moment. »Nun, wofür entscheidet ihr euch denn nun?« fragte Fats mit
hochgezogenen Brauen. Kira packte Wyrdrunes Arm und zog ihn ein paar Schritte zur Sei te. »Was glaubst du wohl, was du da tust?« zischte sie. »Bist du verrückt geworden?« flüsterte er. »Zehntausend Dollar? Hundertzwanzigtausend waren schon für die Steine geboten, und die Gebote gingen noch höher! Willst du so einfach zulassen, daß dieser Bursche uns übers Ohr haut?« »Hör zu, Zauberkünstler, ich werde dir jetzt mal ein paar Fakten aus dem wirklichen Leben erzählen. Für Diebesgut, besonders für heiße Ware, bekommst du nirgends auch nur annähernd den Markt wert, viel weniger den Schwarzmarktwert. Außerdem ist Fats derje nige, der beim Weiterverkauf das ganze Risiko trägt. Und hinzu kommt noch, daß er einer der wenigen Hehler in dieser Stadt ist, die solche Art Ware absetzten können. Wenn ich ihn jetzt einfach stehen lasse, ohne den Deal mit ihm zu machen, würde das unsere Ge schäftsbeziehung stören, wenn nicht gar zerstören – und das kann ich mir offen gesagt nicht leisten. Ich habe nun mal keine Zeit, einem Amateur die simpelsten Regeln dieser Art Geschäfte beizubringen, klar? Okay, ich schlage dir einen Handel vor: fifty-fifty, wenn du dein verdammtes Maul hältst. Wenn du mir diese Sache aber ver dirbst, mein Freund, dann wirst du ein echtes Problem haben. Also – was ist?« »Schon gut, schon gut«, seufzte Wyrdrune. »Aber wenn du mich fragst – er kocht uns ab.« »Mag schon sein. Aber trotzdem sind das die schnellsten fünftau send Bucks, die du je gemacht hast. Nimm, was du kriegen kannst, und meckere nicht.« Kira wandte sich an Fats. »Wir sind im Ge schäft.« »Das freut mich«, brummte er, stemmte sich mühsam hoch, nahm die Steine und ließ sie nacheinander in den Beutel fallen. Eine Zeit lang rumorte er in den Regalen herum und förderte schließlich eine Metalldose zutage. Er öffnete sie mit einem kleinen Schlüssel und entnahm ihr einen Packen Banknoten. »Hier, mein Schatz.« Er reich te ihr ein Bündel in einer Banderole. »Die Summe stimmt. Du kannst aber trotzdem nachzählen, wenn du willst. Es ist immer ein Vergnü gen, mit dir Geschäfte zu machen. Schau mal wieder vorbei. Und bring deinen Freund mit.« Draußen schüttelte Wyrdrune den Kopf. »Wahrscheinlich sollte ich mich nicht beschweren, wenn ich daran denke, wie alles hätte ausgehen können. Ich denke, es war doch nicht so übel.«
»Es war zu leicht«, knurrte Kira säuerlich. »Er war wirklich heiß auf die Steine. Wir hätten sicher noch mehr herausschlagen können, wenn ich hart geblieben wäre.« Wyrdrune blieb abrupt stehen und starrte sie fassungslos an. »Was? Nach all dem Theater da drinnen sagst du jetzt…« »Schrei gefälligst nicht so. Okay, vielleicht irre ich mich auch. Aber er kam mir zum Schluß eine Spur zu selbstgefällig vor. Vergiß es. Zur Hölle damit, wir sind doch noch ganz gut weggekommen. Wie du schon sagtest – es hätte viel schlechter ausgehen können. Jetzt…« Wyrdrune machte eine rasche Handbewegung über sie beide hin weg und murmelte etwas Unverständliches. Im nächsten Moment waren sie verschwunden. Mit einem Plopp tauchte er in seinem Apartment in der East 4th Street wieder auf. »Es ist doch nicht nötig, soviel Geld in einer solchen Umgebung spazierenzutragen«, meinte er. »Wenn ich nur daran denke, was…« Er schaute sich um und bemerkte erst jetzt, daß er allein war. »Ki ra?« Es klopfte an der Tür. Er stürzte zur Tür, spähte durch den Spion und öffnete dann rasch. Mit über der Brust verkreuzten Armen und gerunzelter Stirn stand sie im Flur. »Was hältst du davon, wenn wir das nächste Mal den Bus nehmen?« »Es tut mir leid. Ich hätte schwören können, daß ich es diesmal richtig gemacht habe…« »Ich will nichts mehr davon hören«, fauchte sie und folgte ihm in die Wohnung. »Tu dir selbst ’nen Gefallen, Zauberkünstler, und nimm noch ein paar Stunden in Magie oder was ähnliches. Du bist mir zu gefährlich.« Rasch zählte sie ein paar Scheine ab und steckte sie in ihre Ta sche. Die übrigen schob sie ihm hin. »Hier – dein Anteil.« »Es stört dich doch sicher nicht, wenn ich nachzähle. Nicht, daß ich dir nicht trauen würde. Aber…« »Möchtest du mich nicht auch noch durchsuchen, um sicherzuge hen, daß ich nichts geklaut habe, als ich vorhin in deinem Wand schrank steckte?« »Ich hatte nicht vor…« »Fein. Mach schon, zähl nach. Ich habe meinen Anteil hier drin.« Sie griff nach hinten in ihre Jackentasche. »Den kannst du auch nachzählen. Ich möchte nicht, daß…« Beim Herausziehen der Scheine fiel ein kleiner Lederbeutel auf
den Boden. »Was, zum Teufel, ist denn das?« Wyrdrune bückte sich und hob den Beutel auf. Er wirkte unange nehm vertraut. Rasch zog er die Schnüre auf und schüttelte die Ru nensteine in seine Handfläche. Wyrdrune hob den Blick und starrte Kira an. »He, ich weiß nicht, wo die plötzlich herkommen«, sagte sie, als sie seinen Blick bemerkte. »Wenn du versuchst, mich reinzulegen, werde ich…« »Nicht ich, Kira. Versuch nicht, den Spieß umzudrehen.« »Ich würde sagen, ich hab die Dinger verkauft – und du hast sie wieder hergezaubert. Nicht sonderlich witzig, Zauberkünstler. Über haupt nicht witzig. Damit hast du’s nämlich wirklich verpatzt. Jetzt gibt’s einen Hehler, mit dem ich keine Geschäfte mehr machen kann. Mit Fats legt man sich besser nicht an.« »Wovon redest du überhaupt? Ich habe…« »He – Augenblick mal.« Sie schnippte mit den Fingern. »Halt mal eine Minute die Klappe. Die Sache ist doch ausbaufähig. Na klar! Ich habe jede Menge Kontakte. Wir könnten richtig abkassieren, wenn wir die Steine immer wieder neu verkaufen…« Er hockte sich an den Tisch und starrte auf die Steine. »…wir könnten uns Hehler außerhalb der Stadt suchen, so daß ich meine Kontakte hier nicht aufgeben müßte. Ich müßte mal ’n biß chen herumhorchen, ein paar Anrufe machen. Wenn wir uns beeilen, können wir mit diesem Dreh das Zehn-, Zwanzigfache herausho len…« »Du scheinst nicht zu begreifen«, meinte Wyrdrune. »Ich habe überhaupt nichts gemacht.« Sie schwieg und sah ihn mit gerunzelter Stirn an. »Vermutlich sind die Steine von allein in meine Tasche zurückgehüpft. Ich kapie re die Pointe nicht, Zauberkünstler. Worauf willst du hinaus?« »Aha«, rief er und nickte. »Jetzt verstehe ich! Aber ich kaufe dir das nicht ab. Ich mag zwar nicht so viel Erfahrung auf der Straße haben wie du, Mädchen, aber ich bin auch nicht dumm. Typen mit schnellen Händen habe ich schon viele gesehen. Wenn du glaubst, du kannst so ein Ding abziehen und die Sache dann mir in die Schuhe schieben, dann solltest du dir das besser noch mal gründlich überle gen.« Ihre Augen wurden schmal. »Ich durchschaue dich. Fats hat keine Ahnung, wer du bist. Was hättest du schon zu verlieren, stimmt’s?
Und sollte wirklich etwas auf dich zurückfallen, drehst du die Kiste einfach um und hängst mir alles an. Ist es nicht so? Aber darauf falle ich nicht rein. So’n Schwindel kann dich das Leben kosten, Zauber künstler.« »Der Name ist Wyrdrune, und du hast recht. Ich werde da nicht mitspielen. Wir müssen diese Dinger loswerden. Aber wenn wir die Steine diesmal verkaufen, bleiben sie auch verkauft, verstanden? Und damit wäre dann unsere sogenannte Partnerschaft beendet. Ich habe die Nase voll davon.« Sie musterte ihn mißtrauisch und nickte schließlich. »Aber sicher doch, Zauberkünstler. Ganz wie du willst. Je eher, desto besser.« »So ist es brav. Versuch besser nicht, mich noch einmal hinters Licht zu führen, sonst verliere ich meine gute Laune. Und einen Hexenmeister wütend zu machen, ist nicht gerade empfehlenswert. Geht das in deinen Schädel?« »Hexenmeister? Daß ich nicht lache! Was willst du denn tun, du abgebrochener Student? Deinen Besen auf mich hetzen und mich von ihm zu Tode prügeln lassen?« »Jetzt reicht’s! Ich will darüber nicht mehr reden. Bringen wir es hinter uns. Je schneller ich die Steine und dich loswerde, um so bes ser ist es für mich. Du bist diejenige mit den vielen Verbindungen. Wohin geht es denn nun als nächstes?« Sie sah ihn lange an und nickte schließlich. »Okay. Vergiß es. Ohnehin sollte ich meine Zeit besser nicht mit Amateuren vergeu den. Wir knöpfen uns Rozetti vor.« »Rozetti?« »Er betreibt seine Geschäfte in ’ner Bar in der Christopher Street. Feine Sache, nicht? Jetzt kennst du schon zwei Hehler, die du kon taktieren könntest. Aber laß dir gesagt sein, Zauberkünstler: solltest du wieder so miese Tricks abziehen und die Sache dann mir in die Schuhe schieben wollen, werde ich mich zu wehren wissen. Vergiß nicht: Ich bin diejenige, der gute Kontakte zu diesen Leuten hat – und ich weiß, wo du wohnst. Muß ich noch mehr sagen?« »Halt endlich den Mund, okay? Bringen wir die Sache hinter uns. Du machst den Handel, und damit hat sich’s dann. Mir ist es egal, was du danach machst oder wohin du gehst. Aber solltest du versu chen, diese Leute auf meine Spur zu hetzen, habe ich auch ein paar Neuigkeiten für dich. Du würdest dir mehr Kummer einhandeln, als du verkraften kannst.« »Jetzt hör mal genau zu…«
»Nein, du hörst jetzt zu! Ich habe gesagt, ich möchte nicht mehr darüber reden, klar? Also los, gehen wir zur Christopher Street. Auf der Stelle!« »Schön. Aber wir nehmen den Bus!« Gemeinsam traten sie aus der Bar, beide um 10.000 Dollar rei cher. Das viele Geld hatte wesentlich dazu beigetragen, den Streit zwischen ihnen zu besänftigen. Vor der Bar blieben sie stehen und sahen sich gegenseitig argwöhnisch an. Schließlich grinste Kira. »Zufrieden?« fragte sie. »Du hast mich da drinnen beobachtet wie ein Habicht. Das muß ich dir lassen, Zauberkünstler, du gibst nicht auf – nicht eine Minute. Du willst immer noch nicht einsehen, daß…« »Willst du das Spiel nicht endlich aufgeben?« fragte er. »Die Sa che ist erledigt. Wenn du die Steine nach diesem Verkauf wieder bei dir hättest, müßtest du ein besserer Zauberer sein als ich.« »Das will nicht viel heißen«, gab sie zurück.»Denk du nur daran, was ich dir gesagt habe. Hier ist dein Anteil.« Plötzlich ertönte aus der Bar lautes Geschrei. Eine Stimme rief: »Sie haben mich betrogen! Haltet sie!« Ihr fiel der Unterkiefer herab. »Ich glaube es einfach nicht! Wie kannst du so blöd sein…« »Ich habe nichts…« Mehrere untersetzte Männer stürmten aus der Bar. »Verdammt, Zauberkünstler, du bringst uns noch um!« Er packte ihren Arm. »Nicht, wenn es nach mir geht.« Einer der Männer stürmte auf sie zu, um sie beide durch seinen Schwung zu Fall zu bringen. Doch er landete mit dem Brustkorb hart auf dem Gehsteig und stieß pfeifend den Atem aus. »Wo, zum Teufel, sind sie abgeblieben«, fragte einer der Männer verblüfft. Inmitten eines Schwanns Tauben, die unter dem Triumphbogen im Washington Square Garden Brotkrumen aufpickten, tauchten sie wieder auf. Die Vögel stoben aufgeregt flatternd davon, und beide mußten ihre Gesichter vor dem Flügelschlag der erschreckten Tiere schützen. Der Bogen war mit kabbalistischen Graffiti und spanischen Wörtern verschmiert. Etwa 25 Yards entfernt hatte sich eine Men schentraube um einen Fakir mit einem Turban versammelt, der mit einer Kreatur – halb Hund, halb Kobra – einige Kunststücke vorführ te. Ein paar auffallend fremdartig gekleidete Leute schoben sich durch die Menge, und ein kleines, etwa acht Jahre altes Kind zog
geschickt die Brieftaschen aus den Gesäßtaschen der Gaffer und steckte sie ihren Leuten zu. »Ich glaube, ich werde noch seekrank von der Hüpferei«, knurrte Kira und lehnte sich gegen den Torbogen. »Wir haben ein Problem«, mahnte Wyrdrune. Sie musterte ihn wütend. »Das sagst du mir?« Kopfschüttelnd ging Wyrdrune zur nächsten Parkbank. Kira folg te ihm. »Was denkst du dir eigentlich dabei? Jetzt habe ich schon zwei Hehler am Hals. Kannst du dir überhaupt vorstellen, was du da ange richtet hast? Du machst nichts als Ärger, du verdammter Hurensohn. Verdammt viel Ärger! Ich sollte dich…« »Du warst doch diejenige, die die Steine immer wieder aufs neue verkaufen wollte.« Wyrdrune drehte ihr den Kopf zu. »Zum Teufel«, rief sie zähneknirschend, »trotz allem ist das wirk lich nicht die schlechteste Idee. Nur will ich das auf meine Weise machen, verdammt noch mal! Diese Leute hier kennen mich!« Wyrdrune schürzte die Lippen und setzte sich auf die Bank. »Was hier geschieht, ist doch ein Witz…« »Über den ich aber nicht lachen kann!« Er griff in die Tasche und zog den Beutel hervor. Lange starrte er darauf nieder. »Es müssen die Steine sein«, murmelte er schließlich. »Sie tun es von selbst.« »Nun mach mal ’nen Punkt! Erwartest du etwa, daß ich das glau be?« »Es ist mir egal, was du glaubst oder nicht. Ich weiß nur, daß du keine Möglichkeit hattest, dem Burschen die Steine wieder abzu nehmen, und ich will verdammt sein, wenn ich sie ihm geklaut habe. Es gibt keine andere Erklärung.« Er schüttelte die Steine aus dem Beutel, schob diesen zurück in die Tasche und warf die Steine über die Schulter ins Gebüsch. »Was machst du denn jetzt schon wieder?« »Ich probiere nur etwas aus. Komm mit.« Er stand auf und ent fernte sich mit schnellen Schritten von der Bank. Sie richtete den Blick auf die Stelle, wo die Steine verschwunden waren und sah dann wieder zu ihm hinüber. Offensichtlich war sie sich nicht schlüssig, was sie tun sollte. »Warte! Wohin willst du? Du bist ver rückt, weißt du das?« »Daß ich nicht lache! Nun komm schon!« Verzweifelt sah sie zu den Büschen hinüber. Dann stieß sie einen
lauten Fluch aus, rannte hinter ihm her, packte seinen Arm und riß ihn herum. Sie standen mitten auf dem Spazierweg in der Nähe eines Schildes, das MAGISCHE TEPPICHFLÜGE
anpries. Ein untersetzter Mann stand daneben und kassierte Geld von einigen Elternpaaren, deren Kinder aufgeregt herumsprangen oder andere Kinder beobachteten, die auf mehreren Läufern zwei Fuß über dem Boden im Kreis herumflogen. »Es sind verzauberte Runensteine«, raunte Wyrdrune. »Erinnerst du dich noch – mit unbekannten Fähigkeiten.« »Und deswegen hast du sie einfach weggeworfen?« sagte sie un gläubig. »Du bist nicht ganz bei Trost! Ich gehe jetzt auf der Stelle zurück und hole sie, ehe ein anderer sie findet.« »In Ordnung. Aber sieh erst mal in deinen Taschen nach.« »Ach richtig.« Sie griff in ihre Taschen. »Sie kommen ja von al…« – mitten im Wort brach sie ab und zog den Beutel aus der rechten Tasche – »…lein zurück?« Wyrdrune verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich habe nichts damit zu tun.« »Sehr witzig.« Sie sah ihn an. »Dann lach doch, wenn du willst. Ich habe wirklich nichts ge macht. Es ist mir gleich, ob du mir glaubst oder nicht. Wir können die Steine verkaufen, aber sie bleiben nicht beim Käufer. Ich weiß nicht wieso, und es ist mir auch egal. Mir reicht es jetzt. Du hast sie gestohlen, und es sieht ganz so aus, als ob du sie nicht mehr loswirst. Behalte sie und verschwinde – möglichst weit weg.« Er drehte sich um und ging davon. »Warte mal!« rief sie. »Ich kapier hier einiges nicht ganz! Was soll das heißen, ich würde sie nicht mehr los?« Er ging ungerührt weiter. »Sie kommen immer wieder zu dir zu rück. Ich steige aus der Sache aus, solange ich noch kann, denn so, wie ich das sehe, ist es nicht mein Problem.« »He – Augenblick mal! Du kannst dich doch jetzt nicht einfach davonmachen!« »Das wirst du schon sehen.« Sie lief neben ihm her, griff seinen Arm, wirbelte ihn erneut her um und hielt ihm die Steine unter die Nase. »Du, hör zu, ich will jetzt auf der Stelle eine Erklärung! Du hast mich da hineingezogen.
Also erklär mir gefälligst auch, was es mit den Dingern auf sich hat.« »Ich hätte dich in die Sache hineingezogen? Merkwürdig, das ha be ich aber ganz anders in Erinnerung.« Er nahm ihr die Steine aus der Hand und ließ sie wieder in den Beutel fallen. »Du wolltest doch die Steine? Also schön.« Er drückte ihr den Beutel in die rechte Hand. »Jetzt hast du sie.« Damit ließ er sie stehen und ging davon. Sie starrte hinter ihm her und atmete dann tief durch. »Das paßt mir ausgezeichnet. Du bist schließlich nicht das einzige As deiner Gilde in dieser Stadt. Ich finde auch allein heraus, was mit den Dingern los ist. Wahrscheinlich sind sie ein Vermögen wert.« Damit schlug sie die entgegengesetzte Richtung ein. »Prima, mein Anteil wird dadurch um so größer. Wer braucht denn schon eine Type wie dich? Verdammter Amateur! Ich werde…« Sie blieb abrupt stehen, stieß die Hände in die Taschen – und wir belte herum. »Warte mal ’nen Moment!« Wyrdrune blieb stehen. »Nicht so eilig, Zauberkünstler!« Er schloß die Augen. »Jetzt sag mir bloß nicht…« Langsam steckte er die Hände in die Taschen und zog mit der Rechten den Beutel hervor. Er warf einen Blick darauf und seufzte. »Heute ist wirklich nicht mein Tag.«
KAPITEL
»…
DREI
und als ich mich herumdrehte, waren sie verschwunden. Ehrlich, das ist alles was ich weiß«, sagte Fats und fuhr sich mit seinem großen Taschentuch übers Gesicht. »Und wer brachte sie zu dir?« »Eine junge Frau namens Kira.« Fats war nicht in der Lage, sei nen Blick von dem alten Mann abzuwenden. »Etwa 18 oder 19 Jahre alt, schlank, dunkelhaarig, fünfeinhalb oder sechs Fuß groß, modisch frech gestylt… Ihr wißt, was ich meine: die Haare hinter die Ohren zurückgekämmt, Pony bis dicht über die Augen, Lederjacke mit Nieten, Stiefel – moderne Klamotten eben. Ein Straßenkind, ein junges Strichmädchen. Frech nicht nur auf sexuelle Art, versteht Ihr? Ich meine, sie gehört zu der Sorte, die auch riskante Sachen nicht scheuen, wenn dabei eine hübsche Summe herausspringt. Beischlaf diebstahl, Raub, Betrug. Drittklassig, das Mädchen, aber auf ihre Art effektiv. Ehrlich gesagt war ich überrascht, um nicht zu sagen schok kiert, als sie mir die Steine brachte. Eigentlich ’ne Nummer zu groß für sie, dieser Coup bei Christie’s, aber ich gab ihr ’ne Chance. Schließlich hatte sie mich bisher noch nie übers Ohr gehauen. Ich kann mir nicht vorstellen, was sie sich dabei gedacht haben mag. Der junge Kerl, den sie bei sich hatte, muß sie dazu gebracht haben.«
»Beschreibe ihn!« »Sein Name ist nicht gefallen.« Fats konnte nicht aufhören zu re den. Eine innerliche Regung drängte ihn dazu, diesem Alten zu er zählen, was immer er hören wollte, damit er endlich ging und nie mehr zurückkam. »Wie ich schon sagte, war er jung. Langes, dichtes blondes Haar, stark gelockt, die Halbkutte eines Zauberkünstlers…« »Eines Zauberkünstlers Halbkutte? Nicht die Robe eines Zauber meisters? Bist du sicher?« »Ja, ziemlich sicher. Ich habe diese Tracht schon öfter gesehen. Aber das will nicht unbedingt etwas heißen. Es könnte ja auch ein Kostüm gewesen sein. Trotzdem, sie nannte ihn Zauberkünstler. Da bin ich mir ziemlich sicher. Ich schwöre Euch, Mister, das ist alles, was ich weiß.« Fats mühte sich, den durchdringenden Augen des Alten auszu weichen, konnte aber seinen Blick nicht senken. Diese Augen waren abstoßend, furchteinflößend. Wo sich sonst die Pupillen befanden, saßen zwei dunkle grinsende Schädel. Es waren Kontaktlinsen, rede te Fats sich ein, es mußten Kontaktlinsen sein, aber… »Du wirst mich sofort wissen lassen, wenn du ihnen nochmals begegnest«, sagte Mustafa sanft und setzte die Sonnenbrille wieder auf. »Selbstverständlich, ganz wie Ihr es wünscht.« »Wenn du mich zu ihnen führst, wird es dein Schaden nicht sein. Ich werde dich reichlich belohnen. Wenn nicht…« Fats schluckte schwer. »Ich werde mich umhören und sehen, was ich herausfinden kann.« »Sehr schön. Wir scheinen uns zu verstehen. Hier ist meine Kar te.« Der Alte hielt ihm die offene Rechte entgegen. Die Hand war leer. Doch im nächsten Moment erschien eine Visitenkarte zwischen Zeige- und Mittelfinger. Darauf stand der Name und die Telefon nummer der VSR-Botschaft in der First Avenue. »Du kannst mich jederzeit anrufen. Sollte ich nicht da sein, kannst du eine Nachricht hinterlassen. Ich werde mich dann bei dir melden.« Zögernd nahm Fats die Karte, als fürchte er, sich an ihr zu verbrennen. Kaum war der Alte verschwunden, sackte Fats in sich zusammen wie eine Marionette, deren Fäden plötzlich durchtrennt worden waren. »Kein Geschäft, kein Geschäft!« krächzte der Vogel Greif, als sich die Tür mit kurzem Glockenklingeln hinter dem Alten schloß. »Halt’s Maul, Rick«, brummte Fats.
»Aarrp!« »Hast ja recht. Wirklich kein Geschäft! Schön, schön, schauen wir mal, was sich da machen läßt.« Er nahm den Telefonhörer ab und wählte eine Nummer. Am anderen Ende ertönte ein knappes »Ja?« »Du weißt, wer hier spricht?« fragte Fats. »Erkennst du meine Stimme?« »Ja.« »Ich habe einen Auftrag für dich.« »Wir werden drüber reden.« Es klickte, als der andere auflegte. Fats wußte, daß sein Gesprächspartner sich auf seine Weise melden würde, zu einem Zeitpunkt, den er selbst bestimmte. Der Bursche war ein sehr vorsichtiger Mann. Und ein brandgefährlicher außer dem. Sie saßen sich an einem Ecktisch in der schummrigen Bar eines Restaurants gegenüber. Der Beutel mit den Runensteinen lag zwi schen ihnen auf dem Tisch. Vor ihnen standen Gläser mit starken Drinks. Sie hatten die Ellbogen auf die Tischplatte gestützt, und das Kinn auf die Handflächen gelegt. Schweigend starrten sie auf den Beutel. Am anderen Ende der Bar versuchte sich ein Musiker zur Begleitung einer verzauberten Zither, die völlig selbsttätig spielte, an lyrischen Improvisationen. Dabei vollführte er über dem Instrument bestimmte Bewegungen, um eine Kunstfertigkeit vorzutäuschen, die er in Wirklichkeit nicht besaß. »Ich weiß nicht«, murmelte Wyrdrune, »aber ich habe ein ganz dummes Gefühl bei der Sache.« »Wozu sich Sorgen machen?« entgegnete Kira. »Wir haben ein paar verzauberte Runensteine, die wir anscheinend nicht mehr los werden können. Man sucht uns wegen schweren Diebstahls, und wir haben zwei Hehler ausgenommen, die wahrscheinlich schon Kopf prämien auf uns ausgesetzt haben. Abgesehen davon mögen wir uns nicht sonderlich. In meinen Augen ist unsere Verbindung ein einzi ger Schlamassel.« »Stimmt«, gab Wyrdrune zurück. »Ich kann unser zweites Ren dezvous kaum erwarten. Wir sollten feiern. Warum, zum Teufel, eigentlich nicht? Wir schwimmen doch im Geld.« Er fuhr mit der linken Hand durch die Luft, und vor ihnen auf dem Tisch standen plötzlich eine Flasche importierter Champagner in einem Eiskübel und zwei Gläser. »He, das habe ich gesehen«, rief der Barkeeper quer durch den
Schankraum. »Das macht 50 Bucks.« »Nimmst du auch Kleingeld?« fragte Wyrdrune laut, um den Mu siker zu übertönen. »Klar, wenn’s wirklich 50 Bucks sind.« »Sehr schön«, knurrte Wyrdrune und machte erneut eine Hand bewegung. Ein Haufen Nickel tauchte plötzlich über dem Kopf des Barkee pers auf, und die Geldstücke regneten auf ihn herab. Er schrie laut auf und duckte sich unter den Tresen, um dem Münzhagel zu entge hen. Geschockt starrte Kira ihr Gegenüber an. »Du kannst Geld aus der Luft herbeizaubern und gehst trotzdem auf Diebes tour?« »Ich kann keine Sachen erschaffen«, erklärte Wyrdrune. »Außer dem ist die Fälschung von Gegenständen durch Hexerei bundesweit ein schweres Verbrechen. Das da war kein richtiges Geld. Ich habe nur ein paar Eiswürfel aus dem Kühlfach für kurze Zeit in Münzen verwandelt.« »Das reicht!« schrie der Barkeeper und kam schwankend hinter dem Tresen hervor. Die Münzen hatten sich wieder in Wasser zu rückverwandelt, und er war von Kopf bis Fuß durchnäßt. »Ihr zahlt auf der Stelle und macht, daß ihr rauskommt.« Ein Mann so groß wie ein Mammutbaum stand plötzlich neben ihrem Tisch. Seine Stimme klang unangemessen sanft und freund lich. »Ich denke, es ist wirklich besser, Sir, wenn Sie Ihre Rechnung zahlen und gehen«, sagte er in entschuldigendem Ton. »Ich bin wirk lich nicht auf Streit aus, sondern tue nur meinen Job. Sie wissen doch sicher, wie das ist.« Es war die Visitenkarte eines guten Rausschmeißers, seinen Job zu erfüllen, ohne den Gast oder Kunden zu provozieren. Der hier verstand sein Geschäft, und Wyrdrune empfand tatsächlich so etwas wie Sympathie für den Mann. Er nickte und legte ein paar Scheine für die Rechnung auf den Tisch. »Zur Hölle damit«, sagte Kira. »Ich mag ohnehin keinen Cham pagner.« »Tut mir leid, daß ich da drin so wütend geworden bin«, ent schuldigte Wyrdrune sich bei ihr, als sie das Restaurant verließen. »Aber ich mache mir wirklich Sorgen. Ich habe versucht, die Steine wegzuteleportieren, aber sie… widerstanden mir.« Keiner von beiden bemerkte, daß sie verfolgt wurden. »Hör zu, wenn wir sie ohnehin nicht mehr loswerden, warum
dann nicht das Beste daraus machen?« meinte Kira. »Wir greifen noch ein paar andere Hehler ab, trennen uns danach und verlassen die Stadt.« »Das mit der Trennung höre ich gern«, antwortete Wyrdrune trocken. »Aber wer von uns beiden wird sich dann mit den Steinen herumschlagen?« »Was macht das schon für einen Unterschied?« »Ich weiß nicht, aber magische Dinge geschehen nicht ohne Grund. Ich komme nur nicht dahinter, was es sein könnte. Etwas sehr Seltsames geht hier vor.« »Erzähl mir mehr davon«, knurrte Kira mit einem sarkastischen Seitenblick. »Nein, ich meine, etwas Seltsames geschieht mit mir. Ich weiß nicht, ob du es bemerkt hast. Aber das erste Mal, als ich uns von Christie’s in mein Apartment zurückteleportiert habe, hätte es mich fast umgehauen. Teleportationsformeln gehören zur Fortgeschritte nen-Thaumaturgie. Ich habe aber mein Training nie beendet. Ich bin von Natur aus zu talentiert, um Mittelmaß zu sein. Jedenfalls hat Merlin das immer behauptet.« »Und?« »Die letzten Male, in denen ich uns teleportiert habe, bin ich nicht mal ins Schwitzen geraten. Ich meine, es war ziemlich einfach.« Kira zuckte die schultern. »Vielleicht macht das die Übung. Du wirst halt immer besser, je häufiger du es tust.« »Genau das ist es ja. In diesem Fall stimmt das nicht. Zumindest nicht hundertprozentig. Für einen voll ausgebildeten Magier ist das Teleportieren so einfach wie für Normalsterbliche ein Augenblin zeln. Ich habe jedoch nur den Grad eines Zauberkünstlers. Die Magie aber fordert immer ihren Preis. Man muß einen sehr delikaten Balan ceakt ausführen, wenn man seine natürlichen Kräfte für die Thauma turgie einsetzt. Ich müßte eigentlich die Anstrengung und Erschöp fung spüren, merke aber nichts. Es ist, als bezöge ich von irgendwo her zusätzliche Kraft. Ich glaube, die Runensteine sind daran schuld. Denn sonst hat sich nichts geändert.« »Tatsächlich? Was gibt’s denn daran auszusetzen, daß sie aus dir einen besseren Zauberer machen?« »Ich mag’s halt nicht, wenn ich etwas nicht weiß. Unwissen in der Thaumaturgie kann dir sehr schaden, dich sogar töten.« »Warum machst du… Achtung, paß auf!« Sie versetzte ihm einen heftigen Stoß, und er stürzte der Länge
nach auf den Gehsteig. Das Messer fuhr an der Stelle, wo er eben noch gestanden hatte, wirkungslos durch die Luft. Kira zog blitz schnell das Knie an und rammte es dem Angreifer hart in den Unter leib. Er stieß pfeifend die Luft aus und sackte zu Boden. Sie waren zu viert. Die anderen drei stürzten sich im nächsten Moment auf sie. Sie unterlief einen Messerstoß, hieb einem Kerl hart die Faust ins Gesicht, wirbelte herum, wich dem Schlag des dritten Mannes geschickt aus und riß in der Drehung das Bein hoch. Mit dem Stiefelabsatz traf sie den vierten Mann an der Schläfe, als er gegen sie zum Schlag ausholte. Der zweite Angreifer warf sich auf sie, die Messerhand zum Stoß erhoben. Sie blockierte den Hieb, packte seinen Arm und verdrehte ihn mit einem harten Ruck, so daß der Bursche mit einem Aufschrei das Messer fallen ließ. Einer seiner Kumpane versuchte, sie mit einem Faustschlag zu Boden zu strek ken. Sie ließ den Messerschwinger los und wehrte den erneuten Angriff ab. Der Messerheld packte sie von hinten und würgte sie. Sie hob den Fuß, trat ihm heftig auf die Zehen und stieß ihm den Ellbo gen in den Magen. Aufheulend vor Schmerz ließ er sie los. Sie wir belte herum, um sich des nächsten Angriffs zu erwehren. Wyrdrune murmelte etwas vor sich hin und machte mehrere schnelle Bewegungen mit der Hand. Kira fuhr herum, die Hände zum Schlag erhoben… Alle vier Angreifer waren verschwunden. »Wo sind sie hin?« fragte sie verblüfft. »Schätze, du hast sie so das Fürchten gelehrt, daß sie sich davon gemacht haben«, sagte er mit unterdrücktem Lächeln. »Aber du beherrschst deinen Körper sehr gut. Das war wirklich eine beein druckende Vorstellung.« »Ich kann auf mich achtgeben«, meinte sie schlicht. Die vier Angreifer fanden sich in der Polizeistation mehrere Häu serblocks entfernt wieder. Drei hielten immer noch ihre Waffen in der Hand. Der diensthabende Sergeant schaute auf und verzog den Mund zu einem Grinsen. »Fein, fein. Wen haben wir denn da?« Die vier Kerle sahen sich staunend um. Schließlich sagte einer: »Guido…« »Halt’s Maul«, zischte Guido. »Kein Wort mehr, verstanden?« Wyrdrune und Kira stiegen die Treppe zur Haustür seines Wohn blocks hinauf. »Das waren Rozettis Leute«, sagte sie. »Ich habe ein paar von ihnen erkannt. Sie wissen, wo ich wohne.« »Wunderbar.« Er seufzte. »Wirklich phantastisch. Also gut, du
kannst bei mir wohnen, bis uns etwas Besseres einfällt.« Sie warf ihm einen schrägen Blick zu. Er schloß die Haustür auf. »Entspann dich. Ich schlafe auf der Couch. So unwiderstehlich bist du nun auch wieder nicht.« »Übernimm dich nur nicht, um mir einen Gefallen zu tun. Ich schlafe auf der Couch. Aber komm ja nicht auf dumme Gedanken!« Als sie die Wohnungstür öffneten, stand der Besen schon wartend in der kleinen Diele, die Spinnenhände in die Hüften gestemmt – oder an die Stelle, an der die Hüften gewesen wären, hätte er welche gehabt. »Ich hoffe, du bist jetzt zufrieden«, knurrte der Besen. »Das Abendessen ist völlig zerkocht. Ich darf den ganzen Tag am glühenden Ofen stehen – und kümmert das einen? Du hättest wenigstens anrufen können – aber neiiin…« Wyrdrune ließ sich auf die Couch fallen und schloß die Augen. »Mach uns einen Kaffee, Besen!« »Jetzt will er Kaffee«, maulte der Besen. »Ich habe eine Quiche, die wie ein Kartoffelchip aussieht, und er sagt ›Mach uns einen Kaf fee‹. Wunderbar. Aber warum rege ich mich eigentlich auf? Stell mich doch wieder in die Ecke, dann bin ich wenigstens für nichts mehr verantwortlich.« Kira sank in den Lesesessel und legte die Beine auf eine Holzki ste. »Ich kann nicht gerade behaupten, daß es besonders aufregend gewesen wäre.« »Erst wenn wir uns von den verdammten Steinen und voneinan der getrennt haben, werde ich mich wieder wohler fühlen«, brummte Wyrdrune. »Die Dinger haben etwas an sich, das mich in höchstem Maße stört.« »Da ist etwas an dir, das mich in höchstem Maße stört«, sagte Ki ra. »Du scheinst Schwierigkeiten permanent anzuziehen.« Wyrdrune schüttelte die Juwelen aus dem Beutel und betrachtete sie. »Da ist etwas sehr Kraftvolles an den Steinen. Ich kann regel recht spüren, wie es meinen Körper durchströmt. Ich habe das dum me Gefühl, daß unsere Probleme erst anfangen.« Scheich Al’Hassan betrat die dunkle unterirdische Grotte. Er trug die wallende schwarze Seidenrobe eines Zauberers. Sein schwarzer Seidenkaffyeh wurde von dem Kobrakopf-Stirnband gehalten. Der blutrote Rubin in seiner Stirn glühte. So viel Zeit und Aufwand – und die Steine waren ihm einfach ge stohlen worden! Er hatte Jahre damit verbracht, in den staubigen
Archiven des Ministeriums für Archäologie herumzuwühlen, die alten Wälzer und Schriftrollen zu studieren und mit zahllosen ver gessenen Zauberformeln herumzuexperimentieren. Er hatte dabei ungeahnte Risiken auf sich genommen, bis er schließlich über den einen Hinweis gestolpert war, der ihn zu dem geheimen Grab tief im Euphrat-Tal geführt hatte, das dort seit Tausenden von Jahren ver borgen lag. Es gab keine Möglichkeit, das Grab freizulegen, ohne Aufsehen zu erregen. Also hatte er genau das getan. Er nutzte seine Kontakte, die er durch die Internationale Thaumaturgische Kommission besaß, um die richtigen Informationen in den Einflußgremien der Annenda le Corporation in Boston zu plazieren, und ermöglichte so ihren Wissenschaftlern die ›Entdeckung‹ des Grabes. Er selbst spürte so fort die magische Strahlung, die tief aus dem Boden heraufdrang. Diese Dummköpfe hatten jedoch nichts dergleichen bemerkt – nicht einmal ihre Archäothaumaturgen, die nur die Informationen, die er ihnen zuspielte, überprüften und einräumten, daß dort tatsächlich thaumaturgische Artefakte in den Ruinen begraben liegen könnten. Die Gesellschaft hatte sofort eine archäothaumaturgische Ausgra bungserlaubnis beantragt, und Rashid hatte das Ministerium für Archäologie bewegen können, daß man Annendale die Lizenz gab. Es hatte nicht mal großer Überredungskunst bedurft. Trotz der Ent hüllungen über unsaubere Machenschaften, die seinen Vorstandspo sten gefährdeten, trotz der Versuche, ihn aus der ITK auszuschlie ßen, war man seiner Empfehlung gefolgt. Die Offiziellen konnten es sich nicht leisten, den Antrag der Annedale Corporation zurückzu weisen. Diesen Umstand hatte Al’Hassan von vornherein mit einkal kuliert. Die Regierung seines Landes war zerstritten. Die afrikani schen Nationen der VSR hungerten, und überall wurden Flüchtlings camps eingerichtet. Die VSR hatten nicht die Mittel, um eine Expe dition zu finanzieren, die vielleicht auf Jahre hinaus mit den Ausgra bungen beschäftigt sein würde. Die Hardliner im Ministerium für Archäologie hatten zwar darauf gepocht, daß alle archäologischen Schätze, die man innerhalb der Grenzen der VSR fand, deren Eigen tum seien und deshalb auch im Lande bleiben müßten. Der Regie rende Rat dagegen wußte, daß man ihren Wert um ein Vielfaches steigern konnte, wenn man sie zur Versteigerung freigab, anstatt darauf zu hoffen, daß einigen der Artefakte nach jahrelangen Unter suchungen und Tests ein Wert zugeschrieben wurde, den man, in klingende Münze umgesetzt, dringend für die Staatskasse brauchte.
Al’Hassan nutzte die Tatsache, allgemein als der selbstlose Mann angesehen zu werden, der ohne eigenen Vorteil die dringend benötigten Millionen ins Land holte, geschickt dazu, seine Position im Regierenden Rat wieder zu festigen. Er kam mit der Annendale Corporation überein, ihre PR-Abteilung einzusetzen, um für die Entdeckung sowie die Expedition – und letztlich auch für sich selbst – die größtmögliche Publizität zu erreichen. Noch während die Expedition auf die Beine gestellt wurde, arbei tete die Medien-Maschinerie der Annendale-Corporation schon auf Hochtouren, und wenig später fand Rashid sein Foto auf den Titel seiten mehrerer internationaler Magazine. Man berichtete ausführlich über ihn – was zum ersten Mal seine volle Zustimmung fand – und bombardierte ihn mit Einladungen zu Interviews. Sein Gesicht tauch te überall auf. Man schrieb eine Biographie über ihn, die minutiös sein Leben von seiner Kindheit in Ägypten – »…der letzte männli che Sproß einer alteingesessenen Herrscherfamilie, die all ihre Be sitztümer hatte veräußern müssen…« – bis zu seinen Studentenjah ren in Amerika schilderte, wo er bei Ambrosius Merlin höchstper sönlich studiert hatte, wobei sein Studium von einer Regierung fi nanziert wurde, die dringend darauf angewiesen war, daß er thauma turgisches Wissen mit nach Hause brachte. Die Biographie beschrieb seine Karriere in der Regierung der VSR und seine Berufung in den Vorstand der ITK, spielte aber seine notorischen Exzesse stark her unter und stellte sie als harmloses ›Über-die-Stränge-Schlagen‹ eines in größter Armut aufgewachsenen Menschen dar, der erst allmählich lernen mußte, mit seinem plötzlichem Reichtum richtig umzugehen. Seine gelegentlichen Reisen ins Ausland, aus der Staatsschatulle bezahlt, wurden als edle, selbstlose Anstrengungen im Dienste seines Landes gepriesen, um wertvolle Handelsbeziehungen und politische Verbindungen zu knüpfen, die seinem Land die frühere Geltung als eine moderne Weltmacht zurückbringen sollten. Selbst sein Harem von fünfhundert Frauen wurde als Teil seiner Bemühungen darge stellt, die traditionelle islamische Lebensweise wieder in seinem Land zu etablieren. Mit ihm als Vorbild wollte man die breiten Volksschichten dazu bringen, etwas gegen die ständig sinkende Geburtenrate zu unternehmen. Man zeichnete ihn als einen Mann, der jungen Frauen Schutz und Geborgenheit bot, die sonst mittellos auf der Straße hätten leben müssen. Das gleiche galt für seine männ lichen ›Bediensteten‹ – um das Wort Sklaven nicht zu benutzen –, junge Männer, denen er half, indem er ihnen Arbeit verschaffte, und
sein persönliches Vermögen angeblich dazu verwendete, die zu un terstützen, die nichts besaßen. Sein Ruf als ›Playboy‹ – in der autori sierten Biographie war dieses Wort immer in Anführungszeichen gesetzt – wurde lediglich der Anziehungskraft eines reichen, mächti gen Mannes zugeschrieben, dessen Fähigkeit, sich so viele Frauen zu halten, weltweit eine offene Herausforderung für das weibliche Ge schlecht sein mußte. Und während die Expedition im Euphrat-Tal mit den Ausgrabungen langsam vorankam, betrieb Rashid heimlich seinen Imagewandel zu einem engagierten Thaumaturgen, Helfer der Armen, Staatsmann und Menschenfreund. Trotzdem gab es eine Menge Leute, die sich davon nicht täuschen ließen. Er hatte sich viele Feinde gemacht, die sich nicht scheuten, ihrerseits Interviews zu geben. In den vergangenen Jahren war sein Leben ein einziger Morast von Intrigen, Verleumdungen und krimi nellen Machenschaften sowie öffentlichen, unternehmerischen und politischen Machtkämpfen gewesen. Er trieb alles und jedes bis an die Spitze, beherrscht von seiner Besessenheit, die vergessene Magie der Ahnen wiederzuentdecken und selbst der größte Magier zu wer den, der je gelebt hatte – größer sogar noch als sein alter Lehrer Merlin Ambrosius. Dann kam der Tag, an dem die Ausgrabungen beendet waren, und er stand spät in der Nacht in der unterirdischen Grotte, in der er sich auch im Moment befand, und spürte die unglaublich mächtige Strah lung um sich herum. Es belustigte ihn, daß die Konzernvertreter sie nicht bemerkt hatten. Die muffige Luft in der feuchten uralten Gruft war erfüllt davon. Es war eine stärkere Kraft als alles, was er je ver spürt hatte. Sie schien an ihm zu zerren, ihn in die tieferen Abschnit te der Höhle zu ziehen, jenseits der Stellen, an denen die Forscher gegraben hatten, hin zu einer Mammutwand aus solidem Felsgestein. Er wußte, was immer die Quelle dieser Kraft sein mochte, sie befand sich hinter diesem Felsen, begraben hinter unzähligen Tonnen von Gestein. Er hob den Arm, um die Felswand zu berühren, und ein heißer Strom löste sich aus ihr und schoß durch seine Finger in den Arm hinauf, badete seinen ganzen Körper in einer hell strahlenden Aura. Wie angenagelt stand er vor der Wand, seine Schreie hallten dumpf durch das höhlenartige Gelaß, und er bebte am ganzen Körper. Dann brach der Kontakt abrupt ab. Rashid wurde quer durch die Kammer geschleudert und landete hart auf dem Rücken. Dünne Rauchfäden stiegen von seinem Körper auf. Stöhnend stützte er sich auf Hände
und Knie auf. Sengender Schmerz wütete hinter seiner Stirn, als habe ihm jemand ein glühendes Eisen tief in den Schädel getrieben. Er betastete mit einer Hand die Stirn, fühlte Blut darüber hinwegrinnen – und etwas, das vorher noch nicht dort gewesen war… Etwas Har tes, Glattes war durch die Haut seiner Stirn gewachsen, direkt über seinem ›dritten Auge‹. Es brannte – wie weißer Phosphor. Rashid keuchte vor Schmerz und taumelte, die Hände gegen den Kopf ge preßt, durch die Kammer. Und dann sah er, daß die Wand in blauem Feuer erstrahlte. Während er noch ungläubig zu ihr hinüberstarrte, merkte er, wie ihn etwas in ihre Richtung zerrte. Er spürte den Zug, aber kein Widerstreben in sich selbst. Er erreichte den flammenden Fels und trat irgendwie mitten hindurch in die kalte Schwärze einer Kammer, die sich hinter der Wand verbarg. Es war eiskalt darin, eine tiefe, beißende Kälte, die bis auf die Knochen drang. Er konnte nichts sehen. Ein leichter Wind zupfte an seinen Kleidern. Aber wie konnte es in einer Kammer, die von hartem Fels umschlossen war, Wind geben? An den Wänden ringsum brannten Fackeln und erhellten spärlich eine Höhle, die weit größer war als die durch die Grabungen freige legte. Sie war groß genug, um in ihr eine kleine Stadt unterzubrin gen, ein unterirdisches Tal in der Form eines perfekten Kreises. Rie sige Kohlebecken aus Bronze markierten jeweils die Spitzen eines gigantischen Mosaik-Pentagramms aus Obsidian und Gold, das in den Boden der Höhle eingelassen war. Im Zentrum des Pentagramms stand ein Altar aus Tropfstein von der Größe eines kleinen Hauses. Stufen führten zu seiner Plattform, wanden sich wie eine Schlange um den Stalagmiten. Der Wind drängte Rashid auf den Altar zu. Er überschritt die Grenzlinie des Pentagramms, und der Wind wurde stärker, hob ihn schließlich von den Füßen und wehte ihn zur Treppe, wirbelte ihn dort hoch auf die Plattform des Steinaltars und setzte ihn über dem gähnenden Abgrund eines Schlundes ab, der tief in die Erde hinun terreichte. Äußerlich glich er diesen Ritualschächten, die man in den Druidenruinen gefunden hatte, war jedoch von weit größeren Aus maßen. Sein kreisrunder Rand war ebenfalls mit einem Mosaik aus Obsidian und Gold umgeben. Die Mosaiksteine bildeten Runen und verkündeten Buchstabe für Buchstabe eine Botschaft in einer längst vergessenen Sprache. Der Schacht schien bodenlos. Direkt über ihm auf einer vorspringenden Felskante stand eine runenbeschriftete Truhe aus purem Gold.
Rashid schob sich vorsichtig zu der schmalen Felsleiste hinüber und berührte die Truhe. Er versuchte sie zu bewegen, aber sie schien wie an den Fels festgeschweißt. So sehr er sich auch mühte, er konn te sie nicht öffnen. Plötzlich spürte er, wie der Edelstein, der ihm aus der Stirn gewachsen war, heiß wurde. Sein Kopf flog nach hinten, als ein scharfer, grellweißer Lichtstrahl aus dem Juwel hervorschoß und die Truhe traf. Wie ein Industrielaser fraß er in Höhe des Deckels eine Naht in die Truhe. Das Gold verflüssigte sich, die Runen auf der Truhe zerliefen. Schließlich sprang der Deckel auf. Vorsichtig griff Rashid in den noch rauchenden Behälter und nahm den einzigen Gegenstand darin, ein kleines Kästchen, heraus. Es war ein schlichtes Schmuckkästchen aus Bronze. Rashid öffnete es. Darin lagen drei kleine Runensteine, grobgeschnittene, unge schliffene Edelsteine – ein Rubin, ein Saphir und ein Smaragd. Ras hid schloß den Deckel des Schmuckkästchens wieder und warf einen Blick über den Felsrand in die Tiefe. Und auf einmal wußte er, was sich am Grunde des Schlundes be fand. Er benötigte all seine Kraft, um das Schmuckkästchen die Stufen in dem Stalagmiten herunterzutragen und die Grenzlinien des Penta gramms zu überschreiten. Das Kästchen war schwerer und schwerer geworden, und es schien seine Kräfte gierig aufzusaugen. Schließlich konnte er es nicht mehr tragen und mußte es Zoll um Zoll über den Höhlenboden schieben. Der Schweiß rann ihm in Strömen übers Gesicht. Er merkte, wie seine Kräfte nachließen; doch irgend etwas erneuerte sie und trieb ihn weiter. Schließlich schaffte er es, den kleinen Kasten über die Grenzlinie aus dem Pentagramm hinauszu schieben. Urplötzlich wich die Schwere von dem Behälter. Rashid richtete sich schweratmend auf und hob ihn ohne Schwierigkeit mit einer Hand hoch. Er ging durch die Felswand zurück, die in einem blauen Flammenmeer versank, als er wieder in die äußere von den Grabungsteams freigelegte Kammer trat. Er blieb stehen, einerseits völlig erschöpft und doch wieder von einer überschäumenden Freude erfüllt. »Alles in Ordnung mit Euch, Euer Hoheit?« Zwei Sicherheitsposten des Konzerns traten in die Kammer, und die Strahlen ihrer Taschenlampen fuhren über ihn hinweg. Rashid wollte vor ihnen zurückweichen, besann sich aber im letzten Mo ment.
»Ja, ja, mir geht es gut«, meinte er keuchend, kaum in der Lage, auf den Beinen zu stehen. Er fühlte sich schwindlig und einem Zu sammenbruch nahe. »Ihr seid schon so lange hier unten, daß wir uns allmählich Sor gen gemacht haben«, meinte der zweite Posten. »Wir wollen Euch gewiß nicht stören, aber es ist wirklich besser, wenn Ihr jetzt mit uns nach oben geht. Hier unten kann es gefährlich sein. Die Luft ist nicht besonders gut.« »Ja, das stimmt«, antwortete Rashid schweratmend und nickte schwach. »Ja, vielleicht ist es besser.« Damit schwanden ihm die Sinne, und er brach zusammen. »Gebt acht, Hoheit!« Die Posten hoben ihn hoch und stellten ihn auf die Füße. Der eine legte sich Rashids Arm über die Schulter. »Was hat er denn da?« fragte der andere und hob das Schmuck kästchen auf. »He, sieh dir das an! Er hat ein Artefakt gefunden, das die anderen übersehen haben müssen.« »Wir bringen Euch besser sofort nach oben, Hoheit«, sagte der er ste Posten, als Rashid aufstöhnte. »Entspannt Euch, dann wird es Euch gleich besser gehen.« Es währte einen ganzen Tag, bis er wieder soweit bei Kräften war, auf eigenen Beinen zu stehen, und zu dem Zeitpunkt lagen die Ru nensteine längst mit den anderen Artefakten dem Prüfausschuß der ITK zur Begutachtung vor. Es gab keine Möglichkeit für Rashid, sich die Steine wiederzuholen, da die anderen sie nicht aus den Au gen ließen. Hätte er versucht, sie mit Hilfe der Magie zu sich zu teleportieren, wäre ihr Diebstahl umgehend bemerkt worden, und die anderen Magier hätten sofort gespürt, daß jemand seine Zauberkräfte eingesetzt hatte. Trotzdem hatte er noch kurz vor ihrer Verschiffung zur Auktion in die Staaten versucht, die Steine auf thaumaturgischem Weg zu stehlen. Aber die Steine hatten seinem Versuch widerstan den. Kein Grund zur Aufregung, sagte er sich. Dann würde er sie halt bei der Auktion ersteigern. In Anbetracht seines riesigen Vermögens war es unwahrscheinlich, daß jemand ihn überbot – wenn nicht gera de irgendein Konzern sein Interesse an den Steinen bekundete und sich entschloß, gegen ihn zu bieten, weil die Leute vielleicht dach ten, er wüßte etwas, das sie nicht wußten. Um das zu verhindern, hatte er Mustafa als seinen Bevollmächtigten nach Amerika ge schickt, um die Steine zu erwerben. Und der Idiot hatte die Sache prompt verpfuscht. Er hatte sich die Steine unter der Nase wegsteh
len lassen. Nun, dafür hatte er Mustafa einen Vorgeschmack dessen geboten, was ihm blühte, wenn er erneut versagte. Mustafa würde diese Lektion nie mehr vergessen. Jedesmal, wenn er in einen Spie gel sah, würde er daran erinnert, daß Rashid ihm die Hälfte seines Lebens genommen hatte, und wissen, daß ihn noch viel Schlimmeres erwartete, wenn er ihn nochmals enttäuschte. Die Runensteine wür den schon bald wieder in seinem Besitz sein. Und dann konnte es endlich beginnen. Er ging durch die sprühende Wand, stand wieder in der versiegel ten Kammer, und die Fackeln erhellten seinen Weg. Er überschritt die Grenzlinie des Pentagramms und fühlte, wie die fremde Macht ihn durchströmte. Er stieg zu dem Altar empor und trat an den Fels vorsprung. Der Wind blies aus dem Schlund empor und badete ihn in seinem eisigen Hauch. »Bald, meine Herren und Gebieter…« Rashids tiefe Stimme hallte dröhnend durch die Höhle. »Ihr habt über 2000 Jahre lang gewartet, und jetzt ist der Zeitpunkt nah. Bald werdet ihr frei sein!«
KAPITEL
W
VIER
yrdrune lag ausgestreckt auf seinem Lager und sah sich auf einem kleinen tragbaren Fernseher, der in halber Höhe über seinem Bett schwebte, die Morgennachrichten und -Kommentare an. »Und nun eine Zusammenfassung der letzten Nachrichten«, sagte die hübsche Sprecherin gerade. »Dazu schalten wir zu Bill Foster in die Nachrichtenzentrale.« »Danke, Jane«, sagte Foster artig. »Die Polizei sucht immer noch nach Hinweisen zu diesem dreisten Raubüberfall, der gestern mor gen während der Versteigerung der Euphrat-Artefakte bei Christie’s verübt wurde. Gestohlen wurde ein Set von drei Runensteinen mit unbekannten Eigenschaften – ein Saphir, ein Rubin und ein Smaragd –, grobgeschnittene ungeschliffene Steine, die neben ihrem un schätzbaren thaumaturgischen Wert einen geschätzten Verkaufswert von über 250.000 Dollar haben.« »Zweihundertfiinzigtausend…!« Wyrdrune setzte sich ruckartig auf – und stieß heftig mit dem Kopf gegen die Decke. »Diese ver dammten Bastarde haben uns betrogen!« fluchte er stöhnend. »Du meinst, wir haben sie betrogen!« korrigierte ihn Kira, die ge rade ins Zimmer kam. »Immerhin haben wir die Steine noch, erin nerst du dich?«
»Still, ich will das hören.« »…die Polizei befragt immer noch die Zauberer, die bei der Ver steigerung anwesend waren«, sagte der Nachrichtensprecher. »Au genzeugen konnten eine ungefähre Personenbeschreibung der Täter liefern, nach denen die Polizeizeichner diese Phantombilder anfertig ten.« Im nächsten Moment erschien das Bild eines alten Mannes mit einer großen Hakennase, einem langen weißen Bart und schulterlan gen weißen Haaren auf dem Schirm – Wyrdrune in seiner Verklei dung als alter Zauberer, anhand der Zeichnung kaum wiederzuer kennen – und ein bemerkenswert gutes Bild von Kira. »Na wunderbar!« meinte sie trocken. »Die Polizei sucht nach zwei Verdächtigen«, fuhr der Sprecher fort. »Der ältere Mann dürfte zwischen 60 und 70 Jahre alt, etwa 5,6 Fuß groß und ungefähr 140 Pfund schwer sein. Angeblich ist er ein Zauberer, der während der Tat eine dunkelgrüne Robe und einen breitrandigen Hut trug. Das Aussehen des jüngeren Mannes wird wie folgt beschrieben…« »Was meinen die mit der jüngere Mann…?« »Schsch…!« »…etwa 17 oder 18 Jahre alt, dunkelhaarig, möglicherweise spa nischer Abstammung, etwa 5,5 Fuß groß, Gewicht zirka 120 Pfund. Zuletzt trug er eine neomittelalterliche schwarze Lederjacke und Schaftstiefel. Beide Männer werden als sehr gefährlich eingeschätzt. Die Polizei hat für Hinweise eine spezielle Telefonleitung geschaltet – die Nummer sehen Sie jetzt eingeblendet – und Scheich Rashid Al’Hassan, der Koordinator der Annendale-Expedition bei der Re gierung der VSR, hat für Hinweise, die zur Ergreifung der Täter und zur Wiederbeschaffung der Runensteine führen, eine Belohnung von 50.000 Dollar ausgesetzt. Eine weitere Belohnung von 25.000 Dollar wurde von der Boston Mutual Versicherungsagentur ausgeschrieben, bei der die Artefakte versichert waren.« »Oh, phantastisch!« rief Kira. »Jetzt haben wir jeden ZweiDollar-Informanten in der Stadt…« »Willst du wohl still sein?« »Auf internationaler Ebene zieht die Kontroverse um die ITKUntersuchungen über die Aktivitäten von Scheich Rashid Al’Hassan, der einen Sitz im Regierenden Rat der Vereinigten Semitischen Re publiken innehat, weite Kreise. Ihm wird vorgeworfen…« Nachdenklich machte Wyrdrune eine Handbewegung in Richtung
des Fernsehers, und der Ton wurde leiser. »Also, ich weiß nicht, worüber du dich sorgst«, meinte er. »Nach diesem Phantombild kann mich keiner erkennen, und dich halten sie für einen Mann.« »Einen Mann?« Sie riß sich die Lederjacke vom Leib und warf sie wütend zu Boden. Darunter trug sie eine enge weiße Tunika aus glattem Stoff, durch den ihre Brustwarzen deutlich zu sehen waren. »Wirke ich vielleicht auch auf dich wie ein Mann?« Wyrdrune räusperte sich unbehaglich. »Das liegt wohl an der Art, wie du dich kleidest.« »Und was ist falsch an der Art, wie ich mich kleide?« »Nichts«, sagte er schnell. »Aber du mußt doch zugeben, daß sie nicht sehr… nun, sagen wir, feminin ist…« »Feminin? Was soll das heißen – feminin? Soll ich etwa eines dieser bodenlangen Schickimicki-Kleider tragen, vielleicht noch mit Rüschenkragen und so einem niedlichen goldenen Gürtelband, das wie ein Richtungspfeil auf meine Pussy zeigt?« »Schickimicki…?« »Du weißt genau, was ich meine! Nur weil ich mich nicht anziehe wie die Schnallen in den Sexphantasien der Männer…« »Augenblick mal, beruhige dich doch…« »… bedeutet das noch lange nicht, daß ich…« »Kinder, Kinder!« knarrte der Besen und schwankte in das Zim mer. »Das reicht jetzt! Kommt ihr nun zum Frühstücken rüber, oder wollt ihr euch weiter die Köpfe einschlagen, während meine Ome letts in der Pfanne zu Hockeypucks werden? Habt ihr schon mal kalte Omeletts gegessen? Das ist pervers, glaubt mir!« »Wie würde es dir gefallen, zur Abwechslung mal zu einem Zahnstocher zu werden?« zischte Kira, packte blitzschnell den Be senstiel und hob ihn vom Boden hoch. Der Besen begann laut zu würgen. »Setz ihn ab«, sagte Wyrdrune. »Bitte!« Sie ließ den Besen los. »Welch eine Unfreundlichkeit!« keuchte der Besen. »Als hätte ich nicht schon genug Probleme mit Melvin dem Zauberer. Nein, er muß auch noch unbedingt eine mordlüsterne Sado&Maso-Queen mit nach Hause bringen! Weh mir, der Ärger nimmt kein Ende…« »So ist es«, fauchte Kira. »Ich werfe diesen Mop gleich aus dem Fenster.« »Mop?« rief der Besen. »Ich ein Mop? Was sagt man dazu? Faß mich nicht an! Wage ja nicht, die Hand gegen mich zu erheben! Und
du, Melvin, liegst nur da und läßt zu, daß man mich so beleidigt?« »Wenn du jetzt nicht sofort dein Maul zumachst, wo immer das auch sein mag, stecke ich dich in die Abfalltonne und mangele dich durch den Müll!« tobte Kira. »Du solltest dich mal hören«, sagte Wyrdrune. »Du streitest dich mit einem Stück Holz, verdammt!« »Also, das schmeckt mir nun wirklich!« Der Besen war nicht zu bremsen. »Das muß ich mir nicht anhören. Offensichtlich bin ich hier nur ein Sklave! Da arbeitet man sich die Hände wund, putzt, kocht und wäscht, wischt den Boden und macht Jagd auf Kakerlaken – und das ist dann der Dank dafür! Also schön! Macht euch euer verdammtes Frühstück selbst. Wenn ihr mich braucht – ich bin im Schrank und verzehre mein Herz!« »Er verzehrt sein Herz?« Kira glaubte sich verhört zu haben. Wyrdrune begann plötzlich zu kichern, und im nächsten Moment lachten beide lauthals. »Wo, zum Teufel, hast du dieses Ding her?« fragte Kira und wischte sich die Lachtränen von den Wangen. »Er gehörte meiner Mutter. Ich habe ihn während meines ersten Jahres auf dem thaumaturgischen College zum Leben erweckt, damit sie jemand hatte, der auf sie achtgab, wenn ich nicht da war. Er ist zwar eine Nervensäge, aber trotzdem ist es schön, ihn um mich zu haben. Außerdem erinnert er mich an meine Mutter.« »Lebt sie noch?« »Nein, sie starb vor drei Jahren.« »Oh, das tut mir leid. Und was ist mit deinem Vater?« »Ich habe ihn nie kennengelernt.« »Das ist hart. Auch ich habe meine Eltern nie gesehen.« »Wirklich nie?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin in Pflegeheimen aufgewachsen. Mit zwölf Jahren bin ich dann getürmt. Seitdem lebe ich allein.« »Seit deinem zwölften Lebensjahr? Wie hast du denn da gelebt?« »Ähnlich wie jetzt. Man tut eben, was man tun muß, wächst auf der Straße auf und lernt zu überleben. Es ist zwar hart, aber tatsäch lich so, wie man sagt: Was dich nicht umbringt, macht dich stärker.« »Ich muß dir sagen, so jemand wie du ist mir bisher noch nicht begegnet.« »Ja, also…« Ihre Blicke kreuzten sich für einen kurzen Moment, dann schauten beide rasch beiseite. »Komm, frühstücken wir, ehe die Eier ganz kalt werden.«
»Ehh… könntest du bitte im anderen Zimmer warten? Ich bin noch nicht ganz angezogen«, brummte Wyrdrune verlegen. »Oh – natürlich. Entschuldige.« Wenige Minuten später kam er in die Küche. Kira goß für beide Kaffee ein. Sie deutete mit einem Kopfnicken auf den Wandschrank. »Er ist immer noch da drin und schmollt. Ich habe versucht, mich zu entschuldigen, aber er kommt nicht raus.« Wyrdrune grinste. »Was ist denn daran so lustig?« »Nichts. Ich habe mir nur gerade vorgestellt, wie du vor dem Schrank stehst und dich bei einem Besen entschuldigst.« »Jetzt setz dich endlich und trink deinen Kaffee. Ich weiß nicht, wie du ihn magst.« »Mit Milch und Zucker.« »Stehen auf dem Tisch. Also, Zauberkünstler, was ist unser näch ster Schritt?« Er seufzte. »Jetzt hast du mich erwischt. Wenn deine UnterweltFreunde wissen, wo du wohnst, kannst du nicht nach Hause zurück. Sie werden die Wohnung beobachten und auf dich warten. Für einige Zeit dürften wir hier bei mir sicher sein. Aber wir sollten schnell stens herausfinden, was mit den Steinen los ist. Um so eher wissen wir dann, was wir mit ihnen machen werden.« »Und wie stellst du dir das vor?« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich habe gestern bis spät in die Nacht meine Bücher gewälzt, ehe mir klar wurde, daß ich darin nichts über die Steine finden würde. Denn sonst hätten ja auch die Expeditionsteilnehmer mehr über sie gewußt – was offensichtlich nicht der Fall war. Sie wurden als verzauberte Runensteine mit un bekannten Fähigkeiten klassifiziert. Leider fehlt mir die Geschick lichkeit oder das nötige Wissen, um hinter ihre Funktion zu kom men.« »Und wer kann das?« Er schürzte die Lippen. »Da fällt mir nur ein einziger Mensch ein, aber ich weiß nicht, ob er mich nach alldem, was geschehen ist, überhaupt noch sehen will.« »Und wer ist das?« »Mein alter Professor oben in Cambridge.« Aus dem Schlafzimmer ertönte ein lautes Krachen. Glas zersplit terte auf dem Boden. »Was, zur Hölle, war das?« flüsterte Kira.
Wyrdrune verbarg sein Gesicht in den Händen. »Mist. Das war mein Fernseher. Ich habe vergessen, daß er noch in der Luft schweb te.« Sie schnitt eine Grimasse. »Tu mir einen Gefallen, ja? Wenn wir uns entschließen sollten, nach Boston zu fahren – dann laß uns den Zug nehmen, okay?« Lieutenant Dominic Riguzzo legte den Telefonhörer auf und rieb sich das Nasenbein. Am Schreibtisch gegenüber zündete sich Ketten raucher Detective Sergeant Allan Cleary die nächste Zigarette an. Riguzzo verzog das Gesicht und wedelte den Rauch beiseite, der ihm entgegenwallte. »Verdammt, Al, mußt du hier drinnen immer diese schrecklichen Dinger rauchen?« »Wenn dich das so sehr stört, warum tauschst du dann nicht mit einem anderen deinen Schreibtisch?« »Machst du Witze? Wer würde denn schon mit mir tauschen? Denkst du vielleicht, ich hätte nicht schon längst gefragt? Außerdem verpesten deine Zigaretten den gesamten Wachraum. 160 Cops gibt’s in diesem verdammten Revier, und ich muß ausgerechnet den Platz gegenüber dem einzigen Raucher erwischen. Du wirst mich noch damit vergiften.« »Sie sind aus Kräutern, Dom. Nicht karzinogen.« »Erzähl das mal meinen Lungen. So oder so, sie stinken.« »Schon gut, schon gut«, brummte Cleary und drückte die Zigaret te in einem Glasaschenbecher aus. »Bist du nun zufrieden?« »Ja, vielen Dank!« »Was war mit dem Anruf? Bringt der uns weiter?« »Kaum. Nur wieder ’ne Anfrage.« Riguzzo schnitt eine Grimasse und nahm einen Schluck von seinem Kaffee, der längst kalt gewor den war. »Sieht so aus, als ob jeder, möglichst noch mit der Schwie germutter im Schlepptau, seine Nase in die Angelegenheit steckt. Aber wenn du’s unbedingt hören willst – es war kein Geringerer als Seine Exzellenz, der Generalbevollmächtigte der VSRGesandtschaft. Ahmad Pasta Fazool oder so ähnlich, jedenfalls einer dieser Namen, an denen du dir die Zunge brichst, wenn du sie aus sprichst. Der Kerl wollte wissen, ob wir bei unseren Nachforschun gen weiterkommen, und stellte jede Menge Forderungen bezüglich der Rückgabe der Steine und der Auslieferung der Diebe an die VSR.« »Auslieferung?« knurrte Al Cleary. »Wieso Auslieferung? Das Verbrechen geschah in unserem Zuständigkeitsbereich.«
»Erzähl du ihm das doch beim nächsten Mal, okay? Ich hab’s langsam satt, mich mit diesen Leuten herumzuschlagen. Ich weiß nur, daß ich dann sofort das Außenministerium am Hals hätte.« »Du weißt, was sie da drüben mit Dieben machen?« fragte Clea ry. »Ganz ehrlich, Al – mir ist es egal.« »Sie hacken ihnen die Hände ab, so ist das. Keine schlechte Idee, wenn du mich fragst. Senkt enorm die Zahl der Wiederholungstäter.« Er lachte bellend. »Du verstehst?« »Sicher doch, Al, sicher.« Riguzzo starrte auf ein zerknülltes Stück Zeitung, das er auf dem Schreibtisch glattgestrichen hatte. Ein Ausschnitt aus der Times. Ein paar Sätze waren unterstrichen, Sätze, die die gestohlenen Gegen stände beschrieben. »Das gibt doch keinen Sinn!« murmelte er. »Was macht keinen Sinn?« fragte Cleary und sah von seinem Pa pierkram auf. »Irgendwas stört mich daran«, erklärte Riguzzo stirnrunzelnd. »Wir könnten in dieser Sache völlig danebenliegen.« »Und wieso?« »Weil die Tat mit Hilfe von Magie durchgeführt wurde, gehen wir davon aus, daß der Bursche, der die Edelsteine gestohlen hat, es nur darum tat, um sie bei irgendeiner Art Zauber einzusetzen. Vielleicht handelt es sich auch um ein Verbrechen der Konzernleute. Vielleicht haben sie etwas über die Steine herausgefunden, das sonst niemand wußte. Aber außer der Tatsache, daß die Diebe nur mit Hilfe eines Zaubers entkommen konnten, haben wir nichts in der Hand, das diese Theorie stützen würde.« »Da komme ich nicht ganz mit. Worauf willst du hinaus?« »Dieser zerknüllte Zeitungsausschnitt, den wir am Tatort gefun den haben…« »Yeah, war ’ne ganz schöne Schweinerei da. Was haben sie ge sagt – ein Wasserschaden von 150.000 Dollar?« »Zwar ist die Tinte etwas verschmiert, aber siehst du hier die Zei len, die unterstrichen sind?« Cleary kam um den Schreibtisch herum, stellte sich neben ihn und sah sich den Zeitungsausschnitt an. »Und?« »Und – das hier. Jeder, der zu der Auktion eingeladen war, erhielt einen Prospekt zugeschickt. Eins von diesen Dingern hier.« Riguzzo hielt eine gedruckte Broschüre mit Farbfotografien hoch, öffnete sie und blätterte die Seiten durch. »Hier«, sagte er, legte die Broschüre
auf den Schreibtisch und zeigte auf das aufgeschlagene Foto. Es zeigte ein offenes Schmuckkästchen aus Bronze mit den Steinen darin. Darunter wurde die Abbildung detailliert beschrieben. »Und?« fragte Cleary erneut. »Ich kapiere immer noch nicht.« »Genau das ist es ja«, brummte Riguzzo. »Ich auch nicht. Wir ha ben hier eine Abbildung der gestohlenen Kunstgegenstände mit einer genauen Beschreibung. Wieso haben wir nicht eine solche Broschüre gefunden – mit unterstrichenen Zeilen in der Beschreibung oder einer sonstigen Markierung? Wieso einen ausgeschnittenen Zei tungsartikel? Die Broschüren wurden vor der Versteigerung an jede größere Gesellschaft und an alle unabhängigen Zauberer verschickt, die im Verband für Thaumaturgie eingetragen sind. Außerdem konn te man sie telefonisch oder schriftlich anfordern. Dagegen zeigt der Zeitungsartikel nicht mal ein Foto.« »Du denkst also, der Täter war kein Adept, der im Verbandsregi ster eingetragen ist«, meinte Cleary. »Aber wie kommst du darauf? Man bekommt doch keine Lizenz für die Ausübung von Magie, wenn man nicht im Verband gemeldet ist.« »Genau. Warum sollten die Täter diesen Artikel ausschneiden und den Absatz über die Edelsteine unterstreichen, wenn sie den offiziel len Unterlagen alle näheren Einzelheiten über die Auktion und die Versteigerungsobjekte entnehmen konnten? Wahrscheinlich suchen wir die Verdächtigen unter den falschen Leuten.« Cleary zuckte die Achseln. »Es sei denn, der Junge hätte die Sa che ausbaldowert und sich einen Hexenmeister gesucht, der ihm bei dem Diebstahl half.« »Aber warum sollte ein Hexenmeister den Jungen zum Kompli zen nehmen? Warum hat er die Sache nicht allein durchgezogen? Nein, das gefällt mir nicht. Es paßt einfach nicht zusammen. Viel leicht sollten wir doch die Leute näher unter die Lupe nehmen, die ihre thaumaturgischen Examen abgelegt haben, sich aber nicht regi strieren ließen. Jemand, der genug über Magie weiß, um gefährlich werden zu können, aber keine Lizenz zum Praktizieren hat.« »Würde jemand es tatsächlich wagen, mit langen Haaren und der Robe eines Zauberers herumzulaufen?« meinte Cleary zweifelnd. »Er könnte sich dadurch selbst ’ne Menge Ärger einhandeln.« »Das stimmt – wenn sie es so gemacht hätten. Aber was ist, wenn die langen Haare und die Robe nur eine Verkleidung waren, um uns glauben zu machen, ein Zauberer hätte die Tat begangen? Hör zu, wir haben die Spur dieses Burschen, den der Taxifahrer uns be
schrieben hat, bis ins Plaza Hotel zurückverfolgt. Dort hat ihn der Fahrer aufgenommen. Aber nur den Alten, nicht den Jungen. Der Portier erinnert sich daran, daß der Alte an dem Tag mehrmals das Hotel betreten und wieder verlassen hat, aber die Angestellten am Empfang können sich partout nicht an ihn erinnern. Auch hat nie mand den Jungen gesehen oder eine Person, die seiner Beschreibung entspräche. Wir haben die Adepten, die im Hotel angemeldet waren, überprüft. Sie sind alle sauber.« Riguzzo schüttelte den Kopf. »Nein, ich sage dir, die Sache stinkt.« Er tippte sich an die Nase. »Mein Riechkolben sagt mir, daß wir auf der falschen Fährte sind. Außer dem gefällt mir die Kombination alter Mann und Straßenjunge nicht. Wie soll der Bursche das gemacht haben? Hat er vielleicht das Ding allein geplant und dann seinen Großvater mit dazugenommen?« »Du denkst, es könnten zwei junge Langfinger gewesen sein, die sich den dicken Fisch an Land gezogen haben, und einer von ihnen war verkleidet? Warum haben sich dann nicht beide verkleidet?« Riguzzo schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Vielleicht ist et was schiefgelaufen. Vielleicht war gar nicht geplant, daß der Junge das Ding selbst dreht. Vielleicht sollte er nur dabei helfen. Denk daran, keiner der Zeugen hat eine Person hereinkommen sehen, auf die die Beschreibung des Jungen zutrifft, nicht wahr? Was sagt dir das?« »Daß der Knabe beim Betreten der Auktionshalle auch verkleidet gewesen sein muß«, antwortete Cleary. »Genau. Es war eine große Auktion mit vielen Leuten. Die Zulas sungen oder Vollmachten wurden nur am Zuschlagstisch beim Kauf der Objekte geprüft. Man war sich einfach zu sicher, das gemeine Fußvolk und die Kameras ausgesperrt zu haben. Also konnte jeder hineinspazieren, der nur das richtige Aussehen hatte. Weißt du, was ich glaube? Ich glaube, sie haben die Steine nicht gestohlen, um sie einzusetzen, sondern um sie zu verscherbeln.« »Yeah, könnte schon sein«, nickte Cleary. »Das ergäbe einen Sinn. Was hältst du davon, wenn wir mal unseren wenig achtbaren Händlern in unserem Bezirk ’nen Besuch abstatten?« »Ich hole nur meinen Mantel«, sagte Riguzzo. »Wollen doch mal sehen, ob was aus den Bäumen fällt, wenn wir sie schütteln.«
KAPITEL
P
FÜNF
orfirio Rozetti aß gerade Pasta mit Muschelsoße, als die zwei Detectives das Restaurant betraten. Bei ihrem Anblick rollte er mit den Augen und verzog das Gesicht. »Guido, geh hin und frag, was sie wollen.« Ein Mann mit der Statur eines Neandertalers, stand vom Tisch auf, fuhr sich mit der Serviette, die er sich hinter den Kragen ge steckt hatte, über den Mund und ging rasch auf Riguzzo und Cleary zu, die sich langsam dem Tisch näherten. Die Serviette schwang vor seiner Brust hin und her. »Was kann ich für die Gentlemen tun?« fragte er mit tiefer, guttu raler Stimme in unverkennbarem Brooklyn-Dialekt. »Du kannst uns aus dem Weg gehen, Guido«, antwortete Riguz zo. »Du nimmst uns die Sonne weg. Ich will deinen Boß sprechen.« »Mr. Rozetti ißt gerade.« »Ich werde mir Mühe geben, ihm nicht den Appetit zu verder ben«, brummte Riguzzo, drängte sich an ihm vorbei und ging auf den Ecktisch zu. Rozetti seufzte tief, zerknüllte seine Stoffserviette und warf sie auf den Tisch. Verärgert sah er zu Riguzzo hoch. »Was willst du schon wieder, Riguzzo? Hat man nicht mal beim
Essen Ruhe vor dir?« »Hallo, Pony.« Riguzzo war die Liebenswürdigkeit in Person. »Was macht das Wettgeschäft? Laufen die Gäule auch nach Plan?« »He, Mann, davon kann überhaupt keine Rede sein. Mit der Buchmacherei habe ich nichts mehr zu tun. Man hat mich rehabili tiert, wußtest du das nicht? Ich bin jetzt ein respektabler Geschäfts mann.« »Aber sicher bist du das. Was dagegen, wenn wir uns setzen?« »Wenn’s unbedingt sein muß. Guido, Louie, Mark, verschwindet an die Bar und trinkt was.« Die drei Gorillas verließen den Tisch. Die zwei Detectives setzten sich zu Rozetti. »Was kann ich für euch tun?« fragte der Hehler. »Wollt ihr etwas Pasta?« »Danke, ich verzichte«, meinte Riguzzo. »Eigentlich sind wir nur auf ein kurzes Schwätzchen vorbeigekommen.« »’n Schwätzchen? Was soll das, Riguzzo? Oder ist euch Bullen neuerdings das Revier ’n bißchen zu einsam? Verdammt, Riguzzo, was willst du von mir?« »Ich möchte einigen Papierkram auf meinem Schreibtisch los werden. Ich dachte, du könntest mir dabei vielleicht etwas behilflich sein.« »Sehe ich aus wie ’ne Sekretärin? Was für Papierkram?« »Hängt mit der Nummer zusammen, die kürzlich bei Christie’s gelaufen ist.« »Ach ja? Und wie kommst du zu der Annahme, daß ich was dar über wüßte?« »Machen wir’s kurz, okay? Wir haben es hier mit einer hochsen siblen Angelegenheit zu tun. Mit einem Diebstahl, von dem eine große Gesellschaft und eine ausländische Nation betroffen sind, ’ne ganze Menge Leute sind darüber ziemlich sauer. Mit anderen Wor ten: Die Sache macht mir ziemliche Kopfschmerzen.« »Tut mir leid, das zu hören. Willst du ’n Aspirin?« »Ja, eigentlich hätte ich nichts dagegen. Hast du ’ne Tablette?« »He, Guido, besorg dem Detective hier mal ’n paar Aspirin!« rief Rozetti zur Bar hinüber. »Wie lange kennen wir uns jetzt schon, Pony?« fragte Riguzzo. Rozetti hob die Schultern. »Weiß nicht genau. Vielleicht zwanzig, dreißig Jahre.« »Ungefähr kommt das hin. Habe ich bei dir jemals faule Tricks
versucht?« »Nein, nein, das muß ich zugeben. Für ’nen Cop bist du eigentlich verdammt fair. Okay, spielen wir mit offenen Karten. Was willst du?« »Ich will hier ’nen kleinen Kuhhandel machen, Pony«, meinte Ri guzzo leichthin. »Mit Tieren kennst du dich ja bestens aus.« »Nun laß endlich die Witze. Komm zur Sache. Welchen Deal willst du mir vorschlagen?« »Ich könnte dir Straffreiheit verschaffen – für den Anfang.« Guido brachte das Aspirin und ein Glas Wasser. Riguzzo spülte zwei Tabletten hinunter. »Danke, Guido. Und nun geh schön brav und bring ein Mastodon oder sonst was Nettes um die Ecke.« Damit wandte er sich wieder Rozetti zu. »Ich könnte es auch so drehen, daß du die Belohnungen kassierst, die für die Wie derbeschaffung der Steine und die Festnahme der Täter ausgesetzt sind. Zusammen ein hübsches Sümmchen von 75.000 Dollar. Nur fürs Rumsitzen und ’n paar Hinweise zwischen zwei Gabeln Pasta ist das doch nicht schlecht, oder?« »Nein, nein, hört sich gut an. Aber angenommen, ich wüßte tat sächlich was über die Sache, wofür bräuchte ich euch dann, um die Belohnung zu kassieren? Was sollte mich davon abhalten, zur Bo ston Mutual zu gehen und denen ’n paar Hinweise zu geben?« »Ich sehe, du weißt also was über die Sache«, meldete Cleary sich zu Wort. »Hast deine Finger drin, stimmt’s?« »Mit irischen Cops rede ich nicht«, erklärte Rozetti. »Also, was sollte mich davon abhalten?« »Eigentlich nichts«, sagte Riguzzo. »Wenn du wirklich so naiv bist zu glauben, daß die Boston Mutual einem Mann mit deinem Vorstrafenregister einfach 25.000 Dollar hinblättert, anstatt dir das Geld mit einer plausibel klingenden Entschuldigung zu verweigern – geh nur! Und wenn du schon dabei bist, kannst du auch gleich zur Botschaft der Vereinigten Semitischen Republiken gehen und versu chen, deren 50 Riesen zu bekommen. Aber im Moment sind sie ganz wild darauf, die Auslieferung der Diebe zu erreichen – bevor wir sie überhaupt haben. Und sollten sie auf die naheliegende Idee kommen, daß du irgendwas mit dem Coup zu tun hast, werden sie dich be stimmt nicht sonderlich freundlich behandeln. Sicher, sie sind hier außerhalb ihrer Zuständigkeit. Aber Scheich Al’Hassan ist ein sehr wohlhabender und einflußreicher Mann – und er soll wegen des Diebstahls ziemlich wütend sein, wie ich hörte.«
»Du willst doch sicher nicht, daß der Scheich denkt, du würdest in der Sache drinhängen, Rozetti, oder?« Cleary klopfte Rozetti freund schaftlich auf den Rücken. »Gorillas wie Guido würden bei ihm nicht mal ’nen Schweißausbruch bewirken.« »Dich mag ich nicht!« Rozetti stieß mit dem Zeigefinger nach Cleary. »Also schön«, wandte er sich dann an Riguzzo. »Kommen wir zur Sache und reden Klartext miteinander. Du sagst, du garan tierst mir volle Straffreiheit – für den Fall, daß sich irgendwelche Anklagepunkte ergeben. Und du wirst was arrangieren, um das Geld für mich zu kassieren, denn natürlich will ich als Informant anonym bleiben. Ist das so richtig?« »Ja. Was meinst du dazu?« Rozetti rieb sich das Kinn. »Keine faulen Tricks?« »Keine Tricks. Du kratzt meinen Pelz, und ich kratz dir deinen. Und vielleicht – aber nur vielleicht! – tue ich dir irgendwann auch mal ’nen Gefallen – wenn er sich im Rahmen hält.« »Tatsächlich?« »Tatsächlich. Was ist nun?« Rozetti rieb sein Kinn heftiger. »Okay, Riguzzo, wir machen den Handel.« Über den Tisch hinweg reichten sie sich die Hand. »Also«, begann Rozetti, »ihr Jungs sucht unter den falschen Leu ten. Diesen Bericht, den ich da in den Nachrichten gesehen habe, könnt ihr vergessen. Damit liegt ihr meilenweit daneben. Ihr solltet nicht nach einem alten Zauberer und einem Jungen suchen. Ihr soll tet nicht mal nach zwei Männern suchen. Ein Pärchen wäre da schon richtiger. Ein Mann, eine Frau!« »Willst du etwa behaupten, daß zwei Halbwüchsige dieses Ding gedreht haben?« fragte Cleary. »Wirst du nun zuhören, oder was?« »Sprich weiter, Pony. Ich bin ganz Ohr«, meinte Riguzzo. »Ich kann euch sogar mit ’nem Namen dienen, Herrschaften. Ki ra. Die Zeichnung, die eure Pinselquäler da gemacht haben, kommt der Wirklichkeit ziemlich nah. Nur ist der Junge kein Junge, sondern eine junge Frau. Anhand ihrer Kleidung läßt sich das zwar ausge sprochen schwer erkennen, aber ihr könnt mich beim Wort nehmen.« »Und der Nachname?« »Kenn ich nicht. Hab ich nie gehört. Aber sie hing häufiger hier in der Gegend rum und hielt sich mit kleineren Sachen über Wasser. Einbruch, Diebstahl – nichts Größeres. Keinesfalls zu vergleichen mit dem Ding hier. Ist eigentlich ’n paar Nummern zu groß für sie,
wenn ihr mich fragt. Trotzdem – sie hat den Coup durchgezogen. Ich weiß es.« »Und der andere?« »Den Typ hab ich noch nie gesehen, ’n junger Bursche, Mitte bis Ende Zwanzig vielleicht, langes, gelocktes Blondhaar, fünf bis sechs Fuß groß, Gewicht ungefähr 165 Pfund. Sie nannte ihn immer War lock, was soviel wie Zauberkünstler bedeutet.« »Könnte auch ’n Straßenname sein, oder?« »Was weiß ich? Möglich wär’s. Aber vielleicht ist das auch nur ihr Spitzname für ihn.« »Sie sind also mit den Steinen zu dir gekommen«, nagelte Riguz zo ihn fest. »Völlige Straffreiheit – hast du gesagt!« »Hab ich gesagt. Wenn du dich sehr aufgeschlossen zeigst, werde ich nicht mal deinen Namen ins Spiel bringen – solange es sich ver meiden läßt.« »Das genügt mir. Ja, sie kamen mit den Steinen zu mir. Ich wußte sofort, was damit los war.« »Und du hast natürlich sofort abgelehnt«, knurrte Cleary. »Machst du Witze? Bei solchen Klunkern? Ich hab die verdamm ten Dinger natürlich gekauft. Hab 20.000 dafür bezahlt.« »Du hast sie also?« Überrascht beugte Riguzzo sich vor. »Wär zu schön! Oder denkst du vielleicht, wir würden hier sitzen und reden, wenn ich sie hätte? Die beiden haben mich gelinkt. Dieser Warlock, oder wie immer der Kerl heißen mag, war sehr schnell und hat sie mir weggezappt – direkt aus meiner verdammten Tasche. Ich hab ihnen die Jungs hinterhergeschickt, doch die beiden lösten sich plötzlich in Luft auf. Wer weiß wohin. Ich hab meine 20 Riesen verloren und bin, weiß Gott, nicht glücklich drüber!« »Vermutlich weißt du auch nicht, wo wir diese Kira finden kön nen, oder?« fragte Riguzzo. »Falsch. Ich weiß, wo sie wohnt. Aber ihr vergeudet nur eure Zeit. Wenn sie daheim gewesen wäre, hätt ich die Steine – und mein Geld zurück, darauf kannst du einen lassen.« »Du hältst dich ab jetzt aus der Sache raus, Pony. Ich habe keine Lust, dauernd über deine Jungs zu stolpern. Und solltest du schon ’n paar Typen auf die beiden angesetzt haben, pfeif sie zurück. Sofort!« »So? Und was ist mit meinen 20.000?« »Geschäftsrisiko«, erklärte Riguzzo trocken. »Du kannst sie ja bei der nächsten Steuererklärung als Sonderausgaben absetzen.«
»Sehr witzig. Aber ich sage dir was: Wenn ich ’n Kopfgeld auf die beiden ausgesetzt hätte und die Sache abblasen würde, selbst wenn ich die 20.000 abschreiben und die ganze Sache unter der Ru brik ›Erfahrung‹ abhaken würde – die beiden sitzen trotzdem dick in der Scheiße. Wie ich hörte, sollen sie diese Tour nämlich nicht nur mit mir abgezogen haben. Und ich kann wohl kaum dafür garantie ren, was andere tun oder lassen.« »Ich habe dich auch nur gebeten, mir zu garantieren, daß du die beiden in Ruhe läßt, Pony. Und ich meine es ernst. Pfeif deine Hand langer zurück. Und gib mir endlich die Adresse.« »Dritte und Delancey«, knurrte Rozetti. »Hier, ich schreib sie dir sogar auf. Aber glaub mir, du verschwendest nur deine Zeit. Entwe der sind sie woanders untergekrochen, oder sie haben die Stadt ver lassen.« Als sie die Restaurantbar verließen, bedachte Cleary seinen Part ner mit einem langen Seitenblick. Riguzzo machte ein finsteres Ge sicht. »Ich wußte gar nicht, daß ihr beide euch so gut kennt.« »Rozetti und ich sind zusammen aufgewachsen«, klärte Riguzzo ihn auf. »Jedenfalls so gut wie. Wir wohnten im selben Häuserblock und besuchten dieselbe Schule. Das ist auch schon alles. Wir hatte verschiedene Interessen, verschiedene Freunde.« »Kaum zu glauben. Das ist vielleicht ’ne Neuigkeit«, sagte Clea ry. »Du und Pony Rozetti, der König der Buchmacher!« »Aber den Spitznamen Pony hat er nicht deswegen bekommen.« Riguzzo grinste. »Er verbreitet zwar gern, daß ihm dieser Beiname wegen seiner Aktivitäten im Renngeschäft angehängt worden sei. In Wirklichkeit bekam er ihn, als er zehn Jahre alt war. Damals machte er den ersten und letzten Ritt seines Lebens – auf einem Karussell pferd. Er hatte die Hosen vor Angst so voll, daß er sich an den Hals des Holzpferdes klammerte, als ginge es um sein Leben. Drei Män ner waren nötig, um ihn von dem Ding herunterzuzerren.« »Tatsächlich?« »Yeah.« Riguzzo lächelte breit bei dieser Erinnerung. »Und du kaufst ihm seine Story ab?« »Ja, ich glaube ihm. Und ich glaube auch, daß er die Kids jagen läßt und seine Leute nicht zurückpfeifen wird. Er war schon immer geiziger und gemeiner als ein räudiger Straßenköter, selbst als Kind. Ich habe einen Deal mit ihm, und an den muß ich mich halten. Aber er wird Ärger machen, das weiß ich. Es ist das einzige, das er schon immer gekonnt hat.«
»Wo steht denn geschrieben, daß du dich an den Vertrag mit ihm halten mußt?« brummte Cleary. »Ich hab ihm meine Hand drauf gegeben.« »Na und? Was bedeutet das schon bei einem Kerl wie Rozetti?« »Das kann ich dir sagen. Weil ich mich an meine Abmachungen mit Typen vom Kaliber Rozettis halte, haben wir endlich eine erste konkrete Spur in diesem verdammten Fall. Du willst doch sicher irgendwann Lieutenant werden, oder? Dann könnte es sich wirklich für dich auszahlen, wenn du dich an die Spielregeln hältst.« »Ist aber ’n ziemliches Armutszeugnis für die Polizei, wenn wir jetzt schon mit jedem Abschaum solche Kuhhandel machen müs sen«, knurrte Cleary aufgebracht. »Da sitzt dieser Kerl seelenruhig in seiner Bar und gibt offen zu, daß er Diebesgut aufgekauft hat. Und wir können ihn nicht einbuchten, weil du bei ihm im Wort stehst.« »Das stimmt. Aber ich will dir mal was Sonderbares über diese Typen erzählen. Sie haben eine Art Verhaltenscodex, nach dem sie leben. Besonders Leute wie das Pony. Dabei spielt der persönliche Stolz eine sehr große Rolle. Wenn du mit ’nem Kerl wie Rozetti eine Abmachung triffst und du ihn dabei erwischst, daß er seinen Part nicht einhält, während du deinen erfüllst, steht er ziemlich mies da und weiß genau, daß er von dir nie mehr was zu erwarten hat. Halten sich beide Seiten aber an die Vereinbarung, kann er bei Pasta und Chianti rumhängen und vor all seinen Freunden damit prahlen, wie er mit den Cops einen Deal gemacht hat und ungeschoren aus der Sache rausgekommen ist. Das hebt sein Ansehen und gibt ihm Macht. Und er wird dir gegenüber auch weiterhin mit offenen Karten spielen, einfach weil es ihm die Sache wert ist. Er weiß, er hat an Glaubwürdigkeit gewonnen. Und weil er überall davon erzählt, spricht sich auch sehr schnell herum, daß du ein Cop bist, der sich zwar an die Dienstordnung hält, andererseits aber durchaus flexibel ist. Wenn du etwas bekommst, solltest du auch etwas dafür geben. Auf lange Sicht zahlt sich das in wertvollen Informationen aus. Und man erfährt auf diese Weise mehr, als wenn man einen Kerl wie Rozetti verhaftet – und ihn nach spätestens drei Stunden wieder laufen lassen muß.« »So habe ich das noch nie gesehen«, mußte Cleary zugeben. »Und deine Resultate sprechen tatsächlich dafür. Wenigstens sind wir jetzt in der Lage, der ITK einen eindeutigen Hinweis zu präsen tieren. Ein Problem weniger für uns. Da wir genau wissen, daß ein Adept in die Sache verwickelt ist, können wir den Fall an sie abge
ben.« »Kommt überhaupt nicht Frage!« rief Riguzzo. »Was? Warum denn nicht?« »Weil das mein Fall ist. Und ich habe vor, ihn zu lösen. Außer dem – wer, glaubst du, hat die ITK immer wieder vertröstet und Zeit geschunden? Ich, niemand sonst. Und das war verdammt nicht leicht. Sie haben uns ziemlich zugesetzt und versucht, den Fall an sich zu ziehen, weil angeblich Magie mit im Spiel war. Ich habe sie nur mit Mühe aus dem Fall heraushalten können.« »Kapiere ich nicht. Warum?« »Denk doch mal nach, Al. Wer sitzt denn im Führungsgremium der ITK und hat ebenfalls eine hohe Belohnung für Informationen ausgesetzt, die bei der Klärung des Falles helfen…?« »Nun, Scheich Al’Hassan hat… Ach so!« »Ja – ach so! Ich konnte ihn nur aus dem Fall heraushalten, indem ich erklärte, es gäbe keinerlei Beweise dafür, daß bei der Durchfüh rung des Verbrechens Zauberei angewendet wurde. Meiner Meinung nach sei es ein einfacher Raub gewesen, und die Diebe hätten in dem allgemeinen Durcheinander zu Fuß entkommen können. Du kannst dir denken, daß die Typen von der ITK darüber nicht gerade erfreut waren, weil sie genau wissen, daß ich sie damit nur hinhalten will. Doch die einzige Möglichkeit für sie, den Fall an sich zu ziehen, ohne daß wir sie um ihre Mitwirkung bitten, ist die beeidete Aussage eines lizensierten Zauberers, daß die Diebe Zauberei angewendet haben, um zu entkommen. Aber sie werden so nicht vorgehen, weil das die falsche Politik wäre. Wie ich Rozetti schon sagte, ist der Fall sehr delikat. Die ITK macht uns zwar Druck, aber weiter werden sich die Burschen hoffentlich nicht aus dem Fenster lehnen.« »Du hältst es wirklich für möglich, daß Al’Hassan einen ITKUntersuchungsausschuß als eine Art Rollkommando einsetzt?« »Ich würde es ihm zutrauen«, meinte Riguzzo. »Und ich verrate dir noch etwas. Ich bin überzeugt, daß er hier schon ein paar Freibe rufler aus der Unterwelt auf die Täter angesetzt hat. Dagegen kann ich nichts machen, aber ich will verdammt sein, wenn ich unsere Unterlagen einer Mörderbande aus den VSR, die unter dem Deck mantel einer ITK-Untersuchungskommission aktiv ist, zugänglich mache und ihr damit eine legale Zuständigkeit attestiere. Ich bin in diesem Fall strikt gegen eine Auslieferung und auch gegen gesetzlich sanktionierten Totschlag. Ich werde unsere beiden Freunde selbst aufspüren und vor Gericht bringen, um sie getreu nach dem Buch
staben des Gesetzes zu bestrafen. Und jetzt komm mit! Sehen wir uns mal das Apartment des Mädchens an.« »Ich fühle mich wie ein Idiot in diesem Aufzug«, murrte Kira. Sie trug ein enges, weißes neumittelalterliches Hemdkleid mit einem goldgesäumten Gürtel um die Hüften und hübsche hochhackige, mit Stickereien besetzte Slipper. Das Kleid war im Rücken tief ausge schnitten und zeichnete deutlich ihre Körperrundungen nach. Es paßte ausgezeichnet zu ihrer Figur und ihrem dunklen Teint. »Wie kann man nur so viel Geld für so ein dünnes Fähnchen ausgeben? Ich komme mir darin vor wie eine Park Avenue-Nutte.« »Jedenfalls siehst du nicht aus wie eine«, meinte Wyrdrune und ließ seine Tasche auf das Hotelbett fallen. »Was soll das nun schon wieder heißen?« »Es sollte ein Kompliment sein, ob du es glaubst oder nicht. In dem Kleid siehst du sehr hübsch aus.« »Offensichtlich hast du auch noch nie eine Park Avenue-Nutte ge troffen. Sie sehen immer so aus, als liefen sie Reklame für sich. Das ist eben das Elend mit solchen Klamotten.« Sie kickte die Schuhe von den Füßen und öffnete ihre Tasche. »Die verdammten Dinger bringen dich dazu, daß du ständig auf Zehenspitzen läufst und das Rückgrat durchdrückst. Deshalb schiebst du automatisch die Hüften vor, wenn du gehst. Fang-mich, fick-mich. Deshalb gefällt dir diese Aufmachung so sehr. Es ist dieser ›Ich-bin-zu-haben-und-zu-allem bereit‹-Look.« »Es ist schon ein Kreuz mit dir. Ich versuche, dir etwas Nettes zu sagen, aber du schaffst es immer wieder, es genau ins Gegenteil zu verdrehen.« Wyrdrune war nun wirklich aufgebracht. »Ich wollte dir wirklich nur etwas Nettes sagen. Ach, zum Teufel damit. Und was deinen Gang betrifft – du schaffst es, selbst in diesen Schuhen so herumzustampfen, als wärest du auf einen Kampf aus. Und den Bur schen an der Rezeption hast du so angesehen, als wolltest du ihm jeden Moment eins über die Rübe geben.« »Weil der Hurensohn mich von oben bis unten gemustert und dann ganz unverschämt auf meine Titten gestarrt hat. Wahrschein lich hockt er nun da unten und malt sich aus, was wir beide hier oben treiben. Mr. und Mrs. Karpinsky.« Sie schüttelte den Kopf. »Glaubst du wirklich, er hat uns das abgekauft?« »Es ist doch gleich, ob er uns das glaubt oder nicht. Wichtig ist nur, daß du so wenig wie möglich dem Phantombild ähnlich siehst, das die Polizei von dir angefertigt hat. Um so besser, wenn der Kerl
wirklich glaubt, wir seien zwei Kids, die sich für ein heißes Wo chenende ein Hotelzimmer nehmen. Daran ist nichts Ungewöhnli ches, und er hat keinen Grund, sich über uns weiter den Kopf zu zerbrechen.« »Gut, gut, das ist ein Argument. Aber mußten wir deshalb gleich in ein so teures Hotel gehen? Es gibt sicher tausend Zimmer in Bo ston, die billiger wären.« »Das stimmt. Aber in preiswerten Hotels wird die Privatsphäre der Gäste nicht so sehr respektiert. Außerdem sind sie nicht so si cher. Sollte die Polizei tatsächlich nach uns suchen, wird man be stimmt zuerst die billigen Absteigen durchkämmen – denke ich je denfalls.« »Langsam entwickelst du wirklich kriminalistischen Durchblick, oder täusche ich mich da?« meinte sie grinsend. »Zur Hölle damit, wir haben ja jetzt massenhaft Geld. Also gönnen wir uns ein bißchen Spaß. Wann werden wir diesen seltsamen Vogel Merlin treffen?« »Wir werden diesen seltsamen Vogel sicher nicht treffen«, erwi derte Wyrdrune. »Ich werde ihn treffen – wenn er mich treffen will. Ich könnte mir vorstellen, daß ich im Moment nicht gerade zu seinen Favoriten gehöre. Und wenn ich daran denke, was er mit dir anstel len würde, läuft’s mir kalt den Rücken hinunter. Man kann nicht so einfach bei einem Obermagier hereinplatzen, sich in seinen Sessel fallen lassen und ihn fragen: ›Was machen die Tricks?‹. Etwas Re spekt ist da schon angebracht.« »Oh, verstehe. Du denkst, ich könnte dich blamieren.« »Offengestanden ja. Er ist… extrem altmodisch. Und außerdem ein wenig exzentrisch. Immerhin ist er mehr als tausend Jahre alt. Wenn er auch einige Konzessionen an die moderne Welt gemacht hat, so lebt er doch nicht wirklich in ihr – wenn du verstehst, was ich meine.« »Nein. Was meinst du?« Wyrdrune seufzte. »Nun, das ist etwas schwierig zu erklären. Er ist… er ist nicht mal ein richtiger Mensch.« Kira hob die Augenbrauen. »Was ist er dann? Ein Alien viel leicht?« »Das würde mich nicht wundern. Der Legende nach ist er der Sohn eines Incubus, eine Art Geistwesen. Aber er redet kaum über seine Vergangenheit. Und ganz besonders verabscheut er es, nach König Arthur und seinen Rittern gefragt zu werden. Das ist ein abso lutes Tabuthema für ihn. Auch Frauen mag er nicht sonderlich. Ver
ständlich nach dem, was ihm widerfahren ist.« »Nun, wenn er mit ihnen wirklich so schlecht gefahren ist, wie du sagst, hätte er sein Ding besser in der Hose behalten sollen.« »Das ist genau das, was ich meine«, fauchte Wyrdrune. »Gott, ich kann mir sehr gut vorstellen, daß du ihm so etwas glatt ins Gesicht sagen würdest! Aber dann würdest du für den Rest deines Lebens als Goldfisch in einer Glasschüssel auf seinem Schreibtisch herum schwimmen – oder ähnliches. Glaub mir, es ist wirklich besser, du bleibst hier im Hotel, wenn ich ihn treffe. Und spazier gefälligst nicht in der Gegend herum. Laß dir das Essen aufs Zimmer kommen, trink ’ne Flasche Wein oder nimm ein Bad – aber bleib bitte hier.« »Bis du auftauchtest, bin ich eigentlich ganz gut allein zurechtge kommen, wie du weißt«, konterte sie erbost. »Ich bitte dich ja auch nur. Tu mir den Gefallen, bitte, und geh nicht aus. Ich… ich würde mir Sorgen um dich machen.« Sie wollte etwas erwidern, schluckte es aber hinunter und lächelte plötzlich. »In Ordnung, Warlock. Wenn du dich dadurch besser fühlst, bleibe ich auf dem Zimmer. Ich verspreche es dir. Wenigstens werde ich dann diesen dämlichen Fummel los. Aber bleib nicht zu lange weg. Ich mag es nicht, eingesperrt zu sein. Es macht mich nervös.« »Ich werde zurückkommen, so schnell ich kann. Und in diesem dämlichen Fummel siehst du wirklich sehr hübsch aus.« Sie warf ein Kissen nach ihm. »Raus mit dir! Verschwinde end lich.« Das Telefon klingelte einmal und verstummte. Einen Moment später klingelte es erneut. Fats hob den Hörer ab. »In der Bar auf der anderen Straßenseite«, sagte eine sanfte, klare Stimme. »Sofort.« Und damit wurde aufgelegt. Zwei Minuten später saß Fats in der schummrigen Nische der schäbigen Bar einem Mann mit adrett gestutztem Bart gegenüber. Der Anrufer war mittelgroß und von kompaktem Körperbau. Er hatte blondes Haar und haselnußbraune Augen. Er trug eine Goldrandbril le mit getönten Gläsern und einen gutgeschnittenen dunklen Anzug unbestimmbarer Farbe mit einem schmalen Spitzenrand an Kragen und Manschetten. An dem Anzug war nichts Außergewöhnliches außer einer Tatsache, die Fats bekannt war: Der Anzug war maßan gefertigt, um die Wölbung des Schulterhalfters darunter zu verber gen. Abgesehen von der etwas ausgefallenen Brille, mit der er wie ein Buchhändler wirkte, war an dem Mann nichts Außergewöhnli
ches. Nur bei näherem Hinsehen stellte man fest, daß ein durchtrai nierter Körper mit soliden Muskelpaketen in dem Anzug steckte. Die Brille verlieh dem Mann das gelehrte Aussehen eines Akademikers oder Geistlichen. Sie gab ihm ein nachdenkliches Aussehen, und in der Tat war er durchaus ein nachdenklicher Mann. Aber die Dinge, über die er häufiger nachzudenken hatte, hätten den meisten Men schen höchstes Unbehagen bereitet. »Es gibt Probleme«, sagte er. »Du hast mir nicht gesagt, daß noch andere interessierte Parteien mit im Spiel sind.« »Und das ist ein Problem?« brummte Fats. »Es ist immer ein Problem, wenn man mir nicht alle relevanten Informationen gibt. Besonders dann, wenn die Polizei zu diesen Parteien zählt. Die Bullen wissen inzwischen über die junge Frau Bescheid und haben ihr Apartment durchsucht, das vorher schon von Porfirio Rozettis Leuten auseinandergenommen worden ist. Außer dem parkt seit gestern abend ein Wagen mit diplomatischen Kenn zeichen vor dem Haus. Ich muß doch nicht annehmen, daß du etwas darüber weißt, oder?« Fats atmete tief durch und fuhr sich mit dem Taschentuch über die Stirn. »Das mit der Polizei wußte ich wirklich nicht«, sagte er heiser. »Mein Wort drauf. Ich wußte nichts davon, daß sie die Personalien der Kleinen herausbekommen haben – bis heute nachmittag, als sie bei mir auftauchten.« Sein Gegenüber schwieg abwartend. »Und die anderen…« Fats rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her. »Es gehört eigentlich nicht zu meinen Gewohnheiten, Informationen mit Pony Rozetti auszutauschen. Immerhin ist er sozusagen die Konkurrenz. Außerdem fehlt es ihm an Stil. Vermut lich haben sie ihn ebenso über den Tisch gezogen wie mich. Es wür de mich nicht wundern, wenn er die Polizei auf Kira angesetzt hätte, denn das ist exakt seine Art, wenn er für sich dabei einen Vorteil sieht. Ich denke, die Bullen haben ihm einen ähnlichen Deal angebo ten wie mir. Ich habe so getan, als wüßte ich von nichts. Mit den Behörden zusammenzuarbeiten ist keine gute Geschäftspraxis. Das spricht sich schnell herum, und die besseren Kunden zögern dann, zu dir zu kommen. Aber das kann Pony Rozetti nicht stören. Er würde mit jedem einen Deal eingehen, wenn er dabei ein Geschäft machen kann. Der Mann hat kein kritisches Auge für seine Arbeit.« »Und was ist mit deinen Freunden von der Diplomatie?« Fats fuhr sich erneut über die Stirn. »Nun, das ist eine ganz ande
re Sache. Ein Gentleman suchte mich auf. Er war sehr überzeu gend… sehr bedrohlich, um offen zu sein. Er gab mir seine Karte.« Damit zog er Mustafas Visitenkarte hervor und schob sie über den Tisch. Der Mann mit der sanften Stimme warf einen kurzen Blick darauf und gab sie Fats zurück. »Die VSR also. Al’Hassans Leute. Du hät test mir sofort Bescheid geben müssen. Das kompliziert die Angele genheit erheblich.« »Wenn du mehr Geld willst…« »Kommt drauf an, was ich für dich tun soll.« »Was das anbelangt, hat sich nichts geändert«, meinte Fats. »Ich will, daß du dich um die beiden kümmerst. Und ich will diese Stei ne.« »Trotzdem wird es dich eine Kleinigkeit mehr kosten. Die Polizei und Rozettis Leute sind kein Problem, aber die Burschen, die Al’Hassan ins Spiel bringen kann, erhöhen das Risiko erheblich. Das erfordert einen adäquaten Ausgleich.« »Es darf sich nicht herumsprechen, daß zwei blutige Amateure mich hereingelegt haben«, rief Fats vehement. »Ich habe einen Ruf zu verlieren, und deshalb muß ich auf unserem Arrangement beste hen. Also gut, wieviel mehr willst du?« »Die Summe, die ursprünglich vereinbart war zuzüglich aller Auslagen und 25 Prozent aus dem Verkauf der Steine.« Fats’ Kinn sackte herunter. »Das… das… also, lieber Freund, das ist nun wirklich ein bißchen viel. Sei vernünftig! Wenn du mir er laubst, dir ein Gegenangebot zu machen, würde ich vorschlagen…« »Ich bin nicht einer deiner Kunden, Fats. Ich feilsche nicht. Du kennst meinen Preis. Akzeptier ihn oder laß es.« Wieder wischte Fats sich die Stirn mit dem Taschentuch. »Du bist wirklich ein harter Knochen. Also gut, ich akzeptiere. Diese Sache hat meinen Stolz verletzt. Aber ich erwarte von dir zumindest, daß sich deine Auslagen im Rahmen halten.« »Du wirst sie schon zahlen müssen, wie hoch sie auch sind.« »Ja, natürlich. Ich wollte ja auch nur sagen…« »Ich melde mich bei dir.« Der Mann stand auf und ging. Fats blieb am Tisch sitzen und zer knüllte das Taschentuch in seinen Händen. Schließlich bestellte er bei dem Kellner einen weiteren Drink. »Ein sehr unangenehmer Zeitgenosse«, sagte er zu sich selbst. »Wirklich äußerst unangenehm.«
Wieder über den Campus zu gehen, erweckte in Wyrdrune ein starkes Nostalgiegefühl. Noch vor nicht allzu langer Zeit war er hier Student gewesen, hatte in einem kleinen Apartment drüben in Brookline gewohnt und war jeden Morgen mit dem Bus nach Cam bridge zu seinen Vorlesungen gefahren. Das Leben im Umfeld der Universität hatte ihm immer gefallen. Es wurde beherrscht von ei nem Gefühl der Gemeinsamkeit, dem Wissen, daß man auf ein gro ßes und bedeutendes Ziel hinarbeitete. Überall und jederzeit verspür te man die stimulierende Atmosphäre von intellektueller Aktivität und Kultur. Wyrdrune vermißte dieses Leben sehr. Die Aufkündi gung seines Stipendiums und seine Exmatrikulation empfand er so, als habe ihm jemand den Teppich unter den Füßen weggezogen. Insgesamt gesehen hatte er sogar noch Glück im Unglück gehabt, daß man ihm keinen Zivilprozeß wegen der Schäden an den Hals hängte, aber ohne sein Stipendium gab es keinen Weg für ihn, seine Ausbildung zu beenden, und das wurmte ihn. Er hatte in seiner Klas se immer zu den Besten gezählt und sein Name stand jedes Semester auf der Auszeichnungsliste des Dekans. Und nur wegen eines einzi gen dummen Verfahrensfehlers hatte er alles aufgeben müssen. Schon als Kind hatte er ein Zaubermeister werden wollen. Er konnte sich nicht daran erinnern, sich jemals einen anderen Beruf gewünscht zu haben. Als er neun Jahre alt war, hatte ihn seine Mut ter einmal mit in den Zirkus genommen. Es war nur eine drittrangige Truppe gewesen, die in einem kleinen Zelt auftrat. Die Show hatte in den letzten Zügen gelegen. Daheim war Geld immer knapp, und seine Mutter konnte ihnen nicht viel Unterhaltsames bieten. Daher war die Vorstellung für Wyrdrune eine tolle Sache, obwohl nur we nige Zuschauer sie sahen, die Clowns ausgesprochen lustlos agierten und die Tiere alt und müde wirkten. Für den Jungen war der Auftritt des Großen Goldini der Höhepunkt der Vorführung gewesen. Gerade mal fünf oder sechs Leute sahen sich seine Show an, und der Zauberkünstler hatte sie nicht in seinen Bann ziehen können, obwohl er sich die größte Mühe gab. Er ließ Tauben auftauchen und verschwinden, zeigte Tricks mit Karten und Münzen und einen Ta schenspieler-Trick mit einem gelangweilten Zuschauer. Goldini hatte gespürt, daß er das Zuschauerinteresse verlor. Aber da war noch dieser kleine Junge, der ihm so angespannt zusah. Nach der Auffüh rung hatte er ihn dann angesprochen. »Na, mein Junge, hat dir die Show gefallen?« »O ja, sehr. Das war doch reine Magie.«
»Bedauerlicherweise keine echte, sondern eine andere Art von Magie«, hatte der Große Goldini geantwortet. »Wie haben Sie es geschafft, daß die Münze zuerst über Ihre Hand lief und dann verschwand?« »Soll ich es dir zeigen?« »O ja, bitte!« Mit seinen großen, traurigen braunen Augen hatte der Große Gol dini Mrs. Karpinsky fragend angesehen. »Sie haben doch nichts dagegen, Missus?« »Nein, natürlich nicht«, hatte die Mutter geantwortet. »Kommen Sie, Missus«, sagte der Große Goldini, der in Wirk lichkeit Nathan Goldblum hieß. »Sie haben doch sicher nichts gegen eine Tasse Tee und etwas Gebäck, während ich mit dem jungen Mann dort rede?« »Vielen Dank, das ist sehr nett«, hatte die Mutter geantwortet, an genehm überrascht von Mr. Goldblums Manieren, und Wyrdrune – damals noch schlicht Melvin Karpinsky – hatte es mit Stolz erfüllt, von dem Magier als ›junger Mann‹ bezeichnet zu werden. Der alte Zauberkünstler hatte sie zu seinem Wohnwagen geführt, wo er eine Kanne Tee zubereitete und sorgfältig arrangiertes Schokoladengebäck auf einem schön dekorierten Teller servierte. Wyrdrunes Mutter hatte in einem Sessel Platz genommen und nippte vorsichtig an der Teetasse, während Goldini sich um den Jungen kümmerte. Im Innern des Wohnwagens, ohne sein Cape, wirkte der Mann nicht annähernd so beeindruckend wie auf der Bühne. Den großen Hut hatte er abgenommen. Der Kopf war bis auf einen dün nen Haarkranz kahl, und das stopplige Kinn hätte dringend einer Rasur bedurft. Goldini war dünn und sah aus der Nähe viel älter aus. »Sieh her«, sagte er, zog eine Münze aus der Tasche und ließ sie über seine Finger wandern. Und plötzlich war sie verschwunden! »Es ist eine magische Münze!« rief Wyrdrune. »Nein«, erklärte Goldini. »Nicht wirklich, und das weißt du. Auch du könntest diesen Trick – mit viel Übung – erlernen. Schau genau hin – ich zeige es dir.« Und er hatte den Trick wiederholt, sehr langsam, und Wyrdrune konnte genau erkennen, daß die Münze nur durch die flinke Bewe gung der Finger über die Hand zu wandern schien. Dann zeigte ihm der Zauberkünstler, wie er die Münze zum Schluß mit der Handflä che abdeckte, so daß sie darunter verborgen war, aber nie wirklich verschwand.
»Aha«, rief Wyrdrune. »Jetzt habe ich gesehen, wie Sie es ma chen. Es ist also gar keine Zauberei, nicht wahr?« »Nein, keine Zauberei«, antwortete Goldini seufzend. »Bist du nun sehr enttäuscht?« »O nein, Sir. Das ist ein wundervoller Trick. Glauben Sie, ich sollte ihn mal versuchen?« »Sicher.« Goldini gab ihm die Münze. Aber der Junge konnte sie nicht über die Finger tanzen lassen. Immer wieder fiel sie zu Boden. »Das ist schwer.« Wyrdrune runzelte konzentriert die Stirn und versuchte, dieselben Fingerbewegungen zu machen, die er bei Gol dini gesehen hatte. »Stimmt. Der Trick ist schwer zu erlernen. Aber wenn du jeden Tag fleißig übst, wirst du ihn bald immer besser beherrschen. Das ist wie bei der wirklichen Magie: Man muß sehr hart trainieren. Man nennt diesen Trick eine Taschenspielerei, und es ist ein sehr alter Trick, wenn auch nicht so alt wie die wirkliche Magie. Die Men schen hatten die Magie vergessen, aus ihrem Bewußtsein verdrängt, und weil sie vergaßen, damit zu leben und umzugehen, hörten sie schließlich auf, daran zu glauben. Sie hielten sie nur noch für ein Märchen, eine Legende. Aber sie blieb wirklich. Zudem gab es im mer noch einige wenige Leute, die an die Magie glaubten, aber von denen konnte sich keiner daran erinnern, wie man sie praktizieren mußte. Es gab niemanden mehr, der es ihnen beigebracht hätte. Trotzdem wollten sie die Erinnerung daran wachhalten, und so er lernten sie eine andere Art von Magie – keine wirkliche Magie, ver stehst du. Für die Zuschauer aber waren solche Tricks wie dieser die reine Zauberei.« »Zählten Sie auch zu diesen Leuten?« »Nein, aber mein Großvater. Und mein Vater trat in seine Fuß stapfen. Man nannte sie Bühnenmagier, Illusionisten, Taschenspie ler-Artisten, und sie veranstalteten für die Leute solche Shows wie meine hier. Sie ließen Menschen verschwinden, zersägten hübsche Frauen in zwei Teile, zogen Kaninchen aus einem leeren Hut oder ließen Leute scheinbar durch die Luft schweben. All diese Sachen waren nur Tricks, die die Zuschauer glauben ließen, was sie sahen. In Wirklichkeit täuschten diese Magier ihre Kunststücke nur vor. Trotzdem war es eine schöne Art der Täuschung. Jeder war sich im klaren, daß es sich dabei nicht um echte Magie handelte, aber die Menschen wollten die Shows doch sehen, weil es wie Magie aussah
und die Geschicklichkeit der Zauberkünstler sie begeisterte. Sie wußten, es war nicht einfach und erforderte eine Menge Übung. Viele versuchten dahinterzukommen, wie die Tricks funktionierten, andere wiederum interessierten sich nicht dafür. Für eine kurze Zeit konnten sie so tun, als wüßten sie nicht, daß alles wirklich nur Tricks waren. Nur so zum Spaß versuchten sie sich einzureden, daß das, was sie meinen Vater und Großvater auf der Bühne tun sahen, echte Magie sei. Und auf diese Weise wurde die Erinnerung stets lebendig gehalten.« Goldini seufzte. »Aber in diesen Tagen ist die Magie viel mehr als nur eine Erinnerung. Der große Merlin Ambrosius, der wunder barste Magier, der je gelebt hat – und er ist ein wirklicher Magier, mußt du wissen, kein Taschenspieler wie ich – brachte den Men schen das alte, längst verschollene Wissen wieder zurück. Seitdem haben die Leute kein Interesse mehr an meinen Künsten, wo sie jeden Tag überall um sich herum wirkliche Magie beobachten können. Als ich etwa so alt war wie du, lehrte mein Vater mich die Zauberei. Als ersten Trick lernte ich damals, wie ich eine Münze über meine Hand wandern lassen konnte. Und es ist immer noch dieselbe Münze, die du jetzt in der Hand hältst. Mein Großvater gab sie meinem Vater, und mein Vater gab sie mir. Ich übte jeden Tag. Nach und nach brachte mein Vater mir alles bei, weil es das einzige war, von dem er etwas verstand. Aber da war die echte Magie schon wieder aufgelebt, und kaum einer interessierte sich mehr für unser Handwerk. Trotzdem war ich immer davon überzeugt, daß mein Vater und auch mein Großvater das Richtige getan hatten, indem sie so die Erinnerung an die echte Magie wachhielten. Es war ihr Traum, ein wunderbarer magischer Traum. Und schließlich wurde er ja auch Wirklichkeit. Vergiß das nie, junger Mann. Wenn du einen Traum hast und daran glaubst, wenn du selbst dann noch daran fest hältst, wenn jeder sonst seinen Glauben längst aufgegeben hat, dann wird er eines Tages auch Wirklichkeit.« Wyrdrune hatte ernst genickt und Goldini die Münze entgegenge streckt. »Nein, du kannst sie behalten«, hatte der Alte gesagt. »Und vergiß nicht, jeden Tag zu üben. Wer weiß, vielleicht wird aus dir eines Tages ein echter Magier. Bis dahin aber soll diese Münze dir helfen, an deinem Traum festzuhalten.« Wyrdrune griff in die Tasche und holte ein altes, abgegriffenes Fünzig-Cent-Stück hervor. Einen Moment lang hielt er es in der
Hand und betrachtete es versonnen, ließ es dann geschickt über die Finger rollen und ›verschwinden‹, indem er es gekonnt verdeckte, schnippte mit den Fingern und ließ die Münze wieder ›auftauchen‹, ließ sie in die Luft springen und fing sie zwischen Zeige- und Mittel finger auf. »Was machen Sie, wenn Sie Ihren Traum verlieren, Mr. Goldi ni?« fragte er sich selbst leise. »Was, wenn er beinahe Wirklichkeit würde und Ihnen im letzten Moment entrissen wird?« Er starrte auf die Münze und seufzte schwer. »Was geschieht dann?« Er sah zu dem Verwaltungsgebäude empor. Über dem Eingang wölbte sich ein Torbogen mit den Worten: EX TENEBRAS AD LUCE. Aus der Dunkelheit zum Licht. Er holte tief Luft und betrat das Ge bäude.
KAPITEL
D
SECHS
ie Penthouse-Wohnung lag hoch über der Fifth Avenue. Sie war sehr elegant eingerichtet. Der tiefe Teppich zeigte ein kräftiges dunk les Blau, und die Möbel waren aus exquisitem Mahagoni- und Pal menholz gefertigt. Glas oder verchromten Stahl suchte man hier vergeblich. In die Wände versenkte Bücherschränke enthielten selte ne Werke über die verschiedensten Wissenschaften wie Geschichte, Philosophie oder Archäologie, dann Bücher über primitive Naturvöl ker oder Waffen oder über Feldzüge. Die Romane in den Regalen waren sorgfältig je nach Genre eingeordnet. Ein paar impresssioni stische Maler zierten die Wände, Originale von Monet, Cezanne und Van Gogh. In einem großen hölzernen Seitenschrank lagerten edle Weine auf horizontalen Holzgestellen. Auf der Mahagoni-Bar in der Ecke des Wohnraums stand ein schimmerndes Silbertablett mit einer Weinkaraffe aus Kristall und mehreren dazu passenden Gläsern. Der bärtige Mann mit der Goldrandbrille zog den Stöpsel aus der Karaffe und schenkte sich ein Glas Port ein. Genüßlich kostete er den Wein, nachdem er zuerst das volle Bouquet eingeatmet und seine Farbe im Glas kritisch geprüft hatte. »Apollonius, wir haben zu arbeiten«, sagte er schließlich. Mit sanftem Summen verschwand eins der Regale in einer Wand
nische und gab eine maßgefertigte Konsole mit elektronischem Gerät und mehrere Monitore frei. Sofort leuchteten einige rote Anzeigen auf. »Einsatzbereit«, meldete sich der Computer. »Ich brauche eine Direktleitung ins Büro für Thaumaturgie«, sag te der Mann. »Wir werden uns in seine Datenbasen einklinken. Wir suchen nach Kandidaten mit thaumaturgischem Zertifikat für die erste Ebene, die in den letzten fünf Jahren ihre Prüfungen abgelegt haben.« »Ausführung«, konstatierte der Computer. Wenige Augenblicke später meldete er sich wieder. »Ich habe die gewünschten Daten. Willst du einen Ausdruck?« »Nein, noch nicht. Überprüfe erst die Daten und lösche alle weib lichen Kandidaten. Danach alle Kandidaten, die ihre Zulassungsprü fung bestanden haben. Wir suchen nach männlichen Anwärtern, die die Prüfung nicht bestanden haben, im Alter zwischen 18 und 25 Jahren… nein, sagen wir bis 30 Jahre, um ganz sicher zu gehen. Blond, blaue Augen, ungefähr 5,9 bis 6 Fuß groß, Körpergewicht etwa 160 Pfund.« »Ausführung«, wiederholte der Computer. Diesmal dauerte es et was länger. Der Mann trank seinen Wein und wartete. Wenig später sagte der Computer: »Ich habe diese Informationen.« »Wie viele Namen sind es?« »1168.« »So viele? Hmm. Warte einen Augenblick.« Der Mann ging zum Kaffeetisch hinüber und öffnete die Akten mappe, die er dort abgelegt hatte. Er nahm die Videocassette heraus, die Fats ihm gegeben hatte. Es war eine Aufzeichnung des Überwachungssystems in seinem Pfandhaus. »Warnung! Ein Sicherheitsprogramm versucht sich in mich ein zuhängen«, meldete der Computer. »Blockieren und fortfahren!« Der Mann öffnete die Cassettenhül le und schob das Band in einen Schlitz in der Konsole. »Spiel diese Cassette ab.« »Ausführung.« Die Cassette wurde in den Schlitz gezogen, und einen Moment später zeigte einer der Monitore den Laden von Fats. Die Kamera war in der hinteren Ecke angebracht und zeigte den Raum vor der Theke. »Schneller Vorlauf.«
Das Bild lief schneller ab. »Anhalten.« Das Band zeigte jetzt Wyrdrune und Kira beim Be treten des Ladens. »Auf normale Geschwindigkeit schalten und beibehalten.« Der Mann verfolgte die Aufzeichnung auf dem Monitor. »Halt«, sagte er schließlich. »Heranzoomen. Ein wenig nach rechts. Halt. Noch nä her. Halt.« Das Bild zeigte jetzt ganz nah Wyrdrunes halbverdecktes Gesicht. »Kannst du die Schatten etwas aufhellen?« »Ausführung.« Das Bild wurde heller. »Halt. Vergleiche doch mal zum Spaß das Bild hier mit den Fotos in den Speichern des Büros für Thaumaturgie.« »Ausführung.« Der Mann wartete. Nach anderthalb Minuten runzelte er die Stirn. »Gibt es ein Problem, Apollonius?« »In den Datenspeichern gibt es keine Aufzeichnungen über diesen Mann«, meldete der Computer. »Bist du sicher?« »Meine Software ist auf dem neuesten Stand, und meine Hard ware enthält thaumaturgisch geätzte und in Betrieb genommene Chips für eine halbe Million Dollar«, knarrte der Computer. »Ich bin mir immer sicher.« Der Mann lächelte dünn. »Entschuldigung, Apollonius. Aber wir scheinen hier wirklich ein Problem zu haben. Wenn unser Warlock sein Examen bestanden hätte, würde er beim Verband für Thauma turgie als lizensierter Hexenmeister oder Zauberer geführt. Das ist aber nicht der Fall. Selbst wenn er sein Examen nicht bestanden hat, würden seine Daten trotzdem beim Büro für Thaumaturgie gespei chert. Aber sie sind es nicht. Bleibt also nur der Schluß, daß er sich nie zur Prüfung für die erste Ebene angemeldet hat.« Nachdenklich sah er vor sich hin. »Aber wieso?« »Vielleicht hat er nicht die erforderliche Anzahl von Vorlesungen belegt, um zur Prüfung zugelassen zu werden.« »Ausgezeichnet, Apollonius. Wirklich exzellent.« »Vielen Dank!« »Wie immer gern geschehen. Du kannst dich jetzt ausklinken.« »Trennung ist erfolgt.« »Ich kann mich darauf verlassen, daß wir das Eindringen des Si cherheitsprogramms in unsere Leitung verhindert haben?« »Natürlich.«
»Schön. Dann wollen wir mal sehen…« Der Mann nahm einen Schluck aus seinem Glas. »Uns könnte also nur eine zentrale Daten bank für die Studenten der Thaumaturgie weiterhelfen. Gibt es so eine Einrichtung?« »Einen Augenblick. Ich will kurz meine enzyklopädischen Da tenbasen überprüfen. Ja, da existiert eine zentrale Einschreibliste für alle Studienanwärter am Thaumaturgischen College für Zauberer in Cambridge, Massachusetts. Soll ich mich in diese Datenlinie einhän gen?« »Ja, aber wir sollten die normalen Kanäle meiden, nicht wahr? Wir schleichen uns leise und unauffällig über eine offene Datenlei tung ein.« »Ausführung«, meldete der Computer. Diesmal dauerte es fast zwei Minuten. »Ich bin drinnen, habe Zugriff zu den Aufnahmeun terlagen.« »Gut. Dann benutze die gleichen Angaben wie vorhin. Wollen doch mal sehen, ob wir unseren jungen Hexenmeister in den Univer sitätsunterlagen finden.« Der Computer summte leicht, während er das Suchprogramm auf rief. »Warnung! Ein Sicherheitsprogramm versucht sich in mich ein zuhängen«, meldete er plötzlich. »Blockieren und fortfahren.« »Ausführung.« Einige Minuten vergingen. »Ich habe den Datenträger«, sagte der Computer. »Bitte auf den Schirm überspielen.« Eine Sekunde später erschien eine Abschrift von Wyrdrunes Da ten mitsamt seinem Foto auf dem Monitor. »Der Name der Zielperson ist Karpinsky, Melvin. Magiername: Wyrdrune, im Herbst 2219 aufgenommen in das Thaumaturgische College für Zauberer in Cambridge, Massachusetts. Die Zielperson erhielt ein Ambrosianisches Stipendium und absolvierte die erforder lichen Kurse bis zu seinem Juniorgrad mit Auszeichnung, wurde aber zu Beginn seines… Warnung! Melde neuerlichen Versuch, in unsere Datenleitung einzudringen. Jemand versucht sich Zugang zu verschaffen.« »Kannst du den Urheber feststellen?« »Ausführung. Ich habe mich eingehängt und die Suche nach dem Verursacher gestartet. Einen Augenblick… Ich habe jetzt die Infor
mation. Der Verursacher ist die Botschaft der Vereinigten Semiti schen Republiken in New York auf der… Warnung! Ein Sicher heitsprogramm versucht sich in mich einzuhängen.« »Blockieren!« »Ausführung… Warnung! Ich kann das Sicherheitsprogramm nicht blockieren. Warnung! Sicherheitsprogramm hat sich einge hängt.« »Leitung kappen.« »Warnung! Urhebersuchprogramm ist angelaufen!« »Sofort Leitung kappen!« »Warnung! Kappen unmöglich!« »Abschalten, Apollonius. Sofort abschalten!« »Warnung! Werde überrollt… überrollt!« »Abschalten… raus aus der Leitung!« »Warnung! Warnung! Nein, nein! Aahhhhhhhhh!« Der Mann schützte mit den Armen sein Gesicht, als das Compu tersystem plötzlich explodierte und einen Splitterhagel durch das Zimmer sandte. Die Druckwelle riß ihn vom Boden und schleuderte ihn hart gegen die Wand. Schwarzer Rauch quoll aus der Konsole, Funken sprühten. Plötzlich ertönte aus der Qualmwolke eine Stimme. »Wer seid Ihr?« Der Mann rappelte sich hoch. Blut strömte aus mehreren Schnitt wunden am Kopf und lief ihm über die Stirn in die Augen. Auch seine Hände, mit denen er das Gesicht geschützt hatte, waren blutig. »Fahr zur Hölle!« knurrte er. Die Rauchwolke wurde dichter, und die Stimme sagte: »Laßt die Finger von Dingen, die Euch nichts angehen. Dies sollte Euch eine Warnung sein!« Eine waagrechte Feuerlanze schoß aus dem Rauch, barst wie Schmelzfluß aus der Mündung eines Flammenwerfers. Sie zischte durch den Raum auf die gegenüberliegende Wand und setzte sie sofort in Flammen. Einige Original-Ölgemälde, ein Vermögen wert, wurden in Sekundenschnelle ein Raub des Feuers. »Nein!« heulte der Mann laut, sprang auf und stürzte zu den Bil dern hin. Aber die gesamte Wand brannte inzwischen. Das Feuer entwickelte eine solche Hitze, daß der Mann nicht einmal in die Nähe der Bilder kam. Das Sprinklersystem wie auch der Feuermel der hatten sich inzwischen eingeschaltet, aber es war zu spät. Der Mann taumelte durch den Rauch hinter die Bar und öffnete
die verborgene Geheimtür zu einem im Boden eingelassenen Tresor. Er öffnete den Safe und nahm mit tränenden Augen eine Geldkasset te heraus, die unter anderen Dingen Bankauszüge, Scheckhefte und eine größere Anzahl von Pässen verschiedener Länder enthielt, die auf die unterschiedlichsten Namen ausgestellt waren. Er schob sich die Geldkassette unter den Arm und stand dann einen Moment lang unschlüssig inmitten des Rauchs und der Flammen, während das Sprinklersystem seine Fontänen über ihn ausgoß, seine Kleider durchnäßte, die Flammen zischen ließ und den Raum mit noch mehr Qualm füllte. Der Mann hatte alles verloren. Da waren zwar noch die Bankkonten in der Schweiz, der Karibik und in Lateinamerika, aber das war nur Geld. Es konnte den Van Gogh, Cezanne und Monet nicht ersetzen, Bilder, die Jahrhunderte überdauert hatten, sorgfältig gehütet in Museen und Privatsammlun gen – jetzt für immer dahin. Es war ein unwiederbringlicher Verlust. Auch die seltenen Buchausgaben waren mit Geld nicht zu ersetzen. Selbst was von den Flammen verschont bliebe, war für den Mann verloren, weil er schnellstens verschwinden mußte, ehe Feuerwehr und Polizei eintrafen. In dem gesamten Penthouse-Appartement gab es außer den Dokumenten in der Kassette buchstäblich nichts, was auch nur den geringsten Hinweis auf seinen Bewohner gegeben hätte. Das Leben des Mannes war ein sorgfältig gewobenes Netz von Alias-Identitäten gewesen. Jetzt aber mußte er irgendwo ganz von vorn anfangen, eine neue Operationsbasis finden und ein neues Si cherheitssystem kreieren, über das seine Klienten ihn erreichen konnten, ohne zu erfahren, wo er sich aufhielt. Das alles würde eine Menge Geld kosten – vielleicht das ganze Geld, das er im Moment noch besaß. Aber Geld war nicht wichtig. Es waren die unglaubliche Barbarei, mit der dieser rohe Akt der Zerstörung vollführt worden war, dieser monströse Vandalismus, die den Mann mit kalter Wut erfüllten. Er taumelte durch Rauch und Flammen zur Tür und blieb noch einmal kurz stehen, um einen letzten Blick auf die Dinge zu werfen, die ihm so sehr ans Herz gewachsen waren. In ihm tobte ein solch wilder Zorn, wie er ihn in seinem Leben, das doch von kaltem, ge fühllosem Professionalismus bestimmt wurde, noch nie verspürt hatte. Jetzt war er zum ersten Mal persönlich betroffen. Er drehte sich abrupt um und verschwand über die Feuertreppe. Ein schlechtes Omen war es in seinen Augen, daß die Fakultäts
sekretärin sich nicht an ihn erinnerte. Sein Gesicht sagte ihr offenbar ebensowenig wie sein Name. Aber vielleicht erwies sich das auch als Vorteil. Hätte sie sich an ihn erinnert, wäre es vielleicht viel schwie riger geworden, einen Termin bei seinem alten Professor zu verein baren. Wie auch immer – er nannte der Frau seinen Magiernamen, den Merlin selbst für ihn ausgewählt hatte – teils aus Scherz, teils aber auch, weil er treffend seine Übereifrigkeit umschrieb, sich an Zauberstückchen zu versuchen, die eigentlich nur erfahrenen Magi ern vorbehalten waren und die er natürlich prompt verpfuschte. Die Sekretärin jedenfalls schien ihn für einen ehemaligen Studenten zu halten, der seiner alten Alma Mater einen Besuch abstattete. »O ja, natürlich.« Sie tat so, als erinnere sie sich an seinen Na men. »Haben Sie einen Termin, Sir?« »Nicht direkt. Aber die Angelegenheit ist sehr wichtig, und ich bin sicher, daß Professor Ambrosius mich zu sehen wünscht.« »Dekan Ambrosius hält keine regelmäßigen Vorlesungen mehr an der Universität, junger Mann. Trotzdem ist er ein vielbeschäftigter Mann. Seine Zeit ist sehr bemessen. Vielleicht könnten Sie mir sa gen, um was es geht…?« »Tut mir leid, Mrs. Soames. Ich fürchte, das ist unmöglich. Es handelt sich um eine sehr delikate Angelegenheit, und deshalb muß ich unbedingt unter vier Augen mit ihm sprechen. Professionelle Ethik, verstehen Sie?« »Ich verstehe«, antwortete sie, obwohl sie offensichtlich nichts verstanden hatte. Aber das schien sie auch nicht weiter zu stören. »Zufällig hat Dekan Ambrosius heute morgen an einer Personalver sammlung der einzelnen Fakultäten teilgenommen und befindet sich möglicherweise noch auf dem Campus. Ich werde Archimedes anru fen und fragen, ob der Dekan noch in seinem Büro ist und Sie emp fangen will.« »Archimedes?« fragte Wyrdrune, aber sie hatte den Hörer schon in der Hand. »Hallo, Archimedes, hier ist Betty Soames. Bei mir im Büro ist ein Graduierter, der unbedingt mit Dekan Ambrosius spre chen will. Er sagt, es sei wichtig.« Sie schwieg einen Moment lang, und Wyrdrune fragte sich, wer Archimedes sein mochte. »Wyrdrune«, sagte sie in den Hörer und schwieg erneut. »Ja, das ist richtig. Ich schicke ihn rüber.« Sie legte den Hörer auf und sah ihn an. »Dekan Ambrosius muß an einem Fakultätsessen teilnehmen, hat aber vorher ein paar Minuten Zeit für Sie. Sein Büro ist…«
»Ja, ich weiß noch, wo es ist. Vielen Dank.« Wyrdrune verließ ihr Büro und folgte dem Gang zu den Privatbüros des Fakultätsvorste hers und der Seniorprofessoren. Am Ende des Gangs befand sich eine hohe Eichentür. Auf einem Messingschild war in schlichten Buchstaben der Name M. Ambrosius eingraviert. Wyrdrune atmete einmal tief durch und klopfte an. »Herein«, antwortete eine mißmutige Stimme von drinnen. Der junge Mann öffnete die Tür und trat ein. Es war ein kleines, fensterloses Büro, nicht einmal halb so groß wie das des Fakultätsvorstehers. Die Wände waren mit Bücherrega len völlig zugestellt, in denen zahllose alte Folianten standen, deren Ledereinbände schon brüchig wurden. Bücher, wo man hinsah, vom Boden bis zur Decke. Auf dem Boden lag ein hübscher, handge knüpfter Perserteppich, und zu jeder Seite des großen handgefertig ten Schreibtisches standen zwei bequeme Lesesessel aus Leder. Der Schreibtisch war übersät mit Papieren und Schriftrollen. Ein Ter minkalender, ein Totenschädel mit aufgeschnittener Schädeldecke, in die ein Aschenbecher eingelassen war, und ein Pfeifenständer mit einem halben Dutzend geschwungener Pfeifen mit großen Köpfen, ein Luftbefeuchter und ein Personalcomputer, der hier völlig fehl am Platz schien, vervollständigten die Tischdekoration. Zwischen all den Regalen blieb kein Platz für Kunstwerke oder Bilder, aber über all im Zimmer verteilt standen kleine Skulpturen, darunter eine ein Fuß hohe Bronzestatue von Gandalf dem Zauberer aus den klassi schen Tolkien-Stories sowie die kleine Figur eines geflügelten Dra chen, der in einer Ecke des Schreibtisches auf einem Glasball hockte. Vor einem der Bücherregale saß eine ausgestopfte Eule auf einer Stange, und ein sechs Fuß großer Papp-Indianer, ursprünglich eine Werbefigur für einen Zigarrenladen, der hier völlig fehl am Platz war, stand drohend in einer Ecke des Büros. Merlin Ambrosius saß in seinem hochlehnigen Ohrensessel und las Zeitung. Mit seinen wirren weißen Haaren, die über den Schul tern grob abgeschnitten waren, und den Füßen auf dem Schreibtisch sah er nicht aus wie ein Obermagier, sondern glich eher einem verru fenen Kaffeehaus-Poeten. Er hatte einen vollen schneeweißen Bart, den er aber in der Art eines Gloucester-Fischers kurzgeschnitten trug. Bekleidet war er mit einem braunen Tweedjacket in FischgrätMuster, einem weißen ausgeschnittenen Stricksweater und einer wollenen Kammgarnhose. Er trug Wüstenstiefel aus Wildleder, und auf einem Haken an der Seite seines Sessels hing ein irischer
Tweedhut. Der Professor rauchte eine geschwungene große Pfeife mit seiner Spezialmischung, die wie durch einen Zauber bei jedem Zug einen anderen Duft verströmte. Sie erfüllte das Büro mit atem beraubend pikanten Gerüchen: Es roch nach tropischen Gewürzen, nach Schwefel und gebackenen Makronen, nach Sherry und einem Hauch von schottischem Heidekraut nach einem Frühlingsregen. Merlin ließ die Zeitung sinken und musterte Wyrdrune unter sei nen buschigen weißen Augenbrauen hinweg. Sein Mund wurde von dem üppigen Bart fast verdeckt, und seine überraschend jugendlich wirkenden Augen schimmerten in einem tiefen Blau. »Guten Tag, Professor«, begrüßte Wyrdrune seinen alten Lehrer. Er fühlte sich ausgesprochen unbehaglich. »Vielen Dank, daß Sie ein wenig Zeit für mich haben.« Merlin grunzte ungehalten. »Was hast du diesmal niedergebrannt, Karpinsky?« fragte er. »Erzähl mir bloß nicht, daß du es wie auch immer geschafft hast, wieder zugelassen zu werden.« »Nein, Sir, leider nicht«, antwortete Wyrdrune leise, »obwohl ich die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben habe, meine Studien ir gendwie beenden zu können.« »So, so. Und was willst du von mir? Eine Empfehlung?« »Nein, Sir, ehrlich gesagt glaube ich nicht, daß ich sie verdient hätte. Aber ich schlage mich mit einem sehr ernsten Problem herum und erhoffe mir von Ihnen Rat. Ich weiß einfach nicht, an wen sonst ich mich damit wenden könnte. Ich stecke in großen Schwierigkei ten.« »Das wundert mich nicht im geringsten«, knurrte Merlin, nahm die Füße vom Schreibtisch und drückte mit der Daumenkuppe die Glut tiefer in den Pfeifenkopf. »Also schön. Um was geht es? Was hast du diesmal angestellt?« »Nun, das ist eine sehr lange und komplizierte Geschichte, Sir…« »Etwas anderes habe ich auch nicht erwartet«, meinte Merlin trocken, stützte den Ellbogen auf den Schreibtisch und legte das Kinn in die Handfläche. »Aber du kannst dich doch sicher kurz fas sen, denkst du nicht?« Wyrdrune holte tief Luft und begann. »Ich weiß nicht, ob Sie von dem Juwelenraub in New York gehört haben – bei der Versteigerung der Euphrat-Artefakte…« »Das warst doch nicht du – oder?« »Hmm, ja, Sir… leider… ich war’s.« Merlin schloß die Augen und ließ ein leises Stöhnen hören. »Gro
ßer Gott, Karpinsky«, sagte er kopfschüttelnd. »Warum kommst du damit ausgerechnet zu mir?« »Sir, ich war verzweifelt. Ich war mit der Miete im Rückstand, konnte keine Arbeit finden. Ich wußte nicht mehr, was ich tun soll te.« »Und deshalb raubst du die bekannteste Galerie in ganz New York City aus?« »Ich weiß, es war verrückt. Ich kann es nicht erklären. Ich weiß nicht, was mich dazu getrieben hat. Es kam einfach über mich. Ich bin kein Dieb, wirklich nicht. In meinem ganzen Leben habe ich noch nie etwas gestohlen. Ja, ich habe mal versucht, an eine Kopie der Semesterzwischenprüfungen zu kommen, aber…« »Karpinsky, es gibt Momente, da glaube ich wirklich, du bist eine Strafe Gottes. Ich habe es geschafft, mich vier Jahre lang ununter brochener akademischer Langeweile zu erfreuen, und jetzt kommst du daher wie ein neurotischer Poltergeist und machst mir wieder das Leben schwer. Warum konntest du dich auch nicht damit zufrieden geben, hart zu arbeiten und dich ausschließlich deinen Studien zu widmen? Warum mußt du immer nach Wegen suchen, die gesamte Lernprozedur zu verkürzen? Nach irgendwelchen abstrusen Patent rezepten?« Wyrdrune wußte darauf nichts zu antworten. Wieder seufzte Merlin. »Du warst ein sehr vielversprechender Student. Seit LeFay ist mir niemand mehr mit einer solch natürlichen Begabung begegnet. Bedauerlicherweise aber war dies nicht das einzige, das du mit ihr gemeinsam hattest. Ihr beide seid ähnlich verantwortungslos gewesen, ähnlich ungeduldig. Du weißt, wenn du auch nur eine Unze seiner hartnäckigen Zielstrebigkeit besessen hättest, wäre aus dir ein zweiter Al’Hassan geworden. Ich hatte ge hofft, daß die paar Jahre Pause dir etwas mehr Reife und eine deutli chere Perspektive gegeben hätten. Als ich hörte, daß du zu mir woll test, glaubte ich schon, daß du deine Lektion gelernt hättest und zu einem weiteren Versuch bereit seist. Ich war sogar willens, beim für die Zulassungen zuständigen Dekan wegen dir zu intervenieren. Aber stattdessen werde ich jetzt wohl mit der Polizei verhandeln müssen. Ich weiß nicht, Karpinsky, was ich mit dir machen soll. Du bist ein emotionaler Krüppel – wie der junge Lancelot.« Er griff nach dem Telefonhörer. »Betty? Sagen Sie das Essen ab, okay? Entschul digen Sie mich beim Fakultätsvorsteher. Und keine Anrufe, bitte.« Damit legte er wieder auf. »Ich denke, du brauchst einen Anwalt.
Und nun erzähl mir alles darüber.« »Der Gedanke ist mir gekommen, als ich mir eine Zeitung kaufte, um die Stellenanzeigen durchzusehen«, erzählte Wyrdrune kleinlaut. »Ich wollte unbedingt Arbeit finden, irgendeinen Job, um meine Miete zahlen, ein paar Lebensmittel einkaufen und vielleicht sogar etwas für die Vorlesungen beiseitelegen zu können. Ich wollte wirk lich zurückkommen, Sir, und es diesmal richtig machen. Das schwö re ich.« »Ja, ja, schon gut. Erzähl weiter, komm endlich zur Sache.« »Dabei ist mir der Artikel über die Auktion der Artefakte regel recht ins Auge gesprungen«, fuhr Wyrdrune fort. »Ich begann ihn zu lesen. Als ich zu der Stelle mit den Runensteinen kam, hat es mich plötzlich überkommen. Ich weiß nicht, was mich da geritten hat, aber ich hatte plötzlich das Gefühl, daß ich die Steine unbedingt haben mußte. Es mag sich vielleicht sonderbar anhören, Sir, aber diesbe züglich gab es für mich gar keine Frage. Ich sah nur, daß ich, wenn es mir gelang, die Steine zu stehlen und zu verkaufen, alle meine Rechnungen bezahlen konnte und genug Geld übrigbehalten würde, um wieder zur Schule zu gehen und meine Studien zu beenden. Diesmal wollte ich es richtig machen. Aber irgendwie schienen all diese Überlegungen von untergeordneter Bedeutung zu sein. Ich vergaß die Stellenanzeigen, schnitt den Artikel aus und las ihn im mer wieder. Dabei wurde der Wunsch, die Steine in meinen Besitz zu bringen, immer stärker. Es war auch nicht wirklich ein Wunsch, sondern eher eine Art Zwang. Ich spürte, ich mußte es einfach tun. Nichts anderes schien mehr wichtig. Also machte ich einen Plan. Ich würde mich als alter Mann verkleiden, als Zauberer, und die Steine bei der Auktion stehlen. Die Aufmerksamkeit der Anwesenden woll te ich irgendwie ablenken, durch ein Feuer…« »Na klar, wodurch auch sonst?« brummte Merlin trocken. »Alles lief genau nach Plan – bis zu dem Moment, in dem ich die Steine entwenden wollte. Es zeigte sich aber, daß noch jemand die gleiche Idee hatte wie ich. Ein Mädchen. Sie versuchte im selben Augenblick nach den Steinen zu greifen wie ich, und wir konnten beide mit knapper Mühe und Not fliehen.« »Aber ihr habt die Juwelen gestohlen?« »Ja, sie ergriff sie in dem Augenblick, in dem ich uns aus dem Saal teleportierte.« Merlin zog die Augenbrauen hoch. »Ihr habt euch teleportiert?« »Ich weiß, ich bin eigentlich noch nicht für Teleportationszauber
bereit, aber ich dachte mir, es sei eine Möglichkeit, zu entkommen… Merkwürdig, danach bin ich darin immer besser geworden. Es ermü det mich nicht einmal mehr. Und ich denke, ich weiß auch warum. Wahrscheinlich sind die Runensteine daran schuld.« »Wieso glaubst du das?« fragte Merlin stirnrunzelnd. »Ich kann es mir einfach nicht anders erklären. Man hat sie als verzauberte Runensteine mit unbekannten Eigenschaften eingestuft, und zweifellos sind sie verzaubert. Das ist der eine Teil des Pro blems. Kira – so heißt das Mädchen, mit dem ich die Steine gestoh len habe – und ich versuchten, die Juwelen zu verkaufen… Nun, um ehrlich zu sein, wir haben sie tatsächlich mehrmals verkauft – aber die Steine kommen immer wieder zu uns zurück. Offenbar können wir sie nicht mehr loswerden. Und einander, wie es scheint, auch nicht mehr. Wir kommen nicht sonderlich gut miteinander aus. Trotzdem scheint es so, als klebten wir auf geheimnisvolle Weise aneinander fest – als wollten die Steine nicht, daß wir uns trennen. Zudem habe ich seit kurzem das merkwürdige Gefühl, daß es nicht mal meine Idee war, die Runensteine zu stehlen. Ich weiß, das hört sich vielleicht verrückt an, aber irgendwie wächst in mir der Ver dacht, die Steine wollten, daß ich sie stehle, und daß ich in dieser Sache nie wirklich eine Wahl hatte. Ich weiß, es hört sich an, als suchte ich nach Ausreden, Entschuldigungen, Sir, aber dem ist nicht so. Es sind wirklich meine Gefühle, Sir. Offen gesagt, ich habe Angst. Außer der Polizei sind noch andere Leute hinter uns her, und in den letzten Tagen erlebe ich seltsame Dinge. Ich weiß nicht, was mit mir vorgeht. Irgendwie scheine ich stärker zu werden. In meiner Brust streiten sich zwei Seelen. Einerseits möchte ich die verdamm ten Steine loswerden, andererseits wiederum würde ich sie gern behalten. Ich weiß nicht mal, warum. Und dann diese seltsamen Träume, die ich neuerdings habe. Darin sprechen Leute zu mir in einer Sprache, die ich nicht mal verstehen kann…« »Wo sind die Runensteine jetzt?« »Hier, in meiner Tasche.« Wyrdrune zog den Beutel hervor. »Gib sie mir.« Der junge Mann reichte Merlin den Beutel über den Schreibtisch. »Setz dich. Du siehst aus, als würdest du jeden Moment einen Nervenzusammenbruch bekommen.« Mit gerunzelter Stirn betrach tete Merlin den Beutel. »Was, um Himmels willen, hast du hier mit gebracht? Eine solche Kraft habe ich nicht mehr gespürt seit…« Seine Stimme versank in einem undeutlichen Gemurmel.
Der Magier schüttelte die Steine auf die Schreibtischplatte und starrte sie an. Dann griff er in die Tasche und zog eine rechteckige Brille mit Metallrahmen hervor. Umständlich setzte er sie auf, unter suchte die Steine einzeln und betrachtete eingehend die kaum wahr nehmbaren Runen, die auf der Oberfläche eingeritzt waren. »Ich kann diese Schrift nicht entziffern«, meinte er schließlich gedehnt. »Ich habe absolut keine Vorstellung, welche Sprache das sein könnte. Es sei denn… Nein, das ist nicht möglich. Archime des…« Der Computer auf dem Schreibtisch erwachte mit leisem Sum men. »Ja, Professor?« fragte er mit einer Jungmännerstimme mit britischem Akzent. »Wirf mal einen Blick hier drauf und sag mir, was du damit an fangen kannst«, befahl Merlin und hielt einen Stein vor den Schirm. »Verdammt nützliche Dinger, diese Computer«, brummte er. »Ich hätte nie geglaubt, daß Sie sich entschließen könnten, sich einen zuzulegen«, meinte Wyrdrune. Merlin zuckte die Achseln. »Die Fakultät hat ihn mir gekauft. Of fen gesagt habe ich keinen Schimmer, wie die Dinger funktionieren. Ich weiß zwar die Alchemie richtig anzuwenden, um ohne Petroleum Plastik herzustellen, und ich begreife auch natürlich die belebenden Prinzipien, mit denen man diese kleinen Dinger, die sie Chips nen nen, funktionsfähig macht, aber alles andere ist für mich ein Myste rium. Irgendwo habe ich hier ein Buch stehen, in dem das erklärt wird, aber ich kann mir auf all das keinen Reim machen.« »Ich habe nichts dergleichen in meinen Speichern, Professor«, meldete Archimedes. »Was ist mit der Universitätsbibliothek?« »Mit dem Bücherei-Computer habe ich mich bereits ausge tauscht«, erklärte Archimedes. »Es könnte Griechisch sein. Aber wenn es Griechisch wäre, könnten wir es doch lesen, nicht wahr?« Der Computer kicherte. »Tut mir leid.« »Macht nichts, Archimedes. Trotzdem vielen Dank.« »Ich wünschte, ich könnte hilfreicher sein, Professor, aber ich bin nur so gut wie mein Input, das wissen Sie. Kann ich sonst noch et was für Sie tun?« »Nein, das ist im Moment alles.« »Ausgezeichnet.« Merlin zog eine Grimasse. »Merkwürdige Antwort.« Mit gespitz ten Lippen betrachtete er die Steine. »Was sie auch sein mögen«,
murmelte er, »die Steine verfügen jedenfalls über eine immense Macht. Und ich empfinde eine starke Verbundenheit mit ihnen.« »Also glauben Sie mir?« »Ich glaube, was du mir erzählt hast«, meinte Merlin. »Ebenso glaube ich, daß du da in eine Sache von sehr großer Bedeutung hin eingestolpert bist. Und ich bin überzeugt, daß ich diese Runen nicht entziffern kann. Entweder gehören sie zu einer künstlichen Sprache, sind der persönliche thaumaturgische Code von irgend jemand, oder gehören zu einer Sprache, die noch weit älter ist als ich. Und wenn ich bedenke, woher diese Steine kommen, ist das letztere für mich das Wahrscheinlichste. Und das ist sehr besorgniserregend. Wirklich sehr besorgniserregend.« »Was soll ich Ihrer Meinung nach jetzt tun, Sir?« fragte Wyrdru ne. »Natürlich müssen wir die Polizei einschalten. Und du brauchst einen verdammt guten Anwalt. Aber bevor wir weitere Schritte un ternehmen, möchte ich herausfinden, was es mit den Steinen auf sich hat. Ich möchte sie mit zu mir nach Hause nehmen. Habt ihr einen sicheren Platz, an dem ihr bleiben könnt?« »Ja, Sir, wir wohnen…« »Behalt es für dich. Ich will es nicht wissen. Auf diese Weise komme ich nicht in Verdacht, direkt oder indirekt einen Flüchtigen zu verstecken. Persönlich würde es mir zwar nichts ausmachen, aber die Verwaltungsspitze der Universität würde laut aufheulen, wenn ich sie negativ in die Schlagzeilen brächte.« Er schüttelte den Kopf. »Es hat mal Zeiten gegeben, da hätte ich mich mit solchen Dingen niemals beschäftigt.« Merlin seufzte. »Ich werde wohl alt. Aber schauen wir mal, was ich über diese Dinger hier herausfinde. Komm morgen wieder zu mir. Wir werden zusammen essen.« »Sir, eine Sache noch…« »Ja?« »Ich überlasse Ihnen die Runensteine wirklich sehr gern, aber ich fürchte, sie werden nicht bei Ihnen bleiben.« »Ich glaube doch, daß ich es schaffe, sie bei mir zu behalten«, meinte Merlin. »Weiß sonst jemand, daß du hier bist?« »Nein, Sir – das heißt, Kira weiß es, und dann natürlich Mrs. Soames…« »Mach dir um Betty keine Sorgen. Bis spätestens heute abend hat sie deinen Namen vergessen – wenn sie ihn nicht schon jetzt verges sen hat. Die Frau hat ein Gedächtnis wie eine Eintagsfliege. Aber
sonst weiß keiner, daß du mich aufsuchen wolltest?« »Nein, Sir, niemand.« »Fein. Vielleicht sollte das auch so bleiben, bis wir entschieden haben, wie wir weiter vorgehen. Brauchst du Geld, um die nächsten paar Tage zu überbrücken?« »O nein, Sir, wir haben ja etwas Geld.« »Richtig, aus dem Verkauf eures unrechtmäßig erworbenen Be sitzes. Sicher wäre es auch zu schwierig gewesen, das Geld zurück zugeben. An deiner Stelle würde ich in der nächsten Zeit nicht zu sehr mit den Scheinen um mich werfen. Zudem könnte es teuer wer den, dich aus dieser schlimmen Sache herauszuholen.« »Sie sollen wissen, daß ich Ihnen sehr dankbar bin, Sir«, sagte Wyrdrune. »Ich weiß, daß ich für Sie eine Enttäuschung gewesen bin, und es ist sehr freundlich von Ihnen, mir trotzdem aus dieser Sache herauszuhelfen.« »Das hat nichts mit Freundlichkeit zu tun, Karpinsky. Die Sache wird dich teuer zu stehen kommen. So etwas wie selbstlose Hilfe gibt es nicht, wie du weißt. Von jetzt an tust du genau, was ich dir sage. Du kannst versichert sein, daß ich mich für meine Hilfe an dir schadlos halten werde. Du wirst irgendwann auch ein paar Dinge für mich erledigen. Aber alles der Reihe nach. Finden wir erst mal her aus, welche Probleme du dir diesmal wieder aufgeladen hast. Ver schwinde jetzt und versuch, jeglichen Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen – wenn es dir eben möglich ist. Wir sehen uns morgen.« »Da ist ein Anruf für Euch, Effendi«, sagte der Konsulatsattache mit einer respektvollen Verbeugung. »Ein Mr. Rozetti. Er besteht darauf, nur mit Euch zu sprechen.« »Danke, Hakim«, erwiderte Mustafa, ohne sich umzuwenden. Er stand vor dem großen Glasfenster und schaute über die Stadt hinweg. »Ich werde den Anruf hier entgegennehmen.« Der Attache verbeugte sich erneut und verließ den Raum. Mustafa trat an den großen spiegelblank polierten Kirschholz-Schreibtisch und nahm den Telefonhörer ab. »Ja, Mr. Rozetti?« »Ist das Telefon abhörsicher?« »Alle Telefone in der Botschaft sind gegen Mithörer durch Über wachungszauber gesichert«, beruhigte Mustafa ihn. »Sie können offen sprechen, Mr. Rozetti.« »Sehr gut. Schließlich kann man heutzutage nicht vorsichtig ge nug sein. Verstehen Sie, was ich meine?« »Natürlich verstehe ich genau, was Sie meinen. Mr. Rozetti.
Würden Sie nun freundlicherweise zu dem Grund Ihres Anrufs kommen?« »Ich habe sie gefunden.« Mustafa schwieg einen Moment lang, um sicher zu sein, daß seine Stimme gleichmütig klang. »Wo sind sie?« »Nicht so eilig, Mr. Sharif.« Rozetti lachte. »Zuerst müssen wir noch einige – sagen wir – Konditionen abklären.« »Was für Konditionen?« »Einige Zusicherungen. Als erstes – mein Name bleibt völlig aus dem Spiel. Nicht mal diesen Anruf hat es je gegeben. Zum zweiten muß Ihrem Chef, Scheich Al’Hassan, eindeutig klargemacht werden, daß ich mit dieser ganzen Sache nicht das geringste zu tun habe. Diese Leute kamen von selbst zu mir, und ich habe vom ersten Mo ment an hundertprozentig mit Ihnen kooperiert. Sie sorgen dafür, daß der Scheich davon überzeugt wird. Okay?« »Einverstanden.« »Einen Moment. Ich bin noch nicht fertig. Die Belohnung – die kriege ich doch, oder? Und das Geld von der Versicherung. Ich habe schließlich ’ne Menge Leute auf die Sache angesetzt, wenn Sie ver stehen, was ich meine. Ich denke, ich sollte dafür entschädigt wer den. Das ist doch nur fair, oder?« »Wenn Ihre Information mich zu den Dieben und den Runenstei nen führt, werden Sie dafür – wie nannten Sie es doch gleich? – entschädigt werden«, erklärte Mustafa. »Und über Ihre Identität wird Stillschweigen bewahrt. Brauchen Sie sonst noch irgendwelche Zu sicherungen?« »Yeah, da ist noch etwas.« Rozetti zögerte. »Hören Sie… eehhmm… verstehen Sie mich nicht falsch, aber ich möchte nicht, daß Sie nochmals persönlich zu mir kommen. Nach diesem Deal sind wir quitt. Ich habe ein Geschäft, um das ich mich kümmern muß. Schicken Sie doch einfach jemand mit dem Geld vorbei. Vor zugsweise in bar, natürlich.« »Natürlich. Ganz wie Sie wünschen. Und nun – wo sind sie, Mr. Rozetti?« »In Boston.« »Was soll das heißen – in Boston? Boston ist eine ziemlich große Stadt.« »Sie haben heute früh den Zug nach Boston genommen. Ich hatte mir schon gedacht, daß sie die Stadt verlassen würden, und ließ die Bahnhöfe und Flughäfen von meinen Leuten überwachen – für alle
Fälle. Tatsächlich hatten wir Glück. Die beiden sind richtige Ama teure. Sie wurden in der Penn Station beobachtet, wie sie in den Zug nach Boston stiegen. Ich habe ein paar Freunde in Boston angerufen, die sich bei ihrer Ankunft an ihre Fersen hefteten. Sie wohnen im Copley Plaza.« »Diese Freunde in Boston – wissen sie, warum sie die Diebe für Sie überwachen sollen?« Mustafa betrachtete gleichmütig die Kobra in dem Glasterrarium auf seinem Schreibtisch. »Ja, sie gaben keine Ruhe. Also mußte ich es ihnen sagen.« »Was ich wissen will – weiß außer Ihnen noch jemand von mei nem großen Interesse an dieser Sache?« »Wie bitte? Nein, ich habe die Angelegenheit vertraulich behan delt, wie Sie es wollten. Außerdem – warum sollte ich die Beloh nung mit jemandem teilen? Dieses Geschäft läuft doch nur zwischen Ihnen und mir, oder?« »So ist es, Mr. Rozetti«, sagte Mustafa. »Und ich bin hocherfreut, daß wir es so erfolgreich abschließen konnten. Würden Sie bitte einen Augenblick in der Leitung bleiben?« Er nahm den Hörer vom Ohr und legte ihn vorsichtig in das Glas terrarium. Dann murmelte er ein paar Worte auf Arabisch und mach te mit der Hand eine träge Bewegung zu der Schlange hin. Die Ko bra glitt auf den Hörer zu und zwängte sich durch die Muschel in den Apparat. Wenige Sekunden später war sie verschwunden. Mustafa konnte, obwohl der Hörer im Terrarium lag, Rozettis Stimme am anderen Ende deutlich hören. »Sharif? Sharif, sind Sie noch da? Hallo? Hallo, Sha – was zum…« Und dann folgten ein lautes Keuchen und ein gellender Aufschrei. Mustafa griff in das leere Terrarium, nahm den Hörer heraus und legte ihn lächelnd auf die Gabel zurück. Darauf hatte die Leitung nur noch ein offenes Ende.
KAPITEL
R
SIEBEN
iguzzo hatte Kopfschmerzen. Er starrte auf den Körper von Tony Rozetti hinunter und wunderte sich, daß er nichts anderes emp fand als Kopfschmerzen. Immerhin hatten sie sich beide sehr lange gekannt. Sicherlich waren sie nie Freunde gewesen, aber schließlich bedeuteten alte nachbarschaftliche Bande doch etwas – zumindest so viel, daß eine gewisse Beziehung zwischen ihnen bestanden hatte. Riguzzo hatte damit gerechnet, irgend etwas zu empfinden, Trauer oder Mitleid, ein Gefühl des Verlustes infolge eines sinnlos ver schwendeten Lebens… Aber nichts dergleichen. Wahrscheinlich, dachte er, weil er schon lange damit gerechnet hatte, daß dies früher oder später geschehen würde. Seine Mutter hatte es schon vor Jahren prophezeit. Er erinnerte sich noch deutlich, wie sie ihn immer wieder vor Rozetti und seinen wilden Freunden gewarnt hatte. »Bleib weg von Porfirio Rozetti und seiner Bande«, hatte sie schon gesagt, als er gerade zwölf Jahre alt war. »Sie bringen nichts als Ärger. Dieser Junge wird noch mal ein schlimmes Ende nehmen, du wirst schon sehen. Mir tut nur seine arme Mutter leid.« Guido trat zu ihm und übergab ihm eine Papiertüte. »Das hat ihn erledigt, Lieutenant. Ich habe es in eine Tüte gesteckt, weil ich mir dachte, daß Sie eine Analyse haben wollen oder so was…«
Riguzzo warf einen Blick in die Tüte. Eine tote Schlange lag dar in. Eine Kobra. »Ich habe das Vieh getötet«, erklärte Guido. »Wir hörten den Boss schreien, und Louie und ich stürzten herein. Wir fanden ihn genau so, wie Sie ihn sehen. Die Schlange hatte sich auf dem Schreibtisch zusammengerollt, richtete sich aber sofort auf und zischte uns an. Ich habe sie mit einem Stuhl erschlagen.« Der zerbrochene Stuhl lag noch auf dem Boden, und die Schreib tischplatte wies an den Stellen, die Guido mit dem Stuhl getroffen hatte, tiefe Einkerbungen auf. Riguzzo übergab die Tüte einem sei ner Beamten. »Gebt das den Jungs im Labor.« »Ich denke, jemand hat das Biest in seinen Schreibtisch gesteckt«, meinte Guido. »Er telefonierte gerade und wollte sicher was aus den Fächern nehmen. Dabei muß die Schlange herausgekrochen sein und ihn gebissen haben.« Riguzzo ging um den Schreibtisch herum. »Die Schubladen sind alle geschlossen.« Guido zuckte die Achseln. »Vielleicht hat er sie mit dem Brust korb zugedrückt, als er nach vorn auf die Platte sackte.« Riguzzo nickte nachdenklich. So könnte es gewesen sein. Er be trachtete Rozettis zusammengesunkenen Körper. Der Telefonhörer baumelte an der Schnur dicht über dem Boden. »Wen hat er angerufen«, fragte er. »Ich weiß es nicht, Lieutenant«, sagte Guido. »Aber Sie können das doch sicher leicht herausfinden.« Riguzzo nickte. »Du hast sonst nichts angerührt?« »Nur den Stuhl, mit dem ich die Schlange tötete. Aber Sie werden meine Fingerabdrücke überall im Büro finden. Ich war oft hier drin nen. Mark und Louie übrigens auch.« »War sonst noch jemand im Büro, der die Schlange einge schmuggelt haben könnte?« »Seit gestern nicht. Wir hatten gestern abend ’ne Pokerrunde hier. Der Boss, Mark, Louie, ich und Anthony. Wir haben bis ein Uhr morgens gespielt und dann die Bude dicht gemacht, als wir gingen. Und heute war außer mir und dem Boss keiner hier drinnen. Ich habe die Schlange bestimmt nicht hiergelassen, das ist so sicher wie die Hölle. Aber leider – ich kann’s nicht beweisen.« »Ich halte dich nicht für den Täter, Guido«, brummte Riguzzo. »Aber vermutlich ist es auch sinnlos, dich zu fragen, wer ein Interes se an seinem Tod haben könnte?«
Guido schnaubte. »Machen Sie Witze? Ich könnte Ihnen auf der Stelle ein Dutzend Burschen nennen.« »Das könnte ich auch«, meinte Riguzzo trocken. »Aber dabei ist keiner, der eine Schlange dazu benutzen würde. Das ist nun wirklich nicht ihr Stil, nicht wahr?« Damit ging er ins Restaurant zurück. Cleary hinter der Bar legte gerade den Hörer auf. »Das war Hellerman«, nannte er den Namen eines anderen Revier-Detectives. »Halt dich fest. Weißt du, wer ebenfalls vor wenigen Minuten tot aufge funden wurde? Unser alter Freund Fats.« Riguzzo runzelte die Stirn. »Wann?« »Heute früh, gegen sechs Uhr. In seinem Pfandhaus hat es ein Feuer gegeben. Der Laden brannte so schnell nieder, daß er keine Chance mehr hatte, lebend herauszukommen. Die Feuerwehrleute fanden seine verkohlte Leiche. Sie sagen, es sei Brandstiftung gewe sen.« Riguzzo schürzte die Lippen. »Sicher purer Zufall«, sagte er iro nisch, »daß Fats und Rozetti zur gleichen Zeit den Löffel abgeben.« »Yeah, wie auch das Feuer bei Christie’s reiner Zufall war«, nick te Cleary. »Und das Feuer in dem Penthouse auf der Fifth Avenue. Die Wohnung dieses mysteriösen John Roderick, der spurlos ver schwunden ist. Ein Penthouse für eine Million Dollar geht in Flam men auf, und der Bursche meldet sich nicht mal, um sich den Scha den von der Versicherung bezahlen zu lassen.« »Du meinst, da gibt es eine Verbindung?« fragte Riguzzo. »Sag du es mir«, knurrte Cleary. »Hellerman hat nirgends eine Police entdecken können, und er hat die meisten großen Versicherer überprüft. Schlimmer noch, er findet nirgends Angaben über einen John Roderick, nur einen Kontoauszug und eine Bargeldreserve in der First City Bank. Zusammen ungefähr 150.000. Portogeld für jemand, der eine solche Wohnung hat. Keine Lebensversicherung, keine Krankenkasse, keine Schließfächer mit Aktien… Der Kerl hat sogar Steuern gezahlt. Nach den Unterlagen des Finanzamtes war der Bursche eine Art selbsternannter Gutachter. Was bedeutet, daß er ziemlich gut über Galerien und Versteigerungen informiert sein mußte. Hat letztes Jahr gerade mal 45.000 verdient. Und wohnt in einem Millionen-Dollar-Penthouse. Und jetzt kommt der Hammer. Hellerman hat was gerochen und sich an die Arbeit gemacht. Er überprüfte die Geburtsurkunde, die Roderick für seine Sozialversi cherungskarte vorgelegt hat. Danach ist John Roderick am 20. De zember 2205 in Providence, Rhode Island, geboren und müßte jetzt
40 Jahre alt sein. Leider gibt es aber auch eine Sterbeurkunde für denselben John Roderick, nach der er am 23. Januar 2206 verstorben ist.« Als Wyrdrune in das Hotelzimmer zurückkehrte, hörte er im Bad das Wasser rauschen. Kiras Kleider lagen achtlos auf dem Bett und dem Boden verstreut, und eine teure Flasche teurer Scotch und ein Kübel mit Eis standen auf einem Tablett des Zimmerservice. Die Whiskyflasche war zu einem Drittel geleert. In einem Schüsselchen lagen noch ein paar Tortillachips, daneben stand ein Teller mit schar fem Salsa. Scotch und Salsa? Wyrdrune drehte sich fast der Magen um. Das Fernsehgerät lief ohne Ton, und stattdessen dröhnte aus dem Radio, das auf einen Oldiesender eingestellt war, der treibende, hämmernde Cybersound der New Romancers. »Kira!« schrie Wyrdrune laut, um den Lärm zu übertönen. »Bist du das, Zauberkünstler?« antwortete sie aus dem Bad. »Und was würdest du tun, wenn ich es nicht wäre?« Ein Messer zischte etwa zwei Zoll an seinem linken Ohr vorbei und bohrte sich in die Wand. Kira kam aus dem Bad. Sie hatte ein weißes Hotelbadetuch um den Körper gewickelt. Ihr nasses schwar zes Haar hatte sie nach hinten gekämmt. Wasser tropfte auf den Teppich. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und sah Wyrdrune mit hochgezogenen Brauen an. »Ich mußte das doch schließlich fragen, oder?« Er drehte sich um und zog das Messer aus der Wand. »Die Hotelleitung dürfte das nicht sonderlich gutgeheißen.« Mit dem Finger fuhr er über die Ker be in der Wand und sah sich das Messer etwas genauer an. Die schlanke, etwa neun Zoll lange Klinge war rasiermesserscharf. Der aus Knochen gearbeitete Griff war nochmals vier Zoll lang. Das Messer war nicht als Taschen- oder Jagdmesser zu gebrauchen. Es diente nur einem einzigen Zweck: Menschen zu töten. Wyrdrune wog die Waffe in seiner Hand. »Du willst mir also sagen, daß du das hier mit zum Duschen genommen hast?« »Ich habe es immer in Griffweite«, sagte sie und nahm ihm das Messer aus der Hand. Er drehte die Musik leiser. »Wie du sicher weißt, sind wir nicht auf einem Ferientrip«, brummte er. »Bei dieser Lautstärke könnte jemand leicht das Schloß aufbrechen und ins Zimmer gelangen, ohne daß du ihn hörst.« »Oh, ich verstehe.« Sie warf das Messer hoch, fing es an der Spit ze auf und ließ es nochmals gekonnt durch die Luft wirbeln. »Schät
ze, du hast recht«, meinte sie schließlich mit gespieltem Ernst. »Ich sollte etwas vorsichtiger sein.« Er zog eine Grimasse, goß sich einen kleinen Schluck Scotch in ein Glas und kippte ihn hinunter. Dann füllte er sein Glas noch ein mal. »Ich darf sicher nicht hoffen, daß du zufällig einen Fön mit ein gepackt hast, oder?« fragte sie. Wyrdrune schnippte mit den Fingern und deutete mit Daumen und Zeigefinger eine Pistole an. Ein Strom warmer Luft traf ihr Ge sicht, und sie keuchte überrascht, als sich ihr Haar wie aus eigenem Antrieb zu ihrer gewohnt zerzausten, an den Seiten nach hinten ge kämmten und vorn geometrisch abfallenden Frisur legte. Das ganze dauerte kaum ein paar Sekunden. »He!« Sie fuhr herum, betrachtete ihr Bild im Spiegel und zupfte hier und da eine Strähne zurecht. »Nicht schlecht. Du könntest dir damit ein schönes Leben machen.« »Den Gewerkschaften würde das nicht besonders gefallen«, er klärte Wyrdrune. »Da gibt es ein paar Jobs, die Adepten nicht erlaubt sind. Es wäre unlauterer Wettbewerb. Aber ich habe meiner Freun din immer so die Haare gemacht.« »Du hast mir nie erzählt, daß du eine Freundin hattest.« »Hatte ist das richtige Wort. Sie verließ mich wegen eines jungen Konzern-Hexenmeisters aus L.A. Ein gebräunter Muskelprotz mit chauffeurgesteuerter Limousine, maßgeschneiderter Seidenrobe, am Hals offenen Hemden und einem Dutzend magischer Amulette an dicken Goldketten. Wahrscheinlich hatte er genug Geld, um ihr das Leben zu bieten, das sie sich so sehr wünschte.« »Wie ist das Treffen mit dem alten Mann verlaufen?« wechselte Kira das Thema. »Hat er dich empfangen?« Wyrdrune räusperte sich erneut und genehmigte sich einen weite ren Drink. Krampfhaft versuchte er, sie nicht anzustarren. Sie saß mit untergeschlagenen Beinen in einem Sessel vor ihm. Es war keine absichtlich provokante Pose, wirkte aber dadurch um so aufreizen der. Zum ersten Mal wurde ihm bewußt, daß sie wirklich auffallend hübsche Beine hatte, lang, wohlgeformt und muskulös. »Ja, ich habe ihn gesehen. Wir sprachen sehr lange miteinander. Ich habe ihm alles erzählt, und er wird uns helfen.« »Was hat er über die Steine gesagt?« fragte sie. »Er meinte, er könne spüren, daß sie sehr mächtig seien, aber die eingeritzten Runen konnte er auch nicht entziffern. Er will herauszu
finden versuchen, was sie bedeuten. Er bat mich, ihm die Steine dazulassen. Ich soll ihn morgen wieder besuchen…« »Du hast ihm die Steine gegeben?« »Natürlich habe ich sie ihm gegeben. Wie sonst sollen wir heraus finden, was damit los ist? Er sagte, er sei in der Lage, sie davon abzuhalten, zu uns zurückzukehren, solange er sie untersuche. Au ßerdem gibt man dem mächtigsten Obermagier auf der Welt nicht so einfach eine Absage. Wir können froh sein, daß er uns überhaupt hilft. Du weißt, er brauchte es nicht zu tun. Zudem will er uns einen Anwalt besorgen und bei der Polizei für uns ein gutes Wort einle gen…« »Bei der Polizei? Bist du nun total übergeschnappt? Ich dachte, der Kerl wäre ein Freund von dir!« »Nun komm mal wieder auf den Teppich!« Wyrdrune versuchte zu übersehen, daß ihr Handtuch verrutscht war. »Hör zu! Wir sind da in eine Sache geraten, die für uns eine Nummer zu groß ist. Es geht um einen Zauberspruch, über dessen Charakter wir so gut wie nichts wissen. Ich kann mir vorstellen, was in dir vorgeht. Ich habe ihm die Steine auch nur ungern überlassen, mußte mich regelrecht dazu zwingen. Aber sie beeinflussen uns auf irgendeine Weise, und wir sollten versuchen dahinterzukommen, ehe etwas geschieht, das wir dann nicht mehr aufhalten können.« Sie kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe herum und nickte schließlich. »Tut mir leid. Es ist ja auch nur… nun, ich wurde ziem lich nervös, als du weg warst. So ganz allein in diesem Zimmer… Ich… ich glaube, ich habe mir um dich Sorgen gemacht.« Er senkte den Blick und nahm sich noch einen Drink. »Um mich – oder um die Steine?« »Um dich«, antwortete sie und schnitt eine Grimasse. »Du magst zwar in deinen Schulen viel gelernt haben, scheinst aber trotzdem einige Schwierigkeiten zu haben, deinen Weg zu finden.« Er lächelte mühsam. »Vielen Dank für dein übermäßiges Vertrau en.« Sie zuckte die Achseln. »Es war eben ein komisches Gefühl, dich nicht um mich zu haben. Das hat mich nervös gemacht. Es gibt hier einen Fitnessraum für die Gäste, und so beschloß ich, mich ein we nig sportlich zu betätigen. Hättest du gedacht, daß ich 160 Pfund stemme – zehn Scheiben? Das meiste, das ich bisher geschafft habe, waren 120 Pfund, und das nur ein- oder zweimal. Ein paar der Kerle, die da trainierten, haben mich angestarrt, als käme ich vom Mars
oder sonstwoher. Ich habe mich noch nie so stark gefühlt. Ich muß ’ne ziemliche Masse Überschußenergie oder sowas haben.« »Würde mich nicht wundern, wenn die Steine daran schuld wä ren«, brummte er. »Sie haben irgendwelche Auswirkungen auf uns, soviel steht fest. Vielleicht sind sie eine Art altertümlicher Talisman, der die Kraft und Macht des Besitzers steigert.« »Und was soll daran falsch sein?« »Nichts – außer der Tatsache, daß meines Wissens jede Art von Magie ihren Preis verlangt. Und was der Preis in diesem Fall sein könnte, wage ich mir gar nicht vorzustellen. Nach Ansicht von Mer lin ist die Art der Thaumaturgie, die wir heute praktizieren, die rein ste Kinderei gegen die Zaubersprüche, mit denen unsere Vorfahren herumhantierten. Zudem wissen wir nicht mal, um welche Art Magie es hier geht. Wir setzen einfach voraus, daß es sich um Weiße Magie handelt – wofür eigentlich alle Anzeichen sprechen. Aber was wird, wenn es doch Schwarze Magie ist?« »Du willst sagen, es könnte etwas wirklich Schlimmes sein?« »Ich weiß nicht viel über Schwarze Magie. Sie zu praktizieren ist heutzutage ein klarer Verstoß gegen das Gesetz. Ich weiß nur, daß dabei scheußliche Dinge passieren, die sich auch gegen den Anwen der selbst wenden können – einfach so!« Er schnippte mit den Fin gern. Ein Lederbeutel lag plötzlich in seiner Handfläche. Wyrdrunes Hand erstarrte mitten in der Bewegung. »O nein…!« »Was hast du gemacht?« rief Kira. »Ich habe überhaupt nichts gemacht. Zumindest denke ich, daß ich nichts gemacht habe.« »Hast du nicht gesagt, Merlin könne verhindern, daß die Steine zu uns zurückkommen?« Obwohl er schon wußte, was sich darin befand, öffnete Wyrdrune die Schnüre und sah in den Beutel. Seine Vermutung war richtig. Er schloß kurz die Augen und seufzte. »Das hat er jedenfalls gesagt. Ich hoffe nur, daß er sie in seine Aktentasche gesteckt und vergessen hat, sich um sie zu kümmern. Denn wenn er sie mit einem Zauberspruch daran zu hindern versucht hat, zu uns zurückzukommen, und der Spruch hat nicht gewirkt…« Er stand auf. »Ich gehe besser gleich jetzt zu ihm.« Sie sprang auf und stellte sich ihm in den Weg. »Nein, das wirst du nicht tun. Ich habe keine Lust, die ganze Nacht hier allein herum zuhängen, ohne zu wissen, was los ist. Das alles hat auch noch bis
morgen Zeit.« Sie nahm seine Hand mit dem Beutel und bedeckte sie mit ihren Händen. »Bleib ganz ruhig. Laß dich von den verdammten Dingern nur nicht verrückt machen.« Ihr Handtuch fiel zu Boden. Sie machte keinerlei Anstalten, es aufzuheben und ihre Blöße zu bedecken, sondern stand nur da und schaute ihn an, ohne seine Hand loszulassen. Er schluckte mühsam. Es war, als fühle er durch ihre Hände ihren Herzschlag. Einen langen Moment standen sie schweigend. Dann glitt sie in seine Arme, und ihre Lippen trafen sich zu einem langen Kuß. Sie riß an seinen Kleidern, zerrte sie ihm beinahe vom Körper und küßte ihn dabei wild. Rückwärts fielen sie auf das Bett, vergaßen alles um sich herum und ließen sich von ihrem verzweifelten, über wältigenden Hunger nach dem anderen hinwegtragen. Sie hockte sich rittlings über ihn, nahm sein Gesicht in ihre Hände und küßte ihn innig. »Ich hatte solches Verlangen nach dir«, flüsterte sie zwischen ih ren Küssen. »Ich habe mich gewehrt, komme aber jetzt nicht mehr dagegen an.« Es ist verrückt, hätte er ihr am liebsten gesagt, wir mögen uns nicht mal, wußte aber im gleichen Moment, daß das nicht stimmte. Er legte seine Arme um sie und drückte sie an sich, nur noch be herrscht von dem Wunsch, seinen Körper mit dem ihren zu vereinen und so zu einem Teil von ihr zu werden. Später lagen sie beisammen und betrachteten einander mit einem Gefühl liebevoller Zufriedenheit und verwunderter Verlegenheit. »Was geschieht hier mit uns?« fragte er schließlich. »Ich denke, man nennt es sich verlieben«, antwortete sie lächelnd. »Das weiß ich. Ich meinte etwas anderes. Was, wenn das hier nicht wir selbst sind?« Er nahm den Beutel mit den Runensteinen und ließ sie zwischen sich auf die Bettdecke rollen. »Wie können wir das wirklich wissen?« »Was macht das schon für einen Unterschied?« meinte sie. »Ich habe mich dabei noch nie so gut gefühlt. Was soll’s also, wenn es keinen Sinn ergibt. Ich will mich nicht darüber beschweren.« »Zur Magie unserer Vorfahren gehörten häufig sexuelle Rituale.« »Ist das alles, was du darin siehst? Ein sexuelles Ritual?« fragte sie stirnrunzelnd. »Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll«, murmelte er und
streichelte ihre Wange. »Wie fühlst du dich jetzt im Moment?« »Unheimlich gut – und doch etwas verwirrt. Es ist einfach so pas siert, nicht wahr?« Er nickte. »Und zum richtigen Zeitpunkt. Genau in dem Moment, in dem die Runensteine zu uns zurückkamen.« »Willst du damit sagen, die Runensteine hätten dich dazu verlei tet, es mit mir zu treiben? Waren sie der Grund?« Ihre Stimme klang scharf. »Die Initiative dazu kam nicht nur von mir! Du bist ja regelrecht über mich hergefallen.« »Schön, vielleicht sollte ich mal meine Ohren untersuchen lassen. Jedenfalls habe ich dich nicht ›Hilfe-Vergewaltigung!‹ schreien hören«, gab sie sarkastisch zurück. »Ich sage ja nicht, daß es mir nicht gefallen hat!« »Das ist aber verdammt großzügig von dir!« Sie setzte sich im Bett auf. »Die Vorstellung, du könntest gelitten haben, würde ich nämlich nicht ertragen.« »So habe ich das doch nicht gemeint!« Er schob die Laken beisei te, stieg aus dem Bett und begann sich anzuziehen. »Warum mußt du immer alles verdrehen?« »Ich verdrehe überhaupt nichts. Du bist doch derjenige, der jedes Wort in einer Richtung auslegt. Entschuldige bitte, daß ich nicht laut genug ›Ich liebe dich, ich liebe dich‹ geschrien habe, als du ihn drin hattest, um den ganzen Flur aufzuwecken!« »Sei nicht vulgär!« »Vulgär?« »Schon gut, ich habe es nicht so gemeint. Es ist nur nicht fair, mir etwas ins Gesicht zu schleudern, das ich im Feuer der Leidenschaft gesagt habe. Es ist… es ist nicht stilvoll.« »Stilvoll? Was, zum Teufel, hat Stil damit zu tun? Fickst du sonst im Smoking?« »Nun machst du dich allmählich lächerlich.« »Keineswegs! Wir Vögeln miteinander – und erzähl mir bloß nicht, es war nicht phantastisch für dich! –, und danach drehst du dich um und behauptest, ein paar magische Klunker hätten dich dazu verleitet! Machst einen Rückzieher! Ich sollte dir wirklich eins aufs Maul geben!« »Verstehe! Du liebst mich so sehr, daß du mich sogar schlagen willst, um es mir zu beweisen.« Mit geballten Fäusten sprang sie aus dem Bett. »Du machst mich
wahnsinnig, weißt du das?« Er packte sie sanft bei den Schultern. »Du mich auch. Aber mir wäre wesentlich wohler, wenn ich wüßte, daß dabei kein Zauber im Spiel ist.« Sie grinste. »Und ich hatte das Gefühl, es war zauberhaft.« »Du weißt genau, was ich sagen will. Stört es dich denn nicht, daß… daß etwas uns manipulieren könnte?« Ihr Lächeln verschwand. »Du meinst das ernst, nicht wahr? Du glaubst wirklich, daß es nur Magie ist?« »Kira… ich weiß es einfach nicht. Und wie ich dir schon sagte, kann die Zauberei dich verletzen, wenn du nicht genau darüber Be scheid weißt. Und ich wäre verdammt verletzt, wenn ich herausfän de, daß dies hier nur geschah, weil wir beide unter einem Zauber standen.« »Und ich dachte immer, das sollte so sein!« Er lächelte. »Du bist wirklich eine Romantikerin. Irgendwie hätte ich das von dir nie erwartet.« »Von dir hätte ich auch einige Dinge nicht erwartet. Aber ich denke, ich verstehe, was du meinst. Ich hätte ja auch nie gedacht, daß es so weit kommen würde. Irgendwie hat es uns einfach überfallen. Aber vielleicht muß es auch so sein.« »Vielleicht. Aber was, wenn es nicht so ist? Würdest du das nicht wissen wollen?« Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und schüttelte den Kopf. »Nein«, antwortete sie leise und schüttelte erneut den Kopf. »Nein, ich würde nicht wissen wollen, wenn mir etwas so schöne Gefühle verursacht, die ich aber in Wirklichkeit nicht empfinde!« Sie seufzte und schaute beiseite. »Ich meine, ich möchte es schon wissen – und wiederum auch nicht. Ich würde mir nicht wünschen, daß sie nicht wirklich sind, und würde es wissen wollen, wenn es so ist. Andererseits würde ich nicht wissen wollen, daß wir so verschaukelt worden sind. Zum Teufel, jetzt bin ich völlig durcheinander.« Sie schwieg nachdenklich. »Aber wie soll das einer wirklich jemals wissen?« Er runzelte die Stirn. »Was meinst du damit?« »Der einzige Weg, das wirklich herauszufinden, ist alles so zu be lassen, wie es ist. Mehr kann man einfach nicht tun, nicht wahr? Man muß es einfach darauf ankommen lassen. Zur Hölle, Warlock, meinst du nicht, daß es das wert ist? Und ich werde es darauf ankommen lassen, wenn du es auch tust.«
Er wollte etwas sagen, ließ es aber dann. Statt dessen sammelte er die Steine ein und steckte sie in den Beutel zurück. »Ich sollte jetzt besser zu Merlin gehen.« Sie starrte ihn an. »Du willst wirklich jetzt gehen?« »Ja, ich glaube, das ist besser.« »Das glaube ich nicht. Die Sache macht dir wirklich Sorgen, nicht wahr?« »Dir nicht?« Sie schüttelte den Kopf und hob die Schultern. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß zwischen uns etwas wirklich Schönes geschehen ist – und du offenbar die ganze Zeit versuchst, dafür eine Entschul digung zu finden.« »Und ich weiß nur, ich mache mir soviel Sorgen, weil ich möchte, daß es real gewesen ist, und nicht irgendein Zauber. Ich bin über rascht, daß jemand mit soviel Durchsetzungsvermögen und Erfah rung im Leben auf der Straße einfach die Tatsachen nicht wahrhaben will. Das macht mir wirklich Kummer.« Sie zog die Brauen hoch. »Das war wirklich nett, was du gerade gesagt hast. Irgendwie jedenfalls.« Er seufzte. »Wir sehen uns später. Geh nicht aus, okay?« Damit zog er die Tür hinter sich ins Schloß. Sie stand da, nackt, die Hände in die Hüften gestemmt, und starrte ihm nach. »Ich muß verrückt geworden sein, auf so einen Burschen hereinzufallen«, sagte sie schließlich zu sich selbst. »Vielleicht liegt es wirklich nur an den Steinen.« Sie holte tief Luft und stieß den Atem ganz langsam aus. »Aber jetzt hat er mich so weit: Ich brauche unbedingt einen Drink.« Sie griff nach der halbleeren Flasche Scotch. Im selben Moment erlosch das Licht. Merlin wohnte in einem großen Ungetüm viktorianischer Bau kunst mit vielen Giebeln, zweiflügeligen Fenstern und handgezim merten Simsen am Beacon Hill – mit einem großen, eisenbeschlage nen Rundtor als Eingang, das einer alten normannischen Torburg alle Ehre gemacht hätten, mit Baikonen, Zuckerbäckerfriesen und Spitz türmchen. Das Gebäude sah aus, als sei es von Hieronymus Bosch entworfen worden. Wie eine riesige Fledermaus hockte es auf einer Felsklippe, die biblische Wiedergabe eines Dämons von Dore – dunkel, bedrohlich, ominös. Völlig unpassend war der Rasen vor dem Haus bevölkert mit Heerscharen von drei Fuß großen Keramikzwergen in leuchtenden
Farbglasuren mit hohen, spitzen, grünrotblauen Mützen. Sie hielten Laternen, hockten auf Pilzen, winkten den Passanten fröhlich zu oder schauten ihnen mit gerunzelter Stirn und vor der Brust verschränkten Armen nach. Zu Dutzenden standen sie im Gras, duckten sich in den Garten, säumten die Stufen zum Eingang oder versteckten sich in den Büschen. Als Wyrdrune das handgeschmiedete Eisentor öffnete und den Weg zum Eingang hinaufging, bemerkte er aus dem Au genwinkel eine Bewegung. Rasch drehte er sich um, aber es war nur einer der Keramikzwerge, der in einer munteren Pose einen Finger in die Luft hob und dabei idiotisch grinste – als wolle er einige Anmer kungen bei einer hypothetischen Rede besonders unterstreichen. Wyrdrune zog eine Grimasse und ging weiter. Im nächsten Moment glaubte er ein Geräusch zu hören, fuhr erneut herum – und runzelte die Stirn. Er hätte schwören können, daß der Gnom zuvor nur einen Finger in die Luft gestreckt hatte. Jetzt waren es zwei, und er machte mit ihnen ein V – wie das Zeichen für victory – für Sieg. Nur, daß dabei der Handrücken nach vorn zeigte, so daß es nicht das V für Sieg, sondern ein anderes altes englisches Zeichen von absolut ande rer Bedeutung war. Einen Augenblick lang musterte Wyrdrune den Gnom eindring lich, drehte sich schließlich um und setzte seinen Weg fort. Erneut hörte er ein Rascheln und wirbelte herum. Diesmal war der Gnom verschwunden. Wyrdrune suchte unter den anderen Figuren auf dem Rasen nach ihm, konnte ihn aber nicht entdecken. Alle Zwerge schienen ihn anzusehen, die Gesichter zu Mienen keramischen Schwachsinns erstarrt. Mit gerunzelter Stirn stieg Wyrdrune die Stufen zum Haus hinauf und trat an das schwere Holztor. In Griffhöhe war ein großer, ver zierter Türklopfer aus Eisen eingelassen, der die Fratze irgendeines Dämons darstellte. Der Klopfer selbst bildete den unteren Teil des Dämonenkinns. Wyrdrune griff danach und hämmerte ihn dreimal kräftig gegen die Aufschlagplatte. Als er ihn losließ, öffnete die Dämonenfratze weit die Augen und starrte ihn an. »Wer ist da?« fragte der Türklopfer. Wyrdrune trat einen Schritt zurück. »Ich bin’s, Wyrdrune«, nann te er seinen Namen. »Karpinsky.« »Oh, du bist es«, sagte der Klopfer. »Dann ist es wohl besser, wenn du hereinkommst.« Die Tür öffnete sich selbsttätig mit einem langgedehnten lauten Knarren, und Wyrdrune betrat die dunkle Halle. Hinter ihm fiel die
Tür ins Schloß und verriegelte sich. Zwei kleine Lampen auf jeder Seite flammten auf und erhellten das Foyer. Wyrdrune ging über einen Läufer zu den breiten, mit Teppich ausgelegten Aufgängen, die links und rechts von der Halle zu den oberen Stockwerken hinauf führten. Links öffnete sich eine Bogentür zum Wohnzimmer, rechts ging es durch einige Holztüren hindurch in die Bibliothek. Im ersten Augenblick war es schwierig, die Räume voneinander zu unterschei den, denn in beiden reichten prall gefüllte Bücherregale aus Maha goni vom Boden bis zur Decke. An dem großen Steinkamin und den schweren, um eine lange Kaffeetafel plazierten Ledersesseln erkann te Wyrdrune das Wohnzimmer. Der Raum links war außer den Rega len noch mit einem Schreibtisch, einem ledernen Lesesessel, einem Tisch und einem Sideboard möbliert, auf dem eine Flasche Whisky und ein Tablett mit Gläsern standen. Er war ganz offensichtlich Bü cherei und Arbeitszimmer zugleich – der Raum, in dem Merlin wohl die meiste Zeit verbrachte. Während Wyrdrune noch überlegte, welches Zimmer er betreten sollte, kam Merlin die Treppe herunter, gefolgt von einer großen Holztruhe mit gewölbtem Deckel und schweren Eisenbeschlägen – ähnlich den Truhen, in denen Piraten ihre Schätze vergraben hätten. Die Kiste schwebte in einem Abstand von drei Schritten hinter ihm her. Wyrdrune bemerkte, daß Merlin zu der Wollhose vom Vormit tag jetzt eine Smokingjacke aus dunkelblauem Brokat und dazu passende Stoffslipper trug und wie üblich an seiner allgegenwärtigen Pfeife sog. Wolken eines starken türkischen Tabaks quollen aus dem Pfeifenkopf und verbreiteten den durchdringenden Geruch von ver branntem Torf. Wyrdrune rümpfte die Nase, obwohl er wußte, daß sich der Geruch im nächsten Augenblick schon verändern konnte. Und tatsächlich roch es schon im nächsten Moment angenehm nach gerösteten Haselnüssen. »Ich war gerade auf dem Dachboden und habe einige alte Unter lagen durchgesehen«, sagte Merlin und deutete auf die Truhe, die in halber Höhe hinter ihm in der Luft schwebte. »Vermutlich bist du hier, weil die kleinen Scheißdinger zu dir zurückgekommen sind. Ich habe sie erst vermißt, als ich nach Hause kam und die Aktentasche öffnete. Ich gehe wohl richtig in der Annahme, daß du sie bei dir hast?« »Ja, Sir.« Wyrdrune griff nach dem Beutel in seiner Tasche. »Hier sind sie. Vermutlich hatten Sie keine Möglichkeit, die Steine mit einem Fixier-Zauber zu belegen.«
»Wofür hältst du mich?« meinte Merlin gereizt. »Für einen tattri gen, zerstreuten Baumanbeter?« Er hatte die Druiden immer als ›Baumanbeter‹ bezeichnet, weil er sie nicht sonderlich schätzte und ziemlich verärgert darüber war, daß die Legenden auch ihn als einen solchen bezeichneten. Auch Bäume mochte er deswegen nicht, was vielleicht auch verständlich war. »Natürlich habe ich die Steine mit einem Fixier-Spruch belegt. Das Dumme ist nur, daß er offenbar nicht gewirkt hat.« Wyrdrune schluckte hart. Wenn schon Merlin die Steine nicht festhalten konnte, wer sonst sollte dazu in der Lage sein? Merlin schien seine Gedanken zu erraten. »Und das ist wirklich sehr ärgerlich«, meinte er. »Denn wenn ich die verdammten Dinger nicht festhalten kann, haben wir ein ernst haftes Problem. Ich habe den ganzen Nachmittag und Abend damit verbracht, meine alten Bücher und Aufzeichnungen durchzusehen – ohne Erfolg. Nur die Schriftrollen und Mitteilungssteine in dieser alten Truhe habe ich mir noch nicht angesehen. Vielleicht finden wir darunter etwas, das uns weiterhilft. Seit Arthurs Zeiten habe ich diese Sachen nicht mehr angerührt.« »Seit König Arthurs Zeiten?« fragte Wyrdrune ungläubig und starrte auf die Truhe. Merlin redete sonst fast nie über jene längst vergangenen Tage. »Ja«, brummte Merlin grimmig. »Ich hatte so eine böse Vorah nung, daß es zwischen Le Fay und diesem jungen Delinquenten Modred Ärger geben würde, und so nutzte ich die Situation, um meine wichtigsten Talismane und Aufzeichnungen in der Kristall höhle in Sicherheit zu bringen.« Er schnaubte. »Erstaunlich, daß sie mir alle erhalten blieben, wenn man die Umstände bedenkt. Über ihnen türmten sich die schrecklichsten Dinge, als ich sie wieder aus der Höhle holen wollte. Irgendwann hatte man auf dem Gelände eine Wohnsiedlung gebaut, und davor war dort ein Stadion für irgendwel che Turnierveranstaltungen gewesen, denn ich fand Betonstücke mit diesen modernen Runen, die ihr heutzutage Graffiti nennt, irgendwas mit ›West Harn United‹ oder ›Fußballer auf ewig‹ und sonstigem Unsinn. Offensichtlich eine spätere Perversion des alten Römischen Zirkus, der an sich schon eine unglaubliche Perversion war…« Ohne seinen Redefluß zu unterbrechen, steuerte er, gefolgt von der schwebenden Kiste, auf das Wohnzimmer zu. Zerstreut winkte er in Richtung Kamin und entfachte mehrere große Holzstücke auf dem Rost zu einem beachtlichen Feuer. Eine erneute Geste mit der Hand
galt dem Kaffeetisch, und mehrere Stapel Bücher und Papiere wur den wie von einer unsichtbaren Hand zu Boden gefegt. Mit bebenden Fingern zeigte er dann in Richtung Bibliothek, aus der wie auf einem unsichtbaren Förderband eine ganze Kette dicker, ledergebundener Bücher mit Titeln in Goldlettern in das Zimmer schwebten. Merlin setzte sich in einen hölzernen Ohrensessel mit dunkelroter Polste rung und begann die Bücher der Reihe nach aus der Luft zu fischen. Er schlug sie auf, blätterte die ersten Seiten durch, schüttelte grun zend den Kopf und schob sie mit offensichtlichem Unwillen beiseite. Sie schwebten in einem weiten Bogen durch das Wohnzimmer und die Halle zurück an ihre ursprünglichen Plätze in den Regalen der Bibliothek. »Ich war halb bei Bewußtsein, in einer Art Trägheitszustand, während ich in jenem Baum gefangen saß, ganz klebrig von seinem Saft. Und der Duft der Eicheln, die ganze Generationen respektloser Eichhörnchen in einer kleinen Höhlung sammelten, die sie direkt unter meiner Nase in den Stamm genagt hatten, ließ mich fortwäh rend niesen. Widerwärtige, lausige, wimmernde Kreaturen. Unter diesen Umständen verfolgte ich durch die Jahre hindurch den soge nannten Fortschritt. Zu ihrer Zeit konnten Lancelot und die übrigen jungen Angeber ja versuchen, die Welt zu verändern, aber ich fragte mich, was sie zu Zeiten von Richard III. Cromwell, Henry Morgan, Beau Brummel, Disraeli, Bernadette Devlin oder Maggie Thatcher – um nur einige zu nennen – angefangen hätten. Ich sah das Empire aufsteigen und zerfallen, sich aus der Asche des deutschen Bombar dements erheben und lange vor dem unausweichlichen Collapse wieder zu einem Scherbenhaufen zusammensinken. Ich dachte, Le Fays Bannspruch würde nur ein Jahrtausend oder so anhalten, aber diese Hexe belegte mich mit einem richtigen Hammer, und so hielt der Bann länger als erwartet.« Merlin schüttelte den Kopf und brummte beim Durchblättern der Bücher vor sich hin. Schließlich hielt er inne und starrte in unbe stimmbare Ferne. »Mit Avalon ging mehr verloren, als ich je erzäh len kann«, sagte er wehmütig. »Die Welt vergaß die alten Sitten und wuchs als Waise auf, unbeaufsichtigt und vernachlässigt wie ein ungewollter Bastard. Ich habe versucht, die Menschen zurück auf den rechten Weg zu führen, aber manchmal frage ich mich, ob es dafür nicht schon längst zu spät ist. In der Einfachheit liegt die Tu gend, aber die Menschen bewahren sich das Komplexe und Schwie rige, und der Glaube an das Neue ist nicht auszurotten. Ich mußte
lernen, Kompromisse zu schließen. Dabei gab es eine Zeit, in der ich nicht mal die Bedeutung dieses Wortes kannte.« Er warf Wyrdrune einen Blick zu und seufzte. »Ich höre mich si cher an wie eine vor sich hinplappernde senile alte Frau.« »Nein, Sir, das stimmt nicht«, versicherte Wyrdrune rasch. »Ich höre Sie sehr gern über die alten Zeiten sprechen. Ich meine die wirklich alten Zeiten, nicht die Jahre vor dem Collapse, von denen heutzutage jeder so fasziniert zu sein scheint. Offen gesagt, verstehe ich das überhaupt nicht.« »Du verstehst das nicht?« brummte Merlin unter seinem Bart. »Dabei ist das doch ganz einfach. Die Vergangenheit erscheint im mer unendlich viel schöner als die Gegenwart oder die Zukunft. Die Gegenwart ist ein fortwährendes Ringen um das Überleben, und die Zukunft ist entweder ein erhoffter Traum oder ein befürchteter Alp traum – je nach Veranlagung des Einzelnen. Aber die Vergangen heit… sie repräsentiert immer Sicherheit, egal, wie schlimm sie gewesen sein mag. Man denkt an die Vergangenheit wie ein alter Soldat an die tapfer ausgefochtenen Schlachten in seiner Jugend, oder wie eine alte Frau, deren Kinder schon erwachsen sind, an die Hoffnungen und Träume ihrer Jugendzeit. Die Vergangenheit steht immer für eine leichtere Zeit mit der Hoffnung auf eine leuchtendere Zukunft als die, die dann Wirklichkeit wurde. Außerdem erinnert man sich nicht immer zwangsläufig an die Art, wie sie war, sondern eher an die Art, wie sie zu sein schien – betrachtet durch den Graufil ter der fortschreitenden Jahre.« Er hob die Schultern und schnitt eine Grimasse. »Wenn ich wirklich ehrlich bin, muß ich zugeben, daß auch Camelot seine Fehler hatte. Es war vielleicht eine glorreiche Zeit, aber auch in ihr hätte es sicher, wäre die Zeit dafür reif gewe sen, Inneninstallationen, Zentralheizung und Deodorant gegeben.« Brummend kehrte er aus seinem Exkurs in die Vergangenheit zu rück. »Nun siehst du, was geschieht, wenn man in den alten Sachen auf dem Dachboden stöbert. Man beginnt mit offenen Augen zu träumen, und dann wird man wehmütig und sentimental wie eine Großmutter, die in einem Schrankkoffer unter einem Berg alter Sok ken ihre Aussteuer wiederfindet.« Er beugte sich wieder über seine Bücher und fand schließlich auch, wonach er suchte. »Ah, da haben wir es ja.« Mit dem Zeige finger tippte er auf das offene Buch. »Weg mit euch.« Er machte eine entlassende Geste, und die restlichen Bücher schwebten gehor sam in die Bibliothek zurück.
»Den verdammten Zauber, mit dem ich diese alten Relikte sicher te, hatte ich doch tatsächlich vergessen«, knurrte er und zeigte auf die Truhe. »Ich mußte nachschlagen.« Er sah unverwandt auf die Truhe, hob die Hand und murmelte in schneller Abfolge ein paar Phrasen in altem Keltisch. Nichts ge schah. Merlin zog die Brauen hoch und wiederholte den Zauber – erneut ohne sichtbaren Erfolg. Stirnrunzelnd versetzte er der Truhe einen Tritt. Der Deckel sprang auf. »Muß geklemmt haben«, brummte der alte Magier mürrisch. »Nun, schauen wir doch mal, ob uns das, was da drinnen ist, auf die richtige Spur bringt.« Er hob die Arme über den Kopf, und der Inhalt der Truhe schwebte nach oben, wie von einer unsichtbaren Fontäne emporgehoben: Papyrusrollen in goldenen und silbernen Hüllen, Lehmtäfelchen mit Keilschriftzeichen, ägyptische Kartuschen, Amu lette und Skarabäen, zylindrische Siegel, aus Halbedelsteinen ge schnitten, Steinfragmente aus sumerischen Tempeln mit kaum lesba ren Inschriften, uralte Rätselbilder, geschnitten in Elfenbein oder eingeritzt in Alabaster und Obsidian. Die Artefakte schwirrten in Arabesken über der Truhe, senkten sich dann herab und arrangierten sich von selbst auf dem Kaffeetisch, als der Deckel der Truhe zufiel. Merlin wedelte mit den Händen vor dem Gesicht herum. Der Staub, der aus der Truhe hochgewirbelt war, brachte ihn zum Hu sten. Er griff in die Tasche seiner Smokingjacke, zog ein Taschen tuch heraus und schneuzte sich heftig, ehe er das Tuch ausschüttelte und wieder einsteckte. »Nun, dann gib mir mal deine Steine.« Wyrdrune gab ihm den Lederbeutel, und Merlin schüttelte die Runensteine auf seine Handfläche. Er nahm einen davon, hielt ihn dicht vor die Augen und betrachtete die eingeritzten Runen. Dann beugte er sich über den Kaffeetisch und begann mit der Durchsicht der darauf ausgebreiteten Artefakte. Dabei summte er leise vor sich hin. »Das Teuflische daran ist«, meinte er plötzlich, »daß mir die Si tuation unangenehm vertraut vorkommt – als hätte ich das alles vor sehr langer Zeit schon einmal erlebt. Aber ich kann mich nicht mehr so recht… Hallo! Was haben wir denn hier?« Er hob ein unregelmäßiges Fragment aus dünnem Obsidian von der Größe eines Eßtellers hoch. Es trug eine Inschrift in einer längst vergessenen Sprache. Die in den Stein gegrabenen Lettern waren mit Gold ausgefüllt, so daß sich die Botschaft hell und scharf von dem
dunklen Untergrund abhob. Merlin betrachtete das Steinfragment eingehend und verglich mit gerunzelter Stirn die goldenen Lettern mit den Schriftzügen auf den drei Edelsteinen. Es gab keinerlei Zweifel – sie hatten Ähnlichkeit miteinander. Merlins Blick wurde starr, und wie in Trance begann er zu rezitieren: Drei Steine, drei Schlüssel, zu legen den Zauber. Drei Juwelen, zu bewachen die Pforten der Hölle. Drei, sie zu bändigen, drei zum Ganzen vereint. Drei, sie zu verbergen vorm Antlitz der Sonne. Drei, sie zu halten, drei, sie zu bewahren. Drei, zu bewachen den schlaflo sen Schlaf. Wyrdrune beobachtete fasziniert, wie die Starre aus Merlins Blick schwand und er sich wieder auf die vergoldeten Zeichen auf dem Obsidianfragment konzentrierte. Dabei bewegte er lautlos die Lip pen, und sein Blick wanderte zwischen der uralten Inschrift und den Runensteinen hin und her. »Ja«, sagte er zu sich selbst. »Ja, jetzt erinnere ich mich wieder. Die Zahl drei, sechs Zeilen der Vers, neunmal erscheint die drei in dem Zauber… alles mit drei multipliziert… das lebende Dreieck. Fünf kleine Dreiecke in einem Pentagramm… mit 15 Eckpunkten… fünf mal drei… und fünf große Dreiecke ergeben ein Pentagramm, und jedes steuert drei Eckpunkte zur Gesamtsumme von 15 bei… wieder fünf multipliziert mit drei, und das ergibt bei zehn Dreiecken im Pentagramm 30 Punkte… zehn mal dreißig… macht 300. Die zehn Dreiecke im Pentagramm multipliziert mit den sechs Verszei len… ergibt 60, zusammen also 360, die Gradzahl des ewigen Krei ses… natürlich. Natürlich!« »Was bedeutet das?« fragte Wyrdrune. Merlin ließ sich langsam in seinem Sessel zurücksinken. »Ein Zauberspruch aus grauer Vorzeit, ein Vers mit den mächtigsten Symbolen der Thaumaturgie – das lebende Dreieck, das alles beherr schende Pentagramm und der nie endende Kreis – angezeigt durch die stärkste der uralten Zahlenreihen. Ein bindender Zauber von unkalkulierbarer Macht.« Er nahm die Runensteine in die Hand. »Und das hier müssen die Schlüssel dazu sein. Drei vereint zum Ganzen – das lebende Dreieck. Das beherrschende Pentagramm, aus dem diese Steine entfernt wurden, ist das Schloß. Die Runensteine sind die Schlüssel dazu. Und der nie endende Kreis ist das Gefäng nis.« Wyrdrune entging die Bestürzung des alten Magiers nicht. »Um
den hemmenden Zauber zu sichern, müssen die Schlüssel im Schloß stecken – die Multiplikation mit drei, das lebende Dreieck innerhalb des Pentagramms. Doch jetzt wurden die Schlüssel entfernt, und der nie endende Kreis kann durchbrochen werden.« »Aber… ich verstehe nicht. Was hat das alles zu bedeuten?« frag te Wyrdrune verwirrt. Einen langen Augenblick schwieg Merlin. »Es bedeutet eine Ka tastrophe, gegen die der Collapse unbedeutend erscheint. Tatsächlich ist der Collapse nur der Wegbereiter dazu gewesen.« »Wofür?« »Für die Befreiung der Dunklen Mächte. Und, so unglaublich es auch klingen mag, du, Karpinsky, du bist die Schlüsselfigur in dem Spiel.«
KAPITEL
S
ACHT
ie lag nackt auf dem kalten Steinfußboden in der Mitte eines großen Raumes. Von ihrer Umgebung konnte sie kaum etwas erken nen. Ein paar Kohlebecken in ihrer Nähe erhellten nur spärlich den großen Raum und warfen dunkle, tanzende Schatten auf die Wände. Sie rollte sich am Boden zusammen und wartete darauf, daß sich ihre Augen an das Zwielicht gewöhnten. Ihre Gedanken rasten. Noch vor einem Moment – jedenfalls schien es ihr, als sei es gerade einen Moment her – war sie in ihrem Hotelzimmer gewesen. Wyrdrune war vielleicht eine Minute weg gewesen, als sie plötzlich einen eisi gen Windhauch verspürt hatte. Im nächsten Augenblick wurde alles um sie herum schwarz. Sie fühlte sich schwindlig, orientierungslos. Inzwischen war sie lange genug mit Wyrdrune zusammen gewesen, um zu wissen, wel che Gefühle man bei magischer Teleportation empfand. Nur waren die Auswirkungen diesmal schlimmer und heftiger – so, als sei sie über eine sehr weite Distanz transportiert worden. Wieder fühlte sie diesen eisigen Wind, der heftig an ihrem Körper zerrte. Sie schützte das Gesicht mit der Hand und schloß die Augen. So plötzlich, wie er aufgesprungen war, verebbte der Wind wieder. »Steh auf, Mädchen!«
Die tiefe Stimme hallte schauerlich durch das zwielichtige Gelaß. Auf einem Podium vor ihr saß eine dunkle Gestalt in einem großen Sessel. Sie stand auf und wandte sich ihr zu, machte aber keinerlei Anstalten, ihre Blöße zu bedecken. Sie war verwirrt und ängstlich, aber auch fest entschlossen, sich nichts anmerken zu lassen. »Dein Körper ist wohlgeformt«, sagte der Mann im Schatten. »Du könntest viele starke Söhne gebären. Doch solltest du in Gegenwart eines Königs nicht unbekleidet herumstehen.« Der Mann im Schatten hob die Hand, und plötzlich umhüllte ein langes, locker fallendes, golddurchwirktes Gewand aus schwarzem Samt ihren Körper. »Das ist besser«, meinte der Fremde. »Wer seid Ihr?« fragte sie, ihren ganzen Mut zusammennehmend. »Was tue ich hier? Und warum verbergt Ihr Euch in der Finsternis?« Zwei Kohlebecken neben dem Podium flammten plötzlich auf und warfen ihr Licht auf den Fremden. Er saß entspannt auf einem mit Edelsteinen besetzten Thron. Er trug einen eleganten dunklen Maßanzug. Kragen und Manschetten waren mit Spitze besetzt. Auf dem Kopf saß ein langer schwarzer Kaffiyeh, der von einem mit einer Kobra verzierten Goldband gehalten wurde. Der blutfarbene Rubin in seiner Stirn schimmerte sanft. »Ich bin Rashid Ilderim Al’Hassan«, sagte er, »und vor solchen Leuten wie dir brauche ich mich wohl kaum zu verbergen. Ihr habt etwas gestohlen, das mir gehört. Ich will es zurückhaben.« »Tut mir leid. Aber wie Ihr richtig bemerkt habt, hatte ich keinen Fetzen am Leib, als ich hier ankam.« »Wo sind die Runensteine?« »Fall doch tot um!« Der Juwel in seiner Stirn flammte auf. Ein gleißender Lichtstrahl schoß auf sie zu und traf sie genau zwischen den Augen. Sie schrie auf, sank auf die Knie und schlug die Hände vors Gesicht. »Mit der letzten Frau, die in solchem Ton mit mir sprach, hatten meine Diener drei Wochen lang ihren Spaß. Dann starb sie und wur de den Hunden vorgeworfen. Es bekäme dir besser, immer daran zu denken, wer vor dir steht. Aber da du offensichtlich die Steine nicht hast, kann nur dein junger Warlock sie mitgenommen haben. Wohin ist er gegangen?« »Ich weiß es nicht.« Wieder flammte der Juwel in Rashids Stirn auf. Diesmal brach daraus ein heller, anhaltender Strahl, hüllte sie ein und badete sie in
seiner glühenden, schimmernden Aura. Dir lauter Schrei hallte von den Wänden wider. Nach einem Augenblick, der ihr wie Stunden vorkam, erlosch der Strahl. Sie stürzte zu Boden und wand sich in Krämpfen. »Ich kann dir Schmerzen bereiten, die hundertmal schlimmer sind«, sagte Al’Hassan. »Und wenn ich Euch verrate, was Ihr wissen wollt?« sagte sie keuchend. »Vermutlich werdet Ihr mir die Wange tätscheln und mich dann gehen lassen, stimmt’s?« »Vielleicht, wenn es mir Spaß macht. Andererseits kann man auf viele Arten sterben. Du hast die Wahl.« »Das glaube ich kaum.« Sie atmete schwer. »Da müßt Ihr schon mit einem besseren Angebot kommen.« Al’Hassan mußte ungewollt lächeln. »Du bist wirklich anders, als ich dich mir vorgestellt habe.« Er erhob sich und stieg von dem Po dest zu ihr herunter. »Du fürchtest dich, doch dein Stolz verleiht dir Mut. Ich halte das für eine sehr löbliche und wertvolle Tugend.« Er stand nun dicht vor ihr. »Vielleicht überlege ich es mir und nehme dich in meinen Harem auf, wenn du dich kooperativ zeigst.« »Und das soll ein besseres Angebot sein? Ich glaube, da passe ich lieber. Ich könnte nie einen Mann heiraten, der mehr Schmuck trägt als ich.« Al’Hassan bückte sich und hob sie mühelos mit einer Hand in die Luft. Er hielt sie am Hals gepackt und schüttelte sie. »Du unver schämtes kleines Gossenkind. Ich könnte…« Die Luft entwich pfei fend seinem Brustkorb, als sie mit dem Fuß hart gegen seinen Solar plexus trat. Er knickte nach vorn ein und gab sie frei. Sie ließ dem Tritt einen kurzen rechten Haken gegen sein Kinn folgen. Er taumel te und stürzte zu Boden. Kira wirbelte herum und stürmte davon, doch ehe sie auch nur zehn Yards weit gekommen war, wurde sie schon wieder von dem sengenden Strahl umhüllt, der aus Rashids ›drittem Auge‹ hervorschoß. Sie fühlte, wie sie den Boden unter den Füßen verlor und sich in die Luft erhob. Sie keuchte laut und wand sich unter Schmerzen. Sie schwebte immer höher, fast bis unter die Decke der großen Halle. Al’Hassan stand unter ihr, und aus dem hell schimmernden Juwel in seiner Stirn schoß der grellweiße Kraftstrahl. Der Schmerz war unerträglich – als würde ihr bei lebendigem Leib die Haut abgezogen. Sie schrie und wimmerte. Er hielt sie noch einen Moment lang in halber Höhe, ließ dann den Strahl erlöschen und sah zu, wie sie auf den schwarzen Marmor
boden herabfiel. Sie stürzte wie ein Sack und lag wimmernd auf dem Boden, kaum in der Lage, sich zu rühren. »Dafür könnte ich dir die Hände abhacken lassen«, sagte Al’Has san kalt. Er wischte sich mit dem Handrücken das Blut aus dem Mundwinkel und betrachtete es, wollte kaum glauben, daß sie ihn wirklich geschlagen hatte. »Yeah«, keuchte Kira. »Ich hatte Euch gleich für einen Ausge flippten gehalten.« Er packte sie an den Haaren und zerrte ihren Kopf mit einem Ruck nach hinten, so daß sie ihm ins Gesicht sehen mußte. »Zweifel los hältst du dich für sehr schlau. Aber du hast auch nicht annähernd begriffen, was ihr da angestellt habt. Ihr habt euch in etwas einge mischt, dessen Größe und Bedeutung euer Vorstellungsvermögen bei weitem übersteigt. Etwas, gegen das euer Leben völlig bedeutungs los ist.« Er zog sie an den Haaren auf die Füße. Sie schlug mit aller Kraft nach ihm, aber ihre Faust stoppte wenige Zoll vor seinem Gesicht, als sei sie gegen eine unsichtbare Wand geprallt. Und im nächsten Moment konnte Kira sich nicht mehr rühren. Al’Hassan lächelte. »Du wirst mich kein zweites Mal mehr über tölpeln«, sagte er. Wie eine Statue stand sie mitten in der Bewegung erstarrt, die Faust zum Schlag gegen ihn erhoben. Mit dem Zeigefin ger strich er ihr über die Wange. »Du besitzt einen primitiven Zorn, der sehr anziehend auf mich wirkt. Unterwürfige Frauen langweilen mich.« Ihre Stimmbänder waren paralysiert. Er ließ seine Hand ihre Kinnlinie entlang gleiten und lächelte über den Abscheu in ihren Augen. »Wie, du weißt nichts darauf zu ant worten?« Sanft berührte er ihre Lippen. »Bald schon wirst du reden. Vielleicht entschließe ich mich trotz allem, dich zu behalten. Wilde Kreaturen sind immer sehr schwierig zu zähmen. Und diese Mühe ist doch schon das halbe Vergnügen.« Als er in seinem Stockwerk aus dem Aufzug trat, folgte ihm der blonde Mann. Im nächsten Moment spürte Wyrdrune die Spitze eines scharfen Messers an der Hüfte dicht über der Niere. »Kein Geräusch, nicht mal ein Flüstern!« Kräftige Finger hielten Wyrdrunes Nacken umschlossen und schoben ihn vorwärts. Die Messerspitze drückte sich schmerzhaft durch die Kleider. Der Blonde schob ihn durch die Tür ins Treppenhaus und drückte ihn auf dem nächsten Absatz mit dem Gesicht gegen die Wand. Mit
raschen Bewegungen tastete er ihn ab. »Was zum Teufel…« Der Druck der Klinge wurde kaum stärker. Doch das reichte, um Wyrdrune sofort verstummen zu lassen. »Kein Wort, junger Warlock. Du hast nicht mal zu blinzeln, bis ich es dir sage.« Er zog den Lederbeutel mit den Runensteinen aus Wyrdrunes Tasche. »Und jetzt drehst du dich langsam um, streckst die Arme zur Seite und preßt deine Hände flach gegen die Wand. So, als würdest du gekreuzigt.« Benommen folgte Wyrdrune den Anweisungen, drehte sich lang sam um, spreizte die Arme zur Seite und drückte die Handflächen gegen die Wand. Als er den Aufzug betrat, hatte er dem Mann kaum Beachtung ge schenkt. Er war eben nur einer von mehreren Personen gewesen, die in der Halle mit ihm zusammen in den Aufzug gestiegen waren. Jetzt sah er, daß der Mann blondhaarig war, einen Bart trug und ungefähr seine Größe und sein Gewicht hatte. Bekleidet war er mit einem konservativen, gutgeschnittenen Anzug. Kragen und Ärmel waren mit sehr schmaler Spitze besetzt. Er trug eine Goldrandbrille und wirkte auf den ersten Blick wie ein wohlhabender Steuerberater oder Anwalt. Ein Mensch, der in der Menge niemals auffallen würde. Doch bei genauerem Hinsehen mußten einem die Augen hinter den getönten Gläsern auffallen. Sie waren kalt, wachsam und bedrohlich. Er setzte die Messerspitze dicht unter Wyrdrunes Kehlkopf. »Ob du es glaubst oder nicht – ich habe dir wahrscheinlich gerade das Leben gerettet, mein Freund«, knurrte der Fremde. »In deinem Zim mer wartet nämlich ein Mann auf dich, ein höchst unerfreulicher Gentleman namens Mustafa Sharif. Sagt dir der Name etwas? Nicke oder schüttle den Kopf.« Langsam, sich des scharfen Messers an seiner Kehle bewußt, schüttelte Wyrdrune den Kopf. Er brauchte einen Moment, um die volle Tragweite der Worte des Blonden zu erfassen. Wenn jemand in ihrem Zimmer war, was war dann mit Kira geschehen? »Sharif arbeitet für Scheich Al’Hassan«, erklärte der Blonde und nickte, als er bemerkte, wie sich Wyrdrunes Augen weiteten. »Ich sehe, diesen Namen kennst du also. Nun hör mir genau zu! Wenn du lebend aus dieser Sache herauskommen willst, dann tust du genau das, was ich dir sage. Einverstanden?« Wyrdrune nickte. »Sehr gut. Wir werden jetzt zusammen durch den Flur zurück zu deinem Zimmer gehen. Du wirst an die Tür klopfen, sagen, daß du
deinen Schlüssel vergessen hast, und darum bitten, daß dir die Tür geöffnet wird. Dann gehst du sofort zur Seite und drückst dich gegen die Wand, ohne das geringste Geräusch von dir zu geben. Und du wirst auf keinen Fall etwas anderes tun, ganz gleich, was geschieht. Verstanden?« Wyrdrune schluckte hart und nickte. »Schön. Dann also los!« Sie verließen das Treppenhaus und gingen den Gang entlang. Der Mann hielt dabei Wyrdrunes Arm umklammert und drückt ihm das Messer in die Seite. Vor der Tür zu Wyrdrunes Zimmer blieben sie stehen. Der Mann sah ihn an und nickte. Wyrdrune trat an die Tür, klopfte dreimal und rief laut: »Kira, ich bin’s. Laß mich rein. Ich habe meinen Schlüssel vergessen.« Im nächsten Moment ertönte ein leises Klicken, und der Riegel wurde zurückgezogen. Der Türknopf drehte sich langsam. Sofort trat Wyrdrune zur Seite und preßte sich gegen die Wand. Der Gang war leer. Der Blonde war verschwunden. Während Wyrdrune sich noch verblüfft umschaute, ertönten aus dem Innern des Zimmers kurz hintereinander drei trockene, husten ähnliche Geräusche. Splitter platzten aus der Türfüllung, und die gegenüberliegenden Flurwand zeigte plötzlich drei Einschläge. Ein Körper sackte schwer gegen die Tür und fiel dumpf zu Boden. Schleifende Geräusche – dann öffnete sich die Tür, und der Blonde zischte: »Schnell, komm rein!« Er zerrte Wyrdrune ins Zimmer und schloß die Tür. Der Leich nam eines Mannes lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden und tränkte den Teppich mit seinem Blut. Blutspuren auch dort, wo Sharif durch die Wucht der Geschosse gegen die Tür geschleudert worden und dann zu Boden gesackt war. Wyrdrune starrte den Leichnam mit weit aufgerissenen Augen an, und sein Magen hob sich. »Mein Gott, Ihr habt ihn umgebracht!« »Das hoffe ich doch«, brummte der Blonde. In seiner behand schuhten Rechten hielt er eine halbautomatische Pistole mit einem kurzen, am Lauf aufgeschraubten Schalldämpfer. Auch wenn es verrückt war – Wyrdrune fragte sich in diesem Moment, wie diese kleine Waffe einen solchen Schaden anrichten konnte. »Aber wie – wie seid Ihr…?« Und dann wurde ihm klar, daß der Blonde nur auf eine einzige Art vom Gang verschwinden und inner halb des Zimmers hinter Mustafa Sharif hatte auftauchen können, als
dieser die Tür öffnete. »Ihr seid ein Adept!« »Ich habe ein wenig Übung in Magie«, meinte der Blonde. »Kira… Wo ist Kira?« »Vermutlich bei Al’Hassan. Sie könnte inzwischen schon tot sein, aber ich glaube, er wird sie leben lassen, solange er diese Dinger hier nicht hat.« Er griff in seine Brusttasche, nahm den Beutel mit den Runensteinen heraus und warf ihn Wyrdrune zu. »Aufmachen!« befahl er und wedelte mit der Pistole. Wyrdrune löste die Schnur und ließ die Steine auf seine Hand rol len. »Zeig sie mir«, sagte der Blonde und schwenkte erneut die Waffe. »Ganz langsam, keine plötzlichen Bewegungen.« Wyrdrune, der sah, daß die Pistolenmündung genau zwischen sei ne Augen zielte, streckte vorsichtig die Hand aus. Die Runensteine schimmerten auf der Handfläche. Der Blonde warf einen kurzen Blick darauf und ließ Wyrdrune dabei kaum länger als eine Sekunde aus den Augen. »Eine ganze Reihe Leute haben Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um an diese Juwelen heranzukommen. Ich schätze, sie sind mehrere Hunderttausend wert, aber für einen Mann wie Al’Hassan bedeutet dieses Geld nichts. Wieviel mehr wert müssen die Steine einem Adepten sein, der sie anzuwenden weiß?« Er machte wieder eine Bewegung mit der Pistole. »Leg sie wieder in den Beutel zurück – bitte.« Wyrdrune tat es. »Und nun wirf den Beutel auf das Bett, verschränke die Hände über dem Kopf, daß ich sie sehen kann, und tritt zur Seite.« Wyrdrune folgte seinen Anweisungen. Der Blonde trat zum Bett, nahm den Beutel und steckte ihn in seine Jackentasche, ohne Wyr drune eine Sekunde lang aus den Augen zu lassen. »Was kann man damit anfangen?« »Ich weiß es nicht«, sagte Wyrdrune. »Das glaube ich dir nicht.« »Hört zu, Mister, ich weiß nicht, wer Ihr seid…« »Ich bin der Mann, der dir gerade das Leben gerettet hat. Eine Ironie, wenn man bedenkt, daß ich angeheuert wurde, um dich um zubringen. Doch was soll’s? Mein Auftraggeber erlitt leider einen fatalen Unfall – wofür du eigentlich wieder dem verblichenen Mr. Sharif dankbar sein solltest. Jedenfalls nahmen die Dinge für dich eine glückliche Wendung, während mir dadurch höhere Verluste
entstanden, die ich aber wieder hereinholen werde – so oder so. Und du wirst mir dabei helfen. Ich frage dich jetzt noch einmal, welchen thaumaturgischen Zweck diese Juwelen haben.« Wyrdrune zögerte und suchte verzweifelt nach einem Ausweg aus dieser Situation. Aber er sah keinen. Selbst wenn er klar hätte den ken können – er konnte keinen Zauberspruch schneller aussprechen, als der Blonde den Abzug durchzog. Der Mann war ein Profi und würde sich nicht ablenken lassen. »Ihr würdet mich ja doch nur töten, nachdem ich es Euch gesagt hätte – selbst wenn ich es wüßte.« »Einen Schuß in die Kniescheibe, und du erzählst mir alles, was ich hören will. Aber ich denke, das wird nicht nötig sein. Zum Glück sind wir beide in einer Position, uns gegenseitig zu helfen. Du möch test sicher gern deine Lady zurückhaben und die ganze Sache unbe schadet überstehen – vielleicht sogar mit etwas Geld in der Tasche. Ich will meine Verluste hereinholen und eine persönliche Rechnung mit Al’Hassan begleichen. Die Runensteine können uns beiden hel fen, unsere respektablen Ziele zu erreichen. Hinzu kommt, daß du auf meine Hilfe angewiesen bist, denn du bist ein hoffnungsloser Amateur. Allein hättest du keinerlei Chance gegen einen Mann wie Al’Hassan.« »Ihr erwartet von mir, daß ich Euch traue?« »Bleibt dir eine andere Wahl?« Jemand hämmerte gegen die Tür. »Polizei! Macht die Tür auf und tretet zurück!« »Da – fang auf!« zischte der Blonde und warf Wyrdrune die Waf fe zu. Instinktiv fing Wyrdrune die Pistole auf. Im gleichen Moment flog die Tür auf. »Keine Bewegung! Laß die Waffe fallen!« Geduckt stürmten die Cops in den Raum. Die Pistolen in ihren ausgestreckten Händen zielten auf Wyrdrune. »Ich sagte – fallenlassen! Laß sofort die Pistole fallen!« Wyrdrune ließ die Waffe fallen und hob rasch die Hände. »Nicht schießen, bitte nicht schießen!« Der Blonde war verschwunden. Wyrdrune starrte auf die Cops, senkte seinen Blick auf das Schießeisen auf dem Boden und ließ ihn zu der Leiche von Mustafa Sharif wandern. Er fühlte Übelkeit in sich aufsteigen. »Warten Sie«, rief er. »Es ist nicht so, wie es den Anschein haben mag. Ich kann alles erklären…«
Sie packten ihn, warfen ihn mit dem Gesicht nach unten aufs Bett, drehten ihm die Arme auf den Rücken und legten ihm Handschellen an. »Nein, warten Sie doch. Sie verstehen nicht…« »Halt’s Maul!« Er wurde brutal auf die Füße gezogen und herumgedreht. Und ganz plötzlich war es unheimlich still. Der Polizist, der ihn hochgezogen und herumgedreht hatte, stand zur Statue erstarrt neben ihm, hielt seinen Arm und stierte ihn mit offenem Mund an. Hinter ihm stand ein uniformierter Cop und zielte mit der Waffe auf Wyrdrune. Auch er rührte sich nicht. Ein paar Leute standen in der offenen Tür und schauten ins Zimmer – eben falls völlig reglos. »Ich wußte, ich hätte meinen Kopf darauf verwetten können, daß du wieder in Schwierigkeiten geraten würdest«, sagte Merlin. Wyrdrune fuhr herum. Der alte Magier saß entspannt mit über kreuzten Beinen in einem Lehnstuhl und sog an seiner Pfeife. Er nahm sie aus dem Mund und drückte mit dem Zeigefinger den Tabak fester. Er schnippte mit den Fingern, und eine kleine Flamme schien aus seinem Daumen zu springen. Er nutzte sie, um die Pfeife anzu zünden, und stieß eine gewaltige Qualmwolke aus, die nach geröste tem Schweinefleisch roch. Dann blies er die Flamme an seinem Daumen aus. »Mann, bin ich froh, Sie zu sehen!« rief Wyrdrune. Merlin grunzte. »Das kann ich mir vorstellen. Du stürzt dich häu figer kopfüber in Schwierigkeiten, als ein betrunkener Ire in ein Torfmoor fällt. So jemanden wie dich habe ich noch nie erlebt. Dreh dich um.« Wyrdrune folgte seiner Anordnung. Merlin machte eine beiläufi ge Handbewegung, als wolle er eine Fliege verscheuchen. Die Hand schellen sprangen auf und fielen zu Boden. »Erst Brandstiftung, dann Raubüberfall, und nun Mord.« Merlin schüttelte den Kopf. »Du scheinst deine Bravourstückchen jedesmal steigern zu wollen.« »Ich schwöre Ihnen, Professor, ich habe diesen Mann nicht er schossen«, beteuerte Wyrdrune. »Das habe ich auch nie wirklich geglaubt«, brummte Merlin und erhob sich aus dem Sessel. »Du gehörst zu denen, die nicht mal ein Scheunentor treffen, selbst wenn sie unmittelbar davor stehen.« Er betrachtete den Leichnam. »Was war hier los?«
»Ich wurde überfallen, als ich aus dem Aufzug stieg. Ich weiß nicht, wer der Mann war. Ich habe ihn nie zuvor gesehen. Er sagte, man habe ihn angeheuert, um mich zu töten. Er ist ein Adept – und derjenige, der diesen Mann da erschossen hat. Er sagte, der Name des Toten sei Sharif, und er habe für Al’Hassan gearbeitet. Er…« »Moment mal«, unterbrach ihn Merlin. »Immer langsam, alles der Reihe nach. Zuerst wollen wir mal die Tür schließen, sonst wird man noch auf uns aufmerksam.« Er wedelte mit der rechten Hand, als wolle er jemand wegschicken. Krachend fiel die Tür zu. Wyrdrune drückte sich an einem der reglosen Polizisten vorbei und betrachtete unbehaglich die reglose Gestalt von der Seite. Dann überwand er sich, trat nahe an den Mann heran und bewegte die Hand vor dessen Gesicht hin und her. »Sind Sie sicher, daß sie uns nicht hören können?« fragte er. »Der hier atmet nicht mal. Sie sind doch nicht tot, oder?« »Natürlich nicht. Nun beruhige dich und erzähl mir, wie du in diesen Schlamassel geraten bist.« Wyrdrune atmete tief durch und erzählte Merlin, was sich seit dem Moment, als er den Aufzug verließ, zugetragen hatte. »Ich hatte nicht die geringste Chance, etwas zu unternehmen«, meinte er zum Schluß. »Das alles geschah so schnell, daß ich keinen klaren Gedan ken fassen konnte. Zudem ließ mich der Blonde keinen Moment aus den Augen. Als die Polizei an die Tür hämmerte, warf er mir seine Pistole zu, und ich habe sie aus einem Reflex heraus aufgefangen. Als sie die Tür eintraten, hat er sich einfach wegteleportiert…« »Und dich mit seiner Pistole in der Hand und einer Leiche im Zimmer der Polizei überlassen«, ergänzte Merlin. »Aber er hat mir auch die Runensteine abgenommen«, rief Wyr drune. »Tatsächlich? Sieh mal in deiner Tasche nach.« Wyrdrune griff in die Tasche und zog den Lederbeutel hervor. »Ich hätte es wissen müssen«, sagte er und zog eine Grimasse. »Was geschieht denn nun?« »Wir sollten uns so schnell wie möglich aus dem Staub machen, ehe noch mehr Leute auftauchen. Aber zu allererst müssen wir den Leichnam und die Waffe verschwinden lassen. Das dürfte bei den Behörden für einige Verwirrung sorgen.« Merlin machte eine Handbewegung und murmelte ein paar Worte. Im nächsten Moment war die Leiche verschwunden. Wenig später hatte er auch die Pistole und alle Blutspuren beseitigt.
Unbehaglich sah Wyrdrune zu den Polizisten hinüber. »Sollten Sie nicht besser ihre Gehirne vernebeln oder etwas Ähnliches?« »Wer, denkst du, bin ich? Der Große Schatten? Du weißt, auch für meine Fähigkeiten gibt es Grenzen. Ich könnte kaum ihre Erinne rung an das, was hier passiert ist, löschen, ohne ihre mentalen Fähig keiten zu beschädigen. Dies ist ein sehr delikater Prozeß, und ich habe nicht genug Zeit, ihn durchzuführen. Zudem wäre es völlig überflüssig. Ich werde deinen Namen aus dem Hotelregister löschen. Damit wären alle Beweismittel verschwunden. Sie werden denken, du hättest es getan.« »Nun, vielen Dank!« »Sei nicht unverschämt. Schließlich hast du keine Position und keinen Ruf zu verlieren. Ich dagegen sehr wohl. Niemand darf wis sen, daß ich in die Sache verwickelt bin. Für die Presse wäre das ein gefundenes Fressen, und für mich steht viel zu viel auf dem Spiel, um mich mit der Presse und der Polizei anzulegen. Ich werde meine ganze Energie brauchen, um mit Al’Hassan fertig zu werden.« »Was wollen Sie damit sagen? Sie waren sein Lehrer. Sie sind viel mächtiger als er.« »Vielleicht«, meinte Merlin. »Aber Rashid ist einen weiten Weg gegangen, seit er mein Student war. Außerdem ist er mit machtvollen Kräften im Bunde. Ich werde meine ganze Energie benötigen, um ihrem Einfluß entgegenzuwirken. Ich brauche Zeit, um meine Kräfte zu konzentrieren.« »Was ist mit Kira?« Merlin schüttelte den Kopf. »Im Moment kann ich nichts für sie tun. Es steht viel mehr auf dem Spiel als ihr Wohlergehen. Außer dem glaube ich nicht, daß Rashid ihr etwas antun wird. Vielleicht benutzt er sie als Pfand, damit du ihm die Steine bringst. Aber was immer du tust, du darfst nicht zulassen, daß sie ihm in die Hände fallen. Es wird deine Aufgabe sein, Kira zu helfen. Ich darf dafür weder Zeit noch Kraft verschwenden.« »Meine Aufgabe? Was sollte ich denn ausrichten gegen einen großen Magier? Ich bin nur ein Warlock, ein Zauberkünstler. Wenn Sie sich schon seinetwegen Sorgen machen…« »Selbst wenn es dir nur gelänge, ihn ein wenig abzulenken, wäre das schon sehr hilfreich«, unterbrach ihn Merlin. »Außerdem bist du nicht so hilflos, wie du denkst. Und Kira auch nicht. Immerhin habt ihr die Runensteine.« »Aber ich weiß sie nicht einzusetzen.«
»Das macht keinen Unterschied. Sie werden dich benutzen. Deine Kräfte wachsen, wie du selbst festgestellt hast – durch die Wirkung der Runensteine. Und sie sind zu dir zurückgekehrt. Aus Gründen, die mir immer schleierhaft bleiben werden, haben sie dich und deine Freundin Kira auserwählt. Es muß aber noch eine dritte Komponente ins Spiel kommen, um das Dreieck zu bilden. Vielleicht kommt mir diese Rolle zu. Ich weiß es nicht. Aber zu gegebener Zeit werden die Runensteine ihre Wahl treffen. Wie auch immer – meine Aufgabe ist mir schon vorbestimmt. Meine Verpflichtung ist klar. Du wirst dei nen eigenen Anteil beitragen müssen.« »Professor, ich verstehe nicht mal, wovon Sie reden«, jammerte Wyrdrune. »Komm her!« Merlin packte seinen Arm, murmelte etwas vor sich hin und teleportierte sie zurück in sein Haus am Beacon Hill. »Jetzt können wir wenigstens ungestört miteinander reden. Setz dich und hör mir genau zu. Die Dinge kommen schneller in Fluß, als ich dachte. Wenn es diesem Sharif möglich war, eure Spur bis nach Boston zu verfolgen, kann Rashid sich wohl denken, daß du mit mir Kontakt aufnehmen willst. Ich glaube nicht, daß er vorläufig etwas gegen mich unternehmen wird, aber das ist nur eine Frage der Zeit. Unter gewöhnlichen Umständen würde Rashid Besseres zu tun ha ben, als seine Kräfte mit meinen zu messen, aber Rashid ist nicht mehr er selbst. Die Dunklen Mächte haben von ihm Besitz ergriffen. Eigentlich hatte ich vor, Kira von dir hierherbringen zu lassen, ehe etwas geschehen konnte, aber Rashid ist uns zuvorgekommen. Ge nau das hatte ich befürchtet. Jetzt seid ihr beide verwundbar – und das um so mehr, weil Kira nicht versteht, was mit ihr geschieht. Was mit euch beiden geschieht.« »Was geschieht denn mit uns?« »Du hast dich verändert«, erklärte Merlin. »Ich kann nicht genau sagen wie, aber ich kann mir denken warum. Wir haben es hier mit einer Kette von Ereignissen zu tun, die während des ersten thauma turgischen Zeitalters begann. Ich wurde geboren, als es in seinen letzten Zuckungen lag. Ich dachte, es würde mit mir untergehen, mit dem Zusammenbruch von König Arthurs Reich. Aber jetzt weiß ich, daß es nur ein Übergang war, als Avalon im Dunkel der Vergangen heit versank, ein Wechsel im natürlichen Gleichgewicht der Welt, das Ende eines Zyklus und der Beginn eines neuen. Lange bevor dieser Wechsel stattfand, gab es eine Rasse, die nur ganz schwache Spuren von ihrer Existenz hinterließ. Man findet sie in den Ruinen
des alten Ägyptens und Mesopotamiens, in den zerfallenen Tempeln der Inkas und Mayas, in den Steinskulpturen auf den Pazifischen Inseln, in den Schnitzereien auf den Schreinen der Thugees, dem Kult von Kali.« Merlin räusperte sich. »Dereinst wurden sie als Götter verehrt, aber sie waren körperliche Wesen wie du und ich, nur von einer anderen Rasse. Die Kelten nannten sie die Uralten. Sie waren die Göttlichkeiten des alten Ägyptens, die Götter Griechenlands und Roms. Bei einigen arabischen Stämmen hießen sie Djinns. Die Be wohner im alten Rußland bezeichneten sie mit ihrem Sinn für Ro mantik in ihren Legenden als Bogatyren, und die amerikanischen Eingeborenenstämme im Südwesten kannten sie als Kachina. Man braucht nur die Mythologie beinahe jeden Kulturvolkes zu studieren, um Spuren von ihnen in den verschiedensten Inkarnationen zu fin den: Krieger, die unsterblich schienen, aber in der Schlacht getötet werden konnten; übernatürliche Wesen in Menschengestalt, die sich unsichtbar machen konnten, sich aber mit Sterblichen paarten und sich in die verschiedensten Kreaturen verwandeln konnten, manch mal in gutartige, manchmal in schreckliche. Vampire, Werwölfe, Hexen, Geisterwesen – all diese legendären Gestalten hatten ihren Ursprung in ihnen. Du kennst sicher die Legende, ich sei der Ab kömmling eines Incubus. Nun schüttle nicht den Kopf, Karpinsky, denn ich weiß genau, daß ihr Studenten immer eure Witze darüber gemacht habt. Aber es ist nicht so sehr ein Witz, wie du denken magst. Ich bin ein Halbblut, der Sohn einer menschlichen Mutter und eines Vaters, der zu der alten Rasse gehörte. Er war einer der letzten. Jedenfalls nahm ich das immer an.« »Was ist aus ihnen geworden?« fragte Wyrdrune. »Es gab einen Krieg – lange bevor ich geboren wurde. Die Ural ten nannten ihn Ragnarök. Die Götterdämmerung. The Twilight of the Gods.« »Der Kampf zwischen Gut und Böse«, rief Wyrdrune. »Der Schöpfungsmythos. Dann hat es ihn wirklich gegeben?« »Oh, er war wirklich, aber ja, obwohl er wenig mit Schöpfung zu tun hatte, weder im mythischen noch in irgendeinem anderen Sinne. Es war ein Krieg der Zauberwelten, der Kampf zwischen Weißer und Schwarzer Magie. Es ein Ringen zwischen Gut und Böse zu nennen, wäre zu einfach. Die Kräfte der Natur sind weder gut noch böse. Sie sind eben vorhanden. Gut und Böse sind lediglich Ausdrücke unter schiedlicher Philosophien, sie existieren nicht in sich und durch sich
selbst. Du siehst, im Gegensatz zur allgemeinen Annahme besteht kein grundlegender Unterschied zwischen Weißer und Schwarzer Magie. Beide nutzen dieselben Energien. Der Unterschied liegt nur in der Anwendung. Meinetwegen auch in der Moral, die aber nun völlig subjektiv ist. Die Frage der Moral gehört zum Kern dessen, was den Krieg ausgelöst hat. Aber aller Wahrscheinlichkeit nach waren die Gründe viel komplizierter. Es existieren keine historischen Aufzeichnungen über diesen Konflikt. Was ich darüber weiß, habe ich aus den hintersten Winkeln meines Erinnerungsvermögens her vorgekramt. Es stammt zum Teil aus Geschichten, die mir meine Mutter in meiner Kindheit erzählt hat, aus den Legenden, die die Druidenpriester durch die Generationen überliefert und aufgebauscht haben, bis sie schließlich zu Mythen wurden. Zu Mythen, die in ihren unterschiedlichen ethnischen Interpretationen zur Basis der Folklore vieler Völker wurden. Nach diesen Geschichten«, fuhr Merlin fort, »waren die Menschen der Hauptgrund für diesen Krieg. Erinnerst du dich noch an die Sage von dem Gott Prometheus, der dafür bestraft wurde, daß er der Menschheit das Feuer brachte? Sie ist eine Parabel, aber wie in vielen anderen Sagen mag auch in ihr ein Körnchen Wahrheit stecken. Für die Uralten waren die Menschen nur eine niedere Rasse, auf einer wenig höheren Stufe als die Tiere. Sie waren gerade gut genug, um zu arbeiten, und wurden, wenn ich den Geschichten aus meiner Kindheit glauben will, manchmal auch als Nahrung benutzt. Man verwendete ihre Körper bei Ritualen, denn lebendige Energie ist ein Mittel, thaumaturgische Verfahren zu nut zen. Wenn du zum Beispiel einen Teleportationszauber aussprichst, verbraucht dieser mehr von deiner Lebensenergie als ein weniger ambitionierter Spruch – mit dem Ergebnis, daß du dich hinterher erschöpft fühlst. Es dauert dann eine Weile, bis diese Energie wieder ersetzt worden ist. Je mächtiger der Zauber, um so mehr Energie erfordert er. Das ist der Preis der Magie. Aber während die Weiße Magie die Energien so nutzt, daß sie wieder ersetzt werden kann, wird die Energiequelle bei Schwarzer Magie meist völlig erschöpft. Mit anderen Worten: Wenn deine Energiequelle ein anderes lebendes Wesen – eine viel potentere Quelle als beispielsweise Pflanzen oder Mineralien – ist, wird dieses Wesen vernichtet. Die Symbolkraft des Pentagramms als Schutz gegen heraufbe schworene Dämonen hat ihren Ursprung in einem Schutzritual, das dazu diente, den Thaumaturgen vor den energieraubenden Folgen seiner Zauberei zu bewahren. Wie andere natürliche Kräfte, zum
Beispiel Strom oder Wasser, folgt auch die Magie dem Weg des geringsten Widerstandes. Vor die Wahl gestellt, eine Energiequelle, die thaumaturgisch mit einem Schutzzauber belegt ist, oder einen ungeschützten Kraftspender anzuzapfen, wird die Magie immer die ungeschützte Quelle benutzen. Hat sie diese sogenannte Wahl nicht, kann sie sich verflüchtigen. Wahrscheinlicher aber ist, daß sie jede Energiequelle, auf die sie kurzfristig zurückgreifen kann, verbraucht. Das ist auch der Grund, weshalb unvorsichtige Anwender der Schwarzen Magie häufig von ihren eigenen Zaubersprüchen oder ›Dämonen‹ vernichtet wurden – sogar innerhalb der Grenzen ihres Schutzpentagramms. Die Uralten wußten dies alles natürlich. Sie waren Meister in der Thaumaturgie, wie die Menschen Meister in der Technologie sind, die in ihrer Art den gleichen Prinzipien folgt wie die Thaumaturgie und nur in der Anwendung eigene Wege geht. Daher passen beide auch zusammen – in gewissen Grenzen. Holz, als Brennstoff oder Energiequelle genutzt, erzeugt Wärme. Ein Atomkraftwerk folgt dem gleichen Prinzip, der Unterschied ist nur graduell. Stell dir die Schwarze Magie einfach als die Kernenergie der Thaumaturgie vor. Und in der Art, wie die Uralten sie praktizierten, waren lebende Menschen ihr Brennstoff. Die Menschenopfer der Druiden und Az teken, die rituellen Tötungen der Thugs – diese Praktiken waren rudimentäre Überbleibsel dieser thaumaturgischen Riten. Aber im Lauf der Zeit – so erzählt die Geschichte – erwachte bei vielen Ural ten das Gefühl, es sei unsinnig, gar grausam, Menschen für diese Zwecke zu benutzen. Sie glaubten daran, die gleichen Ergebnisse mit anderen Hilfsmitteln oder durch einen weniger verschwenderischen Einsatz menschlicher Energie erreichen zu können, einem Einsatz, der die Spender nicht völlig erschöpfte und ihnen schließlich den Tod brachte. Dies war vielleicht nicht so zweckdienlich, brachte aber den Vorteil der Energieersparnis. Und das war die Geburtsstunde der Weißen Magie, die sich gegenüber der Schwarzen Magie durch ein fachen Zugriff und leichtere Anwendbarkeit auszeichnet. Natürlich war die Weiße Magie im Anfang auch mühsamer. Es ist immer schwieriger, Ressourcen auf schonende Weise einzusetzen, statt sie bedenkenlos zu verschleudern. Und im Gleichgewicht der Kräfte wiegt die Möglichkeit zum direkten Zugriff sehr schwer. Unter den Uralten waren aber viele, die auf die Mächte, die sie kontrollierten, nicht verzichten wollten, und sie verbrauchten die Menschen zu Tausenden. Das führte zu einem Wettlauf um die menschlichen Res
sourcen. Was die Uralten da erlebten, hatte auf seine Art Ähnlichkeit mit der von den Menschen verursachten Knappheit an Rohstoffen, die dann letztlich zum Collapse führte. Nur endete es bei ihnen in einem Krieg, der zerstörerischer war als alles, was die Menschheit danach je erlebte.« Merlin schaute nachdenklich schweigend zu Boden. »Vielleicht war es auch nur eine Reaktion zum Erhalt des natürlichen Gleichge wichts«, meinte er schließlich. »Die Uralten und offensichtlich auch die Menschen wollten nicht akzeptieren, daß es so etwas wie eine Wachstumsbeschränkung gab. Aber die Natur weiß es besser. Die Natur hat ihre eigenen Mittel, Grenzen zu errichten. Und dabei zeigt sie die Neigung zu drakonischen Maßnahmen.« »Sie sind alle umgekommen?« »Nein, es gab Überlebende, wenn auch nicht sehr viele. Mein Va ter gehörte dazu. Die menschlichen Überlebenden waren in der Überzahl, weil es viel mehr Menschen gab. Die Uralten, die überlebt hatten, waren danach nur noch in der Minderzahl. Bald mußten sie lernen, ihre Identität zu verbergen. Sie versteckten sich unter den Menschen und vermischten sich mit ihnen durch Heirat. Bis zum heutigen Tag kommen Menschen mit sogenannten übernatürlichen Gaben auf die Welt, die, wenn sie es wüßten, wahrscheinlich ihren Stammbaum bis zu den Angehörigen der alten Rasse zurückverfol gen könnten. Aber selbst wenn sie es wüßten, würden sie das Ge heimnis vermutlich sorgfältig hüten. Manche Gefühle reichen tief und bleiben für immer in der Geschichte der menschlichen Rasse vergraben – zum Beispiel als instinktives Vorurteil gegen jeden, der im geringsten ›anders‹ zu sein scheint. Als die Uralten in den Kriegswirren dezimiert wurden und sie ihre Macht über die Men schen verloren, machten diese erbarmungslos Jagd auf sie. Diese Hatz hielt sogar noch an, als das Wild längst verschwunden war und man längst nicht mehr wußte, warum man sie fortführte. Die Verfol gung der Druiden, die Ausrottung der Azteken, die Spanische Inqui sition, die Hexenjagd in Salem stehen dafür – und selbst in unserer modernen Zeit gibt es noch religiöse Fundamentalisten und Eiferer, die die Achtung vor der Natur und die Suche nach Wissen und Er kenntnissen gleichsetzen mit Teufelswerk. Alte Ängste und Befürch tungen sterben eben nur langsam.« »Aber wenn sie alle verschwunden sind«, meinte Wyrdrune, »wer sind dann die Dunklen?« »Ich hielt sie für eine Legende«, sagte Merlin. »Eine Legende, an
die sich niemand mehr erinnert, sofern er nicht Dante, Milton oder Fabeldichter wie Lovecraft und Hodgeson liest. Die Überlieferung, zu der sie gehören, geht auf eine uralte Geschichte zurück, die nicht mehr in ihrer ursprünglichen Form erzählt worden ist, seit ich ein kleiner Junge war. Die Dunklen zählten zu den mächtigsten Überle benden der alten Rasse, die nicht von ihrer Grausamkeit und ihren alten Überzeugungen lassen wollten. Einerseits haben sie den Krieg verloren, andererseits aber waren die Sieger keine Sieger, weil sie nicht genug Macht besaßen, die Dunklen, obwohl sie sie bezwungen hatten, vollständig auszulöschen. Der Legende nach dachten die Obermagier der weißen Fraktion sich einen Bann aus, um die Dunk len für alle Zeiten an die Kette zu legen, einen Zauberspruch, der die stärksten Symbole ihrer Kunst enthielt. Und um den Bann zu stärken, opferten sie sogar ihr Leben, um ihre Lebensenergien in die Symbole des Banns einzubringen. Ich habe immer gedacht, dies sei eine Sage, nicht mehr, aber jetzt befinden sich drei dieser Symbole in dem Le derbeutel in deiner Tasche. Es scheint also doch keine Sage gewesen zu sein. Offenbar gibt es wirklich so etwas wie die Hölle. Und Ras hid hat den Zugang zu ihr gefunden.«
KAPITEL
R
NEUN
iguzzo zog es vor, mit dem Zug zu fahren, denn Fliegen gefiel ihm noch weniger. Ja, er haßte das Fliegen, weil es ihm Angst mach te. Er hatte zu viele Geschichten über Pilotenadepten gehört, die ihr Flugzeug aus dem Himmel gestürzt hatten. Es stellte große Anforde rungen an den Piloten, ein schweres Flugzeug vom Boden abzuheben und es die ganze Strecke bis zum Zielort in der Luft zu halten. Daher waren alle Piloten Adepten der vierten Ebene und flogen nicht öfter als einmal pro Woche. Sie machten nur Kurzflüge – ein Transkonti nental-Flug erforderte mehrere Zwischenlandungen und Piloten wechsel – und ihr Verdienst war sehr hoch. Aber sie alterten sehr schnell und verbrachten die meiste Zeit damit, sich von ihren Flügen zu erholen. Und selbst dem besten von ihnen konnte es passieren, daß er ein Flugzeug fallenließ. Einmal wäre Riguzzo beinahe selbst abgestürzt. Cleary hatte es deshalb aufgegeben, ihn zu einem Shut tleflug nach Boston zu überreden, und sich damit abgefunden, die Reise mit dem Zug zu machen. Sollte der Ingenieursadept hier Pro bleme mit den Impuls-Zauberformeln haben, konnte zumindest nicht mehr geschehen, als daß der Zug stehenblieb. Aber selbst im Zug war Riguzzo nur ein mürrischer Reisebeglei ter, denn er verreiste höchst ungern. Um so lieber ging er zu Fuß,
denn er mißtraute allen, die Magie anwendeten und nutzten. Schon wenn sie für einen Einsatz einen Streifenwagen nehmen mußten, fühlte Riguzzo sich unwohl. Da half es auch nichts, daß die anderen Beamten des Reviers die Cops, die die Wagen fuhren, die ›fliegende Truppe‹ nannten. Sie trugen bestickte Schulterstücke, die den auflackierten Insignien an den Wagentüren glichen – ein rollendes Rad mit Flügeln an den Seiten. Die Beamten der fliegenden Truppe waren gleichzeitig Adepten der unteren Ebenen und Cops, rekrutierten sich aber nur aus den zehn Prozent der Studenten, die die Prüfung zur ersten Adepten-Ebene am besten bestanden. Zum gro ßen Teil waren es graduierte Studenten, die auch später noch die Schule besuchten, um eine höhere Qualifikation zu erreichen, und sie fuhren daher meist sehr vorsichtig, waren kaum an Unfällen betei ligt. Viele von ihnen zeigten wenig Interesse an einer Karriere im Polizeidienst. Die Bezahlung war zu schlecht, und die Jobs boten keinerlei sozialen Status. Zudem legte man im Revier Wert auf sol che Banalitäten wie saubere Haarschnitte und Uniformen – und bei den Detectives war konservative Zivilkleidung Vorschrift. Wallende Roben, Amulette und schulterlanges Haar waren verpönt. Ein paar Cops sollten auch Magier sein, hatte Riguzzo gehört. Begegnet war er noch keinen. Verbrechen, bei denen Magie im Spiel war, fielen in der Regel in die Zuständigkeit der Ermittlungsabteilung der ITK, einer Art inter nationaler Polizeitruppe. Aber Riguzzo war da ganz anderer Ansicht. Die ITK war ein großer Apparat und wurde mit jedem Tag größer. Seine eigentliche Aufgabe war es, über jeden Adepten mit Zertifikat eine Akte anzulegen und zu führen, aber in dem Maß, wie der Ein satz der Magie um sich griff, wurden die Aufgaben der ITK immer spezifizierter, und die Bürokratie immer schwerfälliger. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die ITK ihre Ermittlungen bei Verbrechen, in denen Magie eine Rolle spielte, nur noch auf die schwerwiegendsten Fälle beschränken konnte – oder auf die Fälle, bei denen sich die Zuständigkeiten der Rechtsorgane überschnitten. Den Rest überließ man der Polizei. Aber der Durchschnittscop war zu schlecht ausge bildet, um mit Adepten fertigzuwerden. Zum Glück waren bisher keine schwerwiegenden Verbrechen von Adepten verübt worden, zumindest keine, die Riguzzo als schwerwiegend betrachtete. Es gab zwar gelegentlich ein paar Diebstähle und Betrügereien, aber die aufwendigeren Verbrechen, die den Einsatz von Magie erforderlich machten, liefen meist auf einer höheren Ebene ab. Thaumaturgische
Verbrechen schienen eher die ›Oberschicht‹ der Kriminellen zu rei zen. Riguzzo lief ein kalter Schauer über den Rücken, wenn er daran dachte, daß sie es einmal mit einem Serienmörder zu tun haben wür den, der ein Adept war. Einen schlimmeren Alptraum konnte er sich kaum vorstellen. Früher oder später würden sich die Dinge ändern müssen. Die Po lizei mußte im Zuge der längst überfälligen Modernisierung mehr Adepten einstellen und ihnen vergleichbar attraktive Gehälter und Zulagen bieten wie die freie Wirtschaft. Und das wäre das Ende für die gewöhnlichen Streifencops. Er war froh, daß er dann längst im Ruhestand sein würde. Seine Pensionierung war nicht mehr fern. Während der Zugfahrt von New York beschäftigte Riguzzo sich in Gedanken damit, wie er die Typen von der ITK weiterhin aus dem Fall heraushalten konnte. Cleary hatte längst seine Versuche aufge geben, sich mit seinem Partner zu unterhalten, da dieser immer nur mit einem Grunzen antwortete. Riguzzo wußte nicht mehr, was er noch tun sollte, um die ITK-Leute noch länger hinzuhalten. Inzwi schen waren mehrere Dienststellen aus den verschiedensten Zustän digkeitsbereichen in den Fall verwickelt, und die Vorfälle in Boston ließen keinen Zweifel mehr daran, daß die Übeltäter Adepten waren. Zuerst hatte er geglaubt, es gäbe keine sicheren Beweise dafür, daß die Sache in Boston mit seinem Fall zusammenhing, aber als er dann mit Cleary im Büro des Captains vom Back Bay-Revier saß, sah er seine Chancen, den Fall in seinen Händen zu behalten, rapide schwinden. »Dies sind die beiden Beamten, die dem Anruf nachgegangen sind.« Captain McGarry deutete auf zwei uniformierte Polizisten, die er in sein Büro bestellt hatte. »Sergeant Benson und Officer O’Dwy er. Lieutenant Riguzzo und Sergeant Cleary sind gerade aus New York angekommen.« Die Männer schüttelten sich die Hände. »Benson«, meinte McGarry, »warum erzählen Sie den Gentlemen nicht einfach, was im Copley vorgefallen ist?« »Selbstverständlich, Sir. Wir erhielten einen Anruf vom HotelSicherheitsdienst des Copley Plaza. Ein Mädchen, das gerade ein Zimmer säuberte, hörte offenbar merkwürdige Geräusche und schau te auf dem Flur nach. In der Wand entdeckte sie drei Löcher, die eine Minute zuvor noch nicht dagewesen waren, sowie drei Löcher in der Tür zum Nachbarzimmer – genau gegenüber den drei Löchern in der Wand. Sie hörte nebenan Stimmen und rief über das Haustelefon das
Wachpersonal. Die Sicherheitsüberwachung in diesem Hotel ist sehr streng, müssen Sie wissen. Man riet ihr, nichts zu unternehmen und sich ruhig zu verhalten. Anstatt selbst einzuschreiten und die Sache dadurch möglicherweise zu verpfuschen, alarmierte die Hotelsicher heit uns. Aber wir haben die Sache auch nicht viel besser erledigt«, fügte er trocken hinzu. »Die Hotelsicherheit verhielt sich genau nach Vorschrift«, melde te sich Officer O’Dwyer zu Wort. »Sie riefen uns an, schickten ein paar Leute hoch, um die Aufzugtüren und die Treppenhausausgänge auf dieser Etage im Auge zu behalten, und warteten, bis wir kamen.« »Wir befanden uns nur einen Block entfernt, als der Notruf he reinkam«, sagte Benson. »Und so übernahmen wir die Sache. Es dürften nur ein paar Minuten seit den Schüssen vergangen sein, bis wir am Einsatzort eintrafen. In dem betreffenden Zimmer war alles ruhig. Wir verschafften uns Zutritt, wobei ein paar Leute von der Hotelsicherheit uns Rückendeckung gaben, und überraschten eine verdächtige Person mit der Pistole in der Hand. Auf dem Boden lag eine Leiche, und alles war blutverschmiert. Das Opfer, ein älterer Mann, hatte drei Einschüsse im Rücken – aus einer 10-mmHalbautomatik. Offensichtlich war er auf dem Weg zur Tür gewesen, als er von hinten erschossen wurde. Auf der Türinnenseite und dem Teppich befanden sich Blutspuren. Das Opfer muß entweder von der Tür weggekrochen oder weggeschleift worden sein. Leider konnten wir seine Identität nicht mehr feststellen, denn ich hatte dem Täter gerade Handschellen angelegt, als ich nur noch ein leeres Zimmer sah. Kein Täter, keine Leiche, kein Blut. Alles, sogar die Pistole, war mit einem Schlag verschwunden. Die Hotelsicherheit hatte Aufzüge und Treppenhäuser abgeriegelt, während wir die Festnahme durch führten, damit niemand dazwischenplatzte, und wir erfuhren erst nach gemeinsamer Überprüfung, daß dabei vier oder fünf Minuten vergangen waren. Und was noch seltsamer ist – niemand hat die Sicherheitsleute in dieser Zeit passiert. Der Täter muß uns mit einem Zauber belegt und sich aus dem Zimmer teleportiert haben. Zweifel los war er ein Adept.« »Und wieso glauben Sie, daß er der Verdächtige ist, den wir su chen?« Riguzzo sah McGarry fragend an. Der Captain seinerseits sah zu Benson hinüber. »Wir haben das Hotelpersonal befragt. Über das Opfer schien niemand etwas zu wissen. Keiner konnte sich erinnern, den Mann je gesehen zu haben. Doch auf den Täter paßt die Beschreibung des
Mannes, der das Zimmer gemietet hat. Der Mann hat zusammen mit einer jungen Frau eingecheckt. Sie haben sich als Mr. und Mrs. M. Karpinsky eingetragen. Wir haben den Identigraph eingesetzt, um von den Verdächtigen eine Bildmontage anzufertigen.« Er öffnete den Hefter, den er in der Hand hielt, nahm einen Aus druck heraus und reichte ihn den beiden New Yorker Detectives. Riguzzo sank das Herz. Er hielt eine nahezu exakte Kopie ihres ei genen Phantombildes von Kira in den Händen. »Das ist Mrs. Karpinksy«, erklärte Benson überflüssigerweise. »Irgendwas an dem Gesicht kam mir bekannt vor. Ich wußte, daß ich es erst kürzlich gesehen hatte, und so überprüfte ich die jüngsten Fahndungsmeldungen im Revier. Und siehe da, es stimmte fast ge nau überein mit der Zeichnung, die wir von euch über Fax erhalten haben. Die nachträgliche Korrektur, die die verdächtige Person im Gegensatz zur ersten Meldung als Frau identifizierte, war mir im Gedächtnis haften geblieben. Und hier ist der männliche Verdächtige – anhand der Täterbeschreibung des Hotelpersonals.« Er nahm einen zweiten Printout aus dem Hefter. »Mr. Karpinksy, ein junger Mann Ende zwanzig bis Anfang dreißig. Langes, gelocktes Blondhaar, blaue Augen, Grübchen im Kinn. Keinerlei Ähnlichkeit mit Ihrem zweiten Verdächtigen. Aber da ich wußte, daß Ihr Verdächtiger wie der Täter hier ein Adept war, kam mir eine Idee, und ich ließ ein zweites Phantombild anfertigen. Wir nahmen Ihre Montage als Grundlage und ließen die Gesichtspartie unverändert bis auf ein paar Falten, die wir hier und dort hinzufügten, dazu eine größere Nase, längere weiße Haare…« Er reichte Riguzzo eine dritte Zeichnung, »…und – Bingo! Er war verkleidet, als er das Ding bei Christie’s abzog. Sieht so aus, als wären Ihre Kunden hier bei uns in Boston, Lieu tenant.« Mit einem Anflug von Resignation gab Riguzzo die Ausdrucke an Cleary weiter. »Ausgezeichnete Arbeit, Sergeant Benson«, sagte er und wandte sich an Mc-Garry. »Ihre Leute sind wirklich auf Draht.« McGarry lächelte. »Warten Sie, da ist noch mehr.« Er nickte Ben son zu. »Aufgrund seines Alters, der Tatsache, daß er ein Adept ist und aufgrund seiner Anwesenheit hier in Boston überlegte ich mir, daß er hier zuhause sein könnte. Andererseits kann man daraus nicht unbe dingt folgern, daß er die Steine, die er in New York gestohlen hat, nun in Boston absetzen will. Bei allem Respekt erlauben Sie mir die
Bemerkung, daß dort ein viel größerer Markt für solche Sachen be steht als bei uns. Das Alter des Verdächtigen wiederum läßt den Schluß zu, daß es noch nicht lange her sein kann, seit er die Schul bank gedrückt hat, und wir haben in Cambridge, also ganz in der Nähe, das beste Thaumaturgische College hier im Land. Also über prüfte ich die Studentenlisten des College, während O’Dwyer mit den Zeichnungen die Fakultätsvorsteher aufsuchte. Und wir kamen beide mit demselben Namen zurück.« Wieder öffnete er den Hefter und reichte Riguzzo ein Foto und eine Gefangenenakte. »Melvin A. Karpinsky stand vor vier Jahren wegen eines Brand anschlages vor Gericht. Zum Schluß lautete die Anklage nur noch auf leichtsinnige Gefährdung. Der Mann ist seit kurzem wieder auf freiem Fuß. Kaum zu glauben, aber er hat sich im Hotel unter seinem richtigen Namen eingetragen. Er wurde im Zusammenhang mit ei nem Feuer bei einem Konzert verhaftet. Offenbar sollte er für die Band ein paar magische Spezialeffekte in ihre Show einbauen, doch eins seiner Zauberstückchen geriet außer Kontrolle. Technisch gese hen war die Band verantwortlich, weil sie eine eventuelle Beschädi gung der Halle schon vertraglich einkalkuliert hatte und zudem einen Adepten ohne Zertifikat zur Unterhaltung des Publikums engagiert hatte. Um einen längeren Rechtsstreit zu vermeiden, verglichen sich die Promoter mit den Halleneignern. Außerdem konnte durch eine Untersuchung nachgewiesen werden, daß das Feuer durch Zufall ausbrach, und so wurde die Anklage gegen Karpinsky schließlich fallengelassen. Trotzdem wurde er dafür von der Schule gewie sen…« Benson griff in den Hefter und gab Riguzzo eine Abschrift von Wyrdrunes Schulunterlagen. »…und daher ist er rein technisch gesehen kein Adept, denn er hat seine Vorlesungen nicht beenden können und wurde nie zum Zertifikationsexamen gemeldet. Nach den Unterlagen hier müßte er jetzt auf der Fortgeschrittenebene, also ein…« »…Warlock, ein simpler Zauberkünstler sein«, ergänzte Cleary mit einem Seitenblick auf Riguzzo. »Pony hat ausgesagt, daß das Mädchen ihn Warlock, Zauberkünstler, nannte.« Riguzzo nickte nachdenklich und rieb sich das Kinn. »Sieht ganz so aus, als ob ihr Burschen uns eine ganze Menge Lauferei erspart hättet.« »Ich fürchte, Lieutenant, dies ist jetzt nicht mehr Ihr Fall«, meinte McGarry. »Ich weiß, was Sie jetzt fühlen, denn ich kann mir vorstel len, daß Sie ihn weiterbearbeiten möchten. Offen gesagt würde ich
ebenso reagieren, aber das liegt nun mal nicht mehr in unserer Hand. Die Rechtszuständigkeit hat nun eindeutig die ITK. Ich mußte sie in diesen Fall einschalten.« Er bemerkte Riguzzos Gesichtsausdruck. »Tut mir leid.« »Schon gut, Sie haben nur Ihre Pflicht getan.« Riguzzo mußte plötzlich an seinen Großvater denken. Der alte Frank Riguzzo war ebenfalls bei der Polizei gewesen – damals während des Collapse. Er war mit 79 Jahren gestorben, als Dominic gerade 12 Jahre alt war. Gewöhnlich hatte er in seinem Rollstuhl gesessen, und seine Hände hatten so stark gezittert, daß er gefüttert werden mußte. Trotzdem war er bis zu seinem Ende geistig noch bemerkenswert rege gewe sen. Der Tod überraschte ihn an einem Sonntagmittag beim Spaghet tiessen. Sein Kopf war auf die Brust gesunken, und er begann zu schnarchen. Einen Moment später verwandelte sich das Schnarchen in ein schreckliches Rasseln, und ehe jemand reagieren konnte, war der Großvater gestorben – am Mittagstisch. Eben noch hatte er in seiner brummigen Art über alte Zeiten gesprochen, und im nächsten Augenblick war er tot. Er hatte gern von den alten Zeiten erzählt, als er noch bei der Po lizei gewesen war. Nur davon sprach er – ein alter Mann, der Kriegsgeschichten erzählte – und keiner in der Familie hörte ihm zu außer Dominic. Der Junge war immer wieder fasziniert von den Geschichten, obwohl er sie schon ein dutzend Mal gehört hatte. Er kannte sie so gut, daß er sie einzeln aufzählen konnte. »Pop, erzähl mir von dem Kampf in der U-Bahn«, konnte er sagen, und der alte Frank Riguzzo schilderte mit zitternder Stimme sein Feuergefecht mit einer brutalen Bande von Obdachlosen in den Tunneln unter der Lower East Side. Cops waren damals weniger Polizisten als Soldaten und die letzte Verteidigungslinie für die Zivilbevölkerung einer Stadt gewesen, die völlig außer Kontrolle geraten war. Sie hätten ebensogut in der Army kämpfen können, nur hatte die Army weit wichtigere Dinge zu tun, wie etwa die Niederschlagung von aufständischen Guerilla im Staat New York oder die Bekämpfung von meuternden Bataillonen der Nationalgarde, die mehrere Städte draußen in Long Island in ihre Gewalt gebracht hatten. Dominic versuchte sich vorzustellen, wie das Leben während des Collapse ausgesehen haben mochte, als alles einfach stehenblieb und die Welt durchdrehte. Pop war auch ein bißchen verrückt gewesen. Er war dabei gewesen, als sich alles veränderte und die Magie in
das Leben zurückkehrte. Zuerst, sagte Pop, hätten sie nur die Ge schichten darüber gehört. In Europa hatte es angefangen und sich dann sehr langsam ausgebreitet. Aber auch so sei es ein Schock für die Menschen gewesen. Die Regierung unternahm kaum etwas, um den Trend aufzuhalten – »…als wollten die Idioten von Politikern gegen den Wind pinkeln«, wie Pop zu sagen pflegte – und dann war es zu spät. »Er kam mit einer Delegation seiner Schüler nach Washington«, erinnerte sich Pop an Merlins Ankunft in Amerika. »Er schien über all zu sein, organisierte die Dinge und brachte alles unter Kontrolle, und Gnade Gott dem, der ihm Schwierigkeiten machte. Er löschte sie einfach aus und zauberte sie weg, ohne dabei einmal ins Schwitzen zu kommen.« Pop sprach voll Ehrfurcht von diesen Dingen, als ob er sie nie wirklich hätte glauben können. Andererseits blieb er immer mißtrau isch. Er verließ sich nie auf die Magie – und schuf damit vielleicht damals schon die Basis für Riguzzos Abneigung gegen sie. Seinem Großvater hatte die Magie Furcht eingejagt, denn er hatte mit eige nen Augen erlebt, wozu sie imstande war. Aber die breite Masse hatte sie dankbar angenommen – wie sie offenbar immer alles an nahm. In bemerkenswert kurzer Zeit hatte sich die Welt verändert, obwohl sie sich in einigen Bereichen überhaupt nicht veränderte. Manche Dinge unterschieden sich in nichts von denen auf den alten Bändern aus der Zeit vor dem Collapse, die Riguzzo als Schüler im Geschichtsunterricht gesehen hatte. Die Stadt sah heute noch fast genauso aus wie auf den Bändern. Es gab zwar immer noch unüber sehbare Anzeichen der Zerstörung aus dieser Zeit, aber auch diese würden nach und nach verschwinden. Es gab weniger Autos und mehr Fahrräder als vorher, die Leute kleideten sich anders, und die Stadt war sauberer und zeigte mehr Grün. Aber auf den ersten Blick hatte sich kaum etwas verändert. Und die Thaumaturgie gehörte inzwischen zum Alltagsleben. Betrachtete man den Collapse aus der Perspektive der Historie, schien die Welt ähnlich den Energieausfäl len, die in den Jahren kurz vor dem Collapse weiter und weiter um sich gegriffen hatten, nur von einem kurzem Krampf geschüttelt worden zu sein, bei dem eben alles zu Bruch ging. Und danach war sie wieder zur Normalität zurückgekehrt. Nur, daß sie nicht mehr dieselbe war. Sie würde nie mehr so sein wie früher. Hier saßen sie nun und redeten über einen Jungen, der ein paar Collegekurse belegt und dabei die Anwendung von einigen Zauber
formeln gelernt hatte, dachte Riguzzo verbittert. Irgendein Bürokrat von der ITK würde ihm seinen Fall wegnehmen, und das nur, weil er zufällig Zauberer war. Sie beide dagegen würden nach New York zurückkehren und weiter Taschendiebstähle und Betrügereien unter suchen – die übliche Routine eben. Cleary fand daran nichts Unge wöhnliches, ebensowenig McGarry, und Benson und O’Dwyer schienen richtig stolz darauf zu sein. Nur Riguzzo sah die Sache, obwohl er in einer Welt mit lebendiger Magie aufgewachsen war, mit den Augen seines Großvaters, der nun schon so viele Jahre tot war. Er versuchte sich Pop als jungen Frank Riguzzo vorzustellen, einen kräftigen, im Straßenkampf erprobten Cop, der in seiner Flak weste in dem ausgebombten Revier unten in Manhattan Süd saß. Er fragte sich, was Pop wohl gesagt haben würde, wenn sich plötzlich die Tür geöffnet hätte und ein langhaariger Mann in einer Robe und mit mehreren Amuletts um den Hals, der aussah wie ein Prophet aus der Bibel, wäre hereingekommen und hätte gesagt, daß er jetzt das Revier übernehme. Warum geht mir das so sehr unter die Haut? fragte sich Riguzzo. Warum kann ich das nicht einfach akzeptieren? Es war, als hätte Pop mit all den endlosen Erzählungen eine unauslöschliche Verbindung zwischen den so verschiedenen Welten geschaffen, in denen sie beide aufgewachsen waren. Auf seine Weise mußte Pop auch ein Zauberer gewesen sein. Er hatte seine Erfahrungen so lebendig und anschaulich geschildert, daß sie zu Dominies eigenen Erfahrungen geworden waren – als habe er alles selbst erlebt. Pops Welt erschien Riguzzo irgendwie viel realistischer als seine eigene – als sei diese Welt die einzig wahre und seine eigene nur ein Traum. »Lieutenant?« McGarry sah ihn verwundert an, und Riguzzo merkte, daß seine Gedanken völlig abgeschweift waren. »Stimmt irgendwas nicht?« fragte der Captain. Riguzzo schüttelte den Kopf. »Entschuldigung.« Er verzog die Miene. »Ich werde wohl langsam alt. War in Gedanken mal für ’ne Minute woanders.« »Woran haben Sie gedacht?« McGarrys Stimme klang besorgt. »Sie machten ein Gesicht, als sei jemand gestorben.« Riguzzo preßte die Lippen zusammen. »Ja, wir sterben ja auch – aus.« »Was wollen Sie damit sagen?« »Ach, nur so ein Gedanke. Wir gehören zur aussterbenden Zunft – Cops wie wir. Das wissen Sie selbst. Alles ist im Umbruch.
Manchmal fühle ich mich wie ein alter Cowboy auf einem Rinder trail, der den Bau der Eisenbahn beobachtet.« McGarrys runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht.« »Vergessen Sie es. War nur so ein Gedanke, völlig ohne Bedeu tung. Sieht so aus, als hätten wir uns den Trip hier herauf sparen können, wo die ITK doch jetzt den Fall übernimmt.« »Aber die ITK hat darauf bestanden, daß wir Sie kommen lie ßen«, erklärte McGarry. »Special Agent Morgan wollte das weitere Vorgehen mit Ihnen persönlich abstimmen.« »Wie finde ich denn das?« knurrte Cleary aufgebracht. »Wieso schicken die Burschen nicht einfach jemand aus ihrem Büro in New York zu uns, um die Akten abzuholen, und übernehmen den Fall? Nein, da müssen wir erst unsere Ärsche den ganzen Weg hier herauf bewegen, um irgend so ’nem Blödmann ein kurzes Briefing zu ge ben. Als ob wir sonst nichts zu tun hätten.« Jemand räusperte sich leise. Die Männer sahen auf. In der geöff neten Tür stand eine attraktive junge Frau mit dunklem Haar. Unter einem gutgeschnittenen Hosenanzug trug sie ein weißes Hemd mit offenem Kragen. McGarry zog die Brauen hoch. »Entschuldigen Sie.« Er schien verärgert, daß jemand einfach die Tür öffnete und unangemeldet in sein Büro spazierte. »Kann ich Ihnen helfen?« »Ja, ich bin der Blödmann«, sagte sie und klappte ein Lederetui mit einer Marke und ihrem Dienstausweis auf. »Special Agent Faye Morgan.« Cleary wurde rot. »Öoops«, brummte er unbehaglich. »Nehmen Sie’s nicht persönlich. War halt ’n langer Tag.« »Und er wird noch länger«, meinte sie mit einem Seitenblick auf ihn und steckte ihre Marke ein. »Kann man hier ’ne Tasse Kaffee bekommen?« »Bin schon unterwegs«, erbot sich O’Dwyer sofort. »Sonst noch jemand?« »Ich könnte auch einen vertragen«, meinte Riguzzo. »Bringen Sie ruhig drei«, sagte Cleary. »Und Sie, Captain?« fragte O’Dwyer. »Klar, warum nicht?« erklärte McGarry und stellte die Anwesen den kurz vor. Danach verschwand O’Dwyer, um den Kaffee zu ho len. Special Agent Morgan sah sich suchend nach einem freien Stuhl um, aber es gab keinen. Riguzzo erhob sich halb, um ihr seinen an zubieten. Doch sie schüttelte den Kopf und bedeutete ihm mit einer
ungeduldigen Handbewegung sitzenzubleiben. »Ich setze mich hier auf die Schreibtischkante. Es stört Sie doch nicht, Captain McGar ry?« »Nicht im geringsten.« McGarry schob ein paar Papiere zur Seite, um ihr Platz zu machen. Sie hockte sich auf die Schreibtischkante und schlug die Beine übereinander. Sie hatte ausgesprochen hübsche Beine, wie Riguzzo feststellte, und sah ganz und gar nicht wie eine Zauberin aus. Sie wirkte eher wie eine Geschäftsfrau, dachte er, sehr kühl in ihrem Verhalten, distanziert, professionell. Ein sachlicher Typ. Sie merkte, daß Riguzzo sie musterte und hob die Augenbrauen. »Haben Sie erwartet, mich auf einem Besen ins Zimmer reiten zu sehen, Lieutenant?« »Vermutlich habe ich jemand erwartet, der mehr nach einem Zauberer aussieht«, brummte Riguzzo. »Zudem dachte ich, die ITKErmittler seien älter.« »Ist es ein Problem für Sie, daß ich eine Frau bin?« »Nein.« »Ich bin der Ansicht, daß ich viel effektiver arbeiten kann, wenn man mir nicht gleich ansieht, daß ich ITK-Ermittlerin bin. Verdeckt arbeiten ist da viel besser – wie die Undercover-Polizisten. Auch was mein Alter angeht, kann ich Sie beruhigen. Ich bin älter, als ich aus sehe. Und ich bin gut in meinem Job.« »Da bin ich sicher.« Riguzzo kam sich vor wie ein gemaßregelter Schuljunge. »Der Grund, weshalb ich Sie Ihre ›Ärsche hier heraufbewegen‹ ließ, anstatt lediglich die Akten von unserem New Yorker Büro bei Ihnen abholen zu lassen, ist ganz einfach: Ich hielt es für nicht be sonders sinnvoll, so zu verfahren. Tatsächlich habe ich, während Sie auf dem Weg hierher waren, veranlaßt, daß Ihre Dienststelle meinen New Yorker Kollegen die Akten aushändigte. Aber Sie haben viel Zeit und Mühe in den Fall investiert, und ich bin überzeugt, daß Sie mehr zu seiner Lösung beitragen können als nur Ihre Berichte. Ich würde die Sache gern mit Ihnen zusammen weiterbearbeiten. Wenn Sie keine Einwände haben, werde ich dafür sorgen, daß man Sie für diese Zeit an die ITK abstellt. Schließlich ist es Ihr Fall, und ich könnte mir denken, daß Sie ihn auch gern zu Ende bringen würden.« Riguzzo war überrascht von diesem unerwarteten und, soweit er wußte, bisher nie dagewesenen Angebot. »Das würde mir sehr gefal len.«
»Gut, abgemacht! Und jetzt würde ich es begrüßen, wenn Sie mich kurz über den Stand der Dinge informierten. Ich habe zwar Ihre Berichte gelesen, würde aber die Einzelheiten gern noch einmal von Ihnen hören.« In diesem Moment trug O’Dwyer auf einem Tablett mehrere Tas sen Kaffee sowie Milch und Zucker herein. Während sie den Kaffee tranken, brachte Riguzzo die Agentin auf den neuesten Stand der Dinge. Sie unterbrach ihn kein einziges Mal und machte sich auch keinerlei Notizen. Trotzdem hatte Riguzzo den Eindruck, daß sie auch nicht das kleinste Detail vergessen würde. Als er geendet hatte, schürzte sie die Lippen und dachte einen Moment lang nach. »Sie glauben natürlich, daß der Tod der Hehler Fats und Rozetti mitein ander in Zusammenhang stehen, nicht wahr?« Riguzzo nickte. »Ja, aber ich habe keinerlei Beweise dafür.« »Und das Feuer in dem Penthouse auf der Fifth Avenue?« »Da bin ich mir nicht so sicher. Aber auch hier sagt mir mein Ge fühl, daß es mit unserem Fall zu tun hat.« Sie nickte. »Ich neige ebenfalls dazu, Ihrer Intuition zu vertrauen. Sie sagen, Sie hätten nichts über den Besitzer der Wohnung heraus finden können?« »Gerade genug, um zu wissen, daß John Roderick nur eine Scheinidentität war. Ein paar Bankauszüge, Steuerbescheide, ein Postschließfach – mehr nicht. Er ist spurlos verschwunden, und wir haben nicht die leiseste Ahnung, wer er wirklich ist. Wir sind ziem lich sicher, daß er kein Kunstgutachter war – es sei denn, er hätte landesweit Geschäfte mit seltenen Bildern gemacht oder sonst einen Nebenjob gehabt.« »Sein Nebenjob war es, Leute umzubringen, Lieutenant.« Riguzzo und Cleary starrten die junge Frau verblüfft an. »Die ITK ist schon seit einigen Jahren hinter ihm her, aber wir wissen leider auch nur wenig mehr als Sie. Er gehört zur schlimm sten Sorte von schurkischen Adepten. Und er ist völlig anonym. Wir wissen nicht mal, wie er an seine Kenntnisse gekommen ist. Uner laubte Einweisung in die Kunst der Thaumaturgie ist ein schweres Verbrechen, und wir können nur an denjenigen herankommen, der sein Wissen an ihn weitergegeben hat, wenn wir den Burschen so schnell wie möglich fassen. Das ist einer der Gründe, weshalb wir so sehr an dem Mann interessiert sind. Der andere Grund: Der Bursche ist in höchstem Maße gefährlich. Nach unserem Kenntnisstand hat er mindestens 15 Leute umgebracht, und wir wissen nicht, für wieviele
Morde er noch verantwortlich ist. Wir kennen ihn nur unter seinem Magiernamen: Morpheus.« »Morpheus?« wiederholte Cleary verständnislos. »Der Gott des Schlafes und der Träume«, klärte Special Agent Morgan ihn auf und zog dabei eine Grimasse. »Er versetzte die Leute in Schlaf. Unsere Datenbanken sind darauf eingerichtet, jedes uner klärliche Vorkommnis, das möglicherweise thaumaturgischen Ur sprungs sein könnte, zu signalisieren, bis es aufgeklärt werden konn te. In dem Moment, als die New Yorker Feuerwehr das Feuer im Penthouse als thaumaturgische Brandstiftung meldete, hatten wir es auch schon in unseren Unterlagen. Ich ließ die Sache von unserem New Yorker Büro untersuchen. Unsere Leute bestätigten, daß das Feuer thaumaturgischen Ursprungs war, und konnten die Überreste einer hochentwickelten elektronischen Ausrüstung sicherstellen, die von den Flammen schwer beschädigt worden war. Trotzdem waren unsere Leute in der Lage, Strahlensspuren von thaumaturgisch geätz ten und betriebenen Mikroprozessoren festzustellen. Die Anlage muß ein kleines Vermögen gekostet haben. Die Strahlenspuren waren noch verhältnismäßig stark. Mit ihrer Hilfe war es möglich, genü gend Anhaltspunkte zusammenzutragen, um herauszufinden, daß unsere Leute die Überreste von Apollonius vor sich hatten.« »Apollonius?« fragte Cleary. »Ein empfindungsfähiger hyperdimensionaler Matrix-Computer, von Yamako Industries montiert und von General Hyperdynamics in Colorado Springs programmiert. Er wurde auf dem Transport nach Langley sozusagen entführt. Das war vor fünf Jahren. Seitdem ver zeichneten wir über zweihundert Einbrüche in verschiedene Hochsi cherheits-Datenbanken, die über supermoderne Sicherheitssysteme verfügen. Die Einbrüche wurden zwar gemeldet, aber trotzdem wa ren die Sicherheitssysteme nicht in der Lage, sich an den Eindring ling anzukoppeln und den Weg zum Ursprung des Signals zurückzu verfolgen. Mit anderen Worten: Man wußte, daß hochbrisante Daten gestohlen wurden, konnte aber nichts dagegen tun. Was wiederum den Schluß zuläßt, daß es Hunderte, wenn nicht Tausende von unau torisierten Zugriffen in die verschiedensten Datenbasen gegeben haben muß, die unentdeckt blieben, weil die Datenträger nicht über hochempfindliche Meldesysteme verfügten. In allen bekannten Fäl len tauchte dieselbe Kennung auf, als ob Apollonius uns verhöhnen wollte, indem er seine Kennung wie eine Visitenkarte zurückließ. Die Untersuchung lief schon zwei Jahre, ehe wir eine Verbindung
zwischen Apollonius und Morpheus feststellen konnten. Wir fanden heraus, daß Morpheus Zugriff zu bestimmten Informationen hatte, die nur von Apollonius gestohlen worden sein konnten. Wir benötig ten eine geraume Zeit, um diesen Raster aufzuziehen, aber er war ohne jede Frage vorhanden. Demnach kaufte Morpheus entweder die Daten, die Apollonius widerrechtlich beschafft hatte, von der Person, die Apollonius gestohlen hatte, oder er selbst war im Besitz des Computers. Inzwischen wissen wir, daß die zweite Möglichkeit die richtige war.« »Woher wollen Sie wissen, daß der Mann, der sich John Roderick nennt, mit Morpheus identisch ist?« »Ich weiß es nicht mit Bestimmtheit, aber wie Sie verlasse ich mich da auf meine Erfahrung. Leider bringt uns Ihre Beschreibung dieses John Roderick kaum weiter. Aber sie stimmt mit den Be schreibungen, die wir aus verschiedenen Quellen von Morpheus haben, weitgehend überein.« »Das ist nicht viel«, brummte Cleary. »Diese Beschreibung könn te auf Hunderte anderer Menschen zutreffen.« »Stimmt«, wehrte sie den Einwand ab, »aber Hunderte anderer Menschen sind nicht die Besitzer von Millionen-Dollar-PenthouseWohnungen mit streng geheimen hyperdimensionalen MatrixComputern darin. Und die Tatsache, daß Morpheus sich so lange seiner Festnahme entziehen konnte, legt doch die Vermutung nahe, daß er dem Benutzer von Apollonius nicht nur einfach Informationen abkaufte. Sie läßt im Gegenteil darauf schließen, daß er selbst Apol lonius einsetzte, um sich uns vom Leib zu halten. Er hat sogar ver sucht, in unsere Datenspeicher einzudringen.« »Ist das nicht alles ein wenig zu hoch aufgehängt?« fragte Cleary zweifelnd. »Wie paßt denn ein Typ wie dieser Morpheus in unseren simplen Diebstahlsfall?« Riguzzo hätte beinahe gelächelt. Dieses unschuldige Gesicht und Verhalten von Cleary! Dieser leicht dümmliche Ausdruck von Ver wunderung war die stärkste Waffe des jungen Detectives. Sie machte die Leute arglos und unaufmerksam, und sie sagten dann Dinge, die sie nie jemand verraten hätten, der hart und selbstbewußt an die Sache heranging. Er hatte sofort verstanden, auf was sein Partner hinauswollte. Er wollte die ITK-Ermittlerin dahin bringen, die Mög lichkeit einzuräumen, daß es hier um weit mehr als nur um einen einfachen Raub ging – was zwar alle Anwesenden ohnehin wußten, aber bisher noch von keinem deutlich ausgesprochen worden war.
Cleary wollte herausfinden, ob sie zugeben würde, daß möglicher weise eine höherstehende Persönlichkeit in diesen Fall verwickelt war, jemand, der reich genug war, um einen Mann wie diesen Mor pheus anzuheuern. Jemand wie Scheich Al’Hassan zum Beispiel. Aber Special Agent Morgan war nicht geneigt, irgendwelche Spielchen zu spielen. Sie sah Cleary fest an und antwortete: »Wir alle wissen doch, was hier läuft, oder? Die ganze Sache mag mit einem simplen Raub begonnen haben, ist aber inzwischen weit mehr als nur das. Ihnen ist doch bekannt, wer ein sehr großes Interesse daran hat. Ich jedenfalls weiß es. Aber im Moment sind Sie doch viel neugieriger zu erfahren, ob es in meinem Fall einen Interessenskon flikt gibt oder nicht. Ist das nicht so?« »Ich bin nicht sicher, was Sie meinen.« Cleary zeigte immer noch seinen dümmlichen Gesichtsausdruck. Sie lächelte. »Dann werde ich es Ihnen buchstabieren, Sergeant – zum Mitschreiben und sogar in Gegenwart von Zeugen. In Ordnung, Captain McGarry?« McGarry grunzte vielsagend. Er war sich nicht ganz klar, worum es bei diesem Gespräch plötzlich ging. Morgan ließ sich nicht beirren: »Zum Mitschreiben also: Zwei Dinge sind mir bei diesem Fall wichtig. Ich möchte ihn abschließen, und ich will Morpheus. Sollten dabei die Runensteine auftauchen, könnt ihr sie als Beweismittel für euren Fall haben. Ich habe kein Interesse daran. Und sollten im Zuge der Ermittlungen die beiden Räuber geschnappt werden, gehören sie ebenfalls euch.« »Augenblick mal«, rief McGarry. »Und was ist mit unserem Mord?« »Haben Sie ein Leiche?« fragte sie ihn und zog die Brauen hoch. »Haben Sie ein Mordwaffe?« »Nein, aber…« »Damit sieht es für mich so aus, als hätten Sie keinen Fall«, er klärte sie knapp. »Augenblick mal«, meldete sich jetzt auch Benson zu Wort. »Wir haben doch die Leiche mit eigenen Augen gesehen! Und ich über raschte Karpinsky mit der Mordwaffe in der Hand! Er hat uns durch einen Zauber bewegungsunfähig gemacht und die Beweise ver schwinden lassen. Das kann ich bezeugen. Und die Hotelsicherheit kann bezeugen, daß wir…« »All dieses theoretische Beweismaterial, einer großen Jury vorge legt, würde nur bewirken, daß der Fall Ihrer Zuständigkeit entzogen
wird.« Morgan schien leicht amüsiert. »Gentlemen, wie Sie es auch drehen und wenden mögen – der Fall ist ein ITK-Fall. Ich weiß, daß Sie alle nicht sonderlich glücklich darüber sind, aber so liegen die Dinge nun mal. Solange Karpinsky kein Geständnis unterschreibt, können Sie ihn wahrscheinlich nie des Mordes überführen. Wir kön nen ihn wegen Raub anklagen, vielleicht auch noch wegen Ver schwörung und mehrerer ernsthafter Verletzungen der Satzungen der Internationalen Thaumaturgischen Konvention. Aus einer Mordan klage aber wird er sich jederzeit herauswinden können, solange Sie nicht hieb- und stichfeste Beweise vorlegen. Immer vorausgesetzt natürlich, daß er auch wirklich der Mörder ist.« »Was soll das heißen: vorausgesetzt?« rief McGarry. »Benson hat doch gesehen, wie er sich mit der Mordwaffe in der Hand über die Leiche beugte.« »Ja, aber hat Benson auch gesehen, wie er die Mordwaffe auf das Opfer abfeuerte? Geht Ihnen denn nicht auf, daß das alles einfach nicht zusammenpaßt? Wenn Karpinsky sich wirklich auf thaumatur gischem Weg des Mordopfers entledigen konnte, wozu brauchte er dann überhaupt eine Waffe? Warum hat er das Opfer nicht einfach durch einen magischen Spruch erledigt? Oder euch beide durch ei nen Zauber vom Ort des Geschehens entfernt?« Dabei sah sie Ben son und O’Dwyer direkt in die Augen. Die beiden starrten sie an wie ein Gespenst. Sie standen da wie zwei kleine Jungs, die in eine Dis kussion unter Erwachsenen geraten waren und nun nicht wußten, ob sie sich daran beteiligen sollten oder nicht. Sie schienen nicht mal recht zu wissen, ob sie überhaupt hierher gehörten. »Sie sagen, er habe Sie mit einem Zauber belegt. Also schön. Aber warum hat er, wenn er dazu fähig war, dann nicht den Job zu Ende geführt und die einzigen Zeugen beseitigt, die gegen ihn aussa gen konnten? Wenn er Zeit genug hatte, an jede Kleinigkeit wie beispielsweise die Löschung seines Namens im Melderegister des Hotels zu denken – und wir hätten nicht mal den, wenn der Emp fangschef sich nicht wegen des unvorteilhaften Eindrucks, den er von dem Mädchen hatte, an seinen Namen erinnert hätte – warum hat er dann nicht einfach jeden beseitigt, der ihn gesehen hat?« McGarry hatte das unbestimmte Gefühl, seine Leute verteidigen zu müssen, obwohl, wie er zu seinem Mißfallen einräumen mußte, die ITK-Agentin hier einige verdammt gute Argumente vorbrachte. »Nun«, meldete er sich zögernd zu Wort, »nach meinem Verständnis erfordert jede Magie einen gewissen Aufwand an Energie. Das ist
doch richtig, oder? Vielleicht war das der Grund. Er hatte einfach nicht genug Energie, um die Sache zu Ende zu bringen. Ich meine, könnte dies die Erklärung sein? Vielleicht hat er deswegen die Pisto le benutzt, anstatt für den Mord die Magie zu Hilfe zu nehmen. Um seine Energie aufzusparen.« »Vielleicht«, sagte Morgan und nickte. »Dies wäre sicher eine Möglichkeit. Aber halten Sie es wirklich für wahrscheinlich, daß jemand, der gerade einen Mord begangen hat und mit der Mordwaffe in der Hand neben der Leiche erwischt wird, sich Gedanken darum macht, zu müde zu werden, weil er zu viel Energie verbraucht hat? Meiner Meinung nach müßte er sich viel mehr Gedanken darüber machen, keine Zeugen zurückzulassen. Er könnte sich ihrer entledi gen und hätte dann alle Zeit der Welt, vom Tatort zu verschwinden und sich irgendwo zu erholen.« McGarry mußte ihr wohl oder übel auch in diesem Punkt recht geben. »Außerdem«, fuhr Morgan fort, »wieso ist eigentlich keiner dar auf gekommen, daß das, worüber wir hier sprechen, eine sehr hoch entwickelte thaumaturgische Geschicklichkeit voraussetzt? Wir reden hier nicht von so einfachen Dingen wie dem freien Schweben oder von Impuls-Zaubern, um einen Wagen zu fahren. Wir reden hier von Zaubersprüchen, die zumindest die Fähigkeiten eines Adep ten der Vierten Ebene erfordern, und die würden dazu wahrschein lich nicht mal ausreichen. Aber dieser Junge ist nur ein Warlock, nicht mal Adept der Ersten Ebene. Solch fortgeschrittene Kenntnisse bekommt man aber nicht einfach durch ein autodidaktisches Heim studium, meine Herren. Wenn Karpinsky aber nur ein Zauberkünst ler ist, wie sollte er dann in der Lage sein, Zaubersprüche anzuwen den wie ein vollausgebildeter Magier?« Auf diese Frage wußte niemand eine Antwort. »Was schlagen Sie vor?« fragte Riguzzo nach einer kurzen Pause betretenen Schweigens. »Zuerst sollten wir herausfinden, warum die beiden nach Boston gekommen sind. Ich glaube nicht, daß sie hier wohnen. Sie haben die Runensteine in New York gestohlen und sie dort an Hehler abzuset zen versucht. Und plötzlich, wie aus heiterem Himmel, tauchen sie hier auf. Warum? Welche Verbindungen haben sie nach Boston?« »Karpinsky ging hier zur Schule«, beantwortete Cleary ihre Fra ge. »Vielleicht hat er hier irgendwelche Kontakte. Jemand, bei dem er solange unterkriechen kann, bis Gras über die Sache gewachsen
ist.« »Und warum quartiert er sich dann in einem Hotel ein?« Cleary zuckte die Achseln. »Vielleicht war er sich dieser Kontak te nicht mehr ganz sicher. Vielleicht mußte er erst ein paar Telefona te machen.« »Bravo!« meinte sie trocken. »Wenigstens einer, der noch mit denkt. Hat jemand daran gedacht, die Telefongespräche zu überprü fen, die von diesem Hotelzimmer aus gemacht wurden?« McGarry starrte verlegen zu Boden. Sie hob den Hörer auf und gab ihn an ihn weiter. Zutiefst beschämt wählte McGarry eine Nummer.
KAPITEL
I
ZEHN
n dem Moment, in dem Mustafa starb, wußte Rashid es schon. Kira lag hilflos vor ihm auf dem Bett und bäumte sich gegen die unsichtbare Kraft auf, die sie festhielt, die Arme ausgebreitet, als wären sie angenagelt, die Beine gespreizt und von Zauberfesseln gehalten. Rashid beugte sich über das Bett und lächelte über ihr nutzloses Aufbegehren. Seine Miene wirkte fast zärtlich. Der üppig eingerichtete Schlafraum war ein Trümmerfeld. Zwei hünenhafte Kahlköpfe, so groß wie Stiere, hatten Kira, die laut schreiend mit den Beinen nach ihnen trat, wie ein Kind hierher geschleppt, sie in das Zimmer gestoßen und die Tür hinter ihr abge sperrt. Sie war vornüber auf den Teppich gefallen und hatte einen Moment lang vor Wut und voller Frust geweint, ehe sie in wildem Zorn die Gobelins von den Wänden riß, die Spiegel mit einem Stuhl zertrümmerte und alles ringsum demolierte. Zum Schluß hatte sie den Stuhl durch das Schlafzimmerfenster geschleudert. In einem Regen von Glasscherben war er vier Stockwerke tiefer in einem Innenhof aufgeschlagen und hatte eine Handvoll Frauen zu Tode erschreckt, die an einem Swimmingpool mit einer Wasserfontäne ein Sonnenbad nahmen. Sie sahen zu dem zerbrochenen Fenster hinauf, aus dem Kira sich herausbeugte und sie laut anflehte, ihr zu helfen.
Doch keine bewegte sich von der Stelle. Dann hörte sie, wie hinter ihr die Tür geöffnet wurde, und fuhr herum. Rashid betrat den Raum. Er trug ein Gewand aus schwarzem Satin und bestickte Slipper an den Füßen. Kira brach eine größere Glasscherbe aus dem Fenster rahmen und hielt sie schützend vor sich. »Komm mir ja nicht zu nahe, du Hurensohn, sonst schiebe ich dir das ganz tief in den Hals!« Rashid schien von der Zerstörung ringsum unbeeindruckt. Er ließ seinen Blick einmal kurz umherschweifen und sagte nur: »Hätte ich gewußt, daß du meine Gastfreundschaft so sehr mißverstehst, hätte ich alles Zerbrechliche vorher entfernt.« Sie sprang auf ihn zu. Aber er war auf der Hut und streckte den Arm aus. Ehe sie auch nur fünf Fuß an ihn herangekommen war, wurde sie plötzlich zurückgeschleudert und landete auf dem Bett. Mit der Handfläche nach unten deutete er auf sie, als wolle er sie niederdrücken, und im nächsten Moment stellte sie fest, daß sie sich nicht mehr rühren konnte. Den Kopf konnte sie noch vom Bett he ben, ansonsten war sie unbeweglich. Irgend etwas hielt ihre Arme und Beine nieder und nagelte sie mit unlösbarem Griff fest. »Laß mich los, du verdammter Bastard!« Er trat an das Fußende des Bettes und beobachtete amüsiert, wie sie sich gegen die unsichtbaren Kräfte, die sie hielten, aufbäumte. »Du hast einen außerordentlichen Hang zu Gewalttätigkeiten«, mein te er in spöttischem Ton. »Offenbar ist das immer deine erste Reak tion auf eine bedrohliche Situation. Ist dir jemals der Gedanke ge kommen, daß jemand diese Energie mit Leichtigkeit gegen dich selbst wenden könnte?« »Fahr zur Hölle«, knurrte sie und starrte ihn trotzig an. »Ich bin auf der Straße aufgewachsen. Wenn du denkst, daß du mich durch eine Vergewaltigung einschüchtern kannst…« »Vergewaltigung?« sagte Rashid, als belustige ihn diese Vorstel lung. »Denkst du wirklich, ich hätte es nötig, ein solch banales Mittel wie Vergewaltigung anzuwenden? Gewiß, es ist einiges an dir, das mich reizt, aber für mich ist Vergewaltigung sicher kein Ausdruck sexuellen Begehrens. Sie ist ein Ausdruck von Macht, ein Angriff auf den intimsten Kern einer Frau, geboren aus einem Gefühl der Unzulänglichkeit und dem Bedürfnis zu dominieren. Ich habe aber keine Minderwertigkeitsgefühle und muß dich nicht erst vergewalti gen, um dich zu beherrschen.« Er beugte sich herab, stützte die Arme zu beiden Seiten ihres Körpers auf und brachte sein Gesicht dicht an ihres heran. »Ich
könnte mit einer einzigen Bewegung deinen Herzschlag anhalten«, sagte er leise. »Ich brauchte nur ein Wort zu sagen, und es würde aus deiner Brust springen und in meinen Händen weiterschlagen, wäh rend ich dir beim Sterben zusehe.« Genau in diesem Augenblick geschah es, daß drei Kugeln in Mu stafa Sharifs Körper einschlugen, ihre Spur durch seinen Körper zogen, Organe zerrissen und Knochen zerschmetterten. Als habe ihn der Schlag getroffen, fuhr Rashid hoch und griff sich aufstöhnend ans Herz. Das unsichtbare Gewicht, das Kira auf das Bett drückte, war plötzlich verschwunden. Das Mädchen fuhr blitz schnell hoch, holte aus und stieß die Hand nach Rashids Gesicht. Er sah die Bewegung zwar, konnte aber nur durch eine Drehung des Kopfes im letzten Moment verhindern, daß sie ihm Finger in die Augen stieß. Ihre Fingernägel hinterließen blutige Striemen auf sei ner rechten Wange dicht unter dem Auge. Er schlug ihr mit dem Handrücken ins Gesicht. Die Wucht des Schlages schleuderte sie auf das Bett zurück. Er packte ihre Handgelenke und drückte sie nieder, während sie sich unter ihm wand. Einen Augenblick lang rangen sie keuchend miteinander. Und dann glühte der Edelstein in Rashids Stirn wieder auf. »Nein!« schrie Kira. Der Strahl brach aus dem Rubin und traf ihre Stirn. Kira stieß ei nen gellenden Schrei aus. Ihr Körper bäumte sich auf und zuckte unter Rashids Griff wie ein Fisch auf dem Trockenen. Blut rann ihm über die Wangen, und er starrte mit gebleckten Zähnen auf das Mädchen hinab. »Offenbar«, sagte er schweratmend, »hat dein junger Warlock Mustafa, diesen dämlichen Trottel, ausge schaltet. Nun, dies war aber nur der erste Zug in diesem Spiel.« Seine Blick bohrte sich in ihre Augen, während sie sich auf dem Bett in dem hellen Schein des Strahls krümmte, den Mund weit auf gerissen zu einem lautlosen Schrei. Der Schmerz war schlimmer als alles, was sie in ihrem Leben bisher ertragen hatte. »Du befürchtetest also etwas so Triviales wie eine Vergewalti gung«, knurrte Rashid. »Als ob ich mich nur mit deinem Körper zufriedengäbe, wo ich doch deine Seele besitzen kann.« Seine Gestalt verschwamm vor ihren Augen und schien plötzlich durchsichtig zu werden. Sein Gesicht schwebte wie ein gespensti sches Trugbild auf sie zu, kam immer näher. Der brennende Schmerz wich einer geisttötenden Kälte. Eisige Fangarme schienen sich um ihren Körper zu winden und sie zu durchdringen.
»Die Gewaltbereitschaft deines Charakters ist es, die dich an mich binden wird«, ertönte Rashids hallende Stimme in ihrem Kopf. »Deine niederen Instinkte werden eine Brücke schlagen zwischen deiner und meiner Seele. Je stärker du dich gegen mich wehrst, um so vollständiger werde ich dich besitzen.« Sie empfand seine Anwesenheit in ihrem Geist wie einen Eiskri stall, der langsam schmolz, jede Faser ihres Körpers durchdrang und ihren Willen davonschwemmte. Dann verwandelte sich die Kälte allmählich in eine diffuse Wärme, die schließlich in heiße Leiden schaft umschlug. Es war, als schwebe sie irgendwo zwischen dem Bewußtsein ihrer Körperlichkeit und ihrem astralen Sein. Sie fühlte, wie er sich stärker an sie preßte, und unwillkürlich legte sie ihre Arme um ihn und zog ihn noch näher zu sich heran. Seine Lippen fanden ihre. Sie öffnete den Mund, und ihre Zungen trafen sich. Sie schlang ihre Beine um ihn, unfähig, sich gegen ihre Hitze zu wehren, überwältigt von dem tierischen Drang, sein Fleisch an ihrem zu spü ren, ihn tief in sich aufzunehmen. Sie merkte, daß ihr Tränen über die Wangen liefen. Rashid küßte sie weg, und sie verlor sich an ihn. »Konzentriere dich«, sagte Merlin und fuhr mit dem Finger eine Zeile in einem dicken Buch mit Ledereinband entlang, das aufge schlagen vor ihm auf einem Pult lag. Wyrdrune stand in der Mitte eines Pentagramms, das auf den Boden von Merlins Kellergeschoß gemalt war. Der Keller war dunkel und feucht. An der Decke liefen Heizungs- und Abflußrohre entlang. Wyrdrune konnte das leise Summen der Wasserheizung hören. Überall standen alte Kisten und hölzerne Truhen herum, die sie zur Seite geschoben hatten, um den Mittelraum freizumachen. Die kleinen Kellerfenster waren übermalt, so daß kein Tageslicht hereinfallen konnte. Ein paar Kerzen spende ten ein schummriges Licht. Zwei standen auf dem Pult neben dem Buch, in dem Merlin gerade las, fünf weitere in Messingleuchtern waren jeweils an den Eckpunkten des Pentagramms plaziert. Wyr drune fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen. Er schwitzte leicht, trotz der feuchten Kühle des Kellers. Unruhig verlagerte er sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. »Was ist, wenn etwas schiefgeht?« Merlins Gesicht wirkte im Kerzenschein hager und ausgezehrt. »Denk jetzt nicht daran.« Er furchte die dichten Augenbrauen. »Du hast doch selbst darauf bestanden. Ich erfülle nur meinen Teil, wenn auch gegen meine Überzeugung. Also mußt auch du deinen Teil dazu beitragen. Vergiß nicht, wir haben nur eine einzige Chance.
Rashid wird sich nicht ein zweites Mal überraschen lassen.« »Wie können Sie so sicher sein, daß Sie sie auch finden werden?« »Ich bin mir dessen nicht sicher. Aber ich zähle auf das geistige Band, das die Runensteine zwischen euch beiden geflochten haben. Sie sind es, die dich durch den Äther begleiten werden, nicht ich. Ich kann dich nur auf die Reise schicken. Es wird an dir liegen, wieder heil zurückzukehren. Du mußt sehr schnell handeln. Wenn Rashid in der Nähe ist, wird er nicht lange zögern. Dir bleiben nur eine oder zwei Sekunden für deine Aktion. Länger wird das Überraschungs moment nicht währen. Wenn du versagst, kann ich dir nicht mehr helfen. Wir haben dann unseren Vorteil verspielt, und Rashid weiß, daß ich hinter der Sache stecke. Ich kann nur hoffen, daß ich die richtige Entscheidung getroffen habe. Du weißt noch die Worte für den Transfer-Zauber?« Wyrdrune nickte. »Dann leg die Steine vor deine Füße.« Wyrdrune zog den kleinen Lederbeutel aus der Tasche und pla zierte die Runensteine vor seinen Füßen innerhalb des Pentagramms. »Bist du bereit?« fragte Merlin. Wyrdrune atmete tief durch. Dann nickte er. »Denk daran, dir bleibt kaum eine Sekunde. Also zögere keinen Moment!« »Vertrauen Sie mir. Ich werde nicht zaudern.« Wyrdrune schluck te schwer. »Also dann, Professor – ich bin bereit.« Merlin senkte den Blick auf das aufgeschlagene Buch und fuhr mit dem Finger die Zeile entlang, während er langsam ein paar guttu rale Worte in einer längst toten Sprache laut vorlas. Dabei hatte er die linke Hand erhoben. Der Arm bildete im Ellbogen einen rechten Winkel. Zeigefinger und kleinen Finger hatte er ausgestreckt, wäh rend die anderen Finger zusammengekrümmt mit ihren Kuppen die Handfläche berührten. Der Daumen lag quer über ihnen. Merlins Stimme klang hohl durch den dunklen Kellerraum. Als er sprach, begannen die Kerzenflammen plötzlich zu spucken und zu zischen. Wyrdrune spürte einen kalten Luftzug durch den Keller fahren. Ihm zitterten die Knie. Die Brise wurde stärker, während Merlin die alte Zauberformel sprach. Der Wind fuhr innerhalb des Pentagramms herum, zupfte an Wyrdrunes Kleidern und veränderte sich in Form und Farbe, wurde zu einem hellen, kobaltblauen Wirbelwind, der an Kraft und Sub stanz immer mehr zunahm. Die Kerzen an den fünf Spitzen des Pen
tagramms erloschen, ihre Flammen wurden in den Sog hineingezo gen und entzündeten ihn, während er Wyrdrune umtanzte und ihn schließlich in einen Kokon wirbelnder blauer Flammen einhüllte. Merlins Stimme hob sich, während er die Formel verlas. Das letz te Wort stieß er in einem lauten Schrei hervor, und dabei reckte er die linke Hand mit dem ausgestreckten Zeigefinger und dem kleinen Finger höher. Ein hellroter Funke sprang aus Merlins Handkante hervor, kroch an seiner rechten Hand empor, wanderte durch seinen Körper, umgab ihn mit einer roten Aura, ließ den langen Bart kni stern und richtete die weißen Haare senkrecht auf. Er fuhr den ausge streckten linken Arm entlang, übersprang die Leere zwischen den beiden ausgestreckten Fingern und fuhr als leuchtendrote Lanze purer thaumaturgischer Energie quer durch den Kellerraum auf den schimmernden blauen Flammenkreisel zu, der Wyrdrune umschloß und ihn beinahe unsichtbar machte. Er traf auf den Wirbel, wurde in den Mahlstrom gesogen und durchsetzte den blauen Kreisel mit glutroten Feuerstreifen. Der Lärm wurde ohrenbetäubend, und der Wirbel drehte sich immer schneller. Als er schließlich wie eine Windhose vom Boden abhob, hatte seine äußere Hülle die Farbe von leuchtendem Purpur angenommen. Plötzlich schien er in sich zu sammenzusinken. Ein greller, orangefarbener Blitz zuckte auf, ge folgt von einem Donnerhall, dessen Grollen die übermalten Keller fenster aus den Rahmen springen ließ. Wyrdrune war verschwunden. Die Begrenzungslinien des Pentagramms waren von der Hitze ge schwärzt. Mitten darin lag Kira nackt auf dem Boden, den Körper zusammengerollt und das Gesicht in den Armen vergraben. Außer dem leisen Weinen des Mädchens war es im Keller totenstill. Mit einem plötzlichen Ruck hob Kira den Kopf und sah sich schweratmend um. Offenbar wußte sie nicht, wo sie war. Merlin eilte zu ihr. »Wo bin ich?« Ihre Stimme war voller Furcht. »Wer sind Sie?« »Du bist in Sicherheit.« Merlin atmete tief durch und streckte ihr die Hand entgegen. »Steh auf, schnell. Erheb dich und tritt aus den Grenzen des Pentagramms heraus. Sofort!« Benommen kam sie auf die Knie und schaute sich um. »Was ist geschehen? Wo bin ich?« Merlin packte ihren Arm und zerrte sie auf die Füße. »Beeil dich!« rief er und zog sie hinter sich her. Verwirrt folgte sie ihm, während er sie hastig aus dem Penta gramm herausführte…
Wyrdrunes Blick klärte sich, und er fand sich auf einem großen Bett liegend in einem Raum wieder, der aussah, als hätte darin ein heftiger Kampf stattgefunden. Ein Mann in einem schwarzen SatinMorgenrock stand mit dem Rücken zu ihm an einem Sideboard und goß Wein aus einer Karaffe in einen Kristallkelch. Im Augenblick von Wyrdrunes Erscheinen fuhr er herum und ließ beim Anblick des jungen Mannes den Kelch fallen. Er zerschellte klirrend am Boden und tränkte den Teppich mit Wein. Wyrdrune schloß die Augen und sprach hastig die Worte, die den Transfer-Zauber vervollständigten. Er spürte den Sog, mit der die Luft ringsum zusammen mit ihm in ein Vakuum gesaugt wurde. Im nächsten Moment war er verschwunden. Nur seine Körperumrisse blieben auf den Bettlaken zurück. Einen Sekundenbruchteil später tauchte er in Merlins Keller innerhalb der Linien des Pentagramms wieder auf. Er fiel auf die Knie und gab ein trockenes Schluchzen von sich. »Komm heraus!« rief Merlin. »Verschwinde aus dem Penta gramm!« Wyrdrune richtete sich auf und wollte das Pentagramm verlassen. »Die Runensteine! Nimm sie, rasch!« Wyrdrune drehte sich um, bückte sich, hob den Beutel auf und stolperte auf die Begrenzung des Pentagramms zu. Als er über die Linie trat, erfaßte ihn die Druckwelle fehlgeleiteter Luft aus dem Transfer. Die Moleküle materialisierten innerhalb des Pentagramms und kollidierten mit den Molekülen, die diesen Raum und diese Zeit bisher besetzt gehalten hatten. Die Druckwelle traf Wyrdrune wie ein Faustschlag und riß ihn von den Füßen. Er segelte quer durch den Keller und stürzte vor Merlins Füßen zu Boden. Schimmernde Lichtpunkte tanzten innerhalb des Pentagramms, und ein Grollen wie der Todesschrei eines riesigen Ungeheuers erfüllte den Keller. Merlin zog seine Jacke aus und hüllte Kira darin ein. Sie drängte sich an ihn und umklammerte ihn, während sie voller Furcht das Ding, das innerhalb des Pentagramms aufgetaucht war, beobachtete. Wyrdrune warf einen Blick über die Schulter, und seine Innereien verkrampften sich beim Anblick der Erscheinung, die im Penta gramm genau auf der Stelle hockte, an der er einen Augenblick zu vor noch gewesen war. Sie wirkte transparent, und ein Ionenfeuer tanzte durch ihren Körper wie ein elektrischer Sturm. Im nächsten Moment erhob sich das Wesen auf die Hinterläufe, warf den Mam mutkopf zurück und heulte laut vor Zorn. Seine transparenten Klau
en gruben sich funkensprühend durch den Boden. Betonsplitter flo gen durch die Luft, als es vergeblich versuchte, die Grenzen des Pentagramms zu überwinden. »Ambrosius!« donnerte es, und seine Stimme ließ die Wände erbeben. »Verflucht sollst du sein. Wo bist du? Wo bist du?« Merlin legte die rechte Hand flach auf das offene Buch vor sich und streckte die linke mit gespreizten Fingern gegen das Wesen aus. Energiefunken sprangen zwischen den Gliedern hin und her. »Zurück, du Ausgeburt der Hölle!« rief er. »Zurück zu deinem Herrn, diesem Emporkömmling!« Gelbrotes Feuer schoß aus seinen ausgestreckten Fingern und durchbohrte als gebündelter Energieblitz die fauchende Kreatur, die im Pentagramm gefangen saß. Das Wesen riß den Kopf zurück und heulte vor Schmerz laut auf, als orangefarbene Flammen es umhüll ten. Plötzlich erschienen Myriaden von Rissen auf seiner transparen ten Hülle – wie Sprünge in der Eisdecke eines zugefrorenen Wei hers. Es zersplitterte wie funkensprühendes Glas in tausend Scher ben, die auf dem Boden ins Nichts zerrannen. Sein Heulen hallte durch den Raum und verging in einer ozondurchtränkten Stille. Er schöpft lehnte Merlin sich gegen das Pult. »Mein Gott«, rief Wyrdrune. »Was war denn das für ein Wesen?« »Vergiß es! Bring mich lieber nach oben«, sagte Merlin schwach. Jetzt erst schien Wyrdrune Kira zu bemerken. »Kira! Bist du in Ordnung?« Sie nickte stumm und stützte Merlin. »Hilf mir mit ihm«, sagte sie mit schwacher Stimme. Zusammen brachten sie den Magier nach oben. In der Küche läu tete das Telefon. »Ich gehe dran«, meinte Wyrdrune. »Nein, nein, ich mache das selbst«, widersprach Merlin. »Ich kann mir schon denken, wer das ist.« Er streckte die Hand aus, und Wyrdrune reichte ihm den Hörer. Seufzend hob Merlin ihn ans Ohr. »Ja, Mrs. Hofstedder«, sagte er müde, zuckte plötzlich zusammen und hielt den Hörer vom Ohr weg. Er verdrehte die Augen und lauschte erneut. »Nein, Mrs. Hofstedder, ich habe keinen Hund… Ja, da bin ich mir ganz sicher, Mrs. Hofstedder… Ja, ich habe das Heu len gehört. Ich… ich weiß… Ja, gewiß… Nein, wirklich, Mrs. Hof stedder, ich versichere Ihnen, ich bin nicht… Tut mir leid, daß es Ihre Katzen gestört hat, Mrs. Hofstedder, aber… aber das ist ja schrecklich, alles über Ihr neues Federbett?… Ja, ich verstehe, ich…
Moment mal, Mrs. Hofstedder, es ist nicht nötig, in einem solchen Ton… Mrs. Hofstedder?« Er nahm den Hörer wieder vom Ohr und legte ihn langsam auf die Gabel zurück. Dabei schüttelte er den Kopf. »Mit manchen Leuten kann man einfach nicht reden«, brumm te er. Dann sah er Kira an. »Nun, meine Liebe, alles in Ordnung mit dir?« Sie zog sich sein Tweedjacket enger um den Körper und nickte. »Ja, vielen Dank!« »Wir müssen dir ein paar Kleider besorgen«, meinte der Magier. »Könnte ich jetzt bitte meine Jacke zurückhaben? Dreh dich um, Karpinksy.« Gehorsam drehte Wyrdrune sich um, obwohl er sie schon nackt gesehen hatte. Merlin machte ein Handbewegung. Kira trug plötzlich eine rüschenbesetzte weiße Bluse zu einem karierten Rock, Kniestrümpfe und flache Schuhe. »Na bitte«, brummte Merlin. »Das ist schon besser.« Kira musterte ihre neuen Kleider und verzog das Gesicht. »Tat sächlich?« »Wie geht es jetzt weiter?« wollte Wyrdrune wissen. »Jetzt beginnt der Kampf. Ihr beide könnt nicht länger hier blei ben, denn bei mir seid ihr nicht mehr sicher. Rashid weiß nun, wo ihr seid, und er wird nicht zögern zurückzuschlagen, sobald er sich er holt hat. Und er wird sich schnell erholen. Seine Macht ist sehr ge wachsen und wird noch weiter wachsen. Ich muß meine ganze Kunst aufbieten, um ihr zu begegnen. Ich wünschte nur, ich hätte mehr Zeit.« »Und was können wir tun?« fragte Wyrdrune. »Wenn ich das nur wüßte. Euer Schicksal liegt nicht in meinen Händen, denn die Runensteine bestimmen darüber. Sie haben sich mit euch verbündet aus Gründen, die ich nur vermuten kann. Rashid wird sie zerstören müssen, um die Dunklen Kräfte zu befreien. Das bedeutet, daß er euch vernichten muß. Und mich.« »Dann müssen wir ihn eben töten«, sagte Kira. Merlin hob die Brauen. »Ja, aber das ist leichter gesagt als getan. Ihr habt keine Vorstellung von den Kräften, die ihn schützen. Und außerdem seid ihr dazu noch nicht bereit. Ihr würdet mit Sicherheit versagen, solltet ihr versuchen, sofort etwas gegen ihn zu unterneh men. Ihr seid nur zwei Teile des Lebendigen Dreiecks. Ihr müßt erst das fehlende Drittel finden, ehe ihr euch Rashid vorknöpfen könnt.« »Ich dachte, Sie seien der andere Teil«, rief Wyrdrune.
Merlin schüttelte den Kopf. »Ich glaube, ich hätte es inzwischen bemerkt, wenn dem so wäre. Aber die Runensteine haben keine Verbindung zu mir. Ich bin für eine andere Sache ausersehen. Meine Aufgabe ist es, der stabilisierende Einfluß zu sein, um für euch Zeit zu gewinnen.« »Zeit, um was zu tun?« »Das wirst du wissen, wenn der Zeitpunkt gekommen ist«, sagte Merlin zu Wyrdrune. »Und nun hör mir zu. Jahrhunderte hindurch haben die Dunklen Mächte geschlummert, aber die Kräfte der Magie auf der Welt sind gewachsen, und nun wurden sie aufgeweckt. Sie haben einen Handlanger gefunden: Rashid. Wenn die Runensteine aus den Riegeln ihrer Katakomben entfernt sind, können die Dunklen Mächte durch Rashid in den Lauf der Welt eingreifen und ihre Macht ausspielen. Für ihre Flucht muß Rashid aber Vorbereitungen treffen und sozusagen das Klima günstig gestalten. Und da muß ich ansetzen. Ich muß der wachsenden Kraft ihrer Schwarzen Magie Einhalt gebieten, sie daran hindern, immer mächtiger zu werden. Versage ich, werden sie bald stark genug sein, aus ihrem Gefängnis auszubrechen. Doch solange die Runensteine existieren, bleibt ihre Macht begrenzt. Die Uralten haben die Schlüssel zum Verlies der Dunklen Mächte an euch weitergereicht, an euch beide – und eine dritte Person, die ihr noch finden müßt. Wenn erst die drei Elemente des Dreiecks zusammengefunden haben, könnt ihr gegen Rashid bestehen. Bis dahin wird er vor nichts zurückschrecken, um die Ru nensteine und damit gleichzeitig auch euch zu vernichten.« »Das kapiere ich nicht«, sagte Kira. »Wenn das alles stimmt, warum hat er mich dann nicht einfach getötet, als er die Gelegenheit dazu hatte?« »Vermutlich, weil er über dich an Wyrdrune herankommen woll te«, meinte Merlin. »Vielleicht aber auch, weil er es nicht konnte. Ich weiß es nicht. Rashid ist nicht mehr derselbe Mann, den ich einmal kannte. Er ist auf die andere Seite gewechselt, ist besessen von der Macht der Dunklen. Er ist ein Verlorener, der nur seine Frei heit im Tod finden wird. Doch selbst wenn Rashid tot ist, sind die Mächte, die hinter ihm stehen, nicht überwunden. Sein Tod aber würde es euch ermöglichen, die Runensteine an ihren alten Ort zu bringen und so die Dunklen Mächte wieder in ihrer Unterwelt einzu sperren und den Zugang zu versiegeln.« »Kann man sie nicht vernichten?« fragte Kira. Merlin seufzte. »Ich weiß es nicht. Damals, lange vor meiner Zeit,
waren sie einmal ein Stamm von Magiern. Der Himmel mag wissen, zu was sie jetzt geworden sind. Sie haben die Jahrhunderte überdau ert. Selbst die Uralten, die sie in ihrer Unterwelt eingesperrt haben, waren nicht imstande, sie gänzlich zu vernichten. Ich bin allein, nur eine einzelne Person. Ich weiß nicht mal, wie zahlreich sie sind.« »Was würde geschehen, wenn sie freikämen?« Kira wirkte ver zagt. »Mich schaudert, wenn ich daran denke. Die Dunklen waren nie an die Moralvorstellungen der Weißen Magie gebunden. Die Schwarze Magie ist nicht zwangsläufig mächtiger als die Weiße, kann aber ganz einfach durch Anhäufung von Kraft, konzentriert in den Ritualen der Schwarzen Magie, die Oberhand gewinnen. Diese Rituale konzentrieren die nötigen Kräfte weit schneller als die der Weißen Magie.« »Sie meinen, wie bei einem Schnellverfahren?« fragte Kira. »So könnte man es nennen, ja. Ein Schnellverfahren. Jemand le bendige Energie wegzunehmen ist weit einfacher als von der eigenen zu zehren. Fast ebenso einfach wie der Verbrauch der Ressourcen der Welt ohne Rücksicht auf die angerichteten Schäden ist auch der Verbrauch von energetischer Kraft ohne Rücksicht auf Menschenle ben. Und ich muß es wissen. Ich habe selbst viele Male getötet, mir die Lebensenergie meiner Opfer zunutze gemacht und mir selbst eingeredet, das sei eben unvermeidlich zum Erreichen eines höheren Ziels. Aber gerade das ist das Verführerische und Gefährliche an der Schwarzen Magie. Ihr müßt ihr Wesen jetzt verstehen lernen, denn ihr werdet es mit Sicherheit bald am eigenen Leib kennenlernen. Es ist fast unmöglich, zu wissen, wo man eine Grenze ziehen soll. Wie weit darf jemand für ein sogenanntes ›Höheres Ziel‹ gehen, und wie rechtfertigt man die Arroganz, sich selbst zum Herrn über Gut oder Böse aufzuschwingen?« »Man tut eben, was man tun muß, um zu überleben«, meinte Kira. Merlin lächelte gequält. »Und das ist alles, was dahintersteht?« fragte er ironisch. »Hüte dich vor solch einer simplen Philosophie, mein Kind, denn es ist genau die gleiche, nach der die handeln, de nen Rashid dient. Auch sie tun nur das, was sie glauben tun zu müs sen, um zu überleben. Wie weit würdest du denn gehen, um dein Überleben zu sichern?« »So weit, wie es nötig wäre – vermutlich«, antwortete sie. »Ich habe auf die harte Tour lernen müssen, mich zu behaupten. Keiner hat sich um mich gekümmert.«
»Ich verstehe. Aber was wäre, wenn ich dir nun sagen würde, du müßtest, um zu überleben, Karpinsky töten, vielleicht auch die alte Mrs. Hofstedder im Nebenhaus und die Familie gegenüber, ein Ehe paar mit drei kleinen Kindern?« »In diesem Fall ginge es nicht um deren Leben oder um meins. Dann hieße es lediglich: ich – oder Sie.« »Aha, aber wenn du mir nun vollkommen ausgeliefert wärest, wenn du keine Möglichkeit hättest, dich gegen mich durchzusetzen – wenn es wirklich nur um deren Leben oder deins ginge?« »Vermutlich würde ich dann bei dem Versuch, Sie zu töten, draufgehen.« Merlin lächelte. »Das ist einfach gesagt.« Er hob die Hände, um ihren Einwand abzuwehren. »Ich will dir ja nicht unterstellen, daß du lügst. Ich möchte dir nur klarmachen, daß es zwei grundverschiedene Dinge sind, sich theoretisch mit einem Problem zu beschäftigen oder wirklich damit konfrontiert zu werden. Während meines langen Schlafes wurde ich Zeuge – oder sagen wir besser, ich träumte sie – unzähliger Fälle, in denen Leute auf virtuose Weise andere in den Tod schickten, nur um sich selbst zu retten. Und immer redeten sie sich selbst ein, sie hätten keine andere Wahl gehabt oder hätten es zum Wohl für die Allgemeinheit getan. Es mag vielleicht wirklich nicht so einfach sein, Kinder in Verbrennungsöfen zu schicken oder die hilflosen Bewohner eines kleinen asiatischen Dorfes über den Haufen zu schießen, aber es ist immer noch einfacher, das zu tun als selbst zu sterben. Und es ist allemal leichter, dir einzureden, keine andere Wahl gehabt oder für ein höheres Ziel gehandelt zu haben, als mit dem Wissen um deine Schwäche und dem Makel auf deiner Seele zu leben. Meine Seele ist ebenso schwarz wie eure, das dürft ihr mir glauben. Es ist das Gleichgewicht zwischen Licht und Dun kel, das uns geistig gesund bleiben läßt. Zu viel von dem einen, dann wird man zum Märtyrer, zu viel von dem anderen, und man wird zum Ungeheuer.« Er seufzte. »Mir tut der arme Rashid leid. Er war das Wesen, das wir eben im Keller gesehen haben, müßt ihr wissen. Es war sein wahres Leben. Das ist aus ihm geworden.« Er trat zu Wyrdrune und legte ihm die Hände auf die Schulter. »Vielleicht war das der Fehler, den die Uralten gemacht haben. Viel leicht haben sie die Dunklen unter ihnen nicht vernichtet, weil sie es nicht fertigbrachten. Statt dessen opferten sie lieber ihr Leben, um die, die ihnen nachfolgten, zu schützen. Vielleicht fließt ihr Blut in deinen Adern.« Er sah zu Kira hinüber. »Und auch in deinen. Viel
leicht haben sie euch deshalb auserwählt, vielleicht aber auch nur, weil ihr beide noch sehr jung seid und noch nicht erfahren habt, wie kompliziert das Leben sein kann. Ich beneide euch nicht um die Erfahrungen, die ihr noch machen werdet.« Merlin trat einen Schritt zurück. »Geht nun. Findet den Dritten, der euren Bund vervollstän digt. Und versucht, euch gegenseitig Kraft und Mut zu geben. Mö gen die Runensteine euch leiten und beschützen. Ich werde versu chen, euch mehr Zeit zu verschaffen.« Er machte eine Geste und sprach dabei einen alten Zauber. Beide verschwanden. Der ungekennzeichnete Wagen schwebte über die Straße und lan dete sanft gegenüber dem großen viktorianischen Haus am Beacon Hill. Special Agent Morgan blieb am Steuer sitzen und zündete sich eine Zigarette an. »Ich warte hier«, sagte sie. Riguzzo hob die Brauen. »Sie gehen nicht mit hinein?« »Nein. Ich glaube, er redet offener mit zwei Polizeibeamten als mit einer ITK-Ermittlerin.« »Wieso das?« fragte Cleary. »Nun, sagen wir einfach, er würde nicht sehr erfreut sein, mich zu sehen.« Sie wirkte nervös. »Etwas Persönliches?« fragte Riguzzo. »Wir hatten einige Differenzen. Das ist zwar schon eine Weile her, aber ich möchte ihn nicht quälen. Er ist ein bedeutender Mann. Außerdem wird er mit euch anders reden als mit einem Adepten.« »Irgendwelche Tips, wie wir ihn anfassen müssen?« wollte Cleary wissen. »Ich meine, da Sie ja den Mann kennen…« »Seid nur zuvorkommend und höflich. Tut so, als sei es reine Routine, als würdet ihr nur ein paar Hinweisen nachgehen. Ihr kennt das doch. Behandelt ihn ebenso, wie ihr den Chef eines bedeutenden Konzerns in New York behandeln würdet.« »Und wenn er wissen will, warum die ITK die Sache nicht unter sucht, wo es sich doch um einen thaumaturgischen Fall handelt?« meinte Riguzzo. »Gute Frage. Sagt ihm, die ITK verfolgt die Sache, hätte sich of fiziell aber noch nicht eingeschaltet. Karpinsky sei kein zugelassener Adept, und außerdem sei die Frage der Zuständigkeit, eigentlich nur eine Formsache, noch nicht ganz geklärt. Es sei immer noch euer Fall, und ihr würdet einem Hinweis des Bostoner Police Department nachgehen. Ein Punkt, über den ihr euch Klarheit verschaffen solltet, sei die Frage, ob Karpinsky als Adept technisch qualifiziert ist oder
nicht. Aber ihr wolltet den Fall so schnell wie möglich an die ITK abtreten, da ihr alle Hände voll zu tun hättet und euch um diese Sa che nicht weiter kümmern könntet. Mal sehen, ob ihn das munter macht. Und achtet darauf, was er nicht sagt – und die Art und Weise, wie er es nicht sagt. Merlin setzt eigene Prioritäten. Behördliche Autorität hat ihn nie beeindrucken können. Mit anderen Worten: Behandelt ihn mit Respekt. Verlaßt euch nicht auf eure Plakette. Er kann sehr launisch sein.« »Na prima! Wir gehen ihm auf den Geist – und dafür verwandelt er uns in Giftpilze«, meinte Cleary trocken. »Ich habe schon ein paar Stories über den alten Knaben gehört. Sie können darauf wetten, daß ich höflich sein werde!« »Vielleicht hätten wir uns vorher anmelden sollen«, brummte Ri guzzo. »Ruft ihr in solchen Situationen immer vorher an und macht einen Termin?« fragte sie scharf. »Nein, gewöhnlich nicht.« »Dann verhaltet euch auch jetzt wie gewöhnlich. Ich warte hier auf euch.« Die beiden Polizisten stiegen aus dem Wagen und gingen über die Straße auf das große alte Haus zu. »Was hältst du von ihr?« fragte Cleary seinen Partner. »Ich weiß nicht«, meinte Riguzzo, während sie das Tor passier ten. »Sie bläst sich jedenfalls nicht so auf wie viele andere Typen von der ITK, weiß aber genau, was sie will. Sicherlich ist sie ziem lich fähig – und auf jeden Fall kompetent.« »Scheint aber noch ziemlich jung zu sein.« »Das habe ich zuerst auch gedacht. Aber das Alter eines fortge schrittenen Adepten ist immer schwer zu schätzen. Andererseits könnte das auch vielleicht der Grund sein, weshalb sie uns weiter an dem Fall arbeiten läßt. Wir wissen nicht, wieviel Erfahrung sie hat.« Irgend etwas huschte quer über den Weg und verschwand in den Büschen. Instinktiv griff Cleary nach der Pistole unter der Jacke. »Was war das?« Aus dem raschelnden Gebüsch ertönte ein helles Kichern, und dann war alles still. »Bleib ganz ruhig, Mann.« Riguzzo legte die Hand auf dem Arm seines Partners. »Dieser Ort macht mir ’ne Gänsehaut«, knurrte Cleary und be trachtete mißtrauisch all die Keramikzwerge auf dem hochgeschos
senen Rasen. »Sollen die Figuren ’n Witz sein, oder was? Der Gnom da drüben zeigt uns doch tatsächlich den Stinkefinger.« »Die stehen hier zur Verschönerung des Rasens, Al. Entspann dich um Himmels willen.« Cleary warf einen erbitterten Blick auf das Dämonengesicht des Türklopfers. »Ich glaube kaum, daß der Himmel viel hiermit zu tun hat«, brummte er nervös. Riguzzo zog die Stirn kraus. »Seit wann bist du religiös, Al?« »War schon immer katholisch. Und was bist du?« »Um die Wahrheit zu sagen – ich weiß es nicht.« Cleary verzog das Gesicht. »Versuch mal, ’n Katholik zu sein – besonders in diesen Tagen. Dabei hat man immer das Gefühl, die ganze Welt ist ’n verdammter Smoking – und du selbst bist nur ’n Paar Arbeitsschuhe.« »Ich dachte, die Kirche wäre moderner geworden.« Riguzzo muß te unwillkürlich grinsen. »Yeah, und wie modern sie geworden ist. Die Thaumaturgie ist nur ein Ausdruck der Macht Gottes, und die Schwarze Magie Teu felswerk. Der Papst hat das sehr deutlich gesagt. Und dann kommen solche Burschen wie dieser Merlin und wollen dir verklickern, daß das alles dasselbe ist und eigentlich nur zählt, was du damit anstellst. Ich sage dir, ich begreife das nicht. Mein Vater hat’s auch nicht ver standen. Meine Mutter hat jeden Tag die Novene gebetet, bis meine Schwester es satt hatte und zum Judentum übergetreten ist. Ich warte nur darauf, daß die Adepten ihre eigene Religion gründen. Das wäre das Pünktchen auf dem i. Anstatt sonntags in die Kirche zu gehen, ziehst du raus ins Grüne, springst aus den Klamotten und tanzt wie ein Wilder um einen Baum herum.« »Das wäre doch nichts Neues.« Riguzzo hob die Hand, um den Klopfer zu betätigen. Cleary packte seinen Arm. »Warte einen Moment.« Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Was ist denn heute los mit dir, Al?« »Okay, ich sag’s dir. Aber du darfst nicht lachen, Dominic.« »Keine Sorge.« »Ich habe Angst.« »Vor Merlin?« Cleary seufzte. »Schon als Kind habe ich von dem Burschen jede Menge Geschichten gehört. Er hat Leute umgebracht, Dom. Ließ sie einfach so verschwinden. Und keiner hat jemals was gesagt. Und
niemand hat was unternommen dagegen, verstehst du? Der Mann steht über dem Gesetz. Es geht sogar das Gerücht, daß er nicht mal ’n richtiger Mensch ist.« »Keiner steht über dem Gesetz, Al«, wies Riguzzo ihn sanft zu recht. »Und was diese Stories anbelangt – so war eben die alte Zeit. Damals gab’s jede Menge solcher Geschichten, und die meisten davon waren stark übertrieben. Wir leben aber jetzt und heute, und das hier ist nicht die Burg irgendeines bösen Hexenmeisters. Al. Der Mann ist Professor an der Universität.« Er packte den Türklopfer und schlug den Ring dreimal kräftig auf die Platte. Die Augen im Gesicht des Klopfers öffneten sich weit. »Was wünschen Sie?« fragte er. »Das reicht. Ich verschwinde«, knurrte Cleary und drehte sich um. Riguzzo packte ihn am Arm. »Ganz ruhig, Al. Das ist schon in Ordnung. Keine große Sache.« Er verbarg sein eigenes Unbehagen und wandte sich dem Türklopfer zu. »Lieutenant Dominic Riguzzo und Sergeant Al Cleary von der New Yorker Polizei. Wir möchten zu Professor Ambrosius. Wir haben nur ein paar Fragen an ihn.« Selbsttätig schwang die Tür auf. Riguzzo erwartete ein unheilvoll knarrendes Geräusch, doch sie öffnete sich lautlos. Sie traten ein. Krachend fiel die Tür hinter ihnen zu. Erschrocken machte Cleary einen leichten Satz nach vorn. »Ich bin in der Küche«, ertönte ein Stimme. »Den Gang hinunter und dann links.« Aus der Küche drang ihnen der Duft von gebratenen Schweinelendchen entgegen. Merlin saß am Küchentisch. Vor ihm lag eine aufgeschlagene Zeitung. Er erhob sich, als sie eintraten, und streckte ihnen die Hand entgegen. »Guten Abend«, sagte er freundlich. »Ich bin Merlin Ambrosius. Nehmen Sie doch Platz, Gentlemen. Was kann ich für Sie tun?« »Tut uns leid, daß wir Sie beim Essen stören, Professor«, sagte Riguzzo und bemerkte einen Moment zu spät, daß der Duft nach gebratenem Schweinefleisch aus Merlins Pfeife zu dringen schien. Diese Feststellung traf ihn völlig unerwartet und verschlug ihm sichtlich die Sprache. »Jeder reagiert auf diese Weise«, meinte Merlin lächelnd. Er nahm die Pfeife aus dem Mund und betrachtete sie. »Ich experimen tiere dauernd an diesem speziellen Verschnitt, erwische aber nie die richtige Mischung. Einmal hatte ich es fast geschafft, aber obwohl der Geschmack genau richtig war, roch der Tabak wie ein Suspenso
rium, und jeder beschwerte sich darüber. Kann ich den Herren Tee oder einen Kaffee anbieten? Vielleicht auch ein Glas Wein?« »Machen Sie sich bitte keine Umstände«, sagte Riguzzo. »Das ist kein Problem. Ich habe immer eine Kanne voll bereit.« Er schnippte mit den Fingern, und mitten auf dem Tisch standen plötzlich eine Kanne mit dampfendem Kaffee und zwei weiße Kaf feebecher aus Keramik. Auf den Bechern prangten in großen schwarzen Lettern die Namen AL und DOMINIC. Merlin rückte zwei Stühle für seine Besucher heran und setzte sich wieder. »Ein oder zwei Stück Zucker?« Vor ihm tauchte eine Tasse auf. Der Kanne wuchsen kleine Beine. Sie marschierte quer über den Tisch, neigte sich vor und goß das dampfende Gebräu in die Tasse. Die Männer sahen sich über den Tisch hinweg an. »Oh, ich trinke meinen Kaffee schwarz«, meinte Riguzzo heiser. »Ich auch«, sagte Cleary mit belegter Stimme. »Ich habe ihn gern süß«, erklärte Merlin, wackelte mit dem Zei gefinger, und aus der Zuckerdose stiegen zwei Zuckerwürfel auf und schwebten sanft in seine Kaffeetasse. Der Magier machte mit dem Finger eine kreisende Bewegung über der Tasse. Der Kaffee darin begann sich sacht zu drehen. »Alsdann – was will das New York Police Department von mir?« »Wir haben ein paar Fragen an Sie über einen jungen Mann, der vor ein paar Jahren ein Student von Ihnen gewesen sein könnte«, begann Riguzzo. Cleary saß kerzengerade auf seinem Stuhl, hatte die Hände flach auf die Tischplatte gelegt und starrte auf seinen Kaffee becher, als fürchte er, das Gefäß werde im nächsten Augenblick vorschnellen und ihn beißen. Riguzzo kramte umständlich sein No tizbuch hervor, obwohl er diese Gedankenstütze nicht benötigte. »Sein Name ist Melvin Karpinsky, auch bekannt als Wyrdrune.« Merlin sog an seiner Pfeife. Der Tabak duftete nun nach gebacke nen Bananen. »Ja, ich kenne ihn. Er hat mehrere Semester lang mei ne Vorlesungen besucht. Wie ich mich erinnere, wurde er von der Hochschule gewiesen. Eine unangenehme Geschichte.« »Was war das für ein Bursche?« fragte Riguzzo. »War er ein gu ter Student – ehe er ausgeschlossen wurde, meine ich?« Cleary wagte nicht, sich zu rühren. »Er war ein ungeduldiger junger Mann. Etwas unbesonnen, im pulsiv. Seine Anlagen waren vielversprechend, aber er hatte es im mer zu eilig. Er hätte wirklich viel erreichen können, wenn er ein
wenig gewissenhafter und methodischer in seinem Vorgehen gewe sen wäre. Aber Sie wissen ja, wie manche dieser jungen Leute sind. Er gehörte zu denen, die denken, sie wüßten schon alle Antworten. Offen gesagt, wundert es mich nicht zu hören, daß er in Schwierig keiten steckt.« »Woher wollen Sie wissen, daß er Probleme hat, Professor?« Merlins Augen wurden schmal. »Weil Sie hier sind und mich über ihn befragen, Lieutenant. Und weil er mich angerufen hat.« »Wann war das?« fragte Riguzzo, obwohl ihm die Angaben in zwischen aus der nachträglichen Überprüfung der Telefongespräche im Hotel bekannt waren. »Vor zwei Tagen. Er rief mich in meinem Büro in der Hochschule an und fragte, ob er zu mir kommen und mit mir reden könne.« »Worüber wollte er mit Ihnen sprechen? Hat er das erwähnt?« »Über irgendwelche Edelsteine, die sich in seinem Besitz befän den«, antwortete Merlin zu Riguzzos Überraschung. »Verzauberte Runensteine oder so etwas. Ich sollte ihm helfen herauszufinden, wozu sie zu verwenden sind.« »Und haben Sie ihm helfen können?« fragte Riguzzo beiläufig. »Ich lese Zeitung und sehe auch gelegentlich fern«, antwortete Merlin. »Mir war sofort klar, daß da ein Zusammenhang mit dem Raub in New York bestehen mußte, als er mich so kurz nach dieser Tat wegen der Verwendung der verzauberten Runensteine konsul tierte. Es hätte natürlich auch purer Zufall sein können, aber mir schien es nicht sehr wahrscheinlich, daß ein Mann wie Karpinsky über das nötige Geld zum Kauf solcher Steine verfügte. Zudem bin ich nicht im Berater-Geschäft tätig. Ich betrachtete den Anruf unter den gegebenen Umständen als ausgesprochen dreist und unver schämt. Ich behandele jemand, der von mir unentgeltlich etwas er wartet, nicht gerade freundlich, besonders wenn es ein ehemaliger Student ist, der wegen irgendwelcher Probleme mit dem Gesetz vom Studium ausgeschlossen wurde. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, aber ich möchte mit der Polizei nichts zu tun haben. Außer dem – und das sagte ich ihm auch in aller Deutlichkeit – muß ich auf meine Position und meinen guten Ruf Rücksicht nehmen.« »Verstehe«, brummte Riguzzo. »Ihr Kaffee wird kalt, Sergeant«, wandte Merlin sich an Cleary. Der Sergeant nickte, ergriff den Becher und setzte ihn einen Moment später wieder ab, ohne getrunken zu haben. »Sagen Sie, Professor, wie würden Sie Karpinskys Fähigkeiten
als Adept einstufen?« fuhr Riguzzo fort. »Nun, er war sicher hochtalentiert, aber irgendwie sprunghaft und unberechenbar. Keine Disziplin, keine Geduld – wie ich schon sagte. Er hatte ein Stipendium, wissen Sie.« Merlin schüttelte den Kopf und paffte eine nach Veilchen duftende Qualmwolke aus seiner Pfeife. »Warf kein gutes Licht auf mich und die Hochschule, als er ausge schlossen wurde. Leider ist dies einer der Fälle, die jeder Lehrer und Dozent abgrundtief haßt. Vergeudetes Potential.« »Wieviel Potential, würden Sie sagen?« »Sehr viel. Karpinsky war einer meiner besten Studenten. Man fördert solche jungen Leute nach Kräften, setzt große Hoffnungen in sie. Um so schlimmer trifft es einen dann, wenn sie diese Hoffnun gen enttäuschen.« »Ich weiß, daß meine Frage rein spekulativ ist«, meinte Riguzzo, »aber würden Sie sagen, daß er seine Zertifikations-Examen ge schafft hätte – wenn er dazu zugelassen worden wäre, meine ich?« »Die ersten Ebenen? Ganz sicher. Er hätte sie mit Leichtigkeit ab solviert. Wie ich schon sagte – eine traurige Verschwendung.« »Nehmen wir an, er hätte das Zertifikat bekommen. Auf welche Ebene würden Sie ihn nun anhand ihres Wissens um seine Befähi gung einstufen?« Merlin hob die Brauen. »Sie meinen oberhalb der ersten Ebene? Das kann ich wirklich nicht sagen. Es wäre reine Spekulation. Vor handenes Potential läßt sich mit zertifizierter Befähigung kaum ver gleichen. Er hätte sicher auch die Prüfungen für die Fortgeschritte nen-Ebene geschafft, wenn ich ihn intensiv darauf vorbereitet hätte. Aber das ist schwer zu sagen. Es ist schon ein paar Jahre her, seit er die Hochschule verlassen mußte. Er könnte auch sein Studium allein fortgesetzt haben, obwohl das sehr schwierig ist, denn besonders bei der Anwendung anspruchsvollerer Zauberformeln würde man ohne erfahrene Anleitung große Risiken in Kauf nehmen müssen.« »Würden Sie sagen, er könnte die Geschicklichkeit eines Hexen meisters erreichen?« fragte Riguzzo. »Aus eigener Kraft?« Merlin schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht.« Dann zuckte er die Achseln. »Aber möglich ist alles.« »Würden Sie sagen, er sei fähig, Gewalt anzuwenden?« »Jeder Mensch ist fähig zur Anwendung von Gewalt.« »Aber manche mehr als andere.« »Das ist richtig«, meinte Merlin. »Aber meiner Meinung nach ge hört er nicht dazu. Unlauter, ja, aber gewalttätig? Es wäre möglich,
würde mich aber überraschen.« »Die örtliche Polizei hätte ihm gern ein paar Fragen zu einem Mord gestellt, der kürzlich hier in Boston geschah«, sagte Riguzzo langsam und wartete gespannt auf eine Reaktion des Magiers. »Wir haben Grund zu der Annahme, daß er im Zusammenhang mit dem Raubüberfall in der Galerie von Christie’s und ein paar anderen Mordfällen in New York steht. Bei einem davon war Brandstiftung im Spiel. So viel ich weiß, war der Grund für Karpinskys Ausschluß vom Studium doch ein Feuer bei einem Konzert, nicht wahr?« »Ja.« Merlin schürzte die Lippen. »Wenn ich mich recht erinnere, hat er sich selbst ein wenig überschätzt, und der Feuerzauber geriet außer Kontrolle. Zum Glück wurde niemand ernsthaft verletzt. Sie sagen, er würde zusätzlich zu dem Raub auch noch wegen Mordes gesucht?« »Im Moment steht er lediglich unter Verdacht, aber wir würden sehr gern mit ihm sprechen. Nach unseren Informationen ist er mit einer jungen Frau namens Kira zusammen. Schlank, hübsch, dunkel haarig, ungefähr sechs oder sieben Fuß groß, etwa 18 Jahre alt. Klin gelt es da bei Ihnen?« »An eine solche Person unter meinen Studentinnen kann ich mich nicht erinnern«, meinte Merlin. »Aber ich kann sie schließlich nicht alle im Kopf behalten, nicht wahr? Nur einige wenige fallen wegen dieser oder jener Besonderheit auf, die anderen gehen allesamt in der Menge unter. Tut mir leid, daß ich Ihnen da nicht weiterhelfen kann.« »Ich respektiere Ihren Wunsch, Professor, daß Sie mit der Polizei nichts zu tun haben wollen«, erklärte Riguzzo. »Trotzdem würde ich es im Fall, daß Karpinsky sich nochmals bei Ihnen meldet, sehr be grüßen, wenn Sie uns das wissen lassen würden. Sie können jederzeit das Boston Police Department anrufen. Fragen Sie nach Captain McGarry.« »Nicht das örtliche Büro der ITK?« »Es scheint da noch einige Probleme wegen der Zuständigkeiten zu geben«, meinte Riguzzo. »Die ITK ist zwar informiert, aber im Moment sind wir noch mit den Ermittlungen beauftragt. Ich denke, wir sollen für sie erst die Kleinarbeit machen, ehe ihre Leute sich einschalten und den Fall an sich ziehen. Offengesagt ist das auch der Grund, weshalb Captain McGarry uns hinzugezogen hat. Normaler weise dürften wir in seinem Zuständigkeitsbereich nicht tätig wer den, aber es wäre unsinnig, eine Menge Arbeitsstunden in einen Fall
zu stecken, der einem früher oder später doch entzogen wird. Offen bar will man sich darüber aber keine allzu großen Kopfschmerzen machen und überläßt uns deshalb die Ermittlungen, bis die ITK den Fall übernimmt. Aber das soll nicht Ihr Problem sein, Professor.« Auch Cleary erhob sich sofort, als Riguzzo aufstand. »Ich möchte Ihnen danken, daß Sie uns Ihre Zeit geopfert haben, Professor.« »Tut mir leid, daß ich Ihnen kaum helfen konnte. Ich bringe Sie noch zur Tür.« »Machen Sie sich keine Mühe. Wir finden schon hinaus.« Draußen schüttelte Cleary sich. Er wirkte ziemlich mitgenommen. »Was war los mit dir da drinnen?« fragte Riguzzo. »Ich weiß nicht.« Cleary starrte voller Unbehagen zu den Kera mikzwergen auf dem Rasen vor dem Haus hinüber. »Ich fühlte mich irgendwie… merkwürdig. Irgendwie benommen.« »Bist du okay?« »Yeah, es… es geht schon. Es war, als ob ich irgendwohin da vonschwebte.« Sie gingen zum Wagen, wo Agentin Morgan auf sie wartete. »Glaubst du, er hat irgendwas mit mir angestellt?« fragte Cleary. »Was denn wohl?« »Ich weiß nicht. Vielleicht hat er mich hypnotisiert oder so was.« »Jetzt wirst du langsam paranoid. Bist du sicher, daß mit dir alles in Ordnung ist?« »Ja, jetzt wieder. Aber da drinnen hatte ich ein höchst merkwür diges Gefühl…« Sie stiegen in den Wagen. »Wir haben nicht sehr viel Neues erfahren«, begann Riguzzo. »Ich weiß«, meinte Morgan. »Sie wissen das?« »Ich habe mitgehört«, sagte sie beiläufig. »Ich wollte jedes Wort hören, was er sagte – und wie er es sagte.« Sie sah zu Cleary hin über. »Sie waren das!« fuhr der Sergeant wütend auf. »Wie, zum Hen ker, kommen Sie dazu, so ein Ding mit mir abzuziehen? Dazu haben Sie kein Recht…« »Nun kommen Sie mal wieder auf den Teppich, Sergeant«, unter brach sie ihn. »Ich habe durchaus im Rahmen meiner Befugnisse gehandelt, als ich…« »Augenblick mal«, mischte Riguzzo sich jetzt ein. »Habe ich richtig gehört? Sie haben den Körper meines Partners benutzt, um
die Befragung mithören zu können?« »Wie ich schon sagte, bleibe ich als leitende Agentin in diesem Fall durchaus im Rahmen meiner Befugnisse. Ich kann alle Maß nahmen treffen, die nötig sind, um…« »Dom…« Clearys Hand krallte sich plötzlich in Riguzzos Schul ter. Dabei sah er mit weit aufgerissenen Augen aus dem Fenster. Einer der Keramikzwerge marschierte auf den Wagen zu. Er trat auf der Beifahrerseite ans Fenster und klopfte dagegen. Verblüfft drehte Riguzzo die Scheibe herunter. »Übrigens, Morgana«, sagte der Gnom mit Merlins Stimme, »du solltest das nächste Mal nicht so scheu sein. Oder hast du gedacht, ich sei so kleinlich und engstirnig, jemandem fast zweitausend Jahre lang böse zu sein?«
KAPITEL
S
ELF
ie materialisierten in dem engen Apartment an der East 4th Street, wo Kira sich sofort in den großen Sessel fallen und die kniebe strumpften Beine über die Lehne baumeln ließ. »Dieses Hin- und Herspringen macht einen wirklich alt«, sagte sie erschöpft. »Ich bin so geschafft, daß ich nicht mal mehr richtig denken kann.« Sie sah zu Wyrdrune auf. »Was amüsiert dich denn so?« »Dein neues Ich«, erwiderte er grinsend und spielte damit auf ihr Kleid an. »Du siehst aus wie ein Mädchen von zwölf Jahren.« »Dann hättest du jetzt jede Menge Probleme am Hals«, konterte sie. »Das wird unsere erste Aufgabe sein, Zauberkünstler – ich brau che vernünftige Kleider. Zwar sind die hier immer noch besser, als nackt herumzulaufen, aber mehr auch nicht.« »Trotzdem – irgendwie passen sie zu dir. Vermutlich ist Merlin nicht mehr auf dem neuesten Stand der Mode.« Wyrdrunes Grinsen war plötzlich wie weggewischt. »Ich hatte ziemliche Angst um dich.« »Mir war selbst angst und bange.« Sie lächelte gezwungen. »Danke, daß du mich gerettet hast. Du hast dabei viel Mumm bewie sen.« »Hat er dich… hat er dir weh getan?« Er dachte wieder an ihre
Nacktheit – und wie verletzlich sie dabei ausgesehen hatte. »Darüber möchte ich nun wirklich nicht sprechen.« »Es war meine Schuld.« Wyrdrune hatte das Gefühl, er müsse sie irgendwie trösten, sie in die Arme nehmen. Aber sie verhielt sich wie gewöhnlich, nur das Schulmädchen-Kostüm paßte nicht ganz dazu. Straßenerfahren und herausfordernd. Ihre Körperhaltung und die angespannte Stimmung hielten ihn auf Distanz. Du bist überhaupt nicht so hart und kalt, wie du immer tust, dachte er und sagte: »Ich hätte dich nicht allein lassen dürfen.« »Erzähl keinen Unsinn. Wenn du hier gewesen wärst, würdest du jetzt vielleicht schon tot sein. Dabei stellt sich mir eine wichtige Frage: Wie sicher sind wir hier eigentlich?« »Vermutlich so sicher wie sonstwo. Keiner weiß, daß ich hier bin – außer Merlin natürlich. Ich lebe ziemlich zurückgezogen. Ein paar Schauspieler, die an die Westküste gezogen sind, haben mir die Wohnung vermietet. Sie benutzen sie nur als Schlafplatz, wenn sie alle paar Monate mal in die Stadt kommen, und melden sich vorher immer an. Dafür gewähren sie mir einen Mietabschlag, und so kom men wir prima klar. Soviel ich weiß, ist nirgendwo registriert, daß ich hier lebe. Und die wenige Post, die ich bekomme, hole ich mir selbst aus meinem Schließfach. Der Telefonanschluß läuft nicht auf meinen Namen, weil mir das zuviel Lauferei war. Jetzt bin ich froh darüber. Ich habe mit Merlin darüber gesprochen, und auch er meint, daß dies hier im Moment der beste Ort für uns ist.« »Dann wird es wohl so sein. Trotzdem ärgert es mich, daß wir nicht in meine Wohnung gehen können.« »Da seid ihr ja wieder!« knarrte der Besen und schwankte ins Zimmer. »Wo habt ihr euch herumgetrieben? Erzählt mir jetzt bloß nicht, ihr seid nur ausgewesen. Was ist – zu viele Probleme, um mir Bescheid zu sagen, was hier vor sich geht? Glaubt ihr denn, das hier ist ein Hotel, wo ihr nach Lust und Laune kommen und gehen könnt? Wieso denkt keiner mal daran, sich vorher mit mir zu besprechen? Aber warum denn auch – ich bin ja nur Teil des Mobiliars. Eine kurze Notiz oder ein Anruf wären ja auch zuviel Aufwand. Soll ich das Essen warmhalten? Soll ich aufwarten? Soll ich die Krankenhäu ser anrufen, um zu fragen, ob ihr vielleicht von einem Auto überfah ren worden seid? Kommt denn niemand auf den Gedanken, ich könnte hier vor Sorge verrückt werden? Ist ein bißchen Mitdenken zuviel verlangt?« Wyrdrune und Kira starrten sich an und brachen dann in lautes
Gelächter aus. Im nächsten Augenblick hielten sie sich in den Ar men, küßten sich und hielten sich eng umschlungen, während die Anspannung von der Flut ihrer Gefühle hinweggeschwemmt wurde. »Zum Schmusen habt ihr nach dem Essen noch Zeit genug«, ze terte der Besen. »Wann habt ihr das letzte Mal etwas gegessen? Ihr müßt doch halb verhungert sein. Ich werde ein paar Scheiben Fleischkäse aufwärmen.« »Was soll das heißen, er könne niemand zweitausend Jahre lang böse sein?« fragte Cleary. »Sollte das ein Witz sein?« »Ich glaube nicht, daß er zu Scherzen aufgelegt ist«, meinte Ri guzzo mit einem seltsamen Seitenblick auf Morgan. »Spezialagentin Faye Morgan, ITK«, murmelte er. »Sie haben nicht viel an dem Namen geändert.« »Über die Jahre habe ich den Namen ziemlich häufig gewech selt«, antwortete sie und schaute starr geradeaus. »Wovon redet ihr überhaupt?« fragte Cleary irritiert. »Sie und Merlin kennen sich schon lange. Sehr, sehr lange«, sagte Riguzzo. »Setz dich gerade hin, Al, du befindest dich in Gesellschaft einer königlichen Hoheit. Sie ist Prinzessin Morgan Le Fay, König Arthurs Schwester.« »Halbschwester«, korrigierte sie ihn. »Und keine Prinzessin. Das war ich nie.« »Aber Sie hätten beinahe ein Königreich gewonnen«, bemerkte Riguzzo. »Ja, aber das war vor langer, langer Zeit.« Immer noch sah sie starr nach vorn. Riguzzo schüttelte bedächtig den Kopf. »Kein Wunder, daß Sie nicht mit hineinkommen und Merlin gegenübertreten wollten. Sie sind diejenige, die ihn all die Jahre in Schlaf versetzt hat. Aber er spürte Ihre Anwesenheit. Und das war es, was du empfunden hast, Al. Du fühltest ihre Furcht. Aber Merlin scheint geneigt, Vergange nes vergangen sein zu lassen. Ich frage mich, weshalb. Ich weiß nicht, ob ich Ihnen so einfach vergeben könnte, wenn ich an seiner Stelle wäre.« »Ich sagte Ihnen doch, daß Merlin eigene Prioritäten setzt«, erwi derte sie. »Vielleicht hat er mir tatsächlich verziehen. Vielleicht will er auch nur sehen, wie ich mich unter meiner Schuld winde. Ich habe ihn nie ganz durchschauen können. Und ich habe mich immer vor ihm gefürchtet. Trotzdem, er steckt bis zum Hals in dieser Sache hier, und ich wüßte zu gern die Gründe.« Sie warf Riguzzo einen
Blick zu. »Für einen Cop sind Ihre Geschichtskenntnisse ungewöhn lich.« »Ich lese viel«, erklärte er. »Chronische Schlaflosigkeit.« »Tatsächlich?« Sie sah wieder auf die Straße hinaus. »Ich kann das für Sie in Ordnung bringen.« »Vielen Dank, aber bemühen Sie sich nicht. Meine Schlaflosig keit ist eins der wenigen Dinge, auf die ich mich in diesen Tagen noch verlassen kann. Sie hat mich so weit gebracht, daß mich kaum etwas überraschen kann. Zumindest habe ich jetzt eine Erklärung dafür, wie eine Frau, die so jung aussieht, in der ITK so hoch auf steigen kann. Aber wie sich jetzt zeigt, ist sie gar nicht mehr so jung. Wie ist das, wenn man schon so lange lebt? Wenn man buchstäblich den Lauf der Geschichte über Generationen hinweg verfolgen kann?« »Nicht so interessant, wie Sie es sich vielleicht vorstellen«, ant wortete sie und seufzte. »Tatsächlich kann es sehr langweilig wer den.« »Wie viele andere außer Merlin gibt es noch von Ihrer Art?« frag te Riguzzo. »Von meiner Art?« Riguzzo zögerte und fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lip pen. »Unsterbliche.« Sie kicherte. »Ich bin nicht unsterblich, Lieutenant. Ich kann ebenso leicht getötet werden wie Sie. Und älter werde ich ebenfalls, wenn auch sehr viel langsamer als Sie. Außerdem kann ich meinen Alterungsprozeß durch Zauberei noch weiter verlangsamen, ihn aber nicht völlig unterbinden. Irgendwann werde ich sterben. Ich weiß nur nicht den Zeitpunkt.« »Schon bei Merlin habe ich mich darüber gewundert.« Riguzzo schluckte. »Dann stimmt es also. Vor uns hat es wirklich eine andere Rasse gegeben, und ein paar davon sind noch übrig. Merlin ist einer von ihnen – und Sie.« Sie schüttelte den Kopf. »Nicht wirklich. Merlin und ich sind Mischlinge. Ich vermute, daß wir ohne unsere Zauberei schon vor langer Zeit gestorben wären. Meine Mutter war menschlichen Ur sprungs, wie auch Arthurs Vater Uther. Arthur selbst hatte diese Erbanlage nicht. Er hatte keine Ahnung, was ich war. Ich wußte es selbst nicht, bis ich Merlin begegnete. Er war mein Lehrer, müssen Sie wissen.« Sie sah Riguzzo an. »Und was die Anzahl der anderen aus meiner Zeit betrifft, so ist Ihre Vermutung ebenso richtig wie
meine. Ich habe über die Jahre hinweg ein paar von ihnen getroffen, zum Beispiel einen alten Mann namens Cagliostro, einen Seher na mens Nostradamus, einen Industriellen, der Long hieß, sowie ein paar andere hier und da. Und keiner von ihnen war reinrassig – war einer der Uralten, wie wir sie nennen. Viele starben im Großen Ma gierkrieg, und die übrigen wurden in alle Winde zerstreut. Sie ver mischten sich mit den Menschen, wurden alt und starben aus. Bei einigen anderen fand man heraus, wer und was sie waren, und man ermordete sie. Das Blut der Überlebenden mit ihren starken Erbanla gen verdünnte sich im Lauf der Jahrzehnte immer mehr. Heute taucht hie und da mal jemand mit ungewöhnlich hoch entwickelten paranormalen Fähigkeiten auf, aber diese Leute wissen in Wahrheit nie, woher sie sie haben. Dies sind nun mal Dinge, die man nicht in den Geschichtsbüchern findet.« »Weiß die ITK, wer Sie wirklich sind?« »Nur die vertrauenswürdigsten Kollegen wissen es.« Sie lächelte. »Die übrigen machen sich über meinen Namen lustig. Wenn sie wüßten…« »Warum gerade die ITK«, meldete sich Cleary. »Jemand wie Sie könnte doch ein Leben nach eigenen Vorstellungen führen. Sie könn ten reich sein.« »Ich bin reich.« Sie lächelte süffisant. »Sie würden staunen, was selbst die vorsichtigsten Investitionen über die Jahrtausende hinweg an Gewinn abwerfen. Aber ich rede nicht darüber. Ein Team der besten Wirtschaftsprüfer der Welt würde mehrere Generationen kommen und gehen sehen, um meine verschiedenen Anlagen zu entflechten und ihre Herkunft bis zu mir zurückzuverfolgen. Aber ich bevorzuge ein bescheidenes Leben, eine Angewohnheit, die ich mir in den Jahrhunderten der Paranoia zugelegt habe. Sollte ich er kennen, daß ich euch nicht vertrauen kann, ist es ein Leichtes für mich, euch all diese Dinge vergessen zu lassen, euch sogar vergessen zu lassen, daß ihr mir je begegnet seid. Vielleicht werde ich das auch tun, wenn das alles hier vorbei ist.« Sie zuckte die Achseln. »Viel leicht aber auch nicht. Im Grunde ist es nicht mehr wichtig. Wir Zauberer sind aus unserem Versteck hervorgekommen, wie ihr ja nun wißt.« »Sie haben uns immer noch nicht erklärt, warum Sie ausgerechnet als ITK-Ermittlerin arbeiten«, meinte Riguzzo. »Ich will nicht be haupten, daß dies nicht ein Job von hohem Prestigewert ist, aber Sie könnten doch leicht eine bessere Stellung finden.«
»Das stimmt, aber daran bin ich nicht interessiert. Dieser Job ist für meine Zwecke genau richtig.« »Und bietet Ihnen einfachen Zugriff auf eine Fülle von Informa tionen aus aller Welt«, fügte Riguzzo hinzu und beobachtete auf merksam ihre Reaktion. »Es ist dieser Morpheus, stimmt’s? Sie tun das alles nur, weil Sie hinter ihm her sind. Er ist wie Sie, nicht wahr? Ein Abkömmling der Uralten, einer, der auf die böse Seite überge wechselt ist.« »Schätze, Sie sind verdammt gut in Ihrem Job, Lieutenant.« »Mir entgeht nicht viel«, meinte er gleichmütig. »Die Macht der Gewohnheit vermutlich. Wenn man wie ich lange als Cop arbeitet, lernt man, sich in die Köpfe der Menschen hineinzudenken und beo bachtet sie genau, ohne erst lange darüber nachzugrübeln. Ihre Au gen bekommen einen ganz intensiven Ausdruck, wenn Sie von dem Kerl reden. Auch Ihre Körpersprache verrät einiges. Dies ist für Sie eine ganz persönliche Sache, nicht wahr?« Sie schwieg einen langen Moment und schaute nachdenklich auf die Straße hinaus. »Ich wollte nicht neugierig sein«, entschuldigte sich Riguzzo. Sie sah ihn an. »Sie waren es, aber das ist in Ordnung. Ich verste he es auch. Sie müssen den Leuten, mit denen Sie zusammenarbei ten, vertrauen können. Und ich möchte, daß Sie mir vertrauen, denn ich brauche Ihre Hilfe.« Sie wandte den Blick wieder zur Straße. Ihr ganzer Körper war angespannt. »Morpheus ist mein Sohn.« Er stand am Fenster seines Hotelzimmers im 27. Stock und sah auf die Stadt hinab. Sein einziger Koffer lag geöffnet auf dem Bett. Er hatte mit dem Auspacken begonnen, es aber nicht beendet. Meh rere Hemden lagen gefaltet auf dem Bett neben einem Lederbeutel mit den Toilettenartikeln, außerdem Unterwäsche, Socken, ein Paar teure schwarze Slipper und eine schwarze Tunika, die an der Seite geknöpft wurde. Er hatte sich eine neue 10-mm-Automatik mit Schalldämpfer besorgt und sie durch einen Zauber gegen MetallDetektoren geschützt. Sie steckte in seinem schwarzen Schulterhol ster und war nur zu sehen, weil er sein maßgeschneidertes Jackett, das sonst die leichte Wölbung des Holsters perfekt überdeckte, aus gezogen hatte. Er würde sich ein paar neue Kleider kaufen müssen. Er besaß jeweils eine vollständige Garderobe in seinen Wohnungen in einem Dutzend verschiedener Städte, und einige Häuser in mehre ren Ländern, die er zum Teil schon seit Jahren nicht mehr aufgesucht hatte. Er konnte neu anfangen, obwohl es nicht leicht werden würde,
Apollonius zu ersetzen, und außerdem wertvolle Besitztümer zerstört worden waren, die niemals mehr erneuert werden konnten. Aber es gab da einige unerledigte Geschäfte, um die er sich kümmern mußte. Der Junge mußte ein besserer Adept sein, als er geglaubt hatte. Ir gendwie war es dem Burschen gelungen, ihm die Runensteine wie der zu entwenden. Egal, er würde sie sich zurückholen. Schließlich hatte er es hier nur mit Amateuren zu tun. Mit begabten Amateuren vielleicht, aber halt mit Amateuren. Er dagegen hatte Jahre Zeit ge habt, seine Kunst zu vervollkommnen. Jahre und Jahre und Jahre. Er hatte den Zimmerservice angerufen und eine Flasche teuren unverschnittenen Scotch bestellt. Jetzt hielt er das Glas in der Hand, nahm in kurzen Abständen einen Schluck und schaute dabei auf die Lichter der Stadt hinunter. In der Linken hielt er eine Zigarette, de ren Rauchfäden an seinem Gesicht vorbei zur Decke stiegen. Zum ersten Mal seit Generationen hatte er das Gefühl, daß ihm die Dinge aus den Händen glitten und sich seiner Kontrolle entzogen. Er war ein Adept, wenn auch kein ausgebildeter. Keinesfalls so geschickt und erfahren wie ein Zauberer oder gar Magier. Hätte er je die Zertifikationsprüfungen abgelegt, wäre er sicherlich als Hexen meister der mittleren Ebene zugelassen worden. Seine Erziehung war rein informell gewesen, denn seine Mutter hatte ihm in seiner Kind heit alles Wissenswerte beigebracht, und sein Leistungsstand ent sprach ihren Anforderungen an ihn. Aber obwohl er immer genau das getan hatte, was sie von ihm wollte, hatte er die Zauberei nie gemocht. Bei zahlreichen Gelegenheiten fand er sie zwar ganz nütz lich, zog es aber vor, sie nicht einzusetzen. Es war Teil ihrer Welt, Teil der Lebensform, die sie für ihn vorgesehen hatte – eine Lebens form, die er selbst in Teilbereichen nie akzeptiert hatte. Die verstreichenden Jahre hatten den Haß auf seinen Vater beschwichtigt und schließlich ausgelöscht. Seit Jahren war dieses Gefühl nun tot, wie Arthur selbst. Wenn er jetzt an Arthur dachte – er hatte nie den Vater in ihm sehen können –, dachte er an ihn mit einer Art schmerzlicher Wehmut. Es war eine so schreckliche Ver geudung gewesen. Vielleicht hätte es ja so etwas wie Freundschaft zwischen Vater und Sohn geben können, selbst zwischen einem König und seinem allgemein akzeptierten Bastard, trotz der sündigen Umstände seiner Geburt. Aber Arthur war nie imstande gewesen, in der Existenz seines Sohnes etwas anders zu sehen als eine unerfreu liche Realität. Und Morgan war von ihrem Haß und Rachedurst vergiftet. Vielleicht war auch ihre Machtgier schuld daran, oder alles
zusammen. Doch das alles war jetzt ohne Bedeutung, zählte schon seit Generationen nicht mehr. Was aber zählte, war die Tatsache, daß sie nicht von ihm ablassen wollte, ihn nicht gehen lassen konnte. Eine Zeitlang hatte er geglaubt, endlich ihrem erdrückenden Ein fluß entronnen zu sein. Alle waren der Ansicht gewesen, er sei in der letzten Schlacht gefallen, nach dem Untergang Camelots und des vielgerühmten Zeitalters, das das Reich repräsentiert hatte – eine Zeit, die in seinen Augen geprägt war von dünkelhaftem Stolz, zu hoch gesteckten Zielen und einer ausgeprägten Selbstgerechtigkeit. Wie hatte es sie erschüttert, als Lancelot, der Hehrste von ihnen allen, den Arthur als sein höchstes Ideal auf einen Sockel gehoben hatte, sich zum Schluß auch nur als Mensch entpuppte. Aber selbst nachdem das alles vorbei war, hatte es kein Aufatmen, keine Erleich terung für ihn selbst gegeben. Er wußte, sein Name würde auf immer mit Arthurs Sturz verbun den sein – als ob es seine Schuld gewesen sei, daß Guinevere und Lance wie brünstige Tiere übereinander hergefallen waren. Es war ja auch in Ordnung gewesen, solange niemand es publik machte; sie konnten miteinander unter Arthurs eigenem Dach schlafen und so tun, als sei es ihr sündiges Geheimnis, obwohl Arthur ebenso von dieser Affäre wußte wie Merlin, Morgan und die halbe Palastwache und Dienerschaft. Dies war nur eine der Auslegungen von Camelots sprichwörtlicher Reinheit und Sauberkeit. Kehr den Schmutz unter den Teppich und schau in eine andere Richtung! Aber kaum war die Affäre offiziell, sah die Sache plötzlich anders aus. Jetzt mußte Ar thur nach außen hin zu seinen Prinzipien stehen und dafür sorgen, daß seine Königin zum Tod in den Flammen verurteilt wurde. Er mußte den Schein wahren und ihr die königliche Begnadigung ver weigern, wobei er darauf setzte, daß der Freund – derselbe Freund, der ihm Hörner aufgesetzt hatte – die Frau rettete, die beide liebten. Als dieser das dann auch wirklich tat, war Arthur wiederum ge zwungen, beide zu verstoßen. Eine solche Scheinheiligkeit war ekel erregend. Arthur hätte den Fehltritt seines Weibes und seines besten Freundes stillschweigend übersehen und sie beide weiterhin lieben können, mochte aber den Fehltritt, den er selbst begangen hatte, nicht zugeben und konnte sich auch nicht dazu überwinden, seinen Sohn zu lieben, denn dann hätte er seine eigene schwache Mensch lichkeit, seine eigene Unfähigkeit eingestanden, nach den hochflie genden Grundsätzen zu leben, die er dem gesamten Königreich auf erlegt hatte. Das war es, was den jungen Modred so aufgebracht
hatte. Sein Zorn über die Ungerechtigkeit des ganzen Systems und die Verzweiflung darüber, daß man seinen adligen Geburtsstand leugnete, dienten nur dazu, sein jugendliches Temperament derart aufzustacheln, daß er laufend in Extreme verfiel und so ein leichtes Opfer wurde für die Manipulationen einer Mutter, deren Handlungen wiederum von starken Gefühlsschwankungen geprägt waren. Später verschwand er einfach. Eine Zeitlang zog er als Wander barde durch die Lande, wurde zum Dieb – ein Prinz, der zum gemei nen Dieb verkommen war – und schließlich zum Söldner: ein Beruf, der ihm außerordentlich zusagte. Er verlangte nichts außer den ele mentarsten menschlichen Verhaltensweisen. Von Schlacht zu Schlacht schmiedete er sein neues Ich, verlor sein altes Wesen im Kampf Mann gegen Mann und erschuf wie ein Phönix, der sich aus der Asche des untergegangenen Camelot erhob, einen neuen und völlig anderen Mann, einen Soldaten, schlicht in seiner Ausdrucks weise und seinen Taten, einen Mann, der sich seinen Weg ins Leben eher durch körperliche Kraft als durch thaumaturgisches Geschick bahnte. Die jugendlichen Gefühle, die ihn fast aufgefressen und ihn höchst verwundbar gemacht hatten, waren verdrängt, unterdrückt und schließlich in kalten, schonungslosen Pragmatismus verwandelt worden. Der neue Mann kannte keine Ideale außer der Präzision seiner Kunst, keine Moral außer der, die die Logik der momentanen Situation erforderte. In seiner Jugend hatte er genügend Moral und Ideale kennengelernt und wußte, wie einfach sie durch pure Berech nung ausgehebelt werden konnten. Er hatte sich geschworen, sich nie der Scheinheiligkeit irgendwelcher selbstgerechter Tugenden zu unterwerfen, und sich damit begnügt, das zu sein, was er geworden war. Er gab nie vor, etwas anderes zu sein. Er reiste in der Welt umher und verfolgte ihre Veränderungen durch die Jahrhunderte hindurch. Er lebte viele Leben in den unter schiedlichsten Personen, aber im Kern blieb er immer unverändert – ein fahrender schwarzer Ritter, der andere und sich selbst nie durch vorgetäuschte Ritterlichkeit und Tugend zu täuschen versuchte. Die einzige Reinheit, die es gab, war die der Handwerkskunst und der Kunst an sich. Das hatte er klar erkannt. Besonders die Reinheit der Kunst hatte es ihm angetan. Der wirkliche Künstler war zumin dest in der Ausübung seiner Kunst zum Betrug nicht fähig. Sein einziges und ständiges Bestreben war das Ringen um die elementare Wahrheit. Der Künstler konnte weder das Objekt seines Strebens verheimlichen noch das Resultat ändern. Es war in jeder Skulptur, in
jedem Gemälde gegenwärtig – Michelangelos Suche nach der Gött lichkeit im Menschen, Raphaels Ringen um die geistige Schönheit, Boschs Visionen von der dunklen Seite der Psyche. Gauguins rastlo se Sehnsucht nach einer primitiven Einfachheit. Van Gogh konnte seine Hysterie ebensowenig verbergen wie seine Besessenheit, die Hysterie der Natur einzufangen. Seine Bilder schrien förmlich einen göttlichen Wahnsinn heraus, enthüllten die rasende Bewegtheit der Natur ebenso ungeschminkt, wie sie die manische Ruhelosigkeit seiner Seele offenbarten. Der Künstler erschloß sich selbst pausenlos in seiner Arbeit, und es war diese Ehrlichkeit, die es Modred angetan hatte, die Offenheit, die brutale Rücksichtslosigkeit, mit der die Wahrheit ans Tageslicht gebracht wurde. Er fand sie in den Bildern der großen Meister, aber selten bei den Menschen in seiner Umgebung. Und die Ironie, die in den Schicksalen vieler dieser Künstler lag, entging ihm nicht. Für die Wahrheit war wenig Raum auf der Welt. Im Lauf der Jahre hatte er viel gelernt und verstand genug von Psychologie, um sich selbst zu verstehen – manchmal sogar zu gut. Ein wohlüberlegtes Leben gestattet es einem, sich selbst in Maßen zu beurteilen, und er wußte genau, daß er sich im Kern seiner Persön lichkeit kaum verändert hatte. Niemand tut das jemals wirklich. Er hatte seine Weltsicht und seine äußere Erscheinung angepaßt, seine Prioritäten und zu einem großen Teil sogar seine Persönlichkeit, aber tief im Innern war er immer noch derselbe junge Modred, der aufge brachte, zornige Junge, der die schmutzige Wahrheit ans Tageslicht gebracht und den Schleier von ihr weggezogen hatte, so daß alle sie sehen konnten. Aber, wie jetzt wieder, verschaffte ihm dies nur ge ringe Befriedigung. Eine aufgedeckte Wahrheit rückt nicht zwangs läufig die Dinge wieder zurecht. Es ist eben nur eine aufgedeckte Wahrheit. Manchmal, wie in den Gemälden von Van Gogh zum Beispiel, kann sie sehr schön sein. Meist aber ist sie häßlich. Doch ganz gleich, was von beidem sie nun war, er hatte gelernt, sie mit Gleichmut zu ertragen und sich mit nichts weniger zufrieden zugeben. Morgan hatte das nie gelernt. In seinen Gedanken war sie jetzt nur Morgan, manchmal – unper sönlicher – Le Fay, kaum aber jemals ›Mutter‹. Er liebte sie nicht, und er hatte Jahre gebraucht, um zu erkennen, daß er sie niemals geliebt hatte – ebensowenig wie sie ihn. Statt Liebe verband sie bei de nur eine starke Abhängigkeit, ein Verlangen nach des anderen
Nähe, das schon an Besessenheit grenzte. Ihre Gefühle füreinander hatten immer im Kontext ihrer Beziehung zu Arthur bestanden, und diese Beziehung war vergiftet. In ihr gab es keine Ehrlichkeit oder Akzeptanz. Für ihn war dies alles nun Vergangenheit. Was er jetzt für sie empfand, war in gewisser Weise schlimmer als Groll, ja schlimmer noch als Haß. Er hatte Mitleid mit ihr. Aber in seinem Leben war für Mitleid kein Platz. Er wollte mit ihr nichts mehr zu tun haben, wollte in Frieden gelassen werden. Doch sie verfolgte ihn unerbittlich – durch all die Jahrhunderte hindurch. Im Lauf der Zeit hatten sich ihre Wege mehrmals gekreuzt, und er war immer vor ihr geflohen – nicht so sehr vor ihr selbst als vor seinen Gefühlen zu ihr. Er haßte es, irgend etwas nur halb zu Ende zu bringen, aber dies war etwas in seinem Leben, das wohl unvoll endet bleiben würde. Der einzige Weg, diese Verbindung zu ihr ein für allemal abzubrechen, war, sie mit der Wahrheit zu konfrontieren, wie er auch Arthur mit der Wahrheit konfrontiert hatte. Aber im Gegensatz zu ihm würde sie sie niemals akzeptieren. Der Sieg, den sie durch ihren Sohn über Arthur errungen hatte, war nur ein Schein erfolg gewesen. Ihr sogenannter ›Triumph‹ über Merlin war durch dessen Rückkehr zur Farce geworden. Beide Männer hatten sich geweigert, die simplen Rollen zu spielen, die sie ihnen zugedacht hatte. Beide waren zu komplex für eine solch oberflächliche Charak terisierung gewesen. So blieb ihr die Erfüllung versagt, weil sie außerhalb ihres Selbst danach suchte, und als einziges, womit sie ihre Existenz noch begründen konnte, blieb ein Sohn, den sie nie mals lieben gelernt hatte, ein Sohn, zu dem nur ihr Ehrgeiz sowie das Gefühl, zurückgewiesen zu werden, und ihr Wunsch nach Rache eine Verbindung schuf. Und genau wie Arthur und Merlin lehnte auch Modred die Rolle, die sie ihm zugedacht hatte, ab. Er verschloß die Augen vor der Stadt draußen und dachte: Mor gan, Morgan, warum kannst du es nicht lassen? Führ doch endlich dein eigenes Leben. Warum bestehst du darauf, dein Leben durch mich zu leben? Wie lange soll das noch so weitergehen, wieviele Jahre? Muß erst einer von uns beiden sterben, damit der andere frei sein kann? Sie war irgendwo ganz in der Nähe, das spürte er. Aber er spürte auch noch etwas anderes, etwas viel Stärkeres als ihre Gegenwart. Es war dieses beunruhigende Gefühl, das nun seine Gedanken be herrschte. Er wußte nicht, was es war. Es hatte mit dem Warlock und
dem Mädchen zu tun, und indirekt auch mit Al’Hassan. Er hatte sich immer von Al’Hassan ferngehalten, wie er auch Merlin seit seiner Wiedererweckung sorgfältig gemieden hatte. Beide Männer waren zu mächtig, beide besaßen genügend thaumaturgisches Talent, um sofort zu durchschauen, wer und was er war, wenn er ihnen zu nahe kam. Modred hatte sie gemieden wie all die anderen echten Makler der Macht, Leute, die einen Mann wie ihn für konventionelle Zwek ke sicher gut gebrauchen konnten, selbst aber leicht sehr unange nehm werden konnten. Er hatte daher sein Geschäft sehr konservativ betrieben und sich seine Klienten sorgfältig ausgesucht, ihre Zah lungsfähigkeit überprüft und sie fast immer auf Distanz gehalten. Er hatte es sich zum Grundsatz gemacht, seine Dienste den unbedeuten deren Kriegsherren anzubieten, niemals den Prinzen oder Königen, denn größere Macht bedeutete auch immer eine breitere Öffentlich keit und damit eine größere Sichtbarkeit. Für einen Mann in seinem Gewerbe aber lag der größte Vorteil in seiner Unsichtbarkeit. Nun aber hatte er sich vorgenommen, Al’Hassan die Zerstörung seiner Penthouse-Wohnung mit dem hyperdimensionalen MatrixComputer und seinen heißgeliebten Gemälden heimzuzahlen. Das war völlig untypisch für ihn. Nie zuvor hatte er sich in seinem Beruf von persönlichen Gefühlen leiten lassen. Eine innere Stimme riet ihm, seine Verluste abzuhaken und ganz neu anzufangen. Er hatte sich mit einem Schwergewicht angelegt, mit jemand außerhalb sei ner Klasse, und es war sicher am klügsten, die Sache unter der Ru brik ›Erfahrung‹ zu begraben und zukünftig jeden Kontakt sorgfältig zu meiden. Aber es gab Beleidigungen, die einfach zu unverschämt und unerträglich waren. Und da war noch etwas. Es war sehr einfach gewesen, die Spur des Warlock und des Mäd chens aufzunehmen und zu verfolgen. Vielleicht zu einfach. Er hatte den Warlock – und mit ihm die Runensteine – zwar in Boston wieder verloren, aber ein starkes Gefühl drängte ihn, nach New York zu rückzukehren. Irgendwie wußte er, daß auch der Warlock dort wie der auftauchen würde. Aber woher wußte er das so genau? Zuerst redete er sich ein, daß es nur ein Gefühl sei, eine Ahnung, das Er gebnis der Erfahrung aus seiner Generationen währenden Pirsch unter den Menschen. Und doch war es mehr als das. Ihm hatte der Auftrag von Anfang an nicht gefallen. Er hatte Fats schon bei mehreren anderen Jobs zuvor als Strohmann benutzt. Männer wie er waren nützlich, und er hatte daher nichts dagegen,
einen Auftrag des Hehlers zu übernehmen. Doch als er die Einzelhei ten herausfand, hatte er gezögert. Dies war nicht einer seiner übli chen Jobs. Er war ein Raubtier, das andere Raubtiere erlegte. Nicht aus Gründen der Moral sagte ihm dieser Job nicht zu. Er mußte sich nicht selbst einreden, er töte nur Menschen, die den Tod verdienten, obwohl das gewöhnlich der Fall war. Er tötete die, die sich selbst in die Arena des Todes begeben hatten. Sie hatten sich in das Spiel eingekauft, das nach Regeln außerhalb der Gesellschaftsnorm ablief, und mußten als Konsequenz auch die damit verbundenen Risiken in Kauf nehmen. Aber hier war das anders. Ein kleiner Hehler – wenn auch mit extrem guten Kontakten – hatte ihn beauftragt, zwei noch kleinere Ganoven, Diebe, Amateure, fast noch Kinder, aufzuspüren. Das war geschmacklos, war unter seiner Würde. Und doch hatte er, ohne zu begreifen, warum, den Auftrag übernommen. Für ihn hätte es ein Kinderspiel sein müssen, eine Arbeit von we nigen Tagen. Doch überraschend schnell hatten sich Komplikationen ergeben. Die Polizei war eingeschaltet worden. Schön, das war zu erwarten gewesen, aber Porfirio Rozetti tauchte als unerwartete Trumpfkarte in dem Spiel auf. Und dann hatte man ihn ermordet. Auch Fats hatte es erwischt. Al’Hassan hatte seinen langen Arm ausgestreckt und ihn selbst beinahe vernichtet. Und jetzt kam auch noch Merlin ins Spiel. Wieso? Warum ein solches Interesse an zwei Kindern, die bis über ihre Köpfe in der Scheiße steckten. Was hatte es mit diesen Runensteinen auf sich, daß sie so wichtig waren? Und wieso spürte er diese seltsame Verbindung zu dem Warlock und dem Mädchen? Sie war sogar stärker als die uralte Beziehung, die Mor gan und ihn verband. Die beiden waren wie Magnete, deren Kräfte sich gegenseitig anzogen, und beide wußten schon um die Nähe des anderen, lange bevor sie zusammentrafen. Es war wie ein sechster Sinn, wie der Instinkt eines Tieres, das den Kopf in den Wind dreht und die Annäherung eines Eindringlings erschnuppert. Der Junge ist ein Amateur, rief er sich selbst zur Ordnung. Ein blutiger Schmalspur-Amateur. Aber wie war er der Polizei ent wischt? Und wie war es ihm gelungen, sich die Runensteine zurück zuholen? Und dann, der Teufel sollte ihn holen, war er zu Merlin gegangen. Wie paßte der ins Bild? Sicher würde Merlin sich nicht in diese Sache hineinhängen, nur weil der Warlock einmal sein Student gewesen war. Es mußte sehr viel mehr dahinterstecken. Welch mächtigen Zauber verkörperten die Runensteine? Und warum behielt Merlin sie nicht, wenn ein alter, schrecklich wichtiger und mächtiger
Zauber dahintersteckte? Wieso hatte Al’Hassan zugelassen, daß ihm die Steine unter der Nase weggeschnappt wurden? Irgend etwas braute sich da zusammen. Aber was? Er nahm einen Schluck aus dem Glas, zog an seiner Zigarette und starrte aus dem Fenster auf die nächtliche Stadt. Dabei fiel sein Blick auf das Tricorp Building, die Zentrale der U.S.-Vertretung der ITK. Die hohe und sehr breite Pyramide überragte die viel älteren Gebäu de ringsum. Seine einzigartige Architektur war wie eine Botschaft aus der Zukunft, das erste Anzeichen dafür, daß eine alte Stadt den Übergang in ein neues und lichteres Zeitalter einläutete. Er starrte auf den Dreieckbau, dessen Lichter den dunklen Nachthimmel er hellten, und konnte aus irgendeinem Grund nicht den Blick davon abwenden. Der Bau war wie ein riesiges Symbol, das bedeutungs schwer vor ihm lag und darauf wartete, daß er die Botschaft verstand. Aber wie lautete diese Botschaft?
KAPITEL
E
ZWÖLF
r stand im hellen Sonnenschein vor einem Altar hoch oben auf einer Steinpyramide inmitten des fieberheißen Dschungels. Er trug ein weißes Zeremoniengewand mit Goldborten und eine schwere, reichverzierte Kopfbedeckung, die aussah wie ein Kriegshelm mit Wangenstücken und großen Federn in leuchtenden Farben. Weit unter ihm hatte sich eine große Zahl von Anbetern versammelt. Ihre Haut schimmerte wie Kupfer. Sie reckten die Arme in die Luft und schrien laut. Er drehte sich zu ihnen um und hob mit beiden Händen ein Steinmesser, dessen Spitze nach unten wies, über den Kopf. Die Menge verstummte augenblicklich. Er wandte sich wieder dem Altar zu, auf dem der nackte Körper einer Jungfrau lag, die gerade die Pubertät beendet hatte. Sie sah mit geweiteten Augen zu ihm auf. Ihr Körper bebte, ihre Lippen waren leicht geöffnet. Eine Träne rollte ihre Wange herab und tropfte auf den blutverschmierten Opferstein. Er hob die Augen zum Himmel empor, starrte in das gleißende Son nenlicht und intonierte Sätze in einer alten Sprache, die er nur in seinen Träumen sprechen konnte. Dann stieß er dem jungen Mäd chen mit einem heftigen Hieb das Messer in die Brust. Sie schrie gellend auf, als die Steinklinge in ihr Fleisch drang und eine dunkel rote Blutfontäne aufspritzte. Ihr Blut besudelte sein weißes Gewand
und befleckte sein Gesicht. Er grub seine Hände tief in die Wunde, krallte die Finger um das noch schlagende junge Herz und riß es mit einem heftigen Ruck aus der Brust. Dann drehte er sich zu der ju belnden Menge um und hielt das Herz hoch über den Kopf. Das warme Blut lief ihm über die Arme und rann in die Ärmel seine Ge wandes… Die Sandalen an seinen Füßen verursachten auf dem kalten Steinboden des Gewölbes nicht das leiseste Geräusch. In den schwe ren, aus Bronze gefertigten Kohlebecken brannten Feuer, deren Flammen tanzende Schatten an die Wände warfen. Sein langes Pha raonengewand schleifte über den Boden, als er über die Begren zungslinien in das Pentagramm trat. Auf seinem Kopf trug er eine große, zylindrische Goldkrone, und vom Kinn fiel ein golddurchwirk ter Bart. Die Augen hatte er nachgezogen und schwere dunkle Lid schatten in Blau und Grün aufgetragen. Seine Wangen zeigten ein wenig Rouge, und die Lippen waren rot angemalt. Das übrige Ge sicht schimmerte in gleißendem Gold. Er hob den Kopf, und sein Blick fiel auf das nackte Weihopfer, das vor ihm außerhalb der Lini en des Pentagramms an die Wand gekettet war. Der zitternde Junge, nicht fähig, dem Blick eines lebenden Gottes zu begegnen, hatte die Augen gesenkt. Sein Körper trug kabalistische Symbole, die in Schwarz und Gold auf seiner Alabasterhaut aufgemalt waren. Der Kopf war rasiert, Finger und Zehennägel hatte man ihm rot ange malt, auf Lippen und Wangen Rouge aufgetragen und ihm die Augen sorgsam in Schwarz und Gold schattiert. In dem Gelaß war es bis auf das furchtsame Atmen des Jungen und ein gelegentliches Klirren der Ketten totenstill. Innerhalb der Grenzen des Pentagramms holte der lebende Gott tief Luft und schloß die Augen. Er hob die Hände mit nach außen gerichteten Flächen an seine Brust. Mit zurückgeleg tem Kopf und geschlossenen Augen rezitierte er die Beschwörungs formel. Ein kalter Windhauch fuhr durch das Gewölbe. Die Feuer in den Becken begannen zu flackern, die Flammen wurden klein. Das Gewölbe lag nun in fast völliger Finsternis. Und in dieser Dunkel heit, außerhalb der Grenzen des Pentagramms, erwuchs eine noch tiefere Finsternis. Sie schien über den Boden zufließen und zu schweben, kroch auf den Jungen zu und verwandelte sich in einen großen schwarzen Schatten, der sich wie ein Welle über dem Opfer auftürmte. Er verharrte drohend und schlug dann über dem nackten Jungen zusammen. Dessen gellende Entsetzensschreie brachen sich an den kalten Steinwänden und hallten laut von ihnen wider…
Sie bewegten sich in einer Reihe vorwärts, und ihre Fackeln leuchteten hell in die dunkle Nacht. Mit monotonen Sprechgesängen betraten sie den Kreis der Stehenden Steine. Vier von ihnen brachten eine Trage, gepolstert mit frischgeschnittenen, grünen, duftenden Zweigen, auf denen die Opfergabe ruhte, ein junges Mädchen mit feuerroten Haaren und Augen so grün wie das Gras auf den sanft geschwungenen Hügeln. Er stand in der Mitte des Kreises, der Ho hepriester, als seine in weiße Kapuzengewänder gehüllten Akolythen die Trage vor ihm absetzten. Die junge Frau saß nun aufrecht, die Augen schimmerten, doch das Gesicht war ohne jeden Ausdruck. Die Diener formten innerhalb des größeren Kreises der Stehenden Steine einen weiteren Kreis um die Trage. Der Hohepriester führte die Frau zum Altar, einem großen flachen Stein, der quer auf zwei nied rigeren Steinen ruhte. Er hob sie hoch und legte sie sanft auf den Altarstein nieder. Die Fackeln erhellten die Nacht und warfen Schat ten auf die Stehenden Steine. Seine Finger schlossen sich um den Griff des Messers, und er sah auf sie hinab. Ihre Augen wurden plötzlich klar, und sie schien ihn zum ersten Mal wahrzunehmen. Ein entsetztes Keuchen entrang sich ihrer Brust, und sie öffnete den Mund zu einem lauten Schrei, als die Klinge herabfuhr… Rashids Lider sprangen auf, als er mit einem Schlag erwachte. Er schluckte hart, schloß die Augen wieder und atmete tief durch. Sein Körper war naß vom Schweiß, die seidenen Laken feucht und zerwühlt von seinem unruhigen Schlaf. Mit der Zunge befeuch tete er die Lippen, setzte sich auf und rieb sich die Schläfen. Sein Puls raste, der Atem ging kurz, und hinter der Stirn rumorten heftige Kopfschmerzen. Jeden Morgen war es das gleiche. Ging er abends zu Bett, konnte er nicht einschlafen und hoffte vergeblich auf einen tiefen und traumlosen Schlaf. Dabei wußte er genau, daß sein Schlaf, wenn er endlich kam, von alptraumhaften Visionen erfüllt sein würde. Eben sogut wußte er, woher diese Visionen stammten. Aber er konnte nichts tun, um sie zu bannen. Er schleuderte die zerknüllten Laken zur Seite und stieg aus dem Bett. Er fühlte sich schrecklich erschöpft. Schwankend trat er ans Sideboard und goß sich einen Whisky ein. Er trank nun ständig, bei Tag und noch mehr bei Nacht, und setzte sich mehrere Schüsse, um seine strapazierten Nerven zu beruhigen. Als er jetzt an dem Schrank lehnte und mit bebenden Händen einen Schluck aus dem Glas nahm, fiel sein Blick in den Wandspiegel. Das Gesicht eines alten Mannes
sah ihm daraus entgegen. Das stark ergraute Haar war lang und strähnig wie das Haar einer alten Frau. Unter den Augen lagen tiefe dunkle Schatten, die Haut war blaß und faltig, und die Lippen zitter ten leicht. Der Rücken der Hand zeigte viele dunkle Altersflecken. Es war eher eine Klaue als eine Hand. Noch vor nicht allzu langer Zeit hatte er Diener gehabt, die ihn morgens umhegten, ihm das Frühstück brachten, ihm bei der Mor gentoilette halfen und ihn ankleideten. Jetzt war es damit vorbei. So etwas wie ein Frühstück gehörte der Vergangenheit an, und er hatte strikte Anweisung gegeben, ihn auf gar keinen Fall zu stören, bevor er nicht aus seinem Schlafzimmer kam. Er wollte nicht, daß jemand ihn in diesem jämmerlichen Zustand sah. Er stürzte den Drink hinun ter, ließ sofort einen zweiten folgen, und starrte den müden alten Mann in dem Spiegel an. Er wartete auf die Veränderung. Langsam glühte der Rubin in seiner Stirn auf. Die grauen Haarsträhnen färbten sich zu einem kräftigen Schwarz, die Haut wurde dunkler, und die Falten verschwanden. Die Tränensäcke unter den Augen glätteten sich, und die Leberflecke auf den Handrücken wurden unsichtbar. Er hob eine Hand, ballte sie zur Faust und öffnete sie wieder, fühlte, wie die Kraft in ihn zurückfloß. Jeden Morgen sah er älter aus, fühlte sich erschöpfter und verzag ter. Und jeden Morgen wurde er wieder instandgesetzt. Dabei spürte er, wie seine Kräfte jedesmal stärker wurden. Es war, als schöpfe er seine Kraft aus den Leben der Gestalten, in die er sich in seinen Träumen verwandelte. Sie schienen ihn zu verändern – als würde er Stück für Stück sterben und in Stufen zu einem neuen und anderen Wesen umgewandelt. Jetzt sah er sogar jünger aus als zuvor, und er dachte mit Schrecken daran, daß dies irgendwann aufhören könnte, daß er eines Morgen als alter Mann erwachen und ein alter Mann bleiben werde. In der Nacht sprachen sie zu ihm. Er spürte ihre Gegenwart wie eiskalte Tentakel, die sich um seinen Geist wanden. Sie waren rastlos und unruhig, weil ihr langes Warten nun bald ein Ende fand. Und aufgrund ihres geschwächten Zustandes war ihr Hunger groß. Rashid erschauerte bei der Vorstellung, was er zu tun hatte, um sie zu füt tern. Seit Wochen hatte er die Zauberformeln geübt. Sie machten ihm entsetzliche Angst. Er goß sich einen neuen Drink ein. Seine Hand war jetzt ruhig, und er trank langsam, genoß das Aroma des Drinks und seinen Ge schmack. Sein Plan, mit Hilfe des Mädchens den Warlock mitsamt
den Runensteinen zu sich zu locken, war durch Merlins Eingreifen fehlgeschlagen. Er durfte jetzt einfach nicht mehr länger warten. Ambrosius war zu einer unmittelbaren Gefahr geworden. Er wußte alles, sollte es auch wissen. Denn dieses Wissen hieß für ihn, daß er sterben mußte. Merlins Schicksal war schon lange besiegelt, doch hatte Rashid gehofft, daß nicht er das Werkzeug für den Tod seines alten Lehrers sein würde. Er hegte keinerlei Sympathie für den Obermagier, und auch Merlin empfand nichts für ihn. Seit Jahren hatten sie nun schon keinen Kontakt mehr gehabt, sah man von der Erscheinung, die er Merlin nach Kiras Rettung ins Haus geschickt hatte, einmal ab. Er hätte es besser wissen müssen, hätte nicht darauf hoffen dürfen, den alten Fuchs einmal in einem unachtsamen Augenblick zu erwischen. Der alte Obermagier war stark wie eh und je. Und ebenso gewitzt. Die Druckwelle, die er mit dem beschworenen Zauberwesen zurück schickte, war sehr schmerzhaft gewesen und hatte Rashid ernstlich geschwächt. Unter gewöhnlichen Umständen hätte sie ihn sicherlich getötet. Aber dies waren keine normalen Umstände. Für ihn würden die Dinge nie mehr normal sein. Er vernachlässigte seine Geschäfte. Sie waren nicht mehr wichtig. Heute würde der Regierende Rat zusammentreten, und es war fast sicher, daß man ihn von seinem Amt abwählen würde. Den offiziel len Maulkorb hatte man ihm schon umgehängt und ihm verboten, öffentlich aufzutreten. Es hatte zahllose Anrufe gegeben, die er schon nicht mehr entgegengenommen hatte – alle von verängstigten Leuten, deren Macht und Posten von seiner Gunst abhing, von gieri gen Speichelleckern, die ihr Schicksal mit seinem verknüpft hatten und nun in Panik gerieten, weil sie fürchteten, mit ihm unterzugehen. Seine eigenen Dienstboten trugen Mienen zur Schau, als stünde ein Begräbnis an. Es war ihnen nicht entgangen, daß er seine Geschäfte schleifen ließ, sich mehr und mehr absonderte und heftig zu trinken begann. In ihren Augen waren dies die typischen Anzeichen dafür, daß ihr Herr in den Ruin schlitterte, Anzeichen für den Zerfall seines Empires… Aber es überstieg wohl ihre Vorstellungskraft, welche Art von Empire den Platz den alten einnehmen würde. Sie würden ihm Macht geben, die Dunklen, mehr Macht, als er sich jemals erträumt hatte. Aber zu welchem Preis? Und ganz gleich, wie groß seine Macht war, sie würde immer ihrer Macht unterworfen sein – wie sie es ihm in den Träumen zeigten. Aber es war nicht das, was er wollte. Das hatte er niemals gewollt. Doch jetzt hatte er keine
Wahl mehr. Merlins Worte kamen ihm wieder in den Sinn, die Worte, die der Magier vor Jahren in seinem Büro zu ihm gesagt hatte, als er sein letztes Studienjahr an der Universität absolvierte. »Das hast du gut gemacht, Rashid«, hatte Merlin damals gesagt, »sogar sehr gut. Viel besser, als ich es erwartet hatte. Ich wollte dir das sagen, weil ich weiß, daß dir das Studium nicht leichtgefallen ist und ich mir lebhaft vorstellen kann, wie hart du dafür gearbeitet haben mußt.« »Das stimmt, Professor. Ich habe hart gearbeitet. Mein Land hat viel Geld in meine Erziehung investiert, und ich habe eine Verpflich tung meinen Leuten gegenüber. Sie haben ihr Vertrauen in mich gesetzt.« »Ja, ich freue mich wirklich, wie ernsthaft du dein Studium be trieben hast«, sagte Merlin und nickte. »Du wirst eine hervorragende Beurteilung im Jahresbericht der Universität bekommen, die kaum zu überbieten sein dürfte. Aber ein Adept zu sein bedeutet, viel mehr als nur die Hürden zu nehmen, die du geschafft hast. Dazu gehört zum Beispiel die philosophische Betrachtungsweise der Magie, das Entwickeln der richtigen Verhaltensweisen, die Freude an der geisti gen Natur der magischen Kunst. Und diese Dinge, fürchte ich, sind bei dir leider viel zu kurz gekommen.« Rashid war wie vom Donner gerührt gewesen, denn er hatte hart, grausam hart gearbeitet, hatte jeden wachen Moment seinen Studien gewidmet und sich selbst verflucht, weil er nicht so schnell begriff wie die anderen, und er hatte seinen ganzen Ehrgeiz in sein persönli ches Weiterkommen gesetzt. Keiner, so hatte er geglaubt, konnte ihn kritischer betrachten als er sich selbst, und so peitschte er sich gna denlos voran. Es war ein wirklicher Schock für ihn, daß Merlin ihn auf irgendeinem Gebiet seines Könnens nicht für perfekt hielt. »Aber ich… ich verstehe nicht, was Sie meinen, Professor«, hatte er zutiefst verletzt geantwortet. »Ich bin der Beste meines Semesters. Sie selbst haben doch gesagt, daß meine Leistungen kaum noch überboten werden könnten. Wo habe ich versagt? Was habe ich übersehen? Sagen Sie es mir, und ich werde das sofort ändern.« »Ich weiß nicht, ob du es ändern kannst, Rashid«, erklärte Merlin traurig. »Manche Dinge sitzen einfach zu tief, als daß man sie ändern könnte. Ich spreche von deinem Ehrgeiz.« Rashid hatte die Stirn gerunzelt. »Wieso kritisieren Sie meinen Ehrgeiz?« protestierte er. »Mein Ehrgeiz war es, der mich die Zähne
zusammenbeißen ließ, der meine Fortschritte bewirkte. Was ist falsch daran, sich selbst übertreffen und der Beste sein zu wollen?« »Daran ist nichts falsch, Rashid. Der Fehler liegt in den Gründen, die dich dazu treiben, der Beste sein zu wollen. Mit deinen eigenen Worten hast du dich entlarvt. ›Deine Leute‹ würden auf dich setzen, hast du gesagt. Deine Leute?« Merlin hob die Hand, um Rashids Entgegnung zuvorzukommen. »Ich weiß, daß mit dieser Redewen dung normalerweise die eigenen Landsleute gemeint sind. Aber du hast dieses Wort nicht in diesem landläufigen Sinne benutzt, nicht wahr? Du betrachtest sie wirklich als deine Leute, als deinen Besitz aufgrund deiner hohen Geburt. Nein, warte, laß mich zu Ende reden. Ich habe dich, seit du hierhergekommen bist, sehr sorgfältig beo bachtet. Ich will ehrlich zu dir sein: Ich habe nicht geglaubt, daß du das erste Jahr überstehen würdest. Du bist nicht gerade ein beliebter junger Mann«, fuhr Merlin fort, »und du weißt das. Daran ist dein Verhalten gegenüber den anderen Studenten schuld. Du hast nicht einen einzigen Freund hier, stimmt’s? Warum? Weil du dich immer für etwas Besseres gehalten und dich geweigert hast, dich in diese Gemeinschaft hier einzufügen. Du hast dich immer so verhalten, als erwartetest du, daß deine Kommilitonen deinem gesellschaftlichen Rang Respekt und Ehrer bietung zollen.« »Immerhin bin ich ein Prinz«, verteidigte Rashid sich. »Also muß ich mich auch dementsprechend benehmen.« »Ach Unsinn!« rief Merlin. »Denkst du etwa, ich wüßte über den Zustand der Königsfamilie in deinem Land nicht Bescheid? Die meisten deiner Verwandten sind verarmt, und nur einige wenige versuchen, den Schein zu wahren, und führen ein Leben wie Adlige. Aber um welchen Preis? Sie leben ständig auf Pump, ständig am Rande des finanziellen Ruins. Ich sage dies nicht, um dich herabzu setzen oder zu beleidigen, sondern um dich daran zu erinnern, wo genau deine Verantwortung gegenüber deinen Leuten, wie du sie nennst, liegt. Dein Land ist bankrott. Man hat dich hierher geschickt, damit du die Kunst der Thaumaturgie studierst, in der Hoffnung, daß du deiner Nation, die so dringend des Wissens bedarf, das wir hier lehren, den Segen der Thaumaturgie bringst. Du bist ein Symbol für deine Leute, du repräsentierst ihre Hoffnung auf Fortschritt und Bildung. Aber meiner Meinung nach siehst du dich selbst nicht so. Zwar siehst du dich als ein Symbol, daran zweifle ich nicht, aber als Symbol für die Rückkehr der Macht in die Hände einiger weniger
Privilegierter. Du hast nicht den Ehrgeiz, deinem Land, sondern nur dir selbst und anderen Gleichgesinnten Fortschritt und Wohlstand zu bescheren. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob dir die anderen Mit glieder deiner sogenannten Oberklasse so sehr am Herzen liegen. Ich glaube, du denkst in erster Linie nur an dich. Du bist nicht hierher gekommen und hast die Künste der Thaumaturgie studiert, um Wis sen zu erlangen. Du bist hierher gekommen, weil du nach Macht strebst. Eine solche Einstellung ist bei einem Adepten, der zweifellos irgendwann einmal zum Magier avancieren wird, schlichtweg ver werflich. Und mehr als nur ein wenig erschreckend.« »Ich verstehe«, sagte Rashid steif. »Sie kritisieren nicht meine Arbeit, sondern meine Motive. Aber ich möchte Sie darauf hinwei sen, Professor, daß Sie kaum das Recht haben, mich in einer solchen Weise zu beurteilen. Sie vielleicht sogar am wenigsten. Oder wollen Sie allen Ernstes behaupten, daß in den alten Tagen, in Ihren ›frühe ren Leben‹, wie Sie immer sagen, Ihre eigenen Motive immer egali tär waren? War es denn die uneigennützige Liebe zu Ihrem Freund, die Sie nach der Rückkehr aus Ihrem langen Schlaf veranlaßte, all die zu vernichten – ja, zu vernichten! –, die Ihnen im Weg standen? Ach ja, natürlich, man preist Sie ja jetzt als den großen Lehrer, als den Gründervater des neuen thaumaturgischen Zeitalters, und umgibt Sie mit einem Heiligenschein. Aber was war es wirklich, das Sie auf diesen Thron gehoben hat, auf dem Sie jetzt sitzen, wenn nicht die Macht? In der Geschichte hat es immer Leute gegeben, die Führer waren, und andere, die ihnen folgten. Und der einzige Unterschied zwischen ihnen konnte immer nur einzig und allein an der Macht gemessen werden – an der Macht! An ihrer Macht, an sich selbst zu glauben, an ihrer Macht, die Stellung eines Anführers zu erreichen, an ihrer Macht, die anderen zu zwingen, ihnen zu folgen. Was wäre denn aus Arthur geworden ohne Ihre Macht im Hintergrund? Wo wäre dieses Land denn heute, wo wären die meisten Regierungen der internationalen Gemeinschaft heute, hätten Sie nicht das ganze Ge wicht Ihrer Führungspersönlichkeit beim Lösen der zwischenstaatli chen Konflikte in die Waagschale geworfen? Und wohin, glauben Sie, wird mein Land steuern, wenn nicht jemand – ja, vielleicht sogar jemand wie ich – die Macht an sich reißt und meinem Volk die Rich tung weist? Liegt mein Fehler darin, daß ich mich nicht so duckmäu serisch verhalte wie die anderen Zauberlehrlinge, nur weil ich eine höhere Berufung in meinem Studium sehe und ihr folge?« Merlin lauschte ihm mit gerunzelter Stirn, bis Rashid genug
Dampf abgelassen hatte, und zog dabei schweigend an seiner Pfeife. »Bist du jetzt fertig?« Rashid holte tief Luft, um seine Nerven zu beruhigen. Er wußte, daß er viel zu viel gesagt hatte, und wunderte sich, daß er es gewagt hatte, in dieser Art und Weise mit Merlin zu reden. Aber es war einfach aus ihm herausgeplatzt – sein Frust, der angestaute Groll. Jetzt empfand er ein wenig Furcht. »Ja, ich bin am Ende – wahrscheinlich in mehr als nur einer Hin sicht«, antwortete er steif. Merlin hatte den Kopf geschüttelt. »Nein, ich werde deine Worte nicht gegen dich verwenden, wenn du das meinst. Würde ich es tun, wäre ich in allen Punkten, die du gegen mich anführst, schuldig. Der Fehler liegt bei mir. Ich habe dich nicht sorgfältig genug unterrichtet. Ich habe bei dir versagt. Du hast sehr hart gearbeitet und viel gelernt, aber etwas hast du nicht begriffen. Du bist wie ein Musiker, der unentwegt geübt hat, bis er sein Instrument perfekt beherrscht, der aber nie das wahre Wesen der Musik erkannt und ein Gefühl für sie entwickelt hat. Sein Spiel kann technisch perfekt, vielleicht sogar wunderschön sein – aber es wird immer ohne Seele bleiben. Es tut mir leid, Rashid, du wirst mit Auszeichnung abschließen, aber ohne meine Hochachtung. Ich kann nicht stolz darauf sein, daß du mein Student gewesen bist. Ich bin sicher, du wirst die Macht, von der du träumst, irgendwann erlangen. Ich kann nur hoffen, daß du nicht unter den Alpträumen leiden mußt, die mit ihr verbunden sind. Ich weiß nur zu gut, was das bedeutet. Du mußt das erst noch lernen. Guten Tag.« In einer Mischung aus Wut und Scham hatte er das Büro des Pro fessors verlassen, hatte sich wie ein kleiner Junge gefühlt, der von einem älteren Menschen zu Unrecht gescholten worden war, von einem Menschen, den er respektiert und bewundert hatte, der ihn aber verleugnete. Das war unfair. Sein Gesicht brannte vor Scham und Zorn, und er war den Tränen nah gewesen. In diesem Moment hatte er beschlossen, Merlin das Gegenteil zu beweisen, und noch mehr – er würde ein ebenso großer Magier werden wie er und ihn dies spüren lassen. Er würde Ambrosius beweisen, daß seine Sicht der Dinge die richtige für sein Land war. Ja, er würde das Wissen, das man ihm hier vermittelt hatte, mit nach Hause nehmen und es dort verbreiten, aber er würde noch viel mehr tun. Er würde dafür sorgen, daß sein armes Land sich aus dem Elend erhob und den ihm gebührenden Platz als Weltmacht wieder einnahm. Er würde ein
großes Reich errichten, seinen Leuten Arbeit geben, ihren Lebens standard erhöhen, sie reich machen, die in Fehde miteinander liegen den Völker befrieden und sie in einer Staatenkonföderation vereinen, die nicht nur dem Namen nach eine Nation war. Aber das war nicht so einfach. Er hatte seine Ziele erreicht, war ein mächtiger Mann geworden, in der ganzen Welt bekannt, der Kopf eines riesigen Finanzimperi ums. Aber jeder neue Erfolg hatte in ihm nur Leere hinterlassen, er fühlte sich betrogen, wollte immer mehr. Seine harte Arbeit bescher te ihm wohlverdiente Freuden, aber Befriedigung und Zufriedenheit zählten nicht dazu. Sie schienen ihm immer wieder zu entgleiten. Die Hunde, die er sich herangezogen hatte, begannen an seinen Fersen zu knurren, bissen nun, da sie in der Lage waren, sich selbst zu ernäh ren, die Hand, die sie früher gefüttert hatte. Immer noch respektierte, fürchtete man ihn – vielleicht nicht mehr so sehr wie früher, da man nun Wege gefunden hatte, ihn zu übergehen – betrachtete ihn aber insgeheim als eine Art Dinosaurier, oder, um die farbige Metapher eines amerikanischen Magazins zu verwenden: Er war wie ein al ternder Revolverheld, der vor Jahren den Stern genommen und eine wilde Stadt gezähmt hatte und den man nun, da die Stadt befriedet und aufgeblüht war, als lästiges Ärgernis, als unliebsames Relikt aus jener Zeit empfand. Obwohl der Marshai mit dem Colt immer noch schnell wie der Blitz war, war die Stadt nicht mehr erpicht darauf, seinen Ruf als Revolverheld weiter zu dulden. Da der Mann seine Aufgabe erfüllt hatte, argumentierten die Stadtväter nun mit seinen Methoden: Sie waren ihm dankbar für das, was er getan hatte, woll ten ihn aber um jeden Preis loswerden. Merlin hatte recht gehabt. Es widerstrebte ihm, dies zuzugeben, aber er mußte dem alten Mann beipflichten. Macht konnte zu einer Sucht werden. War man ihr einmal verfallen, bekam man nie genug, ganz gleich, wie oft man die Dosis steigerte. Mochte sie auch am Anfang noch ein Mittel gewesen sein, einen guten Zweck zu erfül len, so war sie inzwischen zum Selbstzweck geworden. Er besaß nun genügend Macht, konnte tun, was ihm beliebte. Trotzdem wollte er immer noch mehr. Er hatte alle Ziele erreicht, die er sich gesetzt hatte, und war inzwischen vielleicht sogar ein ebenso großer Magier wie Merlin. Aber es gab nur einen Weg, um das herauszufinden. Und diesen Weg wollte er nicht gehen. Wovor hast du Angst, Rashid? Er starrte sein jugendliches Abbild im Spiegel an, sah in das Ge
sicht eines Mannes, der Jahrzehnte jünger wirkte, als er wirklich war, in das Gesicht eines gutaussehenden, mächtigen Mannes, den seine Standesgenossen beneideten, den viele Frauen begehrten, der von denen, die er sich Untertan gemacht hatte, gefürchtet und respektiert wurde, der von seinen Leuten – seinen Leuten! – geliebt wurde und die ihm die Ehrerbietung zollten, die einem Monarchen zukam, ob wohl sein Titel nur nominell war. Hast du Angst vor Merlin? Was würden seine Leute von ihm denken, wenn sie wüßten, was aus ihm geworden war, was er auf sie loszulassen im Begriff stand? Du bist zum Herrschen geboren. In deinen Adern fließt das Blut der Pharaonen. Ein lebender Gott? Er war nicht so dumm, das zu glauben. Ein Hoherpriester vielleicht – ja, das paßte eher, war es doch das höchste Amt, das er in dem kommenden Reich anstreben konnte. Merlin würde dir sogar das wegnehmen. Er schloß die Augen, öffnete sie wieder und goß sich den näch sten Drink ein. Er wußte, diese Stimmen sprachen zu ihm in seinem eigenen Verstand. Er fürchtete sie, hatte Achtung vor ihnen, zollte ihnen Respekt. Sie waren die Inkarnation der Macht. Alles, was er tat, hatte nur der Vorbereitung gedient, ihr Akolyth zu werden. Ihm kam eine Geschichte in den Sinn, die er einmal gehört hatte, Teil des Mythos, der Merlin umgab. Die Legende sagte, Merlin lebe rückwärts in der Zeit. Nach dieser Legende war die Vergangenheit Merlins Zukunft und die Zukunft Merlins Vergangenheit. Das ganze war natürlich Unsinn, ein Hirngespinst. Ich frage mich, ob du Bescheid weißt, dachte er. Weißt du schon, wie das alles hier enden wird? Nein, natürlich wuß te Merlin es nicht. Denn wenn die alte Legende wahr wäre, hätte Merlin niemals zurückkehren können, denn er wäre in seiner Ver gangenheit – in sehr naher Zukunft also – seinem Tod begegnet. Es muß heute geschehen. Hätte er die Runensteine zurückbekommen, ehe Merlin aufmerk sam wurde, wären die Dunklen Mächte schon längst befreit und würden sich um Merlin kümmern. Gegen ihre vereinte Macht hätte er keine Chance gehabt. Aber nun, da Merlin die Bedrohung erkannt hatte, war es zu gefährlich, ihn am Leben zu lassen. Bestimmt war er gerade dabei, Zauberformeln vorzubereiten, um der Macht der Dunk len entgegenzuwirken, der Macht, die auch ihn durchströmte. Einer von ihnen beiden mußte vernichtet werden.
Rashid wußte nicht, ob er die Kräfte besaß, gegen Merlin zu ge winnen, selbst mit der Hilfe der Dunklen. Aber er verfügte über einen Vorteil, den Merlin nicht besaß. Er mußte seine Macht nicht unmittelbar mit der von Merlin messen. Die Runensteine waren der Schlüssel zum Verlies der Dunklen. Da sie jetzt entfernt waren, konnten die Dunklen ihre Macht auch in der Außenwelt einsetzen. Die Runensteine und die lange Zeit ihrer Gefangenschaft hatten die Dunklen zwar geschwächt, aber selbst in diesem Zustand gab es keine größere Macht als sie. Wenn man sie stärkte, konnten sie sich befreien, konnten sie aus ihrem Verlies ausbrechen. Und in seinen Träumen hatten sie ihm gezeigt, was er dazu tun mußte. Sie benötigten lebendige Energie, um ihre Kräfte zurückzugewin nen, und er als einziger war in der Lage, sie ihnen zu geben. Aber sie waren hungrig, sehr hungrig. Er mußte ihnen sehr viel geben, ehe ihre Macht sie wieder in die Lage versetzte, verlorene Energie selbst zu ersetzen. Dies war der Grund für seine Träume. Gegen Merlin selbst würde er nicht losschlagen. Statt dessen würde er seine Zauberformeln gegen andere anwenden und damit Energie freisetzen, die die Dunklen verzehren konnten. Merlin würde versuchen müssen, ihn aufzuhalten. Das würde ihn stark in Anspruch nehmen, und dadurch wurde er verwundbar. Es muß heute geschehen. »Ich drehe bald durch, wenn ich noch länger hier eingesperrt bin«, beschwerte Kira sich. Sie trug wieder Hose und Stiefel. Das Schulmädchen-Outfit von Merlin war sofort in den Abfall gewandert, nachdem sie sich neue Kleider gekauft hatte. Sie hatten den Kühlschrank und die Vorrats schränke aufgefüllt und den Fernseher, den Wyrdrune hatte fallen lassen, durch einen größeren ersetzt. Im Augenblick saß er mürrisch vor dem Gerät und verfolgte auf den einzelnen Kanälen die Nach richten. Seine ausbleibende Reaktion irritierte Kira. Seit ihrem Ein kaufsbummel hatten sie die Wohnung nicht mehr verlassen, und sie bekam allmählich Platzangst. »Du starrst immer in die Glotze, und der verdammte Besen ver sucht ständig, rnich mit Essen vollzustopfen. Da soll einer noch normal bleiben«, nörgelte sie. Wyrdrune drehte sich zu ihr um. »Tut mir leid, Kira. Mich nervt diese Warterei ebenso wie dich, aber ich habe im Moment einfach keine bessere Idee.« Er griff in die Tasche und zog den Beutel heraus, den er nun stän
dig bei sich trug oder beim Schlafen unter das Kopfkissen legte. Er betrachtete ihn, als erwarte er, daß der Beutel zu ihm spräche, und schüttelte den Kopf. »Merlin sagte, die Runensteine würden uns schützen und leiten. Ich weiß nicht, wie sie uns etwas sagen könnten. Ich selbst habe nicht den blassesten Schimmer, was wir tun sollen. Trotzdem muß ich mich auf dem laufenden halten.« Er deutete mit dem Daumen auf den Fernseher. »Es wird sich bald was tun – das fühle ich. Daher muß ich wissen, was los ist, ehe ich mir unsere weiteren Schritte überlegen kann.« »Schön, dann schalte doch einfach die Abendnachrichten ein. Mußt du denn den ganzen Tag wie angewurzelt vor dem verdamm ten Kasten sitzen? Mir fällt hier bald die Decke auf den Kopf.« »Dann lies ein Buch oder tu sonst was. Hier stehen doch Hunderte herum.« »Na großartig!« Ihre Stimme wurde sarkastisch. »Die Polizei sucht uns fieberhaft, du hast uns einen Killer auf die Fersen gesetzt, Al’Hassan ist scharf auf unsere Leichen, und du sagst: Lies ein Buch! Sollten wir nicht endlich was tun?« »Und was?« »Woher soll ich denn das wissen?« Jetzt wurde sie zornig. »Du bist doch hier der Adept, nicht ich! Zur Hölle, da wollte ich mit dem Deal hier ’n bißchen Kohle machen, und wo finde ich mich wieder? Mitten in einer bizarren Verschwörung von ein paar verrückten Zau berern.« »Schön!« Nun verlor auch Wyrdrune die Geduld. »Wenn das so ist, dann nimm dir deinen Anteil von dem Geld, das noch übrig ist, und verschwinde einfach.« »Glaub ja nicht, ich würde es nicht tun, wenn ich es könnte. So habe ich mir die Sache jedenfalls nicht vorgestellt. Da wird man von einem Ort zum anderen teleportiert, bis einem ganz schwindlig ist, von einem Halbirren entführt, vergewaltigt und beinahe umge bracht…« Wyrdrune fuhr herum und starrte sie an. »Er hat dich vergewal tigt?« »Na und? Was kümmert es dich? Während du mit Merlin eifrig Pläne schmiedest, um die Welt zu retten, kriege ich die Prügel ab. Und nun soll ich hier ruhig sitzen bleiben und abwarten, bis du dich endlich dazu aufraffst, irgendwas zu tun? Was machen wir hier ei gentlich? Wieso gehen wir nicht zur Polizei und erzählen alles?
Warum nehmen wir nicht das restliche Geld und suchen uns einen Anwalt? Wieso, zum Teufel, tun wir nichts?« Mit ausgestreckten Armen trat er auf sie zu. »Tut mir leid, Kira, aber ich wußte doch nichts davon. Ich glaubte, daß… nun, ich be fürchtete, daß…« »Komm mir ja nicht zu nahe! Eine Umarmung und ein Klaps auf den Rücken reichen nicht mehr, um die Dinge wieder ins Lot zu bringen!« »Kira…« Er versuchte, sie in die Arme zu nehmen, doch sie stieß ihn so heftig von sich, daß er rückwärts taumelte und auf den Kaffee tisch fiel. Er rieb sich die schmerzenden Ellbogen und sah sie ver blüfft an. »Es tut mir leid«, sagte er beleidigt. »Ich wollte lediglich…« »Ach, laß mich doch in Ruhe!« knurrte sie, drehte sich um und verschwand in die Küche, wo der Besen herumturnte und mit sich selbst den Boden kehrte. Sie versetzte ihm einen heftigen Tritt, so daß er quer durch den Raum segelte, gegen die Wand krachte und klappernd zu Boden fiel. »Was…? Was…?« rief der Besen. »Was habe ich denn jetzt wie der gemacht? Wohl schlecht gelaunt, die Dame…« Kira musterte ihn so wutentbrannt, daß der Besen sich rasch in den Besenschrank zurückzog und die Tür hinter sich schloß. Einen Moment später streckte er vorsichtig den oberen Teil seines Stiels heraus, zog ihn aber hastig zurück, als eine Tasse heranflog und mit lautem Klirren an der Schranktür zerbarst. Kira zog eine Schublade auf, griff hinein und hielt ein zehn Zoll langes Fleischermesser in der Hand. Sie betrachtete die kühn ge schwungene Klinge, sah dann zum Wohnzimmer hinüber, wo Wyr drune sich wieder vor den Fernseher gehockt hatte und ihr dabei den Rücken zuwandte. Niedergeschlagen ließ er die Schultern hängen. Töte ihn! Sie starrte auf das Messer in ihrer Hand. Ihr Blick war verschlei ert und unbestimmt. Töte ihn – jetzt gleich! Langsam ging Kira in Richtung Wohnzimmer, den Blick auf Wyrdrunes Rücken gerichtet. Wie eine Schlafwandlerin näherte sie sich ihm und packte den Griff des Messers fester. Die Spitze der Klinge zeigte nach unten. Kira war nur noch wenige Fuß von Wyr drune entfernt. Sie hob das Messer hoch über ihren Kopf… »Vorsicht, paß auf! Hinter dir!« schrie der Besen aus der Küche.
Wyrdrune fuhr herum. Seine Augen weiteten sich vor Schreck, als er Kira mit erhobenem Messer hinter sich stehen sah… Im nächsten Moment ertönte ein scharfes, trockenes, hustenähnli ches Geräusch. Glas splitterte. Die Kugel prallte gegen die Messer klinge und schlug Kira die Waffe aus der Hand. Sie schrie laut auf… … und umklammerte ihre Hand, blinzelte mehrmals verständnis los und schüttelte den Kopf. Plötzlich klärte sich ihr Blick, und sie erfaßte, was sie zu tun im Begriff gewesen war. »O mein Gott!« murmelte sie. Der Mann auf der Feuertreppe langte durch die zerbrochene Scheibe, löste den Riegel, schob das Fenster hoch und stieg ins Zimmer. In der rechten Hand hielt er eine Automatik mit Schall dämpfer. »Ihr?« Wyrdrune starrte ihn ungläubig an. »Das ist nun das zweite Mal, daß ich dir das Leben gerettet habe, Warlock«, sagte Modred. »Tut mir leid wegen der Scheibe, aber ich wollte keinen Fehlschuß riskieren. Mir blieb nur Zeit für einen einzi gen Schuß.« Kira stand wie erstarrt und hielt sich die Hand. Sie schmerzte von dem Aufprall der Kugel, die ihr das Messer aus der Hand geschlagen hatte. »Ich hätte dich fast umgebracht«, sagte sie mit leiser Stimme, die kaum mehr als ein Flüstern war. »Großer Gott, das also hat er gemeint…« Wyrdrunes Blick wanderte von ihr zu Modred. Er war verwirrt und erschrocken. Modred deutete mit der Pistole auf Kira. »Nun mach schon«, sag te er. »Sieht so aus, als ob du ihm eine Erklärung schuldetest. Ich warte so lange.« Er lehnte sich gegen ein Bücherregal und behielt beide im Auge. Die Pistole hielt er locker in der Hand. »Kira.« Wyrdrune sah verständnislos zu ihr hoch. »Warum?« »Das war er.« Sie konnte ihm nicht in die Augen sehen. »O Gott, er war das – in meinem Kopf! Ich habe es nicht begriffen. Er sagte, er könne meine Seele haben…« »Rashid?« Sie nickte heftig. »Er sagte, meine gewaltbereite Natur würde mich an ihn binden. Ich habe es nicht verstanden. Ich dachte, er wollte nur… Ich dachte…« Sie brach in Tränen aus. »Es tut mir so leid! O Gott, Melvin, wie leid mir das tut!« Er stand auf und nahm sie in die Arme. Er spürte, wie sie um Fas sung rang, wie ihr Körper sich versteifte bei der Vorstellung, daß
Rashid ihr hitziges Temperament und ihre Gewaltbereitschaft für seine Zwecke benutzt hatte. Schließlich beruhigte sie sich, wischte die Tränen ab und sah ihn an. »Verzeih mir.« Wyrdrune lächelte. »Wer – Melvin?« Sie grinste verzerrt. »Wohl besser nicht, was? Ich denke, ich nen ne dich doch besser wieder Zauberkünstler.« Ihr Lächeln ver schwand, und in ihren Augen stand plötzlich Furcht. »Was soll ich denn jetzt machen? Ich kann dich nicht verlassen, aber wenn ich bleibe, wird er vielleicht wieder die Kontrolle über mich übernehmen und mich dazu zwingen, daß ich…« Ihre Stimme verlor sich. »Ich denke, wir haben im Moment ein wichtigeres Problem.« Wyrdrune drehte sich zu Modred um. »Für jemand, der angeheuert wurde, mich zu töten, habt Ihr eine seltsame Art, Euren Auftrag zu erfüllen. Wie habt Ihr uns gefunden?« »Ehrlich gesagt – ich weiß es nicht.« Modred griff in seine Ta sche. »Vielleicht haben die Dinger etwas damit zu tun.« In der Hand hielt er den Beutel mit den Runensteinen. Sofort griff Wyrdrune in seine Tasche, aber die Steine waren nicht mehr da. »Als ich draußen auf der Feuertreppe stand, bemerkte ich plötz lich ihr Gewicht in meiner Manteltasche. Ich weiß nicht, woher ich das weiß – aber ich bin überzeugt, daß die Steine mich hierherge führt haben. Ich finde das alles sehr verwirrend und hoffe, daß du mir das erklären kannst.« »Er ist es«, rief Kira plötzlich und starrte auf Modted. »Er ist der, den wir suchen!« Sie warf Wyrdrune einen Blick zu. »Erkennst du das denn nicht? Er ist der, auf den wir warten! Er ist das fehlende Drittel des Dreiecks!« Modred runzelte die Stirn. »Was ist mit dem Dreieck? Welche Bedeutung hat das Dreieck für euch?« Wyrdrune beobachtete ihn genau. Er war auf der Hut. »Hat es für Euch denn eine Bedeutung?« »Ich weiß nicht welche, aber es hat etwas zu bedeuten«, sagte Modred. »Jedesmal, wenn ich etwas sehe, das wie ein Dreieck ge formt ist, überkommt mich ein höchst merkwürdiges Gefühl, als ob es um etwas sehr Wichtiges ginge.« »Darum geht’s auch«, meinte Kira. »Ich habe dir schon einmal gesagt, Warlock«, fuhr Modred fort, »daß ich nicht ganz unerfahren bin, was die Thaumaturgie angeht. Ich weiß, wann ich unter dem Einfluß eines Zaubers stehe. Und ich
weiß auch, daß ein Zauberkünstler wie du nicht über das Wissen verfügt, um mich mit einem Zauber zu belegen.« Er hob beiläufig die Pistole und richtete sie auf Wyrdrune. »Ich werde dir jetzt die gleiche Frage stellen, die ich dir schon einmal gestellt habe. Und diesmal möchte ich eine Antwort haben. Welche Bewandtnis haben die Runensteine?« In dem kurzen Schweigen, das folgte, klang die Stimme des Nachrichtensprechers aus dem Fernsehgerät um so lauter: »…wie es scheint, hat die heftige Explosion in einem Haus in der exklusiven Bostoner Wöhngegend am Beacon Hill dem wohl berühmtesten Thaumaturgen Merlin Ambrosius das Leben gekostet. Für einen Bericht direkt vom Ort des Unglücks schalten wir jetzt um zu unse rem Reporter Bruce Miller.« Der Bildschirm zeigte ein großes vikto rianisches Haus, aus dem die Flammen schlugen. Rechts im Bild, auf der anderen Straßenseite, stand der Reporter mit dem Mikrophon in der Hand. Feuerwehrmänner versuchten, die Flammen zu löschen. Unter Sirenengeheul fuhren Streifenwagen vor, und Polizisten dräng ten die Schar der Gaffer vom Unglücksort zurück. »Ich stehe auf der anderen Straßenseite gegenüber der Residenz von Merlin Ambrosius, dem international bekannten und geachteten Obermagier und Lehrer«, sagte der Reporter. »Wie Sie selbst sehen können, ist das Feuer noch nicht unter Kontrolle, und man versucht verzweifelt, ein Übergreifen auf die benachbarten Häuser zu verhin dern. Vor wenigen Augenblicken wurde dieser Wohnbezirk von einer Reihe schwerer Explosionen – unterschiedlichen Angaben zufolge sollen es zwischen drei und sechs gewesen sein – erschüttert. Bei unserem Eintreffen erfolgte eine weitere Explosion auf dem Anwesen des Professors. Die Druckwelle riß Teile der linken Au ßenwand heraus. Nach unseren Informationen befand sich Professor Ambrosius bei der ersten Explosion noch im Haus, und nach menschlichem Ermessen ist es unmöglich, daß er sie überlebt hat. Seit 35 Jahren lebt Irma Hofstedder im Haus direkt neben dem An wesen von Professor Ambrosius. Sie war daheim, als sich die Explo sionen ereigneten.« Die Kamera richtete sich auf eine rundliche, grauhaarige Frau in einem geblümten Kleid. Sie hielt zwei wimmernde Katzen im Arm. »Mrs. Hofstedder, können Sie uns schildern…« Sie ließ dem Reporter keine Möglichkeit, den Satz zu beenden. »Seine Zauberei war es, die das hier angerichtet hat«, rief sie mit schriller Stimme und starrte kampflustig in die Kamera. »Immer und
immer wieder habe ich ihm gesagt, daß nichts Gutes, wirklich nichts Gutes, dabei herauskommen könne, wenn man wie eine Spinne stän dig im Haus hockt und Zaubersprüche herunterbetet. Das ist nicht christlich, habe ich ihm gesagt, überhaupt nicht christlich. Und nun seht her, was er angerichtet hat! Ich habe immer wieder bei ihm angerufen und mich bei ihm beschwert, aber keiner hat auf mich gehört! Jetzt sieht man ja, was daraus entsteht! Teufelswerk ist das, jawohl -Teufelswerk! Und seht, was sie mit meinem armen Haus anstellen, seht es euch an!« Dicke schwarze Wolken hingen über den benachbarten Häusern, auf die sich Wasserschwälle ergossen, während die Zauberer der Feuerwehr versuchten, mit ihren Formeln ein Übergreifen der Flammen zu verhindern. »Selbst wenn mein Haus nicht abbrennt, werde ich überall blei bende Wasserschäden haben«, jammerte sie. »Mir blieb nicht mal Zeit, die Fenster zu schließen. Und was ist mit meinem Gemüsegar ten, mit meinen kostbaren Rosen? Alles ruiniert! Ich werde die Feu erwehr verklagen, ich werde die Polizei dafür haftbar machen, daß sie nie eingeschritten ist, wenn ich sie angerufen habe. Sie hat nie etwas gegen diesen Zauberkram unternommen. Ich werde das Rat haus verklagen, die Universität! Ich werde…« »Wir danken Ihnen, Mrs. Hofstedder.« Der Reporter entzog ihr das Mikrophon und ließ sie stehen. »Wie man sieht, sind die Nach barn zu Recht verärgert. Trotzdem ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt keinesfalls erwiesen, daß die Explosionen, die den Brand auslösten, die Folge einer thaumaturgischen Handlung sind. Dagegen gibt es Hinweise auf einen Anschlag. Kurz nach den ersten Explosionen sah einer der Nachbarn zwei Wagen davonrasen.« Der Reporter machte ein paar Schritte nach rechts, und die Kame ra blendete einen jungen Mann ein, der dort stand. »Steven Rasnic wohnt in dem Haus direkt gegenüber dem Anwesen von Professor Ambrosius«, berichtete Miller. »Mr. Rasnic, können Sie uns erzäh len, was Sie unmittelbar nach der ersten Explosion beobachtet ha ben?« Rasnic sprach langsam, mit wohlüberlegten Worten. »Wir wollten gerade zu Abend essen, als wir die erste Explosion hörten. Alle Fen ster zur Straße gingen zu Bruch. Ich dachte zuerst, eine Gasleitung sei explodiert, und lief deshalb zur Eingangstür. Als ich sie öffnete, erfolgten kurz hintereinander die nächsten Explosionen. Es waren mindestens drei. Trümmer fielen auf die Straße und in unseren Vor
garten, und ich sah ein paar Männer über die Straße laufen. Sie wa ren zu viert. Sie sprangen in die beiden Wagen, die direkt vor unse rem Grundstück parkten. Sie sind mit Vollgas in diese Richtung gefahren, die Straße hinunter. Ich konnte sie nicht genau erkennen, aber sie schienen aus der Richtung des Hauses von Professor Am brosius zu kommen. Zudem stand das Tor zu seinem Grundstück offen. Die Explosion könnte es aufgerissen haben, denn normaler weise läßt der Professor es nie offenstehen.« Und als wolle er die Erklärungen der alten Frau widerlegen, fügte er hinzu: »Wir hatten noch nie Probleme mit dem Professor. Er war immer ein guter Nach bar, der meist sehr zurückgezogen lebte. Ich glaube nicht, daß er jemals etwas tun würde, das die Nachbarn und den Bezirk in Gefahr brächte. Ich bin überzeugt, daß die Männer, die ich gesehen habe, etwas mit der Sache zu tun haben.« »Wollen Sie damit sagen, daß dies ein Mordanschlag gewesen sein könnte?« fragte der Reporter. »Das weiß ich nicht. Aber ich habe die Männer vorher noch nie in dieser Gegend gesehen. Auch die Wagen nicht«, antwortete Rasnic. »Ich will nicht behaupten, daß ich die Kerle wiedererkennen würde, wenn ich sie noch einmal sähe – ich bin sicher, ich könnte es nicht – aber sie hatten es verdammt eilig, von hier zu verschwinden.« »Wir danken Ihnen, Mr. Rasnic«, sagte Miller und drehte sich zur Kamera. »Ein Augenzeuge hat also gesehen, wie ein paar Männer offensichtlich fluchtartig die Szene verließen. Es ist noch unklar, ob sie etwas mit den Explosionen zu tun haben. Polizei und Feuerwehr haben ihre Untersuchungen aufgenommen. Sobald nähere Einzelhei ten bekannt sind, werden wir die Zuschauer davon unterrichten. Bis jetzt scheint nur eins festzustehen: Merlin Ambrosius ist offenbar bei den Explosionen, die sein Haus zerstörten, ums Leben gekommen. Bruce Miller aus Boston für TVN News.« »Wir schalten jetzt um zur Universität von Cambridge zu unserer Reporterin Kathleen Williams«, sagte der Nachrichtensprecher. »Ich kann es nicht glauben«, murmelte Wyrdrune und starrte auf den Bildschirm. »Er kann doch nicht tot sein! Nicht Merlin!« »Merlin war nicht unverwundbar«, meinte Modred. »Wenn er wirklich zum Zeitpunkt der Explosionen im Haus war, kann er kaum überlebt haben. Aber so wie ich Merlin kenne, würde ich ihn noch nicht abschreiben, bis die Überreste seines Körpers gefunden worden sind.« »Was wollt Ihr damit sagen? Wer seid Ihr?« rief Wyrdrune.
»Man kennt mich unter vielen Namen – tatsächlich unter mehr Namen, als mir in Erinnerung geblieben sind. Michael Cornwall ist da so gut wie jeder andere.« »Modred«, sagte Kira plötzlich und sah ihn scharf an. Er fuhr herum, richtete die Waffe auf sie. »Was hast du da ge sagt?« »Euer Name ist Modred.« Ihr Blick wich seinem nicht aus, und sie sprach die Worte, als sei sie selbst überrascht vom Klang ihrer Stimme. Er wurde blaß. »Woher kennst du diesen Namen?« »Auch ich kenne ihn«, sagte Wyrdrune. »Mein Gott, Ihr seid Ar thurs Sohn.« »Dein Gott hat damit wenig zu tun, Karpinsky.« Modred warf ei nen Blick auf die Pistole und steckte sie seufzend ins Holster. »Ich glaube, ich brauche jetzt einen Drink. Du hast nicht zufällig einen Whisky für mich?« »Nur Leichtbier.« »Leichtbier«, wiederholte Modred mit trockenem Grinsen. »Nun, zur Not reicht auch das.« »Besen, bring uns drei Bier!« rief Wyrdrune. Der Besen lugte vorsichtig um die Ecke und schwankte ins Wohnzimmer. »Ist es wieder ruhig hier drin oder werde ich gleich in Splitter geschossen?« Modreds Augen weiteten sich eine Spur, dann lächelte er. »Wir haben beschlossen, nicht mehr zu schießen. Tut mir leid, daß ich dich erschreckt habe.« »Was heiß hier erschreckt? Es ist ein Wunder, daß ich in diesem Irrenhaus überhaupt noch ein paar Borsten übrigbehalten habe. Soll ich nur die Dosen bringen, oder wollt Ihr wie ein normaler Mensch aus dem Glas trinken?« »Ein Glas wäre besser.« Modred nickte freundlich. »Und vielen Dank auch.« »Soll ich Ihnen vielleicht auch noch eine Schale Chips oder Bre zeln bringen?« Modred verzog die Lippen zu einem breiten Grinsen. »Nein, nur ein Bier bitte. Keine Umstände?« »Umstände? Was für Umstände?« Der Besen schwankte in Rich tung Küche davon. »Kugeln aus der Wand kratzen, zersplitterte Scheiben ersetzen, die Bestecke wegschließen – das macht Umstän de, Probleme. Und davon habe ich jede Menge. Was soll da eine
Schüssel Chips für Umstände machen?« »Du hast einen ungewöhnlichen Hausdiener«, sagte Modred grin send. »Zu frech und vorlaut, wenn Ihr mich fragt«, brummte Wyrdrune. »Ich glaube, ich mag ihn.« »Schön. Ihr wollt ihn haben? Er gehört Euch.« Aus der Küche drang das Klappern von Geschirr. Einen Moment später trug der Besen ein kleines Tablett mit drei Dosen Leichtbier und einem Glas herein. »Wir haben keine Chips mehr«, verkündete er. »Danke, Besen, es ist schon gut.« Wyrdrune ließ sich müde auf das Sofa sinken. Kira und Modred zogen sich jeder einen Sessel herbei. Modred nahm einen kräftigen Schluck und verzog das Gesicht. »Der Nektar der Götter«, knurrte er voller Sarkasmus und sah dann gespannt von Wyrdrune zu Kira. »Ich habe meinen richtigen Namen schon seit langer Zeit nicht mehr gehört. Er weckt unschöne Erinne rungen in mir. Daß ihr ihn kennt, sollte mich stören, aber das tut es nicht. Ich weiß nicht wieso. Ich glaube, wir haben eine ganze Menge miteinander zu bereden.« »Wie könnt Ihr Arthurs Sohn sein?« fragte Wyrdrune. »Will man der Geschichte glauben, seid Ihr doch nach dem Untergang von Camelot gestorben.« »Die Berichte von meinem Tod waren stark übertrieben, um bei einem Zitat von Mark Twain zu bleiben«, erklärte Modred. »Die Grenze zwischen Historie und Legende verwischt sich im Verlauf der Zeit immer mehr. Man hat über uns sehr viele Lügengeschichten verbreitet. In einigen wird behauptet, Morgan sei meine Mutter, andere sagen wieder, daß Morgause, ihre Schwester, meine Mutter war. Doch stimmen sie alle darin überein, daß ich Arthurs Bastard, sein unehelicher Sohn bin. Zumindest dieser Teil ist richtig. Meine Mutter war Morgan Le Fay, Arthurs Halbschwester, aber sie war ebensowenig Königin des Feenlandes wie ich eine Elfe bin, es sei denn, man meint mit diesem Begriff auch die alte Rasse, die der eigentliche Ursprung für die meisten der Sagen und Legenden war. Morgans Vater Gorlois, der Herzog von Cornwall, war einer der Uralten, obwohl er es immer geheimgehalten hat. Ihr wißt von den Uralten? Merlin hat euch von ihnen erzählt?« Wyrdrune nickte. »Dann wißt ihr also auch von den Dunklen?«
»Ja.« »All diese Dinge hängen mit ihnen zusammen, nicht wahr?« frag te Modred. »Und mit Al’Hassan. Ich weiß, daß er seine Finger im Spiel hat. Er ist der einzige, der es wagen würde, ein Kopfgeld auf Merlin auszusetzen. Und das ist auch der Hintergrund des Anschla ges, wißt ihr? Mir sind Gerüchte zu Ohren gekommen, nach denen Al’Hassan Verbindungen zum organisierten Verbrechen hat. Aber er steckt noch viel tiefer in der Sache, stimmt’s?« »Die Dunklen Mächte haben von ihm Besitz ergriffen«, sagte Wyrdrune und nickte. »Er hat dich mit einem Bannspruch an sich gebunden, während du in seiner Gewalt warst«, sagte Modred und sah Kira an. Sie wich seinem Blick aus. »Deine Gefühle sind der Katalysator. Deine ge walttätigen Gefühle. Darin liegt seine Machbasis begründet. Ihre Machtbasis.« Er warf den Beutel mit den Runensteinen auf den Kaffeetisch. »Und hier ist unsere Machtbasis. Drei Runensteine, wir drei, die drei Seiten eines Dreiecks. Sagt mir, was das bedeutet.« »Das ist ein uralter Zauberspruch«, erklärte Wyrdrune und begann ihn zu rezitieren: Drei Steine, drei Schlüssel, zu legen den Zauber. Drei Juwelen, zu bewachen die Pforten der Hölle. Drei, sie zu bändigen, drei zum Ganzen vereint. Drei, sie zu verbergen vorm Antlitz der Sonne. Drei, sie zu halten, drei, sie zu bewahren. Drei, zu bewachen den schlaflo sen Schlaf. Der Lederbeutel auf dem Kaffeetisch schien plötzlich in sich zu schrumpfen. Im gleichen Moment stöhnte Modred auf, griff sich ans Herz und krümmte sich. Wyrdrune keuchte laut und griff sich mit beiden Händen an den schmerzenden Kopf, während Kira mit einem Aufschrei an ihre rechte Hand faßte. »Großer Gott, was ist denn jetzt schon wieder?« Der Besen eilte aus der Küche herbei. »Seid ihr wohlauf? Was geht hier vor? Was ist denn das?« Aus Kiras rechter Hand stiegen Rauchfäden auf. Wyrdrune kniete auf dem Boden und hielt sich jammernd den Kopf. Zwischen seinen Fingern tanzten ebenfalls dünne Rauchschwaden. Modreds Atem ging in kurzen Stößen, und mit fahrigen Bewegungen riß er sein Hemd auf. Ein leuchtender Rubin schimmerte auf seiner Haut, eingebettet in dem versengten Fleisch über seinem Herzen.
Kira öffnete die Hand und starrte auf den hellen Saphir in der Handfläche. Wyrdrune ließ die Hände vom Kopf sinken. Die beiden anderen starrten auf den sanft schimmernden Smaragd in seiner Stirn.
KAPITEL
D
DREIZEHN
er Rückflug nach New York war für Riguzzo eine Tortur. Er fühlte sich unwohl und saß kerzengerade in seinem Sitz. Cleary amüsierte sich insgeheim darüber. Riguzzo hatte vorgeschlagen, den Zug zu nehmen, doch Morgan hatte davon nichts wissen wollen. Sie konterte mit dem Vorschlag, die beiden Polizisten einfach mit sich zurückzuteleportieren. Doch davor hatte Riguzzo noch mehr Angst als vor dem Flug, und so stimmte er mürrisch zu, das Flugzeug zu nehmen. Er hatte sich mehrere Drinks genehmigt und beschlossen, den ganzen Flug über zu leiden. Als das Flugzeug landete, war er sichtlich erleichtert und glaubte schon, das Schlimmste überstanden zu haben. Doch kaum waren sie ausgestiegen, taumelte Morgan plötzlich und griff sich stöhnend ans Herz. Riguzzos schnelles Zu packen verhinderte, daß sie zu Boden stürzte. Der Lieutenant trug sie in die Abflughalle. Cleary eilte voraus und rief nach einem Arzt. Einer der wartenden Passagiere war Arzt. Er bemerkte den Men schenauflauf und eilte sofort herbei. »Ich bin Arzt«, rief er und drängte sich durch die Menge zu Ri guzzo, der Morgan auf den Boden gelegt hatte und sich nun über sie beugte. »Lassen Sie mich bitte durch. Ich bin Arzt.« »Macht gefälligst Platz, verdammt noch mal!« brüllte Riguzzo die
Gaffer an. Der Arzt kniete an Morgans Seite nieder und maß ihren Puls. »Ich glaube, sie hat einen Herzanfall«, sagte Riguzzo. »Die Ambulanz ist schon unterwegs«, meldete ein Beamter der Flughafensicherheit. »Der Puls ist kräftig«, sagte der Arzt stirnrunzelnd und prüfte die Reaktion der Pupillen. »Aber die Pupillen sind geweitet, die Haut ist kalt und klamm, der Atem geht flach und schnell… Ich würde sagen, sie steht unter Schock. Der Pulsschlag scheint in Ordnung zu sein. Zu dumm, daß ich meine Tasche nicht dabei habe…« Er beugte sich vor und legte das Ohr auf ihr Herz. »Jesus, sie beginnt zu fibrillieren! Wir brauchen hier ein mobiles Wiederbelebungs-Set, verdammt!« »Pressen Sie ihren Brustkorb«, schlug Riguzzo vor. »Das würde nichts nützen.« Die Stimme des Arztes verriet seine Besorgnis. »Wenn das Herz so flattert, muß man es erst mit Hilfe von Elektroschocks stoppen und danach versuchen, es wieder in Gang zu setzen. Man kann dann nur beten, daß es hilft.« »Können wir denn gar nichts tun?« fragte Cleary verzweifelt. »Wo bleibt denn die verdammte Ambulanz?« schrie der Arzt, sah den Sicherheitsbeamten mit seinem Handsprechgerät und winkte ihn zu sich. »Rufen Sie über Funk die Flughafenrettung. Sie sollen sofort mit einem Wiederbelebungs-Set hierherkommen.« »Sie sind schon unterwegs«, versicherte der Beamte. »Die Ambu lanz wird draußen vor dem Gate vorfahren.« »Lassen Sie uns durch. Bitte, lassen Sie uns durch!« Die Flughafen-Sanitäter drängten sich durch die Menge. Sie hat ten ein tragbares Elektroschockgerät zur Wiederbelebung dabei. Der Arzt riß Morgans Bluse auf. »Bringt es hierher«, ordnete er an. Einer der Sanitäter befestigte die Elektroden auf Morgans Ober körper, der andere griff in eine Tasche und reichte dem Arzt ein Stethoskop. »Fertig!« Der Sanitäter drückte auf eine Taste des Geräts, und Morgans Körper krümmte sich zuckend unter dem Stromschlag. Der Arzt horchte nach dem Herzschlag. »Noch einmal – jetzt!« »Fertig!« Wieder bäumte sich ihr Körper unter dem Stromstoß auf. Sofort setzte der Arzt wieder das Stethoskop an – und sah erleichtert auf. »Wir haben es geschafft«, sagte er und lauschte dem Herzschlag. Dann wandte er sich an Riguzzo. »Sie muß sofort ins Krankenhaus,
aber ich denke, sie wird durchkommen.« Die Zuschauer begannen zu applaudieren. Auf einer Trage rollten sie Morgan zur Ambulanz. Riguzzo zeigte einem der Sanitäter seine Marke. »Ich fahre mit ihr. Al, gib eine Meldung an die Zentrale und komm dann zum Hospital.« Als sie die Trage in den Wagen schoben, flatterten plötzlich ihre Lider. Sie öffnete die Augen und sah Riguzzo an. »Dominic…« »Alles in Ordnung, Faye. Sprich jetzt nicht. Du hattest einen Herzanfall. Wir bringen dich ins Krankenhaus.« »Nein.« Sie schüttelte den Kopf und richtete sich trotz der Halte gurte halb auf. Sofort drückte der Sanitäter sie sanft, aber bestimmt, auf die Trage zurück. »Bitte, Ma’am, Sie müssen ruhig liegen. Dann kommt alles in Ordnung.« »Mein Sohn«, murmelte sie. »Es ist etwas mit meinem Sohn…« Der Sanitäter sah Riguzzo fragend an. Der Lieutenant schüttelte den Kopf. »Sie redet im Fieber…« »Verdammt, mir geht’s gut«, erklärte sie, richtete sich auf und lö ste die Haltegurte. Dabei versetzte sie dem Sanitäter einen Stoß, daß er zurücktaumelte. Mit einer Hand packte sie Riguzzos Arm und murmelte schnell ein paar Worte vor sich hin. Der Sanitäter registrierte nur noch, daß die Frau und Riguzzo im nächsten Augenblick verschwunden waren. Sie materialisierten in einer Penthouse-Suite hoch über der Fifth Avenue. Die Wohnung wurde gerade instandgesetzt, der Boden war mit Papierbahnen ausgelegt, Leitern und Eimer mit Farbe standen herum. Ein beißender Rauchgeruch hing in der Luft, durchsetzt mit dem Geruch frischer Farbe. Riguzzo sah sich um. Er benötigte einen Moment, um zu erkennen, warum ihm die Wohnung so vertraut vorkam. Es war das Penthouse-Apartment von John Roderick, alias Morpheus, der wiederum Morgans Sohn Modred war. Die Bauarbei ter hatten hart gearbeitet, trotzdem war die Wohnung nur teilweise instandgesetzt und roch immer noch nach Rauch. »Nein, nein, nein«, seufzte Morgan und sah sich niedergeschlagen um. »Er ist nicht hier…« »Natürlich ist er nicht hier, Faye«, brummte Riguzzo und löste seinen Arm aus ihrem Griff. Sein Handgelenk schmerzte. »Zum Teufel, mir war nicht klar, daß Sie so stark sind. Wenn Sie das näch ste Mal so etwas vorhaben, möchte ich, verdammt noch mal, vorge warnt werden. Ich bin schließlich nicht mehr der Jüngste. Und wenn wir schon davon reden – Sie schließlich auch nicht. Bitte, kommen
Sie. Ich bringe Sie ins Hospital.« Sie hockte sich auf eine kleine Leiter. Ihr Gesicht verriet ihre Verwirrung. Sie sah aus, als würde sie jeden Moment weinen. »Ich glaube wirklich, Sie sollten sich von einem Arzt untersuchen lassen, Faye«, meinte Riguzzo sanft und zog seine Jacke aus. »Hier, legen Sie sie um.« Verständnislos starrte sie auf die Jacke. Dann sah sie an sich hin ab, bemerkte die offene Bluse und ihren entblößten Busen. Mit ei nem selbstbewußten Lächeln schlüpfte sie in die Jacke und knöpfte sie zu. »Vielen Dank, ich hatte das nicht bemerkt. Ich hoffe, es hat Sie nicht gestört.« »Ich war sehr lange verheiratet«, erklärte Riguzzo. »Und nach all dem, was ich in meinem Beruf zu sehen bekomme, kann der Anblick einer halbnackten Frau meinen Blutdruck kaum in die Höhe treiben. Außerdem sind Sie jung genug, um meine… Nun, ich wollte sa gen…« Sie lächelte. »Um gut und gerne eine Ihrer weiblichen Ahnen zu sein, die vor etwa fünfzig Generationen gelebt hat. Sie sind ein guter Mensch, Dominic. Vielen Dank, daß Sie sich um mich sorgen. Aber ich bin wieder völlig in Ordnung.« »Faye, Sie hatten einen Herzanfall…« »Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß, der Arzt hat es nur gut gemeint, aber er hätte mich beinahe umgebracht. Ich wäre im nächsten Augenblick wieder okay gewesen, wenn er mich in Ruhe gelassen hätte. Was mich betrifft, sollten Sie keine vorschnellen Entscheidungen treffen, Dominic. Ich bin nicht wie Sie.« »Es tut mir leid. Ich dachte…« »Schon gut. Es ist vorbei. Was auch geschah, es ist vorüber.« »Was ist denn geschehen? Sie sagten etwas über Ihren Sohn.« Sie seufzte. »Modred. Ich erzählte Ihnen von unserer Wesensnä he. Ich kann seine Anwesenheit immer spüren. Auch jetzt ist er uns nah – hier in dieser Stadt. Irgend etwas ist ihm zugestoßen. Ich dach te zuerst, er läge im Sterben, aber er lebt noch. Er lebt, ist aber ir gendwie verändert. Ich spüre da etwas anderes.« Sie wirkte verwirrt und besorgt. »Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat. Wir müssen ihn finden.« »Ich kann verstehen, was Sie empfinden, Faye«, versuchte Riguz zo sie zu beruhigen. »Aber Sie hatten gerade einen Schock und…« »Auch das hat etwas mit ihm zu tun. Da geschieht etwas Schreck liches, ich weiß es. Aber fragen Sie mich nicht, woher ich das weiß.«
»Nun gut. Sie sind sich aber auch darüber im klaren, was ich tun muß, wenn wir ihn finden? Ich muß ihn verhaften und unter Arrest stellen.« Sie lächelte mühsam. »Sie wollen Modred verhaften? Viel Glück! Gefängnismauern konnten ihn noch nie aufhalten.« »Wenn das stimmt, was Sie mir erzählt haben, Faye, dann ist der Mann ein Mörder, dem man das Handwerk legen muß.« »Das haben schon bessere Männer als Sie versucht, Dominic. Ich will Sie nicht beleidigen, aber es wäre reine Zeitverschwendung. Sie würden ihn nie fassen.« »Ich muß es versuchen.« »Tun Sie es nicht. Bitte.« Sie erhob sich von der Leiter und kam auf ihn zu. »Ich sage das nicht um meinetwillen, glauben Sie mir. Er wird Sie töten.« »Es ist meine Pflicht, Faye.« Er sah ihr in die Augen. »Und auch Ihre.« »Pflicht«, antwortete sie bitter. »Erzählen Sie mir nichts von Pflicht. Für die Pflicht habe ich schon viele Leute vergebens sterben sehen. Ja, glauben Sie denn, er ist ein gewöhnlicher Mensch? Er hat es mehrere tausend Jahre lang geschafft zu überleben! Er hat mehr Schlachten gesehen als Sie Mahlzeiten eingenommen haben.« Sie schlug ihm verächtlich auf den Bauch. Riguzzo verzog schmerzlich das Gesicht. »Entschuldigen Sie«, sagte sie kopfschüttelnd. »Ich wollte Ihre Gefühle nicht verletzen.« Seufzend trat sie ans Fenster und sah auf die Stadt herab, die sich unter ihnen ausbreitete. »Er ist da draußen, Riguzzo, und ich habe Angst um ihn.« »Sollten wir ihn je finden, muß ihn einer von uns einsperren«, blieb Riguzzo hart. »Wenn nicht ich, dann Sie. Was immer sonst Ihr Sohn auch sein mag, er ist in jedem Fall ein professioneller Mörder. Ich weiß, daß es für eine Mutter sehr hart sein muß, aber Gesetz ist Gesetz, und als Beamtin der ITK haben Sie einen Eid auf dieses Gesetz geleistet.« »Gesetz ist Gesetz«, wiederholte sie sarkastisch. »Mein Sohn und ich leben schon länger, als Ihr ach so kostbares Gesetz existiert. Und was meinen Eid betrifft, den Sie mir unter die Nase reiben: Ich habe schon viel ältere und verbindlichere Versprechen gebrochen als den Diensteid, den ich der ITK geleistet habe.« »Verstehe.« Riguzzo nickte. »Wollen Sie damit etwa andeuten, Sie und Ihr Sohn stünden über dem Gesetz? Weil das Gesetz ledig
lich von Menschenhand geschrieben worden ist? Ich will nur ganz klar wissen, wo wir beide stehen.« »Seien Sie doch kein Dummkopf, Riguzzo!« Sie fuhr zu ihm her um und sah ihn an. »Sie sollten sich mal sehen, wie Sie da vor mir stehen – stocksteif vor Aufrichtigkeit und Tugend! Begreifen Sie denn nicht, daß die Dinge nie so einfach sind, wie Sie sie sehen?« »Offenbar nicht. Aber warum erklären Sie sie mir dann nicht? Ich bin dafür bekannt, flexibel zu sein.« »Haben Sie denn einen einzigen stichhaltigen Beweis gegen ihn in der Hand, um ein Verfahren einzuleiten?« »Vielleicht nicht. Aber Sie, denke ich.« »Auf keinen Fall würde ich Ihnen die Beweise überlassen. Zudem fällt das nicht in Ihre Zuständigkeit.« »Dann müßten Sie ein Verfahren gegen ihn einleiten.« »Verdammt, Riguzzo! Er ist mein Sohn!« »Schätze, dann muß ich es machen! Tut mir leid, Faye.« Sie schnaubte. »Sie sind ein Idiot. Er wird Sie töten.« »Vielleicht. Die Frage ist, ob Sie versuchen würden, ihn daran zu hindern.« »Stellen Sie mich allen Ernstes vor die Wahl zwischen Ihnen und meinem eigenen Sohn?« »Nein, denn das wäre zu einfach. Die Entscheidung, die Sie tref fen müssen, ist viel schwieriger. Vermutlich ließe sich darüber strei ten, ob Ihnen überhaupt eine Wahl bleibt. Ich habe nicht das Recht, über Sie zu urteilen, Faye, denn ich bin nur ein Mann, vielleicht stocksteif, aber eher durch meine Arthritis als durch Aufrichtigkeit und Tugend. Aber ich weiß, was ich zu tun habe. Ich muß mit den Entscheidungen, die ich treffe, leben. Und das müssen Sie auch.« Sie sah ihn an. Ein ironisches Lächeln umspielte ihre Lippen. »Sie erinnern mich an seinen Vater.« Sie wandte den Blick von ihm ab und schaute wieder aus dem Fenster. »Es besteht zwar keinerlei Ähnlichkeit, doch wenn ich Sie ansehe, den kleinen, fetten, kahlköp figen italienischen Cop in dem billigen Anzug und den Schuhen mit den abgelaufenen Absätzen, dann muß ich an ihn denken. Und war um? Weil für Sie Ihre dumme kleine Plakette ebenso wichtig ist wie für ihn seine Krone.« »Trotz der unschmeichelhaften Beschreibung meiner Person be trachte ich das als Kompliment«, brummte Riguzzo. »Aber meine Frage haben Sie immer noch nicht beantwortet.« »Sie wollen nicht zurückstecken, nicht wahr?«
»Ich wüßte nicht, warum ich das sollte.« »Ich könnte Sie von diesem Fall abziehen. Sie wissen, daß ich da zu ermächtigt bin.« »Ich weiß, aber das werden Sie nicht tun.« »Und wieso glauben Sie das?« »Weil Sie sich fürchten.« »Vor Ihnen? Sie müssen verrückt sein.« »Natürlich nicht vor mir. Sie fürchten sich vor sich selbst. Wie Sie schon sagten, sind Sie anders als ich. Ich kann mir nicht vorstel len, wie es sein mag, mehrere tausend Jahre lang zu leben, aber ver mutlich bekommt man dabei ein völlig anderes Zeitgefühl. Ich glau be, wenn ich Ihre Zeit zur Verfügung hätte, würde ich auch über viele Dinge anders denken. Andererseits würde ich aber viel länger brauchen, eine Sache aufzugeben, hinter der ich schon lange her bin, auch wenn ich sie schon bald als Zeitverschwendung oder als hoff nungsloses Unterfangen erkannt hätte. Ich weiß nicht, was Sie wegen Ihres Sohnes zu unternehmen gedenken, aber nach dem, was Sie mir über ihn erzählt haben, scheint er sich nicht viel aus Ihnen zu ma chen. Er ist eben, was er ist, und Sie können nichts tun, um das zu ändern. Vielleicht geht das doch allmählich in Ihren Kopf.« Riguzzo zuckte die Achseln. »Vielleicht bin ich aber auch nicht in der Lage zu verstehen, was Sie all die Jahre durchgemacht haben, denn ich weiß nicht, was es heißt, unsterblich zu sein. Doch zum Teil sind Sie ja auch noch Mensch, und diesen Teil zumindest verstehe ich. Dieser Teil von Ihnen ist es, der sich fürchtet, etwas aufzugeben, dem Sie so lange nachgejagt sind – weil Sie nicht sicher sein können, was Sie aufgeben. In Wirklichkeit benötigen Sie meine Hilfe bei diesem Fall überhaupt nicht, Faye. Sie haben sie nie gebraucht. Es gibt keinen vernünftigen Grund, warum Sie mich hinzugezogen haben. Vermut lich nur, weil Sie ängstlich werden und sich einsam fühlen. Sie brau chen Leute um sich. Wenn nicht Al und mich, dann eben McGarry und seine Männer oder Ihre Kollegen von der ITK. Aber meiner Meinung nach wollten Sie die nicht dabei haben, weil sie nicht so leicht unter Kontrolle zu halten sind wie ein paar Straßen-Cops, die dankbar sind, bei einem wichtigen Fall vielleicht ein paar Lorbeeren zu ernten. Aber Sie sollen wissen, daß mich solche Lorbeeren nicht interessieren, noch nie interessiert haben. Zufällig nehme ich meinen Job sehr ernst, und so setze ich mir meine Prioritäten und mache meine Arbeit, so gut ich kann. Und dabei kümmere ich mich auch um meine Partner, zu denen Sie im Moment nun mal zufällig gehö
ren. Sie stecken in großen Schwierigkeiten, Faye und das schon seit sehr, sehr langer Zeit. Ich glaube kaum, daß ich derjenige bin, der Sie da rausholen kann. Sie sind ein mächtiger Adept und wissen mehr, als ich jemals lernen könnte. Vermutlich könnten Sie mich sogar mit einer Hand hinter Ihrem Rücken festhalten, ohne dabei Magie anzuwenden. Sie sind ein höheres Wesen, und das wissen Sie und handeln danach. Aber Sie sind zum Teil auch Mensch, und kein Mensch ist immer nur stark. In einem Moment kommen Sie als zähe, professionelle Ermittlungsbeamtin daher, eine Zauberin, die gegen alles und jeden bestehen kann, und im nächsten zeigen Sie sich ver letzlich und bitten Al und mich, Ihnen zu vertrauen, weil Sie unsere Hilfe benötigen. Sie haben sich nun ein paar Dingen zu stellen, und die Tatsache, daß Sie das über zweitausend Jahre nicht getan haben, macht Ihnen die Sache nicht leicht.« »Was also verordnen Sie mir, Doktor?« Ihre Stimme triefte vor Sarkasmus. »Sie haben mir nicht zugehört, Faye. Ich habe gesagt, daß ich nicht derjenige bin, der Sie da rausholen kann. Das ist nicht meine Aufgabe, und ich habe auch nicht das nötige Rüstzeug dazu. Sie müssen das schon selbst erledigen. Und, bei Gott, ich wünschte, Sie würden endlich damit anfangen, denn ich habe nicht die Zeit, lange zu warten. Ich bin nicht unsterblich.« »Also gut.« Plötzlich wirkte sie erschöpft. »Was soll ich Ihrer Meinung nach tun?« »Was wollen Sie tun, Faye? Was haben Sie sich erhofft, als Sie Ihren Sohn fanden?« »Ich… ich wollte ihn nur zurückhaben, das ist alles.« Sie seufzte. »Er ist nicht er selbst. Er hat alles abgelehnt, was er selbst ist, alles, was er sein könnte.« »Meinen Sie nicht, daß Könige nicht mehr ganz zeitgemäß sind? Daß es doch ein wenig spät für sie ist?« »Davon spreche ich auch nicht. Ich bin doch kein Dummkopf. Aber seit er mich verlassen hat, ist er vor sich selbst auf der Flucht. Er hätte das Talent, ein ebenso großer Magier zu werden wie Merlin. Statt dessen hat er sich entschieden, ein…« Sie wandte sich ab. »Es ist eine solch große Verschwendung, was er aus seinem Leben ge macht hat!« »Und wie sieht das bei Ihnen aus?« fragte Riguzzo. »Bei all dem, was Sie getan und erlebt haben, bei all Ihrem Wissen, ist es da nicht auch eine große Verschwendung, daß aus Morgan Le Fay nicht mehr
geworden ist als ein glorifizierter Cop? Es ist keine Verschwendung, wenn das wirklich Ihr Ziel war. Aber war es das?« Sie gab keine Antwort. »Wissen Sie, man kann darüber streiten, inwieweit wir dafür ver antwortlich sind, was aus unseren Kindern wird«, fuhr Riguzzo leise fort. »Wir können unser Bestes geben und versuchen, sie richtig zu erziehen, ihnen Wege und Möglichkeiten aufzeigen, ihnen unsere Wertvorstellungen nahebringen. Aber sie werden sich immer zu dem entwickeln, was sie sein wollen, ganz gleich, was wir tun. Sicher kann der elterliche Einfluß einiges bewirken, aber er ist nicht alles. Nicht auf lange Sicht. Als Cop habe ich viele Fälle erlebt, in denen die Eltern brave, aufrechte Bürger, die Kinder aber Ge wohnheitsverbrecher waren. Es hat auch Fälle gegeben, in denen Eltern, die selbst menschlicher Abschaum waren, Kinder hatten, aus denen wirklich gute Menschen wurden. Mir scheint, in Ihrem Fall liegt die Entscheidung bei Modred. Für ihn wäre es noch möglich, das Blatt zu wenden. Wir Cops sind dafür bekannt, daß wir manch mal einen Handel machen. Modred würde zwar ein wenig Zeit ver lieren, aber was bedeutet für einen Unsterblichen schon die Zeit? Selbst wenn man ihn zum Tode verurteilte, was im Hinblick auf seine Lebensspanne eine interessante Gerichtsverhandlung versprä che, wäre er nach zwanzig Jahren wieder frei. Für ihn wäre der Zeit verlust nur ein Tropfen in einem vollen Eimer. Er könnte von vorn anfangen und einen neuen Start versuchen – wenn es das ist, was er wirklich will. Ist es das nicht, weiß ich nicht, was Sie daran ändern könnten. Aber diese Wahl sollten Sie ihm lassen.« »Ich kann mir nicht vorstellen, daß Modred sich einsperren läßt. Ich sagte Ihnen doch, daß Gefängnismauern ihn nicht aufhalten kön nen.« »Sicher nicht, wenn er nicht drinnen bleiben will«, nickte Riguz zo. »Ein Gefängnis ist kein schöner Ort zum Leben. Aber ich kann mir kaum vorstellen, daß ein anderer ihm drinnen das Leben schwer macht, wenn das alles stimmt, was Sie mir über ihn erzählt haben. Man sagt, das Gefängnis könne niemanden verbessern, aber ich weiß, daß das nicht stimmt. Ich habe Sträflinge mit einer ganz neuen Lebenseinstellung aus dem Gefängnis kommen sehen. Man muß ihnen manchmal nur ermöglichen, daß sie ihre Schuld aufarbeiten, damit sie sich selbst vergeben können. Vielleicht braucht Modred jemand, der ihm Gelegenheit dazu gibt.« »So einfach stellen Sie sich das vor?«
Riguzzo schüttelte den Kopf. »Nein, nichts ist jemals einfach. Er ist nicht mein Sohn, und ich weiß nicht, was ihn antreibt, ein solches Leben zu führen. Ist es Schuld, Zorn oder einfach Selbstsucht – ich weiß es nicht. Aber zweitausend Jahre sind eine zu lange Zeit, um die Feuer am Brennen zu halten, um solche Gefühle nicht einschla fen zu lassen. Vielleicht ist er müde. Sie sind es jedenfalls, das weiß ich.« Sie begann leise zu weinen. Riguzzo nahm sie in die Arme, und sie klammerte sich an ihn und schluchzte an seiner Brust. In dieser Haltung verharrten sie lange Zeit in dem ausgebrannten Apartment, während die Sonne über der Stadt unterging. Und alle Lichter gingen aus. Die Arbeiter im Elektrizitätswerk hörten die Schreie aus der Steu erzentrale des Kraftwerks. Mit Batteriescheinwerfern liefen sie die Treppen hinauf und brachen die Tür zum Kontrollraum auf. Keiner wußte, wieso sie von innen versperrt war, aber bei dem Anblick, der sich ihnen dahinter bot, vergaßen sie sofort die Tür. Die Steuerungs crew einschließlich des Chefingenieur-Adepten und seiner Assisten ten war niedergemetzelt, ihre Körper waren zerfetzt, und einzelne Teile davon lagen im ganzen Raum zerstreut. Überall klebte Blut – auf den Schaltpulten, den Meß-Monitoren, auf dem Boden, an Wän den und Decke. Und keine Spur, kein Hinweis, wer – oder was – das Blutbad angerichtet hatte. Die Männer konnten nicht mal Hilfe an fordern, denn die Telefone waren tot. Die ganze Stadt war ohne Strom. In Washington D. C. erlosch jegliches Licht beim sechsten Spiel im RFK Memorial-Stadion – außer einem dunkelblauen Leuchten, das wie ein waberndes riesiges Herz in der Mitte des Spielfeldes direkt hinter dem Platz des Pitchers tanzte und pulsierte. Als der Pitcher sich danach umdrehte und dabei seine Kappe zurückschob, packte ihn etwas und schleuderte ihn hoch in die Luft. Er schrie kurz auf, und dann flog die eine Hälfte seines Körpers in Richtung First Base, die andere segelte in hohem Bogen zum Center Field hinüber. Riesige Tatzenspuren, fast dreißig Fuß lang, blieben im Boden zu rück, als ein riesiges Etwas über das Spielfeld wankte und auf die Tribünen stieg. Körper flogen durch die Luft. In Wellen drängten die Zuschauer zu den Ausgängen, trampelten sich gegenseitig in blinder Panik nieder auf ihrer Flucht vor dem Wesen, das wie ein Expreßzug über das Feld donnerte und die Menschen niedermähte. In der Hauptstadt von China, etwa zwei Meilen vom Stadtzentrum
entfernt, wurden über 200.000 Menschen in der Peking Station ver schüttet, als die vier Säulen, die das muschelförmige Dach des zehn Stockwerke hohen Gewölbes trugen, zusammenbrachen. Das ton nenschwere Gemäuer zermalmte alles menschliche Leben unter sich. Es war ein grausames Opfer ohne jegliches Ritual, das aber seinen Zweck erfüllte. Tausende hauchten ihre Lebensenergie aus, und die Mosaikintarsien in der Ausgrabungsstätte am Euphrat begannen zu beben und aufzuplatzen. Sintflutartige Regenfälle ließen die Flüsse der vereinigten Semitischen Republiken anschwellen und überflute ten weite Teile des Landes. »Ein Stromausfall«, sagte Riguzzo und schaute aus dem Fenster auf die lichtlose Stadt. »Nein«, widersprach ihm Morgan, die regungslos hinter ihm in dem dunklen Apartment stand. Ihr war plötzlich sehr kalt. »Es ist etwas Schlimmeres, etwas viel Schlimmeres.« Auf Hawaii öffneten die Vulkane Mauna Loa und Kilauea gleich zeitig ihren Schlund und spuckten Gestein und Asche hoch in den Himmel. Pilzförmige, funkensprühende Rauchwolken wuchsen aus beiden Kratern. In ihrem Innern schrie etwas laut auf und begann Asche und Rauch wie mit riesigen Schwingen aufzuwirbeln. Die Wolkenoberschichten schienen die Form von Riesenrochen anzu nehmen und schwebten nach Nordwest in Richtung der Inseln Maui, Molokai und Oahu davon. In Südamerika stiegen riesige Wasserhosen, um ein Vielfaches höher als der höchste Wolkenkratzer in Rio de Janeiro, aus den Wo gen auf und donnerten über die Baia de Gaunabara hinweg Richtung Ilha das Cobras die Küste entlang zum Flughafen Santos Dumont und auf den Hafen von Rio de Janeiro zu, verharrten über dem 1296 Fuß hohen Felsen, weltweit bekannt als Zuckerhut, und tobten dann weiter landeinwärts auf Copacabana und Morro do Corcovado zu. Sie machten die Häuser dem Erdboden gleich und töteten Hundert tausende von Menschen, rasten über das Land und zerstörten alles, was sich ihnen in den Weg stellte. Der Altar auf dem massiven Stalagmiten begann zu wanken, das Beben grub Risse in den Fels, und große Brocken krachten auf den Boden des unterirdischen Gewölbes. In Moskau regnete Feuer auf den Kalinin-Prospekt herunter. Die Menschen auf den Straßen verwandelten sich in rennende Fackeln, und Büros und Wohnungen gingen in Flammen auf. Das Feuer zer störte die Konzerthalle Roter Oktober, griff auf den Komsomol-Platz
über und steckte das Hotel Leningrad in Brand. Im Kreml brannten die Verkündigungs-Kathedrale und eine Reihe anderer Kirchen mit Zwiebeltürmen aus dem 16. Jahrhundert. Die Flammen fraßen die Ikonen und schwärzten die byzantinischen Deckengemälde. Viele glaubten, es sei der Tag der Wiederauferstehung, und sie sanken auf die Knie und beteten, während ihre Körper verbrannten. Auf eine Art war es eine Wiederauferstehung, aber eine, bei der Gebete nichts nützten. Die Grenzlinien des Pentagramms in dem unterirdischen Gewölbe gingen in bläuliche Flammen auf und wurden vom Boden getilgt. Ein gleißendes, höllisches Glühen brach aus der Tiefe des Schachtes und griff wie der Strahl eines riesigen Suchscheinwerfers hinauf zur Decke der Höhle. Rashid saß in dem von Fackeln erhellten Audienzzimmer seines Palastes und zitterte heftig. Seine Hände hielten die Lehnen seines Thronsessels so fest umklammert, daß die Knöchel weiß hervortra ten. Sein Gesicht, in Agonie verzerrt, glich eher einer Fratze als einem menschlichen Antlitz. Er trug die schwarze Zeremonienrobe eines Zauberers. Der schwarze kaffiyeh wurde wie immer von dem Goldband mit dem Kobrakopf gehalten. Der Edelstein in seiner Stirn strahlte weißglühend und schwärzte die Haut ringsum. Der Thron war in eine smaragdgrüne Aura gehüllt und verlieh seiner Haut einen bleichen, leichenähnlichen Schimmer. Die Adern in seiner Stirn waren geschwollen. Er hatte die Lippen geöffnet und fletschte die Zähne. Sein Körper bäumte sich auf und zuckte unter heftigen Krämpfen. Das Rückgrat war so weit durchgebogen, daß es jeden Moment zu brechen schien. Ungeheure Kräfte flossen durch seinen Körper, als die freigesetz ten Todesenergien von der ganzen Welt durch ihn hindurchgeleitet wurden. Er alterte in einem wahnwitzigen Tempo, die Jahre flogen vorbei wie Sekunden. Sein Haar war schneeweiß geworden, seine Haut sah aus wie von Kapillaren durchzogenes Pergament, das Fleisch war schlaff und faltig, seine Hände knorrig wie Krallen, und grüne Flammen brannten in den Pupillen seiner Augen. Unter ihm begann das Metall des Thrones zu schmelzen, wurde weich und floß wie Wachs davon, als sein Körper Energie abstrahlte, die durch die Wände des Palastes drang und das ganze Gebäude erbeben ließ. Leute rannten schreiend durch die Gänge und Zimmer. Das Was ser der Springbrunnen im Innenhof begann zu schäumen und zu
kochen. Wie feuersprühende Walzen rollten Energiewellen durch die Gänge und Räume und setzten Tapeten, Vorhänge und Bilder in Brand, fraßen alles auf, das ihnen im Weg war, und ließen fliehende Menschen in Sekundenbruchteilen zu Skeletten verglühen, die noch ein paar Schritte weitertorkelten und dann zu Knochenhaufen zu sammensanken. Der Boden um den Palast bekam Spalten und Risse, aus denen kochender Dampf aufstieg. In rasendem Tempo zogen sie sich durch die ganze Stadt – wie Wellen vom Epizentrum eines Erd bebens. In dem zur Hälfte renovierten Penthouse schallte eine Stimme durch die Luft, drängend und flehentlich. »Morgana, hilf mir um Gottes willen!« »Merlin!« »Komm zu mir, oder alles ist verloren!« Sie streckte die Arme zur Seite aus, legte den Kopf zurück und in tonierte einen Sprechgesang in einem alten keltischen Dialekt. Blaue Funken umtanzten sie wie Glühwürmchen und gewannen an Leucht kraft, während sie sich immer schneller drehten und einen Wirbel sprühender Energie um Morgan legten, durch den sie kaum noch zu sehen war. Riguzzo zögerte und verfolgte verblüfft das Spektakel. Dann sprang er vorwärts, in den glühenden Funkenwirbel hinein und um klammerte Morgans Taille. Er fühlte, wie ein starker Wind an seinen Kleidern zerrte und die Elektrizität die Haare auf seinen Armen sta tisch auflud, so daß sie sich aufrichteten. Es dröhnte in seinen Ohren, als der blaue Kreisel sie vom Boden hob und sie mit wahnwitziger Geschwindigkeit umherwirbelte. Mit aller Kraft hielt er sich an der Frau fest und war kaum in der Lage zu atmen, als der thaumaturgi sche Wirbelwind Zeit und Raum verschluckte und sie taumelnd durch den Äther schickte… … und dann standen sie in einer dunklen Felsgruft, deren kalter Steinboden unter ihren Füßen bebte. Vor ihnen stand Merlin, von einem starken Lichtkegel angestrahlt, der tief aus der Erde herauf drang, auf einem riesigen Stalagmiten am Rand eines Schachtes. Die lange blaue Robe blähte sich in einem Wind, der fast die Stärke eine Hurrikans hatte, und das weiße Haar wehte ihm ums Gesicht. Er hatte die Arme hoch über den Kopf gehoben. Zuckende Blitze schossen in den Schacht hinunter, Felsbrocken lösten sich aus der Decke und polterten krachend zu Boden, Spalten öffneten sich in den Wänden.
»Guter Gott…«, murmelte Riguzzo. »Sie Dummkopf«, rief Morgan und packte ihn an den Schultern. »Was haben Sie getan? Sie werden sterben!« »Ich kann sie nicht halten, Morgana!« schrie Merlin. »Sie bezie hen ihre Kraß durch Al’Hassan. Du mußt ihn ausschalten!« »Kommen Sie!« Morgan beugte sich zu dem entsetzten Riguzzo vor. »Ich kann Sie nicht hier zurücklassen!« »Was geht hier vor?« schrie Riguzzo über den Lärm hinweg, aber der Wind riß ihm die Worte von den Lippen und wehte sie davon. Morgans Hand schloß sich um sein Handgelenk, und er wurde in den Mahlstrom wirbelnder Lichtpartikel gesogen, deren Nachbilder auf den Netzhäuten seiner Augen explodierten wie kleine Feuerwerke. Dann wurde es plötzlich schwarz um ihn, und er verlor das Bewußt sein.
KAPITEL
S
VIERZEHN
ie teilten plötzlich bruchstückhafte Erinnerungen, die nie ihre eigenen gewesen waren, die Erinnerungen einer Rasse, die lange vor Beginn der Historie gelebt hatte. Sie erinnerten sich an den großen Krieg der Magier und die Millionen, die dabei umgekommen waren. Sie erinnerten sich an einen Umbruch, wie ihn die Welt noch nie gesehen hatte: Städte gingen in Flammen auf, Inseln brachen ausein ander und versanken in den Fluten, mörderische Winde aus purer thaumaturgischer Energie rasten über das Land und machten alles dem Erdboden gleich. Sie erlebten in Bruchstücken eine feierliche Zeremonie tief unter der Erde, und sie hörten das Geschrei der rebellischen Magier, die man die Dunklen nannte, als man sie in einen schwarzen Schacht herabließ, gefangen in einem schimmernden Wirbel aus kristallinem blauen Feuer, erzeugt durch die kombinierten Kräfte der mächtigsten weißen Magier, die den Krieg überlebt hatten, Gestalten in Roben und mit Kapuzen auf dem Kopf, die auch die letzten Reste ihrer Macht zusammenkratzten, um die Schwarze Magie ihrer Gegner zu bannen. Sie sahen zwei von ihnen eine schwere goldene Truhe mit mysti schen Symbolen herbeitragen und sie am Felsrand über dem Schacht
abstellen. Sie sahen, wie sie die Truhe mit Fesseln aus thaumaturgi scher Energie für immer an ihrem Platz verankerten, wie sie sich dort zum letzten Mal versammelten, um die Verantwortung für das Wis sen auf ihre Schultern zu laden, das sie mit denen, die sie tief unter der Erde eingesperrt hatten, teilten. Sie legten die Runensteine in ein kleines Schmuckkästchen aus Bronze, plazierten sie auf schwarzem Samt zu einem Dreieck. Dann traten alle außer einem zusammen und formten ein lebendes Dreieck. Sie erfüllten die Höhle mit weißem Licht, als sie ihr Leben für den Zauber der völligen Selbstumwand lung dahingaben und die Runensteine mit ihrer eigenen Lebensener gie speisten, den trägen Juwelen Vitalität und Empfindsamkeit ein hauchten, die dadurch dreigeeint wurden und Zeit, Raum und Äther eine dimensionslose Kongruenz innerhalb des Pentagramms verlie hen, in dem Rund der Höhle, die ihr Grab werden sollte. Schließlich stand nur noch einer von ihnen allein oben auf dem hohen Stalagmiten. Er bückte sich, setzte das Schmuckkästchen aus Bronze in die Truhe und versiegelte es darin für alle Ewigkeit, denn das war ihr Vorhaben. Dann stieg er wieder zum Boden der Höhle herunter, verließ das Gewölbe durch den Tunnel, den sie in den Fels getrieben hatten, und verschloß ihn hinter sich. Er ging hinaus zu den wenigen anderen seiner Art, die überlebt und sich über die ganze Welt zerstreut hatten, die schwächeren, jüngeren Magier, die die Fähigkeiten, mit denen sie geboren worden waren, noch nicht be herrschten und nie vollkommen beherrschen würden, denn das Zeit alter der Magie war in einem Holocaust untergegangen. Die Flamme, die einstmals hellauf gebrannt hatte, würde in den kommenden Jah ren nur noch gelegentlich aufflackern, ehe sie gänzlich erloschen. Er legte seine Zauberrobe ab und ließ sie dort liegen, wo sie zu Boden fiel, um sie nie wieder zu tragen. Er verbannte seinen Ma giernamen aus seinem Gedächtnis und zog unter seinem richtigen Namen Gorlois in die Welt hinaus – er, das jüngste und letzte Mit glied des Herrschenden Rates der Weißen Magier. Schließlich er reichte er ein winddurchtostes Eiland hoch im Norden und fand bei den dort lebenden Stämmen eine Heimat. Lange Jahre lebte er allein, ein Einsiedler, den die primitiven Nomadenvölker als Weisen ansa hen. Doch mit der Zeit konnte er seine Einsamkeit nicht mehr ertra gen und nahm sich eine Frau aus dem Stamm, der unter dem Namen Dedannan bekannt war. Sie gebar ihm einen Sohn namens Merlin. Da die Frau von menschlicher Geburt war, verging die Zeit für sie schneller. Bei dem harten Leben, das sie führten, alterte sie vor den
Augen ihres Gatten. Für ihn war dies sehr schmerzlich, und so ver ließ er sie eines Tages und schwor sich, niemals mehr eine andere menschliche Frau zu nehmen. Die Jahre vergingen, die Welt verän derte sich, und Gorlois veränderte sich mit ihr. Er wurde ein Feld herr, vergaß seine Vergangenheit und öffnete seiner angenommenen Zukunft als Mensch weit die Arme. Seine Einsamkeit ließ ihn bald seinen Schwur vergessen, und er nahm sich ein anderes Weib, eine schöne junge Frau mit Namen Igraine. Mit ihr zeugte er drei Töchter -Elaine, Morgana und Morgause. Und er beharrte in seinem Verges sen, bis eines Tages ein Mann namens Uther ihm mit Hilfe seines Sohnes Merlin, den er bei seinem ersten Weib zurückgelassen hatte, das gab, wonach er sich die ganze Zeit über gesehnt hatte – das ein zige Vergessen, das endgültig war. »Nun sind wir endlich miteinander vereint«, sagte Modred und berührte das Juwel über seinem Herzen. Dabei sah er Wyrdrune und Kira an. »Meine Cousins«, sagte er sanft. »Ihr beide – die Kinder von Morgause und Elaine. Jetzt mein Bruder, meine Schwester. Und euch hätte ich beinahe getötet.« »Ich glaube nicht, daß du das fertiggebracht hättest«, entgegnete Kira, hob den Blick von dem schwach schimmernden Juwel in ihrer Handfläche und sah ihn an. »O doch. Ich habe auch meinen eigenen Vater getötet, den ich nie verstanden habe – vielleicht, weil ich mich nie darum bemühte. Seit dem habe ich immer wieder gemordet. Ich bin ziemlich gut darin. Vielleicht sollte es so sein.« »Es hat angefangen«, sagte Wyrdrune und sah durchs Fenster auf die lichtlose Stadt. »Gott, ich kann es fühlen.« Er sah zu Modred hinüber. »Verdammt, warum haben sie so lange gewartet, warum haben sie uns erst in letzter Minute zusammengeführt. Wir haben nicht mehr genügend Zeit! Ich weiß nicht, was zu tun ist.« »Reiß dich zusammen«, ermahnte Modred ihn. »Selbst wenn wir mehr Zeit gehabt hätten, würde es keinen Unterschied machen. Wir hätten nie genug Zeit gehabt, um uns auf das vorzubereiten, was wir jetzt tun müssen.« »Ich habe noch nie jemanden getötet«, sagte Wyrdrune und schluckte hart. »Ich habe Angst.« »Die hatte ich auch, als ich zum ersten Mal in die Schlacht zog. Ebenso bei der zweiten und dritten. Mit der Zeit läßt die Furcht nach, vergeht aber nie ganz. Am schlimmsten ist es immer kurz vor dem Kampf. Sobald er einmal begonnen hat, bleibt für solche Gefühle
keine Zeit mehr. Und die haben wir jetzt auch nicht.« Ein leuchtendroter Strahl brach aus dem schimmernden Rubin in Modreds Brust und traf genau auf den Stein in Wyrdrunes Stirn. Ein dünner Smaragdlichtstrahl brach aus Wyrdrunes Edelstein und traf genau auf den Stein in Kiras erhobener Hand. Ein gleißendheller Saphirlichtstrahl brach aus Kiras Edelstein und traf genau auf den Rubin in Modreds Brust. Das Dreieck war errichtet. Das Zimmer um sie herum schien gegenstandslos zu werden. Es schwand dahin, und sie befanden sich plötzlich inmitten eines Ster nenfeldes, das stillstand und sich doch bewegte, sich um eine zentra le Achse drehte, deren frühere Position in Zeit und Raum von den blau, grün und rot leuchtenden Grenzlinien eines Dreiecks markiert wurde. Sie begannen zu rotieren und bildeten ein zweites Dreieck, das das erste durchschnitt, und im nächsten Moment war das Penta gramm komplett. Seine Grenzlinien gingen in Flammen auf und brannten in einem vielfarbigen Feuer. Als die Flammen erloschen, wurden ringsum die Felswände einer riesigen Höhle sichtbar. Mo dred, Kira und Wyrdrune machten innerhalb der Grenzen des Penta gramms ein paar Schritte nach vorn. In diesem Moment brach der Felssims über dem Schacht in sich zusammen, und Merlin stürzte herab… Riguzzo fühlte den kalten Felsboden unter sich, während er keu chend nach Luft rang und versuchte, sich auf Hände und Knie aufzu richten. Verschwommen sah er einen grell schimmernden Thron am entfernten Ende eines großen Zimmers mit einer hohen Decke. Ein pulsierendes Licht drang aus dem ausgemergelten Körper der Ge stalt, die sich auf dem Thron wand. Riguzzo schüttelte den Kopf, um den Blick zu klären, während er wie ein halb Ertrunkener nach Luft rang. Über ihm stand Morgan mit erhobenen Armen, und eine blaue Aura knisterte um ihre ausgestreckten Finger. Jetzt warf sie die Ar me nach vorn, und ein Blitz aus blauem Feuer brach aus den Finger spitzen, schoß quer durch den Raum und fuhr in die Gestalt auf den Thron. Den Alten umzuckte ein violettes Licht, er wurde herumge rissen und saß fast aufrecht. Einen kurzen Moment flackerten die pulsierenden Lichtstrahlen, die aus seinem Körper schossen, und wurden dann dunkler. »Merlin!« schrie Wyrdrune auf, als der alte Magier abstürzte. Er stand starr vor Schreck und wollte nicht glauben, was seine Augen
ihm zeigten. Als Morgan gegen Rashid ausholte, begann der Licht strahl im Schacht zu flackern. Wyrdrune und Kira fühlten mehr Mo dreds Stimme, als daß sie sie hörten. Jetzt! Jetzt, wo sie geschwächt sind! Strahlen thaumaturgischer Energie verbanden sie miteinander, als sie gemeinsam die Arme hoben. Die Grenzen ihres schimmernden Dreiecks dehnten sich aus, hoben sich und formten über dem Schacht eine Pyramide aus Licht. Aus der Tiefe hallten Schreie her auf, als ihre gemeinsame Kraft die Wesen in dem Schacht erdrückte. In diesem Moment… … erhob Rashid sich von seinem Thron, und seine verknöcherten Hände suchten auf den Lehnen nach Halt, als er sich gegen Morgans Kraft aufbäumte. Der Edelstein in seiner Stirn flammte auf und schoß einen sengenden Strahl weißglühender Energie auf Morgan ab. Er traf sie genau in der Brust und schleuderte sie quer durch den Raum. Sie prallte gegen die Wand, stürzte… … und Modred stöhnte vor Schmerz laut auf, griff sich an die Brust und sank zu Boden. Der Zauber brach, und die Dunklen ström ten aus dem Schacht. »Faye…«, rief Riguzzo und kam auf die Beine. »Modred!« schrie Wyrdrune. »Nein!« Kira tobte vor Wut und Enttäuschung. Ihr instinktiver Zorn ebnete Rashid den Weg, die Kontrolle über sie zu erlangen. Unfähig, ihm zu widerstehen, fuhr sie mit einem Aufschrei zu Wyr drune herum. Aus dem Saphir in ihrer ausgestreckten Hand brach ein Strahl gebündelter Energie und traf Wyrdrune in den Rücken. Riguzzo griff in seine Jacke, zog seinen Dienstrevolver und pumpte das ganze Magazin in die Gestalt auf dem Thron. Rashids Körper zuckte bei jedem Einschlag zusammen… … und Kira taumelte, als er seine Macht über sie verlor… …während Riguzzo zu dem alten Mann auf dem Thron hinüber sah und dabei immer noch die leergeschossene Waffe auf ihn gerich tet hielt. Stöhnend hob Rashid eine Hand an die blutende Brust. Mit der anderen zeigte er auf Riguzzo. Die ausgestreckten Finger zitter ten… Und plötzlich war er von einer hellen karmesinroten Aura umge ben. Er schrie laut auf, als sein weißes Haar in Flammen aufging. Seine Robe fing Feuer, seine faltige Haut warf Blasen, und der Thron unter ihm schmolz zu Schlacke. Die Hitze verzehrte Rashid, bis nur noch ein verkohltes Skelett in einer Pfütze geschmolzenen
Metalls von ihm übrigblieb. Kira kniete neben Wyrdrune und streichelte seinen Kopf in ihrem Schoß. Der Junge wand sich vor Schmerzen. »O Gott, was habe ich denn nur getan? Bist du in Ordnung? Bitte, sag mir, daß du in Ordnung bist!« »Ich denke, ich werde es überleben«, stöhnte er. »Was ist mit Modred?« »Ich weiß es nicht. Ich…« Sie sah sich suchend um. Er war nir gends zu sehen. Modred starrte auf das verkohlte Gerippe von Rashid Al’Hassan, drehte sich um und ging zu Morgan hinüber, die regungslos auf dem Marmorboden lag. Er bückte sich zu ihr und drehte sie um. Ihr Ge sicht war aschfahl und runzelig. Sie war unglaublich gealtert. Ihre Augenlider öffneten sich flatternd, und sie sah ihn an – eine uralte Frau, die in den letzten Zügen lag. »Mein Sohn.« »Mutter…« »Vergib mir…« Und damit starb sie. Er drückte ihr die Augen zu, richtete sich auf und sah auf sie hin ab. Er wünschte, die Tränen würden kommen, aber er hatte keine Tränen mehr, nicht einmal für sie. »Da ist nichts zu vergeben, Mor gana«, sagte er leise. Er drehte sich um und bemerkte Riguzzo, der noch immer die Waffe in der Hand hielt. »Sie sind ihr Sohn«, sagte er. »Ja.« Modred zog die Brauen hoch. »Und wer sind Sie?« »Detective Lieutenant Dominic Riguzzo, New York Police De partment. Sie sind verhaftet. Sie haben das Recht zu schweigen…« Modred ging auf ihn zu. Seine Schritte hallten laut in dem von Fackeln erhellten Raum wider. »Sie… Sie haben das Recht zu…« Riguzzo schluckte schwer und hob den Revolver. »Das Magazin ist leer«, sagte Modred und nahm dem Polizisten sanft die Waffe aus der Hand. Riguzzo seufzte. »Zum Teufel… was mache ich denn?« »Konvmen Sie, Detective Lieutenant Dominic Riguzzo. Ich brin ge Sie nach Hause«, sagte Modred.
EPILOG
N
ach und nach erloschen die Feuer in Moskau, und man begann die Toten zu zählen. Man würde lange brauchen, um die genaue Zahl zu ermitteln, und noch länger, um eine plausible Erklärung für die Katastrophe zu finden. Die Theorien reichten von einem ungeheuren Vulkanausbruch über einen Meteoritenhagel bis zur aus der Kontrol le geratenen Zauberformel irgendeines Regierungsmagiers. Die Re gierungen schoben sich aufgebracht gegenseitig die Schuld zu. Doch als allmählich die Hiobsbotschaften aus aller Welt eintrafen, die Nachrichten von der Tragödie in Peking, von der Unwetterkatastro phe in Südamerika, von dem Gemetzel in Washington D.C. und der Sintflut in den Vereinigten Semitischen Republiken, hörten die Schuldzuweisungen auf. An ihre Stelle trat Furcht – und Erleichte rung, daß offenbar etwas weit Schlimmeres abgewendet worden war, obwohl niemand genau wußte, was es gewesen war, wodurch es begonnen und was es zum Schluß aufgehalten hatte. Man war sich nur sicher, daß dabei Magie im Spiel gewesen sein mußte. Und als die Bewohner der Hawaii-Inseln zwei unglaublich riesige, schwin genförmige Wolken über sich hinwegtreiben sahen, aus denen ein Ascheregen auf die See herniederging, glaubten einige, Schreie wie von verwundeten wilden Tieren zu hören, und alte Ängste wurden
wieder wach. In einem kleinen Apartment in der East 4th Street lag Wyrdrune auf dem Bauch in seinem Bett und stöhnte laut, während Kira die Brandwunden auf seinem Rücken verband. »Und ich sage dir noch einmal, du solltest ins Krankenhaus ge hen. Du bist schwer verletzt.« »Ich komme schon wieder in Ordnung. Kein Hospital!« Als sie fertig war, setzte er sich langsam auf und stöhnte vor Schmerz. »Das muß doch höllisch wehtun.« Kira sah ihn besorgt an. Sie fühlte sich schrecklich, weil sie an seiner Verwundung schuld war. »Es beißt etwas«, brummte er und schlüpfte vorsichtig in seinen Bademantel. »Aber ich habe keine Lust, einem Arzt zu erklären, was passiert ist.« »Sei nicht albern. Wir könnten uns eine Geschichte ausdenken, die plausibel…« »Nein. Und nun Schluß damit! Mir geht’s gut. Vielen Dank.« »Wofür?« Ihre Stimme klang bedrückt. »Ich war es doch, der dir das angetan hat. Ich hätte dich beinahe zum zweiten Mal umge bracht.« »Rashid hätte mich beide Male fast getötet, nicht du. Und Rashid ist tot. Du brauchst dir seinetwegen keine Sorgen mehr zu machen.« Er seufzte. »Aber es ist noch nicht vorbei. Wir vier – Merlin, Mo dred, du und ich – haben einige von ihnen erledigen können, aber ein paar sind uns entwischt. Deshalb will ich auch nicht ins Kranken haus. Wir müssen sie finden und die Sache zu Ende bringen.« »Vergiß es. In der nächfiten Zeit wirst du nirgends hingehen. Du wirst schön hierbleiben, die Hühnersuppe vom Besen essen und mich deine Verbände wechseln lassen, bis dein Rücken geheilt ist. Ich bleibe bei dir und kümmere mich um dich. Und das ist mein letztes Wort.« Hör auf sie. Von irgendwoher drang Modreds Stimme zu ihnen. Sie hat recht. Wir haben sie schwer angeschlagen, und sie sind ge flohen, um sich irgendwo zu verkriechen und ihre Wunden zu lecken. Solange wir am Leben bleiben, werden sie nie mehr so stark sein wie zuvor. Sie sind verletzlich. Wir werden sie finden – oder sie uns, wenn sie wieder in der Lage dazu sind. »Wo bist du?« fragte Wyrdrune laut. Ich werde da sein, wenn du mich brauchst, Hexenmeister. Aber jetzt iß deine Hühnersuppe.
Modred zündete sich eine Zigarette an und beobachtete am Fen ster seines Hotelzimmers, wie die Sonne über der Stadt aufging. Er sah zum Village hinüber, in Richtung der East 4th Street, und lächel te. Er war der letzte Überlebende aus der Ära von Camelot, aber er war nicht länger mehr allein. Er wandte sich vom Fenster ab, ging zum Telefon, wählte die Nummer des Zimmerservice und bestellte sich ein opulentes Frühstück. »Wo, zum Teufel, bist du gewesen?« fragte Cleary, als Riguzzo in den Mannschaftsraum des Reviers schlurfte und sich in den Sessel hinter seinem Schreibtisch fallen Heß. »Morgen, Al«, brummte Riguzzo zerstreut. »Morgen, Al?« äffte Cleary ihn nach. »Was soll das heißen – Morgen, Al? Wo, zur Hölle, hast du gesteckt? Wo ist Faye? Ihr seid nie im Krankenhaus angekommen. Ich wußte nicht, was ich davon halten sollte. Ich war die ganze Nacht wach und habe mir den Kopf zerbrochen, wohin ihr verschwunden seid. Hast du eine Ahnung, was da passiert ist? Jesus, sieh dich doch mal an! Du bist ja halbtot. Was war los, verdammt?« »Ich weiß es nicht«, sagte Riguzzo und schüttelte den Kopf. »Was meinst du damit – du weißt es nicht?« »Ich will damit sagen, daß ich es nicht weiß! Ich erinnere mich an nichts – nicht mal an die geringste Kleinigkeit. Hast du ’ne Zigarette für mich?« »Eine – was?« »Eine Zigarette.« »Du willst rauchen?« »Ich denke schon.« Cleary nahm ein Päckchen aus der Tasche und warf es auf Riguz zos Schreibtisch. »Dom, ist alles in Ordnung mit dir?« »Yeah.« Riguzzo zündete die Zigarette an, inhalierte den Rauch und hustete. Dann griff er unter die Jacke und holte den Revolver hervor. »Offenbar habe ich geschossen«, meinte er unbestimmt. »Nur erinnere ich mich nicht daran.« Er runzelte die Stirn. »Schätze, ich muß einen Bericht schreiben. Nur habe ich keinen blassen Schimmer, was ich da reinschreiben soll.« »Faye, Dom – was ist mit Faye passiert?« »Faye?« »Jesus, Dom, erzähl mir nicht, du hättest auch alles über sie ver gessen.« Riguzzo starrte ihn verständnislos an.
Cleary kam um den Schreibtisch herum. »Dom, erinnerst du dich denn wirklich an nichts mehr?« Riguzzo sah ihn verwirrt an. »Nicht an die geringste Kleinigkeit. Und das macht mir Sorgen.« Er sah sich im Mannschaftsraum um. Alle starrten zu ihm herüber. »Das muß aber wirklich eine Nacht gewesen sein«, murmelte er.