Volker Krämer
Der Weg zur Quelle Professor Zamorra Hardcover Band 15
ZAUBERMOND VERLAG
Dem Erbfolger Rheged ap Llew...
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Volker Krämer
Der Weg zur Quelle Professor Zamorra Hardcover Band 15
ZAUBERMOND VERLAG
Dem Erbfolger Rheged ap Llewellyn stehen schwere Zeiten bevor. Er muss seine Aufgabe erfüllen, doch diesmal entrinnt ihm die Kontrolle … Die Dämonen wollen an einen Ort vordringen, den sie noch nie zuvor betraten, und sie planen Ungeheuerliches … Für Arthur und seinen Freund Eckehardt beginnt eine schicksalhafte Odyssee, als nach einem Mordanschlag eine geheimnisvolle Frau auftaucht. Sie spüren, dass mit ihr etwas nicht stimmt. Und während Arthur schon bald eine schreckliche Bestätigung für seinen Verdacht erhält, hört Eckehardt bereits die Stimme seines Feindes … Bald treffen alle aufeinander, und niemand weiß, wer Freund und wer Feind ist. Doch eins ist sicher: nichts ist so, wie es zu sein scheint. Das Schicksal nimmt seinen Lauf – an der Quelle des Lebens.
Vorwort Dieser Roman, der Fünfzehnte der Zamorra-Hardcover-Serie des Zaubermond-Verlags, beschreibt ein wichtiges Kapitel der Vergangenheit meiner Figur Andrew Millings, die in den aktuellen Heftromanen der Professor Zamorra-Heftserie des Bastei-Verlags für Aufregung sorgt. Obwohl dieses Hardcover – wie immer – auch ohne die Hintergründe der Heftserie gelesen und verstanden werden kann, möchte ich doch einige kurze Anmerkungen vorwegschicken. In Heft 802 »Besuch aus der Hölle« taucht jener Millings das erste Mal auf – nach und nach erfahren wir mehr über ihn, und am Ende erfahren Zamorra und Nicole die für sie kaum fassbare Wahrheit: Millings hat, wie sie selbst, einst von der Quelle des Lebens getrunken und dadurch relative Unsterblichkeit erlangt. Nur hat Millings diesen Weg ungleich früher angetreten – vor Hunderten von Jahren. Heft 805 »Der Echsenvampir« schildert das erneute Aufeinandertreffen unserer Helden mit Millings, der ihnen von dem zweiten großen Wendepunkt seines Lebens berichtet. Nach langer Zeit der erfolgreichen Dämonenjagd wurde Andrew Millings' (der sich damals natürlich nicht Millings, sondern Arthur nannte, der Name, unter dem wir ihm auch in diesem Buch begegnen) Freundin und Geliebte von einem Dämon auf hinterlistige und grausame Weise getötet. Arthur beschloss damals, im Jahr 1465, sich aus dem Kampf gegen die Dämonen zurückzuziehen. Da er vermutete – was aber nie bestätigt wurde –, dass dies von übergeordneten Instanzen schlicht nicht erlaubt sei, bediente er sich dazu eines Tricks und wurde jahrhundertelang für tot gehalten … eben genau bis zum Heft 802 und unserer Gegenwart, sozusagen. Die Heftserie wird das weitere Schicksal Millings' klären und Zamorra unter anderem mit seiner eigenen unerledigten Vergangenheit konfrontieren. Das Hardcover »Der Weg zur Quelle« ist wiederum ein reiner Ver-
gangenheitsroman aus der Zeit des hohen Mittelalters, in dem wir unserem Professor nicht begegnen werden – aber anderen (im doppelten Sinne) alten Bekannten und Elementen der Heftserie. Zwei solche Bekannte führen gleich zu Anfang im Prolog ein schicksalhaftes Gespräch … zumindest kennen wir einen von ihnen – und den anderen in zwei seiner späteren Inkarnationen. Christian Montillon, Wattenheim, im März 2005
»In kosmischen Zeitmaßstäben gesehen, währt das Leben eines Menschen eine Millisekunde, und selbst die Dauer der gesamten menschlichen Existenz beträgt unter diesen Aspekten nicht mehr als einige Augenblicke.« William Voltz: Vorwort zum Perry Rhodan Silberband 1 »Die Dritte Macht«
Prolog »Die Welt ist im Wandel. Ich spüre es im Wasser, ich spüre es in der Erde. Ich rieche es in der Luft. Vieles, was jetzt ist, wird verloren gehen, wenn niemand mehr lebt, der sich erinnert.« Der Erbfolger offenbarte sich mit diesen Worten zum ersten Mal seit langem einem anderen. Sein Gegenüber war mehr als nur vertrauenswürdig, sonst hätte der Erbfolger geschwiegen. So, wie er fast immer schweigen musste, gerade seitdem er sich wieder erinnerte. »Eine neue Zeit wird anbrechen«, stimmte der andere zu. »Bald.« Nachdenklich schüttelte der Magier den Kopf. »Selbst ich wurde von den Zeichen der Zeit überrascht. Vor zweihundert Jahren rechnete alle Welt damit, dass zur Jahrtausendwende das Ende kommt, auf dass alles neu wird. Die Menschheit stand Kopf, überall predigten sie die Apokalypse.« Ein schmales Lächeln legte sich auf die Züge des alten Ewigjungen. »Die Vergangenheit hat eine große Bedeutung«, stimmte der Erbfolger zu, als seien zeitliche Maßstäbe wie der eben genannte etwas völlig Normales. Und das waren sie ja auch – aus der Sicht der beiden Unsterblichen. Zwar war ihre Art der Unsterblichkeit eine völlig unterschiedliche, doch das Ergebnis glich einander: ewiges Leben. Ob man es durch eine geheimnisvolle Magie erlangte, die forderte, dass man stets zu genau dem richtigen Zeitpunkt starb und in seinem eigenen Sohn wiedergeboren wurde – oder ob man ein mysteriöses Wesen war, dessen Ursprünge im Dunkel der Zeit (und der Hölle) verborgen waren … das spielte keine große Rolle. »Das Heute ist jedoch nicht minder interessant«, fuhr der Magier fort. »Überall breitet sich Aufbruchsstimmung aus, als wollten die Menschen kopfüber in ihre Zukunft springen.« »Sie vergessen, wie wichtig ihre Wurzeln sind. Ihr gesamtes geistiges und kulturelles Erbe wird schon bald im Dunkel der Zeiten verschwinden, weil es niemand für sie bewahrt!«
»Ich bin zu demselben Schluss gekommen, mein Freund. Doch auch für mich stehen Veränderungen an. Vielleicht das vorläufige Ende meiner Aufgabe, zumindest eines großen Teils davon.« »Du meinst …« »Die Tafelrunde.« Merlin sezierte sein Gegenüber mit einem eindringlichen Blick, und er konnte die Aufregung, die ihn ergriffen hatte, nicht verbergen. »Die zweite Tafelrunde … sie wird schon bald entstehen.« »Wer wird sie führen?« Llewellyn verschränkte seine Hände ineinander. »Er ist noch nicht geboren, doch die Tafelrunde ist meine Hoffnung, die Hölle selbst zu vernichten.« »Wann?« »Noch fünfzig Jahre, noch hundert – wer weiß?« »Also ändert sich vielleicht noch wesentlich mehr, als ich bislang annahm«, murmelte der Erbfolger nachdenklich. »Wir sollten nicht weiter darüber sprechen. Noch nicht, mein Freund. Die Zeit wird kommen, aber hier und heute habe ich dich aus anderen Gründen zu mir gerufen.« »Sprich.« Enttäuschung schwang in diesem einen Wort. »Du wirst noch etwas anderes bemerkt haben.« Llewellyn nickte. »Auch für mich ist die Zeit reif. Es ist wieder einmal so weit, früher als in meinen früheren Existenzen. Kaum habe ich mich an die Aufgabe meiner unsterblichen Existenz erinnert, werde ich handeln müssen.« »Du weißt, wer der Auserwählte ist?« »Derjenige, den du sogar einmal für einen möglichen Führer der Tafelrunde gehalten hast.« »Einen kurzen Moment lang«, wehrte Merlin hastig ab. »Doch seine Bestimmung liegt nun klar vor mir, und sie berührt die Tafelrunde nur am Rande. Sein Schicksal ist ein anderes.« »Arthur …« Der Name schwebte einige Sekunden in der Stille. »Du solltest rasch handeln.« »Du hast Recht. Ich würde ihn sofort zur Quelle des Lebens führen. Nur …«
»Es gibt ein Problem?« »Ich darf es noch nicht. Die Gesetzmäßigkeiten der Quelle zwingen mich abzuwarten.« Llewellyn seufzte. »Ich bin froh, dass wir zusammengekommen sind, denn ich benötige deinen Rat.« »Sprich, Erbfolger!« Merlins Stimme war von tiefer Ernsthaftigkeit geprägt, und Llewellyn fragte sich unwillkürlich, ob der Magier bereits Bescheid wusste. »Arthur ist nicht der einzige Auserwählte«, offenbarte er. Merlins Gesicht verzog sich schmerzlich.
1. – Joch »Irgendwie fühlte er, dass dies alles erst ein Anfang war. Es gab ein Geheimnis in seinem Leben, das er selbst noch nicht ausloten konnte.« Dan Shocker: »Der Monster-Macher«, Macabros 1
1220, in der Markgrafschaft Meißen Dunkles Dämonenblut verschmierte die Klinge. Auf der einzigen Stelle, an der das glänzende Metall der Waffe noch frei lag, brach sich glitzernd ein Sonnenstrahl. Arthur wertete es als ein Zeichen der Hoffnung, und wenn er im Augenblick etwas benötigte, dann war es genau das. Hoffnung – und Mut; die Kraft, weiterzukämpfen, sich nicht aufzugeben, sondern seinen Gegner zur Strecke zu bringen. Eine Klaue zuckte auf ihn zu, und die winzige Ablenkung, der kurze Moment der Achtlosigkeit, die der spiegelnde Effekt verursacht hatte, rächte sich. Das Monstrum erwischte Arthur an der Brust. Die Krallen zerfetzten sein Kettenhemd, als bestehe es aus Sackleinen. Arthurs Haut riss auf, und nur die Tatsache, dass sein dämonischer Gegner bereits stark geschwächt war, rettete sein Leben. Denn sosehr die Wunde auch schmerzte, sie blieb oberflächlich. Aber die Verletzung stachelte Arthurs Wut an. Er spie auf den Dämon, ließ sich von der Drohgebärde des ihn um Haupteslänge über-
ragenden Höllenwesens nicht einschüchtern. Er schenkte den vier rot glühenden Augen keine Beachtung, ignorierte die gewaltigen Zähne und die den gepanzerten Schwanz überziehenden Widerhaken, ließ nicht zu, dass die geifernden Mäuler ihn von seinem Ziel abbrachten. Arthur sprang zur Seite, gelangte in den Rücken der Bestie, hob das Schwert und rammte es in den fleischigen Nacken seines Gegners. Schwarzes Blut quoll aus der Wunde, der Dämon schrie seinen Schmerz heraus, ein unheimlicher toter Laut. Ein Vogelschwarm flatterte fluchtartig aus der Krone eines nahe stehenden Baumes auf, und in der Ferne antwortete das Heulen eines Wolfes auf den höllischen Schrei. Doch der Dämonenjäger wusste, dass er den Sieg noch nicht errungen hatte. Sein Gegner mochte geschwächt sein, doch er war noch nicht am Ende. Ein doppelt armdicker Schwanz zischte auf Arthur zu. Er zog das Schwert aus dem Hals der Kreatur und rollte sich über die Schulter nach hinten ab. Der Schwanz der Bestie peitschte in den Staub, genau an der Stelle, an der sich vor einer halben Sekunde noch Arthurs Kopf befunden hatte. Die mörderischen Widerhaken bohrten sich in den Boden. Eine Staubwolke stob in die Höhe, und Schmutz drang in Arthurs Augen. Sofort schossen ihm Tränen in die Augen. Er konnte seine Umgebung nur noch verschwommen wahrnehmen. Das Monstrum fuhr geifernd herum und verlor dabei einen Schwall seines stinkenden Blutes. Arthur blinzelte mehrfach, und seine Sicht klärte sich. »Du hast keine … Möglichkeit zu entkommen.« Es schien verrückt, die Bestie in der menschlichen Sprache reden zu hören. Diese Mäuler waren nicht dafür geschaffen, sinnvolle Worte zu artikulieren. Dieses Etwas, das nur einen Kopf, aber zwei Mäuler hatte, war ohnehin zu irreal, um ihm auch noch die Fähigkeit des Sprechens zubilligen zu wollen. »So spricht der in die Enge gedrängte, feige Dämon!«, schrie Arthur zurück. Es erschreckte ihn selbst, wie laut er antwortete – er musste vorsichtig sein und seine Emotionen unter Kontrolle bekommen. »So spricht der, dessen Diener bereits nahe sind«, widersprach das
Monstrum. »Selbst wenn ich nicht dazu fähig sein sollte, dich zu vernichten, so hast du ihrer Übermacht nichts entgegenzusetzen!« »Du willst dein erbärmliches Leben also mit einem Tausch retten?« »Mein Leben gegen das deine.« Die Kreatur sank in sich zusammen, wirkte in dieser Haltung deutlich weniger Furcht erregend. »Ziehe dich zurück, und meine Diener werden dich unbehelligt lassen.« Beide Mäuler bewegten sich synchron. »Ich verhandle nicht mit höllischem Abschaum!« »Dreh dich um«, forderte das Monster. »Es bleiben nur Sekunden, bis sie hier sind.« Eine Gänsehaut kroch über Arthurs Rücken. Er spürte das Nahen der Gefahr beinahe körperlich. »Lüge!«, spuckte er dem Dämon entgegen. »Dann stirbst du eben.« »Nicht, ohne dich mitzunehmen!« Die letzte Silbe war noch nicht verhallt, als der Schwanz des Dämons erneut heranzuckte. Eisenharte Spitzen, tödliche Waffen, rasten Arthur entgegen. Er entging dem heimtückischen Angriff nur, weil er sich zu Boden warf. Gleichzeitig riss er sein Schwert hoch. Der Aufprall riss ihm die Waffe aus den Händen. Arthurs Herz setzte einen Schlag aus. Das Schwert schlug einige Meter entfernt zu Boden. Das erneute Brüllen des Dämons zeigte ihm, dass seine Aktion nicht umsonst gewesen war. Der Schwanz war dem Höllischen zur Hälfte abgetrennt worden. Nicht weit entfernt wand sich das abgeschlagene Stück wie eine Schlange auf dem Boden. Arthur nutzte die sich bietende Gelegenheit, sprang auf und hastete zu seiner Waffe. Als er herumwirbelte, um seinem Gegner endgültig den Garaus zu machen, krampfte sich sein Magen zusammen. Der Dämon hatte nicht geblufft. Seine Diener näherten sich geschlossen in einer Reihe. Mindestens dreißig der unter dem Bann der Höllenkreatur stehenden Menschen kamen unaufhaltsam näher. In ihren Händen hielten sie Äxte, Sicheln, Messer … »Dein Ende ist gekommen«, ertönte es aus den Mäulern des Monstrums.
In der Tat schien es keinen Ausweg zu geben. Arthur loderte hundertfach Mordlust entgegen. Blind vor Entsetzen sprang er auf den hornschuppigen Rücken des Dämons, holte aus und schlug ihm den Kopf ab. Die Mäuler schrien noch, als der Monsterschädel auf den Boden schlug und auf die fassungslosen Besessenen zurollte. »Töten!«, drang ein letztes verständliches Wort aus den Schlünden. Wenigstens diesen Gegner hatte Arthur noch besiegt. Ein Höllenmonster weniger, das seine Opfer unter den Lebenden suchte. Und wenn nun die Zeit zu sterben gekommen war, blieb Arthur nichts anderes übrig, als sein Schicksal zu akzeptieren. Er hatte ein erfolgreiches Leben geführt, hatte seit Dutzenden von Jahren die Dämonenbrut dezimiert – hatte länger gelebt als alle anderen Menschen, ohne zu wissen, warum er langlebig war. »Euer Meister ist tot!«, rief Arthur den Besessenen entgegen, während der Dämon – wie zum Beweis seiner Worte – zu Staub zerfiel. Auch das Blut, das in weitem Umkreis geflossen war, verlor seine schwarze Färbung, wurde in Sekundenschnelle grau und zu Staub. Arthurs Worte beeindruckten seine Gegner nicht. Sie hoben ihre Waffen, als sie sich ihm bis auf wenige Schritte genähert hatten. Vielstimmige Schreie drangen ihm entgegen, Hass und die unabänderliche Entschlossenheit, den letzten Willen ihres Meisters zu erfüllen. Töten! Arthur hatte nicht die geringste Chance zu entkommen, er schloss mit seinem Leben ab. Doch dann änderte sich der Ausdruck in den Augen der Besessenen. Unverständnis spiegelte sich darin wider, als sie sich verblüfft umsahen. Einige Hände zuckten in die Höhe, pressten sich gegen Augen. Verwirrte Rufe wurden laut. Mit dem Tod des Dämons verschwand auch seine unheilvolle Macht über die Menschen, die zum ersten Mal seit Jahren wieder frei waren.
Die fassungslosen Männer und Frauen starrten mit großen Augen auf die Waffen in ihren Händen.
»Der Dämon ist tot!«, rief eine langhaarige blonde Frau, deren Stimme sich überschlug, und die danach hysterisch zu schreien begann. Sie ließ das Fleischermesser in ihren Händen so ungeschickt fallen, dass es ihr eine blutende Wunde am rechten Oberschenkel zufügte. Ihre Worte waren der Auslöser für ein heilloses Stimmengewirr, ein Babel aus Fragen, Rufen, Schreien, Entsetzen. Während die ehemaligen Höllensklaven um Arthur herum erkannten, dass sie frei waren, drängte sich der Dämonenjäger durch sie hindurch. Niemand setzte ihm Widerstand entgegen. Arthur atmete erleichtert aus, als er die Meute hinter sich gelassen hatte. Er musste weg von hier, rasch – diese Menschen waren seit Jahren im Würgegriff des Dämons gewesen. Nun war das Joch so plötzlich von ihnen genommen, dass sie verwirrt waren, führerlos und hilflos wie kleine Kinder. Bis in ihre Dorfgemeinschaft wieder Struktur und Ordnung einkehrte, würde Zeit vergehen. Unter ihnen war ein Machtvakuum entstanden, und Arthurs Erfahrung lehrte ihn, dass einige versuchen würden, diesen Zustand auszunutzen, um selbst Einfluss zu gewinnen. Damit wollte er nichts zu tun haben – die weltlichen Streitereien und Intrigenspiele gingen ihn nichts an. Er hatte das Dorf und die Welt von einem grausamen Dämon befreit; damit sah er seine Aufgabe als erledigt an. Ehe irgendjemand die Geistesgegenwart fand, ihn anzusprechen, verschwand Arthur im Wald. Er verfiel in leichten Trab, und erst als er um sich herum nichts weiter als die Geräusche der Natur hörte, erlaubte er sich, stehen zu bleiben. Zum ersten Mal fand er Zeit und Gelegenheit, seine Brustwunde in näheren Augenschein zu nehmen. Er zog das zerfetzte Kettenhemd zur Seite und sog zischend die Luft ein, als er dabei die Wundränder berührte. Seine Brust schien plötzlich in Flammen zu stehen. Ihm wurde klar, dass er nur auf Grund des Kampfrausches und der angespannten Situation schlicht keine Zeit gefunden hatte, Schmerzen zu empfinden … Er lehnte sich mit dem Rücken gegen einen dicken Baumstamm. Sein Herz schlug heftig, und er fühlte sich müde, unendlich müde.
Ganz in der Nähe wartete sein Pferd auf ihn. Bis dahin mussten seine Kräfte reichen; danach lag noch ein etwa einstündiger Ritt vor ihm, der ihn in sein Domizil im nahe gelegenen Dresden bringen würde. In weiser Voraussicht hatte er sich dort bereits nach einem guten Medicus erkundigt. Als er wenig später auf dem Rücken des Pferdes saß, fragte er sich zum hundertsten Mal, wie lange er ein solches Leben noch durchhalten konnte. Ständig unterwegs, kein Heim, ständig im Kampf gegen die Mächte der Finsternis … Arthur war müde. Unendlich müde. Das Pferd trabte ruhig voran, doch jeder noch so kleine Stoß schmerzte in seiner Brust. Die Augen drohten ihm zuzufallen, ein leichter Wind wehte um seinen Kopf, und seine Gedanken gingen auf die Reise in die Vergangenheit. Als alles angefangen hatte. Als Arthur zum ersten Mal auf einen Dämon getroffen war. Die damaligen Ereignisse glichen den letzten Minuten des Grauens. Damals – im Jahre des Herrn 1120 … Vor fast einhundert Jahren …
1120, in einem Dorf, dessen Name schon wenig später für immer im Dunkel des Vergessens verschwinden sollte, im Herzogtum Schwaben Arthur schwindelte vor Müdigkeit. Außerdem schmerzte sein Kopf – der letzte Krug Wein war eindeutig zu viel gewesen. Oder, wenn er genau darüber nachdachte, bereits der vorletzte. Er blieb stehen, stellte den Kerzenständer neben sich ab und lehnte sich gegen die nackte Wand, die den Kellerraum umschloss. Die Kälte, die von den großen Steinblocken ausging, breitete sich über den Rücken in seinem ganzen Körper aus. Ein Frösteln überlief ihn,
das seine Lebensgeister und die letzten in ihm verborgenen Kräfte weckte. Er drehte sich halb um und drückte seine Stirn gegen die Wand. Die Eiseskälte vertrieb den Alkoholnebel und klärte seine Sinne ein wenig. »Verdammt noch eins!«, murmelte er und lachte leise, obwohl niemand ihn hören konnte. »Was will ich eigentlich hier unten?« Er konnte sich nicht mehr erinnern … er wusste nur eins: Oben wartete Mechthild auf ihn. Die Wunderbare. Die Einzigartige. Zumindest waren ihre Brüste einzigartig. An sonstige herausragende Details hatte Arthur keine Erinnerung. Wahrscheinlich hatte er bisher keine Gelegenheit bekommen, sie auszukundschaften … oder doch? Seit er Mechthild irgendwann am frühen Abend – vor drei Stunden? Oder vor fünf? Vor zehn? – in dem Wirtshaus des fetten Lamprecht getroffen hatte, waren sie nicht dazu gekommen, gegenseitig ihren Charakter zu erforschen … Denn was immer man über Lamprecht sagen mochte, er war nicht nur fett, sondern verstand auch seine Pflicht als Gastwirt. Er sorgte stets für gut gelaunte Gäste, zumindest solange der Rubel rollte. Und bei Arthur, das wusste das ganze Dorf, spielte Geld keine Rolle. Er besaß mehr davon, als er je in Wirtshäusern durchbringen konnte. Sein Vater hatte ihm nicht nur dieses Haus inmitten des Dorfes vererbt, sondern auch das Familienvermögen, das seit drei Generationen ständig zunahm. Lamprecht hatte sich an diesem Abend eine goldene Nase verdient. Arthur war in spendable Laune geraten, nachdem er Mechthild erblickt hatte. Schon lange hatte er ein Auge auf die äußerst adrette Tochter des Wirts geworfen, die von ihrem Vater allerdings unter strenger Obhut gehalten wurde. Genau genommen war Lamprecht nicht nur fett und ein guter Gastwirt, sondern auch ein penibler Zuchtmeister seiner Tochter, die gottlob äußerlich nichts von ihrem Erzeuger geerbt hatte. Sie verkörperte genau das, wovon jeder Unverheiratete – und wahrscheinlich auch die meisten anderen Männer im Dorf träumte. Ein Weib, wie man es sich nur wünschen konnte. Groß, schlank, aber an keiner Stelle dürr … breite Hüften, große, bei jedem Atem-
zug in dem eng geschnürten Mieder wogende Brüste … die braunen Haare fielen weit über die anmutigen Schultern … ihre Augen waren hell und klar wie ein Bergsee, den die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne trafen … und die Art ihrer Bewegungen trieb Arthur schon lange an den Rand des Wahnsinns und in mehr als eine schlaflose Nacht. Heute, am Tag nach ihrem einundzwanzigsten Geburtstag, hatte sie ihrem Vater ein Schnippchen geschlagen und war Arthur kokett lächelnd aus der Wirtsstube und in sein Haus gefolgt. Das war noch nicht lange her, vielleicht eine oder zwei Stunden. Oder doch drei? Jedenfalls hatte die Zeit gereicht, sämtliche Weinvorräte zu vernichten, die Arthur oben im Haus gehabt hatte. Und genau darum bin ich die Treppe in den Keller hinabgetorkelt, erinnerte er sich. Die Weinvorräte … Er löste die Stirn von der Wand und strich mit der Hand über die leicht schmerzende Haut. Eine Unebenheit des Steins hatte dort einen tiefen Abdruck hinterlassen. Dann fuhr er sich durch die blonden Haare. Er nahm den Kerzenständer wieder auf und hielt ihn vor sich, genau darauf achtend, dass die beiden breiten Kerzen nicht verlöschten. Als Arthur in den hinteren Raum des Kellers ging, fiel ihm ein eigenartiger Geruch auf. Ein durchdringender Gestank, der gar nicht zu dem leicht harzignussigen Aroma passen wollte, das hier normalerweise von den lagernden Weinfässern und Nahrungsmitteln verströmt wurde. Es war eher süßlich. Und Ekel erregend wie … Arthur zuckte zusammen. Wie Blut! Blut, vermischt mit dem Geruch, den er seit seiner Kindheit nie vergessen hatte, seit dem Moment, als er in eine Höhle in den Wäldern eingedrungen war und dort einige verendete Rehe vorgefunden hatte. Vor langer Zeit verendete Rehe … Doch wie sollte ein Tierkadaver hierher in seinen Keller gelangen? Der Gedanke war absurd. Vollkommen lächerlich und … Es war kein Tierkadaver. Doch Arthurs Überlegungen waren nicht völlig falsch. Es handelte sich durchaus um ein ehemals lebendiges Wesen.
Allerdings um einen Menschen. Eine Leiche? Nein, dieses Wort erschien Arthur angesichts dessen, was er sehen musste, unangebracht. Es waren … Überreste. In der Tat ein Kadaver. Der Anblick vertrieb mit einem Schlag sämtliche Benommenheit aus Arthurs Kopf. Was er vor sich im flackernden Licht der Kerzen sah, war zu viel für seinen Magen. Arthur drehte sich um und übergab sich würgend in die Ecke des Kellerraums. Das Etwas war blutüberströmt, und es war nicht vollständig. Ganze Fleischfetzen waren aus ihm herausgerissen, teilweise lagen die Knochen an Armen und Beinen frei, als sei das bedauernswerte Opfer einem wilden Tier in die Fänge geraten. Doch das bezweifelte Arthur. Es war Jahre her, seit zuletzt Wölfe in der Gegend gesichtet worden waren. Außerdem – wann griffen Wölfe schon einmal Menschen an? Und wie, bei der heiligen Jungfrau, sollte das Opfer ausgerechnet in meinen Keller geraten? Als Arthur sich wieder aufrichtete, wanderte sein Blick beinahe zwanghaft zurück zu dem grauenhaften Fund. Genau das war doch die entscheidende Frage: Wieso lag dieses Opfer eines Wahnsinnigen in seinem Keller? Das Gesicht war weitgehend von Entstellungen verschont geblieben. Da der Kopf verdreht war und Arthur von seinem Standort aus auf den Hinterkopf des Toten starrte, nahm er dieses Detail erst nach einigen Momenten des nackten Entsetzens wahr. Zitternd schob sich seine Hand nach vorn, schritten seine Füße die entscheidenden Meter voran. Der Gestank wurde schlimmer, noch schlimmer, und Arthur versuchte die Luft anzuhalten. Dann sah er das tote Gesicht. Der Anblick war schlimmer als alles andere. Schlimmer, als wenn das Gesicht wie der restliche Körper ein blutiges, unkenntliches Etwas gewesen wäre. Fassungslos vor Grauen starrte Arthur in das Antlitz seines Dieners Konrad.
Arthur rannte fluchtartig die Treppe nach oben und warf die schwere Tür zum Keller hinter sich zu. Er stützte sich mit beiden Händen an der Wand ab und atmete mehrfach tief durch. Ganz ruhig, Arthur … die Nerven behalten … Was sollte er tun? Er konnte den schrecklichen Fund nicht ignorieren. Konrad hatte ein Weib und mehrere Kinder – sie hatten ein Recht darauf, zu erfahren, was dem Familienoberhaupt zugestoßen war. Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als Mechthild sich ihm kichernd näherte. »Nicht fündig geworden?«, fragte sie enttäuscht, als sie seine leeren Hände sah. »Man erzählt sich, deine Vorräte wären unerschöpflich. Größer als die meines Vaters, so unwahrscheinlich dies auch sein mag!« Sie schob ihr Becken nach vorn. »Übrigens ist das nicht das Einzige, das man sich von dir erzählt.« »Ich …«, begann Arthur schwach. Für erotische Spielchen hatte er nach dem, was er gerade entdeckt hatte, keinen Gedanken mehr übrig. »Egal«, sagte Mechthild, trat näher an ihn heran und legte beide Hände auf seine breiten Schultern. »Ich habe ohnehin genug.« Ein erneutes Kichern. »Vom Wein zumindest.« Ihre Hände fuhren an seinen muskulösen Oberarmen herab. »Nicht«, wehrte Arthur ab, fasste ihre Hände und schob sie von sich weg. Enttäuscht sah sie ihm in die eisgrauen Augen. »Was ist?« Als er nicht antwortete, fügte sie hinzu: »Irgendetwas stimmt doch mit dir nicht.« »Ich – ich bin nicht in Stimmung. Geh nach Hause!«, forderte er grob. »Was war da unten los? Vorhin hast du noch ganz anders geredet!« Aus ihrer Stimme und ihrer ganzen Körperhaltung war das Unsichere, Beschwipste restlos verschwunden. Sie stand sicher und wirkte vollständig nüchtern und gefasst. Arthur fragte sich unwillkürlich, ob sie vorher nur geschauspielert hatte. Wenn ja, dann war sie sehr gut darin. »Was soll in meinem Keller schon …« »Verkauf mich nicht für dumm!«, begehrte sie auf. »Du wolltest
mich haben, und du wirst deine Meinung nicht ohne Grund geändert haben!« »Nichts, es ist nichts!« »Dann wirst du sicher auch nichts dagegen haben, wenn ich selbst nach unten gehe, um nachzuschauen, ob auch wirklich alles in Ordnung ist!« Mit unerschütterlichem Selbstbewusstsein riss Mechthild die Tür neben Arthur auf. Noch ehe sie den ersten Fuß auf die Treppe setzen konnte, packte er sie am Arm und zog sie zurück. Gleichzeitig schloss er mit der anderen Hand die Tür wieder. »Du hast in meinem Keller nichts zu suchen!« »Was könnte ich denn dort finden?«, fragte sie, seinen berechtigten Einwand ignorierend. »Nichts, was dich etwas angeht!« Ihre Hartnäckigkeit verblüffte ihn. »Der Schrecken steht dir ins Gesicht geschrieben, Arthur«, meinte sie, »und deshalb …« »Und deshalb will ich nicht, dass du in die Sache hineingezogen wirst! Die Gerichtsbarkeit zu Hofe überlegt nicht lange, wenn sie einen Schuldigen braucht.« »Die Gerichtsbarkeit?«, rief Mechthild erschrocken aus. Arthur schwieg einen Moment. Ohne nachzudenken hatte er einen Satz zu viel gesprochen und sich damit selbst in die Ecke manövriert. Mechthild würde nicht eher locker lassen, bis sie alles wusste. »In dem Keller liegt die Leiche meines Dieners Konrad«, erklärte er tonlos. Er drückte seine Handfläche an die Wand. »Leiche?« »Ich weiß nicht, wie er starb«, ergänzte er. »Du musst es dem Herzog melden.« Dieser hatte als Landesherr auch alle Rechtsgewalt inne. »Wolfger ist ein harter Mann«, widersprach Arthur. »Es ist nicht sicher, dass er nach der Gerechtigkeit fragt und den wirklichen Schuldigen sucht. Wenn er den schrecklichen Zustand der Leiche sieht, wird er dem Volk sofort einen Schuldigen präsentieren wollen.«
»Du willst es verheimlichen?« Mechthild wich erschrocken einen Schritt zurück. »Versteh doch! Dieser Schuldige werde ich sein, denn der Tote liegt nun einmal in meinem Keller!« Arthur ballte die Hände zu Fäusten. »Herzog Wolfger wird nicht lange nach dem wahren Täter suchen, sondern mich an den Galgen bringen! Es wird ein Schauspiel ohnegleichen werden. Seht ihn euch an, den entsetzlichen Mörder, den irrsinnigen Schlächter!« Ein Moment des Schweigens folgte. Beide starrten die Tür an, die in den Keller führte. Schließlich ergriff Mechthild wieder das Wort. »Du sprachst vom schrecklichen Zustand der Leiche …« »Konrad wurde nicht einfach nur ermordet.« Arthur verspürte keinerlei Lust, weitere Details preiszugeben. »Es ist am besten, wenn du nicht allzu viel darüber erfährst.« »Wir sind inzwischen Verbündete, ist dir das nicht klar? Ich weiß nun einmal von der Leiche, und was immer du zu unternehmen gedenkst, es wird dir nichts anderes übrig bleiben, als mir zu vertrauen, denn …« »Ja!«, winkte Arthur ab. »Ich vertraue dir!« Er umfasste wieder ihren Oberarm und zog sie vom Kellereingang weg, hin zu seinem Wohnraum. Je weiter sie erst einmal entfernt waren, umso unwahrscheinlicher wurde es, dass Mechthild in einer spontanen Aktion in den Keller vordrang. Den Anblick, der sie dort erwartete, wollte er ihr unter allen Umständen ersparen. Mechthild wehrte sich nicht, und so saßen sie sich kurz darauf am Tisch gegenüber. »Die Leiche sieht aus, als wäre sie von einem Rudel Wölfe zerrissen worden.« Sie sah ihn nachdenklich an. »Wölfe?« Deutliche Skepsis lag in diesem Wort, und Arthur entging nicht, dass ihre hellblauen Augen von einem plötzlichen Erschrecken verschleiert wurden. »Ich weiß, wie verrückt es klingt. Und ich glaube es ja selbst nicht, aber … was ich gesehen habe, habe ich nun einmal gesehen. Er wurde angefressen.« Mechthild verkniff die Augen zu schmalen Schlitzen und fuhr sich
mit den schlanken Händen nervös durch die langen braunen Haare. »Ich habe etwas gehört«, sagte sie schließlich. »Vor zwei Tagen, im Schankraum meines Vaters. Ich habe nicht wirklich alles verstanden, denn die Männer verstummten, sobald ich in ihre Nähe kam. Aber …« Sie versuchte ein schmales Lächeln, doch es erreichte ihre Augen nicht. »Es sieht ganz so aus, als sei die Leiche in deinem Keller nicht die erste ihrer Art.«
Mechthild verbrachte die komplette Nacht bei ihm – allerdings beschäftigten sie sich mit anderen Dingen, als Arthur erhofft und erwartet hatte. Sie suchten gemeinsam den Keller auf … Kaum öffnete er die Tür, bildete sich Arthur ein, den Geruch von Tod und Blut zu riechen, und zwar intensiver als je zuvor. Mechthild überzeugte sich mit eigenen Augen von dem Unfassbaren. Der entsetzliche Anblick der verstümmelten Leiche lähmte Arthur vor Entsetzen. Es zum zweiten Mal zu sehen, machte es noch weitaus schlimmer, denn alle geistige Vorbereitung war vergebens. Sie beschlossen, Stillschweigen über den grausigen Fund zu bewahren … Während Mechthild am nächsten Tag ihrer täglichen Arbeit in der Wirtsstube nachging, wartete Arthur unruhig ab, bis die beiden Männer, die über einen ähnlichen Leichenfund geredet hatten, die Schankstube aufsuchten. Gunter und Hadamar trafen stets zur Mittagszeit ein, um ein rustikales, einfaches Mahl zu sich zu nehmen. Gunter polterte wie immer lautstark in den Raum. Er liebte es, gesehen zu werden. Seine blasse Gesichtshaut und die weißen Haare zogen ohnehin überall Aufmerksamkeit auf sich. »Lamprecht!«, rief er und schlug gleichzeitig auf die verschrammte hölzerne Platte des Tisches, an den er sich setzte. Durch diesen Auftritt ging nahezu unter, dass Hadamar gleichzeitig eintraf. Der kleine Mann mit dem Durchschnittsgesicht setzte sich seinem Freund gegenüber. Im Gegensatz zu Gunter zog Hadamar, der Unauffällige, keinerlei Blicke auf sich. Er wirkte wie einer von Hunderten – wer ihn sah, vergaß ihn sofort wieder. Vielleicht war er deswegen bis heute alleinstehend und kinderlos.
Der Wirt eilte sofort herbei. »Das Essen wird bald fertig sein! Meine nichtsnutzige Tochter ist zu spät aus ihrem Bett gekrochen, sodass …« »Aus ihrem Bett?« Gunter lachte schmutzig. »Da erzählt man sich aber anderes!« Er schlug sich vor Vergnügen auf die Schenkel. Lamprecht schwieg und presste die Zähne zusammen. »Egal!«, fügte Gunter versöhnlich hinzu. »Erst einmal Wein! Ich habe schlecht geschlafen diese Nacht!« Der Wirt zog sich in den Nebenraum zurück. Arthur verarbeitete das Gehörte. Gunter hatte also schlecht geschlafen – das wies darauf hin, dass ihn etwas beunruhigt hatte … Verfolgte ihn eine angefressene Leiche, die er irgendwo gefunden hatte, bis in seine Träume? Mechthild schien Recht zu haben. Oder legte Arthur zu viel Bedeutung in die wenigen Worte Gunters? Mechthild hatte keinerlei Einzelheiten berichten können – ob tatsächlich Gunter die Leiche gefunden hatte oder möglicherweise Hadamar oder gar jemand aus ihrer Bekanntschaft, darüber hatte die Wirtstochter keinerlei Angaben machen können. Als Lamprecht den georderten Wein brachte, schob Arthur lautstark seinen Stuhl zurück und ging demonstrativ langsam an den Tisch der beiden unterschiedlichen Gäste. Außer ihnen befand sich niemand in der Wirtsstube. Er setzte sich unaufgefordert. »Arthur«, erwiderte Gunter. »Du hast wohl gehört, was ich zu unserem guten Wirt gesagt habe. Nimm's mir nicht übel – wer von uns hätte Mechthild nicht gern in seinem Bett? Ich gratuliere dir. Vielleicht bin ich einfach nur von Neid zerfressen!« Danach lachte er, als habe er einen besonders gelungenen Scherz gemacht. Er wollte dem Angesprochenen auf die Schulter klopfen, doch Arthur ergriff seinen Unterarm und hinderte ihn daran. »Mir ist nicht nach Verbrüderung zu Mute.« »So? War die Nacht etwa zu heiß für dich?« Wieder lachte Gunter, doch diesmal ging sein Lachen in einen Hustenanfall über. Sein Gesicht lief rot an. Hadamar nutzte die Gelegenheit, selbst das Wort zu ergreifen. »Du siehst ernst aus, Arthur.« Er strich sich über den scharfen
Rücken seiner kleinen Nase. »Mein Freund hier an meiner Seite ist auf Grund seines überfließenden Neides nicht in der Lage, dich anzusehen und sein Spatzenhirn für eine Sekunde anzustrengen.« Gunter gab ein Brummen von sich, nachdem er wieder zu Atem gekommen war, zeigte sonst jedoch keine Reaktion auf den verbalen Angriff. Die beiden waren dafür bekannt, sich Feindseligkeiten an den Kopf zu werfen. Wie sie es miteinander aushielten, war dem ganzen Dorf ein Rätsel. Doch Gunter und Hadamar hielten unzerbrechlich zusammen. Ihre tägliche gemeinsame Arbeit in der Eisenschmiede verband sie. »In der Tat beschäftigt mich etwas«, antwortete Arthur leise. »Etwas, das nicht nur mich allein umtreibt, wie ich gehört habe.« Gunters Blick bohrte sich in den Arthurs. »Was willst du damit sagen?« »Nun tu nicht so, als gäbe es da nichts, das dir den Schlaf raubt«, schoss Arthur einen Pfeil ins Ungewisse ab. »Was denn? Und was geht es dich an?«, schnauzte Gunter und verschränkte die Arme vor der Brust. Volltreffer. »Es geht mich sehr wohl etwas an. Und es geht den Herzog etwas an.« Arthurs Stimme war kalt wie Eis. Seine Drohung war leer, denn er würde sich unter keinen Umständen an den Herzog wenden – aber das brauchten die beiden nicht zu wissen. Er hoffte, genügend Überzeugungskraft in seine Worte gelegt zu haben. »Er spricht von der Leiche, Gunter«, sagte Hadamar leise. »Und wenn ich ihn mir so ansehe, dann glaub ich auch zu wissen, warum.« »Von dem Verstand deines Freundes solltest du dir eine Scheibe abschneiden.« Arthur grinste, stand auf und ging zurück zu seinem eigenen Tisch. Er fühlte die Blicke der beiden in seinem Rücken. Sein kurzer Auftritt bei ihnen hatte genau die Wirkung erzielt, die Arthur beabsichtigt hatte. Sie waren reif … »Sei nicht beleidigt und komm zurück!«, rief Gunter. »Vor uns steht Wein in ausreichender Menge für drei! Außerdem wird Lamprechts Essen auch noch für dich ausreichen!« Arthur ging innerlich triumphierend zurück zu den beiden. Er hat-
te sie intensiv genug herausgefordert. Sie würden reden und ihm in allen Details berichten, was sie erlebt hatten. »Dann lasst uns offen reden.« Hadamar sah sich im Raum um, als vergewissere er sich, dass außer ihnen drei niemand anwesend war. »Wir haben in der Schmiedewerkstatt eine Leiche gefunden.« Arthur nickte. »Ich weiß.« »Woher?«, zischte Gunter. »Wenn du einen Moment lang nachdenkst, Gunter, kannst du dir die Antwort selbst geben.« Hadamar schüttelte den Kopf. »Mechthild. Sie hat vorgestern also doch etwas gehört.« Gunter biss die Zähne zusammen und umklammerte die Kante des Tischs, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Arthur bedachte die beiden mit einem langen Blick. Der Verstand schien sehr ungleichmäßig unter ihnen verteilt zu sein. Was Hadamar äußerlich fehlen mochte, machte er innerlich mehr als wett. »Ihr habt nichts vor mir zu befürchten. Ich will nur eins wissen: Was habt ihr mit der Leiche gemacht?« »Das kommt ganz darauf an, warum du es wissen willst.« »Ich habe ebenfalls eine Leiche gefunden.« Hadamar faltete seine Hände ineinander. »Weiter.« »Sie befindet sich in einem furchtbaren Zustand.« »Nicht anders als bei uns«, presste Gunter hervor. »Sie war angefressen, nicht wahr?« Ehe Arthur antworten konnte, knarrte die Tür, die in den Raum führte, in dem Lamprecht und Mechthild das Essen kochten. Der Wirt trat ein, und das Gespräch seiner drei Gäste verstummte augenblicklich. Auf einer großen Holzplatte balancierte er das, was er unter einem Festmahl verstand. Es bestand überwiegend aus weich gekochtem Fleisch, das von undefinierbaren Beilagen umrahmt wurde. Schweigend stellte Lamprecht die Mahlzeit ab. Auf der Platte befanden sich auch drei verbeulte Blechteller, die der Wirt vor seinen Gästen drapierte. »Ich hörte, Arthur gesellt sich heute zu euch.« Da
niemand eine Antwort für nötig hielt, zog sich Lamprecht sofort wieder in den Nebenraum zurück. Arthur stieß laut die Luft aus. »Deine Vermutung entspricht der Wahrheit, Hadamar. Der Tote befand sich in einem schrecklichen Zustand. Als seien Wölfe über ihn hergefallen und …« »Wölfe?«, unterbrach Gunter. »Unfug! Es war das Werk eines Dämons!« Das verschlug Arthur die Sprache. Ein – Dämon? »Ich habe mir den Toten in unserer Schmiede ganz genau angesehen! Mehr als die Hälfte seines Fleisches war weggefressen!« Gunter ereiferte sich so sehr, dass er lauter wurde, als es der Situation angemessen war. Hadamar mahnte ihn, seine Stimme zu dämpfen. »Hast du den Toten in deinem Keller untersucht, Arthur? Hast du gesehen, dass die Bissspuren von Zähnen stammen, die in etwa menschliche Größe und Form haben? Es war kein Raubtier.« »Ich …« Arthur schluckte. »Nein, es … Ich weiß, dass Konrad nicht in die Fänge eines Wolfes oder sonstigen Raubtiers geraten ist. Ein Wahnsinniger …« »Wahnsinniger? Du glaubst also, dass ein Mensch dazu fähig wäre?« Gunter lachte humorlos auf. »Konrad?«, fragte Hadamar gleichzeitig. »Du weißt, um wen es sich bei dem Toten handelt?« »Er war mein Diener.« »Weiß noch jemand davon?« »Mechthild. Außer ihr niemand.« »Wirst du es Konrads Weib sagen?« »Es ist besser, wenn sie es nie erfahrt.« »Wir haben die Leiche verbrannt, und du solltest dasselbe tun. Ich hoffte, dass der Dämon nur durch unser Dorf gezogen ist, um dann für immer zu verschwinden. Vor zwei Tagen fraß er den Menschen, den er in unsere Werkstatt warf. Heute Nacht dann deinen Diener. Das heißt, er hält sich seit zwei Tagen hier auf. Wir sind verdammt.«
Mit Mühe würgte Arthur einige Bissen herunter. Das Gerede von Dämonen schlug ihm auf den Magen – wohl glaubte er an Gott und damit an ein mythisch Böses, aber nicht an personifizierte, über die Erde wandelnde Höllengestalten. Doch dann dachte er an den Anblick des Leichnams in seinem Keller, und Gunters Worte klangen in ihm nach. Du glaubst also, dass ein Mensch dazu fähig wäre? Wenn er ehrlich zu sich selbst war, konnte er genau das nicht glauben. Das Gespräch drehte sich im Kreis. Bald verabschiedete sich Arthur, nachdem sie sich gegenseitig Schweigen zugesichert und versprochen hatten, sich zu melden, sollten sie etwas Neues erfahren. »Das Schicksal hat uns zusammengekettet«, murmelte Hadamar zum Abschied. »Und darum nimm unseren Rat an: Verbrenn die Überreste deines Dieners!« »Ich werde es tun«, versicherte Arthur. Einen Moment lang überlegte er, Mechthild zu treffen, doch dann verließ er das Wirtshaus. Auf dem Weg überschlugen sich seine Gedanken. Ein kalter Wind ließ ihn frösteln. Der Himmel war wolkenverhangen, als würde es in den nächsten Minuten zu regnen beginnen. Die Wege waren wie ausgestorben, niemand hielt sich zu dieser Zeit freiwillig im Freien auf, nicht bei diesem Wetter. Als er sein Haus betrat, roch er sofort das Blut und den Tod. Unmöglich, dachte er und ärgerte sich über die Kraft der Einbildung. Der Geruch konnte nicht aus dem Keller bis hierher dringen. Dann sah er das Blut auf dem Boden. Eine eisige Hand presste sein Herz zusammen. Eine dünne, verwischte rote Spur führte durch den ganzen Wohnraum zur Ausgangstür. Der Türgriff an der Innenseite war blutverschmiert. Arthur schloss für eine Sekunde die Augen. Es war das Werk eines Dämons!, hörte er die Stimme Gunters in seinen Gedanken. Mit rasendem Herzen eilte Arthur der Spur nach, und genau wie er erwartet hatte, führte sie ihn direkt zum Kellereingang. Die Tür stand offen. Ihm war, als grinse ihn das hohle Maul des Teufels selbst an. Arthur lief zurück in den Wohnraum und entzündete eine
Kerze, die er auf einen bronzenen Halter steckte. Ihn nahm er mit in den Keller. Als er dann nach unten ging, überraschte ihn seine Entdeckung nicht. Die Leiche war verschwunden. Niemand hatte von ihrer Existenz gewusst. Arthurs Verstand weigerte sich zwar, die Konsequenz dessen zu erfassen, aber der Ablauf der Ereignisse und die Blutspur ließen nur einen Schluss zu: Der Tote war zu unheiligem Leben erwacht und hatte aus eigener Kraft das Haus verlassen.
Hunger Seitdem das Etwas, das früher ein Ich war, in dem dunklen Raum erst auf die Knie und dann auf die Füße gekommen ist, hat es Hunger. Es bemerkt nicht, dass es Blut verliert, wenn eine der tausend Wunden aufbricht. Es wäre ihm auch völlig gleichgültig. Mühsam, stumpf setzt es einen Fuß vor den anderen. Die Häuser des Dorfes hat es schon lange hinter sich gelassen. Die Welt, durch die es wandelt, ist hell, erfüllt von Licht. Ekelhaftem Licht. Das Etwas erinnert sich, tief verborgen und weit in sich versteckt, dass es früher das Licht als angenehm empfand. Es ignoriert diesen Gedanken, denn es hat HUNGER. Als es einen Baum sieht, an dem farbige Dinge hängen, blitzt wieder eine Erinnerung auf. Aus dem Fleisch des Armes, der sich in die Höhe streckt, ragen teilweise die Knochen. Es muss ihn weit nach oben recken, und durch die Dehnung der toten Muskeln beginnen die Ränder des noch vorhandenen Fleisches wieder zu bluten. Das Ding … der Apfel fühlt sich kalt an. Als das Etwas hineinbeißt, fühlt es Ekel. Es spuckt das widerlich wässrige Stück wieder aus. Das Etwas stapft weiter, stumm, seelenlos und den verlorenen Blick geradeaus gerichtet. Da ist etwas anderes … Etwas, das den
Hunger zu stillen vermag, aber es weiß nicht, worum es sich handelt. Noch nicht. Wenn es sieht, wird es wissen. Ein Geräusch lässt das Etwas aufmerksam werden. Ein hoher und doch dumpfer Laut, der sich mehrfach wiederholt. Bellen, blitzt es in der Erinnerung auf. Es handelt sich um Bellen. Dann springt eine vierbeinige Kreatur auf das Etwas zu. Sie gebärdet sich wie toll, bellt, knurrt, fletscht die Zähne, schlägt sie schließlich in die ohnehin zerfetzten Beine des Hungernden. Dieser kümmert sich zuerst nicht darum, doch dann fassen die toten Hände den Kopf des Hundes, wandern nach unten und umschließen die Kehle. Das Bellen verstummt, wird zu einem Winseln. Erstirbt schließlich ganz. Die Bewegungen des Tieres erlahmen. Es knirscht, als das Etwas den Kopf des Hundes zur Seite drückt. Dann kniet es sich neben den Kadaver und beißt zu. Warm. Frisch. Essbar. Nicht wie der Apfel. Besser. Erträglich. Aber nicht wirklich gut. Schon nach wenigen Augenblicken lässt das Etwas den Kadaver des Tieres liegen. Der Hunger wühlt immer noch in ihm, aber er ist nicht mehr übermächtig. Doch da muss es etwas geben, das ihn stillt. Etwas, das anders ist als der Hund. Ein Schrei ertönt, und er will gar nicht mehr enden. Vor Entsetzen geweitete Augen starren das Etwas an. Ein Mensch. Eine Frau. Das ist es, erkennt das Etwas. Das ist es. Es hastet voran, auf die panische Frau zu, die eine ihrer Hände an die Brust hebt, während sie weiterhin schreit. Sie schreit nicht mehr lange. Der Hunger verschwindet völlig. Vorerst.
Arthur blickte Mechthild mit versteinertem Gesicht an. Sie befanden sich in Arthurs Haus. Er hatte die Blutspuren inzwischen beseitigt, doch der süßlich-eiserne Geruch hing nach wie vor im Raum. Arthur vermutete, dass er – zumindest in seiner Einbildung – nie wieder verschwinden würde. »Gunter hat von einem Dämon gespro-
chen.« Sie schwieg, während ihre Zungenspitze die Lippen befeuchtete. »Er ist ein Schwätzer, der nicht wirklich weiß, wovon er redet. Hast du noch nicht bemerkt, dass er zwar einen muskulösen Körper, aber einen schwachen Verstand hat?« »Die Leiche hat aus eigener Kraft den Keller verlassen! Du hast gesehen, dass Konrad so tot war, wie man nur sein kann! Es ist unmöglich, dass …« »Vielleicht hat jemand die Leiche gestohlen«, warf sie ein. »Unsinn! Niemand wusste von ihr, nur du und ich!« »Und der Mörder.« »Es gibt keinen Mörder! Es ist das Werk eines Dämons, der seine verderbliche schwarze Magie in dem Leichnam hinterlassen hat, auf dass er wieder zum Leben erwacht und als Kreatur des Schreckens umherwandelt!« »Glaubst du an das Übernatürliche?«, fragte Mechthild. »Bis gestern nicht. Aber mein Weltbild ist ins Wanken geraten!« Wirklich? Glaubtest du wirklich nicht daran? Was ist mit den Zweifeln, die dich manchmal befallen haben, nachts, wenn du allein warst und deine Gedanken ins Kreisen geraten sind? Wenn du daran dachest, wie alt du bist und … Arthur verdrängte die Überlegungen. Unsinn! Das war etwas völlig anderes, und dafür gab es eine vernünftige Erklärung! So? Gibt es die? Dann erklär doch, warum du dich seit Jahren nicht mehr äußerlich veränderst und warum deine Kraft nicht nachlässt? Warum du schon daran gedacht hast, von hier wegzugehen, damit es den Menschen in deiner Umgebung nicht auffällt? »… stehlen sollte«, riss die Stimme Mechthilds ihn aus den Gedanken. »Was? Entschuldige bitte, ich …« »Du warst abgelenkt, ja, das habe ich dir angesehen. Ich habe dir Recht gegeben, insofern ich mich frage, warum jemand die Leiche erst in deinem Keller zurücklassen und sie dann stehlen sollte.« »Verstehst du denn nicht? Spürst du nicht, was hier los ist? Gunter hat Recht! Das Ganze ist das Werk teuflischer Mächte!« Es klopfte.
Arthur stand auf und öffnete. Er blickte in die ernsten Gesichter von Gunter und Hadamar. Er hatte sie bereits erwartet. Nachdem er ihnen von dem Verschwinden der Leiche berichtet hatte, waren sie losgezogen, um Spuren zu finden. »Ihr – ihr habt sie gefunden«, deutete Arthur die Mimik der beiden Schmiede. »Die Spur, die die Leiche hinterlassen hat, ist nicht zu übersehen«, berichtete Hadamar. »Was …« »Blut, Arthur. Sie verliert immer wieder Blut. Kein Wunder, wenn man ihren Zustand bedenkt. Die Wunden reißen immer wieder auf.« »Konntet ihr sie verfolgen?« »Wir kennen die Richtung, in die sie sich gewandt hat. Wir haben einen Hund gefunden, über den sie hergefallen ist.« Arthur hatte nicht mehr den geringsten Zweifel, dass sie es mit einem wandelnden Toten zu tun hatten. Einer Höllenkreatur. »Was habt ihr getan?« »Wir haben ihn im Gebüsch versteckt. Niemand soll darauf aufmerksam werden. Wir müssen sofort aufbrechen und der Spur weiter folgen. Nimm alles Nötige mit – wir müssen den Tierkadaver verbrennen.« Arthur nickte. Als er sich umdrehte, bemerkte er, dass Mechthild direkt hinter ihm stand. »Ich habe alles gehört«, sagte sie. »Und ich werde mitkommen.« »Es kann gefährlich werden«, widersprach Arthur schwach. »So? Du hast also eine Menge Erfahrung im Umgang mit Dämonen, ja?« Arthur seufzte. »Du kannst uns begleiten, wenn du willst.« »Du hättest mich ohnehin nicht daran hindern können.« »Haltet euch nicht mit Reden auf«, forderte Hadamar. Arthur verschwand im Inneren des Hauses.
Der Kadaver brannte, bis nichts außer einem qualmenden Skelett
übrig blieb. Der Geruch verschmorten Fleisches war widerwärtig. Arthur war sich nicht sicher, aber er glaubte, dass das tote Tier sich bewegt hatte, als sie es in Brand steckten. Als hätten die abgenagten Hinterläufe gezuckt, um dem endgültigen Ende durch die Flammen zu entgehen. »Unser Feind wird in diese Richtung weitergegangen sein«, vermutete Hadamar und deutete nach Osten. »Wo immer sein Ziel liegen mag, er ging bislang unbeirrt geradeaus.« Der Weg führte die vier Leichenjäger quer über brachliegende Äcker, stetig auf den nahen Wald zu. Nach etlichen Minuten glaubten sie, in der Ferne etwas erkennen zu können. »Ich bin mir nicht sicher, ob dort wirklich etwas ist«, murmelte Gunter. Sein weißes Haar schien zu leuchten, als das Licht der langsam sinkenden Abendsonne darauf fiel. »Verdammt, wir gehen nicht gerade zielstrebig vor«, warf Hadamar ein. »Dadurch, dass wir zu Arthurs Haus zurückgekehrt sind, haben wir der Leiche einen gewaltigen Vorsprung gegeben.« »Was hätten wir tun sollen? Allein weitergehen? Das wäre gegen unsere Absprache gewesen.« »Es spielt keine Rolle, ob es richtig war oder nicht. Es ist geschehen, und damit …« Arthur brach mitten im Satz ab. Die Gestalt, die auf sie zuwankte, war einmal eine Frau gewesen. Jetzt war sie ein grauenhaftes Ding, der Überrest einer schrecklichen Mahlzeit. Der lebende Überrest. Ehe Arthur auch nur eine Reaktion zeigen konnte, schrie Gunter und stürmte auf die Höllengestalt zu. Im Laufen zog er ein Schwert, das er selbst geschmiedet hatte. »Hunger«, ächzte das Ding vor ihnen mit Grabesstimme. Und wieder: »Hunger.« Gunter hob das Schwert. Seine gewaltigen Muskeln traten an den Oberarmen hervor. Das Schwert sauste herab … Die Kreatur zeigte keine Gegenwehr. Ihr Kopf wurde von den Schultern getrennt. Als er auf den Boden schlug, tönte es ein letztes Mal: »Hunger …« Arthur überlief es eiskalt. Kreatürliche Angst bemächtigte sich sei-
ner. Es war eine Sache, von der Existenz wandelnder, schrecklich entstellter Leichen zu wissen aber etwas ganz anderes, ihnen gegenüberzustehen. »Das Ding ist tot«, sagte Hadamar. »Endgültig.« Die Glieder zuckten nicht mehr, völlig still lag die Untote da. »Wir müssen es verbrennen«, forderte Arthur. »Sofort!« Später, als die Flammen hochschlugen, trat Mechthild an ihn heran. »Dir ist klar, was das bedeutet?« Er sah sie aus eiskalten Augen an, schwieg jedoch. »Wenn die lebende Leiche aus deinem Keller diese Frau tötete und diese sich dann wieder von den Toten erhob, dann heißt das …« »Dann heißt das, dass jedes Opfer zu einem weiteren Monster wird.« Arthur ballte die Hände zu Fäusten. »In Kürze könnte uns ein Heer aus wandelnden Höllenmonstern gegenüberstehen.« Mechthild stand bewegungslos neben ihm und starrte in das langsam schwächer werdende Feuer. »Keine sehr angenehme Vorstellung«, versuchte sie zu scherzen, doch weder sie noch Arthur fühlten sich, als könnten sie je wieder lachen. Wenig später waren sie wieder unterwegs. Die Sonne stand bereits tief am Horizont; bald würde die Nacht anbrechen. »Was, wenn wir hier völlig in die Irre laufen? Unser Gegner kann sich inzwischen sonst wo aufhalten …« Hadamar sprach aus, was insgeheim alle befürchteten. »Er könnte sogar längst ins Dorf zurückgekehrt sein.« Arthurs Magen krampfte sich bei dieser Vorstellung zusammen. »Wir können nur hoffen, dass …«, begann er, wurde jedoch von Hadamar unterbrochen. »Allerdings glaube ich nicht, dass er das getan hat. Dieses Monstrum scheint nicht über Verstand zu verfügen. Denkt doch einmal an die Frau.« »Keine sehr angenehme Erinnerung«, kommentierte Mechthild. »Ist sie euch so vorgekommen, als hätte Vernunft sie gelenkt?« »Sie war ein hirnloses Monstrum«, stimmte Arthur zu. »Das Einzige, das sie leitete, war wohl ihr Hunger.« Seine eigenen Worte riefen in ihm die Erinnerung daran wach, wie die toten Lippen ein einziges
Wort sprachen: Hunger. Plötzlich musste Arthur würgen, er wandte sich ab. Schwer atmend richtete er sich wieder auf. »Deshalb können wir davon ausgehen«, fuhr Hadamar ungerührt fort, »dass auch die … ursprüngliche Leiche nicht über großen Verstand verfügt. Sie wird sich deshalb kaum daran erinnern, dass in dem Dorf genug Menschen leben, an denen sie ihren Hunger stillen kann. Sie wird mit großer Wahrscheinlichkeit ihren Weg stur geradeaus fortgesetzt haben.« »Dann sollten wir dasselbe tun.« Arthur fuhr sich noch einmal mit der Hand über den Mund, dann setzte er seine Worte in die Tat um. Seine Knie fühlten sich weich an, als könne er keinen einzigen Schritt mehr gehen, aber er setzte unermüdlich einen Fuß vor den anderen. Er sah sich nicht einmal um, denn er wusste, dass die anderen ihm folgten. Als die Sonne den Horizont berührte, fröstelte es Arthur. Es wurde kalt, doch davon würde sich keiner der vier aufhalten lassen. Und dann, am Rande des Waldes, trafen sie auf die wandelnde Leiche Konrads.
Hunger Das Etwas, das einmal ein Ich gewesen ist, hat wieder Hunger. Es benötigt einen Menschen. Nahrung. Es dringt in den Wald ein. Wald – es erinnert sich an diese Bezeichnung. Es ist schwieriger, voranzukommen. Überall Hindernisse. Gebüsch. Wurzeln. Äste. Überall Tiere, ein Springen von Baum zu Baum, ein Vorüberhuschen. Sie sind keine gute Nahrung. Stillen den Hunger nicht wirklich. Wie der Hund. Sie schmecken fad. Stillen die Begierde nicht. Auch nicht das pelzige rote Tier. Das Etwas wirft den Kadaver achtlos weg und stapft weiter. Dann eine Erkenntnis. Hier werde ich keine Menschen finden. Keine Nahrung im Wald. Keine gute Nahrung. Langsam, ganz langsam sickert die Schlussfolgerung aus dieser Erkenntnis in das triebhafte düstere Bewusstsein des Etwas.
Es dreht sich um, geht den Weg zurück, den es gekommen ist. Überall knistert und knackt es. Die Bewohner des Waldes fliehen. Das Etwas tritt aus dem Wald. Und hört Stimmen. Stimmen. Sie kommen. Menschen. Nahrung.
Wieder zog Gunter das Schwert. »Bringen wir es zu Ende!«, stieß er hervor. Hart starrte er ihren Gegner an. »Warte!«, forderte Arthur, einer spontanen Eingebung folgend. Als der Weißhaarige nickte, trat Arthur einen Schritt vor. »Konrad!« Seine Stimme hallte der schauerlichen Kreatur entgegen, doch sie zeigte keine Reaktion. »Das ist nicht mehr dein Diener! Es ist ein Monstrum der Hölle!«, rief Mechthild. Entsetzhche Angst schwang in ihrer Stimme mit. Die Leiche näherte sich weiter. Sie war nur noch wenige Meter entfernt. »Konrad! Erkennst du mich?«, rief Arthur, während das Grauen ihn schüttelte. Die verstümmelte Gestalt stampfte weiter heran, öffnete ihr Maul. Arthurs Blick saugte sich an den Rippen fest, die bleich und weiß aus dem Brustkorb traten, »Konrad! Wer hat dir das angetan?« Keine Reaktion. »Es hat keinen Sinn!«, schrie Gunter, hob das Schwert und trat neben Arthur. »Warte!« Die Kreatur streckte ihre blutigen Hände aus, den Menschen entgegen. Das Schwert zerschnitt mit einem hohen Sirren die Luft und trennte den rechten Arm der Leiche ab. Ein dumpfes Brummen drang aus der toten Kehle. »Konrad!«, rief Arthur beschwörend. »Denk an dein Weib und deine Kinder und sag uns, wo wir denjenigen finden, der …« Ein Stoß vor die Brust beendete sein verzweifeltes Bemühen. Arthur taumelte rückwärts und stolperte. Er schlug auf den Boden und hörte
einen grauenerfüllten Schrei. Rasch drehte er sich auf die Seite und kam wieder auf die Füße. Das Schwert lag nutzlos auf dem Boden. Die Leiche hatte es Gunter aus den Händen geschlagen. Gunter selbst hielt beide Hände gegen den Magen gepresst und stand gekrümmt. Hadamar schlug eben mit einem Ast gegen den Schädel der Kreatur, die mit einem tiefen Grollen herumwirbelte und den Schmächtigen attackierte. Hadamar bückte sich. Der Schlag verfehlte ihn. Doch das Monster packte mit seiner verbliebenen Hand die Schulter seines Opfers und krallte sich in ihr fest. Hadamars Gesicht war vor Schmerzen verzerrt, er wand sich im Griff seines Gegners. Arthur war inzwischen bei dem Schwert angelangt und hob es auf. Die Zähne des Monstrums näherten sich Hadamars Kehle. Arthur stieß das Schwert in den Rücken der Kreatur. Diese warf den Kopf nach hinten. Ein lautes Stöhnen entrang sich ihr. Ihr Griff um Hadamars Schulter lockerte sich. »Verschwinde!«, rief Arthur. Voller Schrecken bemerkte er, dass sein Gegner durch den Schwertstreich nicht ausgeschaltet war. Die Kreatur ließ sich fallen, die Klinge rutschte aus ihrem Rücken. Schwerfällig kam die Bestie wieder auf die Füße. »Den Kopf!«, schrie Gunter. »Schlag ihm den Kopf ab!« Arthurs Hände umklammerten den Griff der Waffe. Die Zeit schien stillzustehen, als er ausholte und zuschlug. Wie zuvor bei der unbekannten Frau schlug der Schädel auf die Erde. Und so, wie sie ein letztes Mal ihrem Hunger Ausdruck verliehen hatte, bewegten sich auch die Lippen des abgetrennten Kopfes noch einige Momente lang. »Zu spät. Die Saat …« Dann kehrte Stille ein, nur unterbrochen von Mechthilds Weinen. Die Worte hallten in Arthur nach. Zu spät. Die Saat … Was hatte die Höllenkreatur damit sagen wollen? Die Saat – ist ausgebracht?
Sie kehrten erst tief in der Nacht ins Dorf zurück. Die Häuser lagen in friedlicher Stille. Gunter und Hadamar verabschiedeten sich, Mechthild und Arthur gingen in sein Haus.
»Dein Vater …«, begann er. »Mein Vater weiß, dass ich heute nicht zurückkommen werde. Er wird morgen früh toben und mir Vorhaltungen machen, doch das spielt keine Rolle. Nicht nach dem, was geschehen ist.« Arthur wunderte sich selbst, wie schnell er Ruhe fand. Er schlief tief und traumlos, und erst als er wieder erwachte, jagten sich seine Gedanken. Sein Leben war auf den Kopf gestellt worden, seit er den toten Konrad im Keller gefunden hatte. Was sollte er jetzt tun? So weitermachen, als sei nichts geschehen? Die Worte der toten Lippen gingen ihm nicht aus dem Sinn. Er war sich inzwischen sicher, was die Leiche hatte sagen wollen. Die Saat ist ausgebracht. Die Frau, die tot und doch lebendig auf sie zugewankt war – war sie gemeint gewesen? Und wenn ja – war es nur um sie gegangen? Oder auch um andere seelenlose Monster, die nur darauf warteten, ihre Zähne in lebendiges Fleisch zu schlagen – und die Saat weiterzugeben? Mechthild verabschiedete sich und ging in das Wirtshaus, um ihrer Arbeit nachzugehen. Obwohl Arthur nicht wusste, was die Zukunft ihm bringen würde, war er sich doch darüber im Klaren, was er heute zu tun hatte. Auch er verließ das Haus. Es nieselte, und die Wege im Dorf waren menschenleer. Arthur musste ein wenig überlegen, wohin er sich zu wenden hatte, denn er war lange nicht mehr dort gewesen. Die Hütten befanden sich ein wenig außerhalb. Sie waren alt und baufällig. Als er sich seinem Ziel näherte, musste er über einen träge fließenden Bach springen. Er wollte den Fuß nicht in die trübe Brühe setzen. Eine Ratte rannte quiekend davon, auf ein kleines nacktes Mädchen zu, das mit ihren verschmierten Händchen im Matsch spielte. Das Tier griff das Kind jedoch nicht an. Arthur klopfte an der Tür einer der Bretterbuden. Sie öffnete sich knarrend, und ein bleiches Kindergesicht starrte ihn an. Der Junge stand geduckt, die Augen weit aufgerissen, die Hände nervös an der Hüfte reibend. »Deine Mutter«, sagte Arthur leise. »Ich möchte deine Mutter spre-
chen.« »Lass ihn herein!«, rief eine Stimme aus dem Inneren der Hütte. Das Kind wich zur Seite, und Arthur trat ein. Seine Augen gewöhnten sich nur langsam an das dämmrige Halbdunkel. »Was wollt Ihr?«, fragte die Frau. Ungepflegte braune Haare hingen ihr bis auf die Schultern. Ihre Augen waren verquollen, ihr Kleid schmutziggrau. »Ihr seid das Weib meines Dieners Konrad?« »Das bin ich, Herr.« Sie erhob sich, reichte ihm jedoch nicht die Hand, sondern stemmte die rechte Faust in die Hüfte. »Wie ist euer Name?« »Nennt mich Weib eures Dieners Konrad, denn mehr war ich nie für euch. Warum sollte es heute anders sein?« »Weil etwas geschehen ist.« »Mein Mann ist gestorben«, sagte sie mit kalter Stimme. »Ich weiß. Und nun geht.« »Woher wisst Ihr?« »Wir hier sind nicht so taub und blind, wie Ihr Herren es seid. Wir haben das Grauen schon vor Tagen gespürt, das zu uns gestoßen ist und das uns vernichten wird.« Arthur überlief es kalt. »Die höllischen Mächte können uns nicht besiegen, wenn wir uns wehren.« Sie lachte, kalt und humorlos. »So spricht der eitle Hochmut, der Euch ins Verderben reißen wird.« »Was ist mit Konrad geschehen?«, fragte Arthur, um sie auf die Probe zu stellen. »Der Tod hat ihn gefressen, und wahrscheinlich hat er sich danach wieder erhoben.« Arthur zuckte zusammen. »Ich sehe es euch an, ich habe Recht. Hat er Euch angegriffen? Ach nein, denn sonst würdet Ihr selbst als lebender Toter umherwandeln, auf der Suche nach neuen Opfern.« »Er hat mich angegriffen. Oder vielmehr die Kreatur, zu der er wurde. Ich habe ihm seinen Frieden zurückgegeben.« Wieder lachte sie. Der Junge trat zu ihr heran und umklammerte
ihr Bein. »Seid Ihr stolz darauf, Herr? So habt Ihr eine der Kreaturen vernichtet.« Spöttisch verneigte sie sich. »Doch der, der das Unheil brachte, ist unerkannt. Und er sammelt eine Armee des Bösen um sich.« Arthur ballte seine Hände zu Fäusten. »Wovon redet Ihr? Was wisst Ihr?« »Ihr seid ein Narr! Der Teufel ist zu uns gekommen, und er wird nicht nur unsere Körper, sondern auch unsere Seelen fressen! Fürchtet nicht, dass Ihr sterbt, o nein! Fürchtet, dass Eure Seele gefressen wird!« Sie kicherte, und Arthur meinte, sie sei wahnsinnig. »Wo hält sich der Teufel auf?«, fragte er. »Hier bei uns … oder doch bei Euch in den feinen Häusern? Wer weiß? Welch noble Tat Ihr vollbrachtet, Herr, die Kreatur, die mein Ehemann gewesen ist, zu vernichten. Doch der Teufel lacht über Euch, denn Ihr habt nur einen Tropfen Wasser in die Feuersbrunst gegossen, die unser Dorf hinwegraffen wird!« Wortlos drehte sich Arthur um und verließ die Hütte. Als er den Weg zwischen den Bretterbuden vorbei ging, spürte er brennende Blicke in seinem Rücken. Diesmal achtete er nicht auf den schmalen Bach und trat in das schmutzige Wasser. Sein Herz raste nicht nur auf Grund der körperlichen Anstrengung, als er zurück ins Dorf rannte. Sofort suchte er die Schmiedewerkstatt von Gunter und Hadamar auf. Die Tür stand halb offen. Er rief ihre Namen, doch niemand antwortete ihm. Die Tür knarrte, als er sie nach innen schob. Vorsichtig trat er ein. Der Anblick traf ihn wie ein Schlag. Die beiden waren tot! Angefressen und blutüberströmt lagen ihre Körper in der Ecke des Schmiederaumes. Arthur biss hart die Zähne zusammen. Seine Hände begannen zu zittern. Jetzt erst bemerkte er die Gestalt, die sich aus den Schatten einer anderen Ecke löste. »Ihr erbärmlichen Menschen tötet also meine Diener!«, klang eine
Stimme auf. »Du selbst hast einen von ihnen vernichtet …« Arthurs Kopf ruckte herum. »Du …« »Ich bin hierher gekommen, um mir eine Armee zu schaffen!« »Weiche von mir, Teufel!«, schrie Arthur panisch und fasste ein spitz zulaufendes Werkzeug, das auf einem Amboss lag. Eine lange Eisenstange, die in einem geschliffenen Zacken auslief. Wie einen Speer richtete er sie gegen den Unbekannten. »Nicht doch!« Die Stimme klang beinahe amüsiert. »Er hält mich für Asmodis persönlich!« »Ich …!« »Still!« Der Fremde überragte Arthur um Haupteslänge. Seine tief in den Höhlen liegenden Augen glühten in einem unheimlichen Rot. Er streckte seine Hände aus, und Arthur sah, dass die Fingernägel hornige Krallen waren. »Deine Arroganz ärgert mich!« Der Unhold kam einen Schritt näher. Zum ersten Mal konnte Arthur das Gesicht seines Gegners erkennen. Schmale verkniffene Züge, ein großer schmallippiger Mund. Die Nase stand schief. Dicke schwarze Haare fielen links und rechts des Schädels strähnig nach unten. »Ich bin vor Eckehardt bis hierher gewichen, aber ich werde mich von dir nicht aufhalten lassen!« »Eckehardt?«, fragte Arthur. Er hatte diesen Namen nie zuvor gehört. Niemand im Dorf trug ihn. Der Unheimliche ging nicht auf Arthurs Frage ein. »Du bist so erbärmlich wie diese beiden!« Er deutete auf die Leichen. »Doch sie werden mir gute Diener sein.« »Ich werde dich töten und sie verbrennen!« Die Gestalt des anderen zerfloss, und mit einem Mal stand Arthur ein Höllendämon gegenüber. Seine Konturen waren entfernt menschenähnlich, doch nirgends war mehr Haut zu sehen. Ein gallertartiger, grünlich leuchtender Schleim bedeckte den Körper vollständig. Die Augen glühten nach wie vor in dem unheimlichen Rot. »Selbst wenn du das tätest, könntest du meine Diener nicht aufhalten!« Die Stimme klang, als dringe sie durch eine dicke Wasserschicht an Arthurs Ohren. Er hob seine improvisierte Waffe. »Weiche!«, rief er erneut.
Ein hämisches Lachen antwortete ihm, und plötzlich begann das Metall des Werkzeugs zu glühen. Arthur ließ es mit einem Aufschrei fallen. Seine Hand schmerzte, Brandblasen bildeten sich auf der Innenfläche. Schwankend wich er in Richtung Tür zurück. »Du sollst es sehen«, sagte der Dämon. »Heute Nacht.« Dann zuckten schleimüberzogene Arme auf Arthur zu. Ein Schlag traf ihn im Gesicht, ein zweiter am Brustkorb. Er wurde gegen die Wand geschleudert. »Heute Nacht …« Der Dämon kam näher, die widerliche Visage beugte sich zu dem verkrampft Liegenden herab. Dann wurde es dunkel um Arthur.
Als er wieder zu sich kam, war die Nacht angebrochen. Arthur verließ die Schmiede. Er sah, wie das Heer des Verderbens das Dorf überrollte. Dutzende der wandelnden Horrorleichen bevölkerten die Wege des Dorfes und drangen in die Häuser ein. Schreie ertönten überall.
1220, in der Markgrafschaft Meißen, nahe Dresden Arthurs Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück, als sich die Häuser Dresdens näherten. Sein Körper schmerzte, und die Wunde an seiner Brust hatte zwischenzeitlich durch den wilden Ritt wieder zu bluten begonnen. Eckehardt … damals, aus dem Mund des Schleimdämons, hatte er den Namen zum ersten Mal vernommen. Das Monster, das Arthurs Dorf heimgesucht hatte, war vor diesem Eckehardt dorthin geflüchtet. Damals hatte Arthur beschlossen, den Menschen zu finden, der Dämonen zu vertreiben vermochte. Sein Weg hatte ihn quer durch alle Herzogtümer und Grafschaften geführt, viele Monate und Jahre lang.
Die Sonne ging bereits unter, als Arthur die ersten der Stadt vorgelagerten Höfe erreichte. Eine Schar Kinder beäugte neugierig den muskulösen, herrschaftlich wirkenden Fremden, der an ihnen vorbeiritt. »Er ist verletzt!«, hörte Arthur einen aufgeregten Ruf. »Habt ihr das gesehen? Er blutet!« – »Der ist vielleicht schon tot«, erwiderte ein anderes Kind mit verschwörerischer Stimme, und eines der Kleinsten begann zu weinen. Im Gegensatz zum Dorf der Besessenen, die unter der Knechtschaft des mörderischen Dämons gestanden hatten, bot Dresden ein Bild der Sauberkeit und des Überflusses. Der Handel blühte und verschaffte vielen in der Stadt Wohlstand. Kaum jemand litt Hunger – wer kein Geld hatte, verließ mehr oder weniger freiwillig die Stadt. Die landwirtschaftlichen Höfe vor der Stadt versorgten die Einwohner mit Gemüse und frischem Fleisch; der Markgraf Dietrich war darüber hinaus ein kluger und verständiger Mann, der von seinen Untergebenen nicht zu viele Abgaben verlangte. Man munkelte, sein Verstand sei deshalb so scharf und er selbst so lebenspraktisch, weil er Mäzen einiger höfischer Dichter war – denn die in seiner Gunst stehenden Dichter und Sänger öffneten ihm mit ihrer Kunst den Blick auf das wirkliche, einfache Leben. Etwa der berühmte Walther(gemeint ist Walther von der Vogelweide), der stets bejubelt wurde, wenn er den Grafenhof verließ und durch die Stadt flanierte. Walther hatte einen ausgezeichneten Blick für das Volk, und sein Spruchgesang über das Leid der Ausgebeuteten musste Markgraf Dietrich schwer beeindruckt haben. Dietrich sprach stets davon, dass er in der Stadt für alle Bürger ein rauschendes Fest zu feiern beabsichtigte – aber darauf wartete man bis heute vergebens. Allerorten seufzte man, dass man das wohl erst unter Dietrichs Sohn Heinrich erleben würde. Jetzt, als Arthur mit letzter Kraft in die Stadt ritt, eilte eine junge Frau auf ihn zu. Ihre schwarzen Haare fielen bis an ihre Hüften, und das braunsamtene Kleid flatterte durch ihre weit ausholenden Schritte und entblößte immer wieder die schlanken Unterschenkel. »Ihr seid verletzt!«, rief sie ihm zu, und Arthur vermeinte echte Sorge in ihrer Stimme zu hören. Er zügelte sein Pferd, das anhielt und leicht mit den Hinterhufen
scharrte. »Ich danke für Eure Sorge und werde sofort einen Medicus aufsuchen.« »Ihr kennt Euch in unserer Stadt aus, Herr?« »Johann im südlichen Viertel ist ein ausgezeichneter Medicus. Er erwartet mich in diesen Tagen.« Arthur spürte, dass das Sprechen ihn unendlich viel Kraft kostete. Während des Ritts war er durch die trüben Erinnerungen abgelenkt worden, doch nun zehrten die Schmerzen mit verheerender Kraft an ihm. »Eilt euch!«, riet die Frau und schenkte ihm ein bezauberndes Lächeln. »Oder wollt Ihr sterben?« Arthur durchfuhr ein Schreck. »Wie meint Ihr das?« »Ihr blutet in Höhe des Herzens, Herr!« Erleichtert atmete Arthur aus. Er hatte in den Worten der Hilfsbereiten eine Drohung gelesen, in ihrem Lächeln Falschheit – der ständige Kampf gegen die Höllenmächte hatte ihn übervorsichtig werden lassen. Überall vermutete er Fallen und Feinde. »Ich werde es überstehen«, murmelte er. »Wenn Ihr wieder bei Kräften seid, sucht mich auf, Herr. Ihr findet mich in Bertholds Schankraum!« Dabei zog sie ihr Kleid an den Hüften straff, dass es sich über den vollen Brüsten spannte. In Arthurs Augen funkelte es überrascht. Ohne noch eine Erwiderung zu geben, ritt er langsam weiter. Die Schwäche drohte ihn zu übermannen. Mit einem Mal wurde ihm schwindlig. »Vergesst mich nicht!«, rief die Schwarzhaarige ihm hinterher. Arthur beschloss, ihr klar zu machen, dass er sie nicht aufsuchen würde. Er wandte sich zu ihr um – und plötzlich wurde ihm schwarz vor Augen. Die Welt drehte sich, er hatte das Gefühl zu fallen … Dann fiel er tatsächlich. Hart prallte er auf den Boden und verlor die Besinnung.
Nur langsam nahm die Welt wieder Konturen an. Ein Gesicht schälte sich aus der Dunkelheit. »Arthur, Arthur«, hörte er eine leicht spöttische Stimme. »Dich hat
es aber hart erwischt.« »Eckehardt«, stöhnte Arthur. »Wie kommst du hierher?« »Frag lieber, wo du bist.« Eckehardts Stimme klang wie immer rau. »Und wie du hierher gekommen bist.« Arthur wollte sich aufsetzen, doch der Freund drückte ihn an den Schultern unerbittlich zurück. »Nicht doch«, mahnte Eckehardt. »Der Medicus hatte einige Mühe, deine Brustwunde wieder zusammenzuflicken, und ich habe ihm versprochen, dass du keine weiteren Dummheiten begehen wirst.« »Der Medicus? Johann?« Eckehardt nickte. »Bleib mir ja liegen!« Er ließ seinen schmalen, drahtigen Körper in einen robusten Stuhl fallen und schüttelte den Kopf. »Die schwarzhaarige Dirne hat dich hier abgeliefert und von mir einen fürstlichen Lohn für ihren Dienst empfangen. Als Johann deine Wunde versorgte, hast du die Augen aufgeschlagen und wirres Zeug gestammelt.« Arthur zermarterte sich das Gehirn, doch er hatte nicht die geringste Erinnerung daran. »Ich …« »Johann sprach von Wundfieber. Sag mir, wie du dir die Wunde zugezogen hast?« Die Krallen des mörderischen Dämons zucken auf Arthur zu und zerfetzen sein Kettenhemd, reißen seine Brust auf … »Im Kampf, wo sonst?« »Eine Waffe? Oder ein Dämon?« Die beiden Mäuler öffnen sich geifernd … »Ein Höllischer.« »Damit ist nicht zu spaßen, verdammt!« Eckehardt sprang auf und ballte wütend die Hände zu Fäusten. »Sieh mich an, mein Freund!« Arthur tat, wie ihm geheißen. Sein Blick versank in Eckehardts dunkelbraunen, nahezu schwarzen Augen. »Es war kein Biss, oder?« »Eine Kralle.« »Das verringert die Wahrscheinlichkeit, dass der Dämon dich mit einem höllischen Keim infiziert hat.« Eckehardts Kiefermuskeln arbeiteten. »Hast du ihn wenigstens vernichtet?« »Das Monster ist tot, und die Dorfbewohner sind befreit.« Ein kurzes Lächeln huschte über die Züge des blonden Dämonen-
jägers. »Glückwunsch.« »Nichts, das du nicht ebenso erledigt hättest.« Auch Arthur lächelte, und es tat unendlich gut. »Übrigens freue ich mich, dass du hier bist. Das heißt, du hast deinen Auftrag ebenfalls erledigt, richtig?« »Der Werwolf, der Dresden in Angst und Schrecken versetzte, wird nie wieder jemanden zerreißen.« Arthur schloss die Augen und nickte. Das Reden strengte ihn an, seine Brust schien in Flammen zu stehen. Das Atmen fiel ihm schwer. »Schlafe, Arthur«, hörte er die Stimme Eckehardts. »Du hast es dir verdient.«
Als Arthur wieder erwachte, war er allein. Im Zimmer herrschte ein angenehmes Halbdunkel. Da ihn diesmal niemand daran hinderte, schwang er seine Beine vorsichtig von der Liege und setzte sich auf. Übelkeit stieg in ihm hoch, die Wunde pochte unbarmherzig. Er sah an sich herab; Streifen aus sauberem Tuch bedeckten seinen Oberkörper. An einer Stelle schimmerten sie dunkelrot von seinem Blut. Es war fast vollkommen still, nur von draußen drang das gedämpfte Schreien eines Kleinkindes herein. Mühsam stand Arthur auf. Die Knie drohten ihm nachzugeben. Er atmete tief aus. Die Wunde setzte ihm stärker zu, als er erwartet hatte. Er stieß den hölzernen Laden des Fensters nach außen. Kälte strömte ihm entgegen und ließ ihn frösteln. Der Helligkeit nach zu urteilen war es früher Abend. Das Weinen war lauter geworden; Arthur sah an der Mauer des gegenüberliegenden Hauses eine junge braunhaarige Frau lehnen, die einen Säugling im Arm hielt. Das Kind schrie jämmerlich. Genauso fühle ich mich auch, dachte Arthur. Nur kann ich es nicht so leicht zeigen … Der letzte Kampf hatte ihn auch innerlich zermürbt. Nicht weniger allerdings die unscheinbare Begegnung mit der schwarzhaarigen Hure – ihre harmlose Bemerkung hatte Arthur mit Misstrauen erfüllt. Er hatte eine Falle gewittert, nur weil sie Sorge gezeigt hatte …
»Wie soll es weitergehen?«, flüsterte Arthur vor sich hin. Die junge Mutter hob den Kopf und blickte ihn fragend an. »Nichts!«, rief er ihr zu, drehte sich um und ging zurück zur Liege. Den Holzladen ließ er offen stehen, denn die Kühle erfrischte ihn und weckte seinen Geist. Wie soll es weitergehen … wenn Misstrauen ihn zerfraß? Wenn die ständigen Attacken der Dämonenwelt ihn zu einem verhärteten, verbitterten Mann werden ließen? War alles, was das Leben ihm zu bieten hatte, Kampf? Kampf, bis er eines Tages getötet wurde, das Opfer irgendeines namenlosen Teuflischen? Eine helle Stimme riss ihn aus seinen Grübeleien. »Ihr wirkt besorgt, und ich glaube nicht, dass es allein an Eurer Verletzung liegt, Herr.« Verblüfft sah Arthur zum Fenster. Die braunhaarige Mutter sah ihn lächelnd an. Arthur war fasziniert von ihren Augen. Welch ein ungewöhnlich helles Blau … »Wie kommt ihr darauf?« »Der Ausdruck Eurer Augen. Sie sind traurig, so unendlich traurig.« Etwas an ihrer Stimme berührte Arthur. So jung die Frau auch aussah – ihre Stimme klang, als verfüge sie über einen unendlichen Schatz an Erfahrungen. Als sei sie von den Stürmen des Lebens geprägt und aus vielen Auseinandersetzungen als Siegerin hervorgegangen. Zum ersten Mal gelang es Arthur, einen näheren Blick auf das Kind zu werfen. Es war noch ein Säugling, der seine kleine Fäustchen in das Kleid seiner Mutter verkrallt hatte. Seit einigen Sekunden schrie er nicht mehr. »Dafür habt Ihr einen munteren Sohn«, lenkte Arthur ab. »Seiner Stimme nach hätte ich ihn für wenigstens zwei Jahre gehalten.« »Oswalt verfügt in der Tat über eine starke Stimme.« Die Braunhaarige lächelte, und ihre Augen blitzten. »Ihr scheint Euch auf Kinder zu verstehen, Herr … die meisten halten ihn für ein Mädchen, wenn sie ihn das erste Mal sehen.« Arthur lachte. »In Wirklichkeit habe ich von kaum etwas weniger Ahnung als von Kindern. Dass ich das Geschlecht getroffen habe, war reiner Zufall.«
»Vielleicht seid Ihr deswegen so traurig – weil Ihr keinen Kontakt mit Kindern habt. Sehnt Ihr Euch nicht danach, endlich einmal den eigenen Nachwuchs in den Armen zu wiegen?« Endlich? Arthur zuckte leicht zusammen. Wie kam sie auf endlich? Dem äußeren Anschein nach war er nicht in einem Alter, in dem dieses Wort angebracht war. Dass er in Wirklichkeit viel älter war, konnte sie unmöglich wissen. »Ihr solltet nicht zu viel über mich nachdenken, nur weil ihr meint, Traurigkeit in meinen Augen gesehen zu haben«, antwortete Arthur. Die Worte der Frau arbeiteten in ihm, denn in der Tat hatte er schon oft darüber nachgedacht, wie es wäre, seinen Sohn oder seine Tochter zu sehen. Die Mutter zuckte ein wenig zurück. »Verzeiht, wenn ich Euch zu nahe trat.« »Nein, nein«, versicherte Arthur. »Es ist schön, sich mit Euch zu unterhalten.« »Wo habt Ihr Euch die Verletzung zugezogen?« Während sie fragte, stieß der Säugling auf und lachte gurgelnd. Seine Händchen ruderten in der Luft. In einem Kampf, wollte Arthur antworten, überlegte es sich jedoch anders. »Es ist eine lange Geschichte.« Er stand wieder von dem Lager auf und näherte sich dem Fenster. Das Gespräch war bisher quer durch den Raum geführt worden. »Ich habe Zeit, Euch zuzuhören«, erwiderte sie. »Kommt doch heraus. Es ist zwar kühl, aber Ihr werdet nicht frieren.« »Da muss ich den Medicus um Erlaubnis fragen. Eigentlich soll ich das Bett hüten.« »Johann? Er ist vor längerem weggegangen, als die Sonne noch hoch am Himmel stand, und wird wohl erst in einiger Zeit zurückkehren.« Sie strich dem Baby über den haarlosen Kopf. »Wenn Ihr wollt, Herr, könnt Ihr mir die Geschichte auch durch das Fenster erzählen. Solange Oswalt zufrieden ist, werde ich hier stehen und Euren Worten lauschen.« »Wie heißt Ihr?« »Ihr kennt mich bereits als die Mutter des kleinen Oswalt … Ich je-
doch weiß nichts über Euch.« »Arthur. Mein Name ist Arthur. Und wenn Ihr meiner Geschichte lauscht, werdet Ihr viel über mich erfahren.« Er war froh, dass sich durch das Geplänkel Zeit ergab, um nachzudenken, denn er wusste nicht, was er ihr erzählen sollte. Die Wahrheit kam da nicht in Frage, aber er wollte sie auch nicht mit einer billigen Lüge abspeisen. »Nun, Arthur, nennt mich Mechthild.« Der Name traf ihn ins Herz, und Erinnerungen überfluteten ihn. »Mechthild …«, flüsterte er nachdenklich. »Was habt Ihr?« »Ich kannte eine Mechthild. Vor langer Zeit.« »So lange kann es ja nicht her sein. Älter als dreißig könnt Ihr unmöglich sein.« Zählt hundert Jahre dazu, und Ihr kommt der Wahrheit näher. Auch wenn ich immer noch nicht weiß, warum ich länger lebe als jeder andere … als jeder andere außer Eckehardt, der wie ich Dämonen jagt. »Vielleicht kannte ich sie ja, als ich noch ein kleines Kind war.« Mechthild lächelte süffisant. Der Säugling begann zu schreien. Die Mutter wiegte ihn in ihren Armen. »Entschuldigt«, sagte sie. Sie legte ihn bäuchlings über ihre Schulter und tätschelte seinen Rücken, doch auch das beruhigte den Kleinen nicht. »Ich werde wohl nach Hause gehen müssen«, meinte sie und seufzte. Sie nahm das Kind wieder von der Schulter und hielt es in ihren Armen. Der kleine Kopf hob sich, der Mund öffnete sich und schnappte suchend in Richtung der Mutterbrust. »Sehr schade«, fuhr Mechthild fort. »Er hat großen Hunger. Ich kehre morgen zurück. Der Medicus wird Euch dann sicher erlauben, das Haus zu verlassen. Lasst uns dann spazieren gehen. Der kleine Oswalt kann bei meiner Schwester bleiben, und ich werde ganz für Euch allein da sein. Ich bin auf Eure Geschichte gespannt, Dämonenjäger.« Sie drehte sich herum und eilte hinfort, ehe Arthur seine Verblüffung überwunden hatte. Sie hatte ihn Dämonenjäger genannt …
»Sie hat – was?« Eckehardt verkniff die Augen zu Schlitzen. Er war vor wenigen Minuten zurückgekehrt und von Arthur aufgeregt empfangen worden. »Sie weiß über mich Bescheid! Sie weiß, dass ich die Höllenmächte bekämpfe! Irgendetwas stimmt hier nicht. In dieser Stadt braut sich etwas zusammen.« »Hat sie dich bedroht?« »Sie war die Harmlosigkeit schlechthin, freundlich und liebenswert. Aber sie hat so getan, als wisse sie nichts über mich, und dann nannte sie mich Dämonenjäger und ist ohne ein weiteres Wort verschwunden!« Eckehardt lehnte sich in dem alten Stuhl zurück. Die Rückenlehne knarzte. »Es wird eine Erklärung geben. Du hast im Laufe der Zeit vielen Menschen geholfen und sie vor dem Höllengezücht gerettet. Vielleicht war sie eine davon – oder ihre Mutter, ihre Schwester … vielleicht stammt sie sogar aus dem Dorf der Besessenen, die du jetzt erst befreit hast.« »Unsinn! Wie soll sie so rasch hierher nach Dresden gelangt sein?« »Leg meine Worte nicht auf die Goldwaage, Arthur! Ich wollte dich lediglich beruhigen.« »Dann entschuldige, dass ich mich nicht beruhigen lassen will! Wieso nannte sie sich ausgerechnet Mechthild, so wie die Frau, die mich damals begleitete, als ich zum ersten Mal auf die Dämonen traf? Und wieso …« »Du steigerst dich in etwas hinein«, unterbrach Eckehardt. »Sie nannte sich nicht Mechthild, sie heißt Mechthild. Ein Zufall. Sie ist nicht die Einzige, die diesen Namen trägt.« »Und wieso«, fuhr Arthur unbeirrt fort, »reagierte sie so seltsam, als ich erwähnte, dass ich vor langer Zeit eine Mechthild kannte? Sie ritt darauf herum, dass ich unmöglich besonders alt sein könne, und sie lächelte auf eigenartige Weise, als ich es herunterspielte.« Eckehardt schüttelte stumm den Kopf. Er zog einen Mundwinkel nach oben und verdrehte die Augen. »Ich sage dir, sie weiß, wie alt ich bin. Sie weiß, dass ich bereits seit …«
»Ich weiß es auch, Arthur.« Eckehardt lächelte. »Wir trafen uns vor fast einhundert Jahren, und schon damals waren wir erstaunlich jung geblieben.« »Denkst du auch manchmal darüber nach?« »Sehr oft.« Eckehardt erhob sich und begann eine unruhige Wanderung im Krankenzimmer. »Sehr oft, mein Freund.« Nach einem kurzen Moment des Schweigens fügte er hinzu: »Vor allem, seit ich spüre, dass sich meine Lebensspanne nun doch noch dem Ende zuneigt.« Die Worte trafen Arthur wie ein Schlag. »Was meinst du?«, fragte er atemlos. »Ich altere. Nach all der langen Zeit altere ich wie jeder Mensch um mich herum auch.« Er spürt es ebenso wie ich … »Es geht mir genauso.« Arthur atmete tief ein und stieß dann langsam die Luft aus. »Deshalb beschäftige ich mich mit der Frage, warum wir so lange gelebt haben. Und nur aus diesem Grund ist mir das Verhalten dieser Frau, die sich Mechthild nannte, so sehr aufgefallen.« »Nun sind wir also beim Kern der Sache.« Eckehardts Hand klammerte sich an die Rückenlehne des Stuhles. Seine Knöchel traten weiß hervor, und seine Kiefernmuskeln arbeiteten. Eckehardts schmaler Körper spannte sich an. »Du und ich, wir waren beide aus irgendeinem Grund langlebig, und damit ist es nun vorbei. Warum, frage ich dich!« »Ich kann dir keine Antwort geben. Schon seit vielen Jahren möchte ich es wissen, aber ich habe das Rätsel nie lösen können.« »Noch nie war diese Frage so dringend wie heute, nicht wahr?« Eckehardt trat gegen den Stuhl, während er die Lehne noch immer umklammert hielt. Eines der Beine brach krachend ab. Eckehardt schloss die Augen und öffnete leicht den Mund. Dann ließ er den Stuhl los, der polternd umfiel. »Entschuldige«, bat er mit seiner knarrenden Stimme. »Ich habe die Beherrschung verloren.« »Das habe ich gesehen«, kommentierte Arthur trocken. »Ich frage mich, warum wir nun bald sterben müssen, so wie jeder andere Mensch auch.«
»Und ich«, fügte Arthur hinzu, »frage mich schon seit vielen Monden, was ich dagegen tun kann. Wie ich mir meine Langlebigkeit erhalten kann.« »Es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Wir müssen dem Geheimnis endlich auf den Grund gehen.« »Ob die angebliche Mechthild etwas darüber weiß?« »Unsinn! Warum sollte gerade jetzt jemand auftauchen, der uns helfen kann? Seit hundert Jahren hat niemand …« »Weil es einen Sinn ergeben muss! Weil ich nicht glauben will, dass wir hundert Jahre lang die Mächte der Finsternis bekämpfen und dann ohne Grund plötzlich altern und sterben. Es gibt einen Sinn, Eckehardt!« »Schön wäre es.« Er wandte sich ab und ging zur Tür. »Wir sollten beide schlafen. Du musst deinem Körper Ruhe gönnen. Der Medicus sagte, er werde nach Anbruch der Dunkelheit zurückkehren und noch mal nach dir sehen.« »Es ist bereits dunkel.« Arthur lächelte schmal, innerlich aufgewühlt von der Frage nach dem Sinn und der Bestimmung ihrer beider Leben. »Dann wird er wohl bald kommen. Wir sehen uns morgen. Und sobald du gesundet bist, haben wir ein Rätsel zu lösen, mein Freund.« Arthur blieb allein zurück. Er legte sich hin und sah nachdenklich gegen die Decke. Er freute sich über die Wende der Ereignisse. Bis vor kurzem hatte er niemals daran gedacht, sich Eckehardt zu offenbaren, obwohl er derjenige war, dem Arthur das größte Vertrauen entgegenbrachte. Eckehardt kämpfte gegen die Dämonen – genau wie er selbst es tat. Mehr noch, Eckehardt war lange Jahre sein Mentor gewesen, derjenige, der ihn in die Lehre genommen und ihn über die Art ihrer Feinde aufgeklärt hatte. Als er dem Schleimdämon begegnet war, war Arthur nichts als ein unwissendes Kind gewesen, obwohl er schon damals über ein unnatürliches Alter verfügt hatte.
Bis eben war Arthur mit seiner Angst vor dem nahenden Tod allein gewesen – jetzt teilte er dieses Joch mit seinem Freund. Es war ein beruhigendes Gefühl, das zu wissen. Er schloss die Augen und dämmerte in den Schlaf hinüber. Wirre Bilder vermischten sich, wurden von Sekunde zu Sekunde bedrohlicher und vertrieben Arthurs Frieden … wirre Bilder … die schwarzhaarige Hure, die ihn fragte, ob er denn sterben wolle … die Mutter, deren Säugling plötzlich das Gesicht eines alten Mannes trug; sie sah ihn aus ihren hellblauen Augen an und sagte mit trauriger Stimme, es mache keinen Unterschied, ob man alt oder jung oder langlebig oder tot sei … Eckehardt zertrümmerte voller Wut die Überreste des Stuhls … ein schrecklicher Dämon schlug ihm wieder und wieder seine Krallen in den Körper … Etwas stimmt hier nicht! Unruhig wälzte er sich hin und her, strich sich über das Gesicht. Die Decke musste hochgerutscht sein, das Atmen fiel ihm schwer. Sein Herz klopfte hämmernd, aber er wachte nicht wirklich auf. – – »Deine Geschichte interessiert mich, Dämonenjäger.« – – – – »Willst du sterben, Herr?« – – – – »… interessiert mich, Dämonenjäger.« – – – – »… sterben, Herr?« – – – – »Dämonenjäger … sterben …« – – Was war los, seit er in Dresden angekommen war? Was braute sich in dieser Stadt zusammen? Arthur hustete, blinzelte und kam langsam wieder zu sich. Hastig schnappte er nach Luft, doch er musste nur wieder husten. Die Decke – er bekam keine Luft. Als er die Augen öffnete, sah er den Qualm, und sein Husten wollte nicht enden. Die Luft war ihm knapp, er atmete keuchend, doch von Atemzug zu Atemzug wurde der Schmerz in seiner Lunge schlimmer. Dann spürte er die Hitze. Und sah das Feuer. Das Zimmer stand lichterloh in Flammen. Arthur befand sich mitten in einer Hölle aus Feuer und Rauch.
2. – Elend »Das Fleisch würde von den Knochen derer fallen, die die Tempelstätte betreten. Wem die Flucht gelänge, der sei trotzdem verloren. Er wird die Knochensaat weitertragen in alle Winde und davon künden, welch schrecklich Laster die Gier nach dem Gold sei.« Dan Shocker: »Knochensaat«, Macabros 14
Die Wände aus knochentrockenem, jahrzehntealtem Holz brannten. Der Schrank brannte. Alles brannte. Arthur schoss das Entsetzen durch den ganzen Körper, während er auf die Füße sprang und den furchtbaren Schmerz in der Brust ignorierte. Sein Blick huschte hin und her auf der Suche nach einem Fluchtweg. Es gab kein Entkommen. Vor der brennenden Tür loderten Flammen. Es war unmöglich, sie zu öffnen. Der Weg zum Fenster war ebenso versperrt. Arthur hatte viel zu lange geschlafen, während der Tod auf ihn zugekrochen war. Schon jetzt konnte er nicht mehr atmen. Schwarze Punkte flimmerten vor seinen Augen, er krümmte sich zusammen und hustete erneut. Seine Hände fuhren an die Kehle, dann weiter hoch an den Mund. In all dem Chaos drang dennoch der bittersüßliche Geschmack zu ihm durch. Seine Hände waren mit Blut verschmiert und hatten die Lippen berührt. Ein rascher Blick nach unten, und er sah, dass seine
Wunde wieder aufgebrochen war. Der Stoffverband glänzte in nassem Rot. Keine Zeit! Es blieb keine Zeit, sich darum zu kümmern. Arthur musste einen Ausweg finden, irgendeine Möglichkeit zu entkommen. Die Liege und damit der Platz, an dem er stand, war die einzige Enklave innerhalb des Raums, wo das Feuer noch nicht tobte. Aber die mörderische Hitze umgab den Eingeschlossenen. Seine Haut schien zu brennen. Er riss die Decke von der Liege und hielt sie, die Hände auf der Innenseite verkrallt, vor sich. Es dämpfte die Hitze nur unwesentlich und nur für die Dauer eines Lidschlags. Raus! Er musste hier raus! Wieder hetzte sein Blick durch das Zimmer. Die Tür … sie brannte … Ohne weiter nachzudenken, wickelte Arthur die Decke um seinen Leib und hielt sie über seinen Kopf. Er stürmte los, mitten durch die Flammen. Er konnte nichts mehr sehen. Er schrie, als die Decke um seinen Leib zu brennen begann. Dann der Aufprall. Die Tür barst unter der Wucht, und er fiel im Flur zu Boden. Sofort wickelte er sich aus der brennenden Decke. Die Schmerzen waren entsetzlich. Seine Kleidung hatte an mehreren Stellen Feuer gefangen. Er wälzte sich über den Boden, schlug mit bloßen Händen auf das Feuer ein, schrie, schrie, schrie. Jemand fasste ihn an den Oberarmen und zerrte ihn mit sich. Hinaus ins Freie. Halb stolperte Arthur aus eigener Kraft, halb wurde er getragen. Er hinterließ eine Spur aus Blut, das aus dem durchweichten Verband um seine Brust tropfte. Erst jetzt fasste er, dass er gerettet war. Im Freien. Gierig saugte er Luft in die Lungen, was nur einen erneuten Hustenanfall zur Folge hatte. Er brach in die Knie. Dann war jemand neben ihm und stützte ihn. »Arthur!«, stieß Eckehardt hervor. »Ich kam noch einmal zurück …« »Mein Glück«, presste Arthur hervor. »Wenn du nicht aus deinem Zimmer herausgekommen wärst, hät-
te ich dich nicht retten können. Es war unmöglich hineinzugelangen.« Erneutes Husten. Seine Brust explodierte in weiß leuchtendem Schmerz. »Der … Brand …?« »Dein Zimmer war das Zentrum. Der Flur, in den du dich gerettet hast, war feuerfrei.« Eckehardt drehte sich um und fügte hinzu: »Vorhin.« Arthur wandte selbst den Kopf. Das Haus des Medicus' Johann war ein Raub der Flammen. Das Feuer schlug aus den Fenstern und loderte hoch bis zum Dach. »Ich …« »Schweig, mein Freund. Ich weiß, was du sagen willst. Das war kein Zufall. Jemand wollte dich beseitigen.« »Das ist aber ganz und gar nicht …« Ein Hustenanfall unterbrach ihn. Arthur atmete mehrfach tief durch, um Kraft zu sammeln. Seine Hände fuhren zitternd an seine Brust. Blut quoll zwischen den Fingern hervor. »… ganz und gar nicht die Art unserer höllischen Feinde.« Arthur schleppte sich, gestützt von Eckehardt, einige Meter weit von der Flammenhölle weg. Schreie gellten, Männer rannten herbei und schleppten Eimer vom Brunnen herbei, doch der Kampf gegen die Flammen war vergeblich. Jeder Wasserschwall, der ins Feuer geschüttet wurde, schien zischend zu verpuffen. »Das Haus ist nicht mehr zu retten!«, rief eine tiefe Stimme. »Wir müssen verhindern, dass die Feuersbrunst auf die Nachbarhäuser überschlägt!« Zuckende Schatten wurden auf den Weg und die beiden Dämonenjäger geworfen. »Die Höllischen greifen nicht zu solchen profanen Mitteln, um ihre Feinde auszuschalten«, wiederholte Arthur. »Dann sag mir, was hier vorgeht«, verlangte Eckehardt. »Ich weiß es nicht! Aber ich weiß, dass es unser Leben verändern wird. Das alles geschieht nicht zufällig gerade jetzt.« Das Sprechen fiel ihm schwer, aber die Aufregung verdrängte den Schmerz. »Gerade jetzt?« »Denk doch nach! Plötzlich altern wir nach all den Jahrzehnten!
Hier in Dresden treffe ich diese Mechthild, die mehr weiß, als sie vorgibt – und jetzt dieser Anschlag auf mein Leben. Wenn du nicht gekommen wärst …« »Du warst schon fast aus dem Haus. Du hättest meine Hilfe nicht benötigt«, wiegelte Eckehardt ab. »Ich hätte niemals die Kraft gehabt, wieder aufzustehen. Du hast mir das Leben gerettet.« Er schloss die Augen, als ihn ein Schwindelgefühl zu überwältigen drohte. »Tun wir das nicht ständig?« Eckehardt grinste, doch seine Augen blickten ernst. »Ich weiß nicht, was das alles zu bedeuten hat, aber ich werde denjenigen finden, der das Feuer gelegt hat.« »Wir«, verbesserte Eckehardt. »Wir werden den Schuldigen finden.« Arthur nickte. »Glaubst du, es war Mechthild?« »Ich glaube, sie hat etwas damit zu tun«, murmelte Arthur. »Dass sie mich töten wollte, glaube ich nicht.« Und warum nicht? Weil dir ihre Augen gefallen? Arthur biss die Zähne zusammen, dann fluchte er. Eckehardt sah ihn fragend an. Ehe Arthur antworten konnte, berührte er in einer unwillkürlichen Bewegung den Verband um seine Brust und zuckte zusammen. »Verdammt, wir reden hier, und du verblutest in der Zwischenzeit.« Eckehardt sprang auf und entfernte sich. Kurz darauf kehrte er zurück. In seiner Begleitung befand sich Johann, der Medicus. »Er ist gerade rechtzeitig zurückgekommen«, kommentierte Eckehardt. »Offenbar bin ich viel zu spät«, erwiderte Johann fahrig und warf einen Blick auf sein Haus, das hellauf loderte. »Mei – mein Haus … mein Besitz …« Der Brand bedeutete den Ruin für den Medicus. Alles, was er besaß, löste sich in diesen Momenten in Rauch auf. »Hört zu«, forderte Eckehardt, »das Haus ist nicht mehr zu retten. Wir werden Euch helfen, wenn das alles vorbei ist. Wir verfügen
über beträchtliche finanzielle Mittel. Aber jetzt kümmert Euch um meinen Freund. Ihr seid ein Heiler, und er wird ohne Eure Hilfe sterben.« Johann nickte und beugte sich herab. Arthur wurde ohnmächtig, als der Medicus den blutdurchtränkten Verband löste.
Die Welt schwamm in Schmerz und Leid. Träge sickerte Helligkeit in die Finsternis, die bis dahin undurchdringlich gewesen war. Gedämpfte Laute drängten in sein Bewusstsein. duur … oieh … wuun … Eine neue Welle spülte Arthur hinweg. … an'ht … wuun … Er hörte wieder etwas, obwohl er nicht wach werden wollte. Denn Wachsein bedeutete Pein. Licht blitzte auf, wieder und wieder. Er wird wach. Seine Augen flattern. Trocken. Die Zunge, der Hals – so unendlich trocken. Sein Mund öffnet sich. Gebt ihm Wasser. Feuchtigkeit. Er saugte sie auf, begierig, sie rann die Kehle hinunter. Ein Würgen. Saugen nach Luft. Dreht ihn auf die Seite, Eckehardt. Ein vertrauter Name, der Sicherheit verhieß. Hände fassten ihn an. Es schmerzte. Dann – endlich – verließ Arthur die Grenze zum Tod und kehrte zurück ins Leben. Eckehardt und Johann standen neben der Liege. »Es ist in Ordnung, Arthur«, sagte der Medicus. »Die Wunden werden heilen.« »Was …«, röchelte Arthur. »Es war mein Fehler«, sagte Eckehardt leise. »Ich habe dich aus dem Haus gezerrt, und wir haben geredet, während du beinahe ver-
blutet bist.« »Unsinn«, widersprach Johann. »Ich bin der Schuldige. Ich bin ein Heiler, und ich habe nicht gesehen, in welchem Zustand Arthur war. Ich sah die Verbrennungen und den Verband, doch ich hätte ihn nicht einfach lösen dürfen.« »Was – ist geschehen?« »Eine Eurer Rippen war gebrochen und bohrte sich in Euren Leib, als ich Euch versorgen wollte. Wenn Ihr gestorben wärt, lastete Euer Leben jetzt auf meinem Gewissen.« »Johann hat dich gerettet«, betonte Eckehardt noch einmal. »Du musst dir die Rippe bei deiner Flucht vor dem Feuer gebrochen haben, aber du hast es wegen der anderen Schmerzen nicht bemerkt.« »Müde«, presste Arthur hervor. »Schlaft, Herr«, stimmte Johann zu. »Du hast zwei Tage geschlafen«, erklärte Eckehardt. »Zwei weitere Tage, und du wirst dich wie neugeboren fühlen.« Arthur hörte die Worte des Freundes nicht, denn seine Augen bewegten sich bereits unter den geschlossenen Lidern, und er war gefangen in einem wilden, vom Wundfieber bestimmten Traum.
Zehn Tage vergingen ohne weitere Zwischenfälle. Arthur kam wieder zu Kräften, die beinahe tödliche Verletzung schränkte ihn kaum noch ein. Johann wechselte an jedem Morgen einen fest angezogenen Verband, der verhinderte, dass sich die gebrochene Rippe bewegen konnte. Der Medicus versicherte, dass die Heilung rasch voranschritt. Sie bewohnten zu dritt zwei Zimmer in einem Wirtshaus, nicht weit entfernt von der völlig zerstörten Ruine, in der Arthur fast verbrannt wäre. »Hast du Mechthild ausfindig machen können?«, fragte Arthur seinen Freund Eckehardt ungeduldig. »Genauso wenig wie gestern oder die Tage vorher.« Eckehardt ergriff die Rückenlehne eines Stuhls, und vor Arthurs geistigem Auge formte sich das Bild, wie der Freund voller Zorn gegen das Stuhl-
bein getreten hatte. »Niemand kennt eine junge Mutter namens Mechthild, deren Baby Oswalt heißt.« »Dann müssen wir sie suchen«, sagte Arthur entschlossen. »Wie stellst du dir das vor?« »Es geht mir besser, ich spüre die Verletzungen und den Bruch kaum noch. Ich werde zu der Ruine von Johanns Haus gehen und dort auf sie warten.« »Und du glaubst, dass sie einfach so kommen wird?« »Sie sprach mich dort an, damals. Sie wollte mich erneut aufsuchen. Und sie wird es tun.« »Vielleicht war sie nichts als eine Durchreisende, die Dresden längst verlassen hat.« »Sie weiß etwas, das spüre ich«, widersprach Arthur. »Sie ist wichtig für unser Leben.« »Soll ich mitkommen?« »Bleib du zurück … nichts soll sie daran hindern, mich anzusprechen.« Kurz darauf verließ Arthur das erste Mal, seit sie hier eingezogen waren, das Wirtshaus. Die Luft war kühl, doch durch die Wolkendecke drangen immer wieder vereinzelte Sonnenstrahlen, die angenehm wärmten. Verschiedentlich sprachen ihn Vorübergehende an, doch er achtete nicht auf sie; zu sehr war er in Gedanken versunken und darüber hinaus die Isolation gewohnt. In den letzten zehn Tagen hatte er niemanden außer Eckehardt und Johann gesehen. Die Ruhe hatte ihm gut getan – doch jetzt verlangte alles in ihm, dass sich die Dinge weiterentwickelten. Was sollte er tun, wenn sich Mechthild nicht zu erkennen gab? Dresden verlassen und so weitermachen wie bisher? Weder er noch Eckehardt hatten die geringste Idee, wie sie dem Geheimnis ihrer Langlebigkeit auf die Spur kommen sollten. Es gab niemanden, den sie fragen konnten. Oder doch? Hartnäckig hielt sich das Gerücht eines Magiers, der über große Kenntnisse verfügen sollte und sich der weißen Magie verschrieben hatte … Wenn irgendjemand auf der Erde ihnen helfen konnte, dann doch sicherlich er. Aber existierte dieser Merlin wirklich, oder war er nichts als eine Sa-
gengestalt? Man berichtete hinter vorgehaltener Hand schon seit Jahren fantastische Dinge von ihm. Überall war sein Name bekannt – doch genau das war das Problem. Arthur konnte nicht glauben, dass es einen Menschen gab, der über solch erstaunliche Fähigkeiten verfügte. Oder war Merlin kein Mensch? War er ein höheres Wesen, das sich dem Guten verschrieben hatte? Von übernatürlichem Leben erfüllt – wie auch die Dämonen? Arthur wusste, dass diese Überlegungen zu nichts führten. Selbst wenn Merlin existierte, gab es keine Möglichkeit, ihn zu finden. Es hieß, der Magier wende sich an diejenigen, denen er etwas mitzuteilen beabsichtigte. Manche sagten, er lebe in einer fremden Welt, andere behaupteten, er residiere in einer unsichtbaren Burg … Die Ruine des Hauses Johanns kam in Sicht. Kinder spielten in den Überresten. Helles Kichern drang zu dem Ankömmling herüber. Ein etwa vierjähriger Junge hielt ein verkohltes Holzstück wie ein Schwert und lieferte sich einen Kampf mit den Resten einer Wand. Er bemerkte Arthur und ließ seine »Waffe« fallen. »Was willst du hier?«, fragte er keck. »Dies ist mein Reich!« »Zunächst einmal, Junge«, begann Arthur verschwörerisch, »solltest du im Kampf nie dein Schwert wegwerfen.« Das Kind lachte. Seine schwarzen Haare standen wirr in alle Richtungen. »Aber ich habe meinen Feind doch besiegt.« Er wies hinter sich auf die Wand. »Doch ein anderer Gegner könnte plötzlich auftauchen!« Arthur tat so, als ziehe er selbst ein Schwert. »Was dann?« Vor Vergnügen kreischend bückte sich der junge und hob das Holzstück erneut auf. Ein entschlossener Ausdruck trat in seine strahlend blauen Augen, und er fletschte die Zähne. Die anderen Kinder hatten ihr eigenes Spiel beendet und blickten auf Arthur. Dessen gute Laune verschwand unvermittelt, als er die vielen auf ihn gerichteten Kinderaugen sah und eine Erinnerung ihn durchzuckte. Sehnt Ihr Euch nicht danach, endlich einmal den eigenen Nachwuchs in den Armen zu wiegen? Und als dieser Gedanke ihm kam, hörte er tatsächlich Mechthilds Stimme. »Ich wusste doch, dass Ihr Kinder mögt, Herr!«
Arthur drehte sich hastig um. »Ihr …?« »Geht spielen, Kinder. Ich entführe euch euren Spielkameraden.« Vor allem der Vierjährige murrte, doch er gab sich zufrieden, als Arthur eine kurze Schwertattacke schauspielerte. Lachend ließ er sich fallen. »Kommt mit mir, Arthur!«, bat Mechthild. »Ich habe Euch gesucht.« »Und ich wusste, dass ich Euch früher oder später hier finden würde.« »Wusstet Ihr?« »Ich hoffte es, um genau zu sein. Ich habe dir etwas zu sagen.« Arthur übernahm die vertrautere Anrede unwillkürlich. »Ich werde dir zuhören, denn es gibt Dinge, die ich wissen muss.« Sie lachte und brachte ihr Gesicht nahe an seines. Arthurs Wahrnehmung fixierte sich auf ihre hellblauen Augen. »Ich werde nicht alle Rätsel deines Daseins lösen«, hauchte sie. »Woher wusstest du von meiner Berufung?« »Nur deswegen habe ich dich aufgesucht.« »Unsere Begegnung war kein Zufall?« »Selbstverständlich nicht.« Sie entfernten sich immer weiter von der Ruine, Arthur hatte unwillkürlich den Weg zu dem Wirtshaus eingeschlagen, in dem er, Eckehardt und Johann untergebracht waren. »Lass uns die Stadt verlassen«, sagte Mechthild schließlich. »Es gibt hier zu viele Ohren, die mithören können, was wir zu besprechen haben.« »Es ist ein weiter Weg zur Stadtmauer.« »Ich beabsichtige nicht, zu Fuß zu gehen.« Nur wenig später näherte sich ein von einem alten Pferd gezogener Karren. Ein weißhaariger Alter saß auf dem Pferd, hielt lose die Zügel in der Hand. Der Karren war mit Stroh beladen. »Guter Mann«, rief Mechthild, »bringt uns bitte an den Stadtrand!« Der Alte drehte den Kopf. Jetzt, da Arthur sein Gesicht sah, erkannte er erst, wie alt er in Wirklichkeit sein musste. Tiefe Falten durchzogen Stirn und Wangen. »Wieso sollte ich?«
»Weil Ihr das hier gebrauchen könnt.« Mechthilds Hand verschwand kurz in der Tasche ihres Kleides, dann streckte sie ihm zwischen Daumen und Zeigefinger eine Münze entgegen. Die Augen des Alten weiteten sich. »Überaus großzügig«, sagte er mit kratziger Stimme. Das Geldstück verschwand erstaunlich schnell in einem Säckchen, das der Greis um sein Handgelenk trug. Arthur und Mechthild kletterten ins Stroh des Wagens, dann schnalzte der Alte mehrfach mit der Zunge, und das Pferd trabte los. Die Fahrt verlief schweigend – jetzt hätte ihr Gespräch einen sicheren Zuhörer gefunden. Als sie wenig später abstiegen und zu Fuß durch das Stadttor gingen, genoss Arthur den weiten Blick, der sich ihm über die Felder bot. Bald waren sie allein. »Was hast du mir zu sagen?«, nahm er den Faden wieder auf. »Du wolltest mir von deiner Vergangenheit erzählen«, wich sie aus. »Und das werde ich. Sobald ich weiß, wer du bist und warum du mich aufgesucht hast.« »Zunächst solltest du wissen, dass ich nicht wirklich Mechthild heiße.« Arthur atmete tief aus. »Warum …« »Ich wählte den Namen nur, damit du ins Grübeln gerätst und weißt, dass es jemanden gibt, der über dein Leben genauestens Bescheid weiß. Deshalb nannte ich dich auch Dämonenjäger, bevor ich dich verließ.« »Dein Baby hat also zu einem Zeitpunkt angefangen zu weinen, der dir sehr gelegen kam, ja?« »Babys zur richtigen Zeit weinen zu lassen, stellt keine Mutter vor größere Probleme.« Sie lächelte maliziös. Also hat sie das komplette Gespräch genauestens geplant … und ich habe genau die Überlegungen angestellt, die ich anstellen sollte. »Nenne mir deinen richtigen Namen.« »Gertrud.« »Und woher weißt du so genau über mich Bescheid, Gertrud?« »Ich bin die Gehilfin eines anderen, ungleich mächtigeren und
wichtigeren Mannes.« »Du wirst mir nicht sagen, um wen es sich handelt?« »Noch nicht. Gedulde dich ein wenig.« »Ich habe mich zehn Tage geduldet!« »Wir hörten von der Feuersbrunst und davon, dass du beinahe gestorben wärst.« »So?«, fragte Arthur misstrauisch. »Dann wisst ihr ja auch von meinem Freund.« »Mein … Auftraggeber und ich sind über Eckehardt bestens im Bilde.« »Ihr scheint sehr viel zu wissen.« »Er weiß sehr viel. Ich weiß nur das, was er mir offenbart.« In der Überzeugung, dass Gertrud ohnehin nicht mehr preisgeben würde, fragte Arthur nicht weiter nach. »Eckehardt ist der Meinung, dass du und der Geheimnisvolle nicht nur von der Feuersbrunst hörtet, sondern dass ihr sie gelegt habt.« Das war zwar übertrieben, aber immerhin hatte der Freund diesen Verdacht tatsächlich einmal geäußert. »Wir haben nur dein Bestes im Sinn, Arthur«, erwiderte sie erschrocken. »Nichts liegt uns ferner, als dir nach dem Leben zu trachten.« »Dann sage mir, warum du dich derart geheimniskrämerisch gibst!« »Wir sind uns nicht sicher, ob es die richtige Zeit ist, dir das Rätsel zu offenbaren.« »Welches Rätsel? Nun rede schon, Gertrud!« »Das Geheimnis deiner Langlebigkeit. Du bist auserwählt, Arthur! Genau …« Plötzlich verstummte sie. Ihre Augen weiteten sich. Sie starrte über seine Schulter hinweg, in Richtung des nahe liegenden Waldes. »Flieh!«, schrie sie. Arthur wirbelte herum. Ein Monster stürmte auf sie zu.
»Wo ist Arthur?« Johann, der Medicus, faltete die Hände ineinan-
der. Eckehardt sah von dem Papyrus auf, das er studierte. Die Kunst des Lesens hatte er sich schon vor langer Zeit angeeignet. Es hatte sich schon mehrfach als nützlich erwiesen. »Er sucht die Frau.« »Mechthild?« »Wen sonst? Hättest du ihm verboten, das Haus zu verlassen?« »Seine Wunde und die gebrochene Rippe heilen sehr gut. Einem Ausflug ist nichts entgegenzusetzen. Im Gegenteil, ihm werden Bewegung und frische Luft gut tun.« Eckehardt … »Was?« »Ich sagte, Bewegung und frische Luft …« »Ich habe dich verstanden, Johann, jemand hat meinen Namen genannt.« »Es ist niemand hier«, erwiderte Johann verwirrt. »Vielleicht hat der Wirt von unten gerufen.« »Ich verfüge über ein ausgezeichnetes Gehör, aber ich habe …« – Eckehardt! – »… nichts gehört.« »Da war es wieder!« »Unsinn. Aber wenn es dich beruhigt, dann sieh nach.« Eeeckeeeehaaaardt … Eckehardt! Eeeeckeeeeeee … Er sprang auf, eilte zur Tür und riss sie auf. Die Stimme verstummte augenblicklich. »Ich muss mich wohl getäuscht haben«, sagte er leise. »Vielleicht brauchst du einfach ein wenig Schlaf. Du wirkst sehr erschöpft.« »Du weißt, dass meine Berufung nicht gerade ein ruhiges Leben nach sich zieht.« In den letzten Tagen hatte Johann von den beiden Dämonenjägern einiges über ihr Leben erfahren. »Deshalb solltest du die Ruhezeit, die dir gegönnt wird, umso mehr genießen.« »Wenn wir Mechthild nicht finden, werden wir bald weiterziehen.« »Und was wird aus mir?« »Wir werden dir noch mehr Goldmünzen hier lassen. Damit
kannst du eine neue Existenz für dich gründen. Wir sind daran schuld, dass dein Haus abbrannte.« »Dennoch ist es nicht selbstverständlich, dass ihr mir derart großzügig beisteht.« Johann verabschiedete sich, um sich in das Nachbarzimmer zurückzuziehen. Kaum schloss er die Tür, hörte Eckehardt wieder die Stimme, die seinen Namen wisperte. Sein Herz begann schneller zu schlagen. Es musste eine dämonische Spukerscheinung sein, die in seinen Geist eindrang. Wir sssssind hieeer, Eckehaaaardt! Sssssieh nur! Die Luft flimmerte vor dem Fenster. Ein schemenhafter Umriss erschien. Im ersten Moment glaubte der Dämonenjäger, eine aufrecht gehende Echse zu sehen. Die Konturen verfestigten sich nicht, aber ein dicker, mit Dornen bespickter Schwanz war erkennbar, und ein schmaler, lang gezogener spitzmäuliger Schädel. Vooor der Ssssstadt vvvollennnnden wir dasss Werrrrk. Eine Klaue mit überlangen Krallen öffnete und schloss sich in raschem Rhythmus. Geifer troff aus dem Maul, und ein hohes Knurren ertönte, das in einen Schrei überging. Errrr wirrrrd ssssterben! Dann verschwand die Erscheinung. Eckehardt war der Schweiß ausgebrochen. Er rannte zu der Stelle, an der das Monstrum halb stofflich geworden war. Oder war es nur ein Produkt seiner gereizten Fantasie gewesen? Auf dem hölzernen Boden warf eine durchsichtige, schleimige Flüssigkeit Blasen. Eckehardt erinnerte sich, dass dem Dämon Geifer aus dem Mund getropft war. Jetzt erst drangen die Worte des Höllischen in sein Bewusstsein vor. Vor der Stadt vollenden wir das Werk. Er wird sterben. Arthur! Er war in tödlicher Gefahr!
Arthur bereute zutiefst, dass er sein Schwert nicht mitgenommen hatte. Er trug nicht einmal einen Dämonenbanner bei sich, um Gertrud und sich zu schützen. Nacktes Entsetzen durchzuckte ihn, als er das Monster sah, das auf muskulösen, graubraun schillernden Beinen auf sie zustürmte. »Wir müssen sofort weg!« Er sah sich verzweifelt nach einem starken Ast oder irgendetwas anderem um, das er wenigstens notdürftig als Waffe einsetzen konnte. Vergeblich. Das Untier stampfte weiter heran. Der Schädel und der Körper glänzten in erdigem Braun. Der schmale reptilienartige Kopf ging halslos in den breiten Rücken über. Das lang gezogene Maul war aufgerissen, Geifer troff von spitzen Zähnen. Der Dämon hatte entsetzlich lange Klauen, an deren Enden hornige Krallen prangten. Über den gesamten Rücken verlief ein mit stachelartigen Verdickungen versehener Kamm, der in einen Schwanz überging. »Zur Seite!«, schrie Gertrud und sprang vor Arthur. Der Dämon war fast heran. »Wir können mit diesem Monster nicht kämpfen!« Arthur packte Gertrud, um sie mit sich zu zerren. So sinnlos eine Flucht auch erschien – sie mussten es wenigstens versuchen. Der Höllische brüllte und schlug mit seinen Krallen in die Luft. Bald würde er Gertrud erreichen und … Arthur durfte nicht zulassen, dass die wehrlose Frau getötet wurde. Es spielte keine Rolle, ob er diesen Kampf gewinnen konnte oder nicht – er musste mit bloßen Fäusten gegen den Dämon angehen. So sieht also das Ende aus – von einem namen- und hirnlosen Untier zerrissen … nach all den Kämpfen, die ich ausgestanden habe, nach all den mächtigen Dämonen, die ich vernichtet habe! Etwas flog von Gertrud aus auf den Dämon zu und prallte gegen dessen sehnigen Unterleib. Der Lauf des Monstrums stoppte abrupt, es brüllte in wütendem Schmerz und wurde wie von einem unsichtbaren Schlag zur Seite geschleudert. Rücklings prallte es auf den Boden und schlitterte einige Meter haltlos nach hinten. Es schlug wild mit allen vier Extremitäten um sich, und der Schwanz peitschte. Die hornigen Stacheln zogen tiefe Furchen in die Erde.
Noch immer schrie der Dämon in wütendem Schmerz. Dann warf er sich herum und kam katzenartig geschmeidig wieder auf die Beine. Arthur starrte verblüfft auf Gertrud. »Was hast du getan?« Sie zog einen zweiten Gegenstand aus der Tasche ihres Kleides. Arthur konnte ihn nicht richtig erkennen, doch es schien sich um einen flachen, mit vielen Symbolen verzierten Stein zu handeln. »Du hasssst einnnnen Ffffehler begannngen!«, brüllte der Dämon und raste wieder auf die beiden Menschen zu. Erneut traf Gertrud zielgenau, und wieder brüllte der Höllische entsetzt auf. Diesmal sah Arthur, wie sich die weißmagische Gemme in den Leib des Dämons brannte. Gleichzeitig war es wieder, als treffe ihn ein gewaltiger Schlag. Er wurde nach hinten geschleudert. Rascher als zuvor kam er wieder auf die Beine, doch diesmal ging er nicht zu einem erneuten Angriff über. Stattdessen wandte er sich zur Flucht. »Hol die zweite Gemme!«, schrie Gertrud und eilte zu dem ersten Stein. Kurz darauf hielten sie jeder einen der Talismane in Händen. Das Monstrum brach durch den nahen Waldrand. Noch einige Momente lang hörte man Knacken und Brechen der Äste, dann kehrte Stille ein. Gertrud lächelte und ließ ihre Gemme wieder in der Tasche verschwinden. »Du solltest deine behalten. Wie du siehst, sind sie recht nützlich.« »Ohne sie wären wir jetzt tot«, stimmte Arthur zu. Nachdenklich betrachtete er den Stein in seiner Hand. Er war in etwa eiförmig, aber flacher als ein solches. Rundum waren Symbole in die Oberfläche eingekratzt; die meisten kannte Arthur auf Grund seiner langen Erfahrungen mit Magie. Etwa den Drudenfuß oder die in magischen Kombinationen angeordneten Buchstaben des griechischen Alphabets. Andere hatte er wiederum nie zuvor gesehen. »Du steckst voller Überraschungen, Gertrud.« »Lass uns in die Stadt zurückkehren. Ich glaube nicht, dass eines dieser Biester uns dorthin folgen wird.«
Sie legten den Weg zum Stadttor rasch zurück. Dort herrschte Gedränge, aber dennoch erkannte Arthur schon von weitem einen derjenigen, die die Stadt verlassen wollten. »Das ist Eckehardt!«, raunte er Gertrud zu. »Er wirkt nicht besonders freundlich.« In der Tat war das Gesicht des Freundes angespannt. Man sah ihm an, dass es ihm nicht schnell genug ging. Als er sich endlich den Weg gebahnt hatte, hastete er weiter, ohne nach vorn zu sehen. So bemerkte er Arthur und Gertrud nicht. »Eckehardt!« Arthurs Zuruf stoppte ihn. Seine Augen weiteten sich. »Ich bin froh, dich gefunden zu haben, Arthur. Dir droht Gefahr.« Verwirrt sah er dann Gertrud an. »Wir haben die Gefahr hinter uns«, versicherte Arthur. »Und ehe du fragst – ja, ich habe sie gefunden. Oder besser sie mich.« »Mechthild«, murmelte Eckehardt leise. »Gertrud«, verbesserte sie. Der Dämonenjäger nahm das kommentarlos hin. »Was meintest du mit deinen Worten?«, wandte er sich an Arthur. »Ich ging zu der Ruine vom Hause Johanns, und sie sprach mich an. Also hat sie mich gefun …« »Was meinst du damit, ihr habt die Gefahr hinter euch?«, präzisierte Eckehardt seine Frage. Arthur blickte sich rasch um, doch es stand niemand so nah, dass er hätte zuhören können. »Ein Dämon griff uns an!« »Wie hast du ihn besiegt? Du bist waffenlos!« »Ich erzähle es dir, wenn wir zurück in unserem Zimmer sind.« »Wird sie mitkommen?« Eckehardt deutete mit erkennbarem Misstrauen auf Gertrud. »Sie hat sich unser Vertrauen verdient.« »Mit dumpfen Andeutungen und der Angabe eines falschen Namens?« »Ohne sie wäre ich jetzt tot!«, erwiderte Arthur und mischte sich
unter das Gedränge, ohne eine Erwiderung Eckehardts abzuwarten. Gertrud folgte ihm schweigend, und auch Eckehardt schloss sich an. Als sie schließlich erschöpft das Wirtshaus erreichten, trank jeder einen Krug Wein, ehe sie sich nach oben begaben, um sich ins Zimmer zurückzuziehen. Der Wirt bedachte Gertrud mit einem schiefen Grinsen und kniff eines seiner großen Augen zusammen, als er glaubte, niemand außer Arthur würde es sehen. Arthur schüttelte den Kopf, doch der Wirt lachte nur. Im Zimmer setzten sich die drei gegenüber. »Wir haben uns einiges zu erzählen«, meinte Arthur. »Woher wusstest du, dass uns Gefahr drohte?«, fragte Gertrud an Eckehardt gewandt. »Sagt mir zuerst, wie ihr den Dämon besiegt habt.« Wortlos zog sie eine der Gemmen hervor und reichte sie Eckehardt. »Der Stein wies eine erstaunliche Kraft auf«, erklärte Arthur. »Ich habe selten eine derartige Wirkung gesehen. Es hat das Monstrum in die Flucht geschlagen, noch ehe es zu einem wirklichen Kampf kam. Der Dämon wurde schwer verletzt.« »Ein stämmiges braunes Untier, entfernt echsenähnlich und mit einem lang gezogenen Schädel, etwas über mannsgroß?«, fragte Eckehardt. »Woher weißt du?« »Ich hatte ein ungewöhnliches Erlebnis. Ein solches Monster ist mir hier im Zimmer … erschienen.« »Hier?« Arthurs Stimme war schrill vor Aufregung. »Es war eher eine Art Geist, eine Erscheinung. Ich fragte mich, ob es überhaupt Wirklichkeit gewesen ist.« Nachdenklich erhob sich Eckehardt und ging zu der Stelle, an der der Geifer des Dämons zu Boden getropft war. Da war noch ein handtellergroßer feuchter Fleck. Er zeigte ihn den anderen und gab eine kurze Erklärung. Auch sie berichteten nun genau, was geschehen war, seit Arthur das Haus verlassen hatte. Als alle Informationen ausgetauscht waren, schloss Eckehardt: »Nun fehlt nur noch eins: Sag uns, wer du bist, Gertrud, und wer der Geheimnisvolle ist, in dessen Auftrag du
handelst.« »Es sind noch mehr Fragen ungeklärt«, widersprach sie. »Zum Beispiel, warum der Dämon dir zwar erschienen ist, dich aber nicht angriff.« »Er … er drohte mir. Versuchte mich einzuschüchtern, wollte mich wohl in Panik versetzen mit der Ankündigung, dass er Arthur vor der Stadt töten würde.« »Wieso hat er sich gerade an dich gewandt?« »Frag ihn, wenn du ihn siehst«, antwortete Eckehardt. »Aber er wird dir wohl kaum Rede und Antwort stehen.« »Wir müssen ständig damit rechnen, dass einer dieser Dämonen plötzlich hier auftaucht. Wir sollten alle eine der Gemmen bei uns tragen.« »Wie kommst du darauf, dass mehrere der Monster hier ihr Unwesen treiben?« »Es sagte zu Eckehardt: Vor der Stadt beenden wir das Werk. Es handelt sich also um mehrere.« »Doch die Frage ist«, murmelte Eckehardt, »warum wollen sie uns töten?« »Dich, Arthur – warum wollen sie dich töten?«, widersprach Gertrud. »Eckehardt wurde lediglich … gewarnt.« »Dieser Dämon hatte schon gedanklichen Kontakt mit mir, bevor er körperlich erschien. Er will mich zermürben – foltern.«
»Er will mich zermürben – foltern«, schloss Eckehardt seine Ausführung. Ffffolllternnn, klang da die höllische Stimme in ihm auf. Eckkkkkeharrrdt ffolterrrrn. Er hat essss verrrrdiennnnnt. Er stöhnte leise auf.
Eckehardt stöhnte leise, und Arthur fragte besorgt: »Was hast du?« »Nichts. Es – es ist in Ordnung.« »Dann sollten wir die letzten Dinge klären, die noch beredet wer-
den müssen«, drängte Gertrud und musterte die beiden aus ihren hellblauen Augen. Arthur wand sich leicht unbehaglich, fühlte sich, als blicke sie bis auf den Grund seiner Seele. Eckehardt zeigte keine Reaktion. »Du, Arthur, schuldest mir noch eine Geschichte – wie du deine Verletzung davongetragen hast, was geschehen ist, unmittelbar bevor du nach Dresden gekommen bist. Danach werdet ihr alles über mich erfahren.« »Dich interessiert nicht wirklich das, was vor einigen Tagen passiert ist, nicht wahr?« »In Wirklichkeit interessiert mich alles. Erzähle mir von damals. Von der echten Mechthild. Davon, wie du Eckehardt zum ersten Mal getroffen hast.« »Und dann wirst du dein Geheimnis lüften?« »Das und das desjenigen, der mich zu euch geschickt hat. Er erwartet euch.« »Wie ist sein Name?« »Sein Name ist weniger wichtig als seine Aufgabe.« Sie winkte ab. »Habt Geduld.« Arthur nickte grimmig, dann begann er zu sprechen. »Mechthild war eine Wirtstochter, und ich habe sie mit in mein Haus genommen, als ich zum ersten Mal auf einen Dämon traf.« »Wann war das?« »Vor knapp hundert Jahren.« Gertrud nahm diese Zeitangabe ungerührt hin. »Ich fand an jenem Tag die Leiche meines damaligen Dieners Konrad. Er war halb aufgefressen und hat sich Stunden später wieder erhoben.« Arthur überlief ein Schauer bei der Erinnerung, trotz allem, was er seitdem erlebt hatte. »Ich verfolgte ihn mit Mechthild und zwei Freunden – wir stellten und vernichteten ihn. Doch er war nur die Dienerkreatur eines weitaus mächtigeren Dämons, der unser Dorf heimgesucht hatte. Ich traf den Dämon wenig später in der Schmiede meiner Freunde. Er hatte die beiden getötet.« Als Arthur schwieg, fuhr Eckehardt in der Erklärung fort. »Der Dämon war damals vor mir in Arthurs Dorf geflohen. Ich hatte ihn in die Enge getrieben, doch es gelang mir nicht, ihn zu vernichten.
Ich verlor seine Spur.« »In der Schmiede hörte ich aus dem Mund des Dämons zum ersten Mal Eckehardts Namen. Ich beschloss, Eckehardt zu suchen – doch dann überschlugen sich die Ereignisse. Der Dämon schickte mich in eine Ohnmacht, ich erwachte erst Stunden später, in der Nacht. Als ich die Schmiede verließ, bot sich mir ein Bild des Grauens …«
1120, in einem Dorf, dessen Name schon wenig später für immer im Dunkel des Vergessens verschwinden sollte, im Herzogtum Schwaben Arthur stand wie gelähmt. Seine Knie zitterten. Er bekam seinen Körper einfach nicht unter Kontrolle. Nichts hatte ihn auf das vorbereiten können, was er sah. Nicht einmal die Entdeckung der verstümmelten Leiche seines Dieners Konrad. Nicht einmal das seelenlose Flüstern des Wortes »Hunger« von toten Lippen. Nicht einmal die Leichen von Gunter und Hadamar. Denn das alles spielte sich vor seinen Augen hundertfach ab. Überall wandelnde Leichen. Sie rannten auf Türen ein, drangen durch verbarrikadierte Fenster, krochen auf Dächern. Sie töteten Männer, die Arthur ein Leben lang kannte und die völlig chancenlos gegen die Armee des Grauens waren. Arthur wollte sich die Ohren zuhalten, um die Schreie nicht hören zu müssen. Er wünschte, der Schleimdämon hätte ihn getötet und nicht nur in eine Ohnmacht geschickt, denn dann hätte er das Entsetzliche nicht miterleben müssen. Nun zahlte Arthur die Strafe dafür, dass er zwei der Dienerkreaturen des Höllischen vernichtet hatte – die Worte des Dämons klangen in ihm nach: Du sollst es sehen. Heute Nacht … Er zog sich in das Innere der Schmiede zurück. Er wollte nicht sterben, kein Opfer der Albtraumkreaturen werden, die das Dorf überrannten. Er wollte überleben - und so viele der Dorfbewohner
retten, wie es irgend möglich war. Doch dazu durfte er nicht kopflos ins Freie stürmen. Er musste einen Plan entwickeln! Eine wirksame Waffe finden. Er schloss die Tür, der Lärm drang nur noch gedämpft in den Raum. Dennoch konnte Arthur keinen einzigen klaren Gedanken fassen. Alles in ihm drehte sich, genauso wie die Schmiedewerkstatt um ihn herum. Obwohl er ruhig stand, hatte er das Gefühl zu fallen. Er schloss die Augen und presste die Hände gegen die Schläfen. Das half ein wenig, aber der Schwindel verschwand nicht. »Was soll ich tun?« Der Klang seiner eigenen Worte erschreckte ihn. »Verdammt, was soll ich tun?« Da drang ein anderes Geräusch an Arthurs Ohren. Ein Kratzen, gefolgt von schlurfenden Schritten … Ich bin nicht allein!, schoss es ihm durch den Kopf. Und dann die Erkenntnis: Gunter. Hadamar. Ihre Leichen hatten in der Schmiede gelegen! Ekel erregender Gestank überflutete Arthurs Sinne. Ein hohles Geräusch hinter ihm. Er wirbelte herum. Und schrie. Trotz der Verstümmelung war diese Kreatur zweifellos als Gunter erkennbar. Die massige Statur, die Kleidung … »Hunger …«, hörte Arthur. Eine blutige Hand streckte sich ihm entgegen. Er taumelte einen Schritt zurück, stolperte und stürzte. Er rollte sich auf die Seite, ignorierte den Schmerz in seinem Rücken. Die Leiche stapfte weiter auf ihn zu. Arthur reagierte völlig kalt. Alle Emotionen waren abgeschaltet und unterdrückt. Er trat aus dem Liegen heraus dem Ding gegen die Knie. Es taumelte rückwärts, prallte gegen einen steinernen Tisch. Werkzeug fiel scheppernd zu Boden. Ein Hammer. Der Metallstab, mit dem Arthur sich gegen den Schleimdämon hatte verteidigen wollen. Eine Zange. Arthur sprang auf die Füße und rannte in wilder Panik zu der Tür, die in den Nebenraum führte. An der Wand dort hingen neben Huf-
eisen und einem Schmuckstück auch zwei Schwerter. Er nahm eines. Noch bevor er sich wieder zur Tür wandte, hörte er ein Krächzen. Ihn überlief es kalt. Er drehte sich um. Sein Magen verkrampfte sich. Nicht nur die Leiche Gunters wankte auf ihn zu, sondern auch das, was von Hadamar übrig geblieben war. Arthur schlug zu. Der enthauptete Leib Gunters tat noch zwei Schritte, ehe er zusammenbrach. Arthur war so weit zurückgewichen, wie es ihm möglich war. Den besiegten Feind bedachte er mit keinem Blick mehr. In diesen Sekunden existierte nur noch Hadamar. »Arthur …«, stammelte der ehemalige Freund. Dieses eine Wort lähmte ihn. Seine Hand war kaum noch fähig, das Schwert zu halten. Hadamar kam näher. »Hunger …« Arthur konnte nicht atmen. Seine Hand krampfte sich um den Griff des Schwertes. Fauliger Gestank schlug ihm entgegen. Eine tote Hand näherte sich ihm. Sie hatte nur noch drei Finger. Arthur schrie in namenlosem Entsetzen, hob das Schwert, schloss die Augen, schlug zu. Die Klinge fand ihr Ziel. Arthur öffnete die Augen wieder, sah, dass er erfolgreich gewesen war. Er ließ das Schwert fallen, schlug die Hände auf die Ohren, um nicht die Laute hören zu müssen, die immer noch draußen ertönten … Stille. Nur sein rasender Herzschlag in seinen Ohren. Er taumelte zurück in den Hauptraum. Sein Atem ging stoßweise. Er stellte das Schwert mit der Spitze auf den Boden und stützte sich auf den Griff. Noch immer – oder wieder – zitterten seine Knie. Erst nach Sekunden wurde ihm klar, was er tun musste. Er ging zurück in den Nebenraum, stieg über die beiden endgültig Toten und holte das zweite Schwert. Dann verließ er die Schmiede.
Fünfundzwanzig, vielleicht dreißig Überlebende scharrten sich auf dem Dorfplatz zusammen, im Rücken die Wand der kleinen Kirche. Eine bunt gemischte Gruppe aus Männern, Frauen und Kindern. Etwa zehn Männer bildeten einen Halbkreis vor den anderen. Sie verteidigten sich mühsam, trieben die angreifenden Kreaturen mit Sicheln, Äxten und sogar Holzbrettern zurück. Der Mut der Verzweiflung ließ sie zu allem greifen, das als Waffe verwendet werden konnte, doch die Menschen waren chancenlos, die lebenden Leichen zahlenmäßig weit überlegen. Arthur stürmte näher, beide Schwerter in den Händen. Eine Frau schrie in wilder Panik, die Hände vor die Augen geschlagen. Ein Kind wimmerte. Mit einem Wutschrei schlug einer der Männer einer Kreatur den linken Arm ab. Dunkles, schleimiges Blut tropfte aus dem Armstumpf. Der Angreifer öffnete den Mund und stieß einen kehligen Laut aus, zeigte jedoch keinerlei Beeinträchtigung. Das war zu viel für den Verteidiger. Er ließ die Axt fallen und wankte zurück. »Enthauptet sie!«, schrie Arthur. Dann war er heran, und die Klinge eines seiner Schwerter schnitt durch den Hals eines der Untoten. Der Kopf sprang von den Schultern, Blut spritzte, und der Leichnam brach zusammen. Der kleine Sieg ermunterte die Männer. Jemand schleuderte einer der Kreaturen das Holzbrett entgegen, mit dem er sich bislang verteidigt hatte, und hob die Axt auf. Mit ihr gelang es ihm binnen weniger Augenblicke, zwei Feinde auszuschalten; einem schlug er den Kopf ab, einem anderen spaltete er den Schädel bis zum Nasenbein. Ein wilder Kampf entbrannte, auf beiden Seiten gnadenlos geführt. Arthur drückte das zweite Schwert einem bislang Waffenlosen in die Hand, in dessen Augen ebenso Angst wie wilde Entschlossenheit glänzten. Zwei der Verteidiger starben, doch dann waren die meisten der seelenlosen Leichen vernichtet. Nur noch vereinzelt stapften die Schreckensgestalten auf die Gruppe zu, und auch sie gingen schließlich enthauptet zu Boden. »Raus aus dem Dorf!«, schrie Arthur. »Die Toten sind überall!«
»Wir müssen die Monster vernichten!« Ein bulliger Mann trat auf Arthur zu, dessen Name Arthur nicht einfallen wollte. »Alle, die unser Dorf heimsuchen!« »Das werden wir auch. Aber wir müssen zunächst die Frauen und Kinder in Sicherheit bringen. Gibt es noch andere Überlebende?« »Wir haben niemanden gesehen«, antwortete der Bullige. Einen Moment lang durchzuckte Arthur ein dumpfes Gefühl, als er an Mechthild dachte. Doch er ließ den Schmerz nicht zu – dafür war jetzt keine Zeit. Er würde später trauern. Wenn das Grauen überstanden war. Falls er dann noch am Leben war. »Ihr bringt die Frauen und Kinder in Sicherheit!«, befahl er den anderen. Dann wandte er sich an den Bulligen. »Wir werden weitere Überlebende suchen und die Sache zu einem Ende bringen.« »Was habt Ihr vor?« Arthur reagierte nicht, sondern stieß einen großen, braunhaarigen Mann an. Reinmar, wenn er sich recht erinnerte. »Na los, setzt euch in Bewegung. Fort von hier!« Diesmal hatte Arthur Erfolg, zumal einige Frauen offenbar einen klaren Kopf behalten hatten. Sie übernahmen die Führung, und die Gruppe der Überlebenden setzte sich in Bewegung. »Wir werden alle suchen, die noch am Leben sind, und dann das Dorf niederbrennen. Keine der Leichen darf dies überstehen. Wir schlagen ihnen die Köpfe ab oder sperren sie in die Häuser, die wir anzünden.« Arthurs Kampfgefährte straffte sich. Blut besudelte seine Kleidung. Eiskalte Entschlossenheit lag in seinen braunen Augen. »Was hält uns noch?« »Wie heißt du?«, fragte Arthur. Er umklammerte den Schwertgriff mit beiden Händen. »Bernhard.« Auch er hob demonstrativ seine Waffe; es war eine Axt. »Einige Dorfbewohner versuchten sich im Wirtshaus zu verschanzen. Dort sollten wir zuerst nachsehen. Vielleicht hatten sie Erfolg.« Erst jetzt, da die anderen sich entfernten, bemerkte Arthur, wie leise es geworden war. Keine Schreie gellten mehr. Kein gutes Zeichen
… War jeder Widerstand bereits niedergemacht? Sie rannten auf das Wirtshaus zu. Nur zwei Mal begegneten ihnen untote Kreaturen – die Kämpfe waren kurz. Arthur fiel in einen Siegesrausch. Das Blut in seinen Ohren rauschte überlaut. Er spürte nichts mehr außer die wilde Entschlossenheit, das Geschmeiß der Hölle zu vernichten. Und den Willen, Mechthild zu finden … denn wenn es im Wirtshaus tatsächlich Überlebende gab, konnte sie darunter sein. Vielleicht führte sie den Widerstand sogar an. Sie war die Einzige außer ihm, die dem Horror nicht unvorbereitet gegenüberstand. Drei der Häuser im Dorf brannten lichterloh. Was immer die Ursache für die Brände war, sie kamen Arthur gelegen. Schon bald würde das Dorf im Flammen stehen. Das reinigende Feuer würde alles vernichten, was nicht auf der Oberfläche der Erde wandeln durfte … Nichts durfte von dieser grauenhaften Invasion des Bösen übrig bleiben. Sie erreichten das Gasthaus. Etliche der Horrorleichen versuchten einzudringen. Arthur atmete erleichtert auf. Das wies darauf hin, dass es noch Lebende gab, die das Haus verteidigten. Die Kreaturen schlugen in stumpfer Monotonie auf die Tür ein. Sie witterten ihre Opfer. »Ihr mangelnder Verstand ist unsere Chance«, kommentierte Bernhard. »Sie sind nicht imstande, irgendwelche Werkzeuge oder gar eine Art Rammbock anzuwenden und …« Er verstummte, und Arthur sah das Grauen in seinen Augen. »Was hast du?« »Der da vorn – … Ich kenne ihn«, stotterte Bernhard. Arthur hob das Schwert. »Sie sind nicht unsere Bekannten. Sie sind seelenlose Existenzen, die sich menschlicher Hüllen bedienen.« Dann stürmten er und Bernhard auf die Belagerer zu.
Als sich die Tür des Gasthauses schließlich öffnete, geschah dies nicht, weil die lebenden Leichen den Sieg davongetragen hatten, sondern weil die Lebenden zusammenfanden.
Im Gasthaus hielten sich acht Frauen auf, dazu eine große Anzahl Kinder. Mechthild war die Erste, die Arthur und Bernhard entgegentrat. »Wir haben die Gefahr unterschätzt«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Wo ist dein Vater?«, fragte Arthur, erleichtert darüber, dass Mechthild noch lebte. »Es waren bereits zwei Kreaturen hier eingedrungen«, antwortete sie und senkte den Blick. »Eine davon … tötete ihn, ehe ich sie die Treppe in den Keller hinabstieß und die Falltür dann schloss.« Sie sprach ohne Emotionen, als berühre sie der Tod ihres Vaters nicht. Arthur wusste jedoch, dass sie ihr Entsetzen und ihre Trauer lediglich zurückgedrängt hatte. Sie durfte sich von ihren Gefühlen jetzt nicht übermannen lassen. »Die lebende Leiche befindet sich noch dort?« »Beide«, bestätigte Mechthild. »Eine davon zerrte meinen toten Vater noch nach unten …« Sie brach ab. Eine Träne rann über ihre Wange. Sie presste die Lippen aufeinander, ballte die Fäuste und wischte sich entschlossen über die Augen. »Wir lassen sie dort unten und legen Feuer. Die Flammen sollen die Saat der Hölle vernichten.« Mechthild nickte. Ihre braunen Haare waren zerzaust, das Kleid von unten bis über die Schenkel zerrissen. Man sah ihr deutlich an, was hinter ihr lag. »Einige Überlebende haben das Dorf bereits verlassen«, informierte Bernhard inzwischen die anderen. »Wir werden zu ihnen stoßen.« »Und die Monster?«, wimmerte eines der Kinder mit großen Augen. »Wir werden sie verbrennen, dann können sie uns nichts mehr anhaben«, versicherte Arthur. »Wir werden niemals aus dem Dorf flüchten können!« Eine Schwarzhaarige schrie diese Worte mit sich überschlagender Stimme. »Wir beschützen euch!«, rief Bernhard. Als sie ins Freie traten, bemerkte Arthur erstaunt, dass sich das Feuer bereits ausgeweitet hatte. Überall brannte es, und dicker
Rauch waberte in den Gassen. »Schnell! Wir müssen weg von hier!« Mechthild war die Letzte, die das Gasthaus verließ. Sie hielt eine brennende Öllampe in der Hand, die sie dann ins Innere schleuderte. Die Lampe zerschellte an der Wand, das Öl lief aus, eine Stichflamme zuckte in die Höhe. Mechthild wandte sich ab, fasste eine der Frauen an der Schulter und rannte los. Als sie den Dorfrand erreicht hatten, blickten sie zurück. Überall loderten die Flammen. »Was, wenn noch jemand lebt?«, fragte Bernhard. »Wir können nicht wieder zurück. Das Feuer wird die Toten ebenso fressen wie alle, die möglicherweise noch leben. Aber ich glaube nicht, dass …« »Woher wissen wir«, unterbrach Mechthild, »dass alle wandelnden Leichen noch im Dorf sind?« »Wir können es nicht mit Sicherheit sagen«, stimmte Arthur zu. »Aber sie verfügen über keinen Verstand. Wenn wir Glück haben, fressen sie noch immer und stapfen in den Gassen herum. Ich glaube nicht, dass sie die Gefahr begreifen. Mehr können wir nicht tun.« Sie gingen weiter und trafen auf die bereits aus dem Dorf Geflüchteten. »Zieht auch alle in die Wälder zurück und bleibt bei den bewaffneten Männern. Bernhard, Mechthild und ich werden hier bleiben und beobachten.« Arthur warf den beiden einen fragenden Blick zu. Sie nickten. Kurz darauf waren sie allein. Sie standen etwa fünfhundert Meter vom Dorfrand entfernt, zwischen ihnen und der Flammenhölle befand sich nur nackter, vom Regen des Vortags noch feuchter Ackerboden, der dem Feuer keine Nahrung bot. »Keine Leiche zu sehen.« Bernhard stieß erleichtert die Luft aus. Schweigend saßen sie da und starrten ins Leere. Der Gedanke an die vielen Toten fraß in Arthur. Was hätte er anders machen können, um mehr von ihnen zu retten? Doch eine andere Überlegung war noch schmerzlicher. Der Urheber des Grauens war bestimmt nicht von der Feuers-
brunst vernichtet worden. Der Schleimdämon war keine hirnlose Kreatur wie seine Dienerwesen. Er verfügte über Intelligenz, was ihn zu einem gefährlichen Gegner machte. Ohne Zweifel hatte er das Dorf rechtzeitig verlassen. Nach seinen eigenen Worten war er vor einem Mann namens Eckehardt hierher geflohen – was würde er nun unternehmen, nachdem seine Pläne in den lodernden Flammen ein Ende gefunden hatten? Erneut fliehen, ein neues Dorf heimsuchen, dessen Einwohner er töten konnte? Oder Rache nehmen an denjenigen, die seine Diener zu Dutzenden vernichtet hatten? »Worüber denkst du nach?«, fragte Bernhard. Arthur wandte langsam den Kopf. »Die lebenden Leichen, die du gesehen hast, dienten einer Kreatur der Hölle«, begann er und berichtete von seiner Begegnung mit dem Dämon. »Sie hatten also einen Meister, der sie lenkte?« Bernhard starrte stur geradeaus. Ihm war nicht anzusehen, was diese Erkenntnis in ihm bewirkte. »Ich glaube nicht, dass er sie im eigentlichen Sinne leitet – aber er ist mit ihnen verbunden, er spürt, wenn sie vernichtet werden, und er ist wohl derjenige, der ihnen überhaupt erst das höllische Leben einhauchte.« »Dieser Dämon ist an allem schuld!« Mechthilds Stimme zitterte vor Zorn und Hass. »Er war es, der all unsere Freunde getötet hat!« Sie wies auf die Flammenhölle. »Und wenn dort irgendwelche Schwestern, Väter und Nachbarn bei lebendigem Leib verbrannt sind, dann war es seine Schuld!« »Wenn wir Glück haben, ist er geflohen, wie er vor diesem Eckehardt floh.« »Nein«, widersprach Mechthild. »Wenn wir Glück haben, ist er noch hier, irgendwo in unserer Nähe, denn dann können wir ihn für das, was er getan hat, zur Rechenschaft ziehen. Wir werden ihn zerhacken und seine Überreste verbrennen!« Sie ballte die Hände zu Fäusten und spuckte vor ihre Füße. Zu ihrem Speichel gesellten sich bald die ersten Regentropfen. Es
goss sintflutartig, und als der Regen endete, war von dem ehemaligen Dorf nichts als ein riesiges rauchendes Trümmerfeld geblieben. Sie hatten im nahe gelegenen Wald Unterschlupf gesucht, aber nur wenig Schutz vor dem Regen gefunden. Tropfnass gingen Arthur und Bernhard durch die Überreste des Dorfes. Der Boden war mit einer breiigen schwarzen Masse überzogen; vom Regen verklumpte Asche. Hin und wieder ragten schwarz verkohlte Menschenknochen aus den Trümmern. »Wir können nur hoffen«, sagte Arthur leise, »dass niemand außer dem Dämon selbst entkommen ist.«
Sie sind zu elft, doch das wissen sie nicht einmal. Sie setzen einen Fuß vor den anderen, erfüllt von schwarzem Leben, getrieben von dämonischer Kraft. Dass andere neben und hinter und vor ihnen laufen, ist ihnen gleich. Ihr Dasein ist das bloßer Kreaturen. Dass sie einmal Menschen mit Gefühlen und Individualität waren, spielt jetzt keine Rolle mehr. Nur eins zählt. Der HUNGER. Sie haben das Dorf verlassen, als die ersten Flammen aufloderten, lange ehe das Feuer wie ein Flächenbrand gewütet und jeden Weg nach draußen abgeschnitten hat. Sie sind nicht geflohen – sie sind nicht fähig, derart bewusst zu handeln. Sie sind einfach nur geradeaus gestapft, und nichts und niemand hat sich ihnen in den Weg gestellt. So haben sie die Häuser hinter sich gelassen, sind quer über ein Feld gegangen. Als der Sturzregen beginnt, verwandelt sich der Boden in ein Meer aus Schlamm. Einige fallen und rappeln sich wieder auf. Jetzt rinnt feuchte Erde an ihnen herab, vermischt sich mit dem Blut, das noch immer aus ihren Wunden läuft. Ihre Gesichter sind stumpf, die Kiefer mahlen, Münder öffnen und schließen sich. »Hunger«, kommt es von einer der Kreaturen. »Hunger«, antwortet eine andere. Eine dritte fällt ein. Bald skandieren sie es alle, und ein makabrer Chor tönt ihnen voraus.
Stunde um Stunde gehen sie weiter, bis es dunkel wird und dann wieder hell. Stur setzen sie einen Fuß vor den anderen, Hügel hinauf und hinab. Sie durchqueren Flüsse und laufen auch dann noch weiter, als das Wasser über ihren Köpfen zusammenschwappt. Einige treiben meterweit ab, doch alle erreichen das andere Ufer. Nichts hält die Horrorgestalten auf, auch nicht das dichte Unterholz eines Waldes. Wieder wird es dunkel, und wieder beginnt ein neuer Tag. Und wieder. Und wieder. Manchmal singen sie ihr schauriges Lied, dann wieder schweigen sie. Sie fressen Tiere, doch das stillt ihren Hunger nach Menschenfleisch nicht. Sie ziehen nahe an einer Stadt vorbei, die ihre Bewohner Freiburg nennen, doch die Leichen bemerken es nicht. Es ist gerade Nacht, und die Menschen schlafen. Hätten sie gelärmt, wären sie gehört worden, und der Tod hätte reiche Ernte gehalten. Doch so stampft die Armee des Bösen weiter, weiter, weiter … Es wird Tag, es wird Nacht, es wird Tag, es wird Nacht … immer wieder und wieder … Sie treffen auf einen Mann, einsam im Wald, und bald schließt er sich ihnen an, nicht mehr als ein Skelett, dessen Knochen von Sehnen und blutigen Muskelfetzen zusammengehalten werden. Schließlich erreichen sie Straßburg …
Einige Tage waren vergangen. Die Überlebenden waren unter der Führung von Bernhard, Arthur und Mechthild zu einer kleineren Stadt gelangt. Dort hatten sich barmherzige Seelen gefunden, die sich ihrer vorübergehend annahmen – was später aus ihnen werden sollte, wusste niemand. Sie hatten alles verloren. Ihren Besitz, ihre Wohnstätten, ihre Existenz; die meisten von ihnen auch Väter, Mütter, Brüder, Schwestern, Söhne oder Töchter. Bernhard war zurückgeblieben, um sich um sie zu kümmern. Arthur und Mechthild jedoch waren weitergezogen. Zum ersten Mal in seinem Leben war Arthur nicht mehr reich. Er besaß nichts als die Kleider an seinem Leib. So kam es, dass die beiden schließlich ein
Dorf erreichten, das sie an ihre Heimat erinnerte. Die Menschen arbeiteten hart, doch sie waren glücklich und satt. Die Kinder lachten … »Eine Idylle.« Mechthild stand auf dem Platz inmitten des Dorfes. »So, wie es bei uns auch gewesen war«, antwortete Arthur grimmig. »Ehe der Höllendämon kam und den Tod und das Verderben brachte.« »Du hasst ihn.« »Ich hasse ihn, und ich hasse die Hölle, der er entstammt.« Arthur stand steif, die Knie durchgedrückt, den Blick in unendliche Fernen gerichtet. »Bedauerst du, dass wir ihn nicht gefunden haben?« »Du warst diejenige, die ihn mit allen Mitteln vernichten wollte. Weißt du noch? Wir zerhacken und verbrennen ihn …« Mechthild lächelte schmal. »Mein Hass ist verflogen, als die Trauer übermächtig wurde. Wenn ich mich vom Hass leiten lasse, bin ich nicht besser als er.« Arthur schwieg. Sein eigener Hass wuchs von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde. Mechthilds Worte trafen ihn mitten ins Herz; er wusste, dass sie Recht hatte. »Wir müssen diesen Eckehardt finden«, sagte er schließlich. »Warum?« Sie schüttelte den Kopf. »Wir müssen überleben, Arthur. Sonst nichts! Eine Möglichkeit finden, genug zu essen zu bekommen. Ein Dach über dem Kopf haben, wenn …« »Eckehardt ist ein Gegner der Hölle, vor dem die Dämonen fliehen«, unterbrach er. »Von ihm kann ich alles lernen, was wichtig ist. Er kann mich lehren, nicht nur stumpfe Kreaturen zu vernichten, sondern wirkliche Höllenwesen. Mächtigen Dämonen nicht chancenlos gegenüberzustehen.« »Ist das ein lohnendes Ziel, Arthur?« »Es ist alles, was mir bleibt.« »Wirklich alles?« In dieser Nacht liebten sie sich zum ersten Mal. Sie lagen im Stroh einer Scheune. Mechthild schrie leise vor Wonne und Lust, und Arthur vergaß für einige Momente seinen Hass. Der Bauer hatte ihnen
Unterkunft und eine Mahlzeit gewährt, als sie versprachen, am nächsten Tag sein Vieh zu misten und auf dem Acker zu arbeiten. Doch am nächsten Tag kehrte der Hass zurück, und er währte länger als die körperliche Liebe. Sie blieben zwei weitere Tage bei dem Hofherrn. Er bot ihnen an, auf unbegrenzte Zeit zu verweilen. »Ihr seid gute Arbeiter, und was ihr in den Nächten in der Scheune treibt, ist allein eure Sache.« Er lachte dröhnend und schlug Arthur mit seiner gewaltigen Pranke auf die Schulter. Am Abend dachten sie über das Angebot nach, doch die Unruhe in Arthur siegte. »Wir müssen Eckehardt finden«, wiederholte er zum ungezählten Mal. »Du bist von diesem Gedanken besessen!« Mechthild stieß ihm die Hände vor die Brust. »Wer weiß, was auf uns zukommt.« »Willst du etwa hier bleiben und auf ewig in dieser Scheune leben?« »Und willst du durch alle Länder ziehen und einen Mann suchen, von dem du nur den Namen kennst?« Zwei weitere Tage später verließen sie den Bauernhof. Der Bauer wollte ihnen als Arbeitslohn eine Geldmünze mitgeben, doch Arthur bat stattdessen um zwei der Dolche, die zum Schlachten des Viehs verwendet wurden. Und noch bevor sie das nächste Dorf erreichten, holte sie ihr Schicksal ein.
Die junge Frau mochte gerade mal zwanzig Jahre alt sein. Unter anderen Umständen wäre sie wunderschön gewesen – langes blondes Haar fiel in weichen Wellen über Schultern und Rücken, klare hellbraune Augen in einem ebenmäßigen, fein geschnittenen Gesicht. Sie hatte zierliche Brüste und schmale Hüften, doch an keiner Stelle ihres Körpers wirkte sie mager. Und das Entsetzen stand ihr im Gesicht geschrieben. Sie ritt auf einem Pferd, und sie stoppte, als sie Arthur und Mechthild sah. »Geht nicht weiter!«, rief sie ihnen zu. »Der Tod und die Hölle sind über Straßburg hereingebrochen! Flieht – flieht in die an-
dere Richtung!« Die Worte trafen Arthur wie ein Schlag. Ein Schauer lief kalt seinen Rücken herab, und er spürte, dass diese Begegnung von entscheidender Wichtigkeit für sein Leben war. Sie befanden sich etwa einen Tag Fußmarsch von Straßburg entfernt. Sie hatten überlegt, in die Stadt zu gehen, sich dann aber doch für ein vorgelagertes Dorf entschieden. »Was soll das heißen – die Hölle?« »Die Toten leben!«, schrie die Blonde, und Arthurs Nackenhaare richteten sich auf. »Die Toten? Angefressene Leichen wandeln durch die Stadt?« Die Augen der Reiterin blickten erst ihn, dann Mechthild intensiv an. Sie rang sichtlich mit sich, ob sie darauf antworten sollte. Schließlich nickte sie. »Woher wisst Ihr davon?« »Gebt mir Euer Pferd, und ich werde das Grauen aufhalten!«, verlangte Arthur, ohne auf die Frage einzugehen. Sie sollten nie erfahren, wie die junge Frau sich entschied. Ein weiterer Reiter näherte sich. Das pechschwarze Pferd jagte in rasendem Galopp heran und wurde direkt neben ihrem gezügelt. Das Tier schnaubte und stieß ein schmerzerfülltes Wiehern aus. Noch immer waren die Zügel straff angezogen. Der Reiter trug schwarze Kleidung und einen tief herabgezogenen Hut, der einen Großteil seines Gesichts verdeckte. Stumm hob er den linken Arm und wies auf die Blonde. Arthur zuckte zusammen, als er die Hand sah. Im ersten Moment dachte er, der Fremde verfüge über lange, spitz zugeschnittene Fingernägel … doch dann sah er, dass es Krallen waren. Die hornigen Krallen eines Dämons. Er erinnerte sich an die schicksalhafte Begegnung in der Schmiede. An die Momente, bevor der Schleimdämon seine wahre Gestalt gezeigt hatte. Auch er hatte in seiner menschlichen Tarngestalt solche Krallen besessen. »Du hättest schweigen sollen!«, krächzte der Dämon auf dem Pferd. »Schweigen und mit deiner Stadt untergehen. So hättest du als meine Dienerin ewig gelebt!« Die Krallenhand zuckte vor, ehe Arthur eingreifen oder die Blonde ausweichen konnte. Der Hölli-
sche zerfetzte die Kehle der jungen Frau mit einer beiläufigen Bewegung. Blut spritzte ihr aus der aufgerissenen Kehle, und gurgelnd stürzte die Blonde vom Pferd, das laut wiehernd die Vorderhufe in die Höhe riss. Mechthild eilte zu ihr, und einer der Hufe erwischte sie am Kopf. Mit einem Aufschrei ging sie zu Boden und blieb reglos liegen. Der Dämon sprang geschmeidig von seinem eigenen Reittier. Dabei verlor er den Hut, und einen Moment lang sah Arthur das verhasste Gesicht. Es war der Dämon, dem er damals in der Schmiede gegenübergestanden hatte. Die tief liegenden, rot glühenden Augen … der schmallippige böse Mund … »Ihr habt mehr meiner Diener vernichtet als jeder andere, sogar als der verhasste Eckehardt. Aber jetzt ist euer Ende gekommen!« Während der Höllische diese Worte sprach, zerfloss seine Gestalt, und er wurde wieder zu der schleimigen, grün leuchtenden Kreatur. Arthur überwand seine Lähmung. Er riss den Dolch hervor, stürmte los und rammte die Klinge in die Brust des Schleimwesens. Eine der Extremitäten des Dämons schoss vor und presste sich Arthur aufs Gesicht. Eine gallertartige Masse drang ihm in Nase und Mund. Er konnte nicht mehr atmen. Ein Brechreiz überwältigte ihn. Dann wurde er zurückgestoßen. Er taumelte nach hinten, spuckte aus und würgte. Seine Augen waren verklebt, er wischte mit dem Ärmel darüber. Die Reste der schleimigen Substanz verursachten einen Ekel erregenden Geschmack in seinem Mund. Der Dämon zog den Dolch achtlos aus seiner Brust und ließ ihn fallen. »Damit willst du mich vernichten?« Arthur sprang nach vorn, um nach der Waffe zu fassen. Sein Gegner setzte einen Fuß darauf. »Ich hätte dich damals schon töten sollen. Mein Werk in Straßburg wirst du nicht stören.« »Doch bevor ich sterbe«, rief Arthur, »will ich wissen, wer Eckehardt ist!« Er spürte, dass jetzt die richtige Gelegenheit war. Der Dämon würde reden … Und wenn es das Letzte war, das er in seinem
Leben hörte, Arthur wollte die Antwort auf seine brennendste Frage endlich erfahren. »Eckehardt meint, er könne über die Hölle triumphieren«, spuckte der Dämon aus. »Doch auch sein Hochmut wird ein Ende finden, ebenso wie der deine!« »Hochmut, sagst du? Bist du etwa nicht vor ihm geflohen – wie auch vor mir?« »Ich floh vor ihm, doch nicht vor dir!«, brüllte der Dämon voller Wut. »Du bist nur Abschaum!« »Ich habe all deine Diener vernichtet!« »Bis auf die, die entkommen sind und mein Werk in Straßburg fortsetzen!«, triumphierte der Dämon. »Ich bin auf dem Weg dorthin, denn ich will es miterleben. Das Grauen geht dort um. Menschen werden gefressen und erheben sich wieder. Die Zahl meiner Diener wächst von Augenblick zu Augenblick. Du solltest es sehen können.« Er trat einen Schritt auf Arthur zu, der nur noch die bloßen Fäuste zur Verteidigung hatte. »Doch auf dem Weg zur Stadt spürte ich, dass du dich nähertest«, fuhr das Höllenwesen ungerührt fort. »Jetzt – ist die Stunde deines Todes gekommen!« Damit schoss sein Arm vor, und eine schleimige Klaue legte sich um Arthurs Hals. Der Druck war entsetzlich, und Arthur befürchtete, sein Kehlkopf würde zerquetscht. Wieder und wieder schlug er mit den Fäusten auf seinen Gegner ein, ohne auch nur den geringsten Erfolg zu erzielen. Er öffnete den Mund, schnappte nach Luft … Seine Augen weiteten sich. Jeder Versuch, den Griff des Dämons zu sprengen, war vergeblich. Es wurde dunkel um ihn. Das Letzte, was er sah, war, wie sich die Schneide eines Messers von hinten an den Hals des Dämons senkte und ihm einen tiefen Schnitt zufügte. Dann brach er, plötzlich losgelassen, in sich zusammen und saugte gierig Luft in seine Lungen. Die Welt drehte sich, und er kroch zur Seite, richtete seinen Blick auf das Höllenwesen. Gerade schlug Mechthild wieder mit dem Dolch zu. Und wieder.
Ein dritter gezielter Schnitt, und der Kopf des Dämons fiel von den Schultern. Alles geschah in gespenstischer Lautlosigkeit. Der Dämon starb, ohne einen Laut von sich zu geben. Mechthild stand zitternd über dem Kadaver. Arthur atmete tief. Sowohl seine Lungen als auch sein Hals schmerzten fürchterlich. Das Monstrum zerfloss zu einer Pfütze aus gallertartiger Flüssigkeit, die brodelnd Blasen warf. Das grünliche Leuchten wurde schwächer, erlosch schließlich ganz. Die Flüssigkeit verfärbte sich grau und verklumpte. Schließlich sah sie aus wie eingetrocknete Erde. Mechthild trat dagegen, und das Etwas zerbröselte.
Endlich ist ihr Hunger gestillt, doch die Gier lässt sie weiter fressen. Die Schreie und die vor Grauen und Schmerz verzerrten Gesichter vermögen es fast, in den Kreaturen Zufriedenheit zu wecken. Doch zu fressen ist wichtiger. Zu zwölft sind sie gekommen, und sie haben ihre Anzahl bereits verdoppelt. Hier gibt es mehr als genug Fressen für sie alle. Doch dann … … stürzen sie alle zu Boden. Das Mahlen der Zähne bricht ab, die toten Muskeln verlieren ihre Kraft. Was tot ist, stirbt nun wirklich und endgültig.
Sie begruben die Leiche der unbekannten blonden Frau in der Nähe des Weges. Arthurs Hals bereitete ihm große Schwierigkeiten; offenbar hatte er einige Quetschungen davongetragen. Schweigend bedeckten sie die Tote mit Erde. Erst als sie fertig waren, sprach Arthur wieder. »Ich danke dir noch einmal dafür, dass du mir das Leben gerettet hast.« »Es war knapp«, wiegelte Mechthild ab. »Ich hätte schneller sein müssen. Nur Sekunden später wärst du tot gewesen, erdrosselt im Würgegriff des Dämons.«
»Du warst schnell genug. Das ist das Einzige, das zählt.« »Der Tritt des Pferdes hat mich hart erwischt. Ich kämpfte die ganze Zeit mit einer Ohnmacht. Ich hörte euch reden, sah, wie mühelos der Höllische deine Attacke abwehrte, und wusste, dass du verloren bist, wenn ich nicht eingreife.« Arthur fasste vorsichtig an ihre Stirnwunde. »Es ist ein Wunder, dass du noch lebst.« »Offenbar braucht es ein Wunder, wenn man einen Dämon besiegen will.« Sie lächelte. »Aber der Huf streifte nur meine Stirn. Hätte er mich wirklich getroffen, hätte der Gaul mir den Schädel zertrümmert.« »Du hast Großes vollbracht. Kaum jemand hätte den Mut und die Kraft besessen, das zu tun, was du getan hast.« »Wir müssen nach Straßburg reiten und uns vergewissern, dass seine Dienerkreaturen wirklich mit ihm gestorben sind, so wie du es vermutest.« Er nickte. Sie kehrten zum Weg zurück, wo sie die beiden Pferde angebunden hatten. Arthur kannte die Richtung nach Straßburg. Er selbst hatte die Stadt zwar noch nie aufgesucht, aber zuletzt hatte ihnen der freundliche Bauer genau den Weg erklärt. Sie kamen rasch voran und erreichten ihr Ziel in weniger als einer Stunde. Alles wirkte auf den ersten Blick friedlich. »Können wir dem Frieden trauen?« »Der Dämon sagte, dass die Zahl seiner Diener von Augenblick zu Augenblick steige. Also müssen sie in der Stadt Opfer gefunden haben.« Sie ritten zum Marktplatz. Mechthild blieb bei den Pferden, Arthur sprach eine Gruppe Frauen an, die etwas abseits standen. Zufrieden kehrte er zu Mechthild zurück. »Die Untoten waren hier, aber plötzlich hat das unheilige Leben sie verlassen. Es muss genau der Moment gewesen sein, als du ihren Herrn vernichtet hast.« »Auch ich habe gute Nachrichten«, erklärte Mechthild und sprach dann flüsternd weiter. »Am Sattel des Pferdes, das der Dämon geritten hat, war ein Säckchen befestigt.«
Arthur sah sie fragend an. Sie brachte ihre Lippen dicht an sein Ohr. »Gold.« Seine Augen weiteten sich verblüfft. Wenn sie wieder über ausreichende Geldmittel verfügten, war das eine enorme Erleichterung. »Dies ist wohl unser Glückstag.« Sie suchten eine Herberge auf, übergaben die Pferde in die Obhut eines Stalljungen, bezahlten ein Zimmer für eine Woche im Voraus und zogen sich zufrieden in den kleinen Raum direkt unter dem Dach der Herberge zurück. »Nicht ganz so romantisch wie im Stroh des Heuschobers auf dem Bauernhof, aber ungleich bequemer«, kommentierte Mechthild. Sie genossen das unbeschwerte Leben in der Stadt, die guten Mahlzeiten und die ungestörten Nächte der Zweisamkeit sieben Tage lang. Dann nahm die Unruhe in Arthur wieder zu. »Du willst weiterziehen«, sagte Mechthild am Abend zu ihm. »Ich habe mich in der Stadt umgehört. Niemand kennt einen Eckehardt. Zumindest keinen, der derjenige sein könnte, den wir suchen. Es ist schwer – ich kann schlecht nach dem Eckehardt, der die Dämonen bekämpft, fragen …« In den nächsten Monaten suchten sie Stadt um Stadt auf – Freiburg, Basel, Zürich, Konstanz, Ravensburg … überall das gleiche Ergebnis. Sie zogen durch die Herzogtümer Bayern und Österreich, und dann, nach einem Jahr der Suche, erreichten sie das Königreich Böhmen. Als sie durch das Stadttor von Prag ritten, meinte Mechthild plötzlich: »Ich habe ein gutes Gefühl.« Sie sollte Recht behalten.
»Ich habe meine Aufgabe bereits erfüllt«, sagte der Fremde mit dem unaussprechlichen Adelsnamen. »Dennoch kann ich euch weiterhelfen.« Er hatte sich vorgestellt, doch Arthurs Zunge vermochte seinen Namen nicht auszusprechen. Chluechlin. So ähnlich. Sie hatten sich auf den Vornamen geeinigt, der leichter zu sprechen, allerdings
nicht weniger ungewöhnlich war. Sarras. »Ihr versteht Euch auf geheimnisvolle Andeutungen, Sarras.« Arthur hob den Weinkrug und stieß mit seinem Gegenüber an. »Erst sprecht Ihr uns hier in der Schankstube an, dann nennt Ihr mir einen mehr als ungewöhnlichen Namen …« »Wer kann etwas für seinen Namen? Mein Geschlecht heißt nun einmal so, und nur weil Ihr ihn seltsam findet, ist es dort, wo ich herkomme, ein völlig gewöhnlicher Name.« Auch er hob seinen Krug. »Ein fast völlig gewöhnlicher Name«, schränkte er dann ein. »Viele kennen den Namen Llewellyn und vergessen ihn nie wieder.« »Woher stammt Ihr?«, fragte Mechthild. Ein Lächeln legte sich auf die fein geschnittenen Züge des schmächtigen Mannes. Er schien noch nie in seinem Leben wirklich gearbeitet zu haben. »Wir sind nicht hier, um über mich zu sprechen«, lenkte er ab. »In dieser Existenz habe ich meine Aufgabe bereits erfüllt, wie ich schon sagte.« »Was meint Ihr damit, Sarras?« Der andere lachte und nahm einen gewaltigen Schluck. Etwas der weißen Flüssigkeit rann zwischen Krugrand und Mundwinkel herab und tropfte auf den Tisch. Laut stellte er das Trinkgefäß ab. »Wollt Ihr mehr über mich erfahren, oder wollt Ihr Eckehardt finden?« Der Fremde weckte Misstrauen in Arthur. »Beides, wenn es beliebt. Woher wisst Ihr überhaupt, dass ich ihn suche?« »Ihr fragt überall in der Stadt nach ihm. Und nicht nur in dieser Stadt … Jeder, der sich für Euch interessiert, muss förmlich wissen, wonach Euch der Sinn steht. Euch und Eurer reizenden Begleitung.« Er sah Mechthild an und hob kurz die Augenbrauen. Sie lächelte schmal und fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen. »Also interessiert Ihr Euch für mich«, hakte Arthur nach. »Ist es da nicht mehr als billig, dass ich auch an Euch Interesse zeige?« »Ich glaube«, sagte der Schmächtige gedehnt, »irgendwann werdet Ihr mehr über mich erfahren. Aber bis dahin wird noch viel Zeit vergehen.« Er lachte. »Und ich glaube nicht, dass Ihr mich dann wieder
erkennen werdet. Vielleicht werde ich Euch an unser Gespräch erinnern.« »Ihr sprecht in Rätseln.« »Ach, wisst Ihr, wenn man so lange gelebt hat wie ich, entwickelt man Freude daran, sich geheimnisvoll zu geben. Wer kann das ermessen? Nur der, der auch lange lebt, schätze ich.« Arthur zuckte leicht zusammen. War das noch ein Zufall? Oder wusste der andere davon, dass es Arthur seit einigen Jahren umtrieb, dass er sich bleibend jung fühlte und auch sein Körper keine Alterungserscheinungen mehr zeigte? Er hatte noch nie mit jemandem darüber geredet … »Wenn Ihr etwas über Eckehardt wisst, dann rückt mit der Sprache heraus!« »So aggressiv, mein Freund?« »Ich werde Euch Euer Wissen gut vergelten.« Er zog ein Goldstück aus seiner Tasche und legte es vor Sarras auf den Tisch. »Nicht doch!« Der Schmächtige nahm das Goldstück zwischen Daumen und Zeigefinger und fixierte es mit seinen braunen Augen. »An Gold habe ich nicht das geringste Interesse. Ich interessiere mich für Menschen. Für manche mehr, für manche weniger. Und für besondere, auserwählte Menschen interessiere ich mich sehr.« Er schob Arthur das Goldstück wieder zurück. »Sucht Eckehardt und lebt, Arthur. Ich wünsche Euch alles Gute.« Er erhob sich. »Helft mir!«, forderte Arthur und stand ebenfalls auf. Er fasste den Geheimnisvollen am Arm. »Natürlich, mein Freund. Deshalb habe ich Euch aufgesucht. Um Euch zu helfen.« Nach einem Moment ergänzte er: »Und um mir selbst zu helfen.« Er lächelte und schob Arthurs Hand von sich. »Eckehardt ist nicht in der Nähe, deshalb solltet Ihr sofort aufbrechen und keine Zeit verlieren.« »Wo?« »Zuletzt war er in Ulm. Dort solltet Ihr früher oder später seine Spur finden. Er kehrt gern dorthin zurück. Fragt dort nach ihm. Er ist vermögend und ein Wohltäter der Armen.« Sarras Llewellyn verbeugte sich leicht vor Mechthild, wandte sich ab und verließ den
Schankraum.
Sie ritten bis zur völligen Erschöpfung, gönnten sich nur wenig Schlaf. Auch heute, nach dem dritten Tag der Reise, sanken sie erschöpft in ihrem Ruhequartier nieder. »Macht es Sinn, Arthur? Wir wissen nichts über diesen seltsamen Fremden. Sein Gerede klang unsinnig, und …« »Es bleibt uns keine andere Wahl. Wenn es stimmt, was er sagte, ist er unsere erste Spur zu Eckehardt.« »Und wenn er ein Wahnsinniger war? Hast du verstanden, was er über sich sagte?« »Ich habe verstanden, dass er Eckehardt kennt, und alles andere ist mir egal.« »Wenn er nicht lügt!«, warf sie ein. »Warum sollte er?« Sie schüttelte den Kopf. »Wir können noch Stunden darüber reden und werden zu keinem Ergebnis kommen.« »Wenn du willst, kannst du zurückbleiben.« Auf seine Worte hin verzog sich ihr Gesicht schmerzlich. »Die Suche nach diesem Eckehardt ist dir also wichtiger als ich?« »Ich werde zurückkommen und dich wieder treffen, Mechthild. Ich wollte nur …« »Du bist besessen, Arthur!« »Ich wollte dich vor den Anstrengungen der Reise bewahren, nichts weiter.« »Und ich werde alle Anstrengungen aushalten, die es zu bestehen gilt.« Sie drehte sich um. Arthur zögerte, ihr zu sagen, warum er dem Geheimnisvollen Vertrauen schenkte. Es war nicht nur die Hoffnung, nach all den Monaten eine viel versprechende Spur gefunden zu haben – es war auch die Andeutung auf seine Langlebigkeit gewesen, die ihn nachdenklich gestimmt hatte. Er dachte lange nach und beschloss schließlich, Mechthild einzuweihen. Doch als er sie ansprach, schlief sie bereits. So blieb ungesagt, was hätte ausgesprochen werden müssen.
Am nächsten Morgen zeigte sie sich kühl und unnahbar. Sie ritten weiter. Endlich erreichten sie Ulm. Diesmal führten ihre Nachfragen rasch zum Ziel. Arthur erfuhr, dass sich Eckehardt tatsächlich in der Stadt aufhielt. »Beinahe jeder scheint ihn hier zu kennen«, sagte Arthur nachdenklich. »Dich kannte auch jeder im Dorf«, erwiderte Mechthild. Immer noch schmerzte es, an die blutigen Geschehnisse der Vergangenheit erinnert zu werden. Sie sprachen so wenig wie möglich darüber. »Das ist etwas anderes. Ulm ist eine Stadt.« Mechthild lachte. »Erinnerst du dich nicht mehr daran, was Sarras uns sagte? Eckehardt ist ein Wohltäter. Lass uns sein Haus aufsuchen. Nach all den Mühen brenne ich darauf, dem großen Dämonenjäger gegenüberzutreten.« Bald erreichten sie ihr Ziel. Man sah dem Haus nicht an, dass sein Besitzer über große Geldmittel verfügte. Es befand sich zwar in einem guten Zustand, zeigte jedoch keinerlei Anzeichen von Prunk und zur Schau gestelltem Reichtum. Sie klopften und riefen, doch niemand öffnete ihnen oder zeigte sich an den Fenstern. »Wir werden warten«, beschloss Arthur. Eine Frau trat aus dem Nachbarhaus. »Ihr sucht Eckehardt?« Mechthild nickte hastig. »Er ist weggegangen?« »Er verließ das Haus in großer Eile.« »Wo hält er sich auf?« »Wer will das wissen?«, fragte die Nachbarin mit plötzlichem Misstrauen. »Freunde!«, rief Mechthild zu Arthurs Verblüffung. »Er wird Euch danken, wenn Ihr uns den Weg zu ihm weist.« Doch ehe die blonde Frau etwas erwidern konnte, trat ein Mann zu ihnen. »Kommt, meine Freunde«, sagte er. »Mein Haus steht Euch offen.« Er lachte süffisant. »Wie immer.« Arthur blickte ihn erstaunt an. Blonde Haare, dunkle braune Augen, eine leicht knarrende Stimme, schmaler Körperbau … es konnte sich um niemand anderen als Eckehardt handeln. Er musste die letzten Worte – die Lüge – gehört haben. »Danke«, sagte Arthur mit
schlechtem Gewissen. Das war ja ein guter Beginn … Eckehardt grinste und nickte der hilfs- und redebereiten Nachbarin zu. Dann schob er Arthur und Mechthild in sein Haus. Als sie es wenig später betreten hatten und niemand sie mehr hören konnte, ergriff er das Wort. »So, meine Freunde«, betonte er spöttisch. »Dann sagt mir, was euch hierher treibt. Wer schickt euch?« »Ich muss Euch um Verzeihung …« »Ach – warum denn?« Er lächelte grimmig. »Wir haben gelogen, um Euch zu finden, aber ich versichere Euch, dass wir keine bösen Absichten haben.« »Ich warte.« Eckehardt straffte sich. »Überlege dir deine Worte gut. Sie entscheiden darüber, ob ich euch wirklich willkommen heiße oder für immer aus meinem Haus entferne.« Jetzt ergriff Mechthild das Wort, und da Eckehardt Arthur so vertraulich ansprach, duzte auch sie ihn. »Wir trafen einen alten Bekannten von dir«, sagte sie. »Einen Dämon, der vor dir floh.« Eckehardts Augen weiteten sich. »Weiter.« »Seine wahre Gestalt war ein mit Schleim überzogenes grünliches Etwas.« Eckehardt pfiff leise durch die Zähne. »Ich schlug ihm den Kopf ab, und er verendete.« »Dann«, sagte Eckehardt, »seid ihr wirklich meine Freunde.«
1220, Dresden »Wir lebten und kämpften zusammen mit Eckehardt viele Jahre in Ulm«, meinte Arthur nachdenklich. »Doch dann wurde eines immer deutlicher …« Auf einmal geriet seine Erzählung ins Stocken, und Gertrud sah ihn auffordernd an. »Ich weiß, was du erlebt hast. Und ich glaube dir, dass die Erinnerung schmerzlich ist.« »Ja, du weißt es«, murmelte Arthur. »Nicht ohne Grund nanntest du dich Mechthild, um meine Aufmerksamkeit auf dich zu ziehen.«
»Sie alterte, doch du bliebst jung, nicht wahr?« »Ich blieb bei ihr bis zum Ende, aber zum Schluss zog sie sich innerlich vor mir zurück, konnte nicht akzeptieren, dass ich nicht alterte. Ich sagte ihr, ich wisse selbst nicht, warum es so wäre. Schließlich starb sie, eine alte Frau, und ich sah noch genau so aus wie an jenem Tag, als wir uns zum ersten Mal begegneten.« »Du hast nie über das nachgedacht, was dir der geheimnisvolle Fremde sagte, der dich auf die Spur Eckehardts brachte? Dass du langlebig bist und auserwählt?« Gertrud atmete tief aus. »Ich hatte ihn völlig vergessen. Ja, ich habe lange nicht an ihn gedacht, viele Jahrzehnte nicht. Sarras … ich habe nie mehr von ihm gehört, obwohl er ankündigte, dass wir uns wieder sehen würden. In diesem Punkt hat er gelogen.« »Vielleicht steht das Wiedersehen noch aus.« »Er muss schon lange tot sein. Ich traf ihn vor hundert Jahren!« »Und du glaubst nicht, dass er noch immer leben könnte – so wie du?« Arthur zuckte zusammen. »Er …« Ein ungeheurer Verdacht keimte in ihm auf. »Es ist etwas komplizierter, und er soll es dir und Eckehardt selbst erklären.« Ihre hellblauen Augen schauten zuerst Arthur, dann Eckehardt, dann wieder Arthur an. »Aber eins ist euch inzwischen wohl klar geworden.« Sie legte eine kurze Pause ein. »Ich bin in seinem Auftrag hier.« Das verschlug Arthur zunächst die Sprache. Dann fragte er zögernd: »Wer – wer ist er? Warum beobachtet er mich? Nicht wahr, das tut er doch? Er beobachtete mich damals, und er beobachtet mich heute! Deshalb schickte er dich zu mir! Weiß er, dass ich jetzt altere?« »Mich beobachtet er genauso«, zischte Eckehardt. »Nur das erklärt, wie er dich damals zu mir schicken konnte!« Er ballte die Hände zu Eäusten und fixierte Gertrud mit grimmigem Blick. »Wer ist dieser Sarras?« Gertrud sprach mit leiser Stimme, doch es lag keinerlei Zeichen von Unsicherheit darin. »Er ist der Erbfolger, und es ist seine Aufga-
be, die Auserwählten im Auge zu haben. Euer Leben ist an einem Wendepunkt angelangt.« »Bring uns zu Sarras!« »Sarras Llewellyn ist tot – aber ihr werdet ihn trotzdem treffen!« »Was soll das heißen?« »Sarras hatte, genau wie er es euch damals sagte, seine Aufgabe bereits erfüllt. Doch jetzt …« Sie schüttelte den Kopf und brach ab. »Er soll es euch selbst sagen. Es ist – kompliziert.«
»Es ist – kompliziert«, sagte Gertrud, und Eckehardt fühlte Zorn in sich aufkeimen. Sssie ffführrrt dich zzzu demm Errrbfolllgerr, zischte der Dämon in Eckehardts Kopf. Ewigessss Lebennnn warrrtet aufff dich … Eckehardt schloss die Augen und versuchte die Gedanken zu verdrängen.
»Was ist mit dir?«, fragte Arthur. »Gertruds Worte beunruhigen mich«, erwiderte Eckehardt schwach. Er blinzelte mehrfach, schien nur mühsam in die Wirklichkeit zurückzufinden. Arthur wunderte sich zwar, schwieg aber. »Llewellyn wartet auf euch«, fuhr Gertrud fort. »Erzähl uns mehr von ihm!«, forderte Arthur. »Glaubt mir, es ist am besten, wenn er selbst alles Nötige berichtet.« Sie erhob sich und strich mit beiläufigen Bewegungen ihr Kleid glatt. »Wir sollten gehen.« »Das ist alles?«, begehrte Eckehardt auf. »Du wirfst mit mehr als spärlichen Informationen um dich und verlangst von uns, dich zu begleiten?« Sie lächelte. »Genau das. Und ich weiß genau, dass ihr mitkommen werdet.« »Natürlich werden wir«, versicherte Arthur. »Es gibt keinen
Grund, dir zu misstrauen.« »Und ob es den gibt!« Eckehardt sprang auf. »Mich hat sie nicht einwickeln können mit ihrer halbgaren Geschichte! Sie will uns vielleicht in eine Falle locken. Wach auf, Arthur!« »Welchen Sinn sollte das machen? Wenn sie den angreifenden Dämon vor der Stadt nicht vertrieben hätte, wäre ich jetzt bereits tot.« »Das alles gefällt mir nicht«, beharrte Eckehardt. Trotz dieser Beteuerung lag merklich weniger Aggression in seiner Stimme als zuvor. »Llewellyn wird eure Fragen beantworten.« Gertruds Augen fixierten Arthur und hielten seinen Blick fest. »Auch die, wer das Feuer legte, das dich beinahe tötete.« »Du weißt es?«, zischte Eckehardt. »Die Wahrheit«, erwiderte sie, »wird euch gar nicht gefallen.« »Heraus damit!« Eckehardt trat auf Gertrud zu. Seine Hände fuhren in die Höhe, doch ehe er Gertrud berührte, ließ er sie langsam wieder sinken. Er zitterte leicht. »Ich bin die Botin, und ich habe meine Botschaft überbracht. Jetzt werde ich euch zu ihm bringen. Nicht mehr und nicht weniger.« Sie nickte Arthur zu, wandte sich dann wieder an Eckehardt. »Du kannst mir folgen oder es lassen. Die Entscheidung liegt bei dir. Doch du solltest gut darüber nachdenken.« Dann drehte sie sich um und ging zur Tür. Sie öffnete sie, trat in den Flur. Kurz darauf hörten die beiden Zurückgebliebenen das Knarren der Treppenstufen. »Komm mit, Eckehardt. Lege dein Misstrauen ab. Dieser Sarras Llewellyn ist ein wichtiger Mann, das spüre ich. Er weiß mehr über unser Schicksal. Der Wendepunkt unseres Lebens steht unmittelbar bevor.« Eckehardts Mundwinkel zuckten. »Irgendetwas stimmt hier nicht«, wiederholte er seine Befürchtung. »Sie weiß, wer dir nach dem Leben trachtet, aber sie speist uns mit einem billigen Die Wahrheit wird euch nicht gefallen ab.« »Ich glaube ihr. Und ich werde ihr folgen.« Demonstrativ verließ Arthur das Zimmer. Als er die Treppe erreichte, hörte er, wie hinter
ihm die Tür zufiel. Er drehte sich nicht um, obwohl die Frage, ob Eckehardt zurückblieb oder ebenfalls folgte, in ihm fraß. Er würde in wenigen Sekunden die Antwort erfahren. »Sie ist bereits unten«, hörte er die Stimme des Freundes und atmete erleichtert auf. »Ich bin sicher, dass wir sie noch erreichen.« Gertrud verließ gerade den Schankraum, als die Männer unten ankamen. Draußen wartete sie auf die beiden und sagte: »Schön, dass du dich richtig entschieden hast, Eckehardt.« Wegen Arthur verlor sie kein Wort. Offenbar hatte sie an seinem Kommen nie gezweifelt. »Du solltest wissen, dass ich nicht so vertrauensselig bin wie mein Freund. Wenn ihr, du und dein … dein Herr, Böses im Schilde führt, werde ich eure Pläne zu durchkreuzen wissen.« »Eckehardt, Eckehardt«, tadelte sie und schüttelte den Kopf. Dann sagte sie: »Llewellyn wartet!« Der Weg führte sie quer durch die Stadt. Es wehte ein starker Wind, der die meisten Menschen in die Häuser trieb. Hin und wieder streunte ein herrenloser Hund durch die Gassen, doch auch die Tiere verkrochen sich bei diesem Wetter zumeist irgendwo. Vor einer kleinen, halb zerfallenen Kirche, deren Turm hoch aufragte, blieb Gertrud stehen. »Hier?«, fragte Arthur erstaunt. »Er wartet in der Kirche auf euch«, bestätigte sie. »Meine Aufgabe ist erledigt. Vielleicht sehe ich euch wieder, vielleicht nicht.« »Du – gehst?« Arthur verspürte einen leichten Stich ins Herz. »Vielleicht sehe ich euch wieder«, wiederholte sie. »Es hängt von vielen Dingen ab. Nicht zuletzt von eurem Willen und euren Entscheidungen. Euch ist vieles gegeben, darum wird vieles von euch gefordert werden.« »Es wurde bereits von uns gefordert!«, erwiderte Arthur, und er dachte an all die vielen Kämpfe, die er hatte bestehen müssen. All die Jahre der Entbehrung. Er konnte nicht mehr zählen, wie oft er sein Leben eingesetzt hatte, um andere zu retten und um die Dämonen der Hölle zu vernichten. »Es ist nichts im Vergleich zu dem, was kommen wird. Immer
ging es um andere oder um Rache.« Sie sah Eckehardt an, dann Arthur. Auf ihm verweilte ihr Blick. »Dieses Mal geht es um euch«, sagte sie, »um euer Leben, um eure Zukunft, um eure Entscheidungen.« Sie deutete auf den Eingang zur Kirche. »Und es beginnt – jetzt!«
Dazwischen Wenige Tage zuvor »Ich danke dir, Merlin.« Rheged ap Llewellyn nickte dem Magier zu. »Dein Rat ist gut, und ich werde ihn befolgen.« »Und wirst du auch meine Hilfe annehmen?« »Bleibt mir denn eine andere Wahl?« Merlin lachte. »Selbstverständlich. Mein Zauber, der dich vergessen lassen wird, ist ein Angebot, nicht mehr.« Er blickte den Erbfolger an. »Deine Aufgabe sieht es vor, einmal in jeder deiner Inkarnationen einen Auserwählten zur Quelle des Lebens zu führen. Tust du es nicht, wären die Folgen für dich katastrophal.« Rheged ap Llewellyn schwieg. »Du würdest nicht im Augenblick deines Todes in deinem Sohn wiedergeboren werden. Du würdest deine eigene Unsterblichkeit verlieren, und die Erbfolge würde enden!« »Ich weiß es, Merlin«, sagte Rheged. »Du brauchst es nicht …« »Was ich brauche und was nicht, bestimme ich!«, unterbrach ihn der Zauberer. »Höre mir zu, denn die Entscheidung, die du triffst, ist von großer Tragweite.« Merlin duldete keinen Widerspruch, seine ewig jungen Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Gibt es keinen Erbfolger mehr, wird niemand mehr die Auserwählten zur Quelle des Lebens führen können, auf dass sie Unsterblichkeit erlangen. Das Schicksal des Universums würde sich wandeln.« »Warum ist es diesmal so früh, Merlin? Ich bin erst vor sechzehn Jahren in diesem Körper geboren worden! Mir bleibt annähernd ein Vierteljahrtausend, bis ich wieder sterben werde und in meinem Sohn wiedergeboren werden muss! Fast zweihundertfünfzig Jahre, um meiner Aufgabe nachzugehen! Warum jetzt schon, und warum gibt es zwei Auserwählte?«
»Auf deine Fragen kann ich dir keine Antwort geben, denn ein Höherer als ich hat die Fäden dieses Schicksals gesponnen. Ich kann dir mit meinem Rat zur Seite stehen und dir den Vergessenszauber anbieten, nicht mehr.« Einige Sekunden vergingen schweigend, bevor Rheged ap Llewellyn sagte: »Das ist alles, was ich will, Merlin. Ich danke dir von Herzen. Für beides.« »Dann wirst du also die beiden zur Quelle des Lebens führen und danach zu mir kommen. Wir werden sehen, was an der Quelle geschieht und wie die Hüterin … entscheidet.« »Nicht sie entscheidet in Wirklichkeit«, warf Llewellyn ein. Merlin beachtete Rhegeds Worte nicht. »Und dann, wenn wir es wissen, wirst du einen Teil des Geschehens vergessen, Rheged ap Llewellyn! Du wirst weiterhin leben können, ohne die Qual in deinem Gewissen zu tragen.« »Wieso, Merlin? Wieso können nicht beide von der Quelle trinken?« »Es ist ein Gesetz, Rheged.« »Wer hat das Gesetz gemacht? Und weshalb? Was bewirkt es? Warum …« »Stell keine Fragen, Erbfolger. Oder besser, stell nicht die falschen Fragen. Es gibt Dinge, die unser Verstand nicht fassen kann.« »Also bin ich nichts als der Sklave eines Gesetzes?« »Du bist der Erbfolger«, widersprach Merlin. »Du bist mehr als tausend mal tausend mal tausend andere.« »Doch ich bin nicht …« »Doch du bist nicht der Höchste. Genauso wenig wie ich selbst oder wie der, dem ich diene. Selbst die Schicksalswaage ist …« »Keine Fragen«, unterbrach Llewellyn nachdenklich. Seine Haltung straffte sich, Entschlossenheit funkelte in seinen dunklen Augen. »Alles ist vorbereitet. Gertrud ist unterwegs, und sie wird die beiden Auserwählten zu mir führen.« »Du hast Groll, wenn du an den zweiten denkst«, stellte Merlin fest. »Arthur ist derjenige, der wichtig ist. Schon mein Vater war dieser
Ansicht, als er ihn traf.« Der Magier schüttelte den Kopf. »Du bist jung, Rheged. Eigentlich zu jung, um zu tun, was du tun musst. Ich kann mich nicht erinnern, dass es jemals so früh in deinem Leben geschehen ist. Doch merke dir eins: Was du für Arthur empfindest, sind vergängliche Gefühle. Sie sind nicht entscheidend. Das Schicksal der Welt und der Auserwählten darf davon nicht abhängen.« »Wir werden es sehen, Merlin. Es ist nicht meine Aufgabe, eine Entscheidung zu treffen.« »Dafür«, stimmte der Zauberer zu, »sind die beiden Auserwählten ganz allein zuständig. Und wie es auch kommen wird – es wird bitter sein. Für beide.«
3. – Sieg? »Wach auf! Wach auf! Der Tod ist unterwegs!« Dan Shocker: »Xantilon – Urkontinent aus der Asche«, Macabros 65
Nur ein Kind, das vielleicht fünfzehn Jahre alt sein mochte, befand sich in der Kirche. »Wo ist er?«, zischte Eckehardt. »Vielleicht in einem Seitenraum«, antwortete Arthur ohne wirkliche Überzeugung. Ein Schauer rann seinen Rücken herab. Was, wenn er sich getäuscht hatte? Wenn Eckehardt mit seinem Misstrauen richtig lag und dies alles eine Falle war? Doch andererseits war es nicht die Art und Weise ihrer dämonischen Gegner. Und ebenfalls nicht, einen Schlafenden durch einen Brand zu töten … »Ihr seht aus, als suchet ihr jemand«, rief der Junge. Jetzt erst bemerkte Arthur, dass er sich umgedreht hatte und sie ansah. Er hatte ein scharf geschnittenes, trotz der Jugend sonderbar reif wirkendes Gesicht. Das schwarze Haar fiel ihm bis auf die Schultern. Er hatte hochstehende Wangenknochen, und Augen, deren Farbe Arthur auf die Entfernung nicht erkennen konnte, blickten ihn wissbegierig an. »In der Tat suchen wir einen … Freund«, antwortete Eckehardt zögerlich. »Hast du ihn gesehen, Bursche?« Der Junge erhob sich. »Wer auf der Suche nach wirklichen Geheimnissen und verborgenen Zusammenhängen ist, sollte nicht zu sehr auf das sehen, was ihm vor Augen steht.« »Große Worte für ein Kind wie dich«, entgegnete Eckehardt spöttisch. Arthur blieb nachdenklich stehen. »Sein Name ist Llewellyn.« Der Junge lächelte. »Du hast gelernt. Damals bereitete dir der Name größte Schwierigkeiten.« Arthurs Herzschlag beschleunigte sich. »Du hast davon gehört?«
Ihm kam ein erstaunlicher Verdacht. »Ich kann mich nur wiederholen. Sieh nicht auf das, was dir vor Augen steht.« Der Junge trat aus der Bank hervor in den Mittelgang des Gotteshauses und ging mit langsamen Schritten auf die beiden zu. »Du bist der, den wir suchen«, hauchte Arthur fassungslos. »Bist du ein Nachfahre von Sarras?« »Sarras Llewellyn war mein Vater. Und doch bin ich er, und er ist ich.« Er streckte ihnen die Hand entgegen. »Rheged ap Llewellyn.« »Ich brauche mich wohl nicht vorzustellen.« Arthur ergriff zögerlich die ihm dargebotene Hand. Der Händedruck war fest und bestätigte den Eindruck der Selbstsicherheit, den Arthur von seinem Gegenüber gewonnen hatte. »Weder du noch dein Begleiter Eckehardt.« Er musterte Arthurs Freund, der die Arme vor der Brust verschränkt hielt. »Wir sind uns nie begegnet, Eckehardt, doch glaub mir, ich weiß sehr vieles über dich.« »Du, Junge, scheinst alles zu wissen«, entgegnete Eckehardt ungehalten. »Nicht alles«, wehrte der Junge ab. »Aber einiges, das du selbst offenbar nicht weißt. Vielleicht hast du es vergessen, vielleicht verdrängt – oder es erklärt sich ganz anders. Ja, ich befürchte Letzteres. Wir werden sehen. Zunächst werdet ihr eine Menge Fragen haben.« Eckehardt presste die Lippen zusammen. Arthur nickte. »Ich möchte wissen, wer du bist. Warum du mich beobachtest und vorgibst, jener Sarras Llewellyn zu sein, der mich vor hundert Jahren traf und mit seinem unscheinbaren Hinweis mein Leben in eine andere Richtung lenkte. Wie du auf die Behauptung kommst, du seist dein eigener Vater. Weshalb …« »All das wirst du erfahren. Doch nicht hier, wo jeden Augenblick Menschen auf der Suche nach göttlicher Hilfe erscheinen können. Sie sollen uns nicht stören, und wir wollen sie nicht von ihrer Andacht abhalten. Folgt mir.« Er durchschritt mit raschen Schritten den Mittelgang auf den Altar zu. Noch ehe Arthur und Eckehardt dort ankamen, hatte der Junge
ihn halb umrundet und eine unscheinbare Holztür geöffnet. Sie war so geschickt in die Verzierungen der Wand eingearbeitet, dass sie nicht auffiel. Der dahinter liegende Raum maß gerade einmal zwei auf vier Meter und diente zur Aufbewahrung verschiedener Notwendigkeiten für den Gottesdienst. Unter dem schmalen Fenster standen an der Wand drei Stühle -Arthur zweifelte keine Sekunde daran, dass Rheged ap Llewellyn sie nur für dieses Gespräch hierher geschafft hatte. »Nehmt Platz«, sagte Rheged gönnerhaft und setzte sich selbst. Arthur folgte der Aufforderung. Eckehardt brummte etwas vor sich hin und blieb demonstrativ stehen. »Dass das Übernatürliche tatsächlich existiert, habt ihr oft genug am eigenen Leib erfahren«, begann der Junge seine Erklärung. »Leider waren die meisten – oder wohl nahezu alle – übernatürlichen Existenzen, auf die ihr getroffen seid, Dämonen und damit dem Bösen zugehörig … Doch es gibt Wesen, die nicht Normalsterbliche und dennoch keine Höllenkreaturen sind.« Er legte eine kurze Pause ein. »Ihr gehört dazu. Ich gehöre dazu. Und noch andere.« »Etwa Merlin, der Magier?«, fragte Arthur. Rheged nickte. »Er ist derjenige, der überall von sich reden macht. Doch es gibt noch andere. Viele der Silbermonddruiden, etwa Gryf ap Llandrysgryf oder …« Grob wurde er unterbrochen. »Ich glaube nicht, dass diese Sagengestalt Merlin existiert.« Eckehardt ließ sich nun doch auf dem letzten freien Stuhl nieder. Sein Blick fixierte eine beliebige Stelle an der Wand, als spiele sich dort unendlich Wichtiges ab. »Er existiert, das kann ich dir versichern.« Llewellyn wirkte sichtlich amüsiert. »Ich habe noch vor kurzem mit ihm gesprochen.« Eckehardt kniff skeptisch ein Auge zusammen. »Vielleicht werdet ihr ihn kennen lernen«, sagte der Junge, »irgendwann oder auch schon bald. Für heute muss euch genügen, wenn ihr erfahrt, wer ich bin.« »Du bist sehr von dir eingenommen, Bursche!« »Du solltest nicht davon ausgehen, es mit einem Sechzehnjährigen zu tun zu haben, auch wenn ich so aussehe. Das ist nur ein kleiner
Teil der Wirklichkeit. Ein sehr kleiner Teil.« Arthur hob eine Hand und streckte sie Eckehardt entgegen. Still!, sollte ihm die Geste anzeigen. »Erzähl mehr«, forderte er den jungen Mann auf. »Es gibt zwei Bereiche, die wir dringend besprechen müssen. Zum einen, wer ich bin – zum anderen, was meine Aufgabe ist.« Er lächelte sie beide an. »Was wollt ihr zuerst hören?« »Mich interessiert, warum du dich seit Jahrzehnten in unser Leben einmischst!«, sagte Eckehardt aggressiv. Jetzt bohrte sich sein Blick in die dunklen Augen des jungen Mannes. »Ich würde es nicht als Einmischen bezeichnen. Ich habe euch vor hundert Jahren zusammengeführt, und heute leite ich die Zukunft ein, die jemand anderes für euch vorherbestimmt hat.« Er hob beide Hände, die Innenflächen nach oben, und ein kurzes Achselzucken folgte. »Es besteht kein Grund, mich als Feind zu betrachten.« »Wenn das so ist, dann beginne damit, wer du bist«, forderte Arthur. »Man nennt mich den Erbfolger.« »Gertrud nannte diese Bezeichnung.« Llewellyn zog missmutig die Augenbrauen zusammen. »Erklärte sie euch, was es damit auf sich hat?« »Sie verstand es ausgezeichnet, nichts Konkretes zu sagen«, beruhigte ihn Arthur. »Das Geheimnis meines Lebens – oder besser meiner Unsterblichkeit – beruht darauf, dass exakt in dem Moment meines Todes mein Sohn geboren werden muss. Meine Seele wechselt dann in den Körper des Neugeborenen. Es ist eine sehr spezielle Art der Magie, niemand außer mir verfügt über sie.« Rheged ap Llewellyn blickte in die erstaunten Gesichter seiner Gäste. »So gesehen war jener Sarras, der Arthur begegnete, zwar mein biologischer Vater, aber dennoch war es niemand anderes als ich selbst. Ich erinnere mich an damals und weiß noch, dass du mit Mechthild unterwegs warst, um Eckehardt zu suchen.« Arthur wollte etwas erwidern, doch er fand nicht die richtigen Worte.
»Als Kleinkind und auch als Knabe erinnere ich mich nicht an mein früheres Leben. Die Erinnerung setzt erst später ein. Was mich, Rheged, betrifft, geschah das erst vor zwei Jahren.« »Als Kind bist du also …« Eckehardt stockte. »… völlig normal?« »Als Knabe weiß ich nichts von der Erbfolge-Magie«, bestätigte der Sechzehnjährige, der bereits uralt war. »Ich wusste auch weder etwas von euch noch von meiner Aufgabe.« »Deine Geschichte hat einen Haken«, warf Arthur misstrauisch ein. »Wenn im Moment deines Todes dein Sohn geboren werden muss, dann müsstest du schon mindestens neun Monate vorher den Zeitpunkt deines Todes kennen.« »Ich kenne ihn jetzt schon.« Rheged lächelte wieder unergründlich, und Nachdenklichkeit lag in seinem Blick. »In jeder meiner Existenzen werde ich genau ein Jahr älter als in der vorhergehenden. In diesem Fall werde ich noch 246 Jahre leben.« »Das ist … unglaublich«, flüsterte Eckehardt ergriffen. »Dann müsstest du schon seit Jahrtausenden existieren«, rechnete Arthur nach. »Selbst ich erinnere mich nicht daran, wie lange schon. Aber du hast Recht, Arthur. Es sind Jahrzehntausende, um genau zu sein.« Rheged sah ihm tief in die Augen. »Und damit kommen wir zum zweiten Punkt, den wir bereden müssen.« »Deine Aufgabe.« »Genau hier kommt ihr ins Spiel. Der Erbfolger muss einmal in jeder seiner Existenzen den Auserwählten finden.« »Den Auserwählten?« »Er verfügt über eine unnatürliche Langlebigkeit.« Rheged lachte hell, dass es in dem kleinen Kirchenraum widerhallte. »Kommt euch das bekannt vor?« Keiner der beiden antwortete. »Der Auserwählte trägt das Potential der Unsterblichkeit in sich, aber er ist nicht aus sich heraus unsterblich. Nur eben … langlebig.« »Du sprichst von uns«, stellte Eckehardt fest. »Auch wenn du immer die Einzahl verwendest.« »Nie zuvor fand ich zwei Auserwählte. Zumindest kann ich mich
nicht daran erinnern. Aber es ist, wie es ist. Ihr beide seid auserwählt. Sosehr ich es mir auch wünsche, ich kann es nicht ändern.« »Du hast uns gefunden«, sagte Arthur nüchtern. »Und jetzt?« »Wenn ich den Auserwählten ausfindig gemacht habe, unterbreite ich ihm ein besonderes Angebot.« Llewellyn wirkte wieder sehr nachdenklich. »In eurem Fall wird dieses Angebot noch reizvoller sein als für jeden anderen, den ich bisher fand, denn eure Langlebigkeit ist am Ende angekommen. Ihr altert bereits.« »Wovon redest du?« Eckehardts Gesicht war starr, als verberge er bewusst, was er empfand. »Ich weiß um die Gedanken, die euer Leben belasten, um die Sorgen, die euch bedrücken, weil ihr euch fragt, wann ihr sterben werdet.« Nach einer kurzen Pause fuhr Rheged ap Llewellyn fort: »Ich führe in jeder meiner Existenzen einen Auserwählten zur Quelle des Lebens, damit er Unsterblichkeit erlangt.« Auf diese unfassbare Eröffnung hin breitete sich erneut Schweigen aus. Arthur starrte Rheged ap Llewellyn an. So faszinierend die Geschichte des Erbfolgers auch gewesen war – das schlug sie um Längen. Unsterblichkeit … Sein Herz begann schneller zu schlagen, und die Brustwunde, die bereits fast vollständig verheilt war, machte sich wieder durch ein leichtes Pochen bemerkbar. »Die Quelle des Lebens?«, fragte Eckehardt lauernd. Er schien wesentlich gefasster als Arthur. »Ich werde euch alles erklären, wenn es so weit ist«, sagte Llewellyn. »Zunächst einmal müsst ihr verstehen, was es mit der Unsterblichkeit auf sich hat, die die Quelle verleiht.« »Es klingt wie eine dieser Heldensagen, die auf den Adelshöfen verbreitet werden. Wie Siegfried, der im Drachenblut badet und Unverwundbarkeit erlangt …« »Wer von der Quelle des Lebens trinkt, ist genauso verwundbar wie zuvor. Er kann jederzeit durch äußere Gewaltanwendung sterben. Aber er wird nie wieder altern. Er wird an keiner Krankheit sterben. Nur der gewaltsame Tod kann seinem Leben ein Ende setzen.« Arthur verschränkte die Finger ineinander. »Du sagst also, du willst uns die Unsterblichkeit geben …«
Rheged schüttelte den Kopf. »Ich gebe gar nichts. Ich kann euch zur Quelle führen. Die Quelle gibt das ewige Leben.« »Worauf warten wir?«, fragte Eckehardt. »Langsam«, wehrte der Erbfolger ab. »Es gibt noch einiges, das zu bereden ist, und vor allem muss zuvor noch ein großes Problem aus dem Weg geräumt werden.« »Es … es geht mir zu schnell«, warf Arthur ein. Vor seinem geistigen Auge war Mechthild aufgetaucht, seine Geliebte, die an seiner Seite gealtert und gestorben war, die sich immer weiter von ihm entfremdet hatte. Das hatte er durchmachen müssen, weil er aus ihm unbekannten Gründen langlebig gewesen war – und das Geschenk der Unsterblichkeit bedeutete, dass dies immer wieder geschehen würde. Das Herz raste in seiner Brust, und der Gedanke, möglicherweise niemals sterben zu müssen, beunruhigte ihn. Unsterblichkeit – sie würde nicht nur Segen, sondern auch Fluch sein. »Von welchem Problem sprichst du?«, fragte Eckehardt. »Ich komme darauf zurück. Zunächst muss ich euch etwas mitteilen. Etwas, das euch gar nicht gefallen wird.« »Sowohl du als auch deine Gesandte Gertrud sind ganz groß darin, düstere Andeutungen von sich zu geben«, brummte Eckehardt. »Sie sagte auch ständig solche Dinge wie Die Wahrheit wird euch gar nicht gefallen.« »Sie sprach von der Wahrheit darüber, wer das Feuer legte, das Arthur beinahe tötete«, vermutete Rheged. »Wir werden darauf zurückkommen.« »Was hast du uns zu sagen?« Arthurs Stimme war leise, beinahe unhörbar, doch sein Einwand brachte Eckehardt zum Verstummen, dem anzusehen war, dass er erneut eine bissige Bemerkung hatte vorbringen wollen. Rheged wand sich unbehaglich. »Die Quelle des Lebens hat ein Gesetz. In jedem Lebenszyklus des Erbfolgers muss ein Auserwählter aus ihr trinken.« »Das sagtest du bereits«, erwiderte Eckehardt. »Du verstehst mich nicht. Es muss und es wird und es darf ein Auserwählter aus ihr trinken. Genau ein Auserwählter. Nicht zwei
von ihnen!«
»Was soll das heißen?« Eckehardt sprang erregt auf. Arthur schloss die Augen und legte die rechte Hand ans Kinn. Llewellyn bereitete es sichtlich Mühe weiterzusprechen. »Nur einer von euch wird letzten Endes aus der Quelle trinken und Unsterblichkeit erlangen.« »Das – das darf nicht sein!«, ereiferte sich Eckehardt. »Du darfst nicht nur einem von uns den Weg ebnen!« »Es ist nicht meine Entscheidung. Es ist das Gesetz der Quelle. Ich werde euch beide führen, wenn ihr es wünscht. Wer von euch trinken wird, liegt nicht in meiner Hand.« »Also sollen wir es entscheiden?« Arthur erhob sich nun ebenfalls. »Keiner von uns beiden wird trinken, wenn der andere leer ausgeht.« »Ich kann mich nur wiederholen: Ich werde euch führen, nicht mehr. Bei der Quelle wartet die Hüterin auf euch. Sie wird alles Weitere erklären.« Rheged stand mühsam auf, als laste ein tonnenschweres Gewicht auf seinen Schultern. Er ist sich der Grausamkeit dessen, was hier geschieht, durchaus bewusst, erkannte Arthur. »Fragt mich nicht nach der Hüterin der Quelle«, bat Llewellyn. »Ihr werdet sie treffen, wenn es so weit ist, und ich werde bis dahin kein weiteres Wort über sie verlieren. Ihr habt gehört, was ich euch sagen musste. Wollt ihr euch dem Problem, das es vor dem Gang zur Quelle noch zu bewältigen gilt, jetzt stellen, oder wollt ihr erst verarbeiten, was ihr gehört habt?« »Probleme existieren, um aus der Welt geschafft zu werden.« Arthur ließ sich wieder in den Stuhl fallen. Er warf Eckehardt einen fragenden Blick zu. Dieser nickte. »Raus mit der Sprache, Rheged ap Llewellyn!« »Es geht um das Feuer, nicht wahr?« Arthur legte seine Hände auf die Knie. »Du weißt, wer es war, und wir müssen uns zuerst darum kümmern.«
Llewellyn presste die Lippen zusammen. »Du hast Recht. Indirekt geht es um den Brandanschlag.« »Indirekt?« »Ihr seid einem Dämon begegnet, hier in der Stadt?« Arthur nickte. »Sowohl Eckehardt als auch ich trafen auf Dämonen, ja.« »Willst du etwa behaupten, sie hätten das Feuer gelegt?« Eckehardt schüttelte den Kopf. »Lächerlich!« »Wann sahst du sie das erste Mal, Eckehardt?«, fragte Llewellyn. »Eines der Monster erschien mir, während ein anderes Arthur vor der Stadt angriff. Sie …« »Und seitdem hast du nichts mehr von ihnen gehört?« »Nein«, sagte Eckehardt verwirrt. Ssssssag esss ihmmm, Eckkkkehardtt, durchzuckte ihn die tiefe, zischende Stimme. Errr weißßß esss ohnehinnn … »Worauf willst du hinaus?«, wollte Arthur von Rheged ap Llewellyn wissen. »Der Dämon hat vorher und danach nie zu dir gesprochen?«, hämmerte Rhegeds Stimme auf Eckehardt ein. Dieser verkrampfte seine Hände, sein Herz begann zu rasen, das Blut rauschte überlaut in seinen Ohren. Er fühlte plötzlich unendlichen Hass. Er sprang auf, warf den Kopf hin und her. Jjjetzzzzt! Errr isssst wehrlossss! Eckehardt hob die Fäuste, sprang auf den Erbfolger zu. Llewellyn musste sterben! »Was soll das?« Arthur verlor den Überblick. Er sprang auf, um den Freund festzuhalten. Der Erbfolger aber war von dem Geschehen nicht überrascht … Nnnnneinnnn! Errr nichhhht! Du brauchssst ihn! Töte Arrrrthurrr! Und Eckehardt wandte sich um. Sein erster Schlag traf Arthur in den Magen, der zweite die Schläfe. Die Welt explodierte in grellem Licht. Arthur stöhnte, fiel mit dem Rücken gegen die Wand und sackte zusammen. Eckehardts Faust raste heran. Mit letzter Kraft warf sich Arthur zur Seite. Ein gellender Schrei drang an seine Ohren.
Er sah durch die schwarzen Nebel der Benommenheit, wie Eckehardt seine rechte Faust gegen seine Brust presste und wild schrie. Durch Arthurs Ausweichen hatte Eckehardt die rechte Hand mit voller Wucht gegen die Steinwand gerammt. Arthur stand nur mühsam aufrecht und sah das Blut, das von der Faust des Freundes tropfte. Was war mit Eckehardt geschehen? Llewellyn schien von all dem nicht berührt zu sein. Er blickte ins Leere, seine Lippen murmelten unhörbare Worte. Die Luft neben Eckehardt begann zu flimmern. Einer der Dämonen erschien. Hier, mitten in der Kirche, die Gott geweiht war! Das Monstrum breitete die langen Krallen aus, die muskulösen oberen Extremitäten zur Seite gestreckt. Der Schwanz peitschte hin und her, schlug auf beiden Seiten gegen die Wand des schmalen Raums. Rheged ap Llewellyns Lippen bewegten sich weiterhin. Er beschwört den Dämon, durchzuckte es Arthur. Er spielt mit falschen Karten. Der Gedanke war entsetzlich. Der Erbfolger hatte sie getäuscht. Das Ganze war eine Falle. Wie immer auch Llewellyn Eckehardt unter seine Gewalt gebracht hatte, es sah verdammt übel aus. Der Dämon brüllte. Eckehardt überwand seinen Schmerz und wollte Arthur erneut angreifen. Der holte die Gemme Gertruds aus seiner Tasche. Vielleicht konnte er wenigstens den Dämon vernichten. Oder war auch die Wirkung der Steine nichts als ein Schauspiel gewesen? »Eckehardt!«, schrie Arthur. »Llewellyn ist unser Feind! Komm wieder zu dir!« »Nein!«, gellten Rhegeds und Eckehardts Stimmen gleichzeitig auf. Arthur sprang an dem Freund vorbei auf den Dämon zu, der sich noch nicht vollständig manifestiert hatte. Er schlug die Gemme gegen die Brust des Höllischen. Der Stein versank für die Dauer eines Augenblicks in dem halb stofflichen Etwas. Dann umfloss grelles Licht seine Hand. Die Gemme erstrahlte. Das Monster brüllte. Die Gegenattacke traf Arthur im selben Moment. Eine der breiten Klauen traf ihn an der Schulter, ohne dass die Krallen ihm eine
Wunde zufügten. Arthur taumelte zurück und prallte mit dem Hinterkopf gegen die Wand. Eckehardt überwand seinen Schmerz und sprang zu Arthur. Er legte die Hände um Arthurs Hals und drückte zu. Doch in seiner Rechten lag keinerlei Kraft, sodass Arthur den Griff sprengen konnte. Schaudernd erkannte er den Grund für die Kraftlosigkeit des Freundes. Mehrere Finger seiner rechten Hand waren gebrochen. Die Attacke musste ihm grausame Pein bereitet haben. Dass er Arthur dennoch angegriffen hatte, ließ nur einen Schluss zu: Eckehardts Wille war ausgeschaltet. Rheged ap Llewellyn hatte ihn vollständig unter seiner Kontrolle. Der Dämon stand nach wie vor an derselben Stelle und zuckte mit den Krallen, bewegte sich aber nicht vorwärts. Jetzt erst kam Arthur zu Bewusstsein, dass er die Gegenattacke des Monsters eigentlich nicht hätte überleben dürfen. Offenbar war der Höllische geschwächt. Doch wieso? Und wieso gelang es ihm nicht, sich vollständig zu manifestieren? Arthur stieß Eckehardt gegen die Brust und verfügte endlich wieder über Bewegungsspielraum. Sofort wandte er sich um. Er musste rasch handeln, um zu überleben! Llewellyn! Er war an allem schuld. Wenn er ihn außer Gefecht setzte, würde der Bann, der Eckehardt gefangen hielt, erlöschen und … »Halt!«, schrie der Erbfolger und vollführte mit den Händen hastige Bewegungen vor sich in der Luft. Es musste sich um ein Beschwörungsritual handeln. »Eckehardt ist besessen!« Arthur zuckte zusammen und stoppte seinen Angriff. Er wirbelte herum, starrte den Freund an. Eckehardts Gesicht war vor Hass verzerrt. Dann ging alles sehr, sehr schnell. »Anal'h natrac'h – ut vas bethat – doc'h nyell yenn vvé«, schrie Rheged ap Llewellyn. Und die Welt explodierte.
Als Arthur wieder zu sich kam, waren die Wände mit dunklem Dämonenblut verschmiert. Eckehardt lag stöhnend neben ihm, Rheged stand vor ihnen. Es konnten nur Sekunden vergangen sein. »Was – was war das?« Llewellyn streckte ihm eine Hand entgegen. Arthur ergriff sie zögerlich und kam auf die Beine. »Eckehardt war besessen. Zumindest kommt das, was mit ihm geschehen ist, einer Besessenheit nahe. Ich habe den Dämon ausgetrieben. Dabei hat er sich manifestiert. Diese Erklärung sollte dir genügen, auch wenn sie nicht vollständig das widerspiegelt, was geschehen ist.« »Er war … besessen?« »Wir sollten es in einem Gespräch klären, sobald ihr wieder bei Kräften seid. Als Eckehardt dich angriff, wusste er nicht, was er tat. Der Dämon lenkte ihn.« »Welche Worte hast du gesprochen? Vertrieben sie den Dämon?« »Nicht nur die Worte, die du gehört hast. Sie … versiegelten gewissermaßen das, was ich vorher lautlos murmelte. Des Weiteren hatte ich diesen Raum präpariert. Er war eine einzige gut getarnte Falle. Der Dämon konnte unmöglich entkommen, und er konnte euch – zumindest theoretisch – auch keinen ernsthaften Schaden zufügen, da er unter einem Bann stand. Merlins Machtspruch löste lediglich die endgültige Austreibungsphase ein. Ich habe ihn mit anderen Zaubersprüchen kombiniert. Ich glaube nicht, dass jemals zuvor jemand etwas Derartiges versuchte.« »Merlins Machtspruch?« »Vergiss es, Arthur. Es ist nicht wichtig.« »Was wird aus Eckehardt?« »Er ist frei. Er wusste nichts von seiner Besessenheit. Ich glaube, er war ebenso überrascht wie du.« Eckehardt stöhnte erneut und setzte sich dann auf. Arthur half ihm aufzustehen. Plötzlich erkannte er den Zusammenhang. Er wusste, wer das Feuer gelegt hatte und warum Gertrud und Rheged ein solches Geheimnis daraus gemacht hatten. Die Wahrheit wird euch gar nicht gefallen … Es konnte niemand anders als Eckehardt ge-
wesen sein. Er hatte das Haus des Medicus in Brand gesteckt, als er unter dem Einfluss der Höllenkreatur gestanden hatte. »Die Erkenntnis ist bitter.« Llewellyn lächelte. »Ich sehe dir an, dass du die richtige Schlussfolgerung gezogen hast.« »Wie kam es zu Eckehardts Besessenheit?« »Morgen können wir weiterreden«, sagte der Erbfolger. »Ihr benötigt Schlaf, vor allem Eckehardt. Seine Seele ist in Mitleidenschaft gezogen, und nur wenn sein Körper Ruhe findet, kann sie genesen. Ich besitze ein Haus, hier in der Stadt. Dort seid ihr sicher.«
Eckehardt träumte. Er lag in dem Zimmer in Rheged ap Llewellyns Haus, das dieser für ihn vorgesehen hatte. Bevor er eingeschlafen war, hatte er lange nachgedacht. Über das, was Arthur ihm erzählt hatte. Darüber, dass er den Freund angegriffen hatte. Dass er von einem Dämon besessen gewesen war. In seinem Traum vermischten sich Realität und Illusion. Sein Unterbewusstsein versuchte sich an die Vergangenheit zu erinnern, zu ergründen, wie es dazu gekommen war, dass ein Dämon Macht über ihn erlangt hatte. Eckehardt sah, wie er Feuer über das Haus des Medicus ausgoss; in seinem Traum schoss es aus seinem geöffneten Rachen. Wie immer es auch in Wirklichkeit gewesen war, das Ergebnis war eine tödliche Falle für den Freund. Die Flammen formten sich zu der hässlichen Fratze eines der tierhaften Dämonen. Das zähnestarrende Maul des schmalen Schädels öffnete sich und lachte. Sein Lachen ging in das Schreien Arthurs über, der brannte, bis nichts als ein fahler Knochenhaufen von ihm übrig war. Beinahe wäre es so gekommen … Weiter zurück … Zurück … Eckehardt hatte den Dämon in die Enge gedrängt, und das Schwert lag an der Kehle der Kreatur. Eckehardts Hand, die den Griff der Waffe umklammerte, zitterte. »Was sagst du?«, schrie er
das Höllenwesen an. Esss isssst die Wahrrrrheitttt … Und Eckehardt zog das Schwert zurück … Der Dämon wurde in Eckehardts Traum zu einem wilden Farbenwirbel, der sich in Rheged ap Llewellyn verwandelte. »Eckehardt war besessen«, sagte der Erbfolger. Dann schlug Eckehardts Faust auf Arthur ein. Er wollte ihn töten, töten … Zeit und Raum spielten in dem Traum keine Rolle, wirbelten durcheinander. Eckehardt wälzte sich in der Realität unruhig auf seinem Lager, Schweiß perlte auf seiner Stirn. Seine Hand, fest mit Stoff umwickelt, zitterte. Im Traum waren seine Finger nicht gebrochen. Dort redete er mit dem Dämon, den er nicht getötet hatte. Ewigesss Llllebenn, flüsterte die Kreatur. Der Errrbfolger ebnet die Bahnnn für einnenn vonnn euchhhh. Verrschreibbbe dich mirrrr, und du wirrrrst lebennn! Zitternd und schreiend schreckte Eckehardt hoch. Die Tür des Zimmers wurde geöffnet, Arthur trat ein. Noch immer glaubte Eckehardt, die Stimme des Dämons zu hören. Nur langsam wurde ihm klar, dass er erwacht und dass Arthur Wirklichkeit war. »Ich – ich habe mich dem Dämon freiwillig hingegeben«, hauchte Eckehardt fassungslos. »Ich …« »Du hast geträumt!«, beruhigte Arthur ihn. »Ich habe mich erinnert«, widersprach er. »Das, was ich verdrängt hatte, ist in mein Bewusstsein zurückgekehrt. Ich habe mich dem Dämon und der Hölle verschrieben!« »Selbst wenn es so war, jetzt ist es vorbei. Llewellyn hat dich befreit!« Verrschreibbbe dich mirrrr, und du wirrrrst lebennn, gellte es in Eckehardts Ohren. Tränen rannen ihm über die Wangen. »Ich bekämpfte die Hölle, doch in Wirklichkeit paktierte ich mit ihr.« Seine Stimme klang schwach und tonlos. »Du hast die Werke der Hölle vernichtet, wo immer du auf sie trafst!« »Ich habe versagt«, widersprach Eckehardt. »Lass mich allein!«
»Du bist …« »Bitte geh. Morgen reden wir mit Rheged.« Eckehardt drehte sich um, wandte Arthur den Rücken zu. Kurz darauf hörte er, wie die Tür geschlossen wurde. Vergeblich versuchte er, die Stimme in seinem Kopf zum Verstummen zu bringen. Verrschreibbbe dich mirrrr, und du wirrrrst lebennn …
In einer Karaffe auf dem Tisch war Wein, doch niemand rührte ihn an. Es herrschte drückende Stille. Eckehardt umklammerte den Rand der Tischplatte und atmete tief durch. »Wir müssen reden. Meine Erinnerung ist heute Nacht zurückgekehrt. Ich vermag inzwischen Traumbilder und Wirklichkeit zu unterscheiden. Ich weiß wieder, wie es zu meiner Besessenheit kam.« Rheged ap Llewellyn nickte. »Berichte«, forderte er knapp. »Es ist lange her. Länger als mir lieb ist. Über zehn Jahre.« Arthur sog fassungslos die Luft ein. »Zehn Jahre? Aber du …« »Ich habe seitdem viele Dämonen vernichtet, ja!« »Es war nicht im eigentlichen Sinn eine Besessenheit, Arthur«, warf Rheged ein. »Ich sagte es dir bereits gestern. Es ist eine Art Vergleich, wenn ich diesen Begriff nutze.« »Deshalb konnte ich den Interessen der Hölle durchaus zuwiderhandeln.« Eckehardt schlug auf den Tisch. »Vor zehn Jahren trieb ich einen Dämon in die Enge. Eine dieser Bestien, die hier in der Stadt umgehen. Ich hätte ihn vernichten können, als er …« Eckehardt schloss die Augen. »Als er mich verunsicherte. Mich davon abhielt, ihn zu töten.« Er sprach mit leerem Blick weiter. »Ich bin seinen Verlockungen erlegen.« »Weiter«, sagte Llewellyn kühl. »Ich habe danach vergessen, was geschah. Es war Teil des Paktes, dass ich mich erst dann wieder erinnern konnte, als es so weit war. Als der Erbfolger uns zu sich rief. Da brach der Dämon wieder hervor in mir.«
»Du wusstest von Llewellyn und der Quelle des Lebens?«, fragte Arthur fassungslos. »Er wusste es nicht. Die Hölle nahm ihm das Wissen und verdrängte es tief in sein Unterbewusstsein.« Llewellyn wies auf Eckehardt. »Vor zehn Jahren hat etwas begonnen, das gestern erst endete.« »Damals berichtete mir der Dämon von der Quelle des Lebens. Er köderte mich mit einer Bemerkung über meine Langlebigkeit, und als ich hellhörig wurde, war es bereits zu spät. Ich hatte der Verlockung des Bösen mein Ohr geöffnet. Der Dämon sagte mir, dass der Erbfolger kommen und dass er zwei Auserwählte zur Quelle führen würde. Nur einer würde aber von der Quelle trinken und das ewige Leben erlangen können.« In Arthur zerbrach etwas, als er die Wahrheit erkannte. »Dir war bekannt, dass es um dich und mich geht«, flüsterte er. »Du ließest den Dämon am Leben, damit er …« »Damit ich derjenige sein würde, der den Weg zum ewigen Leben gehen kann.« Eckehardt sackte merklich in sich zusammen. »Er versprach, alles Nötige zu tun. Ich hörte auf ihn und verschrieb mich ihm mit einem Pakt.« Er saß gebeugt da, ein Bild der Kraftlosigkeit und des Elends. Arthur schob knarrend seinen Stuhl zurück und erhob sich. »Dann geh du den Weg zur Quelle. Ich verzichte.« Er wandte sich ab und wollte den Raum verlassen. »Bleib!«, hielt Rheged ihn zurück. »Heute wird nicht entschieden, wer geht. Keiner von euch ist jetzt fähig, zu entscheiden, ob er verzichtet oder nicht. Weder aus Enttäuschung und Entsetzen«, er blickte Arthur an, »noch aus Versagen.« Bei den letzten Worten traf sein Blick Eckehardt. »Ich habe mit meinen Taten gezeigt, dass ich nicht würdig bin«, widersprach Eckehardt. »Heute wird nichts entschieden«, wiederholte Llewellyn. »Du hast einen Fehler begangen, Eckehardt, einen entsetzlichen Fehler, denn du hast dich mit den Mächten des Bösen eingelassen. Aber du bereust und du bist befreit. Und nichts, was du getan hast, ändert etwas an der Tatsache, dass du auserwählt bist.«
»Arthur soll gehen!« Ein Blutstropfen rann an Eckehardts linker Faust herab. Er hatte sie so stark geballt, dass ein Fingernagel in die Handinnenfläche schnitt. »Wenn es nach mir ginge«, fuhr der Erbfolger fort, »würde ich euch beide zur Quelle zerren und die Hüterin entscheiden lassen! Aber es wäre ein unverzeihlicher Fehler, euch in dieser Situation den Weg gehen zu lassen. Ihr werdet wieder zueinander finden müssen. Und dann werde ich euch erneut vor die Wahl stellen. Wenn dann jemand verzichtet – so sei es! Wenn nicht, werdet ihr beide gehen.« »Wann?«, fragte Eckehardt schwach. »Wir werden sehen. Ihr müsst wieder zusammenfinden. Ihr braucht Ruhe und eine Herausforderung. Ich weiß, wohin ich euch bringen werde. Ihr habt beide noch eine Rechnung mit einigen Dämonen offen.« »Es existieren noch mehr dieser Kreaturen?« »Sie bilden eine Sippe. Wie viele es sind, weiß nicht einmal ich. Aber ich weiß, wo einige von ihnen ihr Unwesen treiben.« »Führe uns hin!«, forderte Eckehardt, vor Zorn bebend. »Der Hof des Markgrafen wartet auf euch!«
Ein nie gekanntes Gefühl bemächtigte sich Arthurs, als sie sich dem prunkvollen Hof näherten. In all seinen Lebensjahren hatte er noch nie einen Feudalhof aufgesucht – das Leben und die Intrigen der Herrscher, ob sie sich Herzog oder Markgraf nannten, war bislang nicht von Interesse für ihn gewesen. Das änderte sich jetzt. Rheged ap Llewellyn ritt in gemächlichem Tempo voran, er und Eckehardt folgten. Eckehardt … Wenn er an ihn dachte, empfand er widerstrebende Gefühle. Er war so lange Zeit sein Freund und Kampfpartner gewesen, dass er sich an das Leben ohne ihn kaum noch erinnern konnte, auch wenn sie immer wieder einmal Monate oder sogar Jahre voneinander getrennt verbracht hatten. Doch stets waren sie wieder zu-
sammengekommen. Sie hatten sich gegenseitig unzählige Male das Leben gerettet – auch in den letzten zehn Jahren. Auch nachdem Eckehardt einen Pakt mit den Mächten der Finsternis eingegangen war, dessen erklärtes Ziel im Tod Arthurs bestand. Er hatte sterben sollen, damit Eckehardt ewig leben konnte. Dieses Wissen fraß in ihm, und sollte es nicht den Freund – den ehemaligen Freund – zu einem Feind werden lassen? Zu einem Todfeind? Andererseits fragte sich Arthur, ob Eckehardt wirklich aus freier Entscheidungskraft gehandelt hatte, als er den Verlockungen des Bösen erlegen war. Oder war es dem in die Enge getriebenen Dämon auf geheimnisvolle Weise gelungen, Eckehardt zu beeinflussen und seinen Willen zu lähmen? Hatte Eckehardt ihn – Arthur – verraten oder nicht? War der Dämonenjäger dazu fähig, aus Eigennutz alles zu vergessen, für das er ein Leben lang gekämpft hatte? Arthur hätte Eckehardt solche Niedertracht niemals zugetraut. Allerdings war der Preis, um den es bei diesem Verrat ging, der größte denkbare: das ewige Leben. Arthurs Hände krallten sich um die Zügel. Ob er Eckehardt je wieder vertrauen konnte? Sie erreichten das Tor zur Burg des Markgrafen. Die Zugbrücke war über den Burggraben herabgelassen, doch vor und auf ihr waren gut ein halbes Dutzend Wächter postiert. Sie hielten Hellebarden und starrten den Näherkommenden entgegen. Wer nicht über eine Einladung des Markgrafen Dietrich verfügte, würde an ihnen unmöglich vorbeikommen, zumal auf den Wehrgängen weitere Wachen standen, mit Armbrüsten bewaffnet. Der Feudalhof war bestens geschützt. Rheged zügelte sein Pferd und stieg ab. Er bedeutete Arthur und Eckehardt zurückzubleiben, ging die wenigen verbliebenen Schritte zu den ersten Wächtern und wechselte einige Worte mit ihnen. Schon nach kurzer Zeit kehrte er zurück. »Wir werden erwartet.« Arthur war überrascht. »Dein Name scheint bis in höchste Kreise einen guten Klang zu haben.« Llewellyn lächelte. »Hin und wieder erweist es sich als vorteilhaft,
den Richtigen zu kennen.« Arthur sah ihn tragend an. »Markgraf Dietrich schätzt Merlin sehr. Ein Wort des Magiers hat mir die Tür geöffnet – ebenso wie euch.« Mit diesen Worten schwang sich Rheged wieder in den Sattel und ritt langsam über die Zugbrücke ins Burginnere. Arthur schüttelte den Kopf und folgte dem Erbfolger, danach kam Eckehardt. Merlin … Arthur rechnete damit, den Geheimnisvollen in Kürze zu treffen. Vielleicht gar hier auf dem Feudalhof des Markgrafen? Auf dem Innenhof der Burg herrschte munteres Treiben. Viele durchquerten ihn mit raschen Schritten, zwei Knechte rollten ein riesiges Weinfass, ein Hahn krähte in der Nähe. Das Hauptgebäude der Burg war gewaltig. Die Mauern ragten bis in Schwindel erregende Höhen auf, der helle Stein wirkte trutzig, als könne er allem Denkbaren widerstehen. Ein gewaltiges Holztor stand offen und gab den Blick in eine große Halle frei. »Hier residiert also der Markgraf«, sagte Arthur leise. »Es ist nett«, meinte Rheged lapidar. Er stieg ab und ging auf den Eingang zur Halle zu. Eckehardt, seit sie losgeritten waren, in grübelndes Schweigen versunken, folgte ihm. Kurz darauf bestaunte Arthur die reich verzierten Wände der Halle. Auf den Stein waren gewaltige Gemälde aufgetragen. In leuchtenden Farben kämpften hier heroische Recken gegen Drachen und Teufel oder wurden die großen Schlachten des Alten Testaments ausgetragen. Arthurs Blick fing sich an der Darstellung eines liebreizenden Mädchens, das voll Hoffnung auf einen Helden blickte, der gegen ein Untier focht. Mehrere Männer lärmten in der Halle, an einem Steintisch stießen eben zwei breitschultrige, gut bekleidete Schwarzhaarige ihre Krüge aneinander. Rote Flüssigkeit schwappte über und tropfte auf den Boden. Die beiden lachten und wandten sich dann den Neuankömmlingen zu. »Da seid Ihr ja endlich!« »Die Söhne des Markgrafen«, informierte Rheged leise. Kurz darauf begrüßten die Breitschultrigen Arthur. Ihr Hände-
druck war hart und schien eine Ewigkeit lang anzudauern. Sie stellten sich als Heinrich und Balthasar vor. Arthur wusste, dass Heinrich der Ältere war und nach dem Tod seines Vaters Markgraf werden würde. Die beiden glichen sich sehr, jedoch hatte Balthasar eine breite Narbe quer über der linken Wange. »Was starrt Ihr so?«, rief Balthasar Eckehardt zu. »Bewundert Ihr meine Narbe? Sie erinnert mich an einen schweren Kampf. Ein Andenken, das ich mit Stolz trage.« Er lachte rau. »Es hat noch keine Frau gestört!« »Nichts liegt mir ferner, als Euch unangenehme Blicke zuzuwerfen«, beeilte sich Eckehardt zu versichern. »Pah!« Balthasar winkte ab. »Vater hat Euch auf den Rat dieses weißhaarigen alten Narren hin Zimmer herrichten lassen! Ihr habt unbegrenztes Aufenthaltsrecht am Hof. Genießt dieses Privileg. Sollte Euch irgendetwas mangeln, wendet Euch an mich.« »Ihr scheint nicht gut auf Merlin zu sprechen zu sein«, sagte Rheged in fragendem Tonfall. »Wie kommt Ihr darauf, junger Mann?« Der Spott in Balthasars Stimme war nicht zu überhören. »Mein Bruder merkt nicht einmal, wenn er abfällig über andere redet«, warf Heinrich ein. »Du solltest deine Abneigung gegen Merlin ablegen, Bruder. Er wird hier immer willkommen sein, bei unserem Vater wie auch bei mir!« »Bis du Markgraf wirst, wird dieser Greis das Zeitliche gesegnet haben.« Balthasar widmete sich wieder seinem Weinkrug. »Rufst du einen Knecht, der unseren Gästen ihr Quartier zeigt?«
Rheged ap Llewellyn hielt Heinrich auf, während sich Arthur und Eckehardt mit dem Knecht entfernten, um ihre Zimmer aufzusuchen. »Auf ein Wort, edler Heinrich.« »Was kann ich für Euch tun?« »Euer Bruder Balthasar wirkt nicht sehr erfreut über unseren Besuch.«
»Er ist ein Narr. Er stellt alles in Frage, was unser Vater entscheidet. Und da Euer Besuch zudem von Merlin gutgeheißen wurde …« »In der Tat scheint Euer Bruder – wenn Ihr mir die Bemerkung gestattet – der Unreife der Kindheit nicht völlig entwachsen.« Heinrich sah Rheged verwundert an, dann legte sich ein Lächeln auf seine Züge. »Merlin erwähnte bereits, dass Ihr ein ganz erstaunlicher junger Mann seid, Rheged ap Llewellyn. Ich sehe, er hat nicht übertrieben.« Der Erbfolger lachte schallend. »Wahrscheinlich mutet es Euch seltsam an, solche Worte aus dem Mund eines Mannes zu hören, der …« »… der selbst noch ein halbes Kind ist?«, vollendete jemand im Rücken der beiden den Satz. Rheged erkannte die Stimme sofort. Er drehte sich um. »Merlin! Ich wusste nicht, dass du hier bist.« »Ich musste deine … Freunde doch mit eigenen Augen sehen.« Der alte Magier legte seine Rechte auf Rhegeds Schultern. »Vor allem Arthur kann es kaum erwarten, dich kennen zu lernen.« Der Magier schüttelte den Kopf. »Nein. Sie haben genug zu verarbeiten. Ich habe es im Gefühl, dass ich einen der beiden später ein Stück seines Weges begleiten werde, aber die Zeit ist noch nicht gekommen.« »Es ist allein deine Entscheidung.« »Die Enttäuschung ist dir deutlich anzusehen, junger Freund.« Merlin wandte sich an den Sohn des Markgrafen. »Auch mein letzter Gast ist eingetroffen. Ich muss mich für die Großzügigkeit Eures Vaters bedanken, Heinrich.« »Es ist nicht nur Großzügigkeit, Merlin. Mein Vater verfügt über Verstand, und er weiß, dass es für einen Herrscher klug ist, sich mit Euch gut zu stellen.« Merlin lächelte hintergründig. »Ich werde Euch mit meinem Gast bekannt machen.« Er hob die Hand und winkte einen unscheinbaren Mann zu der Gruppe herüber. Als Merlin die Hand wieder senkte, strich er nach-
denklich durch seinen langen Bart. Ein schmächtiger Braunhaariger trat heran. »Ich darf Euch Hartmann vorstellen«, sagte Merlin. »Ein Dienstmann zu Aue, dessen wahre Berufung jedoch das geschriebene Wort ist.« Heinrich deutete eine Verbeugung an. »Ich verehre Eure Epen.« »Ihr kennt sie, Herr?« Hartmann sprach mit leiser, beinahe frauenhaft hoher Stimme. Er wirkte ebenso überrascht wie geschmeichelt. »Sowohl Erec als auch Iwein sind erstaunliche Werke«, versicherte Heinrich. »Mein Vater liebt die Lyrik, besonders diejenige Walthers, doch ich bin der Epik eher zugetan.« »So sind Abschriften bis hierher vorgedrungen? Ihr seht mich überrascht.« »Genau deswegen seid Ihr hier, Hartmann«, sagte Merlin. »Ich muss mit Euch über Eure Werke sprechen. Und ich sehe schon, ein wahrer Kunstkenner wie Heinrich kann uns sicher behilflich sein. Später.« Merlin wandte sich zu dem Sohn des Markgrafen. »Ihr erlaubt, dass zuerst ich mit Hartmann spreche?« »Was immer Ihr wünscht«, versicherte Heinrich. »Auch ich werde besser gehen.« Rheged nickte Merlin zu. »Nein, nein!« Der Magier hielt den Erbfolger zurück. »Wir werden uns zu dritt unterhalten. Folgt mir in meine Unterkunft.« Wenig später erreichten sie die Räumlichkeiten, die Merlin als Quartier dienten. »Ich liebe eher das Schlichte«, erklärte der Weißhaarige die karge Ausstattung. »Ich habe alles entfernen lassen, was mir nicht notwendig erschien.« Sie setzten sich auf einfache Holzstühle. »Ich darf Euch Rheged ap Llewellyn vorstellen«, holte Merlin das bisher Versäumte nach. »Ein junger Mann, dem ich uneingeschränkt vertraue. Ich kenne ihn schon lange.« Hartmann ging auf den scheinbaren Widerspruch nicht ein. »Solche Worte habe ich selten aus dem Mund meines Mentors Merlin gehört. Sie bedeuten viel, Ihr könnt stolz darauf sein, Rheged. Euer Leben scheint unter einem günstigen Stern zu stehen.« Der Erbfolger lächelte. »Nun, auch Ihr seid ein besonderer Günst-
ling unseres gemeinsamen Freundes. Er erzählte viel von Euch.« »Zu viel der Ehre.« Hartmann schaute verlegen zur Seite. »Was habe ich schon vollbracht?« »Eure Werke werden Euch überleben«, versicherte Merlin. »Doch es gibt ein Problem.« »Gefallen Sie Euch nicht?« »Sie sind wortgewaltig und unverwechselbar. Eure Darstellung des Kriegsherren Artus und seiner Ritter ist sehr lebensnah und so korrekt geschildert, als wärt Ihr selbst dabei gewesen.« Hartmann lächelte, und wieder wirkte er verlegen. »Und doch«, sagte Merlin, »ich muss Euch in ein Geheimnis einweihen. Es ist ein neuer Artus geboren, der nur zufällig den Namen des alten Kriegsherren trägt, der vor zwei Jahrhunderten für Britannien kämpfte und über den Ihr schriebt, Hartmann. Ich beobachte sein Leben genau. Er wird Ritter um sich sammeln und eine Tafelrunde gründen.« Rheged pfiff erstaunt durch die Zähne. »Es ist so weit, Merlin?« »Noch einige Jahre«, wiegelte der Zauberer ab. »Doch das, was er vollbringen wird, wird das Antlitz der Erde für immer verändern, wenn es gelingt. Wenn nicht, darf die Wahrheit niemals bekannt werden.« »Du rechnest damit, dass er scheitern könnte?« »Man muss mit allem rechnen.« Der Magier atmete tief ein. »Und hier kommt Ihr ins Spiel, Hartmann.« Merlin erhob sich und ging mit langsamen Schritten zu einem Schrank. Er öffnete die Tür. Die untere Hälfte des großen Schranks war gefüllt mit dicken Pergamentstapeln. Arthur mochte gar nicht darüber nachdenken, welche Werte Merlin hier gesammelt hatte. »Was …«, entfuhr es Hartmann. »Dies sind alle verbreiteten Abschriften Eurer Werke. Ich werde sie vernichten.« Hartmann wurde fahl. »Ihr wollt meine Epen der Vergessenheit anheim fallen lassen? Aber Ihr sagtet doch …« »Ihr werdet sie neu schreiben. Lasst sie in der Gegenwart spielen. Lasst Artus zu einem Helden der Gegenwart werden, und lasst ihn
eine neue Tafelrunde um sich sammeln. Eure Werke sollen das verfälschen, was wirklich geschehen wird. Die Taten des wahren Artus, die er bald vollbringen wird, werden verblassen, falls er versagen wird. In diesem Fall soll und wird man sich in Zukunft nur an Eure Werke erinnern, Hartmann!« Llewellyn erkannte das Entsetzen in den Augen Hartmanns und war amüsiert. Gleichzeitig bewunderte er die Weisheit Merlins. Es gab keinen besseren Weg, um die Augen der Welt schon vorsorglich zu schließen. Denn wenn Merlins zweite Tafelrunde ebenso versagte wie die erste, würde das den Höllenmächten einen gewaltigen Vorteil verschaffen, denn es wäre ein gewaltiger Sieg des Bösen. Und dann würde es wichtig sein, dass die Menschheit vergaß, was geschehen war, bis eines Tages, in ferner Zukunft, vielleicht eine dritte Tafelrunde entstehen konnte. Rheged ap Llewellyn lauschte dem weiteren Gespräch zwischen Dichter und Zauberer nur mit einem Ohr, hörte wenig von den Vorschlägen, die Merlin dem Dichter unterbreitete. »Stellt eine ideale Welt dar«, sagte der Magier etwa, »in die ein Störfaktor eindringt.« Llewellyn hing seinen eigenen Gedanken nach. »Ich mache mich an die Arbeit«, rief Hartmann schließlich enthusiastisch. »Der neue Erec und der neue Iwein werden besser als ihre Vorgänger!« Dann verließ er den Raum. »Wenn die zweite Tafelrunde Erfolg haben wird, ist diese Vorsichtsmaßnahme unnötig«, sagte Merlin zu Rheged. »Doch wenn sie scheitert, wird in den folgenden Jahrhunderten niemand mehr die Wahrheit kennen. Die Wortgewalt dieses Mannes wird in diesem Fall die Wahrheit verdrängen.« »Ich bin erstaunt, wie weit du in die Zukunft planst, Merlin.« »Ich habe viele Aufgaben, und ich muss zusehen, sie alle zu bewältigen. Jetzt sehe ich es als wichtig an, dich zu begleiten, Erbfolger.« »Es ist genau so gekommen, wie du es vermutet hast.« Llewellyn schloss die Augen. »Eckehardt war besessen – aber er hat es sich selbst zuzuschreiben.« Er berichtete Merlin von allem, was er inzwischen wusste.
»Du hast richtig gehandelt«, lobte der alte Magier. »Es wäre ein fataler Fehler gewesen, sie den Weg zur Quelle jetzt antreten zu lassen.« »Wer von beiden wird …« »Still!«, unterbrach Merlin hart. »Wer von beiden trinken wird, ist nicht deine Sache!« Beide schwiegen. »Vergessen wir die Zukunft für einen Moment«, schlug Rheged schließlich vor. »Kümmern wir uns um die Gegenwart.« »Die Dämonen befinden sich am Hof.« Merlin erhob sich. »Zumindest kehren sie immer wieder hierher zurück.« »Wieso?« »Vielleicht sind sie Eckehardt hierher gefolgt. Es spielt keine Rolle. Sie sind hier, und es ist nicht gut, wenn sie die Mächtigen töten oder beeinflussen. Wenn sie den Markgrafen oder seine Söhne unter ihre Gewalt bekommen, wie es in Eckehardts Fall geschah, kann das fatale Folgen nach sich ziehen.« »Vernichte sie, Merlin! Es müsste dir doch ein Leichtes sein, sie …« »Schweig, Rheged, alter Freund! Ich werde mich noch um Hartmann kümmern, danach warten andere Aufgaben auf mich. Im Saal des Wissens meiner Burg Caermardhin entdeckte ich Außergewöhnliches.« »Offensichtlich sind interessante Zeiten angebrochen.« »So ist es immer … Manchmal bin ich es müde. Ich leite die Geschicke vieler Welten …« »Und du hast den richtigen Weg eingeschlagen, als du deinem dunklen Bruder den Rücken zukehrtest!« »Daran zweifelte ich nie. Doch auch mein Bruder wird seine wahre Bestimmung nicht in der Hölle finden.« Merlin schloss die Augen, und Rheged wusste, dass es Zeit war zu gehen.
Zwei Tage vergingen ohne Zwischenfälle, doch Arthurs innere Unruhe nahm beständig zu. »Ich dachte, wir sind hier, um Dämonen zu vernichten!«, sagte er zu Rheged.
»Es muss etwas geschehen«, stimmte Eckehardt zu. »Ich bin es leid, über die Vergangenheit nachzudenken. Es gibt hier nichts, das mich länger als für die Dauer einer Mahlzeit von meinen Grübeleien abhalten könnte.« »Wir sind nicht nur deswegen hier!« Llewellyn schüttelte verärgert den Kopf. »Wenn es so weit ist und die Dämonen sich zeigen, dann sollt und müsst ihr sie bekämpfen und vernichten. Bis dahin …« »… ruhen wir uns aus, ja?«, maulte Arthur. »Oder sollen wir düstere Gedanken wälzen, bis wir den Verstand verlieren?« Eckehardt umfasste seinen Weinkrug und schob ihn auf dem Tisch hin und her. Dann fluchte er und lehnte sich zurück. »Bemerkt ihr denn nicht, in welchem Zustand ihr euch befindet? Innerlich zerrissen und voller Misstrauen und Zweifel.« »Ich habe doch wohl genügend Grund, an mir zu zweifeln«, behauptete Eckehardt. Rheged ging zum Fenster. Sie befanden sich in Arthurs prunkvoll ausgestattetem Gästequartier. Er stieß den von innen mit einem feinen Goldmuster überzogenen Laden auf und atmete tief die hereinströmende frische Luft ein. »Genauso wie Arthur jedes Recht hat, dir Misstrauen entgegenzubringen. Aber ihr solltet euch über eins bewusst sein: Solange ihr innerlich derartigen Unfrieden habt, werdet ihr weder siegreich gegen die Höllenmächte kämpfen, noch den Weg zur Quelle antreten können!« »Du irrst dich«, versicherte Eckehardt. »Ein Kampf würde mich ablenken und mir helfen, meine Gedanken …« »Ablenkung ist nicht das, was für dich das Richtige ist«, widersprach der Erbfolger. »Du benötigst Heilung, Versöhnung und Vergebung. Vor allem Letzteres – du musst dir selbst vergeben, Eckehardt!« »Niemals werde ich mir vergeben, alles verraten zu haben, an das ich glaubte! Ich habe ein Komplott mit der Hölle geschmiedet, um meinen Freund zu töten!« Eckehardt schlug mit der Faust auf den Tisch und sprang auf. »Ich weiß nicht, warum wir dieses Spiel durchziehen, Llewellyn! Schick Arthur zur Quelle – ich habe das ewige Leben nicht verdient! Du weißt das ebenso wie ich.«
»Wenn ihr wieder zusammengefunden habt und du immer noch so denkst, dann soll es so sein. Noch steht es dir nicht zu abzulehnen. Meine Aufgabe ist mit großer Verantwortung verbunden, und ich werde sie nicht leichtfertig aufs Spiel setzen und scheitern. Was immer du getan hast, es bleibt eine Tatsache, dass du auserwählt bist!« Sie schwiegen für einen Moment. »Wer hat mich auserwählt? Und warum? War ich schon immer auserwählt, schon vor meiner Geburt?«, fragte Eckehardt schließlich nachdenklich. »Darüber werden wir nicht reden. Heute nicht und auch sonst niemals.« »Warum nicht? Weil du es selbst nicht weißt?« »Weil du selbst nur den Willen eines anderen erfüllst, Rheged, und an Gesetze gebunden bist, die du nicht durchschaust?«, ergänzte Arthur. Rheged ap Llewellyn lächelte unergründlich. Arthur war klar, dass sie darüber nichts erfahren würden. »Vielleicht wäre es gut, wenigstens etwas zu unternehmen, um die Spur der Dämonen zu finden. Wir können nicht nur abwarten, sondern müssen unseren Feinden nachspüren, um sie auszuschalten, ehe sie weitere Opfer finden.« »Ich werde euch nicht daran hindern.« Llewellyn musterte die beiden intensiv, dann verließ er den Raum. »Wie sollen wir vorgehen, um die Dämonen aufzuspüren?«, fragte Eckehardt. Arthur fluchte. »Es gibt nichts, das wir tun können. Versteh das doch! Wir gehen nur auf Grund von Rhegeds Behauptung davon aus, dass sie hier am Hof ihr Unwesen treiben. Offiziell sind wir als Gäste Merlins hier. Wir können nicht die ganze Burg durchsuchen oder auffällige Fragen stellen. Es steht uns nicht zu.« »Wenn wir Gäste Merlins sind«, zischte Eckehardt, »warum stellt sich uns der Magier dann nicht vor?« »Du weißt doch, wie ich es gemeint habe. Aber bitte, wenn du es so genau nimmst, dann sind wir Gäste des Markgrafen und seines Sohnes Heinrich auf Empfehlung Merlins hin.« Arthur fuhr sich
durch die blonden Haare und presste die Lippen zusammen. Er fragte sich, warum er schon wieder Aggression in sich spürte. Die Antwort kam von selbst … Du brauchst Heilung, Versöhnung und Vergebung, hatte Llewellyn zu Eckehardt gesagt. Dies traf auf ihn ebenso zu. Er musste geheilt werden von der inneren Verletzung, die Eckehardt ihm durch seinen Verrat zugefügt hatte. Er musste seine unendliche Enttäuschung überwinden und sich mit Eckehardt versöhnen – und dazu war es nötig, dem ehemaligen Freund zu vergeben. Doch Arthur war nicht bereit. »Ich werde hinunter in die Halle gehen.« Eckehardt öffnete die Tür. »Ich denke, es gibt nichts, das wir zu besprechen haben.« Arthur nickte nur. Es gibt sehr viel, über das wir reden müssten, aber weder du noch ich sind dazu fähig. Von draußen näherten sich hastige Schritte. Rheged ap Llewellyn kehrte zurück. Ernsthaftigkeit lag auf seinen Zügen. Seine Schultern waren leicht herabgesunken. »Nun ist es wohl so weit«, sagte er. »Hiermit erkläre ich die Dämonenjagd für eröffnet.« Er lachte freudlos. »Was soll das heißen?« »Mindestens eine der Bestien ist zurück. Es hat ein Opfer gegeben.« Arthurs Haltung spannte sich. »Wer?« »Einer der Knechte. Er liegt im Weinkeller. Der Dämon hat ihn zerrissen.« Arthur durchzuckte eine unangenehme Erinnerung. Im Weinkeller … genau wie damals, als er die Leiche seines Dieners Konrad gefunden hatte. Doch es konnte keinen Zusammenhang zwischen den Vorfällen geben. Es handelte sich um reinen Zufall. »Werden wir freien Zutritt haben?« »Ehe Merlin die Burg verließ, offenbarte er Dietrich und Heinrich, warum ihr hier seid. Der Markgraf und sein Sohn wissen also Bescheid. Niemand wird euch behindern. Im Gegenteil. Ihr werdet jede nur denkbare Unterstützung erhalten.« Sie verließen eilig den Raum. Rheged führte sie in den Weinkeller. »Das hier«, sagte er angesichts des blutigen Etwas, das von dem Knecht übrig geblieben war, »ist nun eure Aufgabe. Wenn ihr mei-
nen Rat benötigt, wisst ihr, wo ihr mich findet.« Arthur warf dem Erbfolger keinen Blick hinterher. Die Kehle wurde ihm eng, als er das schrecklich zugerichtete Opfer in Augenschein nahm. »Warum wohl gerade er getötet wurde?«, fragte Eckehardt. »Zufall«, war sich Arthur sicher. »Er war zur falschen Zeit am falschen Ort. Jeder andere wäre dem Dämon genauso recht gewesen.« Eckehardt nickte. »Und warum hier, im Weinkeller?« »Das werden wir erst erfahren, wenn wir wissen, wo das oder die ersten Opfer vor unserer Ankunft gefunden wurden.« »Llewellyn hat uns nicht den kleinsten Hinweis gegeben. Er erwähnte, dass die Dämonen den Feudalhof heimsuchen, mehr nicht. Wir wissen nicht einmal, ob es wirklich bereits Opfer gegeben hat. Jede Nachfrage hat er mit Schweigen beantwortet.« »Es kommt ihm weniger darauf an, dass wir die Monster ausschalten, als darauf, dass wir …« Arthur brach ab. »Ich weiß, was du meinst. Ich sehe meine Aufgabe jedoch zuerst darin, die Bestien zu finden und zu vernichten. Danach werden wir weitersehen.« »Warum, Eckehardt? Warum bist du so versessen darauf, diese Kreaturen zu vernichten?« »Sie töten, Arthur. Ist das nicht Grund genug?« Es war Grund genug – doch Arthur wurde das Gefühl nicht los, dass es Eckehardt in erster Linie um Rache ging. Rache dafür, dass eines der Monster dieser Sippe mit ihm den Pakt geschlossen hatte …
Heinrich und Balthasar, die beiden ungleichen Söhne des Markgrafen, empfingen Arthur und Eckehardt sofort. »Unser Vater tobt!«, berichtete Balthasar. »Er will den Schuldigen, um Gericht über ihn zu halten und ihn vor den Augen seiner Untertanen hinzurichten!« »Der Täter war kein Mensch.«
Balthasar verzog spöttisch das Gesicht. »Was sagt Ihr da, Arthur?« »Es war das Werk eines Dämons.« »Ihr seid verrückt!« Er lachte. »Jetzt weiß ich auch, warum der weißhaarige Greis Euch meinem Vater wärmstens ans Herz legte.« »Hüte deine Zunge!«, fuhr Heinrich ihn an. »Du kannst froh sein, dass du mein Bruder bist, sonst würde ich dich entfernen lassen.« Balthasar presste die Zähne zusammen und knirschte: »Und wenn du nicht mein Bruder wärst, würdest du für diese Unverschämtheit im Kerker landen.« »Kommen wir zurück zum eigentlichen Thema«, forderte Arthur, erstaunt über das Ausmaß der Streitigkeiten zwischen den Geschwistern. »Der Knecht wurde grausam verstümmelt. Habt Ihr die Leiche gesehen, Balthasar?« Der Angesprochene schüttelte den Kopf. »Wenn Ihr glaubt, es war ein Mensch, dann seht Euch den Toten an. Kein Mensch könnte so etwas anrichten.« »Nun, dann wird er wohl einem wilden Tier zum Opfer gefallen sein. Aber redet ruhig weiter von Dämonen. Mein Bruder und auch mein Vater leihen Euch sicher ihr Ohr. Der gern gesehene Gast Merlin hat sie in langer Arbeit auf Euch und Eure Ideen vorbereitet.« »Falls du meinst, witzig zu sein, täuschst du dich«, erwiderte Heinrich scharf. Seine Haltung spannte sich, und er wirkte noch bedrohlicher. Gegen diesen Mann hätte kaum jemand im Zweikampf bestehen können – ebenso wenig wie gegen seinen Bruder. »So führt euer Gespräch ohne mich weiter.« Balthasar verließ das Zimmer. »Es ist gut, dass er gegangen ist.« Heinrich wandte sich Arthur und Eckehardt zu. »Er will nicht wahrhaben, dass wir von bösen Mächten heimgesucht werden. Schon bei den ersten Opfern nicht.« Arthur nahm diese Information stillschweigend zur Kenntnis. »Wie steht Euer Vater zu der Sache?« »Der Markgraf weiß um die Existenz der bösen Mächte, denn er ist ein verständiger Mann. Balthasar behauptet, Merlin habe seinen Verstand verwirrt, aber … in Wirklichkeit hat Merlin unserem Vater unschätzbare Dienste erwiesen.«
Arthur beschloss, Rheged eindringlich um ein Treffen mit dem Magier zu bitten. »Erzählt uns von den Opfern, die vor unserer Ankunft gefunden wurden. Starben sie ebenfalls im Weinkeller?« »Keiner der drei. Man fand sie alle im Burggraben.« Eckehardt ergriff das Wort. »Also ist dies der erste Tote, der innerhalb der Burgmauern gefunden wurde?« »Wir dachten, hier drin wären wir vor den Heimsuchungen des Bösen sicher.« »Mauern und Wächter können die Dämonen nicht abhalten«, erwiderte Arthur. »Um wen handelte es sich bei den Toten?« »Sie waren alle Knechte, die spät abends oder nachts die Burg verließen, um zu ihren Familien zu gehen.« »Aber heute schlug der Dämon bei Tage zu.« Eckehardt wirkte nachdenklich. »Das muss nicht sein. Das Opfer wurde erst vor kurzem gefunden, doch es könnte durchaus bereits in der Nacht ermordet worden sein. Noch niemand hatte heute den Weinkeller betreten.« »Mich griff der Dämon auch am Tage an«, murmelte Arthur. »Ihr seid ihm begegnet?«, entfuhr es Heinrich. »Ihm oder einem seiner Artgenossen. Ich kämpfte vor den Toren der Stadt mit ihm.« Besser gesagt, Gertrud kämpfte mit ihm … »Und Ihr lebt noch?« »Dieser Stein hat ihn vertrieben und beinahe getötet.« Arthur zog die Gemme aus der Tasche, die er von Gertrud erhalten hatte. »Er ist eine wirksame Waffe. Leider besitzen wir nur zwei der Steine.« Heinrich hob fragend die Augenbrauen, und Eckehardt folgte der unausgesprochenen Aufforderung. Auch er legte seine Gemme auf den Tisch. Der Sohn des Markgrafen nahm die Steine in die Hand. »Eigenartig. Sie sind leicht erwärmt.« »Was meint Ihr?« »Habt Ihr es nicht gespürt?« Er reichte Arthur den Stein. Tatsächlich wies dessen Oberfläche nicht die Kühle auf, die Arthur erwartet hatte und auch von dem Stein gewohnt war. Er reichte die Gemme weiter an Eckehardt. »Was hat das zu bedeuten?«
»Ich … ich hörte von Derartigem«, antwortete Eckehardt leise. »Von Amuletten, die …« Er brach ab. »Der Dämon ist in der Nähe!« »Was soll das heißen?«, entfuhr es Heinrich. »Die Gemme erwärmt sich, weil sie die Gegenwart des Bösen spürt!« Mit dem Stein in der Hand rannte Eckehardt aus dem Zimmer. Arthur eilte ihm hinterher. Ein Schrei gellte auf. Eckehardt rannte bereits in Richtung der großen Halle. Der Schrei war aus dieser Richtung aufgeklungen …
Die junge Frau blutete aus einer tiefen Wunde an der Schulter. Ihr rotes Kleid war von dort aus zerrissen; ihre Brüste schimmerten hell, wo sie nicht von Blut bedeckt waren. Sie schrie immer noch und verbarg sich zitternd hinter einer Säule. Das graubraune Monstrum stampfte durch die Halle, sein Schwanz peitschte, und die Widerhaken am Schwanzende bohrten sich in die Beine eines Mannes, der zu Boden gerissen wurde. Das Schwert, mit dem er die Bestie hatte angreifen wollen, entglitt ihm. Es klirrte, als die Waffe über den Boden schlitterte. Verzweifelt griff er danach, doch er konnte das Schwert nicht mehr ergreifen. Eckehart erreichte das obere Ende der Treppe, die hinab in die Halle führte. Von dem Wandelgang unterhalb der kuppelförmigen Decke blickten er und Arthur auf das schreckliche Geschehen hinab. Eckehardt stürmte nach unten, immer mehrere Stufen auf einmal nehmend. Als er beinahe unten angekommen war, strauchelte er. Mit einem Fluchen stürzte er die letzten Stufen hinunter. Es gelang ihm, sich über die Schulter abzurollen. Die Gemme entglitt seiner Hand und rollte über den Boden der Halle. Ein Schreck durchfuhr Arthur. Er hastete nach unten, an Eckehardt vorbei und auf das Monstrum zu. Es hatte von der jungen Frau abgelassen und sich dem Mann zugewandt. Es fauchte, das Maul weit aufgerissen. Geifer tropfte von den langen Zähnen auf den Steinboden. Der Mann kroch auf sein Schwert zu. Sein verletz-
tes Bein hinterließ eine breite Blutspur. Gerade schloss sich seine Hand um den breiten Griff der Waffe, da schlug das Monster zu. Die Krallen des Dämons bohrten sich in seinen Brustkorb und rissen ihm das schlagende Herz aus dem Leib. Der Unglückliche lebte noch lange genug, um zu sehen, wie das Ungetüm sein Herz in der Klaue zerquetschte. Das Blut spritzte durch die Halle. Die Bestie wandte sich mit einem triumphierenden Brüllen von dem Toten ab. Arthur war nahe herangekommen. Sollte er die Gemme auf die Bestie schleudern? Damit würde er seine Waffe aus der Hand geben … Der Stein hatte sich stärker erwärmt. Bei dem Angriff vor den Toren der Stadt war ihm diese Reaktion nicht aufgefallen. Der Schwanz des Dämons peitschte heran. Arthur entging dem Angriff nur durch einen Sprung zur Seite. Hart prallte er gegen die Wand. Inzwischen waren einige Wächter in die Halle gestürmt. Der Dämon sprang auf sie zu und schnappte mit seinem Maul nach ihnen. Einer schrie, als ihm der Arm aus der Schulter gerissen wurde. »Raus hier!«, rief Arthur ihnen zu. Er entriss einem der Männer eine Streitaxt. Damit stürmte er auf den Dämon zu. »Eckehardt!«, schrie er. Der Dämonenjäger zeigte keine Reaktion. Aus dem Augenwinkel sah Arthur, dass Eckehardt seine Hände um sein rechtes Bein geschlungen hatte. Ihm blieb keine Zeit, auf ein Eingreifen des Kampfpartners zu warten. Er schlug mit der Axt zu. Die Schneide bohrte sich in die Seite des Dämons. Dunkles Blut spritzte hervor, doch die Bestie zeigte keinerlei Reaktion. Ihre Krallen zuckten vor und fetzten Arthur die Kleidung am Oberkörper auf. Blut sickerte aus tiefen Kratzwunden, und Arthur ließ die Axt los. Sie blieb im Körper seines Gegners stecken. »Deinnnn Toddd isssst gekommenn!«, geiferte das Monstrum. Ein mörderischer Tritt traf Arthur. Jetzt! Er riss die Gemme aus seiner Tasche. Die Bestie war nahe heran. »Ssstirrrrbbbb!«
Arthur schlug mit dem weißmagischen Stein zu. Er bohrte sich in den Schädel des Dämons. Das Untier brüllte, die Gemme fraß sich durch die schuppige Haut. Es stank widerlich, Dampf wölkte auf, und der Höllische begann zu brennen. Arthur warf sich zur Seite, um dem wild um sich schlagenden Unhold zu entgehen. Schwer atmend beobachtete er den Todeskampf seines Gegners. Das Monster brach zusammen. »Meinnn Brruderrr wirddd ddichhh …«, drang es durch die hoch auflodernden Flammen. Dann verstummte der Dämon – für immer. Das Feuer traß seinen Körper vollständig. Die junge Frau stand noch immer zitternd hinter der Säule. Arthur wandte den Blick zu Eckehardt. Dieser kam eben mühevoll auf die Beine. Er atmete schwer. »Verdammt«, presste er hervor und lief einige Schritte, auf dem rechten Bein hinkend. »Ich bin gestürzt, Arthur.« Eckehardts Züge verhärteten sich. Der Ärger über sich selbst war ihm deutlich anzusehen. »Wenn du nicht hier gewesen wärst, hätte der Dämon noch mehr Menschen umgebracht. Auch ich wäre ein leichtes Opfer gewesen.« Er lachte bitter. »Ich habe sogar die Gemme verloren.« »Ein Unglück, das mir ebenso hätte geschehen können.« »Ist es aber nicht, nicht wahr?« Arthur wechselte das Thema. »Ehe er starb, sagte der Dämon etwas.« »Konntest du ihn verstehen?« »Es war wohl eine Todesdrohung. Er sprach von seinem Bruder.« »Es hält sich also mindestens eine weitere dieser Kreaturen hier auf.« »Vielleicht wird es dir gegönnt sein, sie zur Strecke zu bringen.« »Verlass dich nicht darauf, Arthur.« Eckehardt starrte nachdenklich auf die Gemme. »Eine erstaunliche Waffe. Ob sie auch gegen andere Kreaturen der Finsternis wirkt?« »Wir werden Llewellyn fragen. Er …« »Er weiß genau darüber Bescheid«, beendete der Erbfolger den
Satz für Arthur. Unbemerkt hatte er die Halle betreten. »Eure Jagd war von schnellem Erfolg gekrönt.« »Doch sie ist noch nicht zu Ende.« »Es befinden sich weitere Monster hier in der Burg?« »Wir müssen davon ausgehen.« Die Verletzte kam mit zitternden Schritten auf die drei zu. Mit beiden Händen verbarg sie die blanken Brüste. »Ich danke Euch.« Tränen liefen ihr über die Wangen. »Ein Medicus soll sich um sie kümmern!«, rief Rheged. Sie übergaben die junge Frau in die Obhut der Wächter und verließen die Halle. »Wie habt ihr den Dämon gefunden?« »Er trat sehr offen auf und verursachte großen Lärm«, begann Arthur, »doch die Gemme machte uns auf ihn aufmerksam. Sie erwärmte sich.« »Es ist eine ausgezeichnete Waffe.« »Woher stammen die Steine?« »Von Merlin. Sie sind Experimente. Er arbeitet an der Perfektion einiger Amulette.« »Merlin, Merlin!«, stieß Eckehardt hervor. »Immer wieder Merlin! Warum zeigt er sich nicht? Warum hält er sich im Hintergrund?« »Ich kümmere mich um euch«, erwiderte Rheged bestimmt. »Merlin kann nicht überall sein.« »Wir würden ihn gern sprechen«, sagte Arthur versöhnlich. »Könntest du ein Treffen möglich machen?« »Er hält die Zeit noch nicht für gekommen.« »Du hast mit ihm über uns geredet?« »Selbstverständlich«, antwortete der Erbfolger belustigt. »Ich sehe ihn als meinen Mentor an. Denn trotz meines unzweifelhaft hohen Alters und meiner nahezu unendlichen Lebenserfahrung bin ich … nun ja, auf einer anderen Ebene ein Sechzehnjähriger, der erst vor kurzer Zeit von seiner Bestimmung erfahren hat.« »Wie viele der Gemmen existieren?« »Vier, möglicherweise fünf … zumindest, falls Merlin keine weiteren geschaffen hat. Allerdings bildeten sie nur die Vorstufe eines
viel wichtigeren Experiments, das Merlin schon seit vielen Jahrzehnten beschäftigt. Er übte sich mithilfe der Gemmen darin, bestimmte magische Funktionen zu verfeinern. Gertrud und ich besitzen auch jeweils eine.« »Sie sind nicht speziell gegen diese Dämonen gefertigt worden?« Llewellyn schüttelte den Kopf. »Du hast das Monstrum mit deinem Stein vernichtet?« »Ich täuschte einen Angriff mit einer Streitaxt vor, um nahe genug heranzukommen.« »Es bleibt eine Frage«, warf Eckehardt ein. »Wieso trat der Dämon plötzlich derart offen in Erscheinung?« »Er fühlte sich sicher«, vermutete Arthur. »Er rechnete nicht damit, dass er auf ernst zu nehmenden Widerstand treffen könnte.« Wirklich? War da nicht Hass in den Augen des Monsters, als es mich töten wollte? Hass auf mich, den Höllengegner, und nicht auf irgendeinen beliebigen Menschen? »Zum Glück hat er sich getäuscht«, meinte Rheged. »Folgt mir.« »Wohin führst du uns?« »Es gibt jemanden, den ihr sprechen solltet.«
»Ich hörte, dass Ihr hier weilt, und es ist mir eine Ehre, mit Euch sprechen zu dürfen.« Arthur deutete eine Verbeugung vor seinem schmächtigen Gegenüber an. Er hatte nur kurz sein Quartier aufgesucht. Dort hatte er seine Wunden verarztet und sich neue Oberkleidung angezogen. Jetzt stand er Hartmann, dem Dienstmann aus Aue und Ependichter, gegenüber. »Ich danke Euch. Ich verlasse nur selten mein Quartier, denn ich bin in meiner Arbeit vertieft«, antwortete der unauffällige Mann mit ungewöhnlich hoher Stimme. »Deshalb trafen wir uns bislang noch nicht. Ich verfasse neue Versionen meiner Epen, die die alten bei weitem übertreffen werden.« »Ich las einen Teil Eures Erec, leider in einer schlechten Abschrift«, erwiderte Eckehardt. »Ich bin erstaunt, mein Freund! Mochtet Ihr es?« »Mir war nur ein kleiner Teil zugänglich, nicht mehr als tausend
Verse, doch sie öffneten meinen Blick für die Vergangenheit.« »Dann werdet Ihr den neuen Erec lieben. Ich habe bereits einen Teil fertig gestellt. Nicht die Vergangenheit ist wichtig, sondern die Gegenwart und die Zukunft.« »Ich weiß, wie wichtig Eure Aufgabe ist, Hartmann, doch wir sind nicht hier, um darüber zu reden.« Rheged ap Llewellyn räusperte sich. »Natürlich, verzeiht! Ich hörte, was Euch widerfahren ist.« Hartmann legte seine Hände auf die Arme Arthurs und Eckehardts. Arthur blickte den Dichter befremdet an, wegen seiner Worte ebenso wie wegen der vertraulichen Berührung. »Ihr wisst …?« »Euer Freund Llewellyn weihte mich in Eure Geheimnisse ein. Es gibt etwas, das Ihr wissen müsst.« »Sprecht«, forderte Arthur unbehaglich. »Verrat ist hässlich und die Selbstsucht die Wurzel vielen Übels. Doch was geschehen ist, ist geschehen. Nehmt mein neues Epos und lest! Ihr werdet sehen, dass in jede heile Welt eine Störung einbricht, einfach deshalb, weil es so sein muss – es gibt nirgends auf dieser Welt wirklichen Frieden. Die Lösung, meine Freunde, besteht darin, die Störung zu beseitigen und für das Gute einzutreten. Wer gefallen ist, der stehe auf und sehe zu, dass er nicht wieder fällt.« Hartmann fasste den Stapel Pergamente, an denen er eben noch gearbeitet hatte. »Lest, meine Freunde! Lest und erkennt, was Euer Leben gesunden lassen kann!« Er lachte leise. »Von Euch, Eckehardt, weiß ich immerhin, dass Ihr des Lesens mächtig seid. Doch wie steht es mit Euch, Arthur?« »Ich lernte es vor längerem in einem Kloster.« »Seht Ihr, ich wusste, dass ich mich in Euch nicht getäuscht habe. Wer so viel Bildung besitzt wie Ihr, dem werden meine Worte helfen können. Euer Geist ist geöffnet, um tiefer liegende Zusammenhänge zu verstehen. Und nun lest, lest! Denkt dabei nicht an mich, nur an Euch.« Arthur und Eckehardt sahen ihn verblüfft an. »Nehmt die Pergamente und verschwindet! Ich muss weiterarbeiten.« Hartmann tauchte die Feder in das Fass mit Farbe und begann,
ein leeres Pergament zu beschreiben. »Nun los, verschwindet!« Verwirrt verließen Arthur und Eckehardt den Raum; Rheged folgte lächelnd. »Er ist ein erstaunlicher Mensch.« Der Erbfolger wies hinter sich. »Wenn man ihn ansieht, vermutet man nicht, was in ihm steckt.« Zu dritt gingen sie den schmalen Gang entlang, der in einem Halbdunkel lag. Licht fiel nur durch einen schmalen Fensterschlitz. Arthur trug den Stapel vorsichtig in beiden Händen. »Hast du uns deshalb zu ihm geführt?«, fragte er und hob die Pergamente. »Was er sagte, stimmt. Die Störung, von der er sprach, besteht in eurem Fall in dem, was Eckehardt vor zehn Jahren tat. Wenn diese Verse euch helfen können, die Vergangenheit …« Ein Schrei gellte auf. Arthur zuckte zusammen und wirbelte herum. »Das war Hartmann!«, entfuhr es Rheged. Sofort rannten sie zurück. Arthur legte die Pergamente vorsichtig auf den Boden. Dadurch verlor er einen Augenblick, und Eckehardt erreichte das Quartier des Dichters als Erster. Ein wildes Fauchen ertönte darin. Arthur erkannte es sofort. Einer der Dämonen befand sich bei Hartmann. Eckehardt riss die Tür auf. Gleichzeitig hörte man im Zimmer Holz splittern. Hartmann lag in der Ecke des Zimmers. Blut war gegen eine Wand gespritzt, allerdings war es nicht sehr viel. Der schmächtige Dichter regte sich nicht. Eine der Bestien stand inmitten der Überreste des Schreibpultes. Sie hatte sich Eckehardt zugewandt, eine ihrer Klauen raste auf ihn zu. Eckehardt duckte sich, der Angriff ging ins Leere. Der Dämonenjäger packte einen Teil des zerstörten Pults und riss ihn hoch. Der Dämon wurde voll getroffen und zu Boden gestoßen. Noch ehe Arthur ihm beistehen konnte, sprang Eckehardt mit seiner Gemme in der Hand auf das Monster zu. Der Dämon rollte sich katzenhaft zur Seite und entging so dem Angriff. Als sei der mit Widerhaken bestückte Schwanz ein eigenständiges Lebewesen, zuckte er auf Eckehardt zu. Krachend prallte
er gegen das zerstörte Pult und zerschmetterte es gänzlich. Splitter flogen in alle Richtungen. Der Attacke wurde dadurch die Wucht genommen, dennoch schrie Eckehardt schmerzerfüllt auf, als ihn der Schwanz an den Beinen traf. Arthur riss seinen eigenen magischen Stein hervor. Der Dämon brüllte, wischte mit seinen Klauen durch die Luft und stieß sich kraftvoll vom Boden ab. Er sprang auf das Fenster zu. Es war nicht groß genug, dem Untier einen Fluchtweg zu bieten. Steine barsten um das Fenster herum aus der Wand. Der Dämon überschlug sich in der Luft und landete einige Mannslängen tiefer jenseits des Burggrabens. Er warf sich herum und entfernte sich in rasender Geschwindigkeit. Eckehardt war bereits wieder auf den Beinen und hastete zu Hartmann. Der Dichter stöhnte und fuhr sich mit der Hand über seinen Hinterkopf. »Ich bin nicht schwer verletzt.« Arthur war ebenfalls heran und besah sich die Wunde am Oberarm Hartmanns. Sie blutete stark, war jedoch nicht tief. »Das … das Monster hat mich mit einem einzigen Schlag zur Seite geschleudert«, stammelte der Dichter. »ihr hattet Glück, dass wir noch in der Nähe waren.« »Ich glaube nicht, dass der Angriff gerade jetzt ein Zufall war«, sagte Llewellyn vom Eingang her. »Was soll das heißen?«, fragte Hartmann entsetzt. »Du bist in Gefahr. Entweder, weil du das Werk Merlins vollbringst, oder weil du Eckehardt und Arthur hilfst.« Das Werk Merlins? Was ging hier vor? Arthur wandte sich an den Erbfolger. »Bist du sicher?« »Ich werde ihm meine Gemme geben.« Rheged ap Llewellyn hielt dem Dichter den weißmagischen Stein hin. »Sie wird dich schützen. Sie trägt die Kraft in sich, die Dämonen zu vernichten. Führe sie immer mit dir.«
Die nächste schlechte Nachricht ließ nicht lange auf sich warten.
Noch am selben Abend trat Heinrich mit versteinertem Gesicht vor Arthur. »Mein Vater«, sagte er. »Was ist mit ihm?« Arthurs Magen krampfte sich zusammen, als ein entsetzlicher Verdacht in ihm aufkeimte. »Er wurde ein … ein Opfer des Dämons.« Heinrich ballte die Hände zu Fäusten. »Aus seinen Privatgemächern drang Lärm, doch als die Wächter, die davor postiert waren, eindrangen, fanden sie nur noch die schrecklich zugerichtete Leiche meines Vaters.« In seinem Blick funkelte unendlicher Hass. Arthur zitterte leicht. Er informierte Eckehardt, während Heinrich Rheged ap Llewellyn Bescheid sagte. In den Gemächern des Ermordeten wartete bereits Balthasar, Heinrichs Bruder. Er stand fassungslos vor der Leiche seines Vaters. Als die Dämonenjäger eintraten, schenkte er ihnen zunächst keine Beachtung. Erst als Heinrich direkt neben ihn trat, wandte sich Balthasar um, und seine Worte kamen leise und stockend. »Die Ereignisse haben gezeigt, dass Ihr Recht hattet …« »Wer von uns Recht hatte, ist unwichtig«, erwiderte Arthur. »Wichtig ist einzig und allein, den Dämon zu vernichten, der das hier getan hat.« »Ihr habt eines der Monster in der Halle vernichtet. Sagt, wie viele von ihnen befinden sich hier in der Burg?« »Wir können es nicht mit Sicherheit sagen, doch wir hoffen, dass es nur noch ein Höllenwesen ist.« »Der Dämon griff Euren Gast Hartmann an«, ergänzte Eckehardt. »In dessen Quartier wäre es uns fast gelungen, ihn zu vernichten. Er entkam in letzter Sekunde. Wie ich sehe, auf dieselbe Weise, wie er hier in die Gemächer Eures Vaters eingedrungen ist.« Das Gemäuer neben dem schmalen Fenster war zertrümmert. Steine waren aus der Wand gebrochen und lagen weit im Raum verstreut. Der Dämon musste im wahrsten Sinn des Wortes durch die Wand gekommen sein. Danach hatte er sein blutiges Werk vollbracht und das Zimmer durch das Loch in der Wand wieder verlassen. »Er hat den Markgrafen gezielt als Opfer ausgesucht«, murmelte
Arthur. »Es sieht ganz so aus, als wäre alles andere bislang nur Vorbereitung gewesen.« »Was soll das heißen?« Balthasar wandte sich Arthur zu, doch sein Blick ging durch ihn hindurch in unendliche Fernen. »Die bisherigen Opfer waren zufällig ausgewählt. Es steckte kein Plan dahinter; es hätte jeden treffen können. Doch jetzt hat er gezielt den mächtigsten Mann ausgeschaltet.« »Ihr redet von meinem Vater!«, ereiferte sich Balthasar. »Richtig. Und das lässt mich befürchten, dass die nächsten Opfer, die der Dämon ins Auge gefasst hat, wohl Ihr und Euer Bruder seid.« Eckehardt fasste Arthur an der Schulter. »Ihr erlaubt«, bat er die Söhne des Ermordeten, »dass wir uns kurz zurückziehen?« Heinrich nickte und begann, aufgeregt mit Balthasar zu reden. Als niemand mehr das Gespräch der beiden Dämonenjäger mithören konnte, sagte Eckehardt: »Llewellyn hatte mich nicht davon überzeugen können, dass diese Monster geplant vorgehen. Ich hielt es für einen Zufall, dass der Dichter beinahe zu einem Opfer geworden wäre.« »Hast du nicht gehört, was er sagte? Hartmann vollbringe Merlins Werk, und deshalb …« Eckehardt winkte ab. »Ich habe meine Meinung geändert. Ich gebe dir Recht. Heinrich und Balthasar sind in größter Lebensgefahr, ebenso wie Hartmann. Wir müssten sie wie den Dichter mit unseren Gemmen schützen, doch geben wir die Steine aus unseren Händen, sind wir selbst unbewaffnet.« »Also müssen wir uns ständig in ihrer Nähe aufhalten. Hartmann sollte ebenfalls nicht von unserer Seite weichen. Und wenn der Dämon das nächste Mal angreift …« Arthur brach ab. Eckehardt und ich arbeiten zusammen wie in alten Zeiten. Als wäre nichts geschehen … Den Abend und die Nacht verbrachten sie alle in der großen Halle. Als die anderen schon schliefen, lasen Eckehardt und Arthur noch lange in den Pergamenten, die Hartmann ihnen überreicht hatte …
Am nächsten Tag – Arthur hatte in der Nacht nur sehr wenig geschlafen – traf überraschend Besuch ein. Die Sicherheitsvorkehrungen am Hof waren extrem verschärft worden, sodass Heinrich als neuer Burgherr das Burgtor erst nach einem langen Gespräch mit Llewellyn öffnen ließ. Arthurs Gefühle waren zwiespältig, als er die Eingetroffene sah. Doch ein Blick in ihre hellblauen Augen ließ ihn alles Misstrauen vergessen. »Gertrud«, begrüßte er sie leise. »Wo ist Oswalt?« »Es ist schön, dass du dich noch an seinen Namen erinnerst«, erwiderte sie. »Er ist bei Freunden an einem Ort, der sicherer ist als dieser.« Sie vollführte eine umfassende Handbewegung. »Es ist erstaunlich, nicht wahr? Nach den Maßstäben der Welt gibt es kaum einen Platz, der sicherer sein könnte als die Burg des Markgrafen. Doch wenn Dämonen im Spiel sind, ist man nirgends sicher.« »Eines ändert sich jedoch nicht«, erwiderte Eckehardt bissig. »Wahrheit bleibt Wahrheit. Doch mit der nimmst du es ja nicht so genau.« »Wenn du damit auf mein Auftreten als Mechthild hinweisen willst, dann weißt du genau, dass ich zu eurem Besten log!« »Ich habe Erfahrung mit Lügen, Gertrud, und sie dienen niemals dem Wohl von anderen.« »Dann bleibt mir nur eins.« Sie legte die Stirn in Falten. »Ich bitte dich um Verzeihung, Eckehardt.« Das verschlug ihm die Sprache. Er schwieg einen Moment lang, dann nickte er. »Sie sei dir gewährt.« Sie lächelte und wandte sich Arthur zu. Fragend sah sie ihn an. »Dasselbe gilt für mich«, sagte er. »Du handeltest in bester Absicht und im Auftrag Rhegeds.« »Er teilte mir mit, was vorgefallen ist. Ich freue mich, dass ihr einen der Dämonen bereits vernichten konntet.« »Und der zweite soll uns kein weiteres Mal entkommen!«, schwor Eckehardt rau. »Lass dich nicht von deinem Hass lenken«, sagte Gertrud mit ruhi-
ger Stimme. »Hass und Rache sind keine guten Berater.« Sie schätzt ihn so ein wie ich, dachte Arthur. »Wir hatten den Dämon gestellt, doch er entkam im letzten Moment.« »Ihr solltet euch nicht mit Vorwürfen quälen. Nach dem, was Rheged mir berichtete, hättet ihr ihn unmöglich aufhalten können.« »Die Gemmen sind unschätzbar wertvolle Waffen.« Gertrud lächelte. »Ich hoffe, sie werden euch helfen, das zweite Monster ausfindig zu machen, ehe es erneut zuschlägt.« »Als du sie vor der Stadt gegen den Dämon eingesetzt hast, ist mir nicht aufgefallen, dass sie sich erwärmten, sobald diese Kreaturen in der Nähe sind«, sagte Arthur nachdenklich. »Du warst wohl abgelenkt. Zu vieles ist auf dich eingestürzt, als dass du darauf hättest achten können.« »Du hättest es mir sagen müssen! Dadurch, dass ich es nicht wusste, haben wir wertvolle Augenblicke verloren, indem wir zögerten. Hätte Eckehardt sich nicht an bestimmte Berichte erinnert, wären wir möglicherweise noch später zum Ort des Geschehens gelangt. Es hätte weitere Todesopfer geben können!« »Es war ein Fehler«, stimmte Gertrud zu. »Die Benutzung der Gemmen ist mir derart in Fleisch und Blut übergegangen, dass ich nicht daran dachte.« Sie zogen sich in Eckehardts Quartier zurück. Wenig später stieß auch Llewellyn zu ihnen. Er winkte ab, als sie ihm anboten, sich zu setzen. Stattdessen lehnte er sich gegen die Wand. »Wir können nicht tatenlos abwarten, bis der Dämon wieder zuschlägt«, sagte der Erbfolger. »Auf einmal so tatendurstig? Ist das nicht genau das, was wir dir schon vor den neuen Todesfällen sagten?« »Ich hätte nicht gedacht, dass die Monstren derart aggressiv vorgehen, Eckehardt«, verteidigte sich Rheged. »Wir sollten die anderen zu uns rufen.« Hartmann, Heinrich und Balthasar hielten sich gemeinsam in der Halle auf. Zu ihrem Schutz hatte Gertrud ihnen ihre Gemme überlassen. So verfügte jede Gruppe der unmittelbar Bedrohten über zwei der magischen Steine. Sie rechneten jederzeit mit einem Angriff des verbliebenen Dämons.
»Und dann?« »Werden wir alle Kellerräume und unzugänglichen Ecken der Burg durchsuchen. Die Gemmen werden uns durch Erwärmen anzeigen, wenn wir uns der höllischen Kreatur nähern. Es wird Zeit, selbst zum Angriff überzugehen.« Sie setzten den Plan auch sogleich in die Tat um. Sie begannen im Weinkeller, in dem die Leiche des Knechts gefunden worden war. Sie durchquerten zahlreiche Räume, schauten in jeden Winkel. Sie durchsuchten Lagerräume und tiefe Keller, in denen sich seit Jahren kein Mensch mehr aufgehalten hatte, weil die Wände einsturzgefährdet waren. Ein kompletter Seitenbereich der Burg stand deswegen völlig leer. Der Markgraf hatte schon lange darüber nachgedacht, ihn abreißen und neu aufbauen zu lassen, bisher jedoch nicht die finanziellen Mittel dazu gehabt. Auch dort wies nichts auf die Gegenwart eines Höllischen hin. Als die Dämonenjäger den verlassenen Trakt wieder verlassen wollten, blieb Hartmann plötzlich stehen. »Still! Da war ein Geräusch.« Arthurs Herz begann heftiger zu schlagen. War das leise Schaben und Knirschen wirklich zu hören, oder bildete er es sich ein? Als trete etwas Großes sehr vorsichtig auf, bemüht, kein Geräusch zu verursachen? Da – ein leises Kratzen, wie von Klauen auf Steinboden? Sie drehten sich langsam um, jede hastige Bewegung vermeidend. In dem Raum herrschte beinahe undurchdringliche Dunkelheit. Arthur glaubte, in der Schwärze eine huschende Bewegung wahrzunehmen. »Dort!« »Die Gemme erwärmt sich«, flüsterte Hartmann. Dann sprang das Grauen auf sie zu! Rasend schnell schälte sich eine Kontur aus der Dunkelheit. Das Monster prallte gegen Eckehardt. Beide stürzten. Ein Schrei, dumpfe Laute wie von Tritten. Der Dämon brüllte. Hektische, huschende Bewegungen. Ein hohes Kreischen, als die hornigen Krallen über den Steinboden schrammten. Der Dämon stieß sich ab und landete federnd vor Arthur. Der
warf ohne Zögern seine Gemme gegen die Brust des Höllischen. Wieder wölkte Qualm auf, als der weißmagische Stein eine große Brandwunde hinterließ. Der Dämon schlug mit seinen Klauen zu. Arthur sah, wie die Gemme zu Boden fiel, dann traf ihn der Hieb. Gleichzeitig stürzte sich Heinrich auf das Monster. Er presste seine Gemme von hinten gegen den Schädel des Ungetüms. Der Schwanz zuckte auf den jungen Mann zu. Die Widerhaken rissen ihm eine blutende Wunde. Dann verging das Monster unter den freigesetzten weißmagischen Energien! Dort, wo die Gemme sich in seinen Leib bohrte, schlugen Flammen daraus hervor, breiteten sich über den ganzen Leib aus. Doch es blieb keine Zeit, um aufzuatmen. Aus der Finsternis stürzten sich zwei weitere Kreaturen auf die Gefährten. Arthur konnte den Kampf nicht verfolgen. Er warf sich auf seine am Boden liegende Gemme. Um sie zu erreichen, musste er nahe an den brennenden Leib des ersten Dämons heran. Die Flammen verbreiteten eine mörderische Hitze. Als er die Gemme umfasste, war ihm, als zuckte das Feuer auf ihn zu. Für einen entsetzlichen Moment war seine Hand von Flammen umschlossen. Rasch zog er sie weg und schlug mit der freien Hand nach dem Feuer. Die feinen Härchen darauf wurden versengt, die Haut blieb unverletzt. Als er sich wieder umdrehte, war eines der Monster vernichtet. Das andere hielt Gertrud in seinen Klauen. Die Zähne des Dämons schnappten dicht neben ihrem Kopf zusammen. Nacktes Grauen stand in den Augen der Freundin geschrieben. »Lass sie frei«, forderte Eckehardt mit harter Stimme. Er trat einen Schritt auf den Höllischen und seine Geisel zu. »Nimm mich statt ihrer!« »Du bisssst einnn schwachhher Menschhh«, höhnte der Dämon und verstärkte den Druck seiner Klauen auf Gertruds Körper. Die Spitzen der Krallen ritzten ihre Haut. »Darum wirrrrsst du nachh ihrrr sterrrrbennn!«
Ehe das Monster ausgesprochen hatte, war Eckehardt bereits zu ihm hingesprungen und hatte die Gemme auf den Arm gedrückt, der Gertrud umklammerte. Der Dämon brüllte in wütendem Schmerz, Eckehardt umklammerte den Arm, und Gertrud wand sich aus dem Griff. Tränen rannen über ihre Wangen. Der Schwanz des Monstrums peitschte heran. Eckehardt brachte sich mit einem Satz ebenfalls in Sicherheit. Der Höllische sprang zur Seite und stand auf einmal hinter Balthasar. Der Bruder des neuen Markgrafen stöhnte dumpf auf. Seine Augen weiteten sich entsetzt. Seine Gemme entfiel seinen zitternden Fingern. »Deinnn Plann warrr nichttt gggut!«, geiferte die Bestie, an Balthasar gewandt. »Die Hölllle lllösssst dasss Bündnisss aufff! Wirrr werrrdenn nie zurückkkkehrrenn!« Die Krallen des Dämons zerfetzten Balthasars Kehle. Dann sprang das Monster mit einem kraftvollen Satz gegen die Wand. Es knirschte, und Steine polterten von der baufälligen Decke. »Raus hier!«, schrie Arthur. Er sah, dass sich die Kampfgefährten bereits dem Ausgang näherten. Hinter ihnen stürzte alles in sich zusammen. Der Dämon durchbrach im zweiten Anlauf die Wand. Es knirschte, und donnernd brachen gewaltige Brocken aus der Decke. Ein Stein prallte auf Arthurs Schulter. Er bückte sich, hob die Hände über den Kopf und eilte blindlings weiter. Wenig später hatte er die Hölle aus Steinbrocken, Staub und Tod hinter sich gelassen. Der Staub in seinen Lungen reizte ihn zum Husten. Alle hatten den Weg nach draußen gefunden. Gertrud. Hartmann. Eckehardt. Heinrich. Nur nicht Balthasar, das letzte Opfer des Dämons. Und gleichzeitig derjenige, der die Schuld an allem trug.
»Mein Bruder ist also der Schuldige«, sagte Heinrich erschüttert. »Er hat die Dämonen an den Hof gerufen.« »Nach den Worten des Monsters gibt es keine andere Erklärung«, stimmte Arthur nüchtern zu. »Balthasar ging einen Pakt mit der
Hölle ein. Die Monster sollten deinen Vater und dich töten.« »Damit er Markgraf werden kann.« Verbitterung schwang in Heinrichs Stimme mit. »Wie konnte er nur? Wie konnte er dazu fähig sein, seine eigene Familie zu verraten?« Eckehardt presste die Zähne aufeinander, dass es knirschte. »Er hat den Preis für seinen Verrat bezahlt«, stieß er hervor. Später, als er und Arthur allein in seinem Quartier waren, brach Eckehardt das Schweigen. »Dir wird nicht entgangen sein, wie sehr sich Balthasars und meine Geschichte gleichen.« Arthur schluckte schwer und vermied es, den Kampfgefährten anzusehen. »Ihr habt beide einen Pakt mit dieser Dämonensippe geschlossen.« »Sowohl er als auch ich hatten dabei nichts als unseren eigenen Vorteil im Sinn. Er wollte Markgraf werden; sein Bruder und sein Vater standen diesem Ziel im Weg. Ich …« Arthur unterbrach ihn. »Du brauchst es nicht zu sagen.« »Ich wollte das ewige Leben, doch du warst mein Konkurrent.« »Deine Taten zeigen, dass du der Hölle den Rücken gekehrt hast. In einem kurzen Moment warst du schwach geworden, doch du hast seitdem …« »Nichts, was ich jemals tue, kann meine Schuld an dir begleichen. Doch ich bereue. Und ich bitte dich um Vergebung.« Arthurs Hände spielten nervös miteinander. »Mehr kann ich nicht tun. Außer diesem: Ich werde den Weg zur Quelle des Lebens nicht antreten.« »Ich möchte, dass du mitgehst«, widersprach Arthur. »Ich weiß, dass nur einer von uns trinken wird, doch wie auch immer entschieden wird, wer das ewige Leben erlangt – es soll nicht von dem abhängen, was du vor zehn Jahren getan hast.« »Du vergibst mir?« »Ich will vergessen«, antwortete Arthur zögerlich. Alles andere wäre voreilig und gelogen gewesen. »Ob ich dir jemals wieder vorbehaltlos vertrauen kann, vermag ich heute noch nicht zu sagen. Aber ich weiß, dass du diejenigen entschlossen bekämpfst, mit denen du dich einst verbündet hast. Du hast dein Leben riskiert, um
Gertrud zu retten. Und ich glaube, du hättest das auch für mich getan.« Eckehardt blinzelte, und seine Lippen bebten. »Also werden wir beide gehen. Wir werden Rheged deinen Wunsch unterbreiten. Wenn er allerdings der Meinung ist, dass nur du den Weg zur Quelle antreten sollst, werde ich zurückbleiben.« Arthur hob die Hand. »Wir haben hundert Jahre lang zusammen gekämpft. Du hast mich unendlich vieles gelehrt. Ich verdanke dir mehr als einmal mein Leben. Ich wünsche mir, dass das, was du getan hast, im Dunkel des Vergessens versinkt.« Nach einem Moment fügte er hinzu: »Ob es mir gelingt zu vergessen, weiß ich allerdings nicht.« »Lass uns mit Llewellyn reden.« Eckehardt erhob sich, und gemeinsam gingen sie zu den Räumlichkeiten des Erbfolgers und berichteten ihm von ihrem Entschluss. »Ich bin froh, dass ihr eins geworden seid, auch wenn ich nicht weiß, ob eure Entscheidung richtig ist.« »Du selbst …« »Ich weiß, was ich gesagt habe. Doch ich habe nie zuvor zwei Auserwählte zur Quelle geführt.« »Wer wird entscheiden, wer von uns das ewige Leben erhält?«, fragte Arthur. Rheged ap Llewellyn schüttelte den Kopf. »Ihr werdet gehen, und dann werdet ihr sehen.« »Du sprachst von der Hüterin der Quelle.« »Geht und seht!«, wiederholte Rheged. »Die Sorgen, die dich plagen, stehen überdeutlich in deinem Gesicht geschrieben«, sagte Eckehardt mit leiser Stimme. »Meine Sorgen sind nicht die euren.« Er atmete tief ein und stieß dann geräuschvoll die Luft aus. »Verlasst die Burg, trennt euch und denkt über eure Entscheidung nach. In einem Monat treffen wir uns hier wieder. Wenn ihr eure Meinung bis dahin nicht geändert habt, geschehe es, wie ihr wollt.« »Wir brauchen diese Bedenkzeit nicht«, entgegnete Arthur. »Ein Monat.« Rheged fixierte die beiden. Es war deutlich, dass er
keinen Widerspruch duldete.
Schon die nächste Nacht verbrachten Arthur und Eckehardt in zwei verschiedenen Dörfern. Arthur hatte sich nach Westen gewandt, Eckehardt war in nördlicher Richtung von Dresden weggeritten. Als es dunkel wurde und sich Eckehardt auf das einfache Strohlager niederließ, flimmerte die Luft neben ihm. Etwas drang aus einer anderen Welt in die Wirklichkeit. Etwas Großes, Grau-Braunes. Eckehardt drehte sich langsam um. »Deinnnn Schaussspiellll warrr ggut! Allle gllaubbennn dirrr!« Eckehardt erhob sich. »Sssie dennnkenn, du berrreussst. Sssogar dennn Errrbfolgerrr hassst ddu gettäuschhht!« »Sie sind vertrauensselig.« »Balllthasssar warrr dasss idealllle Oppferrr. Dddu hattttesst Rechhhtt.« »Arthur vertraut mir. Nicht einmal Gertrud hat Verdacht geschöpft, obwohl ich sie unmöglich wirklich hätte retten können.« Der Dämon stieß ein tiefes, grollendes Lachen aus. »Sschadde, dassss Arrrthurrr nichhht starrrb: Aberrr ich werddde innnn dirrr mit zu derrr Quelle gehen. Wirrr stehhennn zzzu unssseremm Worrrt!« »Du tötest Arthur, ehe er trinken kann, und als Unsterblicher werde ich deine Feinde ausrotten.« Befriedigt sah Eckehardt, wie der Dämon wieder verschwand und in die Hölle zurückkehrte. Vorerst.
4. – Unsterblich »Wenn die Zeit gekommen ist, so hatte er in den letzten Tagen öfter gesagt, dann soll derjenige, an den der Ruf ergeht, nicht das Unabänderliche hinauszuschieben versuchen. Ich freue mich auf die Ewigkeit.« Dan Shocker: »Die flüsternden Pyramiden«, Macabros 88
Es war Zeit. Die Unruhe in Arthur hatte von Tag zu Tag zugenommen. War ihm anfangs die von Rheged gesetzte Frist wie eine Ewigkeit erschienen, so verging sie seit einigen Tagen in geradezu rasendem Tempo. Ein Monat … Ein Monat, um sich auf die größte Veränderung vorzubereiten, die einem Menschen widerfahren konnte. Er war ziellos umhergereist, hatte in Gesprächen und oberflächlichen Freundschaften Ablenkung finden wollen. Schließlich hatte er beschlossen, Dörfer und Menschen aufzusuchen, die er im Laufe der letzten Jahre von Dämonen befreit hatte. Überall hatte man sich an ihn erinnert und ihn jubelnd empfangen. »Mögest du lange und in Frieden leben!«, hatte man ihm hinterhergerufen, als er die Orte wieder verließ. Diese Worte, wohl ausgesprochen, ohne dass die Sprecher länger darüber nachgedacht hatten, arbeiteten in ihm und ließen ihn nicht mehr zur Ruhe kommen. Mögest du lange und in Frieden leben … Entweder auf ihn oder auf Eckehardt wartete mehr als langes Leben – die Unsterblichkeit. Zumindest eine eingeschränkte Unsterblichkeit. Nach Llewellyns Worten konnte derjenige, der aus der
Quelle des Lebens trank, jederzeit eines gewaltsamen Todes sterben. Doch er würde nicht mehr altern, und keine Krankheit konnte jemals seinem Leben ein Ende setzen. Aber wollte er unter diesen Voraussetzungen das ewige Leben? Wollte er ewig leben um den Preis, dass Eckehardt eben diese Unsterblichkeit nicht errang? Je länger er darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass er diese Entscheidung unmöglich treffen konnte. Selbst Rheged ap Llewellyn hatte diese Verantwortung von sich gewiesen – seine Aufgabe bestand darin, die Auserwählten zur Quelle zu führen. Immer wieder hatte er dies betont: Die Entscheidung träfe nicht er. Mögest du lange und in Frieden leben … Noch mehr als die erste Aussage dieses Satzes arbeitete der zweite Teil in Arthur. Frieden … Daran glaubte er nicht. Sein Leben war schon jetzt ein ständiger Kampf mit den Höllenmächten. Würde es durch die Verantwortung, die er durch das ewige Leben übernahm, nicht noch stärker vom Kampf gegen die Kreaturen der Finsternis geprägt sein? Arthur trank den Weinkrug leer und sah sich ein letztes Mal in der Schankstube um, in der er saß. Er war nie zuvor hier gewesen, und er fragte sich unwillkürlich, ob er je hierher zurückkehren würde. Er stand auf, winkte dem Wirt und drückte ihm eine Münze in die Hand. Als er sich zum Gehen wandte, rief der Mann ihn zurück. »Ihr zahltet das Hundertfache dessen, was Ihr mir schuldig seid!« »Vergesst es«, entgegnete Arthur. Denn welche Bedeutung besaß die Goldmünze noch für ihn? »Herr, Ihr …« Die weiteren Worte hörte Arthur nicht mehr. Er hatte das Haus bereits verlassen und schwang sich auf sein wartendes Pferd. Er drückte dem schwarzen Rappen die Hacken in die Flanken, das Tier wieherte und galoppierte los. Arthur hatte noch einen weiten Weg vor sich, bis er den Feudalhof der Markgrafschaft Meißen erreichen würde. Er musste zurückkehren nach Dresden. Dort, in der Burg, die zum Schauplatz der makabren Ereignisse geworden war, wollten sie sich wieder treffen.
Weder mit Llewellyn noch mit Eckehardt hatte Arthur seit damals ein Wort gewechselt. Auf den Erbfolger freute er sich. So gespannt ihr Verhältnis zu Anfang gewesen war, Arthur hatte den jungen alten Rheged ins Herz geschlossen. Aber Eckehardt … Nach wie vor krampfte sich Arthurs Magen zusammen, wenn er an ihn dachte. Sie hatten versucht, sich zu versöhnen. Arthur hatte Vergebung ausgesprochen, doch die Gedanken an Enttäuschung, Misstrauen – und Hass trieben ihn um. Wenn er sich niederlegte, um zu schlafen, kreisten all seine Überlegungen um Eckehardt und um die größte Enttäuschung seines Lebens. Eckehardt, dem er bedingungslos vertraut hatte – und der den denkbar schlimmsten Verrat begangen hatte. Der jedoch sichtlich den Höllenmächten wieder abgeschworen hatte, denen er darüber hinaus nie völlig verfallen gewesen war. Der aus tiefstem Herzen seinen schrecklichen Fehler bereute. Konnte es einen deutlicheren Beweis dafür geben als den, dass er mehrfach betont hatte, den Weg zur Quelle des Lebens nicht antreten zu wollen? Die Gefühle in Arthur widerstritten einander. Und alles wurde überlagert von der Aussicht, niemals sterben zu müssen … Trotz alledem ließ ihn eine weitere Überlegung nicht los. Er fragte sich, ob er auch Gertrud wieder sehen würde. Er vermisste sie und dachte oft an sie, auf andere Weise als an Llewellyn oder Eckehardt. Die Erinnerung an ihr weiches Gesicht und die strahlend hellblauen Augen half ihm, wenigstens manchmal zur Ruhe zu kommen. Wenn er an Oswalt dachte, ihr kleines Baby, und daran, wie sie ihn benutzt hatte, sich in ein geheimnisvolles Licht zu setzen, dann musste er sogar lachen. Er nahm die Landschaft nicht wahr, die er durchritt. Regenwolken bedeckten den Himmel, und bald fiel ein leichter Hagelschauer. Das Pferd wurde zunehmend unruhiger, und Arthur suchte eine geschützte Stelle. Bald besserte sich das Wetter wieder. Als es dunkelte, machte er Rast im nächsten Dorf, das er erreichte. Morgen lief die Monatsfrist ab; eine letzte, unruhige Nacht lag vor ihm. Er schlief überraschend gut und traumlos. Am nächsten Morgen verließ er sein einfaches Quartier – das einzige, das ihm angeboten worden war – schon früh. Es wehte ein starker Wind, der das Voran-
kommen erschwerte. Als es zu regnen begann, suchte Arthur unter der ausladenden Krone eines Baumes Zuflucht. Es gelang ihm, weitgehend trocken zu bleiben. Als der Niederschlag endete, soff sein Pferd aus einer großen Pfütze schmutziges Wasser. Kurz darauf war Arthur wieder unterwegs. Er erreichte sein Ziel schon, als die Sonne noch hoch am Himmel stand. Er nannte den Wächtern seinen Namen und wurde sofort eingelassen. Heinrich, der neue Markgraf, empfing ihn mit überschwänglicher Freude. »Ohne dich und deinen Freund wäre mein Bruder damals zum Erfolg gelangt, und das hätte nicht nur meinen Tod, sondern auch noch weiteres Übel nach sich gezogen.« »Verdamme Balthasar nicht für das, was er getan hat.« Arthurs Stimme klang schwach, doch die Worte kamen von Herzen. Sonst werden der Zorn auf deinen Bruder und das Misstrauen deine Seele auf immer belasten. Dann bist du ein Gefangener, genau wie ich es bin. Heinrich brummte etwas, das Zustimmung, aber auch Verwunderung ausdrücken konnte. Seine Stirn legte er in Falten, doch noch ehe er eine Antwort geben konnte, eilte Rheged ap Llewellyn herbei. »Eckehardt ist bereits gestern Abend eingetroffen«, setzte der Erbfolger ihn in Kenntnis, »Ich freue mich, dass du ebenfalls hier bist.« Arthur war aufs Neue verblüfft darüber, wie jung Llewellyn wirkte. »War es wirklich nötig, einen Monat zu warten?« Heinrich unterbrach das Gespräch. »Komm zuerst einmal an, Arthur, und erfrische dich! Welche Schwierigkeiten es auch immer zu bewältigen gibt – sie werden noch für die Dauer einer Mahlzeit warten müssen!« »Auch ich halte es für besser, wenn du dich zunächst einmal stärkst.« Rheged zuckte mit den Schultern, sein Gesicht wurde ernst. »Dir steht eine unangenehme Begegnung bevor.« »Was meinst du damit?« »Ich bitte dich – willst du mir etwa weismachen, dass du nicht besorgt darüber bist, wie das Treffen mit Eckehardt wird? Dass du nicht schon lange darüber nachdenkst, welche ersten Worte du zu ihm sagen sollst?« Arthur lächelte freudlos. »Selbstverständlich, du hast Recht.« Er schloss kurz die Augen.
»Eckehardt geht es nicht anders. Ich sprach gestern in der Nacht lange mit ihm. Er ist … nun ja, aufgeregt ist ein zu schwaches Wort.« »Ich war lange genug geduldig mit euch«, unterbrach Markgraf Heinrich erneut und in gespielter Entrüstung. »Bewältigt eure Schwierigkeiten später, ich will heute nichts davon hören! Ich habe ein Festmahl vorbereiten lassen, und wenn du mir nicht sofort folgst, werde ich dich eigenhändig von hier entfernen und an die Tafel fesseln lassen!« »Das darf ich nicht zulassen«, ging Rheged scheinbar gut gelaunt auf das Spiel ein, drehte sich um und schritt zielstrebig zum Eingang zur Halle. Arthur ließ seinen Blick rasch durch den Innenhof der Burg schweifen. Ein Stallknecht versorgte bereits sein Pferd. Der Teil der Burg, der bereits damals leer gestanden hatte und von dem Dämon völlig zerstört worden war, ehe er floh, war mittlerweile freigeräumt worden. Nichts zeugte mehr von dem Zusammenbruch dieses Traktes. »Ich habe alles entfernen lassen, was an die Ereignisse erinnert«, kommentierte Heinrich, der Arthurs Blick offenbar bemerkte. »Eine weise Entscheidung.« Ich jedoch kann die Erinnerung nicht so leicht loswerden wie du. Sofort wurde Arthur klar, dass er dem Markgrafen Unrecht tat. Auch dieser hatte schmerzliche Verluste erlitten, die nicht von seinen Untertanen beseitigt werden konnten. Er hatte seinen Vater verloren, und er war von seinem Bruder verraten worden … Heinrich führte ihn zu einer Festtafel inmitten der Halle. Der Markgraf setzte sich an den Kopf der Tafel. »Die Plätze zu meiner Rechten und Linken habe ich heute freigehalten.« Mit diesen Worten wies er neben sich. »Ich danke dir für die Ehre, die du mir erweist.« Arthur nahm Platz. Da Rheged weit entfernt saß und mit einer blonden Frau in eine angeregte Unterhaltung vertieft war, wurde Arthur rasch klar, wer den anderen Platz einnehmen sollte. Er hatte sich nicht getäuscht. Noch während er sich fragte, woher er die Frau kannte, mit der sich der Erbfolger unterhielt, trat Eckehardt in die Halle und kam zielstrebig auf ihn zu.
Sie begrüßten sich knapp, und das Essen verlief weitgehend schweigend. Über Belanglosigkeiten wollte keiner von ihnen reden. So wechselten Arthur und Eckehardt zwar einige Worte, doch ein tieferes Gespräch führten sie nicht; was sie sich zu sagen hatten, war nicht für fremde Ohren bestimmt. Später kam die blonde Frau zu ihnen. Jetzt erkannte Arthur sie – es war diejenige, die von dem Monster in der Halle fast getötet worden wäre. Sie bedankte sich überschwenglich bei den beiden Dämonenjägern. »Wenn Ihr nicht gewesen wärt«, sagte sie, »hätte niemand das Monster aufhalten können. Ich wünsche Euch ein langes und gesundes Leben!« Sie verneigte sich sogar vor ihnen. Arthur fieberte der Unterredung mit Eckehardt entgegen. Als es endlich so weit war, dass sie sich zurückziehen konnten, beugte Heinrich sich zu ihm herüber. »Ich habe dir dasselbe Quartier herrichten lassen wie damals.« »Ich danke dir von Herzen. Diesmal werde ich deine Gastfreundschaft wohl nicht so lange in Anspruch nehmen müssen wie zuletzt.« »Du bist willkommen, wann immer du dich hier aufhalten möchtest.« Es war ein seltsames Gefühl, als Arthur später in die alten Räumlichkeiten eintrat. Viele Kleinigkeiten erinnerten ihn an seinen letzten Aufenthalt. Wenig später suchte ihn Eckehardt auf. »Ich traf Rheged. Er wird ebenfalls zu uns stoßen.« Arthur nickte. »Es gibt einige letzte Dinge zu bereden, meinte er.« »Hat er dir schon etwas mitgeteilt? Wo liegt die Quelle? Wann werden wir aufbrechen, wie lange unterwegs sein?« »Er hat geschwiegen wie ein Grab.« »Nun gut.« Arthur atmete tief durch. »Er wird wissen wollen, ob unsere Entscheidung noch steht, oder ob wir unsere Ansicht geändert haben.« »Wir werden beide gehen.« Arthur erkannte nicht, ob Eckehardt eine Feststellung oder eine
Frage formuliert hatte. »Wir werden gemeinsam aufbrechen und denjenigen die endgültige Entscheidung treffen lassen, der sie zu treffen hat. Wer immer das sei.« »Obwohl es mir nicht gefällt, jemand anderen über unser Leben bestimmen zu lassen, stimme ich dir zu. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass ich nicht würdig bin, das ewige Leben zu empfangen – aber auch darüber zu urteilen, steht mir wohl nicht zu.« Eckehardt lachte bitter. »Du hast dir sicher ebenso wie ich Gedanken darüber gemacht, was uns erwartet. Was ist die Quelle des Lebens? Führt sie wirklich Wasser, oder ist es ein Symbol? Wo kann sie liegen, dass niemand sie erreicht, der nicht auserwählt ist?« »Was wiederum die Frage aufwirft, warum wir auserwählt sind und wer uns auserwählt hat.« »Fragen, zu denen Rheged schweigen wird, genau wie damals.« »Ob er selbst es weiß? Oder ob er genau wie wir von einer übergeordneten Macht … benutzt wird?« »Wenigstens das wird er uns mitteilen müssen.« Arthur spürte, wie das gemeinsame Schicksal und die gemeinsamen Fragen ihn wieder enger mit Eckehardt verbanden. Beinahe war es wie in alten Zeiten – bevor der grausame Verrat ans Licht gekommen war. Er fragte sich, ob er Eckehardt noch einmal auf seinen Pakt mit der Hölle ansprechen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Sie redeten darüber, wie sie die vergangenen vier Wochen verbracht hatten. Im Gegensatz zu Arthur war Eckehardt auf die Spur einer Höllenmacht getroffen. »Ich konnte eine Vampirsippe ausrotten«, berichtete er. »Das ist gut.« Arthur sah aus dem Fenster. Erneut zogen dunkle Regenwolken auf. In der Ferne zuckte ein Blitz, und leise ertönte der Widerhall des Donners. Bald fielen die ersten Tropfen. »Ist es dir schwer gefallen?«, fragte Arthur schließlich. »Wovon redest du?« »Die Vampire zu vernichten?« »Du meinst, wegen meines Bündnisses mit der Hölle?«, begehrte Eckehardt auf. »Ich habe in den vergangenen zehn Jahren viele Dä-
monen ausgerottet, es ist …« »Nicht deswegen, Eckehardt!«, unterbrach Arthur. »Warst du in Gefahr? Hättest du mich an deiner Seite gebraucht?« »In der Tat ist der Kampf zu zweit leichter.« »Was wird derjenige von uns tun, der das ewige Leben empfängt? Ist dir klar, dass es Einsamkeit mit sich bringt? Dass alle Freunde altern, während …« Es klopfte, und Arthur verstummte. Er öffnete, und Llewellyn trat ein. »Wir haben einiges zu bereden. Danach solltet ihr schlafen – der Weg ist nicht leicht, ihr müsst ihn ausgeruht angehen.« »Wo liegt die Quelle?«, fragte Arthur. »Stellt nicht die falschen Fragen! Ich werde euch das sagen, was ich kann, nicht mehr. Es gibt Dinge, die ihr niemals erfahren werdet.« »Dann rede!«, forderte Eckehardt. »Ihr wollt beide gehen?«, vergewisserte sich der Erbfolger, wartete jedoch nicht auf eine Bestätigung. »Eure Entscheidung ist endgültig, dessen müsst ihr euch bewusst sein. Wenn ihr jetzt nicht ablehnt, gibt es kein Zurück.« Arthur und Eckehardt verschränkten demonstrativ die Arme vor der Brust. »Wenn ihr den Weg antretet, werdet ihr eine Prüfung zu bestehen haben.« »Worin besteht sie?« Rheged ap Llewellyn lächelte unergründlich. »Eine falsche Frage«, erwiderte er. »Wenn ihr vor der Quelle steht, gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder werdet ihr unsterblich werden – oder ihr werdet sterben.« Die Worte trafen Arthur hart. »Sterben? Das heißt, nur einer von uns kehrt zurück?« »Ewiges Leben oder der Tod – es gibt keine andere Wahl.« »Nur einer von uns wird also die Prüfung bestehen?« »Das habe ich nicht gesagt. Manche bestehen die Prüfung, manche nicht. Vielleicht besteht ihr sie beide, möglicherweise scheitert ihr beide.«
»Wer sie nicht besteht, stirbt also.« Eckehardt schüttelte den Kopf. »Wer stellt uns die Prüfung?« »Hört auf zu fragen!«, ereiferte sich der Erbfolger. »Und zieht keine falschen Schlussfolgerungen! Ich kann und werde keine Antworten geben.« »Weil du sie selbst nicht weißt?«, fragte Arthur lauernd. »Weil ich sie euch nicht geben kann«, wiederholte Rheged. »Langsam verstehe ich Merlin, dass er gegenüber den Sterblichen immer nur Andeutungen macht. Wer zu viel preisgibt, riskiert zu viele Fragen.« »Also wirst du uns auch nicht sagen, wer derjenige ist, der uns auserwählt hat. Nur eins, Llewellyn: Ist er mit demjenigen identisch, der uns die Prüfung stellt? Geht es darum, uns der Auserwählung würdig zu erweisen?« »Ich wünschte, es gäbe nur einen von euch«, sagte Rheged, ohne auf die neuerliche Frage einzugehen. »Doch mir wird nichts anderes übrig bleiben, als abzuwarten, wer von euch zurückkommt.« »Du bist nicht glücklich darüber«, stellte Arthur fest. »Wie könnte ich?« Der Erbfolger sah an den beiden vorbei ins Leere. »Jetzt versucht zu schlafen. Alles Nötige ist gesagt. Morgen früh werde ich euch zur Quelle führen.«
Die Nacht verging langsam. Irgendwann, als ringsum längst alle Geräusche verklungen waren, fiel Arthur in einen unruhigen Schlaf, aus dem er immer wieder aufschreckte. Es kam ihm vor, als seien jedes Mal nur wenige Augenblicke vergangen. Als es hell wurde, quälte er sich aus dem Bett und fühlte sich müder als am Abend zuvor und zerschlagen. Entweder werdet ihr unsterblich werden – oder ihr werdet sterben … Das waren Rhegeds Worte gewesen; wie hatte der Erbfolger annehmen können, dass er und Eckehardt danach schlafen konnten? Seinen Worten zufolge würde einer von ihnen heute den Tod finden … Arthur war entschlossen, dagegen aufzubegehren. Rheged hatte in
diesem Zusammenhang zwar von einem Gesetz gesprochen, dem Gesetz der Quelle, aber dieses Gesetz musste zu umgehen sein. Er war entschlossen, es zu brechen. Sollte er derjenige sein, der das ewige Leben erlangte, würde er nicht zulassen, dass Eckehardt sterben musste. Doch konnte er dies wirklich bewerkstelligen? Er hatte nicht die geringste Ahnung, was ihn erwartete. Wie lange würden sie bis zur Quelle des Lebens unterwegs sein? Stunden? Tage? Wochen? Als der Erbfolger wenig später klopfte, empfing ihn Arthur mit den Worten: »Erwarte nicht von mir, dass ich etwas esse. Mir steht der Sinn nicht danach. Außerdem war das Festmahl gestern reichlich.« »Gut. Wir brechen auf.« »Wohin, Rheged? Rede endlich!« Llewellyn lachte hart. »Zu Eckehardts Quartier.« »Du willst wieder reden? Wir sollten uns endlich auf den Weg machen! Ich habe das ewige Reden satt, Rheged!« »Hör zu, Arthur. Es ist die letzte Möglichkeit, mit dir allein zu sprechen. Ich wünschte, ich müsste nur dich zur Quelle des Lebens bringen, doch diese Möglichkeit ist mir versagt. Es wird geschehen, wie ich es gesagt habe – nur einer von euch wird zurückkommen. Ich wollte, du wärst es. Doch ihr werdet euren Weg gehen müssen, und ich habe keinerlei Einfluss darauf.« »Du …« »Ja, Arthur, ich habe dir offenbart, wie es in meinem Herzen aussieht. Und jetzt kein Wort mehr darüber.« »Aber dies würde gleichzeitig heißen, dass du wünschst, dass Eckehardt stirbt!« Rheged starrte Arthur an, die Lippen zusammengepresst. »Niemals, Arthur«, sagte er schließlich. »Das, was ich tun muss, zerreißt mich schier. Ich wünschte, es gäbe nur dich. Ich habe es mir nicht leicht gemacht, glaube mir. Ich war nahe daran zu verzagen. Ich war und bin verzweifelter als je zuvor, und ich habe eine ungewöhnliche Maßnahme getroffen, damit ich selbst nicht auf ewig diese Gewissenslast auf meinen Schultern tragen muss.«
»Entschuldige meine unbedarften Worte.« »Nie zuvor spürte ich die Last meiner Aufgabe so schwer wie heute.« Der Erbfolger straffte sich. »Und jetzt werden wir zu Eckehardt gehen!« Er verließ den Raum. Arthur folgte. Als sie Eckehardts Quartier betraten, wartete dieser bereits. Rheged ap Llewellyn stellte sich hocherhobenen Hauptes mitten in das Zimmer. In diesen Momenten strahlte er eine Reife aus, die seinem wahren Alter entsprach. Keine Faser dieses Menschen war die eines sechzehnjährigen Jungen. Nichts war mehr von dem inneren Zwiespalt zu erkennen, den er Arthur vor wenigen Momenten offenbart hatte. »Ihr wollt und ihr werdet euren Weg gehen. In diesem Augenblick erfülle ich in dieser Inkarnation meine Aufgabe, früher als jemals zuvor.« »Wie kommen wir zur Quelle?«, fragte Eckehardt erneut. »Stellt euch nebeneinander«, forderte der Erbfolger. Sie taten, wie ihnen geheißen – und … Unvermittelt stürmte Rheged auf sie zu, ballte die Fäuste – und schlug zu! Er traf sie beide am Brustkorb, sie taumelten zurück, prallten gegen die Wand … … und fielen durch sie hindurch. Es dauerte nur einen Lidschlag. Arthur und Eckehardt waren verschwunden, als wären sie nie hier gewesen. Rheged atmete tief durch. »Geht euren Weg«, murmelte er. »Wer immer zurückkommt, ich will den anderen vergessen. Euer Kampf um die Unsterblichkeit möge beginnen.« Einen Moment lang starrte er nachdenklich auf die Wand. Vor seinem Körper vollführte er eine rasche Handbewegung, die das magische Tor wieder schloss. Dann verließ er den Raum und die Burg des Markgrafen. Merlin wartete auf ihn, um den Vergessenszauber anzuwenden. Arthur fiel hart auf den Rücken und schrie. Die Wand hatte ihm keinerlei Widerstand entgegengesetzt. »Was soll …«, begann er,
doch die weiteren Worte blieben ihm im Hals stecken. Er sah, dass Eckehardt nicht gestürzt war, sondern nur einige Schritte rückwärts wankte. Sie befanden sich nicht mehr in Eckehardts Quartier. »Aber das … gibt es doch nicht«, entfuhr es Eckehardt. Arthur setzte sich auf und warf einen fassungslosen Blick rundum. »Wo sind wir?« »Falsche Frage«, erwiderte Eckehardt sarkastisch. »Die richtige Frage lautet: Was hat Llewellyn mit uns gemacht?« Sie befanden sich auf einer Wiese. Über ihnen spannte sich ein graublauer Himmel, der vereinzelt von großen weißen Wolken bedeckt wurde. Nicht weit von ihnen ragte ein kahler Baum auf. Es war kühl, Arthur fröstelte. Er erhob sich und spürte, dass sein Herz wie rasend schlug. »Ich nehme an, er hat uns auf den Weg zur Quelle geschickt.« »Indem er uns gegen die Brust schlägt und uns durch eine Wand taumeln lässt? Das ist doch grotesk!« »Es ist die Wirklichkeit, Eckehardt. Sind wir hier oder nicht?« Der Gefährte schwieg, dann bückte er sich und zupfte einige der halb verdorrten, unansehnlich braungrünen Grashalme aus. »Wir sind hier. Aber sehr … lebendig wirkt es nicht!« Er ließ die Halme fallen, die langsam, von einem leichten Wind zur Seite gestoßen, zu Boden schwebten. »Alles halb tot oder verdorrt!« Er wies auf den verkrüppelten Baum, der seine kahlen Äste in den Himmel reckte. »Und verdammt still«, ergänzte Arthur. Kein Tierlaut war zu hören, kein Lebewesen zu sehen. »Offensichtlich sind wir noch nicht an unserem Ziel angelangt. Rheged sagte etwas von einer Prüfung. Außerdem kann man das, was wir bislang zurückgelegt haben, wohl kaum als Weg bezeichnen. Und auf einen solchen wollte Llewellyn uns doch schicken, nicht wahr?« Arthur nickte entschlossen. »Welche Richtung?«, fragte er dann knapp. Um sie herum war nichts als eine weite Wiese zu sehen, die sich über mehrere kleine Hügel erstreckte. Vereinzelt ragten Bäume auf. In der Ferne war verschwommen ein Gebirge zu erahnen.
Eckehardt folgte seinem Blick. »Dort entlang.« »Du wirkst sehr entschlossen.« »Dieses Gebirge – oder nichts.« Er ging los. Arthur folgte ihm rasch. »Ist es Wirklichkeit, was wir sehen? Oder träumen wir?« »Keinesfalls ist dies alles ein Traum. Wenn, dann ist es eine Vision, hervorgerufen durch Llewellyns Magie. Vielleicht ist das die Prüfung, von der er geredet hat.« Willkommen, Auserwählter. »Was war das?« Arthur blieb überrascht stehen. Weiter. »Hörst du es auch?« »Eine Stimme … aber ich höre sie nicht mit den Ohren. Sie klingt in meinem Kopf auf.« »Ebenso wie in meinem.« Arthur ballte die Hände zu Fäusten. »Also ist unsere Ankunft bemerkt worden.« »Hast du etwas anderes erwartet?« »Ich erwartete, dass wir mit Rheged aufbrechen und …« Weiter! Sie brachen ihr Gespräch ab und schritten voran, auf das Gebirge zu. Es war, als nähere es sich nicht, so weit sie auch gingen. Bald schmerzten ihre Beine, und der stete kühle Wind verursachte Arthur einen scharfen Kopfschmerz. »Ich habe das Gefühl, schon seit Stunden unterwegs zu sein«, sagte er schließlich erschöpft. Er blieb stehen, senkte den Kopf und presste die Handflächen in den Nacken. »Es geht mir nicht anders, aber schau dir die Sonne an. Sie hat sich seit unserer Ankunft nicht bewegt. Nach wie vor steht sie hoch am Himmel. Es kann noch nicht viel Zeit vergangen sein.« Sie gingen weiter. Ihre Kraft ließ immer weiter nach, und bald spürte Arthur eine unendliche Müdigkeit. Es fiel ihm schwer, wach zu bleiben, sein Körper schrie nach Schlaf. »Was geht hier vor?« »Wir scheinen nicht vorwärts zu kommen«, brummte Eckehardt. »Außerdem steht die Sonne unverrückbar am Zenit.« Zeit und Raum sind nicht fest gefügt, klang unerwartet die Geisterstimme auf.
»Wie lange sind wir bereits hier?«, fragte Arthur. Kurz und lang – kurz für denjenigen, der das ewige Leben erbt, lang für den, der sterben wird. Was ist schon die Zeit? »Wer bist du?« Die Stimme schwieg. »Rede mit uns! Erkläre uns, was hier vor sich geht!« Keine Antwort. »Bist du derjenige, der uns prüfen wird?« Ein Vogel krächzte über ihnen, das erste Mal, dass in dieser seltsamen Umgebung ein anderes Lebewesen auftauchte. Das Tier landete direkt zu ihren Füßen. »Bist du derjenige, der zu uns spricht?«, fragte Arthur und beugte sich herab. Der schwarze Vogel sah einem Raben ähnlich, war jedoch deutlich größer. Er öffnete den Schnabel und klapperte damit. Ein hohles, unheimliches Geräusch. Auch Eckehardt ging in die Knie. Das Tier hüpfte auf ihn zu und hackte nach seiner Hand. Fluchend zog Eckehardt sie zurück. Arthur sah, dass das Tier seinen Begleiter nicht getroffen hatte. Die roten Augen des Vogels funkelten, als sei er enttäuscht. »Was bist du?« Arthur spürte unwillkürlich, dass er es hier mit mehr als einem Tier zu tun hatte. Der Vogel krächzte erneut und breitete die Flügel aus. Mit kräftigem Schlag erhob er sich in die Luft und zog hoch über ihnen seine Kreise. Weiter!, forderte die Stimme. »Ich bin dieses Spiel satt!«, rief Eckehardt. »Zeige dich!« Der Auserwählte braucht Geduld. Das Wasser der Quelle zu trinken, zieht Verantwortung nach sich. Und nun weiter! »Verdammt«, schrie Eckehardt. »Still!«, forderte Arthur. »Lass uns weitergehen.« Er wurde sich immer sicherer, dass diese eigenartige Umgebung tatsächlich die Prüfung war, die ihnen auferlegt wurde. Er hatte mit vielem gerechnet, doch damit nicht. Sie gingen weiter, und plötzlich war es, als springe das Gebirge
mit einem gewaltigen Satz näher an sie heran. Als sie schließlich den Fuß des Berges erreichten, waren sie erstaunt, wie hoch er war. Er ragte in Schwindel erregende Höhen auf, schien mit dem Himmel zu verschmelzen. Ein Gipfel war nicht zu erkennen. »Dort!« Arthur wies zur Seite, wo der Beginn eines Pfades lag, der sich steil in die Höhe wand. Eckehardt nickte, und als sie den Fuß auf den Pfad setzten, blitzte plötzlich die Sonne durch die Wolken. Die Wolken zogen mit rasendem Tempo dahin, und die Sonne strahlte erbarmungslos auf die beiden herab. Sofort brach ihnen der Schweiß aus. EIN SCHMALER, BESCHWERLICHER PFAD IST DER WEG ZUM ZIEL, erinnerte sich Arthur unvermittelt. Was waren das für Gedanken? Weder Llewellyn noch die geheimnisvolle Stimme hatten je davon geredet. Erstaunt blickte er Eckehardt an. Auch diesem stand die Verblüffung ins Gesicht geschrieben. DER PFAD WIRD IN EINEM KLEINEN TALKESSEL ENDEN. »Woher wissen wir das?« Eckehardt schwieg. DIE FELSEN RINGSUM SIND SO HOCH, DASS DU DIE OBERKANTEN NICHT SIEHST, WENN DU DICH AN DER QUELLE BEFINDEST. Ein Schauer überlief Arthur. Er erinnerte sich an Worte, die er nie gehört hatte. »Es gibt Leute, die auf dem Weg dorthin gestorben sind«, murmelten er und Eckehardt zugleich. Die beiden tauschten einen raschen Blick. »Wir haben dieselben Erinnerungen.« »Und wir erinnern uns wortwörtlich an das, was uns gesagt wurde.« »Allerdings weiß ich nicht, wann wir diese Sätze hörten.« »Oder wer sie zu uns gesagt hat.« Eckehardt deutete nach vorn, den Weg entlang. »Wir sollten gehen.« »Irgendjemand treibt ein undurchschaubares Spiel mit uns!«, erei-
ferte sich Arthur. »Man hat uns die Erinnerung geraubt!« »Und dennoch werden wir weitergehen. Oder willst du nicht mehr?« »Die Worte wurden zu uns gesagt, nachdem wir hier angekommen sind – wo immer dieses Hier auch sein mag.« »Wie kannst du dir so sicher sein? Es kann schon Tage oder Wochen her sein, sogar Jahre«, meinte Eckehardt bitter. »Ich habe damit meine Erfahrungen gesammelt.« »Wer sollte mit uns darüber geredet haben? Rheged? Er war es nicht, das steht fest. Aber sonst weiß niemand etwas über die Quelle.« »Niemand?« Eckehardt schüttelte den Kopf. »Vielleicht hat dieser Merlin uns aufgesucht und uns die Erinnerung an seinen Besuch wieder genommen. Wer weiß?« »Es ist …« »Es hat keinen Sinn, Arthur. Wir können in alle Ewigkeit darüber grübeln – oder wir können weitergehen!« Ohne eine weitere Erwiderung abzuwarten, schritt Eckehardt voran. Recht so, Auserwählter. Weiter. Arthur folgte dem Kampfgefährten. Eckehardt hatte bereits einige Meter zurückgelegt. Nach wie vor brannte die Sonne erbarmungslos. Die Hitze ließ Arthur nach all der körperlichen Anstrengung schwindeln. »Beeile dich!«, rief Eckehardt. Er schien weit weniger geschwächt zu sein. Der Pfad war steil und unwegsam. Zwischen den steil aufragenden Felswänden staute sich die Hitze. Arthur schleppte sich mühsam Schritt für Schritt voran. »Hast du jemals einen so schmalen Taleinschnitt gesehen?« Eckehardt drehte sich um. »Was spielt das für eine Rolle?« »Ich frage mich, ob wir noch auf der Erde sind. Oder ob …« »Was spielt das für eine Rolle?«, wiederholte Eckehardt ungeduldig. »Hast du eine Ahnung, wie wir wieder zurückkommen sollen?« »Wir?« Unendliche Bitterkeit lag in dem einen Wort. »Willst du
meinen Leichnam mitnehmen, falls ich derjenige bin, der stirbt?« »Wir dürfen nicht zulassen, dass der andere stirbt!« »Ein geringer Preis für die Unsterblichkeit, oder etwa nicht?« Arthur verschlug es für einen Moment die Sprache. »Das ist nicht dein Ernst!«, stieß er dann hervor. Doch Eckehardt stapfte bereits weiter. Eine Stimme hallte überlaut zwischen den Wänden wider. Es war diejenige, die sie bislang nur in ihren Gedanken gehört hatten. »EINER WIRD LEBEN. EINER WIRD STERBEN. UND BEIDES IST FÜR DIE EWIGKEIT BESTIMMT.« Arthurs Herz begann wie rasend zu schlagen. »Ich nehme diese Voraussetzung nicht an!«, schrie er ins Leere. Eckehardt wirbelte herum. »Sei still!« Sein Gesicht war verzerrt. Doch was war es, das seine Miene ausdrückte? Verwirrung? Erschöpfung, die jedes zumutbare Maß überschritt? Oder doch … Hass? »Wir müssen …« »Spar dir deinen Atem, du wirst ihn noch brauchen!« Eckehardt ging weiter, rascher nun. Es gelang Arthur kaum, Schritt zu halten. Eckehardt strauchelte, fiel hin und rutschte ein Stück zurück, bevor er wieder Halt fand. Kleine Steine und Geröll wurden losgetreten und prasselten Arthur entgegen. Er drückte sich gegen die Felswand. Eckehardt war schon wieder auf den Füßen und schritt mit weit ausladenden Schritten weiter. »Bleib stehen – oder hast du den Verstand verloren?«, schrie Arthur ihm nach. »Siehst du es nicht? Wir sind bald da!« Arthur blickte nach oben. Tatsächlich schien der steil ansteigende Weg bald zu enden. Dort zeigte sich ein ungewöhnliches Flimmern in der Luft. »Es ist das Zeichen!«, rief Eckehardt. Er erreichte das Ende des Pfades. Von unten wirkte es, als würde seine Gestalt von einem Leuch-
ten eingerahmt, das mehrfach seine Farbe änderte. Als Arthur ebenfalls oben anlangte, öffnete sich ihm der Blick in einen kleinen Talkessel. Dort war die Quelle des mysteriösen Leuchtens. Es überstrahlte alles, man konnte nur erahnen, was sich auf dem Grund des Kessels befand. Arthur glaubte, einen Baum zu erkennen, kahl wie alle anderen; die Wurzeln erstreckten sich weit auch oberhalb des Bodens, bis hin zu einem Teich. Der Pfad führte nun etwa hundert Meter steil bergab. Als sie die ersten Schritte taten, vernahmen sie erneut die Stimme. »LEBEN ODER TOD!« Aus dem Leuchten schälten sich zwei Gestalten. Sie ragten riesig auf. Ein alter, gebeugt gehender Mann. Eine junge Frau. Beide verbargen ihre Gesichter hinter ihren Händen. Dann schob der alte Mann die runzligen Finger zur Seite. Eine Knochenfratze kam zum Vorschein. Auch von den Händen fiel das Fleisch ab, bis nur noch Knochen zu sehen waren. Als die Frau ihre schlanken, anmutigen Hände beiseite schob, meinte Arthur, ihr Gesicht zu erkennen. Mechthild … die echte Mechthild. Oder doch nicht? War das nicht Gertrud? Aber leuchtend rote Haare umrahmten das Gesicht. Von einem Augenblick zum anderen war die Frau nackt. Ihr Körper war das blühende LEBEN, und neben ihr stand der ewige, hässliche TOD. Die Gestalten verschmolzen, und aus zwei riesigen Händen schoss flirrendes Licht in die Höhe. Rot, grün, gelb, blau regnete es wieder der Erde entgegen, prallte auf die Felswände, floss an ihnen herab und in sie hinein. »EINE HAND GIBT DAS LEBEN, EINE DEN TOD.« »Wer entscheidet das?«, schrie Arthur. »Wer maßt es sich an?« »Und wann findet die Prüfung statt?« »ES IST LÄNGST GESCHEHEN, UND IHR HABT SIE BEIDE BESTANDEN.« »Wann?« »WAS BEDEUTET ZEIT FÜR JEMANDEN, DER EWIG LEBT?« Dann eine zweite Stimme, rau und krächzend. »FÜR JEMANDEN,
DER JETZT UND EWIG STIRBT?« Die Hände senkten sich auf die beiden herab. »ARTHUR DAS LEBEN«, hallte die Stimme des Lebens. »ECKEHARDT DEN TOD«, hallte die des Todes. Weder Eckehardt noch Arthur konnten sich bewegen. Sie standen wie eingefroren, konnten nicht mal die Lippen bewegen, um zu sprechen. Alles war unabänderlich. Unausweichlich. Dann, plötzlich, schrie Eckehardt, und etwas quoll aus ihm heraus. Aus Mund, Nase, Ohren und Augen floss ein schwarzer Nebel, ballte sich zusammen – und etwas nahm Gestalt an. Ein stämmiges graubraunes Monstrum mit schmalem Schädel und einem Kamm aus Dornen! »Dassss Lllebbennnn fürrr Eckkeharrrddt!«, zischte der tierhafte Mörderdämon. Er riss sein Maul auf, streckte die Klauen aus und sprang auf Arthur zu. Er schlug die Zähne in den Hals seines Opfers und stieß die langen Krallen in seinen Leib. Arthur spürte entsetzlichen Schmerz, fühlte, wie seine Gedärme zerrissen wurden. Dann – Dunkelheit … Er konnte nicht mehr atmen, denn seine Kehle war zerfetzt. Er konnte nicht mehr sehen, denn er war tot. Sein Herz schlug nicht mehr. Seine Gedanken erloschen. Als blutiger Kadaver sackte er zusammen, während der Schwanz des Dämons in die Höhe peitschte und sich einen Lidschlag später die Dornen in das tote Fleisch Arthurs bohrten …
Arthur sah seinen zerfetzten Körper. Er beobachtete, wie der mörderische Schwanz des Höllenwesens ein zweites Mal in seinen blutigen Leichnam schlug. Doch er verspürte keinen Schmerz. Ich befinde mich nicht mehr in meinem Körper. Er sah die Szene von oben, und er blickte durch etwas hindurch.
Als ihm das bewusst wurde, veränderte er die Art seines Sehens, und er erkannte, wo er sich befand. Die Hand des LEBENS umfasste ihn. Eckehardt hat falsch gespielt, Auserwählter. Was hat er getan? Woher kommt der Dämon? Eckehardt brachte ihn mit, und er verbarg ihn so geschickt, dass etwas Ungeheuerliches geschehen ist. Wir haben ihn nicht bemerkt. Ein Höllischer ist bis zur Quelle des Lebens vorgedrungen. Wovon redest du? Arthur schwebte außerhalb von Zeit und Raum, und er fragte sich, in welcher Form er jetzt existierte. Es gibt kein Jetzt, antwortete die Stimme. Mein Körper … Der Dämon zerstört ihn. Doch es darf nicht sein, dass eine Kreatur der Hölle den Weg hierher gefunden hat. Aber sie ist hier! Es darf nicht sein, wiederholte die wesenlose Stimme. Arthur sah, wie die zweite Hand, die Hand des Todes, sich von Eckehardt löste. Sie glitt langsam auf den Höllendämon zu. Dieser ließ endlich von Arthurs blutigen Überresten ab und wirbelte herum. Seine Krallen zerfetzten die Luft. Er schlug seine Zähne in die Hand, die auf ihn herabfuhr. BLASPHEMIE! Etwas, nicht schwarz, nicht rot, tropfte aus der Hand, und das Monster biss erneut zu. ES DARF NICHT SEIN! Die riesigen Finger schlossen sich um die Höllenkreatur. UND ES IST NICHT, WAS NICHT SEIN DARF. Der Dämon wand sich zuckend im Griff der Todeshand. Die Finger schlossen sich immer mehr. Der lange Schwanz ragte zwischen ihnen hervor und schlug auf die Hand ein, die ihn umklammert hielt. BLASPHEMIE!, gellte es erneut. Es knackte, ein hohes Kreischen drang aus der Hand, dann ein vielfaches, rasch aufeinander folgendes Splittern. Das Zucken des Schwanzes erstarb. Die Finger öffneten sich. Das, was von dem Dämon übrig war, fiel
herab. Noch ehe die schwarze, blutige Masse den Boden erreichte, zerfiel sie und wurde als Staub davongeweht. DIESER TAG WIRD AUS DER ÜBERLIEFERUNG GELÖSCHT. Entsetzen und Fassungslosigkeit klangen in den überlauten Worten mit. ES GIBT IHN NICHT UND HAT IHN NIE GEGEBEN. Nichts erinnerte mehr an den Dämon. Der Staub war in alle Himmelsrichtungen verweht worden. UND NUN BRINGT ES ZU EINEM ENDE! Arthur kehrte in seinen Körper zurück, der plötzlich nicht mehr tot und zerstört war. Er sah wieder mit seinen Augen, hörte wieder mit seinen Ohren. Und er stand seinem größten Todfeind gegenüber. Die beiden gewaltigen Hände zogen sich zurück, schwebten höher. Das irrlichternde Leuchten verschwand. Es gab nur noch Arthur und Eckehardt. Und den kleinen schmutzig braunen Teich, der sich dort erstreckte, wo die Wurzeln des kahlen Baumes endeten. KÄMPFT VOR DER QUELLE DES LEBENS. WAS JETZT GESCHIEHT, IST NICHT ÜBERLIEFERT UND WIRD NICHT ÜBERLIEFERT. ES GAB ES NOCH NIE, ES GIBT ES NICHT UND ES WIRD ES NICHT GEGEBEN HABEN. KÄMPFT UM DIE UNSTERBLICHKEIT. DER SIEGER MAG TRINKEN. Einer wird leben, ergänzte die Stimme, die Arthur gehört hatte, als er tot gewesen war. Einer wird sterben. Und beides ist für die Ewigkeit bestimmt.
Eckehardt stand vor ihm, und Arthur glaubte, innerlich zu gefrieren. Blut floss aus Eckehardts Mundwinkel. Er hob die Hand und wischte es von seinem Kinn. »Als der Dämon zerquetscht wurde, steckte noch etwas von ihm in mir.« Er spuckte Blut auf den Boden. »Sein Tod hat etwas in mir zerrissen.« Er hustete, und rosiger Schaum bildete sich vor seinem Mund. »Es ist vorbei, Eckehardt«, sagte Arthur. Noch immer wollte er
nicht glauben, was geschehen war. Eckehardt hatte eiskalt gelogen. Seine Reue war Heuchelei gewesen, nichts als ein gutes Schauspiel. Eckehardts Hände zuckten. »Es ist erst dann vorbei, wenn du tot bist. Und wenn ich getrunken habe.« Er hob den rechten Arm und winkte seinen Feind herbei. »Zeit zu sterben, Arthur.« »Du hast verloren. Es wurde bereits entschieden, dass …« Die weiteren Worte blieben unausgesprochen. Eckehardt sprang auf ihn zu und prallte gegen ihn. Beide stürzten. Eckehardts Faust traf Arthur am Kinn. Sein Kopf wurde nach hinten gerissen. Er stöhnte auf. Es gelang ihm, dem zweiten Schlag auszuweichen. Er riss das Knie hoch und rammte es in Eckehardts Magengrube. Rasch wälzte er sich zur Seite und sprang auf. Sein Nacken schmerzte entsetzlich, Blut tropfte von seinem Kinn. Eckehardt setzte sich auf. In seinen Augen flackerte der nackte Irrsinn. Er bog seine Hände wie Klauen. »Der Tod wartet auf dich.« »Ich bin heute bereits einmal gestorben.« Arthur war völlig kalt. Emotionslos blickte er dem Mann entgegen, den er für seinen Freund gehalten hatte. »Und jetzt werde ich leben.« Eckehardt brüllte auf und stürmte erneut auf ihn zu. Arthur wurde von der Heftigkeit des Angriffs überrascht. Es gelang ihm nicht, völlig auszuweichen. Eckehardt rammte ihm den Kopf gegen die Brust. Etwas knackte, und Arthur zog zischend die Luft ein. Flammender Schmerz durchtoste seinen Brustkorb. Es ist wie damals, dachte er in einem irrsinnigen Moment. Eine gebrochene Rippe durchbohrt mein Inneres … Er taumelte unter der schieren Wucht des Angriffs zurück. Eckehardt stolperte und stürzte. Arthur unterdrückte den Schmerz und das Entsetzen, rannte blind vor Wut und Grauen auf seinen Feind zu. Er trat nach ihm, traf den Kopf des am Boden Liegenden. Die Haut an der Schläfe platzte auf. Mit übermenschlicher Kraft stand Eckehardt dennoch auf. Er at-
mete schwer. »Du wirst … niemals ewig … leben …« Er bückte sich und grub seine Hand in die Erde. Arthur beging den Fehler, den Feind anzugreifen. Dessen Hand zuckte hoch und schleuderte die Erde Arthur ins Gesicht. Staub und feine Erdbrocken drangen in seine Augen. Er konnte nichts mehr sehen. Sein Schlag ging ins Leere. Doch er hörte das Schreien Eckehardts. Dann ein heftiger Schmerz in seinem Rücken. Arthur brach zusammen. Die Welt stand in Flammen, es gab keine Stelle seines Körpers, die nicht schmerzte. Mühsam brachte er die Hände an die Augen und rieb sie. Der Tränenfluss tat das Übrige. Arthur konnte wieder sehen. Und er sah Eckehardt, wie er auf den Teich zuwankte. Noch ehe er ihn erreichte, brach er zusammen. Aber er gab nicht auf, sondern kroch auf allen vieren weiter. Die Quelle … er will trinken … Und nur einer kann trinken … Arthur kämpfte sich auf die Füße und wankte vorwärts, auf den Feind zu. Eckehardt erreichte das schmutzige Wasser, tauchte die Hand hinein. Er musste sie nur noch zu seinem Mund führen und … Arthur trat gegen die Hand seines Feindes. Kein Tropfen berührte Eckehardts Lippen. Etwas umklammerte Arthurs Fuß. Eckehardt! Ein Ruck, und Arthur stürzte. Sein Hinterkopf prallte auf. Übelkeit überrollte ihn. Er wollte nicht mehr, konnte nicht mehr. Nur noch sterben … Endlich alles hinter sich lassen. Sein Magen revoltierte, Erbrochenes füllte seinen Mund. Er wälzte sich auf die Seite. Eckehardt tauchte erneut seine Hand ins Wasser. Sie zitterte, stand seltsam schief. Und dann führte Eckehardt seine gebrochene Hand an seinen Mund und trank von dem Wasser der Quelle des Lebens.
Eckehardt schrie in der Sekunde, als das Wasser seine Lippen benetzte. Seine Augen weiteten sich. Ein Krampf durchraste seinen Körper. Dann zog sich das Fleisch in Sekundenschnelle von seinem Gesicht. Seine Hände zuckten noch, als sein Schädel bereits vollständig skelettiert war. Als sich die Muskulatur auflöste, brach das Skelett klappernd in sich zusammen. Der Totenschädel klatschte auf die Wasseroberfläche und versank. Aus dem Nichts erschien die Gestalt der wunderschönen Frau, die Arthur bereits vorher gesehen hatte. »Blasphemie«, murmelte sie. Sie zog an den bloßen Fußknochen des Skeletts und zerrte es aus dem Wasser des Teiches. »Man raubt kein Wasser aus der Quelle des Lebens, und man nimmt es sich nicht selbst. Es wird einem verliehen.« Achtlos ließ sie das Skelett los, als es das Wasser nicht mehr berührte. »Er …« Arthur hustete, war kaum in der Lage zu sprechen. »Er hatte dich besiegt, und ich hätte ihm das Wasser gegeben.« »Er schloss einen Pakt … mit der Hölle.« Arthur setzte sich auf, und die Schmerzen in seinem Kopf drohten ihm die Besinnung zu rauben. »Urteilst du über seine Beweggründe?« Sie lächelte, und wieder war es ihm, als blicke er Mechthild an. Ihre Nacktheit beachtete er nicht. »Ich bin nicht besser als er«, presste Arthur hervor. »Ich wollte ihn töten, denn er …« »Still!«, forderte die Schöne. »Ihr habt gekämpft, und es gab nur zwei Möglichkeiten. Einer musste sterben. Der andere empfängt das ewige Leben.« »Aber ich …« »Keine Fragen, Arthur.« Plötzlich wuchs eine Blume am Ufer des Teichs, und von der Stelle aus, an der ihre winzigen Wurzeln das Wasser berührten, zog sich der Schmutz aus dem Teich zurück. Die
Rothaarige pflückte die Blume und tauchte sie in das Wasser. Als sie die Blume wieder herauszog, hatte sich Wasser in ihrem Kelch gesammelt. Sie führte die Blume an Arthurs Mund. Zitternd öffnete er die Lippen. Das Wasser war kühl, und es schmeckte leicht bitter. Als er schluckte, verschwanden seine Schmerzen. »Wer stellte das Gesetz auf, dass nur einer trinken darf?«, fragte Arthur. Die Frau lächelte erneut. »Es ist nicht überliefert, dass jemals zuvor zwei Auserwählte kamen. Doch das Gesetz existiert seit einer Ewigkeit. Niemand musste es bestimmen. Es ist so.« »Wenn wieder zwei Auserwählte kommen …« »Es gibt kein Wieder, denn der heutige Tag wird nicht in die Überlieferung eingehen. Nur eines wird bleiben: Du hast getrunken, Arthur. Der Erbfolger hat in dieser Generation sein Werk getan.« Die Umgebung verblasste. »Nein!«, schrie Arthur. Es waren noch so viele Fragen offen, doch es fehlten ihm die Worte, sie auszusprechen. Die Rothaarige verschwand. Die Quelle des Lebens verschwand. Der Talkessel verschwand. Arthur befand sich in dem Zimmer, in dem er seine Reise angetreten hatte. Er und Eckehardt. Aber es war, wie Llewellyn es angekündigt hatte. Nur einer von ihnen war zurückgekehrt …
5. – Sieg! … Sieg? »Du hast die rechte Erkenntnis gewonnen?« Dan Shocker: »Die Seelenfresser von Lemuria«, Macabros 99
»Du bist es«, hörte Arthur eine leise Stimme. Er wandte den Kopf. »Ich habe es so sehr gehofft, Arthur.« Sie sah schön aus. Und sie glich der Lebensfrau so sehr, dass es dafür nur eine Erklärung geben konnte. Arthur fragte sich, wen Eckehardt wohl in der Rothaarigen an der Quelle des Lebens gesehen hatte. »Gertrud«, murmelte Arthur. Und dann, als gäbe es nichts Wichtigeres: »Wie lange war ich fort?« Sie lachte hell. »Rheged ist schon lange weg. Er hat seine eigene Reise angetreten. Er beauftragte mich, dir eines mitzuteilen.« Sie legte ihre Hand auf die seine. »Die Zeit hat den größten Teil ihrer Bedeutung für dich verloren.« Arthur bemerkte, dass sein Körper keinerlei Wunden aufwies. Weder von den grausamen Verstümmelungen, die ihm der Dämon zugefügt hatte, noch von der Auseinandersetzung mit Eckehardt war etwas zurückgeblieben. Eckehardt … Die Erinnerung krampfte sein Herz zusammen. »Ich muss dir etwas erzählen.« Gertrud schüttelte den Kopf. »Was an der Quelle geschehen ist, ist geschehen. Ich will und ich sollte nichts darüber wissen.« »Aber Eckehardt …« »Einer wird leben«, murmelte Gertrud. »Einer wird sterben. Ich weiß es, und ich kann damit leben, solange ich nicht weiß, was genau vorgefallen ist. Es interessiert mich nicht, wer zwischen euch gewählt hat oder wie es geschehen ist.«
Also würde sie niemals erfahren, dass Eckehardt auch sie getäuscht hatte. Dass er sogar Rheged ap Llewellyn getäuscht hatte. Dass er darüber hinaus diejenigen in die Irre zu führen vermochte, die an der Quelle des Lebens die Entscheidungen getroffen hatten. Etwas Ungeheuerliches ist geschehen, hatte die Frau zu ihm gesagt. Ein Dämon war dorthin vorgedrungen, wo nie zuvor eine Höllenkreatur gewesen war. Oder doch? Denn was nicht sein darf, ist nicht … So, wie der Überlieferung nach niemals zwei Auserwählte zur gleichen Zeit zur Quelle gekommen waren. Weder früher noch heute … »Eckehardt kommt nicht zurück«, sagte Arthur. Er wusste, dass er mit Gertrud nie wieder darüber reden würde. »Ich freue mich, dass du zurückgekommen bist. Ich hoffte es.« Arthur versank in ihren hellblauen Augen. Sie waren so voller Leben, voller Freude und Kraft. Als Gertrud ihn umarmte, sah er vor sich die Frau, die ihm vom Wasser der Quelle gegeben hatte. Und den Tod, der Eckehardt ereilt hatte. Er sah, wie der ehemalige Freund skelettierte und im Ziel seiner Begierde versank. »Ich hoffte es auch«, erwiderte Arthur nach einer Weile. Wirklich? Nach allem, was geschehen ist? Er dachte an den Moment, als er alles verloren glaubte. Als er im Staub lag und vor Schmerzen nur noch sterben wollte. Als Eckehardt das Wasser an seine Lippen führte. Hatte er sich in diesem Moment wie ein Besiegter gefühlt? Wie jemand, der alles verloren hatte? Oder doch nur wie jemand, der endlich alles hinter sich gebracht hatte? Gertrud löste sich von ihm. »Rheged richtet dir aus, dass du ihn wiedersehen wirst. Irgendwann. Es wird viel Zeit vergehen bis dahin.« »Er wusste, dass er einen von uns in den Tod schickt. Deshalb hat er …« Gertrud schüttelte den Kopf. »Lass uns nicht darüber reden.«
»Du besitzt die Ewigkeit«, sagte Gertrud Jahre später. Ihr Haar war grau geworden.
»Ich frage mich, ob ich der Verantwortung gewachsen bin. Länger zu leben als jeder andere, bedeutet auch, dass ich mehr Last trage als jeder andere. Meine Pflichten sind groß.« Arthur legte seinen Arm um sie. Er liebte sie, auch wenn er spürte, dass das, was zwischen ihnen stand, immer größer wurde. Er hatte all das schon einmal erlebt … »Du bist der Richtige«, versicherte sie. »Du bist auserwählt.« Auch Eckehardt war auserwählt, dachte er. Und wäre er der Richtige gewesen? Er, der mit allen Mitteln um die Unsterblichkeit kämpfte und alles verriet? »Und du hast nicht den Fehler begangen, den Eckehardt beging«, ergänzte sie. Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit sprach sie seinen Namen aus. »Ich habe gerade an ihn gedacht.« »Ich weiß. Ich sehe es in deinen Augen, wenn du an die Vergangenheit denkst. Wenn du in deinen Gedanken wieder zur Quelle des Lebens gehst.« »Was ich dort erlebte, war hart.« »Es gibt Momente, da möchte ich es wissen, Arthur. Da möchte ich, dass du alles erzählen kannst, um deine Seele zu erleichtern.« »Es ist besser, wenn du es nicht weißt.« Ihre Augen strahlten noch immer in dem hellen Blau ihrer Jugend. »Erzähle es Oswalt, wenn er so weit ist. Er kannte Eckehardt nicht.« Arthur nickte, obwohl er wusste, dass er es dem Jungen nicht zumuten würde. Dem Jungen … Er war bereits zu einem Mann herangewachsen; nur in den Augen Gertruds und Arthurs, der ihn liebte wie seinen eigenen Sohn, war er immer noch ein Kind. Arthur hatte nie erfahren, wer der wirkliche Vater des Kindes war – es interessierte ihn auch nicht. »Ich spüre, dass Llewellyn uns bald aufsuchen wird«, sagte Gertrud auf einmal. Arthur zuckte zusammen. »Wie kommst du darauf?« »Ich habe ihn damals auf dem wichtigsten Wegstück seines jungen Lebens begleitet. Ich habe eine Verbindung zu ihm aufgebaut. Ich spüre es einfach.«
»Ich freue mich, ihn wieder zu sehen.« »Du wirst nicht mit ihm über Eckehardt reden können«, erklärte sie. »Er weiß nicht mehr, dass es jemals einen Eckehardt gab.« »Ich weiß.« Arthur sog tief die Luft ein. »Und darum beneide ich ihn.«
Die Begegnung mit Rheged ap Llewellyn fand nur Tage später statt, und sie lachten viel. Über die Quelle des Lebens verloren sie kein einziges Wort. Der Erbfolger weihte Arthur in wichtige Details über seine Gegner ein – über die Hölle, über deren Fürst und die Hierarchie, die Arthur zu bekämpfen hatte. Die Kämpfe waren hart, und auch wenn Arthur manchen Verlust hinnehmen musste, war er letzten Endes immer siegreich. Zumindest verlor er nie sein Leben. Als Gertrud Jahre später starb, litten er und Oswalt sehr, obwohl sie den Tod der Geliebten und Mutter schon lange erwartet hatten, und Gertrud war sehr alt geworden. Arthur führte seinen Kampf mit großer Verbissenheit weiter, doch es gelang ihm nicht, Gertrud zu vergessen. Am Tag, als Oswalt seiner Mutter ins Grab folgte, brach für Arthur die Verbindung zu seiner eigenen Vergangenheit endgültig ab. Er hatte neue Freunde gefunden, sogar einige, die ihn in seinem ewigen Kampf unterstützten. Nur selten dachte er noch an Eckehardt, und es wurde immer seltener. Irgendwann bekam er eine Abschrift von Hartmanns neuem Erec in die Hände, und keiner außer ihm wusste mehr, dass es eine Urfassung des Epos gegeben hatte, die auf Betreiben Merlins geändert worden war. Er studierte den Text und dachte lange an den schmächtigen Mann mit der fraulichen hohen Stimme zurück. Noch mehr Zeit verging, und es kam der Tag, als Arthur auf die Spur Merlins stieß. Der alte Zauberer vollbrachte noch immer sein Werk, und Arthur ging auf die Suche nach ihm, doch es sollten noch Jahrhunderte vergehen, bis er ihm begegnete. Zuvor jedoch traf er auf jemand anderen, und sie sollte sein Leben
ebenso einschneidend verändern wie Gertrud und mit ihr Rheged ap Llewellyn. Ihr Name war Johanna, und er nannte sie seine Blüte.
Epilog Nachdem Rheged ap Llewellyn die Burg des Markgrafen verlassen hatte, suchte er Merlin auf. Der Weg nahm einige Zeit in Anspruch; Zeit, die der Erbfolger nutzte, um über das, was geschehen war, nachzudenken. Sosehr er sich auch bemühte, er konnte keinen Frieden finden. Das einzige Ergebnis seiner Grübeleien war, dass er sich vornahm, dem Magier eine entscheidende Frage zu stellen. Merlin empfing ihn in seiner unsichtbaren Burg Caermardhin. »Du hast deine Aufgabe erfüllt, Erbfolger.« »Doch ich finde keinen Frieden.« »Es sind zwei Umstände unglücklich zusammengefallen. Du musstest zwei Auserwählte führen, und du bist in deiner Existenz als Rheged sehr jung.« Ein warmes Lächeln legte sich auf die alten Züge des weißhaarigen Magiers. »Ich bin stolz auf dich, dass du es getan hast.« »Du weißt inzwischen, wer von beiden von der Quelle zurückgekehrt ist?« »Selbstverständlich«, antwortete Merlin. »Es ist wichtig, und ich muss es wissen.« »Sage es mir!« »Erwartest du wirklich eine Antwort? Denk daran, du bist hier, um zu vergessen, nicht um Dinge in Erfahrung zu bringen.« »Noch habe ich nichts vergessen, Merlin! Noch weiß ich alles, und der Teil in mir, der zerfressen ist von Sorge und Schmerz, will es wissen!« Merlin wandte sich ab und begann eine unruhige Wanderung durch den Raum. »Derjenige kehrte zurück, den du erhofftest.« »Arthur«, murmelte Rheged, und nach einer Weile fügte er hinzu: »Was wird mit ihm geschehen, wenn er irgendwann sein Ende findet?«
»Du redest von der Hölle der Unsterblichen«, erkannte Merlin. »Ich kann dir keine Antwort geben. Nicht einmal ich kann sehen, was bei der Quelle des Lebens geschieht.« »Jeder Unsterbliche, der Unrecht und Schuld auf sich lädt, wird vom Ministerpräsidenten der Hölle nach seinem Tod in die Hölle der Unsterblichen geführt. Und du weißt, dass Arthur Eckehardt ermordete. Sonst hätte er nicht trinken können. Es ist perfide, Merlin! Es ist Unrecht! Das Gesetz der Quelle ist …« »Schweig, Erbfolger! Ich kann nur noch einmal wiederholen – nicht einmal ich weiß, was an der Quelle geschehen ist. Ob Arthur mit dem Sieg über Eckehardt Schuld auf sich geladen hat.« »Jeder Mord führt Schuld mit sich. Es gibt keine andere Sichtweise, doch es ist nicht Arthur anzurechnen. Er wäre von Eckehardt ermordet worden, wenn …« »Vielleicht«, murmelte Merlin nachdenklich, »sollten wir es nicht Mord nennen, sondern Auslese.« »Solche zynischen Worte von dir zu hören, gefällt mir nicht.« Rheged sah den Magier an. »Oder redest du es dir nur ein, um nicht an einem der elementaren Gesetze der Magie und des Kosmos zu verzweifeln?« »Lass uns den Zauber anwenden«, lenkte Merlin ab. »Nur eins noch: Ich habe mir eine Frage gestellt, auf die nur du die Antwort wissen kannst.« »So will ich sie dir beantworten, wenn ich kann.« »Wenn du den Vergessenheitszauber anwendest, werde ich mich danach nicht mehr an Eckehardt erinnern und nur noch wissen, dass ich Arthur zur Quelle geführt habe.« Abwartend sah Merlin den Erbfolger an. »Also würde ich, wenn ich noch einmal zwei Auserwählte finde, denken, es sei das erste Mal.« Der Magier nickte. »Ich frage mich, ob es schon oft geschehen ist. Ob es schon früher zwei oder gar mehrere Auserwählte gab.« Oder ob es sogar jedes Mal so ist. Merlin lächelte unergründlich. »Warum sollte ich dir diese Frage
beantworten? Du vergisst die Antwort ohnehin gleich wieder.«
Anmerkungen Dieser Roman weist einige historische und literarische Grundlagen auf, die nicht unerwähnt bleiben sollen. Zum einen die Quelle des Lebens selbst: Viele Details jener merkwürdigen Gegend, in der wir die Quelle finden, und der mysteriösen Geschöpfe um sie herum habe ich dem Zamorra-Romanheft Band 500 von Werner Kurt Giesa entnommen. Einige Sätze, die die Wesen sprechen, werden bei mir zum Ritual umgedeutet. Auch die Figur des Erbfolgers und die spezielle Art seiner Unsterblichkeit wurden von Werner K. Giesa entwickelt. Die beiden Llewellyn-Inkarnationen, die wir in diesem Roman kennen lernen, stammen hingegen von mir (und es war eine ganz schöne Rechnerei, ihre Geburts- und Sterbedaten mit den sonstigen Details zu kombinieren!); die Umgebung der Quelle habe ich ebenso wie die »Leben- und Tod-Figuren« weiter ausgestaltet. Zum anderen einige historische Gestalten – vor allem Hartmann, dem man heute den Namenszusatz »von Aue« verliehen hat. Seine beiden Epen Erec und Iwein sind in der Tat faszinierende Lektüre … auch wenn sie wohl nicht unter den Umständen entstanden sind, die wir in diesem Roman kennen lernen. Rudolf Voß, Professor der Mediävistik an der Universität Mainz, der mir die mittelalterliche Literatur nahe brachte, würde wohl die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, wenn er hörte, dass es eine Ur- und eine Neufassung dieser epochalen Werke gegeben haben soll. Aber wer weiß … Immerhin ist nun klar, warum die »realen« Geschehnisse um die Zweite Tafelrunde des Zamorra-Universums derart verfälscht in die Literaturgeschichte eingegangen sind. Es ist also letztlich Merlin zu verdanken, dass wir (in dem Universum, in dem Zamorra lediglich eine Romanserie ist) heute ein völlig falsches Bild von Artus und sei-
ner Tafelrunde haben. Wer hätte das gedacht. Über den echten Hartmann wissen wir kaum etwas; er blieb als historische Gestalt stets hinter seinen Werken zurück. Ebenso wenig wissen wir über den echten Markgrafen Dietrich und seinen Sohn Heinrich – geschweige denn seinen bislang unbekannten Sohn Balthasar. Was deren Ausgestaltung als Persönlichkeiten anbelangt, habe ich mir alle Freiheiten genommen, die einem Autor zustehen. Walthers (von der Vogelweide) »Spruchgesang über das Leid der Ausgebeuteten« existiert nicht. Aber wer weiß … Christian Montillon ENDE
Vorschau Laertes von Volker Krämer
Vor kurzem stieß Professor Zamorra im Tongagraben auf eine verborgene Station, die vor Jahrhunderten dort von einer unbekannten Spezies erbaut worden war – und in dieser Station auf eine eigenartige Mischung aus Technologie und Magie, die sich deutlich von allem unterschied, was er kannte. Oder … von beinahe allem. Sie erinnerte ihn an Dalius Laertes, den geheimnisvollen Vampir und Beschützer von Khira Stolt. Folgerichtig bittet Zamorra Dalius Laertes um dessen Hilfe bei der Untersuchung der Station. Doch als Laertes und Zamorra ihre Magie-Potentiale vereinigen, geschieht etwas, mit dem niemand gerechnet hat -Laertes' Erinnerung bricht auf, und Zamorra wirft einen Blick in eine Welt, in der Magie und Technik eine Symbiose eingegangen sind. Und auf einmal ist alles anders. Vollkommen anders …