HOWARD WEINSTEIN
DER WEG ZUM SIEG
PATH TO CONQUEST V – Die Außerirdischen 5
GOLDMANN VERLAG
Aus dem Amerikanischen...
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HOWARD WEINSTEIN
DER WEG ZUM SIEG
PATH TO CONQUEST V – Die Außerirdischen 5
GOLDMANN VERLAG
Aus dem Amerikanischen übertragen von Andreas Brandhorst Deutsche Erstveröffentlichung Der Goldmann Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann Made in Germany • 9/88 • 1. Auflage
© 1987 by Warner Books, Inc. © der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Goldmann Verlag, München Umschlaggestaltung: Design Team, München Satz: Fotosatz Glücker, Würzburg Druck: Elsnerdruck, Berlin Verlagsnummer: 23714 Lektorat: Christoph Göhler Redaktion: Antje Hohenstein Herstellung: Peter Papenbrok ISBN 3-442-23714-9
Mit einem teuflischen Plan will Diana, die Kommandantin der Außerirdischen, die Menschheit endgültig in die Knie zwingen. Das Klima soll geändert werden, so daß eine neue Eiszeit über die Erde hereinbricht. Zugleich will sie alle Erdölvorkommen zerstören, damit sich die Menschen nicht gegen die Kälte schützen können. Doch Dr. Pete Forsythie erfährt von dem Plan. Zusammen mit der Diplomatin Lauren Stewart und zwei Top-Wissenschaftlern sucht er nach einer Möglichkeit, die Außerirdischen aufzuhalten. Das Rennen beginnt – von den Eiswüsten des Nordatlantiks bis zu den Sandmeeren des Mittleren Ostens…
Dieses Buch widme ich Lynne Perry. Mit Dank dafür, daß sie mich andere Welten »besuchen« ließ, während ich mit einem Bein in dieser verblieb.
Prolog
Das gewaltige Raumschiff schwebte in der Nacht hoch über der südkalifornischen Küste. Die Antigravitations-Generatoren in den stählernen Eingeweiden der riesigen Diskusscheibe hielten das Sternenschiff über der Welt, die Diana immer noch und um jeden Preis erobern wollte. Es war dunkel in der Kommandeurskabine, und Diana streckte sich wohlig unter der Decke ihres Bettes. Der Partner neben ihr trug keine Maske, hatte die Beine angezogen und wandte ihr den Rücken zu. Mit den Fingerkuppen tastete Diana behutsam über seinen Rücken und beobachtete, wie die Muskeln unter der grünen Schuppenhaut aus einem Reflex heraus zuckten. Dann schob Diana das Laken beiseite, berührte ihre eigene Haut und bewunderte einmal mehr die Sensibilität der Bioplasthülle. Sie erinnerte sich an ihre erste Reaktion auf ihr Menschen-Aussehen: Abscheulich! Ich will mein wahres Gesicht zurück! Inzwischen hatte sich Diana an die Ganzkörpermaske gewöhnt und sogar einen gewissen Sinn für menschliche Schönheit entwickelt. Sie stieg aus dem Bett und näherte sich auf Zehenspitzen dem Wandspiegel, hob die Arme und strich mit beiden Händen über ihren geschmeidigen Oberkörper. Im Gegensatz zu den grünen Visitorschuppen zeichnete sich ihre glatte zweite Haut durch eine sonderbare Anmut aus. Sie trug diese jetzt ständig, vor allem nachdem sie festgestellt hatte, daß Berührungen mit den Schuppenkörpern ihrer Liebhaber ihr in der Maske eine besondere Erfahrung verschafften. Darüber hinaus hatte Diana schon mehr als einmal erlebt, daß
Menschen entsetzt waren, wenn sie mit einem unmaskierten Visitor konfrontiert wurden. Und schließlich verspürte sie ab und zu den Wunsch, auch einen Menschen zu verführen – ob männlichen oder weiblichen Geschlechts –, also mußte sie weiterhin die Maske tragen. Bevor sich Diana vom großen Wandspiegel abwandte, betrachtete sie sich ein letztes Mal. »Du bist wirklich schön, in der Tarnhülle wie in deiner tatsächlichen Gestalt«, hauchte sie ihrem Gegenüber zu und lächelte sogar ein wenig. Die Kommandeuse griff nach einem leichten Morgenmantel am Fußende des Bettes und warf ihn sich über. Mit wenigen Schritten trat sie an eine Computerkonsole und betätigte eine Taste. Sofort leuchtete der Bildschirm auf, und grüne Zeichen glühten auf der Projektionsfläche. Schatten tanzten über die Wand auf der anderen Seite ihres Privatraumes, als Diana einen Kommunikationskanal zur Zentrale des Raumschiffes öffnete. Das Bild auf dem Schirm veränderte sich und zeigte nun das Kontrolldeck. Ein weiblicher Offizier wandte der Übertragungskamera gerade den Rücken zu, gab einem männlichen Untergebenen einen Befehl und beobachtete ihn noch, als er davoneilte, um ihre Anweisungen zu befolgen. »Lydia!« Diana sprach leise, aber ihre Stimme war dennoch scharf. Die blonde Frau drehte sich gelassen um. »Kommandantin… Es überrascht mich, daß Sie sich zu dieser frühen Stunde mit mir in Verbindung setzen. Ich dachte, Sie hätten einen Partner für die Nachtperiode.« »Er ist nach wie vor bei mir«, erwiderte Diana ruhig. »Wir verbrachten einen großen Teil der Zeit damit, nicht zu ruhen, und jetzt ist er müde.« »Wie schade«, sagte Lydia mit ausdruckslosem Gesicht. »Sie sollten mehr auf die Bedürfnisse Ihrer Partner eingehen.«
Diana lächelte stolz. »Ich habe ihn nicht zu mir bestellt, um seine Bedürfnisse zu befriedigen. Und außerdem liegt es mir fern, meine sozialen Aktivitäten mit Ihnen zu erörtern. Ich möchte einen Lagebericht.« Dabei fiel Dianas Blick auf einen Plexiglas-Serviertisch mit den Resten des Abendessens. Vier kleine Mäuse versuchten noch immer vergeblich, aus dem transparenten Behälter zu entkommen. Während die Kommandeuse weiterhin Lydia beobachtete, griff sie nach einer der Mäuse, hielt sie am Schwanz in die Höhe und verschlang das quiekende kleine Nagetier. »Ein Imbiß um diese Zeit, Diana?« Lydia schüttelte tadelnd den Kopf. »Sie sollten auf Ihre Linie achten. Sonst brauchen Sie bald eine größere menschliche Maske.« »Machen Sie sich um mich bloß keine Sorgen, Lydia: Die körperlichen Übungen während der vergangenen Stunden verhindern sicher, daß ich Fett ansetze. Und nun… der Bericht.« »Die sechs Schiffe, die am Projekt Eiswind beteiligt sind, haben die vorbereitenden Analysen beendet. Die Ergebnisse liegen mir vor und scheinen recht vielversprechend zu sein. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf…« »Darum habe ich Sie nicht gebeten. Ich sehe mir die Resultate selbst an.« »Wie Sie meinen, Kommandantin«, erwiderte Lydia eingeschnappt. »Nach dem letzten Bericht ist der Konvoi der Menschen auf seiner üblichen Route vom Nordatlantik nach Süden unterwegs.« »Endlich. Steht die Eingreiftruppe bereit?« Lydia nickte. »Sobald Sie den Befehl geben, beginnt die Aktion.« »Gut. Wenn Projekt Eiswind die vorgesehenen Ziele erreicht, steht den Menschen eine ziemliche Überraschung bevor. Die
Einsatzgruppe soll in einer Stunde aufbrechen – kurz vor Morgengrauen. Das ist alles, Lydia.« Diana unterbrach die Verbindung, und auf dem Computerschirm glühten wieder grüne Zeichen. Die Kommandeuse nahm Platz, und als sie sich zurücklehnte, glitt die Robe beiseite und enthüllte ihren Körper. Mit einem kritischen Blick betrachtete Diana ihren flachen Bauch. »Ich soll auf meine Linie achten«, zischte sie verächtlich. Dann griff sie nach einer zweiten Maus, schob sie sich zwischen die weit geöffneten Kiefer und genoß den köstlichen Geschmack.
1. Kapitel 25. August, Nordatlantik
Der riesige Flugzeugträger U.S. Nimitz kreuzte so ruhig in der Dünung, daß Captain R. W. Felix fast das Gefühl hatte, er läge in seinem Heimathafen vor Anker. Mit neunzigtausend Tonnen war die Nimitz das größte Kriegsschiff der Welt – eine schwimmende Stadt, die mehr als sechstausend Männern Unterkunft und Arbeit bot und als Basis für hundert Flugzeuge und Hubschrauber diente. Ein gewaltiger Komplex aus Stahl, der kaum auf den Seegang reagierte. Die Ruhe vor dem Sturm! dachte der Captain. Im Spätsommer konnte der Nordatlantik zwar ziemlich ungemütlich sein, aber Felix wußte auch, daß Turbulenzen, mit denen es die Nimitz und die Streitmacht an Bord möglicherweise zu tun bekommen mochten, nichts mit dem Wetter zu tun hatten. In diesem Zusammenhang dachte er in erster Linie an die Außerirdischen in ihrer menschlichen Verkleidung, an die Visitors. Vor drei Jahren waren sie gekommen, angeblich als Freunde von den Sternen. In Wirklichkeit aber planten sie von Anfang an die Eroberung der Erde. Die Invasion der Eindringlinge schlug zunächst fehl, doch ein Jahr später kehrte ein Expeditionskorps der Visitors zurück. Diese Flotte war zwar nicht annähernd so groß wie die erste, aber sie besaß trotzdem eine enorme Schlagkraft. Die Fremden aus dem All waren nach wie vor eine große Bedrohung für die Menschheit. Die Nimitz eskortierte zwei Supertanker und schützte den Transport des schwarzen Goldes, das die irdische Industrie
brauchte, um den Visitors weiterhin Widerstand leisten zu können. Das Öl stammte aus den englischen Fördergebieten in der Nordsee und war für Amerika bestimmt. Der rote Giftstaub, den die Menschen anfangs erfolgreich gegen die Invasoren eingesetzt hatten, blieb nur in Regionen mit kalten Wintern wirksam, während derer die neugezüchteten Bakterien erstarrten, um sich im Jahresrhythmus zu regenerieren. Unglücklicherweise befanden sich die meisten Erdölvorkommen der Vereinigten Staaten im Süden, Südwesten und an der warmen Golfküste. Und dort dauerte die Herrschaft der Echsenwesen von einem Planeten des Sirius an. Währenddessen lebten in den Industriestädten im Norden der USA freie Menschen, die Waffen und Kriegsmaterial produzierten. Sie benötigten ständig Nachschub an Öl, um alle Kapazitäten ausnutzen zu können. Und daher schickten alle Nationen, die über sichere Rohölvorkommen verfügten, ihr schwarzes Gold dorthin. Der Transport des Öls über den Atlantik war zwar ungeheuer gefährlich, aber die Alternative bestand in einer Stillegung der Fabriken – und das hätte weitaus schlimmere Konsequenzen nach sich gezogen. Schon zum drittenmal begleitete Felix auf seinem Flugzeugträger einen Konvoi. Um den Öltransport zu schützen, gingen in diesen Tagen überall auf der Welt Widerstandskämpfer gegen die fremden Invasoren vor. Es kam ihnen darauf an, die Kräfte der Visitors zu binden und sie daran zu hindern, gegen die Schiffe mit ihrer wertvollen Fracht vorzugehen. Kritiker dieser Operationen sprachen allerdings von dem Konvoi nur von den »Schwimmenden Zielscheiben«. In diesem Punkt vertrat Captain Felix eine andere Ansicht. Auf der Nimitz waren einige der besten Kampfflugzeuge überhaupt stationiert, Jets, die es seiner Meinung nach mit jedem Feind aufnehmen konnten. Die F-14 Tomcats besaßen zwar keine Antigravitationsmotoren, aber sie waren fast
ebenso wendig wie die Kampfshuttles der Visitors. Darüber hinaus verfügte jedes Flugzeug über ein hochentwickeltes Radarsystem, das über eine Entfernung von hundert Meilen sechs Ziele gleichzeitig zu erfassen vermochte. Wenn die Hawkeye-Aufklärer starteten, konnten gegnerische Einheiten noch in 250 Meilen Entfernung geortet werden. F-15 Eagles flogen Patrouille – die schnellsten Jäger der ganzen Welt: sie waren in der Lage, innerhalb von Minuten auf eine Geschwindigkeit von über 1600 Meilen zu beschleunigen. Dabei handelte es sich nur um die Einheiten auf der Nimitz selbst. Hinzu kamen die Kreuzer, Zerstörer und Fregatten auf beiden Seiten des Flugzeugträgers, ausgestattet mit ferngelenkten Boden-Luft-Raketen. Die Mutterschiffe der Visitors konnten sich zwar mit energetischen Schilden schützen, gegen die die SAMs und Luft-Luft-Raketen wirkungslos blieben, aber die Kampffähren waren nicht auf diese Weise abgeschirmt. Schon bei mehreren Gelegenheiten hatten Phoenix, Sidewinders und Sparrows mit großem Erfolg eingesetzt werden können. Captain Felix spürte ein leichtes Knacken in seinen Gelenken, als er die Beine über den Rand des Bettes schwang. Aus zusammengekniffenen Augen starrte er auf die rote Digitalanzeige seiner Uhr. Obwohl ihm noch eine Stunde Ruhepause blieb, bis er seinen Stellvertreter auf der Brücke ablösen mußte, war er doch zu nervös, um noch einmal Schlaf finden zu können. Daher zog er rasch seine weiße Uniform an, kämmte sich das dichte schwarze Haar und machte sich auf den Weg zum Flugdeck. Zwar war die Nimitz zwanzig Decks hoch, aber es gab keine Aufzüge an Bord – abgesehen von denen, die dazu dienten, die Flugzeuge vom Hangar aufs Flugdeck zu bringen. Aus diesem Grund nahm Felix den gleichen Weg wie alle anderen Besatzungsmitglieder und kletterte einige Leitern in die Höhe.
Dadurch bleibe ich wenigstens in Form, dachte er, doch sein keuchender Atem strafte seine Selbstbeschwichtigungen Lügen. Nach einer Weile erreichte Felix das fast dreihundert Meter lange Flugdeck, und salzige Gischt wehte ihm entgegen. Direkt vor ihm ragten die Aufbauten des Flugzeugträgers dreißig Meter in die Höhe. Als sich der Captain umdrehte, sah er plötzlich den Hauptsteuermann Matt Reinhold, der auf der Steuerbordseite an der Reling stand. Reinhold salutierte, und Felix erwiderte militärisch den Gruß. »Was machen Sie auf Deck, Steuermann? Es ist doch noch eine Stunde bis zum Wach Wechsel.« Reinhold zückte mit den Schultern. »Die gleiche Frage könnte ich Ihnen stellen, Sir«, sagte er, lächelte schief und strich sich einige blonde Haarsträhnen unter den Schirm der Baseballmütze. »Sie haben recht. Nun, ich konnte nicht mehr schlafen.« »Mir ging es ebenso, Captain. Ich meine: Eigentlich weiß ich gar nicht, warum ich so nervös bin. Immerhin waren wir doch im Persischen Golf und mußten dort erleben, wie die Streitkräfte von Iran und Irak wahllos auf alle Tanker schossen, die sie ausmachen konnten.« »Stimmt schon. Die Kerle mögen übergeschnappt gewesen sein, aber es handelte sich wenigstens um menschliche Irre und nicht um Echsen von einem Planeten, der die Sonne Sirius umkreist.« Der junge Steuermann lachte leise. »Genau das geht mir ständig durch den Kopf. Die Iraner und Iraki hatten es nicht unbedingt auf uns persönlich abgesehen. Verstehen Sie, was ich meine, Sir? Diese verdammten Visitors aber – sie wollen jedem von uns an den Kragen. Das macht mich so wahnsinnig…«
Felix nickte. »Ich weiß. Keine sehr angenehme Situation.« Auf dem Flugdeck wurde gerade eine E-2 Hawkeye für einen Aufklärungsflug vorbereitet. Die Techniker klappten die zusammengefalteten Tragflächen auseinander, und die rotierende Radarscheibe auf dem Rumpf sah fast so aus wie die Miniaturausführung eines Visitor-Mutterschiffes. Die Turboprop-Motoren mit ihren vier Stahlblättern dröhnten. Der Captain deutete in Richtung auf die Brücke oben in den Aufbauten. »Sollen wir los, Mr. Reinhold?« »Gern, Sir.« Sie traten durch ein Schott und erklommen die Leiter zum Kontrollraum. Seeoffizier Rollie Jensen stand mit verschränkten Armen neben dem Steuerrad. »Sie sind ziemlich früh dran, Käpt’n«, sagte er. Felix grinste müde. »Möchte die Visitors nicht verpassen, Mr. Jensen.« »Wollen wir nur hoffen, daß sie es nicht zu eilig haben, uns guten Tag zu sagen«, warf Steuermann Dan Wilson ein. Wilson hatte nichts dagegen, vor dem eigentlichen Wachwechsel abgelöst zu werden. »Halten Sie den Kurs, Mr. Reinhold«, sagte Felix. Reinhold griff nach dem Ruder und warf einen prüfenden Blick auf den Kompaß. »Kurs liegt an, Sir.« Jensen trat neben den Captain, der an den Fenstern der Brücke stehenblieb. Im Osten erhellte sich langsam der Himmel: Ein neuer Tag brach an. »Ich hasse dies Warten«, murmelte Jensen. »Würden Sie lieber kämpfen?« fragte Felix leise. Der Offizier sah ihn an. »Nein, Captain. Das meinte ich nicht. Mir wäre es bloß lieber, wir hätten diese Reise bereits hinter uns.« »Und die sechstausend anderen Besatzungsmitglieder dieses Schiffes wünschen bestimmt dasselbe – wobei ich mich selbst
nicht ausnehme«, erwiderte Felix und strich sich mit der Hand übers Haar. Er sah auf lange Jahre militärischer Erfahrung zurück, aber diesmal gab es einen großen Unterschied: Ihr Gegner war nicht menschlich. Die Visitors… fremde Wesen aus dem Weltraum. Bei ihren Waffen handelte es sich nicht um Variationen der irdischen Technik. Captain Felix spürte, wie sich ein tiefes Unbehagen in ihm breitmachte, und er hoffte, daß man ihm das nicht ansah. »Die Hawkeye ist startbereit, Käpt’n«, meldete Jensen mit dem Interkom in der Hand. »Okay, Rollie«, befahl Felix. »Starterlaubnis erteilt. Die anderen Maschinen sollen ebenfalls vorbereitet werden.« Jensens Züge umwölkten sich. »Sir?« »Es ist nur so ein Gefühl. Wir haben uns nach Südwesten gewandt und nähern uns bald den Bereichen, die von den Visitors kontrolliert werden. Wenn die Echsen irgend etwas gegen uns unternehmen wollen, so zögern sie bestimmt nicht mehr lange.« »Aye, aye, Käpt’n.« Während der Seeoffizier die Anweisung weitergab, lachte Captain Felix leise vor sich hin. Steuermann Reinhold sah ihn fragend an, und die anderen Besatzungsmitglieder auf der Brücke tauschten verwirrte Blicke aus. Schließlich legte Jensen den Hörer auf die Gabel. »Ich bitte um Verzeihung«, sagte er. »Was ist denn so komisch?« Felix holte tief Luft und grinste noch immer. »Ich mußte einfach daran denken, wie sehr die Welt das Öl der beiden Brummer da hinten braucht – und wie hervorragend es ist, daß die Nimitz über einen nuklearen Antrieb verfügt. Dann aber fiel mir unpassenderweise eine Mitteilung kurz nach dem Stapellauf ein, daß der atomare Brennstoff ungefähr für
dreizehn Jahre reiche – und der Träger wurde für zwölf Jahre in Dienst gestellt.« Jensen nickte. »Mit anderen Worten: Es bleibt uns noch ein Jahr, bevor die Nadel auf ›Leer‹ zeigt.« »Genau«, bestätigte Felix. »Stellen Sie sich nur einmal vor, wir legen in irgendeinem Hafen an und sagen zu den Jungs an der Pumpe: ›Bitte volltanken.‹«
Nach dem Befehl von der Brücke herrschte sowohl im Hangar als auch auf dem Flugdeck rege Betriebsamkeit. Die Strategie von Captain Felix und den Planern aus dem Verteidigungsministerium sah vor, daß die schnellsten Jets, die F-14 Tomcats, zuerst starteten. Ihre Höchstgeschwindigkeit betrug 1400 Meilen in der Stunde, und sie kamen in ihrer Leistung damit an die ständig in der Luft patrouillierenden F15 heran und konnten aufgrund ihrer Reichweite sehr große Gebiete kontrollieren. Wenn sie dabei auf feindliche Einheiten stießen, waren sie in der Lage, zwischen den Angreifern und den Schiffen des Konvois eine Pufferzone zu bilden. Anschließend würden die langsameren A-7 Corsairs aufsteigen und zum Einsatz kommen. Felix sah durch die Fenster der Brücke und beobachtete, wie die erste F-14 für den Start vorbereitet wurde. Sie rollte an die Startlinie heran, und dort wurde die Maschine mit dem Katapult verbunden. Überall donnerten Triebwerke, und hinter den heißen Abgasen zitterte und vibrierte das Licht der aufgehenden Sonne. Die Männer der Deckmannschaft trugen dicke Ohrenschützer, rannten hin und her und duckten sich unter die Tomcats. Gestalten in grünen Kombinationen befestigten Kabel an der unteren Fläche der Flugzeugrümpfe. Da der ungeheure Lärm
auf dem Flugdeck jede Verständigung unmöglich machte, wurden mit Handzeichen Signale übermittelt. Der Pilot des Jägers gab vorsichtig Schub. Neben der Startbahn stand ein Mann in gelbem Overall: Der Flugleiter stützte die Hände in die Hüften und wartete auf das Zeichen der Flugkontrolleure. Felix nahm den Hörer des Telefons entgegen und gab dem Kontrollraum die Anweisung: »Starten, wenn bereit.« Die Triebwerke der F-14 heulten mit voller Kraft. Fünf Sekunden später schleuderte das Katapult die Maschine mit einer Geschwindigkeit von 160 Meilen in der Stunde übers Deck. Die aufgeklappte Stahlbarriere verstärkte den Schub des Tomcat. Nachbrenner glühten, und der Jäger schien auf zwei Flammenstrahlen zu reiten, als er Höhe gewann. Die F-14 stieg rasch auf und hielt auf die Patrouillenstaffel der einige Meilen entfernten F-15 zu. Felix sah auch dem Start der anderen Maschinen zu, und als gerade ein Dutzend von ihnen in der Luft war, meldete sich das Hawkeye-Radarflugzeug: »Visitor-Schwadron nähert sich aus elf Uhr.« Es lief Felix kalt über den Rücken, trotz der Kürze der Mitteilung. Die Konfrontation mit dem Feind stand unmittelbar bevor. Sein Befehl kam augenblicklich an alle Schiffe und Flugzeuge: Auf Gefechtsstation! Die Mannschaft der Hawkeye übermittelte Einzelheiten: Fünfzehn Kampfshuttles der Visitors näherten sich mit hoher Geschwindigkeit. Vierundzwanzig amerikanische Jäger formierten sich. Die Gefechtszentrale der Nimitz bestätigte das, was Felix bereits erwartete. Die Piloten der Jets waren die am besten ausgebildeten Männer in der ganzen Luftwaffe. An Bord der Kreuzer, Zerstörer und Fregatten warteten die Männer an den Raketenstationen. Sie bildeten die letzte
Verteidigungslinie, falls es ihren Kameraden in den Flugzeugen nicht gelang, die Visitors aufzuhalten. Inmitten dieser See- und Luftstreitmacht durchpflügten die beiden Supertanker das Meer. Und ihre Kapitäne wußten, daß sie den Echsen aus dem All hilflos ausgeliefert waren, wenn die Visitors die Abwehrfront der Eskorte durchbrachen. Lieutenant Commander Ricky Picolo flog die F-14 an der Spitze der Formation. Immer wieder drehte er den Kopf und blickte durch das transparente Cockpitdach. Mit bloßem Auge konnte er den Feind noch nicht sehen, aber sein Zielcomputer hatte die gegnerischen Einheiten längst erfaßt und sechs von ihnen ausgewählt. Sie befanden sich in seinem 100-MeilenEinsatzradius und kamen rasch näher. Sein dunkler Bart juckte unter der Sauerstoffmaske – wie immer, wenn es Zeit wurde, eine Aktion zu beginnen. »Staffelführer Abel Zwölf, zum Einsatz bereit«, sagte er, und seine Stimme dröhnte aus den Lautsprechern aller Flugzeuge und Schiffe. »Feuer!« Picolo betätigte eine Auslösetaste, und den Rest erledigte der Computer. Mehrere elektronisch gelenkte Raketen rasten den Angreifern entgegen. Die anderen Jäger feuerten ebenfalls, und Picolo hoffte, daß sie die Visitors auf diese Weise zum Kampf stellen konnten, bevor sie zu einer Gefahr für die Schiffe wurden. Mit Mach 2 dauerte es nicht lange, hundert Meilen zurückzulegen. Die Jets drehten ab, um eine Sicherheitsdistanz zu den Visitor-Shuttles zu wahren, und unterdessen rasten die Luft-Luft-Raketen mit dreifacher Schallgeschwindigkeit auf die weißen Flugboote zu. »Alles klar«, wandte sich Picolo an seine Kameraden. »Macht die Kanonen fertig. Jetzt heizen wir den Schuppentypen ein…«
In der Ferne leuchtete es über dem Meer grell auf: Fünf Raketen hatten ins Schwarze getroffen, und den Visitors blieben nurmehr zehn einsatzfähige Shuttles. Picolos Überraschungsangriff war erfolgreich gewesen. »Werdet jetzt bloß nicht übermütig, Jungs. Abel Dreizehn, Vierzehn und Fünfzehn – deckt mich. Los geht’s!«
2. Kapitel
Wenn es allein nach ihm gegangen wäre, hätte es Nicholas Draper vorgezogen, die Regierung der Vereinigten Staaten dort zu lassen, wo sie seit über zweihundert Jahren Entscheidungen traf – in Washington. Aber die Bedrohung durch die Visitors hatte ihnen keine Wahl gelassen. Die Entfernung zwischen Washington D. C. und jenen südlichen Regionen, in denen die Außerirdischen den roten Giftstaub nicht zu fürchten brauchten, war einfach zu gering. Zwar war die Hauptstadt weiterhin durch das Echsen-Toxin geschützt, doch Präsident William Brent Morrow und seine Berater hatten es trotzdem für besser gehalten, den Regierungssitz nach New York zu verlegen. Nick Draper wußte, daß New York in jeder Hinsicht für den Kampf gegen die Invasoren unleugbare Vorteile bot. Zum Beispiel war die Millionenstadt noch immer das Kommunikationszentrum der ganzen Welt; die drei Fernsehstationen von New York funktionierten und brachten noch immer Nachrichten und Unterhaltungssendungen, wenn auch nicht mehr in dem Umfang wie vor dem Eintreffen der Visitors. Und das »Freedom Network« operierte ebenfalls von jener Stadt aus, die als sicherste Metropole Amerikas galt. Darüber hinaus gab es in New York die wichtigste Niederlassung der Vereinten Nationen, was die Stadt zum Herzen der Weltbefreiungsbewegung machte. Morrows Büros befanden sich im UN-Gebäude, und durch die Fenster konnte man über den East River blicken. Zusammen mit anderen Repräsentanten der Regierung wohnte er im Grand Hyatt Hotel, an der Ecke 42. Straße und Lexington Avenue.
Der kleine Draper joggte bereits täglich, bevor daraus ein Volkssport wurde. Vor der Ankunft der Außerirdischen hatte er sein Haus in Virginia jeden Morgen in aller Frühe verlassen, um durch die Wälder zu laufen, über weite Wiesen und saftiges Grün. Er versuchte, an dieser Angewohnheit auch in New York festzuhalten, aber dort gab es praktisch keine Rasenflächen, sah man einmal vom Central Park ab, und Ruhe und Einsamkeit waren Fremdwörter in einer solchen Metropole. Nach wie vor pulsierte hektisches Leben in der Stadt, und die Straßen wurden nie leer. Noch immer verkehrten Müllwagen und brachten den Abfall einer an Konsum gewöhnten Gesellschaft fort, wenn auch nicht mehr in regelmäßigen Abständen. Noch immer rollten Taxis und Busse Stoßstange an Stoßstange über die Straßen. Und seltsamerweise gingen die Bewohner New Yorks ihrer Arbeit nach, als sei überhaupt nichts geschehen. Viele von ihnen ignorierten die Bedrohung durch die Visitors einfach und konzentrierten sich ganz auf ihre tägliche Routine. Trotzdem waren die Veränderungen unübersehbar. Da New York City in der ganzen Welt als sichere Stadt galt, suchten dort Hunderttausende von Flüchtlingen aus den wärmeren Regionen Zuflucht, Emigranten aus jenen Zonen, in denen die Visitors den roten Staub nicht fürchten mußten. An einem schwülen Morgen um sieben Uhr sah sich Nick Draper mit einem Teil all der neuen Probleme abrupt konfrontiert, als er in der Nähe von Penn Station joggte, zusammen mit Stuart Hart, dem jungen Verteidigungsminister, und Cynthia Sobel, der Pressesprecherin von Präsident Morrow. Draper trug ein USA-T-Shirt, eine blaue Shorts mit roten und weißen Streifen und lief in Richtung Seventh Avenue. Eine Zone von vier Blocks war wegen der vielen Flüchtlinge für den normalen Verkehr gesperrt. Polizisten, manche von ihnen auf Pferden, patrouillierten an den
Barrikaden und wiesen jeden ab, der keinen Passierschein vorweisen konnte. Die Regierungsbeamten nutzten die gute Gelegenheit und joggten mitten auf der Straße. Als sie langsamer wurden, stolperte Cynthia Sobel und fiel auf den Bordstein. »Mist!« kommentierte sie den harten Aufprall. Die Morgensonne war hinter einigen hohen Gebäuden in der Nähe verborgen, und Draper beugte sich im Schatten über die Frau: »Alles in Ordnung mit Ihnen?« Cynthia griff nach einer leeren Bierflasche, die mitten auf der Straße lag, hob sie voller Abscheu in die Höhe und warf sie in einen rund zwei Meter entfernten Abfallkorb. Es schepperte laut. »Dies ist kein Dauerlauf, sondern ein verdammtes Hindernisrennen«, sagte sie, verzog das Gesicht und deutete auf die vielen anderen Flaschen und Dosen auf dem Bürgersteig. Dann rückte sie sich das schweißnasse Stirnband zurecht, das ihr das dunkle Haar aus den Augen hielt, und versuchte aufzustehen. Mit einem leisen Stöhnen sank sie zurück. Stu Hart runzelte besorgt die Stirn. Sein T-Shirt hing schlaff an einem fast dürren Oberkörper. »Soll ich Ihnen Krücken holen?« fragte er scherzhaft. Cynthia rümpfte die Nase. »Ach«, stöhnte sie theatralisch, »jetzt muß ich glatt um meine vorzeitige Pensionierung bitten.« »Sie wollen sich bloß auf die faule Haut legen«, flachste Hart und grinste jungenhaft. In seinen Augen blitzte es lustig. »Ha!« machte Cynthia Sobel und stemmte sich in die Höhe. Draper half ihr beim Aufstehen. »Danke«, sagte die Pressesprecherin und belastete vorsichtig den verstauchten Knöchel. »Ich schätze, es ist zuviel verlangt, um eine gründliche Reinigung der Straßen zu bitten. Meine
Güte, jede Nacht höre ich die Müllwagen. Bei dem hier frage ich mich allerdings, ob ihre Fahrten vielleicht nur den Zweck haben, mich um den Schlaf zu bringen.« »Tja, meine Liebe«, sagte Draper, »wir sind im Krieg. Fragen Sie die Leute dort.« Er deutete auf den Haupteingang der Penn Station auf der anderen Straßenseite. In Gruppen warteten die neu eingetroffenen Flüchtlinge wie verloren auf dem Bürgersteig, und ihre Blicke baten stumm um Hilfe. »Wohin können die sich überhaupt noch wenden?« fragte Stuart Hart leise und sehr ernst. Cynthia streckte das eine Bein. »Diejenigen Flüchtlinge, die besonders gut dran sind, haben Verwandte in New York, bei denen sie unterkommen können.« »Und die anderen?« »Haben Sie nicht die Aushänge gelesen und die Sendungen im Fernsehen verfolgt? ›Nimm einen Freund auf – und biete einem Fremden Unterkunft.‹« »Und wie reagiert die Bevölkerung?« »Ziemlich gut – nach dem, was ich gehört habe«, sagte Cynthia. »Zu Anfang hausten die Leute aus dem Süden in den U-Bahn-Stationen und schliefen auf Parkbänken. Es waren so viele, daß es keine Möglichkeit zu geben schien, sie anständig unterzubringen.« »Ja«, erwiderte Hart dumpf. »Das ist mir bei meinen morgendlichen Ausflügen aufgefallen.« »Aber dann«, fuhr Cynthia fort, »kamen sowohl die Bürgermeisterin als auch der Gouverneur zu dem Schluß, daß es so nicht weitergehen könne. Daraufhin verwandelten sie den Madison Square Garden in ein Aufnahmezentrum für die Flüchtlinge und sperrten die Penn Station einfach ab.« »Aber die Leute, die nicht mit dem Zug eintreffen?« fragte Hart.
»Die meisten von ihnen finden trotzdem hierher, weil es sich rumspricht, daß sie hier unterkommen können – und außerdem gibt es Hilfe bei der Suche nach einem regulären Quartier.« Stolz fügte Cynthia hinzu: »Ich bin in dieser Stadt geboren und aufgewachsen. Eins ist sicher: Wir New Yorker verstehen zu improvisieren, wenn die Lage kritisch wird.« »Und was geschieht mit den Leuten, die keine feste Unterkunft finden?« hakte Hart nach. »Sie werden in die Vororte geschickt, zu alten Militärstützpunkten, leerstehenden Studentenwohnheimen, nicht mehr benutzten Krankenhäusern oder Gefängnissen. Einige wohnen in Zeltdörfern.« Cynthia holte tief Luft. »Letzte Woche schickte mich der Präsident zu einem solchen Lager auf Long Island. Im großen und ganzen kommen die Flüchtlinge gut zurecht. Das Hauptproblem bleibt aber, daß es nicht annähernd genug Arbeit für die vielen Immigranten gibt. Und es treffen immer mehr ein.« In diesem Augenblick fuhr ein leicht zerbeulter Cadillac vor und hielt neben dem Haupteingang der Penn Station. Die Türen schwangen auf. Draper kniff die Augen zusammen, um zu erkennen, wer in der Limousine saß. »Es ist die Bürgermeisterin«, sagte Cynthia und grinste. »Die Kontaktlinsen scheinen Ihnen aber auch nicht sonderlich zu helfen, Nick.« Draper bedachte die Pressesprecherin mit einem finsteren Blick und überquerte dann die Seventh Avenue. »He, Alison!« Hart folgte ihm ebenso rasch, nur Cynthia humpelte den beiden Männern hinterher. »Wollt ihr einen Krüppel einfach so im Stich lassen?« Bürgermeisterin Alison Stein warf die Wagentür zu und drehte sich um, als sie den Ruf des Staatssekretärs hörte. Sie begrüßten sich herzlich. Draper sah, daß Alison ihr Haar wie üblich hochgesteckt hatte – ließ sie es niemals frei auf die
Schultern fallen? –, und sie schien abgenommen zu haben. Ihre Wangen wirkten eingefallen, und so sah sie älter aus als bei ihrer letzten Begegnung. Alison freute sich über das Wiedersehen und lächelte. »Die Vertreter unserer Regierung sind schon früh auf den Beinen und halten sich fit«, sagte sie. Cynthia schnitt eine Grimasse. »Der Sklaventreiber von einem Präsidenten läßt uns nur um diese Zeit in Ruhe.« »Wie läuft’s?« fragte Draper. »Offenbar genießt Ihre Stadt seit einiger Zeit eine ganz besondere Popularität.« Alison hob die Augenbrauen und seufzte. »Offenbar folgt man dem Beispiel des Präsidenten. Himmel, ich kann es ihnen nicht verdenken. Ich würde ebenfalls nicht gern im Kochtopf der Visitors enden.« Auf ihre Worte folgte betretenes Schweigen. »Es mag tatsächlich recht früh sein für einen Dauerlauf«, sagte Stuart Hart schließlich, »aber ich verstehe nicht, warum Sie schon bei der Arbeit sind.« Alison Stein lächelte gequält. »Da haben Sie verdammt recht. Aber wir beginnen heute mit einer neuen Sache. Sie wissen doch, daß wir im Garden eine Art Ellis Island geschaffen haben, nicht wahr? Dort gibt es erst einmal Betten, und dann kümmern sich Ärzte, Berater und Sozialarbeiter um die Flüchtlinge und helfen ihnen dabei, sich einzugewöhnen. Die Leute können einige Tage lang hierbleiben, bevor sie wieder aufbrechen.« »Und wie können sie sich mit Bekannten und Freunden in Verbindung setzen?« warf Cynthia ein. »Letzte Woche habe ich ein Camp besucht, und viele Leute beklagten sich über Kommunikationsprobleme. Es herrscht nach wie vor ein ziemlich großes Durcheinander.« »Tja, und genau das ist der Grund, warum ich schon so früh auf den Beinen bin«, antwortete die Bürgermeisterin. »Die
Telefongesellschaft schaltet neue externe Leitungen, und außerdem richten wir eine computergesteuerte Auskunftei ein. Beide Dienstleistungen sollen kostenlos angeboten werden.« Die drei Regierungsvertreter nickten anerkennend. »Das dürfte sehr nützlich sein«, sagte Cynthia. Ein verstaubter Ford Tempo mit Regierungsemblemen auf den Türen hielt neben Alisons Limousine an. Der Fahrer beugte sich vor und hielt den Hörer eines Autotelefons in der Hand. »Mr. Secretary!« rief er. Draper und Hart drehten sich gleichzeitig um. »Ja?« antworteten sie. »Das erlebe ich dauernd«, kommentierte Cynthia. »Mit dieser Nummer könnten sie im Theater auftreten…« Draper musterte seinen größeren Kollegen. »Sie fühlen sich wohl ständig angesprochen, wie?« »Tja, ich kann mich noch immer nicht daran gewöhnen, daß ich jetzt im Verteidigungsministerium arbeite. Und die Jungs vom Geheimdienst scheinen ebenfalls verwirrt zu sein.« Der Fahrer betätigte ungeduldig die Hupe. »Ich glaube, er hat es auf uns abgesehen«, sagte Cynthia. »Ich wahrhaftig nicht«, erwiderte der Mann mürrisch. »Aber der Präsident. Er will Sie sofort sprechen. Steigen Sie ein. Ich bringe Sie zu ihm.« Bürgermeisterin Stein winkte ihnen nach, als sie zu dem Wagen hinübergingen. »Ich nehme auf dem Beifahrersitz Platz, so daß ich mein verletztes Bein ausstrecken kann«, murmelte Cynthia und humpelte erstaunlich flink los. Sie hatte die Tür bereits geschlossen, bevor sich Draper und Hart von ihrer Überraschung erholt hatten. Die beiden Männer wechselten einen argwöhnischen Blick.
»Ich glaube, sie ist überhaupt nicht verletzt«, sagte Draper, als er sich neben Hart in den Fond setzte. »In der Tat«, knurrte Stuart. »Sie hat uns reingelegt.« Er ließ die Tür zufallen, und der Fahrer gab sofort Gas. »Führen Sie ihr unaufrichtiges Verhalten auf den Umstand zurück, daß sie eine weibliche Vertreterin unserer Spezies ist? Oder gründet sich ihre Verlogenheit vielleicht auf die Tatsache, daß sie früher einmal als Reporterin gearbeitet hat?« Draper dachte kurz nach. »Vermutlich trifft beides zu«, erwiderte er. Cynthia Sobel spielte die Unbeteiligte und versuchte, ernst zu bleiben. Sie verzog das Gesicht und imitierte ein schnelles Eintippen auf einer Schreibmaschine: »Staatssekretär und Verteidigungsminister würdigen Frauen und Reporterinnen herab«, diktierte sie vor sich hin. »Ja, eine solche Schlagzeile gäbe wirklich was her.« Der Fahrer und Agent des Geheimdienstes grinste wortlos, wendete und beschleunigte.
Der breite Turm des Grand Hyatt Hotels glänzte wuchtig im hellen Schein der Augustsonne. Auf der goldenen Glasfront an der Ostseite spiegelte sich das Art Decor Chrysler Building auf der anderen Seite der Lexington Avenue. Der Ford Tempo hielt vor dem Haupteingang, und der braun uniformierte Pförtner führte Draper, Sobel und Hart ins Innere des Gebäudes. Als sie durch die Drehtür gingen, brauchte Draper eine Weile, um sich an das matte Licht in der Lobby zu gewöhnen. Der Sonnenschein sickerte trüb durch das getönte Glas der Fenster, fiel auf die marmornen Stufen langer Treppen, auf prunkvolle Kronleuchter und graubraune, altehrwürdig wirkende Möbel.
Draper blinzelte noch, als er mit Hart und Sobel durchs Foyer hastete, und fast wäre er auf Leonard Katowski geprallt, der ihnen entgegenkam. Der Stabschef des Präsidenten trug einen dezenten Anzug – die Ärmel waren ein wenig zu kurz –, ein weißes Hemd und eine schmale, gestreifte Krawatte. Sein Haar sah so aus, als sei es schon seit Tagen nicht mehr gekämmt worden. »Wo, zum Teufel, haben Sie gesteckt?« fragte er scharf und ruderte nervös mit den Armen. Draper griff nach Katowskis Ellenbogen. »Wir haben gejoggt, Len, nichts weiter. Deswegen brauchen Sie sich nicht gleich so aufzuregen.« »Das ist leicht gesagt: Sie gehören nicht zu den Leuten, die üble Nachrichten als erste erfahren und sie dem Präsidenten mitteilen müssen, wenn der noch schläft.« »Okay, jetzt sind wir zurück«, beruhigte Draper ihn und warf Hart und Sobel einen kurzen Blick zu. Er zwinkerte ebenfalls, als sie hinter Katowski mit den Augen rollten. Der Stabschef galt als tüchtiger und intelligenter Mann. Morrow verließ sich auf ihn, und Katowski hatte ihn noch nie enttäuscht: Er war loyal und ehrlich. Aber bei allen Heiligen: Der Kerl kann nervöser sein als ein Truthahn einen Tag vor Weihnachten, dachte Draper. Sie kamen zum Aufzug, und Katowski hielt mit weit ausholenden Schritten auf die wartende Kabine zu. Der Hotelangestellte wich rasch zur Seite, so daß sie eintreten konnten, schloß dann die Tür und betätigte eine Taste auf dem Kontrollfeld. Der Stabschef rieb sich ungeduldig die Hände, sah immer wieder auf die Leuchtanzeige und schien völlig außer sich zu sein. »Leonard«, sagte Cynthia ruhig, »wenn Sie nicht endlich die Hände stillhalten, bekomme ich noch einen hysterischen Anfall.«
Katowski verschränkte die Arme und rang sich ein schiefes Lächeln ab. »Tut mir leid.« »Machen Sie sich nichts draus«, warf Draper ein. »Sie hat’s nicht so gemeint.« »Zum Teufel auch – sie hat ja recht«, brummte der Stabschef. Und er fügte hinzu: »Sie werfen mir dauernd meine Nervosität vor. Aber bitte vergessen Sie nicht, daß auch mir Probleme aus meiner Arbeit in diesen Tagen einfach nahegehen.« »Entschuldigen Sie, wenn ich jetzt zu direkt sein sollte«, lächelte Stuart Hart. »Aber Sie sind tatsächlich so nervös, daß einem ganz kribbelig wird.« »Ihnen erginge es nicht anders, wenn Sie meinen Job machen müßten«, behauptete Katowski und schob trotzig das Kinn vor. Die Liftkabine hielt an, und die Tür glitt zur Seite. »Präsidentensuite«, sagte der Hotelbedienstete. »Soll ich warten?« »Nein, nein, ist schon in Ordnung so«, sagte Draper. »Vielen Dank.« Katowski schob sich eilig an ihm vorbei und stürmte durch den langen Korridor. Ein dicker Teppich dämpfte seine Schritte. »He, warten Sie einen Augenblick.« Draper streckte die Hand nach seinem Arm aus und hielt den Stabschef fest. »Was ist denn nun schon wieder?« fragte Katowski aufgeregt. »Wir sind spät dran, Nick!« »Himmel, so beruhigen Sie sich doch endlich. Sagen Sie uns erst einmal, was geschehen ist.« Der Stabschef stützte die Hände an die Hüften. »Was soll das? Die alte Len-weiß-nicht-wann-es-in-Ordnung-ist-denPräsidenten-zu-wecken-Routine? Meine Güte, ich kenne ihn besser als ihr. Ich weiß ganz genau, wann ich ihn wecken muß. Es geht um den Öl-Konvoi im Nordatlantik. Die Visitors haben ihn heute morgen angegriffen.«
Die drei Regierungsvertreter wechselten erschrockene Blicke. Draper und Hart umfaßten Katowskis Ellenbogen und dirigierten ihn eilig in Richtung der Präsidentensuite. »Los, Bewegung«, drängte Draper. »Sie hatten recht, Len. Die Sache ist wichtig.« Der Stabschef versuchte vergeblich, sich aus dem Griff der beiden Männer zu befreien. Er seufzte verzagt. »Die ganze Zeit über habe ich versucht, Ihnen das klarzumachen, schon in der Lobby!« Vor der Tür der Suite hielten zwei Agenten des Geheimdienstes mit ernsten Gesichtern Wache. Einer nickte den vier Personen zu, während der andere zur Seite trat. Barbara Morrow erwartete sie im Flur. Die Gattin des Präsidenten war eine große, elegante Frau, die selbst so früh am Morgen würdevoll wirkte. Ihre Aufmachung stand in einem angenehmen Kontrast zur rosa- und beigefarbenen Aufmachung der Räume. Der Teppich, bemerkte Draper wieder einmal, war so dick, daß sie Abdrücke darin hinterließen, als Barbara Morrow sie ins Wohnzimmer führte. Dort stand ein silbernes Tablett mit Kaffee, Tee, Fruchtsaft und Blätterteigstücken bereit. Die First Lady forderte sie freundlich auf, Platz zu nehmen und sich zu bedienen. »Bill zieht sich gerade an. Ich habe ihn sofort geweckt, als Len anrief und Sie ankündigte.« »Danke, Barbara«, erwiderte Nick Draper. »Wir wissen Ihre Hilfe sehr zu schätzen.« Sie winkte ab. »Sie machen sich im übrigen zu viele Sorgen um ihn. So leicht wirft ihn nichts von den Beinen. Die Ärzte meinten, seine Brustschmerzen hätten nichts mit dem Herzen zu tun. Er leugnet es zwar, aber ich bin davon überzeugt, das Pfefferomelette damals ist ihm einfach nicht bekommen.« »Na ja, vielleicht sind es auch die Folgen seiner Gefangenschaft«, sagte Katowski. »Eigentlich hat er nie richtig
über diese grauenhafte Erfahrung gesprochen, als Diana ihn über Monate hinweg folterte. Wir hatten einfach Angst…« »Ich habe jeden Tag mit ihm zu tun«, unterbrach ihn Barbara Morrow. »Ja, ich sehe ihn fast so häufig wie Sie, Len. Und daher weiß ich genau, daß er die Zeit im Mutterschiff gut überstanden hat. Ich glaube sogar, er ist dadurch noch stärker geworden. Sie können ganz sicher sein: Mit meinem Mann ist alles in Ordnung.« »Ich bitte die First Lady um Verzeihung«, warf Stu Hart trocken ein. »Unsere Besorgnis gilt nicht in erster Linie dem Gesundheitszustand Ihres Gatten, sondern seinem Zorn, wenn wir ihn verärgern.« Mrs. Morrow lachte amüsiert. »Ach, Bill ist sanft wie ein Lamm.« Sie hörten ein Geräusch von der Wohnzimmertür her, und als sie sich umdrehten, sahen sie die beeindruckende Gestalt William Brent Morrows, Präsident der Vereinigten Staaten. Draper und seine Begleiter standen auf, um ihn zu begrüßen, aber Morrow bedeutete ihnen mit einem knappen Wink, gleich wieder Platz zu nehmen. Seine Frau zuckte mit den Schultern. »Na, was habe ich Ihnen gesagt?« »Wo ist meine Milch?« fragte Morrow, als er hereinkam und seine Frau auf die Wange küßte. »Ich hole sie gleich, Mr. President«, sagte Barbara und ging in die Küche. Morrow richtete sich zu seiner vollen Größe von fast eins neunzig auf und ließ sich dann in einen Polstersessel sinken. »Also gut. Was liegt heute morgen an, Nick?« »Ich halte es für angebracht, wenn Ihnen Leonard Bericht erstattet, Mr. President. Er hat keine besonders guten Nachrichten für Sie.« Katowski räusperte sich schüchtern. »Ich, äh, nun…«
»Angesichts Ihrer nervösen Energie würde ich es begrüßen, wenn Sie wenigstens einen Teil Ihrer Kraft darauf verwenden, sofort zum Kern der Sache zu kommen, Leonard.« »Ja, Sir. Es geht um den Konvoi im Nordatlantik. Er wurde von den Visitors angegriffen.« Morrow beugte sich vor. »Einzelheiten?« »Im Grunde genommen wissen wir nur, daß die feindliche Streitmacht aus fünfzehn sogenannten Skyfighters – ihren Kampfshuttles – bestand. Die Strategien für den Notfall scheinen funktioniert zu haben. Die Tankereskorte schickte Flugzeuge aus, bevor die Visitors überhaupt in die Nähe der Flotte kommen konnten. Es gelang ihnen kein Überraschungsangriff, und ich glaube, unsere Jungs hatten die Daumen zuerst am Drücker.« »Hm. Und weiter?« Katowski schluckte, und sein Adamsapfel hüpfte auf und nieder. »Was weiter, Sir?« »Was geschah dann? Wer siegte?« »Das wissen wir noch nicht, Sir. Mein Büro ist angewiesen, uns sofort zu verständigen, wenn sich etwas Neues ergeben sollte.« Morrow lehnte sich wieder zurück und klopfte heftig mit den Fingern auf die Armlehnen des Sessels. »Aber wenn wir nicht bald eine Mitteilung bekommen, können wir davon ausgehen, daß die Visitors sowohl die beiden Supertanker als auch die Nimitz und die anderen Schiffe der Eskorte zerstört haben. So ist es doch, oder?« Mrs. Morrow kehrte mit einem Glas Milch ins Wohnzimmer zurück, aber der Präsident war bereits auf den Beinen. »Len, geben Sie Olav Lindstrom Bescheid. Berichten Sie ihm genau, was geschehen ist. Ich möchte mich im UN-Gebäude mit ihm und seinen Leuten beraten. In zwanzig Minuten. Seien Sie
ebenfalls zugegen. In einer Viertelstunde soll mich der Wagen abholen.« Draper deutete auf seinen Trainingsanzug. »Mr. President, wir sind verschwitzt, und…« »Was Sie nicht sagen, Nick. Nun, verschieben Sie die Dusche auf später. Fünfzehn Minuten.« Er nahm das Glas Milch und eilte aus dem Zimmer. Cynthia zupfte an ihrem schweißnassen T-Shirt. »Mist!« Hoch erhobenen Hauptes schritt Katowski an den drei Regierungsvertretern vorbei. »Jogger – ha!« Er nickte Barbara Morrow zum Abschied zu und trat durch die Tür. Cynthia kaute kurz auf der Unterlippe. »Ich würde ihn gern selbst umbringen, bin jedoch bereit, dieses Privileg unter uns auszulosen.«
3. Kapitel
Peter Forsythe schloß die Augen, neigte den Kopf zurück und genoß den scharfen Druck der Wasserstrahlen. Wie die winzigen Hände eines Masseurs kneteten sie die Muskeln an Hals und Schultern. Plötzlich aber spürte er tatsächlich warme Hände, die ihm sanft über die Haut strichen und in Höhe der Hüften verharrten, und als er die Augen aufschlug, sah er Lauren Stewart, deren Lippen nur wenige Zentimeter von seinem Mund entfernt waren. Ihr Kinn ruhte auf seiner Schulter, und er wandte den Kopf, um sie zu küssen. Das dichte schwarze Haar klebte an ihren geschwungenen Wangen, und die großen, mandelförmigen Augen sahen zu ihm auf. Pete umarmte sie zärtlich. Noch immer erstaunte es ihn, welchen Kontrast seine helle zu ihrer kaffeebraunen Haut darstellte, und er freute sich über die Eingebung der Natur, die Lauren zu einer derart prächtigen Mischung aus ihrem Vater – einem attraktiven, dunkelhaarigen Mann – und ihrer Mutter – einer polynesischen Schönheit – gemacht hatte. Verspielt leckte er einige Wassertropfen von ihrer Nasenspitze. »Weißt du«, sagte er, »wenn die Duschen in den alten Umkleideräumen so perfekt gewesen wären wie diese hier, hätte ich vielleicht noch einige Jahre länger Baseball gespielt.« Lauren lächelte schelmisch. »Meinst du Gemeinschaftsduschen, Pete?« »Nein, diese Düsen. Die Wassermassage ist einfach herrlich.«
»Oh, du lausiger…« Sie schlug ihm in die Magengrube, und Peter krümmte sich zusammen und lachte, als Lauren mit ihm rang. »Himmel, nein… nein, Lauren. Nicht kitzeln…« Pete versuchte, die junge Frau abzuwehren, deren Finger ihn sehr geschickt berührten. »Du weißt doch, daß es nur eine Möglichkeit für mich gibt, gegen dich anzutreten.« »Ich fordere dich heraus. Du bist gar nicht dazu fähig, weil du zu sehr lachst.« Es fiel ihm sichtlich schwer, sich zu beherrschen und nicht erneut rauszuplatzen. Als er sich einigermaßen in der Gewalt hatte, gab er Lauren einen Kuß auf den Nacken. Sie versuchte zwar weiterhin, ihren Angriff auf seine Lachmuskeln fortzusetzen, aber seine Gegenoffensive zeigte bereits erste Wirkung. Petes Lippen wanderten vom Ohrläppchen zum Hals, und von dort aus zu den Brüsten. »Das ist nicht fair«, schnaufte Lauren, und ihre Arme erschlafften. »Gib mir Bescheid, wenn es weh tut.« »Worauf Sie sich verlassen können, Dr. Forsythe.« »Hörst du es läuten?« fragte er zwischen zwei Küssen. »Du bist ein eingebildeter Mistkerl.« Peter richtete sich auf und seufzte. »Nein, das bin ich nicht. Das Telefon klingelt.« »Verdammt«, sagte Lauren und kehrte in die Realität zurück. Sie strich den Duschvorhang beiseite, hüllte sich in ein großes Badetuch und stürzte ins Schlafzimmer, um den Hörer abzunehmen, bevor der Anrufer auflegte. »Hallo?« »Ich hoffe, ich habe Sie nicht geweckt, Lauren«, sagte Olav Lindstrom, Generalsekretär der Vereinten Nationen. Ihr Chef.
Lauren seufzte und warf einen sehnsüchtigen Blick in Richtung Badezimmer. »Nein, nein, Olav… ich bin bereits auf den Beinen. Was haben Sie auf dem Herzen?« »Präsident Morrow hat angerufen. Es geht um eine sehr wichtige Angelegenheit. Er möchte uns sofort sprechen.« »Sofort?« »Wie schnell können Sie hier sein?« Lauren zupfte an dem Badetuch. »Eine Viertelstunde?« »In Ordnung. Machen Sie sich keine Gedanken wegen des Frühstücks. Ich kümmere mich um Kaffee und Brötchen.« »Gut, Olav. Wir sehen uns in fünfzehn Minuten. Bis dann.« Lauren legte auf. »He, Peter, wir haben keine Zeit mehr für irgendwelche Spielchen. Eine wichtige UN-Beratung mit Morrow liegt an.« Sie hörte, wie das Rauschen des Wassers verklang. »Was ist denn passiert?« »Keine Ahnung. Aber es scheint sehr dringend zu sein.« Peter kam aus dem Badezimmer, ein großes Handtuch um die Hüften geschlungen. Mit einem kleineren rieb er sich das aschblonde Haar trocken. »Ich fahre dich rüber.« Er ging ins Badezimmer zurück, und Lauren lächelte, als sie ihm nachsah. Zwar war Petes Karriere als Baseball-Spieler bei den New York Yankees durch eine Knieverletzung vorzeitig beendet worden, aber er hatte noch immer den Körper eines Athleten. Tatsächlich schien er sogar noch besser in Form zu sein als damals, während der ersten Invasion der Visitors. Er konzentrierte sich ganz auf sein Medizinstudium, doch eine Stunde am Tag reservierte er eisern für sein Konditionstraining und hielt sich fit. Die früheren Fettpolster an den Hüften waren verschwunden, und unter der hellen Haut zeichneten sich feste Muskeln ab.
Als Lauren vor dem Kleiderschrank stand und sich für eine Kombination aus Hose und Jacke entschied, dachte sie lächelnd über ihre seltsame Beziehung zu Peter Forsythe nach. Kaum zu glauben, daß wir vor nicht allzu langer Zeit wie Katz und Maus waren, fuhr es ihr durch den Sinn. Pete hatte als Schüler ihres Vaters am Cornell Medical Center studiert und gleichzeitig erfolgreich seine Karriere als berühmter Baseball-Spieler fortgesetzt. In dieser Zeit wuchs aber auch seine Vorliebe für Hochprozentiges. Als die Visitors zum erstenmal auf der Erde eintrafen, angeblich als Boten des Friedens und der Freundschaft, nahmen Lauren und ihr Vater an einer Party des Bürgermeisters von New York teil, und so lernte sie Peter Forsythe und andere Spieler der Yankees kennen. Als ihr Vater sie kritisierte, weil sie sich Pete gegenüber sehr abweisend verhielt, machte sie keinen Hehl aus ihrer Verachtung: »Ich halte nichts von zynischen Alkoholikern, die eine Million Dollar im Jahr verdienen und nicht den geringsten Grund haben, zynische Alkoholiker zu sein.« Sie erinnerte sich deshalb so klar und deutlich an diese Worte, weil ihr Urteil über Peter damals so vollständig falsch war. Während der alptraumhaften Zeit unter der Herrschaft der Visitors, als Laurens Vater zusammen mit vielen anderen Menschen von den Außerirdischen verschleppt wurde, zeigte Pete große Sorge wegen des Schicksals seines Freundes und Lehrers. Dieses Verhalten veranlaßte die junge Frau, ihre Einschätzung noch einmal zu überdenken. Wie sich herausstellte, war Forsythe weitaus mehr als nur ein zynischer Alkoholiker. In dieser Zeit schlossen sie sich den Widerstandskämpfern von New York an, und allmählich wuchs ihre Zuneigung immer mehr. Nach dem ersten Sieg über die Eroberer von den Sternen und der Freilassung von Laurens Vater war es dann
Peter, der die Initiative ergriff. Verdammter Idiot – landete mit einem Skyfighter der Visitors auf dem Dach des UN-Gebäudes und brachte mich nach Hawaii! Auf die Insel, wo ihre Mutter geboren worden war, wo sich ihre Eltern kennengelernt hatten. Und dort liebten sich Lauren und Pete zum erstenmal. Am Strand – wie in einem rührend-sentimentalen Liebesfilm, erinnerte sie sich. Die nüchterne und praktische Hälfte Laurens – sie war noch immer davon überzeugt, daß diese Seite mehr darstellte als nur die Hälfte ihres Ichs – hielt solche romantischen Schwärmereien nach wie vor für närrisch. Daß sie sich dann und wann zu solchen Dingen hinreißen ließ, war für sie ein Zeichen dafür, wie weit es ihr mit Petes geduldiger Hilfe gelungen war, auch einmal alle Vernunftgründe hinter sich zu lassen oder einfach rumzualbern, so wie heute. Lauren trug noch ein wenig Make-up auf, und als sie sich schließlich umdrehte, sah sie Pete, der gerade aus dem Badezimmer kam und sich sein blaues Hemd zuknöpfte. Dann griff er nach der leichten Sportjacke, die er am Abend zuvor über die Lehne des Eckstuhls gehängt hatte. »Bist du soweit?« fragte er. »Ja. Wir können los.«
Der Präsidentenwimpel zitterte am Rande der Kühlerhaube, als der gepanzerte Lincoln aus der Tiefgarage des Hyatt Hotel fuhr und auf die 42. Straße bog. Sechs Motorräder der Polizei eskortierten die große Limousine, die die kurze Strecke zum UN-Gebäude in wenigen Minuten zurücklegte. Früher wären die Straßen voller Menschen gewesen, die mir zugewinkt hätten, dachte Morrow. Doch im Krieg gegen die Visitors waren Pomp und aufwendige Zeremonien nichts weiter als Zeit- und Geldverschwendung. In Begleitung der Motorräder hielt der Lincoln vor dem Haupteingang des UN-
Gebäudes, und als Morrow ausstieg, stellte er fest, daß kein Begrüßungskomitee auf ihn wartete. Zwar regten sich ab und zu nostalgische Gefühle in ihm, wenn er an das frühere aufwendige Protokoll dachte, aber tief in seinem Innern gefiel dem texanischen »Wild Bill« Morrow die derzeitige Formlosigkeit eigentlich recht gut. Himmel, ich kenne den Weg zu Lindstroms Büro auch allein. Jimmy Carter mochte kein großartiger Präsident gewesen sein, aber Morrow bewunderte ihn wegen seiner Entschlossenheit, die Aktentasche selbst zu tragen, wenn er Air Force One verließ. Draper, Katowski, Hart und Sobel folgten ihm, als er auf die große Tür zuhielt. Sein Berater Gerald Livingstone – er befaßte sich vor allen Dingen mit Angelegenheiten, die die nationale Sicherheit betrafen – wohnte nur einen Block entfernt und war vermutlich bereits unterwegs. Als Morrow die Empfangshalle betrat, hoffte er inständig, daß ihm seine Mitarbeiter aus dem Präsidentenbüro einen neuen Lagebericht vorlegen konnten. »Mr. President«, rief jemand. Morrow drehte sich um und sah Peter Forsythe und Lauren Stewart, die rasch zu seinen anderen Begleitern aufschlossen. Katowski eilte zum Lift voraus, während Morrow kurz stehenblieb und die beiden Neuankömmlinge begrüßte. »Ich hoffe, es ist in Ordnung, daß ich Pete mitgebracht habe«, sagte Lauren ernst. Morrow zuckte mit den Schultern. »Helden des Widerstandskampfes stellen bestimmt kein Sicherheitsrisiko dar. Ich freue mich immer, Sie zu sehen, Pete.« Er warf einen kurzen Blick auf seine Uhr. »Sind Sie extra so früh aufgestanden, um diese junge Dame hierher zu fahren? Wirklich nett von Ihnen, Pete.« »Nun, wir waren bereits auf den Beinen und vertrieben uns ein wenig die Zeit, Mr. President«, grinste der junge Mann.
Lauren errötete und stieß ihm den Ellenbogen in die Rippen. Morrow unterdrückte ein amüsiertes Lächeln. »Der Lift ist da«, verkündete Katowski nervös und hielt die Tür auf.
Lindstrom hob den Kopf, als sich die Tür des Konferenzzimmers öffnete. »Olav!« sagte Lauren vorwurfsvoll. Der weißhaarige Generalsekretär der Vereinten Nationen hatte seine Anzugjacke über die Rückenlehne eines Stuhls gehängt. Er trug eine weiße Schürze und war gerade damit beschäftigt, Brötchen, Gebäck und knusprige Teigwaren auf vier Tabletts zu legen. In der Kaffeemaschine auf dem Tisch brodelte es, und Plastiktassen und -teller standen bereit. »Ich habe versprochen, mich um das Frühstück zu kümmern«, sagte Lindstrom schlicht. »Aber ich fand in der kurzen Zeit niemanden, der das hätte machen können.« »Sie sehen nicht gerade sehr würdevoll aus«, stellte Lauren leise fest. Lindstrom lächelte, und in seinen Augen funkelte es belustigt. »Gibt mir diese hübsche Schürze nicht ein gewisses Flair? Nein? Nun, ich kann sie auch ablegen, wenn Ihnen das lieber ist, Lauren.« Die junge Frau schüttelte den Kopf, und in ihren Mundwinkeln zuckte es. Leonard Katowski räusperte sich demonstrativ. »Äh, ja, ich schätze, das ist das Zeichen«, bemerkte Lindstrom, band die Schürze los, schob sie sich in die Tasche und nahm Platz. Die anderen setzten sich ebenfalls. Morrow beugte sich vor. »Ich möchte Ihnen allen dafür danken, daß Sie gekommen sind«, sagte er, als zwei UNRepräsentanten und Livingstone – wie immer perfekt gekleidet
– das Zimmer betraten und sich zu ihnen gesellten. »Vor einer Weile erhielten wir die Meldung, daß der Öl-Konvoi, der von Großbritannien hierher unterwegs ist, im Nordatlantik von den Visitors angegriffen wurde.« Die beiden UN-Repräsentanten und Pete schnappten hörbar nach Luft. »Konnte der Angriff abgewehrt werden?« fragte Lindstrom. »Leider wissen wir das noch nicht, Olav. Der letzte Bericht enthielt keine Einzelheiten. Er erwähnte nur fünfzehn Skyfighter im Anflug und bestätigte die notwendigen Sicherheitsmaßnahmen der Eskorte.« Der Präsident unterbrach sich, als jemand an die offene Tür klopfte. Eine junge, blonde Frau trat ein und zögerte. Katowski schob seinen Stuhl so jäh zurück, daß er fast umgestürzt wäre. Er winkte die Frau heran und starrte auf den Aktenordner, den sie bei sich trug. »Was haben Sie da, Jessie?« Sie reichte ihm den Ordner und schien den Atem anzuhalten, als Katowski ihn aufschlug. Einige Sekunden lang betrachtete er die ersten Seiten, und dann entspannte er sich und reichte die Unterlagen an Morrow weiter. Der Präsident runzelte die Stirn und nahm die Papiere entgegen. Kurz darauf veränderte sich sein angespannter Gesichtsausdruck, und ein frohes Lächeln umspielte seine Lippen. Erleichtert fuhr er sich mit einer Hand übers graue Haar. »Gute Nachrichten. Der Angriff wurde zurückgeschlagen. Die Visitors hatten keine Möglichkeit, das Feuer auf die Supertanker zu eröffnen. Die F-14 und F-15 wehrten den ersten Angriff der Shuttles ab, und anschließend konnten die Jungs an den Raketenwerfern ihr Geschick beweisen. Insgesamt wurden neun Skyfighter zerstört oder schwer beschädigt, bevor sich die anderen absetzten.«
»Irgendwelche Verluste unsererseits?« fragte Stuart Hart besorgt. Morrow holte tief Luft. »Leider ja, Stu. Wir verloren sieben Flugzeuge, und außerdem versenkten die verdammten Mistkerle eine Fregatte.« Stumm legte er den Aktenordner auf den Tisch und rieb sich die Augen. Als er wieder sprach, war seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern. »Fünfunddreißig Tote und achtundsiebzig Verwundete auf den anderen Schiffen. Die hundert Besatzungsmitglieder der Fregatte gelten als vermißt.« Er stöhnte. Einige Sekunden lang herrschte völlige Stille. »Es tut mir leid, Mr. President«, unterbrach Lindstrom das Schweigen. »Es erinnert mich daran, wie ich mich fühlte, als die UN-Soldaten getötet wurden, die ich in Krisengebiete schickte. Wenn man Truppen befiehlt, in die Schlacht zu ziehen, so übernimmt man große Verantwortung.« Morrow nickte geistesabwesend. »Ja. Himmel, ich wäre gern bei unseren Jungs dort draußen gewesen.« »Das waren Sie auch«, sagte Lindstrom. »Im Geiste. Wir haben beide als Soldaten gedient, und daher wissen wir genau, was es bedeutet, gegen den Feind zu kämpfen. Dabei lassen sich Verluste nicht vermeiden.« »Ich fürchte, da haben Sie recht, Olav. Immerhin: Wir sind keine Diktatoren, die nur darauf aus sind, ihre Macht zu vergrößern und fremde Territorien zu erobern. Wir betreiben keine Expansionspolitik, verachten Leute wie Pinochet und bewundern aufrechte Patrioten wie Ortega. Wir führen einen Krieg, der uns aufgezwungen wurde. Das alles weiß ich – aber dennoch wünschte ich, wir hätten Alternativen im Kampf gegen die Visitor-Gefahr.« »Gegenwärtig stehen uns keine anderen Mittel zur Verfügung, Sir«, warf Peter Forsythe ein. »Kann ich irgendwie helfen?« fragte Lindstrom.
Morrow überlegte kurz. »Ja, vielleicht. Gibt es noch immer eine Kommunikationsverbindung zu Diana?« Der Generalsekretär nickte. »Ja. Allerdings hatten wir in letzter Zeit praktisch keinen Anlaß, davon Gebrauch zu machen. Diese Sache fällt in Laurens Zuständigkeitsbereich.« Lauren beugte sich vor. »Der Komkanal ist nach wie vor offen, Mr. President.« »Gut«, knurrte Morrow. »Vermutlich hat es kaum einen Sinn, aber ich möchte Diana wenigstens meine Meinung sagen.«
»Eine… interessante Überraschung«, Diana lächelte dünn. »Wie geht es Ihnen, Präsident Morrow?« Morrow blieb ernst, und seine Stimme klang scharf, als er begann. »Ich danke Ihnen für die Bereitschaft, mit mir zu sprechen. Aber ich habe mich nicht mit Ihnen in Verbindung gesetzt, um Höflichkeitsfloskeln auszutauschen.« »Bisher wußte ich gar nicht, daß Sie über eine solche technische Ausrüstung verfügen.« Lauren erinnerte sich daran, daß sowohl der große VideoSchirm als auch das Terminal einige Tage nach der Landung der Visitors installiert worden war. Das Gerät hatte Diana und dem Obersten Kommandeur John zur Verfügung gestanden, um jederzeit Kontakt mit den Vereinten Nationen aufnehmen zu können. Lauren fiel auch der Tag wieder ein, an dem sie den Kommunikator zum erstenmal benutzt hatte – unmittelbar nach der Verhaftung ihres Vaters durch die Visitors. Nach der Freisetzung des tödlichen roten Staubes, das die Echsenwesen zur Flucht zwang, war diese Anlage wie andere Produkte einer hochentwickelten Technik auf der Erde zurückgeblieben. Der Präsident winkte ungeduldig ab und starrte auf den Bildschirm mit Dianas Abbild. »Ich erhebe hiermit offiziellen diplomatischen Protest. Gott weiß, daß auf diesem Planeten
verheerende Kämpfe stattfanden, aber selbst während des Krieges mit den deutschen Nazifaschisten wurden gewisse Regeln beachtet. Eine davon verbot Angriffe auf zivile Schiffe.« Diana lachte humorlos. »Wenn Sie damit etwa auf den Konvoi anspielen, der die Supertanker im Nordatlantik eskortiert…« »Genau den meine ich, Diana.« »Tanker mögen zivile Schiffe sein, Mr. President«, sagte Diana kühl, Gesicht und Körperhaltung dabei voll hochmütiger Arroganz, »aber Öl ist für die Menschheit eine Kriegswaffe gegen uns. Und somit werden wir alle Schiffe und Pipelines für den Transport dieses Rohstoffs bedingungslos angreifen. Wenn Sie kapitulieren, bin ich gerne bereit, Ihnen für die Versorgung mit Rohöl zu garantieren, daß ihr Volk während des Winters nicht frieren muß. Aber solange Sie Ihre törichten Angriffe auf uns fortsetzen, werden wir alles Notwendige unternehmen, um Ihren Nachschub zu unterbrechen. Sie können uns nicht mehr von der Erde vertreiben, sondern früher oder später bleibt Ihnen keine andere Wahl, als sich zu ergeben. Und das wissen Sie. Denken Sie daran, Präsident Morrow: Der Sommer geht zu Ende, und bald beginnt wieder ein harter Winter. In den kalten Regionen leben die Menschen zwar unter den Nebeln des roten Giftstaubs, aber ich bezweifle, daß ihnen die Aussicht gefällt, in der völligen Dunkelheit eisiger Nächte zu erfrieren. Ohne Öl gibt es weder Strom noch Wärme.« Im Anschluß an ihren letzten Satz streckte Diana die Hand aus und unterbrach abrupt die Verbindung. Ihr Bild verblaßte auf dem großen Videoschirm. »Mist!« brummte Morrow und sah seine Begleiter an. »Hat nicht viel gebracht, was?«
»Sie haben es zumindest versucht, Sir«, sagte Len Katowski. »Aber dabei ist nichts herausgekommen.«
Sie kehrten in Lindstroms Konferenzzimmer zurück und setzten dort die Besprechung fort. Jetzt drehten sich die Gespräche vor allen Dingen um die Versorgung mit Rohöl. »Sie hat absoluten Vorrang«, sagte Morrow, schenkte sich Kaffee nach, griff nach einem Brötchen und biß ab. »Ob es uns gefällt oder nicht – Öl ist der Lebenssaft unserer Industriegesellschaft. Wenn die Arbeit in unseren Fabriken unterbrochen werden muß, haben wir keine Chance mehr gegen die Visitors.« Der Präsident ließ seinen Blick über die Gesichter aller Anwesenden schweifen und musterte sie nacheinander: die Angehörigen des Beraterstabes aus dem Weißen Haus, offizielle Vertreter der Vereinten Nationen – und Peter Forsythe, Repräsentant der Widerstandsbewegung. Der Präsident sah zuletzt Gerald Livingstone an. Der elegante Mann hatte einen messerscharfen Verstand; irgend jemand hatte schon mal geulkt, er sammele Fünfhundert-DollarAnzüge in seinem Kleiderschrank mit derselben hartnäckigen Entschlossenheit wie Fakten und Informationen in seinem Gedächtnis. Aber es war nicht nur sein Wissen, das Livingstone zu einem wichtigen Helfer machte. Seine Bedeutung gründete sich in erster Linie darauf, daß er mit diesen Daten auch etwas anfangen konnte, Beziehungen herstellte, genaue Analysen und Bewertungen vornahm und auf diese Weise Lösungsmöglichkeiten für bestehende Probleme aufzeigen konnte. »Gerry, wie sieht die gegenwärtige Versorgungslage aus?« Livingstone lehnte sich zurück und lieferte aus dem Stand einen knappen Bericht: »Nun, Sir, beginnen wir mit Amerika. Die Ölfelder in Alaska werden nach wie vor von uns
kontrolliert. Die Förderung nutzt alle Kapazitäten aus, und der Transport stößt auf keine nennenswerten Schwierigkeiten. Doch der größte Teil unseres Öls stammt aus dem Südwesten und von der Golfküste. Sechzig Prozent davon stehen uns nicht mehr zur Verfügung, weil die entsprechenden Gebiete zum Herrschaftsbereich der Visitors gehören. Weitere fünfunddreißig Prozent der Vorkommen befinden sich in umstrittenen Zonen, und dort wird ebenfalls nicht mehr produziert. Lediglich fünf Prozent der Quellen fördern noch. Allerdings ist dabei der Transport sehr problematisch, und die Gründe sind einfach: Die Visitors behindern den Lkw- und Eisenbahnverkehr, und außerdem wurden Pipelines beschädigt.« »Sind die Schäden absichtlich herbeigeführt worden?« fragte Morrow. »Gezielt in den meisten Fällen nicht, Sir. Viele davon gehen allerdings auf die Kämpfe zurück. Nach den vorliegenden Berichten unternahmen die Außerirdischen bisher keine großen Anstrengungen, um die Pipelines zu zerstören.« Der Präsident biß erneut von seinem Brötchen ab und wirkte recht nachdenklich. »Hm, fahren Sie fort.« »Ja, Sir. Jetzt zu den Reserven in anderen Staaten: Mit den Nordsee-Vorkommen ist soweit alles in Ordnung – obwohl es dort ähnliche Transportprobleme gibt. Die sowjetischen Erdölfelder sind sicher; in Sibirien fühlen sich die Visitors offenbar nicht besonders wohl.« »Wären die Sowjets denn überhaupt bereit, uns Öl zu liefern?« erkundigte sich Pete. Livingstone gestikulierte abfällig. »Vielleicht – aber nur zu einem horrenden Preis. Sie ziehen es offenbar vor, ihr Öl selbst zu behalten, und trauen niemandem.« »Was soll denn diese Bemerkung?« erwiderte Pete und runzelte die Stirn. »Sehen Sie in der UdSSR etwa noch immer
das ›Imperium des Bösen?‹ Auch die Kommunisten sind Menschen. Glauben Sie nicht, es sei jetzt endlich an der Zeit, sich von unserem traditionellen amerikanischen Antikommunismus zu trennen? Es geht schließlich um die ganze Erde und nicht nur die USA…« Livingstone senkte kurz den Kopf und nickte. Dann räusperte er sich und fuhr fort: »Im Nahen und Mittleren Osten geht es drunter und drüber, Mr. President. Der rote Staub ist dort praktisch wirkungslos, und die Visitors können nach Belieben schalten und walten. Die Israelis leisten ihnen allerdings noch immer Widerstand und haben zusammen mit den Ägyptern und Saudis eine gemeinsame Streitmacht gebildet, um die saudischen Ölfelder zu schützen. Bisher gelang ihnen das immer noch irgendwie, aber die Außerirdischen üben enormen Druck auf sie aus, und deshalb ist es ihnen unmöglich, auch nur ein Barrel Öl zu verschiffen, obwohl sie noch die Kontrolle über dieses Gebiet haben.« Livingstone seufzte. »Das wär’s eigentlich, Sir. Die Lage ist nicht gerade rosig.« Verteidigungsminister Hart preßte die Lippen zusammen. »Wir kennen noch nicht alle Details vom heutigen Angriff auf den Konvoi im Nordatlantik, aber ich glaube, Diana meint es ernst. Wenn es zu weiteren Aktionen gegen solche Transporte kommt, können wir uns nicht mehr auf die Öllieferungen aus anderen Regionen verlassen. Ich schlage vor, wir überprüfen unsere Chancen, den Bedarf aus eigener Kraft zu decken.« Draper zog eine Pfeife aus seiner Aktentasche, stopfte sie mit würzigem Tabak und zündete sie an. Nachdem er zweimal gepafft hatte, wandte er ein: »Damit bieten Sie uns aber keine besonders gute Alternative an, Stu. Wenn wir nicht einmal in der Lage sind, die Übersee-Transporte vor den Visitors zu schützen, so sehe ich für die hiesige Distribution erst recht schwarz. Im Süden der Vereinigten Staaten sind große
Kontingente der Außerirdischen stationiert, und sie werden Lkw-Tankzüge bestimmt nicht ungehindert passieren lassen.« Stuart Hart zuckte mit den Schultern. »Es wird bestimmt kein Zuckerschlecken«, sagte er lapidar. »Aber es wäre einen Versuch wert.« Der Präsident kniff die Augen zusammen. »Ich glaube, ich bin eher geneigt, Stu zuzustimmen, Nick. Es steht uns zwar kein Sonntagsspaziergang bevor, aber wenn wir unser militärisches Potential nahe der Heimat konzentrieren, erhöht sich unsere Schlagkraft beträchtlich. Außerdem können wir hier in den Staaten auf einige Tricks zurückgreifen. Konvois auf hoher See lassen sich leicht lokalisieren, aber nur schwer verteidigen.« Pete Forsythe hob zögernd die Hand. »Ich bin zwar kein Experte, aber… Halten Sie es wirklich für möglich, direkt vor Dianas Nase die Erdölförderung zu forcieren?« »Ein guter Einwand, Peter«, sagte Morrow. »Ganz einfach, ich sprach eben von bereits gefördertem Öl.« Livingstone nickte bestätigend. »Die strategische Reserve…« »Genau«, sagte Morrow. Olav Lindstrom blickte fragend von einem zum anderen. »Ich verstehe nicht ganz…« »Nach dem arabischen Embargo von ‘73 und ‘74«, erklärte Morrow, »rief Präsident Ford ein ganz spezielles Programm ins Leben. Seine Idee bestand darin, eine Sicherheitsreserve für Krisenzeiten anzulegen.« »Davon habe ich schon gehört«, warf Lauren ein. »Damit sollte die Ölversorgung für mindestens sechs Monate gewährleistet werden, nicht wahr?« Morrow nickte. »Derzeit dürfte das gelagerte Rohöl für rund vier Monate reichen.« »Wo?« fragte Peter gespannt.
»Tja, genau das ist das Problem«, seufzte der Präsident. »Diese Reserve wurde in die unterirdischen Salzstöcke in den Küstenregionen von Texas und Louisiana gepumpt.« »Visitor-Gebiet«, stellte Peter düster fest. »Vollständig«, bestätigte Livingstone. »Aber wir haben auch Glück: Offenbar wissen die Außerirdischen nichts von dieser Reserve. Die Salzstöcke liegen abseits, in sumpfigen Gebieten – keine wichtigen Zonen für die Echsen. Es gibt dort weder Industrie noch große Städte. Nur alte Bohrstellen, die wir nach der Invasion aufgegeben haben.« Morrow erhob sich. »Meine Damen und Herren – wir müssen schnell eine Möglichkeit finden, das Rohöl aus den unterirdischen Lagern zu pumpen und in Tanks im Norden unterzubringen, wo wir es schützen können. Olav, Ihre Leute haben mit dieser Sache kaum etwas zu tun – es sei denn, Sie kennen Fachleute, die uns dabei helfen können. Alle Vorschläge sind herzlich willkommen. Was meine Mitarbeiter betrifft – Sie wissen nun, was die Stunde geschlagen hat. Machen Sie sich sofort an die Arbeit. Ich erwarte, daß mir morgen früh um halb neun die ersten vernünftigen Pläne vorgelegt werden.«
4. Kapitel
Für Lydia hatte die unangenehme Zusammenarbeit mit Diana auch ihre Vorteile. Wenn sich die Kommandeuse nämlich nicht im Kontrollraum aufhielt – besser noch: wenn sie das Mutterschiff ganz verließ –, übernahm Lydia das Kommando. Bei solchen Gelegenheiten malte sie sich gerne aus, ihre dunkelhaarige Rivalin existiere überhaupt nicht mehr. Mein Schiff, meine Mission. Jetzt bin ich die Oberste Flottenkommandantin! Allerdings verstrichen diese Augenblicke der Euphorie viel zu rasch, wenn Diana auf die Brücke zurückkehrte. Lydia hatte bereits unter vielen Offizieren gedient, die sie nicht mochte und mit denen sie keinen gemeinsamen Nenner fand, doch keinem von ihnen hatte sie bisher so wenig Respekt entgegengebracht wie Diana. Aufgrund ihrer Nachforschungen wußte sie, daß Diana aus einer Politikerfamilie stammte. Ihr Vater, ein Regierungsminister, hatte mehrere Putschversuche überstanden. Dianas Mutter: eine angesehene Wissenschaftlerin, ein Vorbild für ihre Tochter – nicht nur in Hinsicht auf die berufliche Laufbahn. Zwar konnte niemand etwas beweisen, aber es gab zahlreiche Gerüchte, daß Dianas Mutter nicht nur als Forscherin bedeutende Erfolge aufweisen konnte, sondern auch als Attentäterin. Man behauptete, sie habe einige überaus schlaue und listige Mordmethoden eingesetzt, um die Rivalen und Konkurrenten ihres Mannes aus dem Weg zu räumen. In diesem Zusammenhang überraschte es Lydia nicht, daß auch Dianas Vater unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen war. Im Regierungspalast des Großen Denkers
munkelte man, Dianas Mutter könne auch für seinen Tod verantwortlich sein. Andererseits aber hatte sich er genügend Feinde gemacht, daß ein Verdacht gegen seine Partnerin weit hinter entsprechenden Vermutungen über seine Intimfeinde tangierte. Letztendlich spielte es auch gar keine Rolle: Der Fall wurde einfach zu den Akten gelegt. Dianas Familiengeschichte machte Lydia allerdings deutlich, daß sie es mit einer ganz besonderen Kommandeuse zu tun hatte. Sie selbst war dagegen stolz darauf, daß sich ihr persönlicher Hintergrund auf rein militärische Dinge beschränkte. Die Beziehung ihrer Eltern diente einzig und allein Reproduktionszwecken, und Lydia hatte sich schon als Heranwachsende für eine Laufbahn in der Flotte entschieden. Sie verdankte ihre Karriere nicht etwa heimtückischen Intrigen, wie sie Dianas Entwicklung kennzeichneten, sondern harter Arbeit, Intelligenz und einem aufopferungsvollen Dienst für die Heimat. Mit Diana und einigen anderen höheren Offizieren hatte Lydia schon bittere Erfahrungen gemacht: In den oberen Rängen der neuen Armee des Großen Denkers kam dem Ehrgefühl nur eine untergeordnete Bedeutung zu. Um geschützt zu sein und sich nicht zum Opfer all der Intrigen zu machen, mußte Lydia sich anpassen. An einer Überzeugung aber hielt sie fest: Sie hoffte darauf, daß Diana irgendwann einmal ihrer eigenen Verschlagenheit zum Opfer fiel. Und wenn es soweit ist, bin ich am Zug, murmelte Lydia. »Ist alles bereit?« Dianas Stimmte brachte Lydia rasch in die Wirklichkeit zurück. Sie drehte sich um, sah die Kommandeuse ruhig an und straffte ihre Gestalt. Ihre Haltung kam fast einer Herausforderung gleich. »Ja. Die Schiffe für das Projekt Eis wind warten auf den Einsatzbefehl.«
Ein kühles Lächeln umspielte Dianas Lippen. »Gut.« Sie nahm in der Mitte des Kontrollraums im Sessel des Befehlsstandes Platz und beobachtete die Konsolen. »Komkanal zu den Eiswind-Kommandeuren!« befahl sie. Lydia gab einen Code ein, und auf dem großen Hauptmonitor zeigten sich jetzt sechs kleinere Bildschirmausschnitte. In jedem davon erschien das Gesicht eines Visitor-Offiziers, und darunter blendete der Bordcomputer Namen und Standort ein: Sergei, Sowjetunion (ein grobschlächtig wirkender Mann mit dunklem Bart); Ingmar, Schweden (blondes Haar und blasse Wangen); Rathma, Indien (eine dunkelhäutige Frau); Shogira, Japan (das nicht maskierte Reptiliengesicht deutete ein Lächeln an); Haji, Iran (ebenfalls ohne Maske), und Margaret, Kanada (die Stirn des ovalen Gesichts gerunzelt). Diana dachte kurz an die Anweisung von John, als er noch Oberster Kommandeur war: Das Aussehen der Visitors mußte den ethnischen Charakteristiken der Menschen in jenen Ländern entsprechen, über denen die Mutterschiffe schwebten. Die dunkelhaarige Kommandeuse verzog das Gesicht. Reine Zeitverschwendung, dachte sie verächtlich. Wir hätten damals sofort zuschlagen und die Erde erobern sollen, ohne uns mit derart banalen Dingen aufzuhalten. Bei einem solchen Vorgehen wären die Menschen nicht in der Lage gewesen, uns irgendwelchen Widerstand zu leisten. Aber John und die anderen Kommandeure setzten ihre Linie durch – und versagten. Neben dem Triumph der besseren Lagebeurteilung hatte das Scheitern ihrer Mission Diana noch eine zusätzliche Genugtuung bereitet, als sie John auf Befehl tötete. Kein Wunder, daß die erste Invasion fehlschlug, dachte sie. Damals wurde die Flotte von Idioten und Narren befehligt. »Projekt Eiswind«, begann sie ihre Einweisung und wandte sich an die sechs Kommandeure, die über den Bildschirm ihre Befehle entgegennahmen, »ist die wichtigste Offensive in der
Kette unserer Maßnahmen, um die Kontrolle über die Erde zurückzugewinnen. Sie sind für eine Teilnahme an dieser Operation ausgewählt worden, weil Sie sich als fähige Kommandanten erwiesen haben. Die an Bord Ihrer Schiffe installierten Geräte sind streng geheim – die anderen Kommandeure wissen nichts davon und werden auch nichts erfahren, wenn Projekt Eiswind wider Erwarten erfolglos bleiben sollte. Wenn allerdings nachgewiesen werden kann, daß einer von Ihnen für den Fehlschlag des Projekts verantwortlich ist, so wird der Betreffende auf meinen Befehl hin exekutiert. Ist das klar?« Diana wartete, bis die Kommandanten einzeln bestätigt hatten. »Ich bin jedoch sicher, daß keiner von Ihnen solche Konsequenzen zu befürchten hat. Wenn ich die gegenwärtige Verbindung unterbreche, werden Sie Ihre derzeitigen Standorte verlassen und die Positionen einnehmen, deren Koordinaten in den Eiswind-Kontrollterminals gespeichert sind. Verlassen Sie sich darauf, daß ich Sie ständig überwache. Pfuscherei entgeht mir nicht. Hüten Sie sich daher vor dem Versuch, eventuelle Fehler zu vertuschen. Berichten Sie sie. Verrat wird sofort bestraft. Nun gut. Projekt Eiswind beginnt… jetzt.« Die sechs Kommandeure salutierten und wandten sich an ihre Offiziere. Diana nickte zufrieden. Es berauschte sie nach wie vor, wie Untergebene eilfertig auf ihre Befehle reagierten. Ein Tastendruck, und die Bilder auf dem Bildschirm veränderten sich. Der Monitor zeigte nun jeweils eine Außenaufnahme der sechs Mutterschiffe, die Fahrt aufnahmen und ihre Patrouillenformation verließen. Die Zielangaben waren als Daten in der Eiswind-Software enthalten. »Taktisch«, zischte Diana. Lydia wartete mehrere Sekunden und nahm dann einige Schaltungen vor. Der Computer blendete eine Weltkarte mit einem Koordinatennetz ein. Die sechs Mutterschiffe waren
darauf als blinkende Punkte in unterschiedlichen Farben zu erkennen, die langsam über das Gittermuster hinwegglitten. Sie näherten sich einer roten S-förmigen Linie, die sich über die nördlichsten Regionen des Planeten hinwegschlängelte: Skandinavien, Sibirien, den Polarkreis, Kanada. Aufmerksam beobachtete Diana, wie sich die bunten Punkte entsprechend dieser grafischen Vorgabe aufreihten. »Eiswind-Generatoren einschalten.« Die Indikatorpunkte auf dem taktischen Schirm strahlten heller. Lydia drehte sich zu der Kommandeuse um. »Alle Generatoren positiv, Diana. Die Telemetriesysteme funktionieren einwandfrei, und die Werte sind normal.« »Ausgezeichnet, Lydia.« »Was wird denn eigentlich mit dem Projekt Eiswind bezweckt?« Diana lächelte wie immer nur dünn. »Sie sind ziemlich neugierig.« Lydia versteifte sich. »Meine Frage hat nichts mit persönlicher Neugier zu tun. Bisher haben Sie mir keine Einzelheiten des Plans genannt – obwohl der Sicherheitsstab über alle Vorgänge in der Flotte unterrichtet sein sollte.« In Dianas Augen funkelte es zornig. »Vergessen Sie nicht, wer Ihr vorgesetzter Offizier ist. Sie und Ihr Sicherheitsstab erfahren nur das, was ich Ihnen mitteile.« »Muß ich Sie wirklich daran erinnern, daß ich Ihre Stellvertreterin bin? Wenn Ihnen etwas zustößt, brauche ich Zugang zu allen geheimen Daten, und dazu gehören auch alle für Ihr Projekt Eiswind.« Diana stand abrupt auf. »Kommen Sie in zehn Minuten in mein Quartier. Dort weise ich Sie ein.« Sie warf ihr langes, dunkles Haar zurück, drehte sich um und verließ den Kontrollraum.
»Setzen Sie sich«, zischte Diana, als Lydia ihre Kabine betrat. Die Kommandeuse schob eine kleine Kassette in den Computer auf dem Arbeitstisch, und der Bildschirm zeigte ein Farbenmuster wie die Wolkenformationen über dem nordamerikanischen Kontinent. Zunächst waren die braunen und grünen Landmassen noch deutlich zu erkennen. Kurze Zeit später aber zogen Wolken aus der arktischen Region heran, bildeten ausgedehnte Tiefdruckgebiete und drangen immer weiter nach Süden vor. Innerhalb weniger Sekunden bedeckten sie ganz Nordamerika, und anstatt über die Ostküste hinwegzustreichen, hingen sie unbeweglich über dem Land. Kleinere Wirbel nahmen Feuchtigkeit vom Atlantik auf und wurden dann von der ausgedehnten Sturmzone aufgesogen. An dieser Stelle endete das Demonstrationsband. Lydia hatte auf der Tischkante Platz genommen und verschränkte die Arme. »Und?« »Was Sie gerade gesehen haben, meine Liebe, sind die berechneten Auswirkungen des Projekts Eiswind. Die Generatoren an Bord der sechs Mutterschiffe erzeugen starke Magnetfelder, um so die Windströmungen in den oberen Bereichen der irdischen Atmosphäre beeinflussen zu können. Damit ist insbesondere die Stratosphäre über Nordamerika gemeint.« »Warum?« »In einigen Tagen wird sich das Wetter in jenen Regionen der Erde drastisch verändern: Der Hochsommer verwandelt sich in einen strengen Winter.« Lydia kniff die Augen zusammen. »Selbst wenn das, was Sie da ankündigen, den Tatsachen entspricht: Was wollen Sie damit bezwecken?« »Das Projekt Eiswind ist Teil eines größeren Plans…« »Und was hat es damit auf sich?«
»Fragen über Fragen«, sagte Diana spitz und seufzte. »Aber diese Informationen müssen für den Augenblick genügen.« »Sie scheinen etwas übersehen zu haben«, zischte Lydia. »Durch kaltes Wetter wird der rote Staub für uns giftig. Sind Sie sicher, daß das Projekt Eiswind nicht außer Kontrolle gerät, und die warmen Regionen der Erde, die für uns bisher noch sicher waren, auch so weit abkühlen, daß wir uns aus ihnen zurückziehen müssen? Wenn es dazu kommt, verschaffen Sie den Menschen einen strategischen Vorteil.« »Ich bin Wissenschaftlerin«, ereiferte sich Diana. »Stecken Sie Ihre Nase nicht in Dinge, von denen Sie keine Ahnung haben. Überlassen Sie derartige Konzepte mir. Das Projekt Eiswind ist ohnehin nur die erste Phase einer Offensive, die uns die Kontrolle über größere Bereiche des Planeten zurückgibt. Die Computerszenarios sind eindeutig: Nachdem wir den Menschen einen vorzeitigen Winter beschert und sie gezwungen haben, einen großen Teil ihrer so wertvollen Ölund Gasvorräte zu verbrauchen, um nicht zu erfrieren oder zu verhungern, sind wir imstande, das Klima überall auf der Erde so zu verändern, daß die Durchschnittstemperaturen spürbar steigen. Und falls Sie nicht begriffen haben sollten, was das bedeutet: Höhere Temperaturen machen den roten Staub unwirksam.« Lydia schüttelte skeptisch den Kopf. »Wenn Sie das klimatische Gleichgewicht der Erde manipulieren, beschwören Sie eine weltweite Katastrophe herauf. In den Küstenregionen könnte es zu verheerenden Überflutungen kommen. Fruchtbares Ackerland, das zu Wüsten und Steppen wird. Es wäre möglich, daß viele Menschen und Tiere – unsere Nahrungsreserve – ums Leben kommen und die irdischen Meere austrocknen. Und dann würde sich die Erde kaum mehr von unserer Heimatwelt unterscheiden.«
Arrogant neigte Diana den Kopf. »Arme Diana. Sie haben eine begrenzte Perspektive für das Universum. Leute wie Sie sehen nicht über den Horizont ihrer eigenen Ängste und Befürchtungen hinaus und sind außerstande, Ideen zu würdigen, die uns in die Lage versetzen, jede beliebige Welt zu erobern.« »Wir vertreten unterschiedliche Standpunkte«, erwiderte Lydia fest und richtete sich auf. »Meiner Ansicht nach mißbrauchen Sie die Wissenschaft und machen aus ihr eine Waffe, die uns selbst gefährlich werden könnte.« »Die Wissenschaft ist nur ein Werkzeug«, sagte Diana. »Sie bleibt ohne jeden Sinn, wenn wir sie nicht dazu einsetzen, die Natur unserem Willen zu unterwerfen. Das ist unsere Bestimmung. Und wenn Sie versuchen, etwas dagegen zu unternehmen, so bedeutet das Ihr Ende. Das garantiere ich Ihnen.«
5. Kapitel
Die Wasserrationierung während des Sommers hatte das vorher so saftig-grüne Gras des Yankee Stadions in einen braunen, struppigen Teppich verwandelt. Dichter Staub wehte über den ausgetrockneten Boden. Pete Forsythe saß dicht hinter dem kleinen Unterstand der Yankees und dachte daran, wie sehr der Platzwart Ray Lally bei diesem Anblick leiden mochte. Er war auf den guten Zustand des Spielfeldes immer besonders stolz gewesen. Und auch jetzt arbeiteten seine Leute fast rund um die Uhr, um das Schlimmste zu verhüten. Forsythe zog fröstelnd die Schultern hoch und wünschte, er hätte sich einen Mantel mitgenommen und nicht nur eine dünne Jacke. Der Wind wehte kalt und böig wie schon seit Tagen, und seit einer Woche war die Sonne hinter der dichten Wolkendecke nicht mehr aufgetaucht. Pete sah zu den Tribünen hinüber. Höchstens zweitausend Schaulustige waren gekommen, weitaus weniger als bei den anderen Spielen der vergangenen Saison. Die meisten Leute hatten das Wetter wohl weniger optimistisch eingeschätzt als er selbst oder wesentlich aufmerksamer beobachtet. Sie trugen Mäntel und Hüte, drängten sich unter molligen Decken zusammen und tranken heißen Kaffee aus Thermoskannen. »Verdammt kalt, was«, hörte er plötzlich hinter sich eine bekannte Stimme. Pete drehte sich um und sah Dr. Hannah Donnenfeld, die sich eine Mütze mit dem Symbol der Boston Red Sox aufgesetzt hatte. Sie trug dazu aber eine blauweiße Yankee-Jacke, und als Forsythe die unterschiedlichen Club-Embleme musterte,
lächelte er schief. »Stecken Sie in einer Identitätskrise, Hannah?« Sie grinste. »Von wegen, Doktor Forsythe. Die Mütze ist ein Andenken…« »Und die Jacke beweist wohl Ihren Respekt mir gegenüber?« Dr. Donnenfeld kniff die Augen zusammen. »Keineswegs. Sie schützt nur gut vor der Kälte.« Sie lachten beide, und Pete stand auf, um Hannahs Begleiter zu begrüßen: Dr. George Stewart, Laurens Vater, Sari James, die kecke, strohblonde Biologin aus Hannahs Brook CoveLaboratorium auf Long Island, und einen hochgewachsenen, dunkelhaarigen Mann, den Pete jetzt zum erstenmal sah. Er hatte einen Arm um Saris Schultern gelegt, reichte Pete die Hand und lächelte freundlich. »Neville More«, sagte er mit britischem Akzent. Er schien ungefähr fünfunddreißig Jahre alt zu sein. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Dr. Forsythe.« »Nennen Sie mich einfach Pete. Wenn mich jemand mit Dr. Forsythe anspricht, drehe ich mich noch immer um und halte hinter mir nach einem Typen mit weißem Kittel und Stethoskop Ausschau.« »Meinetwegen – Pete. Sie sind ziemlich berühmt – als Baseball-Spieler und als Widerstandskämpfer. Es macht mich stolz, einem echten Helden zu begegnen.« Pete errötete leicht. »Ich halte mich normalerweise nicht für jemanden, der eine Ehrenmedaille verdient hat…« »Lügner«, warf Dr. Donnenfeld ein und grinste schelmisch. Pete spielte den Beleidigten. »Wenn ich ein Held war«, sagte er dann, »so trifft das auch auf viele andere Leute zu, z. B. alle, die Sie heute mitgebracht haben.« »Neville hat ebenfalls einiges auf dem Kasten«, setzte Sari das Geplänkel fort. Der kalte Wind hatte ihre sommersprossige Nase gerötet.
Der Engländer schüttelte bescheiden den Kopf. »Sari übertreibt gern, wissen Sie.« »Nein«, widersprach sie. »Du bist nun mal einer der bekanntesten und tüchtigsten Computerspezialisten der Welt.« Pete hob interessiert die Augenbrauen. »Ach? Einen Augenblick…« Er überlegte und wiederholte Nevilles Namen mehrmals. »Sind Sie der Neville More, der die Gesellschaft… Himmel, wie heißt sie doch noch?« Sari seufzte. »Magicomp«, half sie ihm gequält. »Ein Unternehmen, dem es gelang, für den Von Neumann-Engpaß eine Lösung anzubieten.« »Den was?« »Dabei handelt es sich um ein elektronisches Problem in jedem gewöhnlichen Computer – der VN-Engpaß verlangsamt die Datenverarbeitung«, erklärte Sari geduldig weiter. »Neville und Magicomp bauten den bisher erfolgreichsten Rechner mit Parallel-Prozessoren, und gleichzeitig entwickelten sie revolutionäre Software dafür.« Saris erwartungsvoller Blick verunsicherte Pete ein wenig. »Oh, langsam dämmert’s mir wieder. Ich konnte mich nur nicht an die Einzelheiten erinnern.« »Es überrascht mich, daß mein Name solches Aufsehen erregt hat, Dr. Forsythe… äh, ich meine Pete. Ich fühle mich geschmeichelt.« Neville lächelte schon wieder und zeigte strahlend weiße Zähne. »Vor kurzem habe ich im Wirtschaftsteil der Times einen langen Artikel über Sie gelesen. Und ich bin sicher, Sari ist zu recht von Ihnen beeindruckt.« Die junge Frau war über diese Bemerkung sichtlich verärgert. »Ich bin nicht beeindruckt, Pete. Das klingt so, als sei ich irgendein Fan. Ich bewundere nur, was Neville in seinem Fach leistet.«
»Entschuldige«, murmelte Forsythe verlegen, »setzt euch doch. George, haben Sie in den letzten Tagen mit Lauren gesprochen?« Der hochgewachsene Mann versuchte gerade vergeblich, die Beine übereinanderzuschlagen: Seine Knie stießen dabei ständig an den Sitz vor ihm. »Gestern. Warum?« »Oh, ich hab’ paarmal versucht, sie zu erwischen, aber es nahm niemand ab.« Dr. Stewart nickte. »Bei mir war’s ähnlich. Lauren nehme ich an. Sie war auf verschiedenen Dringlichkeitssitzungen der UNO – soweit ich weiß, ging es dabei vor allem um die Versorgung mit Erdöl.« Er fröstelte und klappte seinen Mantelkragen hoch. »Und da wir gerade dabei sind: Ich hoffe, dieser Kälteeinbruch kündigt keinen schlimmen Winter an. Das würde wohl neben all den anderen Rationierungen bedeuten, daß uns Öl und Gas ausgehen.« »Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, daß es um diese Jahreszeit jemals so kalt war«, sagte Sari, die dicht neben Neville More saß. »Soweit Sie sich erinnern können, Kindchen?« brummte Hannah. »Das ist noch gar nichts, meine Liebe. Mein Gedächtnis reicht immerhin einige Jährchen weiter zurück. Und einen Hochsommer mit solchen arktischen Temperaturen habe ich noch nie erlebt.« »Dann müßten Sie mal nach England kommen«, warf Neville ein und lachte. »Übrigens: Weiß jemand, wie warm – oder kalt – es heute morgen war?« fragte Pete. »Knapp zehn Grad über Null«, meldete sich George Stewart und schauderte erneut. »Und ich möchte wetten, inzwischen ist die Temperatur weiter gesunken.« »Tja, es könnte schlimmer sein«, kommentierte Pete philosophisch. »Aber immerhin haben wir noch die
Möglichkeit, uns Handschuhe überzustreifen oder die Hände in die Taschen zu schieben.« Er sah zu den Spielern auf dem Feld. Einige von ihnen federten ständig auf und ab, um sich warmzuhalten. »Im Gegensatz zu den armen Kerlen dort.« »Kriegen Sie eigentlich nie Lust, wieder einmal zu spielen, Pete?« wandte sich Neville an ihn. »Nicht an solchen Tagen. Aber um ganz ehrlich zu sein: Ein Team braucht unbedingt Leute, und da sind sie sogar auf mich verfallen. Das ist der Nachteil, wenn man hier sitzt und sich den Managern zur Schau stellt.« Hannah gab ein abfälliges Schnauben von sich. »Ha! Und jetzt behaupten Sie bloß noch, Sie seien nicht interessiert gewesen!« »Sie haben mich gestern nicht mit dem Schlagholz üben sehen. Sonst hätten Sie sich diese Frage sparen können.« Alle lachten – bis auf Sari, die plötzlich verwirrt wirkte und sich immer wieder umsah. »Stimmt irgend etwas nicht?« Die junge Frau kratzte sich verwundert am Hals. »Entweder braucht jemand auf der Tribüne über uns dringend ein Shampoo gegen seine Schuppen, oder es hat wahrhaftig zu schneien begonnen.« George Stewart schob das Kinn vor. »Zum Teufel auch, es schert mich einen Dreck, wie kalt es ist. Im September kann es einfach nicht schneien.«
»Ich fasse das nicht«, brachte Pete verblüfft hervor und starrte aus dem Fenster. »Das ist doch einfach unmöglich, daß am dritten September in Manhattan der Schnee dreißig Zentimeter hoch liegt?« Hannah Donnenfeld, Sari James und Neville More saßen in seinem Wohnzimmer und ließen die Gläser klirren. »Sieht
ganz so aus, als hätten Sie drei Gäste für die Nacht, Pete«, sagte Dr. Donnenfeld. Pete wandte sich vom Fenster ab und wollte den Vorhang zuziehen, überlegte es sich dann aber anders. Der seltsame Anblick der weißen Straßen faszinierte ihn noch immer. »Das dürfte wohl stimmen. Nun, kein Problem: Hier gibt es genug Platz, und außerdem ist der Kühlschrank voll.« »Haben Sie Stiefel?« fragte More. »Was?« »Stiefel.« »Ich verstehe nicht ganz…« More lächelte. »Um im Schnee spazierenzugehen.« »Klar. Aber wollen Sie wirklich raus?« »Wissen Sie, ich habe fast mein ganzes Leben an einem Ort verbracht, wo es dauernd regnet, aber nie schneit, und deshalb hätte ich jetzt Lust, durch diesen frischen Schnee zu schlendern. Übrigens: Ich habe gehört, unter einer weißen Decke sähe jede Stadt wie verzaubert aus.« »Das stimmt«, bestätigte ihm Sari eifrig. »Darf ich dich begleiten?« »Gern.« More winkelte den Arm an, und Sari hakte sich bei ihm ein. »Möchte sich etwa noch jemand anschließen?« fragte die junge Frau. Pete und Hannah verständigten sich schnell mit einem Blick und kamen zu dem Schluß, daß Sari in Wirklichkeit nichts an ihrer Gesellschaft lag. Trotzdem wartete sie höflich noch einige Sekunden und strich sich dann den blonden Pferdeschwanz über die eine Schulter zurück. »Nein? Tja, dann eben nicht. Setzt euch vor die Glotze oder vertreibt euch sonstwie die Zeit.« Sari dirigierte Neville in Richtung Tür. »Pete, könnten Sie uns vielleicht einen Zweitschlüssel geben?«
»Da hängt einer direkt neben dem Telefon. Nehmen Sie ihn nur.« Sari verließ nur für Sekunden Nevilles Seite, gerade lang genug, um in den Mantel zu schlüpfen. Dann schmiegte sie sich wieder an ihn. »Väterchen, Mütterchen – ihr braucht wegen uns nicht aufzubleiben. Bis später. Tschüß.« Hinter ihnen fiel die Tür mit einem dumpfen Klacken ins Schloß. Pete schob den Riegel vor. »Väterchen und Mütterchen«, wiederholte Hannah Donnenfeld grinsend und rieb sich die Nase. »Bisher war es eigentlich so, daß ich auf sie warten muß, wenn wir am Strand von Cove joggen.« Pete Forsythe griff nach seinem Kaffeebecher, nahm einen Schluck, dachte kurz nach und fragte dann direkt: »Was diesen Neville angeht… Ich würde gern mehr über ihn erfahren. Wo haben Sie ihn aufgelesen?« »Er kam zu uns«, erklärte Hannah. »Und er behauptet, er sei seit dem Ausbruch des Krieges dauernd auf Reisen gewesen.« »Weswegen?« »Er half wohl einzelnen Gruppen von Wissenschaftlern und Widerstandskämpfern, ihre Computersysteme auf Vordermann zu bringen. Neville meint, Computer seien letztlich die entscheidende Waffe in diesem Krieg. Und ich glaube, damit hat er recht.« Pete schürzte nachdenklich die Lippen. »Na ja, wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, ist er wirklich eine Kanone auf seinem Gebiet. Aber brauchen Sie Hilfe?« »Laboratorien wie das von Brook Cove können immer jemanden gebrauchen, der was auf dem Kasten hat – insbesondere Leute wie Neville More.« »Ich dachte, Ihr Computerspezialist sei Mitchell Loomis.«
»Das glaubte auch Mitchell«, sagte Hannah im Tonfall einer Mutter, die von ihrem zwar sehr gescheiten, doch aufsässigen Kind spricht. »Und was hält er von der ganzen Sache?« fragte Pete. »Er schmollt.« Forsythe nickte. »Ich kann mir gut vorstellen, wie er reagiert, wenn er von Neville an die Wand gedrängt wird. Ich tippe auf ›ziemlich sauer‹.« »Kann man wohl sagen.« »Sari jedenfalls scheint an Neville Gefallen gefunden zu haben. Seit wann sind sie zusammen?« »Oh, seit ungefähr zwei Wochen«, grinste Hannah. »Und Sie haben recht: Sari ist regelrecht in ihn vernarrt. Warum auch nicht? Neville ist nicht nur ein attraktiver Bursche, sondern auch intelligent, gewitzt und charmant.« Pete hob in gespieltem Erstaunen die Augenbrauen. »Man könnte fast meinen, Sie beschreiben mich.« »Mag sein«, knurrte Hannah und zuckte mit den Schultern. »Aber Sie stammen nicht aus England. Außerdem hatte Sari schon immer eine Vorliebe für Leute wie ihn. Ich eigentlich auch. Tja, wenn ich zwanzig Jahre jünger wäre…« »Zwanzig? Versuchen Sie’s mit vierzig.« »Werden Sie nicht unverschämt, Pete«, gluckste Hannah.
Es schneite in kleinen Flocken, die wie winzige Ornamente aus Kristall vor den Straßenlampen tanzten und sich mit dem Weiß auf dem Pflaster vermischten. Auf der Fifth Avenue herrschte praktisch überhaupt kein Verkehr, und fast das einzige Geräusch war das dumpfe Knirschen der Stiefel im Schnee. Pärchen schlenderten Arm in Arm entlang der Schaufenster. Die billigeren Läden zeigten zwar nur noch wenige Auslagen, aber die teuren boten nach wie vor ihre Luxuswaren an.
Aufgrund des Krieges wurde die Versorgung langsam kritisch, und außerdem konnten ich die meisten Menschen gerade das Lebensnotwendige leisten, aber viele empfanden es schon als Trost, jene Artikel wenigstens betrachten und vielleicht davon träumen zu können, sie eines Tages zu kaufen. Sari schmiegte sich an Neville More, als sie durch die verschneien Straßen wanderten. »Ich liebe das weiße Manhattan«, sagte sie. »Es ist wirklich seltsam. Normalerweise schneit es nicht vor Januar.« Sie zuckte mit den Achseln. »Tatsächlich nicht übel«, erwiderte Neville. »Und alles scheint ruhig und gemütlich zu sein…« »War das Leben jemals so – ruhig und gemütlich, meine ich?« »Vor der Ankunft der Visitors?« Sari nickte. »Ich glaube, für einige Leute schon«, sagte Neville. »Aber nicht für mich. Ich hatte schon immer zuviel zu tun und war lauernd damit beschäftigt, zu verkaufen, neue Entwicklungen voranzutreiben und Geld für die Verwirklichung meiner Ideen zu bekommen. Versteh mich aber bitte nicht falsch: Ich beklage mich nicht. Es war alles sehr aufregend.« »Tatsächlich?« Er lachte leise. »Manchmal kann selbst Aufregung auf die Dauer schon wieder langweilig werden. Was ist mir dir, Sari? Was für ein Leben hast du geführt, bevor die Visitors kamen?« Die junge Frau dachte kurz nach. »Na ja, Brook Cove kann man wohl beim besten Willen nicht als aufregenden Ort bezeichnen. Wir mußten aber nicht etwa die Ärmel hochkrempeln und uns in die Arbeit stürzen, um neue Zuschüsse zu bekommen und irgendwelche Kontrollgremien zufriedenzustellen. Hannah Donnenfeld leitete die Forschung so, daß nicht einmal Publikationen erforderlich wurden. In gewisser Weise waren wir eine große Familie, und das fand ich
immer sehr angenehm. Man kann unser Leben zwar nicht gerade ruhig und gemütlich nennen. Ich meine, wir steckten uns eigene Ziele und trieben uns selbst an. Aber trotzdem herrschte eine entspannte Atmosphäre. Lieber Himmel, das alles scheint schon Ewigkeiten her zu sein. Ich kann mich kaum mehr daran erinnern.« Sari rollte theatralisch mit den Augen und schüttelte den Kopf. »Was für ein Quatsch. Du stellst mir eine einfache Frage, und ich fange an zu schwatzen…« Neville beugte sich vor und küßte sie auf die Lippen. »Willst du mich damit zum Schweigen bringen?« »Ganz und gar nicht«, erwiderte er. »Wenn du mir solche Dinge erzählst, erfahre ich mehr von dir. Und ich möchte so viel wie möglich über dich wissen.« Sie küßten sich wieder, leidenschaftlicher diesmal, gleichzeitig aber ruhig und behutsam – um den seltsamen Zauber nicht zu zerstören, der sie umgab. Erst nach einer ganzen Weile gingen sie weiter. »Und du frierst bestimmt nicht, Sari?« fragte Neville. Sie starrte ihn groß an und lachte. »Willst du mich auf den Arm nehmen? Außerdem ist es gar nicht so kalt. Ich bin begeistert, wenn es so schneit, wenn die Flocken einfach nur herabrieseln, ohne daß der Wind weht. Als ich klein war, drohte mir meine Mutter an solchen Tagen, mich von der Nationalgarde ins Haus bringen zu lassen.« – Neville lächelte. »Und das hat dir bestimmt einen ordentlichen Schrecken eingejagt, was? Was hast du denn da gemacht, wenn sie nach dir rief?« In Saris Augen funkelte es schelmisch, als sie sich entsann. »Ich tanzte über den Rasen«, sang sie, breitete die Arme aus und drehte sich um die eigene Achse. »Und dann lief ich an der Veranda vorbei, um sie zu necken. Zum krönenden Abschluß versuchte ich eine Pirouette, etwa so.« Sari rutschte
über den Schnee, verlor das Gleichgewicht und fiel in den aufstiebenden Schnee. Neville war mit wenigen Schritten bei ihr. »Ist alles in Ordnung mit dir?« fragte er besorgt. Sari seufzte und stemmte sich mit den Ellenbogen in die Höhe. »Auch damals zappelte ich immer wie ein Käfer auf dem Rücken. Offenbar habe ich während all der Jahre nichts dazugelernt – abgesehen von einer Sache.« Neville half ihr auf die Beine. »Und die wäre?« Sie schlang ihm die Arme um den Hals und zog seinen Kopf zu sich herab. »Deine Küsse sind völlig anders als die meiner Mutter.« Ihre Lippen trafen sich, und genießerisch schloß Sari die Augen. »Gehen wir zu mir oder zu dir?« fragte sie heiser. »Zu Pete.« Sari schob den Schlüssel ins Türschloß und drehte ihn ganz langsam und vorsichtig. Der Riegel klappte ruckartig zurück, und Sari verzog das Gesicht: Sie war sicher, daß man das laute Knacken im ganzen Haus hatte hören können. Behutsam öffnete sie die Tür und betrat mit Neville den Flur. Himmel – es ist dunkel! dachte sie und spürte, wie ihre Erregung zunahm. Sie drückte die Tür zu, schloß wieder ab und versuchte, sich ihre Nervosität nicht anmerken zu lassen. Was wird er von mir halten, wenn ich sage, daß ich mit ihm schlafen möchte? Was werden Pete und Hannah denken, wenn sie uns morgen aus dem gleichen Schlafzimmer kommen sehen? Und dann: Ach, zum Teufel mit den anderen! Mit stummer Entschlossenheit griff sie nach Nevilles Hand und zog ihn mit sich. »Wohin willst du?« flüsterte er. »In mein Zimmer.« »Und wohin soll ich?«
Ohne eine Miene zu verziehen, wandte sie sich zu ihm um. »Du kommst mit.« Sie setzte sich wieder in Bewegung. »Und was ist mit meinem Zimmer?« »Das bleibt leer.« »Oh.« Er folgte ihr gehorsam, als Sari in dem Schlafzimmer verschwand, das ihr Pete vorhin gezeigt hatte, und schloß dann leise die Tür. Mach jetzt bloß keinen Mist, dachte die junge Frau. Sie mied seinen Blick, als sie die Nachttischlampe anknipste und den Mantel ablegte, und erst dann sah sie zu ihm auf und ließ plötzlich die Schultern hängen. »Ach, du willst überhaupt nicht, das kann ich ganz deutlich spüren. Manchmal führe ich mich wirklich wie eine Närrin auf. Ich gehe immer davon aus, daß andere Leute die gleichen Gefühle haben wie ich. Meine Güte, im Laboratorium weiß ich genau, wie man sich verhalten muß, aber Schlafzimmer sind für mich noch immer weiße Flecken auf der Landkarte. Es tut mir leid: Ich wollte dich nicht überrumpeln…« Sie machte Anstalten, die Tür wieder zu öffnen, aber Neville hielt sie fest und küßte sie. »Was hat denn das nun wieder zu bedeuten?« platzte es aus ihr heraus. »Aus welchem Grund bin ich wohl hier? Und wenn ich dir auch eine Frage stellen darf: Hast du immer Angst vor den Dingen, nach denen du dich sehnst?« »Nein.« Ein verlegenes Lächeln umspielte Saris Lippen. »Wo waren wir stehengeblieben?« »Ah, warte mal: Ich wollte gerade meinen Mantel ablegen und die Lampe dort ausschalten.« Als Neville das erledigt hatte, zog er Sari an sich und ließ sich mit ihr auf das breite Bett sinken. Trübes Licht sickerte durch die Gardinen vor dem Fenster und verlieh den Wangen der jungen Frau einen
seidigen Glanz. »Ja, und dann wollte ich diese hübsche Bluse aufknöpfen.« Kurz darauf spürte sie, wie Nevilles Fingerkuppen sanft und zärtlich über die Wölbung ihres Bauchs tasteten. Er strich die Bluse beiseite, und auf Saris bloßen Schultern bildete sich eine Gänsehaut. »Ist dir kalt?« fragte er leise und wartete keine Antwort ab. »Na, dann sollte ich dich wohl ein wenig wärmen.« Sari fröstelte erneut, als sie Nevilles Atem am Nacken fühlte. Er beugte sich zu ihr hinab und küßte sie erneut. Einerseits verspürte sie sehr stark die Versuchung, sich einfach zurückzulehnen und die Berührungen des Mannes zu genießen, andererseits wollte sie nicht einfach passiv bleiben. Sie griff nach seinem Pullover und zog ihm den über den Kopf. Mit der einen Hand strich sie sein Haar glatt, und die Fingernägel der anderen zogen weite Kreise auf seiner Brust. Halt die Augen offen, sagte sie sich. Bei vielen anderen Gelegenheiten hatte sie den Fehler gemacht, die Lider zu schließen. Zwar erinnerte sie sich oftmals noch an die übrigen Wahrnehmungen, doch visuelle Erfahrungen verloren sich viel zu oft in den dunklen Winkeln ihres Gedächtnisses. Diesmal zwang sie sich aber dazu, Neville zu beobachten. Sie kannte ihn seit zwei Wochen, aber jetzt sah sie ihn zum erstenmal lackt. Er wirkte nicht gerade wie ein Superathlet. Dafür waren seine Schultern nicht breit genug, die Brustmuskeln zu schlaff. Aber eine glatte Haut gefiel ihr, die sanften Wölbungen an Armen und Oberschenkeln. Neville wich ein wenig zurück und tastete an ihrem Körper weiter. Mit zwei Fingern öffnete er geschickt den BH-Verschluß und strich die Träger beiseite. Sari drückte ihn fest an sich und dachte: Diese Nacht könnte sehr interessant werden…
Um sieben Uhr morgens klingelte das Telefon. Pete war schon aufgestanden, nahm ab und hörte die Stimme von Stabschef Len Katowski. William Brent Morrow hatte eine Dringlichkeitssitzung in seiner Präsidentensuite im Hyatt Hotel einberufen und bat auch Pete, daran teilzunehmen. »Darf ich jemanden mitbringen?« »Wen?« fragte Katowski knapp. »Dr. Donnenfeld.« Ohne zu zögern antwortete Leonard: »Klar. Vielleicht kann sie uns einen Rat geben.« Hannah Donnenfeld war ebenfalls daran gewöhnt, das Bett zeitig zu verlassen, und als Pete an die Tür ihres Schlafzimmers klopfte, hatte sie bereits geduscht. Forsythe erklärte ihr rasch, worum es ging, und anschließend schrieb er eine kurze Nachricht für Sari und More, die offensichtlich noch schliefen. Dann verließ er mit Hannah das Haus und stieg in den Wagen des Geheimdienstes, den Katowski ihnen geschickt hatte. Der Fahrer parkte den Wagen in der Tiefgarage des Hotels und brachte seine Begleiter in den obersten Stock. Sie trafen als erste in der Präsidentensuite ein, und Barbara Morrow begrüßte sie freundlich und führte sie ins Eßzimmer. Auf dem ovalen Tisch stand ein Frühstück bereit. »Bedienen Sie sich«, sagte Mrs. Morrow. »Bill müßte gleich hier sein, und die anderen sind unterwegs.« Sie trug einen prächtig bestickten Kimono, und Hannah berührte einen der lose herabhängenden Ärmel. »Wirklich hübsch, Mrs. Morrow.« »Am liebsten würde ich ihn die ganze Zeit über tragen. Ich habe ihn während eines Aufenthalts in Japan gekauft.« »Wenn es allein nach ihr gegangen wäre, hätte sie den Kimono-Vorrat eines ganzen Kaufhauses mit nach Hause geschleppt«, flachste der Präsident beim Hereinkommen.
»Die schönsten Dinge verweigerte er mir«, klagte Barbara Morrow, »und wies dabei ständig auf das Defizit der Handelsbilanz hin.« Sie schmollte. »Wenn ich Präsidentin wäre, würde ich dir gestatten, Souvenirs zu kaufen.« Morrow grinste. »Ich verspreche dir, bei den nächsten Wahlen daran zu denken.« Er wandte sich an Pete und Hannah. »Guten Morgen. Vielen Dank, daß Sie so früh aufgestanden sind und sich in den Schnee gewagt haben. Lieber Himmel, ich bin in Texas aufgewachsen, und dort schneit es verdammt selten.« Kurz darauf hörten sie, wie die Tür der Suite geöffnet wurde, und kurz darauf trafen auch die anderen ein. Offenbar kam nur die UN-Repräsentantin Lauren Stewart aus der Kälte, denn sie hatte sich einen Schal um den Hals geschlungen, und ihre Nase war gerötet. Sie bedachte Pete mit einem herzlichen Lächeln. Hinter ihr folgten Staatssekretär Nick Draper, Verteidigungsminister Stuart Hart und Len Katowski. Präsident Morrow trug loch immer seinen Morgenmantel. »Ich weiß zwar nicht genau, was eigentlich los ist«, eröffnete er brummig ihre Besprechung, »aber ich bin fast sicher, daß die Visitors dahinterstecken. Diana deutete nämlich etwas Ähnliches an, als ich letzte Woche mit ihr sprach. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie sie diesen plötzlichen Kälteeinbruch herbeigeführt hat, aber eins steht fest: Wir müssen sofort etwas dagegen unternehmen, denn sonst bekommen wir es mit einem Haufen Probleme zu tun. Zuallererst geht es jetzt aber darum, die Brennstoffversorgung sicherzustellen. Irgendwelche Vorschläge?« Verteidigungsminister Hart schürzte die Lippen. »Ich schätze, es bleibt uns keine Wahl: Wir brauchen die strategische Ölreserve.«
Lauren nippte an einem Glas mit Orangensaft. »Vielleicht ist es jetzt schon zu spät. Wenn ich mich recht entsinne, meinte Gerry Livingstone…« »Übrigens – wo bleibt Livingstone eigentlich?« warf Morrow sin. »Vermutlich kann er sich bei der Auswahl des heutigen Anzugs nicht entscheiden«, krächzte Katowski. »Eleganz über alles.« Hart und Draper lachten leise. Einige Sekunden später hörten sie vom Flur her eilige Schritte, und Livingstone betrat das Zimmer, wie üblich in einem eleganten Anzug. Er entschuldigte sich für die Verspätung. Morrow bedachte ihn mit einem finsteren Blick und sah dann wieder Lauren an. Sie nickte und fuhr fort: »Nun, Gerry meinte, die Visitors hätten sich bisher nicht sonderlich bemüht, die PipelineVerbindungen zu unterbrechen. Ich habe allerdings den Eindruck, Diana nimmt im Moment alle Formen des ErdölTransports aufs Korn. Und wenn wir irgend etwas unternehmen, was die Außerirdischen auf die strategische Reserve in den Salzstöcken von Texas und Louisiana hinweist, spielen wir ihnen möglicherweise direkt in die Hände.« Morrow gab ein zustimmendes Brummen von sich. »Mit anderen Worten: Wir riskieren es vielleicht, die Visitors auf das Öl aufmerksam zu machen, von dessen Existenz sie bisher noch nichts ahnen.« Pete meldete sich ebenfalls zu Wort. »Lauren hat recht. Es ist nicht ungefährlich, jetzt in diese Richtung aktiv zu werden. Wenn wir etwas unternehmen, könnte die Reserve verlorengehen.« »Hm«, machte Hannah und ließ ihren Blick über die Anwesenden schweifen. »Aber wenn wir die Hände in den Schoß legen und die Visitors durch einen Zufall das gelagerte Öl finden – oder sie uns nur täuschen und bereits darüber
Bescheid wissen –, bekommen wir es ebenfalls nicht. Ich halte ein Abwarten für noch riskanter.« Die Diskussion ging weiter, und während der Gespräche leerten sich allmählich die Tabletts. Nach einer Weile räusperte sich Morrow und traf die Entscheidung. »Wir brauchen das Öl«, stellte er fest. »Und deshalb müssen wir es uns holen. Hat jetzt noch jemand was dagegen?« Er hob die Augenbrauen und sah sich um, doch niemand widersprach. »Sie sind also einverstanden. Merkwürdigerweise beruhigt es mich irgendwie, daß Sie mir tatsächlich keine Alternative anzubieten haben. Es sei denn, die Entscheidung, die jetzt gefallen ist, könnte sich als die schlimmste herausstellen, die ich jemals traf. Gott helfe mir, daß das Gegenteil der Fall ist.« Barbara Morrow saß ebenfalls am Tisch, und als ihr Mann jetzt zögerte, fragte sie: »Was ist mit den Einzelheiten, Bill?« Der Präsident holte tief Luft. »Wir pumpen die Reserve durch möglichst viele verschiedene Pipelines. Ziel: die Verarbeitungsanlagen und Raffinerien im Norden. Von dort aus transportieren wir es mit Lkw-Tankzügen dorthin, wo es gebraucht wird.« »Klingt vernünftig, Mr. President«, sagte Hannah. »Ein einfacher und schlichter Plan. Es wird den Visitors kaum gelingen, die Nachschubwege abzuschneiden, und das bedeutet, daß zumindest ein Teil des Öls bei uns ankommt.«
Kurz darauf endete die Besprechung, und die Agenten des Geheimdienstes boten den Konferenzteilnehmern an, sie wieder nach Hause zu bringen. Auf dem Weg in die Tiefgarage wandte sich Lauren an Pete. »Wie steht’s mit dem Mittagessen, Dr. Forsythe?« »Ist es dafür nicht noch einige Stunden zu früh?«
»Nun, ich muß erst nach dem Mittagessen ins UN-Gebäude zurück. Wenn wir gemeinsam überlegen, äh, fällt uns vielleicht eine Möglichkeit ein, die verbleibende Zeit auf angenehme Art und Weise zu verbringen.« Pete seufzte. »Ein verlockendes Angebot, aber ich kann es leider nicht annehmen.« »Ach, Pete«, seufzte die junge Frau. »Während der letzten Tage laben wir uns nur so selten gesehen – von anderen Dingen ganz zu schweigen.« »Warum gibst du mir keine Vorwarnung?« Lauren drehte sich um und stützte die Hände empört an die Hüften. »Ich wußte gar nicht, daß ich bei dir neuerdings einen Termin vereinbaren muß.« Die Lifttür öffnete sich wieder, die junge Frau stieg als erste aus und blieb einige Schritte entfernt kurz stehen. »So möchte ich dich in Erinnerung behalten – mit kummervollem Gesicht.« Mit diesen Worten drehte sie sich ruckartig um und marschierte davon. Hannah wartete bereits in der Lobby des Hotels, kam ruhig zu Pete hinüber und meinte mitfühlend: »Lauren scheint verärgert zu sein.« »Kann man wohl sagen.« »Und Ihnen ist offenbar ebenfalls eine Laus über die Leber gelaufen. Haben Sie Lauren einen Korb gegeben?« »Ja«, brummte Pete. »Und warum das, wenn ich fragen darf? Doch nicht etwa deswegen, weil Sie mich nach Hause bringen wollen?« »Nein. Ich habe eine Verabredung mit Denise Daltrey.« Hannah Donnenfeld verzog das Gesicht. »Vergessen Sie Ihre schmutzige Phantasie, Hannah.« Die alte Wissenschaftlerin beobachtete Forsythe mit einem dünnen Lächeln, und Pete erklärte rasch: »Ich brauche einige Informationen über eine bestimmte Person, und wer ist besser
auf dem laufenden als eine Journalistin und Nachrichtensprecherin?« »Worum geht’s?« Pete wollte sich abwenden, aber Hannah Donnenfeld packte ihn am Arm. »Au!« machte der junge Mann. »Für eine alte Dame können Sie verdammt fest zupacken.« »Ja. Und außerdem habe ich Ausdauer. Ich halte Sie so lange fest, bis Sie mir gesagt haben, was los ist.« »Schon gut, schon gut. Ich möchte mehr über Ihren neuen Freund Neville More erfahren.« Hannah kniff die Augen zusammen. »Warum?« »Ich weiß selbst nicht genau…« »Es ist also nur so eine Ahnung?« »Wenn es einen konkreten Anlaß gäbe, würde ich Sie bestimmt einweihen. Ich bin einfach nur neugierig.« Pete hob den Arm, weil er offenbar erwartete, daß ihn Hannah nun freigab. Statt dessen aber sah sie ihn nur ruhig an. »Warum?« wiederholte sie. »Was sind Sie eigentlich: Naturwissenschaftlerin oder Staatsanwältin?« »Gibt es da einen Unterschied? Beide stellen Fragen, um der Wahrheit auf den Grund zu kommen.« Pete seufzte. »Na gut. Aus irgendeinem Grund ist mir Neville More nicht ganz geheuer. Ich kann dieses Gefühl zwar nicht näher bestimmen, ich bin aber auch nicht bereit, es einfach zu ignorieren.« »Die Intuition eines ehemaligen Baseball-Spielers?« spottete Dr. Donnenfeld. Pete ließ pfeifend den Atem entweichen. »Hannah, unsere Widerstandsgruppe ist sehr wichtig und besteht aus aufrechten und anständigen Leuten. Wir bedeuten uns viel, als Freunde und Kameraden. Wenn sich ein Außenseiter unerwartet an uns
wendet und um Aufnahme in die Familie bittet, möchte ich soviel wie möglich über ihn wissen. Halten Sie das für falsch?« Donnenfeld schürzte die Lippen und lächelte. »Mit einer sollen Einstellung verschrecken Sie die Freunde Ihrer zukünftigen Töchter.« »Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten, Hannah. Die Lage ist sehr ernst, und wir müssen uns ein gesundes Mißtrauen bewahren.« »Höre ich da Ihren alten Zynismus?« Pete grinste schief. »Gefällt er Ihnen nicht?«
6. Kapitel
Der Wagen des Geheimdienstes setzte Peter Forsythe vor der CBS-Niederlassung an der 57. Straße ab, in der West Side von Manhattan. Hannah Donnenfeld blieb auf dem Beifahrersitz und winkte ihm zu, als die Limousine wieder anfuhr, um sie zu Petes Wohnung zu bringen. Als der große Wagen hinter der Straßenecke verschwunden war, setzte sich Forsythe in Bewegung und stapfte durch eine Schneewehe, die sich an einem Hydranten gebildet hatte. »Ich frage mich bloß, was aus den Schneepflügen in den städtischen Garagen geworden ist«, brummte er mißmutig. Auf dem Felsstreifen der Manhattan Island ragten die berühmtesten Wolkenkratzer der Welt in die Höhe: ein Wald aus Stahl, Beton und Glas. Einige Blocks vom Hudson River entfernt aber waren die Gebäude wesentlich kleiner. Pete befand sich nun in einem Viertel, das aus Warenlagern, kleinen Büros und Appartementhäusern bestand. Drei Blocks weiter im Westen zerfielen die traurigen Überbleibsel des West Side Highway. In einer ehemaligen Molkerei bemühten sich Denise Daltrey and andere Journalisten der CBS-Nachrichtenabteilung, die Welt aber den Krieg gegen die Außerirdischen auf dem laufenden zu halten – es gab kaum noch andere Dinge, über die zu berichten lohnte. Pete senkte den Kopf und trat ein. Während er mit den Füßen aufstampfte, um den Schnee von den Stiefeln abzuschütteln, wäre er fast mit Charles Kuralt, einem der CBS-Korrespondenten, zusammengestoßen. »Entschuldigen Sie«, murmelte Kuralt freundlich und ebenso vertieft vor sich hin.
»Meine Schuld.« Pete wollte an dem Mann vorbeigehen, überlegte es sich jedoch anders, als er ihn erkannte. »He, Sie sind doch Charles Kuralt.« Der Korrespondent grinste. »Nett, daß Sie mich daran erinnern. Ich stecke in einer Identitätskrise.« Kuralt wirkte kleiner und nicht ganz so mollig wie im Fernsehen, doch Pete erinnerte sich deutlich an das pausbäckige Gesicht und die humorvoll glitzernden Augen. Kuralts Ruf gründete sich vor allen Dingen auf die vielen »Das ist Amerika«-Feuilletons, in denen er Episoden aus dem Alltagsleben in den Staaten erzählte. Um über seine anfängliche Verlegenheit hinwegzutäuschen, machte Pete dem Korrespondenten das erste Kompliment, das ihm in den Sinn kam. »Ich… ich bin froh, daß Sie wieder die ›Das ist Amerika‹-Stories bringen. Es freut Ihre Zuschauer bestimmt, nicht immer nur Kriegsberichte zu hören, sondern auch einmal wieder etwas anderes zu sehen.« »Danke, Pete«, lächelte Kuralt. »Es kommt mir darauf an, den Leuten dann und wann mal wieder Grund zum Lächeln zu geben.« Pete blinzelte überrascht, als er seinen Namen hörte. »Sind wir uns schon einmal über den Weg gelaufen?« »Nein, nein. Aber ich bin seit vielen Jahren ein begeisterter Baseball-Fan.« Pete trat ein wenig näher an den Korrespondenten heran und fragte in vertraulichem Tonfall: »Ist es nicht gefährlich, so kreuz und quer durchs Land zu reisen?« »Wir versuchen zwar, in den sicheren Gebieten zu bleiben, aber gewisse Risiken lassen sich natürlich nicht vermeiden«, antwortete Kur alt. Pete reichte ihm die Hand. »Geben Sie auf sich acht. Sie werden noch gebraucht.«
»Und Sie ebenfalls. Die Mitglieder der Widerstandsbewegung lassen sich nicht ohne weiteres ersetzen. Fischen Sie gern?« »Klar.« Pete lachte. »Ich bin in Virginia aufgewachsen, in der Nähe eines Flusses.« »Wenn dies alles vorbei ist… Was halten Sie davon, wenn wir einen Angelausflug machen, bei mir zu Hause in North Carolina?« »Gern«, sagte Pete und nickte. Kuralt zog den Reißverschluß seines Parkas hoch, verabschiedete sich und ging nach draußen.
Denise Daltrey strich sich eine Strähne ihres schwarzen Haars ms der Stirn und sah auf, als es an der Tür ihres Büros klopfte. Pete sah herein, und die saphirblauen Augen der Journalistin blitzten erfreut auf, als sie ihn mit einem Lächeln begrüßte. »He, nett, Sie wiederzusehen!« Sie sprang auf und umarmte ihn. »In der Lobby bin ich Charles Kuralt begegnet. Hat mich zum Fischen eingeladen. Wenn der Krieg vorbei ist.« »Charlie ist ein dufter Typ. Nehmen Sie die Einladung an. Sie werden viel Spaß haben. Kaffee?« »Nein, danke. Wie läuft’s hier?« Denise setzte sich wieder hinter ihren Schreibtisch, und Pete sog sich ebenfalls einen Stuhl heran. »Wir arbeiten wie Irre. Es fehlen einfach Leute, die uns zur Hand gehen könnten. Außerdem unterstützen wir auch das Freedom Network. Es gefällt Howard K. Smith zwar nicht sonderlich, dauernd über den Krieg zu berichten, aber er war froh, sein Pensionärsleben aufgeben and wieder in seinem Beruf gebraucht zu werden.« »Kann ich mir denken. Ich finde es irgendwie beruhigend, Smith, Sevareid und Cronkite wieder auf der Mattscheibe zu
sehen. Ich meine, sie haben schon über den Zweiten Weltkrieg berichtet und erlebten auch, daß er zu Ende ging. Das ist ein gutes Omen. Und darüber hinaus betrachten sie die Dinge aus der richtigen Perspektive.« Denise brummte zustimmend. »Nun, zu Ihrer Bitte: Ich habe einige Nachforschungen angestellt…« »Und was ist dabei herausgekommen?« Denise fischte einen Schnellhefter aus einem Papierstapel und schlug ihn auf. »Neville More hat eine ziemlich bewegte Vergangenheit.« »Zum Beispiel?« Denise schien seine Frage gar nicht gehört zu haben, blätterte in den Unterlagen und fuhr fort: »Er ist fünfunddreißig, verdammt attraktiv…« »Ich weiß.« Pete runzelte die Stirn. »Das scheint für Frauen besonders wichtig zu sein.« »Er ist gewitzt, intelligent, charmant…« »Denise…« Sie hob ein Schwarz-Weiß-Foto hoch, das Neville More zeigte, offenbar eine PR-Aufnahme. »Es stimmt wirklich«, betonte sie. »Nun, wie dem auch sei: Er hat zweimal ein Vermögen gemacht und wieder verloren.« »Gleich zweimal?« »Mhm. Er fing ganz unten an, als ein Niemand von Oxford.« »Jemanden, der Oxford hinter sich hat, kann man wohl kaum als einen Niemand bezeichnen. Hat er denn einen Abschluß?« »Nein. Er verließ die Uni einfach. Ich habe in den Akten nachgesehen. Als Grund dafür, warum er sein Studium abbrach, gab More schlicht an, er habe alles Wichtige in Erfahrung gebracht.« »Der Kerl scheint nicht gerade an mangelndem Selbstbewußtsein zu leiden.«
»Wohl kaum. Als Zweiundzwanzigjähriger kam er in die Vereinigten Staaten und hatte nur fünfzig Dollar in der Tasche. Vier Jahre später war er zehn Millionen wert.« »Was erfand er?« »Das ist es ja gerade – er erfand überhaupt nichts. Aber er verstand es, vorhandenes Potential von Wissenschaftlern und Technikern so zu organisieren, daß etwas Konkretes dabei herauskam. Soll ich ins Detail gehen?« »Haben Sie Kopien für mich angefertigt?« fragte Pete. »Ja. Dieses Material hier ist für Sie bestimmt.« »Dann befasse ich mich später mit den Einzelheiten.« Er beugte sich interessiert vor. »Wie verlor er seine Millionen?« »Also, er verkaufte seinen Anteil an Magicomp für eine Riesensumme und investierte hier und dort – bis ihm jemand einen Strich durch die Rechnung machte. Wie gewonnen, so zerronnen«, fügte Denise mit einem Achselzucken hinzu. »Und was geschah später?« »Neville verschwand für einige Jahre von der Bildfläche. Manche Leute meinen, er sei die ganze Zeit über betrunken gewesen. Andere hingegen behaupten, er habe sich irgendwo verkrochen, um in aller Ruhe über sein Comeback nachzudenken.« »Was halten Sie davon, Denise?« »Keine Ahnung. Tatsache ist, daß er fünf Jahre später wieder ganz oben war und auf den Titelseiten aller Zeitungen und Magazine auftauchte.« Sie blätterte die Seite um. »Aha, so war das. Und daraufhin galt er wieder als Genie.« »Nein, nein«, widersprach Denise. »Nicht wieder. Beim erstenmal hieß es nur, er habe Glück gehabt, und als Neville mit seinen geschäftlichen Wagnissen Schiffbruch erlitt, herrschte allgemein Schadenfreude. In einem Interview sagte er einmal, er habe von Anfang an gewußt, ein Genie zu sein – oder wenigstens außerordentlich befähigt. Aber das wollte er
wirklich der ganzen Welt beweisen.« Die Mundwinkel der Journalistin zuckten von unterdrücktem Lachen. »Was ist daran so komisch?« »Nicht eigentlich komisch, eher sonderbar. Als die Zeitungen und Magazine erschienen, kaufte er von jeder Ausgabe tausend Exemplare und lagerte sie in seinem Haus. Dann und wann betrat er das entsprechende Zimmer und genoß den Anblick seiner Fotos auf den Titelseiten.« Pete seufzte. »Neville mag zwar ein Genie sein, aber er scheint in einem ausgeprägten Minderwertigkeitskomplex zu leiden.« Er zögerte. »Sie sagten eben, er habe zweimal ein Vermögen gemacht und wieder verloren.« »Genau. Während der nächsten Jahre führte er offenbar ein ruhigeres Leben, besuchte Opern und Museen und dergleichen. Kultur. Er wurde zu einem Patron der Künste und stiftete hier und dort Geld, sowohl in den Staaten als auch in Europa. Nach dem Erscheinen der Zeitungen und Magazine gab er praktisch keine Interviews mehr.« »Vielleicht ging ihm der ganze Medienrummel auf die Nerven.« »Möglich«, sagte Denise. »Aber andererseits nutzte er verschiedene Möglichkeiten, um dubiose Andeutungen in bezug auf eine wichtige technische Entwicklung zu machen.« »Worum ging es dabei?« »Eine seltsame Sache: Neville nannte nie irgendwelche Einzelheiten, bot nichts zum Verkauf an, erwarb auch keine Lizenzen. Und eines Tages meldete er schlicht und einfach Konkurs an.« Pete zwinkerte verwirrt. »Einfach so? Ohne irgendwelche Schlagzeilen?«
»Es hätte bestimmt Aufsehen erregt«, brummte Denise, »aber sehen Sie sich einmal das Datum an.« Sie drehte ihm den Schnellhefter zu. »Zwei Tage später kamen die Visitors«, sagte er leise. »Ja, und die Ankunft der Außerirdischen machte alle anderen Nachrichten bedeutungslos. Ich habe noch herauszufinden versucht, woran Neville damals arbeitete.« »Und?« »Ich konnte keine konkreten Informationen bekommen und mußte mich mit Gerüchten begnügen.« Pete sah sie erwartungsvoll an. Denise lachte leise. »Wer hat das meiste Geld in der Welt, um es in neue Computer und Software zu investieren?« »Himmel, keine Ahnung.« »Wie wär’s mit dem Pentagon?« Pete riß die Augen auf und nickte langsam. »Langsam beginne ich zu verstehen… Irgendein streng geheimes Forschungsprojekt? Das würde auch erklären, warum das alles keine Wellen schlug. Irgendwelche Beweise?« Denise schüttelte den Kopf. »Nicht die Spur.« »Hm. Schade. Was halten Sie denn von seiner Geschichte, er sei ständig auf Achse gewesen, um allen möglichen Computerspezialisten beim Kampf gegen die Visitors zu helfen?« Denise legte die Unterlagen auf den Schreibtisch und lehnte ich zurück. »Ich weiß nicht. Neville More ist eine wirkliche Kapazität auf diesem Gebiet, das steht eindeutig fest. Stimmt es, aß er jetzt im Laboratorium von Brook Cove arbeitet und Hannah zur Hand geht?« »Ja.« »Nun, wenn Sie wissen wollen, ob etwas mit ihm faul ist, so sollten Sie sich vielleicht im Labor umsehen und feststellen, ob er dort wirklich mit zupackt.«
Plötzlich schrillten Alarmsirenen. Pete war mit einem Satz auf den Beinen und rief: »Himmel, was hat das zu bedeuten?« Denise packte ihn bei der Hand und zog ihn auf den Korridor. »Kommen Sie!« Sie rannten zum Ende des Flurs und sahen aus dem Fenster. Dutzende von Personen hasteten und rutschten über die schneeglatte Straße. »Ein Luftangriff der Visitors?« brachte Pete Forsythe dumpf hervor. »So etwas ist schon seit Wochen nicht mehr vorgekommen.« »Wir sollten uns besser auf den Weg machen«, sagte Denise und lief in Richtung Treppe voran. »Die Schutzräume sind unten im Keller, ebenso die Fernschreiber. Wir erfahren als erste, was los ist.« Es waren offensichtlich nur wenige Angestellte im CBSGebäude, daher kam es auf der Treppe zu keinem Gedränge, schwere Stahltüren schirmten die Schutzkammer ab. Peter sah ich in dem großen Zimmer um, das stark einem Bunker ähnelte: Sandsäcke lagen neben Fernsehschirmen, einigen Computerterminals und anderen elektronischen Geräten. In einer Ecke standen Kisten mit Konservenbüchsen und Wasserflaschen. Es lief gerade eine Sendung des Freedom Network. Kaum jemand wußte, wo sich die geheimen Studios des FN befanden, nicht einmal die Widerstandskämpfer gehörten zu den Eingeweihten. Auf den Schirmen zeigte sich das ruhige Gesicht von Walter Cronkite, und der sprach betont gelassen, um eine Panik zu vermeiden. Pete sah, wie einige der anwesenden CBSTechniker stolz lächelten, als sie ihren alten Nachrichtensprecher sahen. »Hier ist Walter Cronkite vom Freedom Network. Die Behörden fordern alle Bürger New Yorks auf, unverzüglich die
Luftschutzkeller aufzusuchen. Die entsprechenden Schutzräume sind mit dem Symbol der Zivilverteidigung gekennzeichnet.« Für einige Sekunden wurde ein grafisches Zeichen eingeblendet, und dann erschien wieder Cronkite. »Skyfighter der Visitors nähern sich New York City. Die Flugabwehrkanonen im Bereich der Stadt werden derzeit von Widerstandskämpfern besetzt, und von den Militärstützpunkten in New Jersey starten Abfangjäger. Uns liegen noch keine Informationen über die Stärke der feindlichen Streitmacht vor. Es scheinen noch keine Gefechte stattgefunden zu haben. Bleiben Sie bitte in den Schutzräumen, bis Entwarnung gegeben wird. Verfolgen Sie weiterhin die Nachrichtensendungen in Rundfunk und Fernsehen. Wir melden uns sofort wieder, wenn wir neue Berichte bekommen, und bis dahin setzen wir unser normales Programm fort…« Pete blickte an die Betondecke und preßte die Lippen zusammen. Der Himmel über New York wurde jetzt zum Gefechtsfeld, und bei dieser Vorstellung ballte er unwillkürlich die Fäuste. Einige Techniker besetzten die Arbeitsplätze vor verschiedenen Geräten und hörten die einzelnen Frequenzen ab; die anderen kauten auf Snack-Riegeln und warteten. »Ich hasse es, die Hände in den Schoß legen zu müssen«, knurrte Forsythe. Denise sah ihn fragend an. »Würden Sie lieber nach draußen gehen und es riskieren, erschossen zu werden?« Pete nickte knapp. »Klingt ziemlich blöd, was? Während der ersten Jahre in Vietnam bekam ich das große Zittern, wenn ich nur an den Vietcong dachte. Jetzt aber ist meine erste Reaktion, zur Waffe zu greifen und das Feuer zu erwidern.« »So dumm hört sich das gar nicht an, Pete.« »Haben Sie jemals über einen Krieg berichtet – ich meine voller schmutzigen Sache in Vietnam?«
Denise schüttelte den Kopf und wurde sehr ernst. Ihr Blick eichte in die Ferne, und dort schien sie etwas zu sehen, was ihr Unbehagen bereitete – vielleicht die Kampfshuttles der Visitors, die New York angriffen…
7. Kapitel
Ein Dutzend Skyfighter schoß auf das Häusermeer der Metropole, und ein weiteres Shuttle drehte ab und nahm Kurs auf ein Ziel in Staten Island. Die hügelige, acht mal zwölf Meilen große Insel am südlichen Ende des New Yorker Hafenbeckens war viel dünner bevölkert als die anderen Stadtteile, unter anderem deswegen, weil erst in den frühen sechziger Jahren eine Fährverbindung geschaffen worden war. Der Fortschritt hatte allerdings auch Staten Island erreicht, in Form von großen Lagern chemischer Betriebe. Während sich die städtische Verteidigung vor allen Dingen auf das Gros der feindlichen Streitmacht konzentrierte, ging das einzelne Shuttle tiefer, aste dicht über dem Boden dahin und näherte sich dem Öltank-Lomplex an der Westküste. Zwei Männer in blauen Parkas standen in der Tür des kleinen Gebäudes, in dem die Büros des Rohöllagers untergebracht waren. Der Größere zog den Handschuh aus und putzte sich die Nase. Die Kälte hatte seine Wangen gerötet. »Verdammt, da sind sie«, sagte er, und Furcht vibrierte in einer Stimme. Sein kleinerer, stämmigerer Begleiter schüttelte den Kopf. »Wir hätten uns nicht darauf einlassen sollen, Ronnie. Ich meine…« Ronnie packte seinen Kollegen an den Schultern. »Willst du deine Frau und Kinder wiedersehen, Cassidy? Unsere Familien befinden sich doch noch immer in der Gewalt der verfluchten Echsen. Wenn wir uns nicht fügen, bringen die Visitors sie um.«
Der dunkelhaarige Mann fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht und unterdrückte ein Schluchzen. »Es waren gottverdammte menschliche Verräter, die unsere Frauen und Kinder den Außerirdischen ans Messer lieferten. Und wenn wir so weitermachen, sind wir nicht besser als sie.« Die Außenluke des Skyfighters schwang auf, und vier Gestalten in roten Uniformen stiegen aus. Sie trugen Atemmasken, um sich vor dem roten Giftstaub zu schützen. Die beiden Arbeiter beobachteten angstvoll, wie die Visitors Behälter in der Größe von Ölfässern aus dem Laderaum des Shuttles rollten. »Sind wir wirklich nicht besser als diese Verräter?« wiederholte Cassidy. »Wie soll ich dir darauf eine Antwort geben?« flüsterte Ronnie zurück. »Ich bin nur der Fahrer eines Tankzuges, und ich kann die verdammten Echsen einfach nicht ausstehen.« Seine Stimme klang plötzlich schrill. »Nein, ich bin kein Verräter, ebensowenig wie du.« Der Visitor-Captain kam auf sie zu, und hinter ihnen rollten die anderen Außerirdischen die Fässer über den Boden. Cassidy und Ronnie rückten enger zusammen. Schnee knirschte unter den Schritten der Uniformierten. »Gott vergib mir«, hauchte Cassidy. Er wich zurück, als der dunkelhäutige Captain auf seinen Kollegen zutrat. Obwohl der Himmel grau und trüb war, trugen die Visitors trotzdem dunkle Brillen. »Mr. Bortelli, Mr. Cassidy…« sagte der Außerirdische knapp. »Diana hofft, Sie halten sich an unsere Übereinkunft.« Ronnie Bortelli spürte plötzlich, daß er die Schultern hängen ließ. Entschlossen straffte er seine Gestalt und besann sich auf seine Würde. »Es bleibt uns keine Wahl. Sonst würden wir Ihnen ins Gesicht spucken.«
»Eine ziemlich eigentümliche Reaktion von euch Menschen. Aber Sie haben recht – es bleibt Ihnen tatsächlich keine Wahl. Vorausgesetzt natürlich, Ihnen liegt überhaupt etwas an Ihren Familien. Also, die Fässer dort enthalten die Substanz, die Sie in die Tanks mit dem Heizöl geben sollen.« Der Visitor reichte Ronnie ein zusammengefaltetes Blatt. »Das sind die Instruktionen. Befolgen Sie sie Wort für Wort – was nicht weiter schwierig sein dürfte. Könnten sich Probleme mit anderen Arbeitern ergeben?« »Heute sind nur wir im Dienst.« »W-wann sehen wir unsere Familien wieder?« fragte Cassidy. »Wann lassen Sie sie frei?« »Das fällt nicht in meinen Zuständigkeitsbereich«, erwiderte der Außerirdische. »Ich nehme an, Sie bekommen die Antwort auf diese Frage, sobald Sie Ihre Aufgabe erfüllt haben. Übrigens: Ich warne Sie. Die menschlichen Helfer, die sich in unserem Auftrag an Sie wandten, werden Sie weiter beobachten und uns sofort Mitteilung machen, falls Sie uns hereinzulegen versuchen. Wir erfahren unverzüglich, ob Sie sich an die Anweisungen liehen oder nicht?« Ronnie schob das Kinn vor. »Wir halten uns daran, keine Sorge. Aber wenn Sie uns angelogen haben, wenn Sie nicht unsere Familien freilassen, dann geht es euch an den Schuppenkragen.« Der Visitor-Captain nickte knapp. Ein sonderbares Geräusch kam aus seiner Atemmaske, ein heiseres Krächzen und Knurren, vielleicht das Lachen der Echsen. Dann gab er den drei anderen Außerirdischen einen Wink und kehrte mit ihnen zum Skyfighter zurück. »He!« rief Cassidy. »Ich muß aber genau wissen, wann wir unsere Angehörigen wiedersehen!« Die Visitors blieben nicht einmal stehen. Über die Schulter hinweg zischte der Captain: »Man wird sich zum gegebenen
Zeitpunkt mit Ihnen in Verbindung setzen. Wenn Sie es aber wagen sollten, den Behörden Bescheid zu geben, sterben Sie auf der Stelle.« Sie stiegen ins Shuttle. Der Antigravitationsantrieb wirbelte Staub auf, als der Skyfighter startete, beschleunigte und nach Südosten flog. Der Visitor-Angriff auf New York endete so überraschend, wie er begonnen hatte. Die Abfangjäger der amerikanischen Luftwaffe von den Basen in New Jersey waren kaum eingetroffen, doch die Skyfighter stellten sich ihnen gar nicht, sondern drehten ab und wichen den Jets aus. Zwanzig Minuten lang manövrierten sie über der Stadt, wahrten dabei eine sichere Distanz zu den Flugzeugen und feuerten nur auf Ziele am Boden. Dann plötzlich formierten sie sich wieder, beschleunigten und flohen. Die Jäger verfolgten sie nicht, statt dessen beobachteten die Piloten auf Radarschirmen, wie die Shuttles zum Mutterschiff zurückkehrten. Pete setzte sich mit der Zentrale für Zivilverteidigung in Verbindung und erhielt zu seinem großen Erstaunen die Auskunft, daß nur wenige Personen leicht verletzt worden waren. Man behandelte sie bereits in den Krankenhäusern. Zum zweitenmal heulten die Sirenen in New York, aber diesmal gaben sie Entwarnung. Walter Cronkite erschien wieder auf den Fernsehschirmen und verkündete unverändert ruhig, der Angriff sei abgewehrt worden und der Stadt drohe keine Gefahr mehr. Als Pete und Denise in das Büro in den oberen Stockwerken zurückkehrten, nahm Forsythe den Telefonhörer ab und rief Lauren bei der UNO an. »Ist bei euch alles in Ordnung?« »Ja, Gott sei Dank.« »Ich glaube, Gott hat damit kaum etwas zu tun.« »Wie? Was meinst du damit, Peter?«
»Keine Ahnung. Scheint ein eher halbherziger Angriff gewesen zu sein.« »Bist du etwa enttäuscht?« fragte Lauren. »Nein, nur verwirrt. Warum ordnet Diana eine Aktion gegen New York an, bei der keine wichtigen Gebäude zerstört werden?« »Vielleicht hat sich die Schlagkraft des Feindes verringert«, überlegte Lauren. »Die Visitors bewegen sich hier doch fern von der Heimat und bekommen keinen Nachschub. Die energetische Ladung ihrer Laser muß sich auch irgendwann erschöpfen. Und was ihre High Tech angeht: Ohne Ersatzteile lassen sich Defekte nur schlecht reparieren.« »Möglicherweise hast du recht«, sagte Pete und sah aus den Augenwinkeln, wie ihn Denise mit einem fragenden Blick bedachte: Sie hörte nur seinen Part in diesem Gespräch. »Aber?« »Aber ich bezweifle, ob sie überhaupt die Absicht hatten, New York City zu verheeren. Ich vermute eher, die Aktion diente nur zur Ablenkung.« »Und wovon sollte sie ablenken?« Pete atmete mit einem nachdenklichen Pfeifen aus. »Das weiß ich leider nicht. Und gerade das macht mir ja Sorgen. Oh, übrigens: Es tut mir leid, daß wir uns kein frühes Lunch leisten konnten. Wie wär’s mit einem frühen Abendessen?« »Ich nehme dein Friedensangebot an, Pete. Hol mich hier gegen vier ab, in Ordnung?« »Einverstanden. Was hältst du davon, wenn wir Guido wieder mal einen Besuch abstatten? Er kocht uns bestimmt irgendeine Spezialität.« »Und nachher?« fragte Lauren. »Oh, das überlasse ich ganz deiner Phantasie.«
»Diana, es bleibt uns nichts anderes übrig!« zischte Lydia so scharf, daß sich die anderen Offiziere im Kontrollraum zu ihnen umwandten. Die Kommandeuse wanderte unruhig auf und ab und konnte sich kaum mehr beherrschen. »Warum erfahre ich erst jetzt davon?« zischte sie. »Vielleicht wären Ihnen die Konsequenzen klargeworden, wenn Sie mich von Anfang an am Projekt beteiligt hätten«, spottete Lydia. »Wohl kaum«, erwiderte Diana. »Sind Sie sicher, daß diese Werte auch stimmen?« Sie deutete auf den Computerschirm: Auf dem Monitor leuchteten Dutzende von Buchstaben und Zahlen, und am unteren Bildschirmrand pulsierte ein roter Warnhinweis. »Ich habe sie selbst überprüft. Ihr geniales Projekt Eiswind verbraucht dreiundvierzig Komma neun Prozent mehr Energie, als von Ihnen berechnet.« »Für diesen Kalkulationsfehler bin ich nicht verantwortlich. Die Schuld trifft meinen wissenschaftlichen Stab.« »Der aber von Ihnen geleitet und kontrolliert wird, Diana. Es spielt jetzt auch keine Rolle, wer dafür die Verantwortung trägt – es kommt nur auf das Resultat an. Die Feldgeneratoren belasten die energetische Reserve der Mutterschiffe. Wenn Sie das Unternehmen nicht sofort einstellen, müssen wir mit irreparablen Schäden an den Reaktoren rechnen. Der Große Denker wird sicher nicht gerade erfreut sein, wenn er hört, daß sechs weitere Raumschiffe ausgefallen sind.« Diana kochte vor Wut. Sie wirbelte um die eigene Achse, machte zwei rasche Schritte und blieb wieder stehen, den Rücken Lydia zugewandt. »Also gut. Geben Sie den EiswindSchiffen die Anweisung, die Generatoren sofort abzuschalten und den normalen Patrouillenflug fortzusetzen.« Nachdenklich beugte sich die Kommandeuse über die Computerkonsole.
»Hm… Die Auswirkungen der Wettermanipulation dauern sicher noch einige Tage lang an, bevor die alte Klimastruktur wieder durchbricht. Dadurch habe ich also Zeit genug für mein nächstes Experiment.« Lydia biß sich auf die Lippe und versuchte, ihre Gefühle vor Diana zu verbergen. Sie hatte gehofft, von dem Fehler der Kommandeuse bald profitieren zu können, doch offenbar besaß diese noch ein paar Trümpfe mehr. »Was für ein Experiment?« »Ich gebe Ihnen Bescheid, wenn ich es für richtig halte«, erwiderte Diana kühl und ging zum Ausgang. »Mit diesen Worten haben Sie auch meine Fragen zum Projekt Eiswind beantwortet«, erwiderte Lydia. »Die Folgen Ihrer Geheimniskrämerei sind unübersehbar.« »Ich mache nie den gleichen Fehler zweimal, Lydia.« Das Schott schloß sich geräuschlos hinter Diana, und die stellvertretende Kommandeuse wurde sich plötzlich der neugierigen Blicke der anderen Offiziere bewußt. Der Wartungstechniker sah durch ein Bürofenster und beobachtete den Tankwagen vor dem Gebäude. Ein bärtiger Mann stieg auf der Beifahrerseite aus. »He, freut mich, euch zu sehen, Jungs!« rief der Techniker. »Wir brauchen dringend Nachschub.« Ronnie Bortelli winkte kurz und zog den dicken Schlauch aus dem Pumpsegment des Lkws. Der Mann im Büro runzelte die Stirn. »He, Mann, Freundlichkeit ist heute wohl ein Fremdwort für dich, was?« rief er spöttisch. »Was is’ los? Hat dich deine Frau nich’ rangelassen?« Bortelli blieb wie angewurzelt stehen und starrte zu dem jüngeren Mann hoch. Am Steuer schloß Cassidy die Hände fester ums Lenkrad und ließ den Kopf hängen. Eine Träne löste sich aus dem
Augenwinkel und lief ihm langsam über die Wange. »Möge Gott mir verzeihen«, murmelte er. Bortelli zerrte wütend an dem Schlauch und verband ihn mit dem Tankanschluß. Dann kehrte er zur Kontrollvorrichtung zurück und schaltete die Pumpe ein. Er versuchte, nicht darüber nachzudenken, welche Substanzen nun in die unterirdischen Behälter liefen. Der Wartungstechniker drehte sich um. »Was für blöde Typen«, murmelte er. »Verdammt, ich habe doch gewußt, daß es besser gewesen wäre, auf Gas umzusteigen.« Bortelli hörte rauhe Vogelrufe und sah auf. Weit oben flogen einige Gänse: Der plötzliche Wetterumschwung hatte sie so verwirrt, daß sie schon im frühen September nach Süden zogen. Während er ihnen nachsah, erinnerte sich Bortelli an die gewaltige Scheibe des Visitor-Mutterschiffes über New York. Nach dem Einsatz der bakteriologischen Waffe gegen die Außerirdischen war es in den Weltraum zurückgekehrt. Alle wußten, daß sich die zweite Invasionsflotte von ihrem Umfang her zwar nicht mit der ersten vergleichen ließ. Aber in einem der Schiffe, die nun wieder über der Erde schwebten – in dem riesigen Diskus über Südkalifornien –, befand sich Diana, die gefährlichste Gegnerin der Menschheit. Bortellis Vorrat an Tränen hatte sich längst erschöpft; tief in sich spürte er nur noch eine dunkle Leere, die Gefühle wie Kummer, Niedergeschlagenheit und Verzweiflung aussperrte und nur noch Platz ließ für Haß – Haß auf die Visitors und sich selbst.
Diana lag in der Koje ihrer Kabine und genoß die angenehme Dunkelheit. Als der Kommunikator summte, streckte sie den Arm aus und betätigte eine Taste. »Ich wollte nicht gestört werden«, sagte sie scharf.
Lydias Gesicht erschien auf dem kleinen Schirm neben dem Bett. »Ich erhielt gerade die Meldung, daß zwei Menschen die Operation abgeschlossen haben, die Sie als Phase zwei bezeichneten. Ich verlange von Ihnen eine Auskunft darüber.« »Sie sind nicht in der Position, irgend etwas zu verlangen«, erwiderte Diana eisig. »Dann steht diese Angelegenheit wohl in irgendeinem Zusammenhang mit den beiden menschlichen Familien, die Sie vor zwei Wochen entführen ließen?« Diana hob die Augenbrauen. »Wie kommen Sie denn darauf?« »Das Signal wurde ganz in der Nähe des damaligen Einsatzortes Ihrer Leute abgestrahlt. Was hat das zu bedeuten?« »Sie sind entschieden zu neugierig, Lydia. An Ihrer Stelle würde ich mir meine Worte genau überlegen.« Lydia preßte kurz die Lippen zusammen und schwieg einige Sekunden lang. Dann: »Wie lauten Ihre Befehle, Kommandeuse?« Diana lächelte zufrieden. »Setzen Sie sich mit unseren Agenten auf Staten Island in Verbindung. Geben Sie ihnen die Anweisung, sich um Cassidy und Bortelli zu kümmern!« »Sollen sie an Bord des Mutterschiffes gebracht werden?« »Das Risiko, mit einem Shuttle in diesem Gebiet zu landen, ist nicht mehr nötig. Bortelli und Cassidy müssen eliminiert werden, ebenso ihre Familienangehörigen. Was mit ihren Leichen geschieht, ist mir gleich…«
8. Kapitel
Denise Daltrey stützte sich am Armaturenbrett ab, als Randy Carter auf die Bremse trat und den mobilen Übertragungswagen in eine Parklücke lenkte. Hundert Meter vor dem vierstöckigen Gebäude hatte die Polizei bereits Absperrungen errichtet. Denise zog den Reißverschluß ihrer Ski-Jacke zu und stieg aus. Ihre beiden Mitarbeiter – Carter kümmerte sich um den Ton, und Suzy Myama bediente die Kamera – öffneten die Heckklappe des Wagens und griffen nach den Geräten. Denise sog die kalte Luft in tiefen Zügen ein und sah sich prüfend um. Mehrere Einsatzfahrzeuge von Polizei, Feuerwehr und Katastrophenschutz parkten mit eingeschalteten Blinklichtern jenseits der Absperrungen. Überall standen Bahren im Schnee, und darauf lagen Sterbende und Verletzte. Ärzte und Krankenpfleger hantierten mit Beatmungsgeräten und versuchten verzweifelt, noch einige der Schwerverletzten zu retten. Denise sah am Gebäude hoch und erkannte einige zerborstene Scheiben. Als sie den Blick senkte, sah sie drei Leichen. Offenbar waren die Betreffenden aus den Fenstern in den Tod gesprungen. Aber warum? Randy Carter trat neben Denise und reichte ihr ein Mikrofon. Dann setzte sich der Mann einen Kopfhörer auf. »Kein Rauch«, murmelte Denise. Carter neigte den Kopf zur Seite. »Bitte?« »Kein Rauch«, wiederholte die Journalistin. »Wurde denn ein Feuer gemeldet?«
Denise schüttelte den Kopf und deutete auf die drei Leichen vor dem Haus. »Aber irgend etwas muß die armen Kerle dort veranlaßt haben, aus dem Fenster zu springen.« »Lieber Himmel!« entfuhr es Suzy Myama, als sie ihre beiden Kollegen erreichte. »Chemische Dämpfe?« grübelte Carter. »Dies ist aber doch ein Bürogebäude und kein Chemiebetrieb«, wandte Denise ein. »Und dennoch scheint irgend etwas mit der Luft geschehen zu sein.« »Was haben Sie jetzt vor?« fragte Suzy. Denise überlegte kurz und gab sich dann einen Ruck. »Kommen Sie.« Zusammen mit den beiden Technikern ging Denise Daltrey an den Absperrungen vorbei und versuchte, sich in dem allgemeinen Durcheinander zu orientieren. Nach einer Weile erkannte sie einen blonden Haarschopf: Pete Forsythe saß neben einem Polizeiwagen und trank Kaffee aus einem Plastikbecher. »Pete!« Langsam hob er den Kopf. Sein Parka war von Blutflecken verschmiert, und die Kälte hatte seine Wangen gerötet. »Was ist hier passiert?« fragte Denise. Forsythe zögerte einige Sekunden, bevor er heiser und rauh antwortete: »Das weiß man noch nicht genau. Irgend etwas breitete sich im Gebäude aus, und daraufhin mußten die Leute husten und keuchen.« Denise konzentrierte sich auf ihre Aufgabe und holte einen Notizblock hervor. Sie nahm den rechten Handschuh ab und begann zu schreiben. »Todesfälle?« Pete schüttelte den Kopf. »Zumindest nicht aufgrund der Dämpfe«, schränkte er ein. »Aber es gab doch Tote, oder?«
»Ja. Einige Leute sprangen aus den Fenstern, bevor die Feuerwehr eintraf und Leitern ausfuhr.« »Wie viele?« »Fünf oder sechs. Ich weiß nicht genau. Es mag ziemlich hart klingen, aber… Es sieht einfach schlimmer aus, als es in Wirklichkeit ist.« Pete deutete auf die Bahren. »Den meisten gelang es rechtzeitig, das Gebäude zu verlassen, als sie Atemschwierigkeiten bekamen. Ich weiß noch nicht, was für eine Substanz da durch das Belüftungssystem in alle Räume geleitet wurde, aber eins steht fest: Manche reagierten recht schnell darauf, andere langsamer.« »Ist das normal?« »In medizinischer Hinsicht? Ja. Auch wenn ein Feuer ausbricht, dauert es bei einigen Personen länger, bis es zu einer ausgeprägten Rauchvergiftung kommt. Meine Güte, wenn derartige Häuser so gebaut würden, daß sich die Fenster öffnen lassen würden, hätten die Angestellten frische Luft schnappen können. Aber, wie dem auch sei: Wir nehmen an, daß alle, die aufgrund der unbekannten Substanz das Bewußtsein verloren haben, sich von der Vergiftung bald erholen werden. Man bringt sie in ein Krankenhaus, um sie dort zu behandeln.« Denise ließ den Notizblock sinken. »Ich hatte keine Vorstellung, was mich erwarten würde, als wir hierher unterwegs waren.« »Ich auch nicht«, gestand Forsythe. »Ich traf noch vor der Feuerwehr ein und versuchte erfolglos, das Gebäude zu betreten, im Pulk stürzten die Menschen durch die Tür und drängten mich zur Seite. Und als ich mir schließlich einen Weg in den Flur bahnen konnte, wurde mir dort schnell übel. Daraufhin machte ich sofort wieder kehrt. Als ich wieder klar sehen konnte, beobachtete ich, wie jemand im vierten Stock das Fenster mit einem Stuhl zertrümmerte. Er hielt sich am Sims fest, und ich rief ihm zu, er solle aushalten. Die
Feuerwehr sei auf dem Weg hierher.« Pete zögerte und schüttelte traurig den Kopf. »Diesen Anblick werde ich niemals vergessen. Ich weiß nicht, ob er den Halt verlor oder wirklich springen wollte, aber…« Forsythe brach ab. Denise berührte ihn an der Schulter. »Ach, Pete…« »Machen Sie sich um mich bloß keine Sorgen.« Er zeigte auf die Toten im Schnee. »Die Kerle sind wesentlich schlimmer dran…«
Einen Tag später kam es in einer Einkaufsstraße zu einem ähnlichen Zwischenfall. Bürgermeisterin Alison Stein nahm das zum Anlaß, eine Krisenkonferenz anzuberaumen, und zu den Eingeladenen gehörten auch Peter Forsythe, als Arzt und Widerstandskämpfer, Lauren Stewart, der Leiter der Feuerwehr Bud Brinkerhoff, des weiteren Sam Yeager, Repräsentant der New Yorker Polizei, und Denise Daltrey. Die Bürgermeisterin beauftragte jemanden, belegte Brötchen und Kaffee zu bringen, und kam dann sofort auf den Kern der Sache zu sprechen. »Handelt es sich bei beiden Unglücksfällen nur um Zufälle?« Bud Brinkerhoff, ein untersetzter Mann mit rotem Haar und abstehenden Ohren, rieb sich das stoppelige Kinn. »Es wäre möglich – aber nicht wahrscheinlich«, sagte er. Yeager sah erst den Feuerwehrmann an und dann Alison Stein. »Ich bin der gleichen Ansicht.« Die Bürgermeisterin nickte langsam. »Vermutlich haben Sie ebenfalls den Verdacht, daß diese Sache irgendwie mit den Visitors in Zusammenhang steht, nicht wahr?« Ein zustimmendes Murmeln wurde laut, und Denise Daltrey runzelte besorgt die Stirn. »Aber in welchem?« »Kommt da die Journalistin in Ihnen durch?« fragte Pete Forsythe scherzhaft.
Alle lächelten, aber Bürgermeisterin Stein wurde sofort wieder ernst. »Genau aus diesem Grund habe ich Sie zu unserer Besprechung eingeladen. Sie sind an Ermittlungsarbeiten gewöhnt und verstehen es, scheinbar zusammenhanglose Dinge miteinander in Verbindung zu bringen, so daß sie ein einheitliches Bild ergeben. Deshalb brauchen wir Sie.« »Hm«, machte Denise. »Warum fordern Sie nicht die Polizei auf, eine entsprechende Untersuchung vorzunehmen?« Alison Stein beugte sich vor. »Ich möchte Aufsehen vermeiden. Wenn die Visitors dafür verantwortlich sind, so bestimmt auch menschliche Helfer. Wir leben glücklicherweise in einem Gebiet, das vom roten Staub geschützt wird. Das bedeutet aber auch: Die Außerirdischen können hier nicht selbst aktiv werden, sondern müssen ihre Schmutzarbeit von Menschen erledigen lassen. Vielleicht haben sie nicht nur bei den lokalen Behörden Agenten, sondern auch bei Polizei und Feuerwehr. Deshalb hatte ich die Idee, daß die Ermittlungen von Ihnen geleitet werden, von einer Person, deren Job es ist, Fragen zu stellen. Ihre berufliche Neugier wird also keinen Verdacht erregen. Also, was halten Sie jetzt davon?« »Eine ganze Menge. Ich bin einverstanden.« »Gut. Ich wußte, daß ich auf Sie zählen kann. Sie berichten mir persönlich.« Pete hob die Hand. »Alison, wie wär’s, wenn wir noch jemanden in unsere Gruppe aufnehmen?« »Wen denn?« »Hannah Donnenfeld. Sie ist die beste Wissenschaftlerin, die ich kenne, und vielleicht brauchen wir jemanden wie sie für die Daten, die wir bald bekommen.« Bürgermeisterin Stein nickte. »Klingt vernünftig. Weisen Sie sie aber darauf hin, wie wichtig strengste Geheimhaltung ist.«
»In Ordnung. Ich setze mich sofort mit ihr in Verbindung und sorge dafür, daß sie bis morgen früh Luft- und Heizölproben bekommt.« »Okay, ich danke Ihnen allen dafür, daß Sie sich heute abend hier eingefunden haben«, schloß Alison Stein die Versammlung und lehnte sich zurück. »Sie gehören verschiedenen Sparten an, aber ich verlasse mich darauf, daß Sie sich bei Ihrer Arbeit gegenseitig ergänzen. Denise, Ihre Aufgabe besteht darin, möglichst viele Informationen zu sammeln und daraus Schlüsse zu ziehen.« Sie zögerte kurz. »Ich hoffe, dies ist der letzte Notfall, mit dem wir uns beschäftigen müssen.«
Am nächsten Tag wurden zwei andere Bauten von unsichtbaren Giftdämpfen heimgesucht – ein weiteres Bürogebäude und ein Krankenhaus. Pete Forsythe half Dr. Hannah dabei, Proben für eine spätere Analyse zu nehmen. Bevor sie in ihr Laboratorium auf Long Island zurückkehrte, machte sie mit Pete einen Abstecher zu Alison Stein. »Ich habe den begründeten Verdacht, daß Heizöl in direktem Zusammenhang zu allen Unglücksfällen steht«, sagte Hannah im Büro der Bürgermeisterin. »Liegen Ihnen denn bereits Untersuchungsergebnisse vor?« Die alte Frau schüttelte den Kopf. »Wir haben noch nicht einmal mit den Testreihen begonnen. Aber alle vier Häuser wurden mit Öl geheizt. Sie sollten die Anweisung geben, entsprechende Heizanlagen vorübergehend stillzulegen – bis wir etwas Konkretes in der Hand haben.« Alison dachte einige Sekunden lang nach. »Hm – heute scheint ja zum erstenmal seit zwei Wochen wieder die Sonne, und die Temperatur stimmt ja auch wieder. Wenn die Visitors wirklich hinter dem Kälteeinbruch stecken, so haben sie es sich
inzwischen offenbar anders überlegt. Ja, ich glaube, ich werde Ihren Rat beherzigen. Aber ich kann das Heizen mit Öl nicht für immer und ewig verbieten. Der nächste Winter steht vor der Tür. Also brauchen wir so schnell wie möglich Analyseergebnisse.« »Wir geben uns die größte Mühe.« Hannah hob den Kopf. »So, ich glaube, das wär’s erst einmal. Fahrer, es kann losgehen.« Sie bedachte Pete mit einem auffordernden Lächeln.
Das Laboratorium von Brook Cove lag auf den hohen Klippen, von denen aus man eine herrliche Aussicht über Long Island Sound und den Oyster Bay Harbour hatte. Der erste Eindruck täuschte jedoch: Der größte Teil des Komplexes verbarg sich im Boden und war so vor der Neugier von Menschen und Visitors geschützt. Am Nachmittag lag der erste Bericht über die Heizölproben vor. »Einige Daten müssen noch bestätigt werden«, sagte Hannah Donnenfeld vorsichtig in ihrem unterirdischen Büro. »Aber eins steht jetzt schon fest: Das Öl enthält fremde Substanzen.« »Meinen Sie damit einen Stoff, den Sie momentan noch nicht bestimmen konnten«, fragte Pete Forsythe, »oder spielen Sie auf die Fremden an, die Außerirdischen?« »Ich meine die Visitors.« »Dachte ich mir. Und nun?« »Es kommt jetzt zu allererst darauf an festzustellen, woher das Heizöl stammt und wo die Fremdstoffe reingemischt wurden.« Pete nickte langsam. »Mir dämmert’s. Sie vermuten also, es könnte noch große Vorräte an gefährlichem Öl geben.« »Genau das«, sagte Hannah ernst.
Sie griff nach dem Telefon auf ihrem Schreibtisch. Auf ihren Tastendruck gab das kleine Gerät ein elektronisches Pfeifen von sich, und die alte Frau legte den Hörer auf die Gabel zurück. »Verdammter neumodischer Kram«, brummte sie. »Als Wissenschaftlerin sollten Sie eigentlich aufgeschlossener sein«, neckte sie Pete und lächelte. »Sind Sie so gegen den Fortschritt?« »Es widerstrebt mir sogar, Computer zu benutzen. Das überlasse ich meinen Mitarbeitern.« Dr. Donnenfeld stand auf und öffnete die Tür. »Mitchell, Neville, Sari – ich möchte euch sofort sprechen!« Sie verschränkte die Arme und wartete. Der mollige Mitchell Loomis wankte heran und salutierte fast. »Hallo, Pete«, sagte er, wobei sein Doppelkinn zitterte. Pete nickte nur und blickte dann auf Mitchells Füße. »Tragen Sie eigentlich ständig Pantoffeln?« »Hannah läßt mich nie raus«, beklagte er sich und runzelte die Stirn. »Armer Junge«, spottete Hannah. Kurz darauf traten Neville More und Sari Hand in Hand ein. Die alte Direktorin musterte sie finster. »Mitchell Loomis ist alles andere als ein Athlet, aber trotzdem war er schneller als ihr beide. Sie sollten schleunigst die Beine in die Hand nehmen, wenn ich Sie rufe, klar?« Pete wußte jetzt ein wenig mehr über More und fragte sich, wie das selbsterklärte Genie auf die gutmütige Diktatur Hannah Donnenfelds reagierte. Überraschenderweise zeigte sein Gesicht jedoch nicht die Spur von Auflehnung. Sari senkte verlegen den Blick. »Nun gut«, fuhr die Wissenschaftlerin fort. »Ich möchte, daß Sie noch einige Untersuchungen vornehmen. Mitchell, Neville – kurbeln Sie die Computer an. Ich erwarte eine vollständige Analyse der Fremdsubstanz in dem Heizöl, das in den vier
Gebäuden verwendet wurde. Versuchen Sie festzustellen, woher das Zeug kommt. Sari, Sie sorgen dafür, daß sich Ihre beiden Kollegen an die Molekularbiologie erinnern. So, und jetzt an die Arbeit.« Hannah scheuchte sie mit einer Handbewegung aus dem Zimmer. Sari und More machten sich unverzüglich auf den Weg, aber Mitchell zögerte noch und wartete, bis das Pärchen fort war. Dr. Donnenfeld sah ihn fragend an. »Hannah, warum verlangen Sie von mir, mit ihm zu arbeiten?« Die Direktorin seufzte. »Ach, Mitchell, hören Sie doch endlich auf damit. Sie wissen, daß er was auf dem Kasten hat.« »Er gefällt mir nicht«, erwiderte Mitchell ernst. »Und ich weiß nicht, ob man ihm vertrauen kann.« »Beruflicher Neid?« warf Forsythe ein. Mitchells Miene umwölkte sich. »Nein, Pete. Das hat damit ebensowenig zu tun wie seine Beziehung zu Sari.« Hannah bemerkte Petes Verwirrung. »Mitchell steht auf Sari«, erklärte sie. »Schon seit einer ganzen Weile. Ist ein offenes Geheimnis.« »Ich wußte nichts davon«, sagte Forsythe. »Alles halb so schlimm«, brummte Mitchell. »Liebeskummer hat noch niemanden umgebracht. Ich kann damit leben. Wenn es auf der Welt so etwas wie Gerechtigkeit gibt, wird Sari irgendwann ein Licht aufgehen.« »Und diese Sache steht in keinem Zusammenhang mit Ihrer Antipathie gegenüber Neville More?« vergewisserte sich Hannah. »Nein. Verdammt, ich bin doch kein pubertärer Knabe mehr, der die Welt durch einen rosaroten Filter betrachtet. Ich bin nach wie vor dazu in der Lage, Dinge einigermaßen objektiv zu beurteilen. Diese Fähigkeit hat noch niemand in Frage gestellt, oder?«
»Nein«, bestätigte Hannah. »Dann erlauben Sie mir bitte meinen Argwohn.« Dr. Donnenfeld trat an den jungen Wissenschaftler heran und legte ihm kurz die Hand auf die Schulter. »Mitchell, wir brauchen Nevilles Hilfe. Diesmal geht’s um ein dickes Ding.« »Ich kenne mich mit Computern aus. Fünf Jahre lang war ich gut genug.« »Und das sind Sie noch immer.« »Dann lassen Sie mich meine Arbeit machen.« »Verdammt, Mitchell, ich habe nicht die geringste Absicht, Sie aus dem Rennen zu werfen. Bitte verstehen Sie doch: Je mehr gute Leute sich mit dieser Angelegenheit befassen, desto schneller kommen wir voran. Nicht wahr, Pete?« Forsythe hob abwehrend die Hände. »Lassen Sie mich aus dem Spiel. Sie wissen ja, was ich von dem Typ halte.« Mitchell sah ihn überrascht an. »Ihnen ist er ebenfalls nicht geheuer?« »Ich weiß nicht«, Pete zuckte mit den Achseln. »Er erzählte doch wohl, er sei lange Zeit unterwegs gewesen, um anderen Laboratorien und Widerstandsgruppen zu helfen, ihre Computer auf Vordermann zu bringen. Aber ich frage mich, ob es ihm nur darum ging.« »Dagegen habe ich Pete versichert, daß Neville tatsächlich eine Kanone ist«, fügte Hannah hinzu. »Nun«, seufzte Pete, »wenn Hannah meint, er sei eine echte Hilfe, so kann ich dem wohl kaum widersprechen, Mitch.« »Mitchell«, sagte die Wissenschaftlerin langsam, »was gefällt Ihnen denn nicht an ihm? Warum fragen Sie sich, ob man ihm vertrauen kann?« Loomis schob die fleischigen Hände in die Taschen und ließ die Schultern hängen. »Er ist kein Hacker.« Hannah starrte ihn groß an. »Er ist kein Hacker? Und deshalb behagt es Ihnen nicht, mit einem weltberühmten
Computerspezialisten zusammenzuarbeiten, um die Visitors von der Erde zu vertreiben?« »Das verstehen Sie nicht«, verteidigte sich der unbeholfene Mann. Er wollte sich gerade umdrehen und das Büro verlassen. Aber Forsythe hielt ihn am Arm zurück. »Erklären Sie es uns bitte.« »Hacker sehen mir eher ähnlich, nicht More. Wir lieben Computer so sehr, daß wir dadurch zu Außenseitern werden, zu Einzelgängern. Neville More aber hat offenbar nie derartige Probleme. Im Stanford Laboratorium betrieben wir Forschungen für Künstliche Intelligenz, und wir brauchten dort einen Platz, um uns einfach einmal hinzuhauen. Na ja, irgend jemand stellte plötzlich fest, daß es zwischen der Decke und dem Dach einen kleinen Zwischenraum gab, und es dauerte nicht lange, bis wir uns dort alle Schlafplätze einrichteten! Einige von uns blieben wochenlang im Computerzentrum, ohne überhaupt noch zu wissen, ob es draußen Nacht oder Tag war.« »Klingt ziemlich verrückt«, brummte Pete. »Genau das meinte ich eben, als ich von Hackern sprach.« Mitchell hob entschuldigend die Arme. »Man mag das meinetwegen für verschroben halten, aber die Computer waren unsere ganze Leidenschaft – aber so wurden wir auch zu den besten Spezialisten auf unserem Gebiet. Aus irgendeinem Grund bezweifle ich, daß Neville More den gleichen Enthusiasmus mitbringt.« »Tut mir leid, Mitchell«, beendete Hannah das Gespräch. »Ich brauche euch beide. Es geht um eine sehr wichtige Sache. Trösten Sie sich einfach damit, daß er nicht ewig hierbleiben wird. Bestimmt zieht er bald weiter.« Der dickliche Mann nickte kurz. »Hoffentlich haben Sie recht.«
Mitchell schlurfte aus dem Zimmer, und sie klopfte ihm zum Abschied aufmunternd auf die Schulter. Dann drehte sie sich zu Pete Forsythe um. »Das wäre erstmal erledigt. Kümmern wir uns jetzt wieder um das verdammte Heizöl.«
Sam Yeager und Denise Daltrey hatten bereits mit den Nachforschungen begonnen und prüften die Unterlagen in alten Gebäuden, wo toxische Gase freigesetzt worden waren. Das Öl der Heizanlagen stammte jedesmal von einer Firma mit Sitz auf Staten Island. Sam rief Brook Cove an, um dem Laboratorium diese Informationen weiterzugeben. »Kennen Sie die genaue Adresse, Sam?« fragte Dr. Donnenfeld. »Ja. Ich schlage vor, Sie fahren mit Pete zu meinem Haus in Brooklyn. Ich treffe Sie dort, und wir machen uns von dort auf den Weg.« Als sie in Yeagers Ford saßen, erklärte der Polizist ihnen mehr. »Ich habe noch etwas anderes herausgefunden. Zwei Männer, die für diese Firma arbeiteten, sind plötzlich verschwunden.« »Wie meinen Sie das: verschwunden?« fragte Pete. »Sie scheinen sich einfach in Luft aufgelöst zu haben, wie vorher auch ihre Familien. Niemand weiß, was aus ihnen geworden ist.« »Und was vermuten Sie?« fragte Hannah, die auf dem Rücksitz Platz genommen hatte. »Erst einmal wissen wir, daß die Echsenkrieger hier immer noch menschliche Agenten haben. Einige von ihnen sind Leute aus der Gosse, die für Geld alles tun würden. Andere werden von den Visitors unter Druck gesetzt. Erpreßt.« »Und Sie glauben, daß das auch hier der Fall war?« fragte Forsythe nachdenklich.
»Ja. Ich gehe davon aus, daß die Außerirdischen zuerst die Familienangehörigen entführten und damit die beiden Arbeiter zwangen, das Heizöl mit irgendeinem unbekannten Zusatz anzureichern.« »Tja«, stimmte Hannah Donnenfeld zu, »wenn wir jenen Stoff auch in den Haupttanks finden, hätte Ihre Theorie einiges für sich. Wenn aber nicht, bleibt sie reine Spekulation.« »Und deswegen sind die beiden verschwunden?« fragte Pete weiter. Yeager zuckte kurz mit den Schultern. »Als sie den Auftrag ausgeführt hatten, hofften sie vermutlich auf eine Freilassung ihrer Frauen und Kinder. Statt dessen wurden sie aus dem Verkehr gezogen.« Als sie das Öllager erreichten, zeigte Yeager einem Angestellten seinen Dienstausweis. Dr. Donnenfeld nahm Proben aus den fünf großen Vorratstanks und kam dann zum Wagen zurück. »Ich hoffe, meine Leute machen gleich keine langen Gesichter, wenn ich wieder bei ihnen in Brook Cove auftauche«, ulkte sie und lächelte schief. »Manchmal glaube ich, sie sehen es am liebsten, wenn ich das Labor verlasse.« »Vielleicht liegen ja inzwischen konkrete Untersuchungsergebnisse vor.« Die alte Frau nickte. »Nichts wäre mir lieber, als wenn wir schon Analyseergebnisse hätten, mit denen wir dieses Zeug hier vergleichen können!« Sie schwiegen während der gesamten Rückfahrt, und Hannah Donnenfeld grübelte dabei über das Gespräch mit Mitchell und Pete nach, um das Unbehagen zu ergründen, das sich schon seit einer ganzen Weile auch in ihr regte. War mit Neville More wirklich etwas nicht in Ordnung? Und was hatte es mit der so ungeheuer romantischen Beziehung zwischen More und Sari auf sich? Die Mitarbeiter
von Brook Cove waren für Hannah fast so etwas wie ihre Kinder, und Sari spielte dabei die Rolle einer Lieblingstochter. Möglicherweise stand ihr jetzt eine schwere Enttäuschung bevor, so wie bei ihrer großen Liebe vor einigen Jahren, und diesen Kummer wollte Hannah ihr eigentlich ersparen. Einmal mehr fragte sie sich aber, ob Neville More es wirklich ernst mit Sari meinte – oder sich mit der zweiunddreißigjährigen Biologin nur die Zeit vertrieb. Schließlich wollte die Direktorin aber auch vermeiden, daß diese Romanze die Arbeit im Labor beeinträchtigte. Das durfte sie auf keinen Fall zulassen. Die alte Frau seufzte leise. Sie fühlte sich plötzlich erschöpft und ausgelaugt und sehnte sich danach, einfach die Augen schließen und einige Stunden lang schlafen zu können. Aber wahrscheinlich hielt die kommende Nacht wieder einmal viel Arbeit für sie bereit.
9. Kapitel
Zwei Männer in weißen Burnussen lagen bäuchlings auf einer Düne und beobachteten das schimmernde Wasser des Persischen Golfs. Kleine Fischerboote tanzten überall auf den Wellen, und Netze wurden ausgebracht. »Haben Sie sich schon mal auf diese Weise den Lebensunterhalt verdient?« fragte Lavi Mayer. »In meiner Familie gab es keine Fischer«, knurrte der andere Mann mit einem auffälligen britischen Akzent, der in deutlichem Kontrast zur Ausdrucksweise seines Begleiters stand. Lavi war ein Sabra, ein geborener Israeli, dessen Englisch eine kuriose Mischung aus verschiedenen Dialekten und Mundarten darstellte. Die Sonne brannte grell vom Himmel, und Lavi spürte schon ein heißes Prickeln auf Nase und Wangen. Hätte er bloß eine stärkere Schutzcreme verwendet! Der Mann mit dem britischen Akzent schien Gedanken lesen zu können, denn er seufzte: »Hier holt man sich wahrhaftig schnell einen Sonnenbrand.« Lavi Mayer verzog das Gesicht. »Neigen eigentlich Araber ständig dazu, über Offensichtliches zu sprechen, Abdul?« »Nur wenn der jüdische Partner Vorbereitungsversäumnisse bedauert«, konterte Abdul, grinste und strich sich über den dunklen Vollbart. Lavi stemmte sich auf den Ellenbogen in die Höhe, und dadurch rutschten seine Ärmel zurück. An seinen Armen zeigten sich dicke Muskelstränge. »Wie kommt ein netter Jude, der in zwei Jahren vierzig wird – wußten Sie das eigentlich? –
bloß dazu, neben einem Typen aus Saudi Arabien im Sand zu liegen, wie Prinz Charles? Na?« »In zwei Jahren feiern Sie Ihren vierzigsten Geburtstag? Na ja, das wundert mich nicht.« Der Israeli sah ihn verblüfft an. »Ach?« Abdul griff nach Lavis Kapuze und zog sie ein wenig zurück. »In Ihrem Haar zeigen sich bereits graue Strähnen. Was aber unseren Aufenthalt in der arabischen Wüste angeht – ich schätze, der Grund dafür wird uns bald klarwerden.« »Himmel, woher haben Sie eigentlich Ihren Akzent?« Abdul zögerte. »Ich, äh, war eine Zeitlang in England.« Dann spannte er sich plötzlich an und blinzelte einige Male. »Irgend etwas entdeckt?« fragte Lavi. Beide Männer griffen nach ihren Feldstechern und kontrollierten den wolkenlosen Himmel. »Verdammt!« fluchte Abdul. »Ich kann überhaupt nichts sehen.« Lavi ließ sein Fernglas wieder sinken. Der Araber streckte den Arm aus: Inzwischen konnte man die fünf Skyfighter der Visitors schon mit bloßem Auge erkennen. Alle Shuttles waren mit zusätzlichen Vorrichtungen ausgestattet worden und transportierten so die einzelnen Komponenten einer Bohrplattform. Abdul und Lavi beobachteten gespannt, wie die Skyfighter die Geschwindigkeit reduzierten, über dem Persischen Golf schwebten und sich schnell der Wasseroberfläche näherten. Ein Shuttle ließ ein roboterähnliches flaches Gerät hinab, das mit summenden Servomotoren sofort begann, die Einzelteile zusammenzufügen. »Technisch sind die Visitors wahrhaftig einfallsreich«, murmelte Lavi. »Ich schätze, in einer Stunde ist das Ding komplett und verankert.«
Abdul musterte ihn kurz. »Warum gehen Sie nicht zum Strand runter, um den Echsen auf die Schuppenschulter zu klopfen und sie zu ihrem Meisterwerk zu beglückwünschen?« »Entschuldigung.« Lavi zuckte mit den Achseln. »Was haben die damit vor?« »Ich habe nicht die geringste Ahnung«, erwiderte Abdul. »Aber wir sollten so schnell wie möglich nach Gamel zurückkehren und dem Hauptquartier über Funk Bericht erstatten.«
Der Präsident forderte Forsythe, Bürgermeisterin Stein und Dr. Donnenfeld mit einem Wink auf, es sich auf dem Sofa im Wohnzimmer bequem zu machen, und ließ sich dann in einen tiefen Sessel sinken. Morrow trug Jeans und ein rotes Flanellhemd. »Mr. President«, lächelte Hannah, »ich habe Sie schon seit einer Ewigkeit nicht mehr im Anzug gesehen.« Morrow schürzte kurz die Lippen. »Tja«, sagte er dann, »wir sind hier auch nicht im Weißen Haus. In dieser Hotelsuite mache ich so nebenbei Urlaub vom üblichen Protokoll.« Er räusperte sich. »Also, was haben Sie mir mitzuteilen?« Pete und die Bürgermeisterin sahen Dr. Donnenfeld an, die eine kleine Ledermappe hervorholte und aufschlug. »Die Analysen lassen gar keinen Zweifel mehr zu. Die Fremdsubstanz aus den Heizölproben haben wir auch in den Tanks auf Staten Island entdeckt.« »Also eine direkte Verbindung?« »Ja, Sir.« »Alison«, sagte Morrow, »haben sich eigentlich weitere Zwischenfälle dieser Art ereignet?« »Nein, Sir.«
»Ebensowenig wie in anderen Städten«, stellte der Präsident fest. »Es ist aber nur deshalb nicht zu einer Katastrophe gekommen«, warf Forsythe ein, »weil sich das Wetter wieder verbessert hat und die Heizungsanlagen ausgeschaltet werden konnten.« »Da wir gerade dabei sind: Wir können wohl davon ausgehen, daß die Visitors für den plötzlichen Temperatursturz verantwortlich waren.« Morrow sah auf, und seine Besucher nickten bestätigend. »Das heißt also, wir müssen mit ähnlichen klimatischen Überraschungen rechnen – und mit noch mehr kontaminiertem Öl. Dr. Donnenfeld, gibt es überhaupt eine Möglichkeit, vorhandene Ölreserven innerhalb kurzer Zeit zu prüfen?« »Das ist nicht ganz so einfach, Sir«, entgegnete die alte Wissenschaftlerin. »Allerdings müßten wir innerhalb einer gewissen Zeit auch ein Testverfahren entwickeln können, das unmittelbar zum Einsatz kommen kann, direkt an den Lagerstätten. Dann brauchen wir keine Proben mehr zu nehmen, um sie im Laboratorium zu untersuchen.« »Gut. Geben Sie mir sofort Bescheid, wenn Sie soweit sind. Wir müssen schnellstmöglich wissen, wieviel sicheres Öl uns für den kommenden Winter tatsächlich zur Verfügung steht.« »In Ordnung«, sagte Hannah. Stabschef Katowski und Staatssekretär Draper kamen eilig herein. »Mr. President«, begann Katowski nervös wie immer, und sein Adamsapfel tanzte auf und ab, »ich hielt es für besser, Sie sofort zu unterrichten.« Morrow musterte Leonards aschfahles Gesicht. »Eine schlechte Nachricht?« »Ich fürchte ja, Sir.« »Heraus damit.«
»Uns wurde gerade ein Bericht aus dem Mittleren Osten übermittelt«, sagte Nick Draper. »Es sieht ganz danach aus, als bauten die Visitors im Persischen Golf eine Bohrinsel. Hier ist die Karte.« Morrow beugte sich vor. Draper klappte seine Aktentasche auf, holte eine Weltkarte hervor und breitete sie auf dem Tisch aus. Pete, Hannah und Alison studierten die Eintragungen ebenfalls. »Hier genau finden die Konstruktionsarbeiten statt, Sir«, sagte Draper und tippte auf eine bestimmte Stelle vor der Küste Saudi Arabiens. »Eine strategisch wichtige Stelle?« fragte Morrow. »Leider ja. Genau dort befinden sich die größten Erdölvorkommen der Welt. Die arabischen Industrieanlagen konzentrieren sich bei Safaniya, und südlich davon, in Ras Tanura, gibt es viele Raffinerien und Warteplätze für Tanker.« »Was ist mit der militärischen Bedeutung, Nick?« »Kurz gesagt, Sir; einige arabische Nationen begriffen schon nach der ersten Invasion, wie wichtig es ist, die Rohstoffe zu schützen – besonders das Öl. Aus diesem Grund schufen sie eine gemeinsame Verteidigungstruppe, um die Erdölvorkommen abzusichern. Diese war zunächst hundertsechzigtausend Mann stark. Nur etwa die Hälfte davon überstand die ersten Kämpfe gegen die Außerirdischen. Sie wurden in die Defensive gedrängt – bis die Israelis ihre Hilfe anboten.« »Soll das ein Witz sein?« entfuhr es Hannah Donnenfeld. »Wollen Sie behaupten, Israelis und Araber arbeiten auf einmal zusammen?« »Ja«, bestätigte Pete. »Wußten Sie das bisher nicht?« »Meine Güte, ich bin Wissenschaftlerin. Politik interessiert mich nur am Rande.«
»Die Arbeit von Wissenschaftlern hat auch politische Konsequenzen«, wandte Forsythe ein. »Fast alle Staaten haben inzwischen erkannt, daß der Kampf gegen die Visitors wichtiger ist als nationalistische Erwägungen«, sagte Draper. »Israel gelang es, sein Territorium zu verteidigen. Das ganze Land wurde mobilisiert, und die Visitors hielten es für besser, zunächst einmal die arabischen Staaten zu erobern. Wie dem auch sei: Den Resten jener multinationalen Streitmacht und einem schlagkräftigen Widerstand gelang es immerhin, die Erdölfelder in Saudi Arabien zu sichern. Sie können allerdings nur verhindern, daß die Außerirdischen weitere Gebiete einnehmen, sie sind aber nicht in der Lage, offensiv gegen sie vorzugehen und sie zu vertreiben.« Morrow faltete die Hände und blickte nachdenklich auf die Karte. »Wann haben die Arbeiten an der Bohrinsel im Persischen Golf begonnen?« »Gestern abend, nach unserer Zeit«, antwortete Draper. »Und was haben die Visitors vor?« Der Staatssekretär zuckte mit den Schultern. »Das wissen wir leider noch nicht, Sir. Wir vermuten nur, daß sie die Lagerstätten anzapfen wollen.« Der Präsident schnalzte mit der Zunge. »Aus welchem Grund? Brauchen sie Erdöl? Wohl kaum.« Er wandte sich an Dr. Donnenfeld. »Ich weiß, daß Sie bereits eine Menge zu tun haben, aber ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie sich auch mit dieser Sache beschäftigen könnten. Einverstanden? Entwickeln Sie eine Theorie.« Damit war die Besprechung beendet. Pete begleitete die alte Wissenschaftlerin in die Eingangshalle des Hyatt Hotel. »Wie kommen Mitchell und Neville jetzt miteinander aus, Hannah?«
»Mitchell reißt sich zusammen. Er murrt und brummt dauernd vor sich hin, und um ganz ehrlich zu sein: Ich habe das langsam satt. Aber wenigstens macht er seine Arbeit.« »Und was ist mit Sari und Neville?« Die alte Frau hob die Augenbrauen. »Ich will mich mal so ausdrücken: Sie verleben eine recht angenehme Zeit.« Hannah kratzte sich an der Schläfe. »Ich hoffe nur, daß Sari nicht wie ein liebeskranker Teenager reagiert, wenn More sie schließlich verläßt.« »Sind Sie so sicher, daß er irgendwann geht?« Hannah dachte kurz nach und nickte dann. »Ja, eigentlich schon. Er ist einfach nicht der Typ, auf Dauer in einer Gemeinschaft zu arbeiten, als Kollege unter Kollegen. Ich glaube, er will alles selbst in die Hand nehmen und aus eigener Initiative tätig werden. Er liebt die Freiheit.« Etwas leiser fügte sie hinzu: »In aller Offenheit: Wenn ich an Saris Stelle die Wahl hätte zwischen Mitchell und Neville, würde ich mich sofort für Loomis entscheiden. Mit ihm könnte sie endlich einmal eine dauerhafte Beziehung aufbauen.« »Haben Sie ihm das gesagt? Ich glaube, er könnte ein wenig Zuspruch vertragen.« Hannah warf den Kopf in den Nacken. »Lieber Himmel, nein! Wenn er wüßte, daß ich ihn in Wirklichkeit More vorziehe, wäre er überhaupt nicht mehr zu ertragen! He, was halten Sie davon, eine alte Frau nach Hause zu bringen?« »Tja…« Hannah Donnenfeld hakte sich bei Pete ein. »Kommen Sie. Ein leckeres Essen gefällt Ihnen bestimmt. Ich verspreche Ihnen, daß Sie alles kochen dürfen, was Sie wollen.« Der junge Mann lachte leise. »Das ist ja wirklich ein tolles Angebot.«
»Sie könnten uns auch bei dieser Öl-Angelegenheit helfen. Sie haben Ihren Doktor zwar nur in Medizin gemacht, aber in Ihren Adern fließt trotzdem Wissenschaftlerblut.« »Und selbst ich bin solchen Schmeicheleien gegenüber nicht unempfindlich.«
»Eine Zeitlang spielte ich ernsthaft mit dem Gedanken, ein Astronomiestudium zu beginnen«, erzählte Sari, als sie neben Neville More über den schmalen Strand von Brook Cove wanderte. »Wieso?« fragte der Engländer. Die junge Frau lachte bei der Erinnerung leise vor sich hin, und Neville wich plötzlich ein wenig zur Seite. »Nein, nein, bleib ruhig bei mir.« »Ich dachte schon, ich hätte dich gekitzelt.« »Überhaupt nicht. Mir fiel nur wieder ein, warum ich mich für die Sterne zu interessieren begann. Wegen Spock.« »Spock?« »Hast du noch nie Raumschiff Enterprise gesehen?« Sari sah die Verwirrung in Mores Gesicht. »Ich meine die Fernsehserie. Mr. Spock mit den spitzen Ohren.« »Ach so. Ja, ich kenne einige Folgen. Aber ich verstehe nicht ganz, wo da der Zusammenhang ist.« »Also, Mr. Spock kam von einem anderen Planeten namens Vulcan. Als ich ihn zum erstenmal auf der Mattscheibe sah, war ich etwa zwölf Jahre alt und dürr wie eine Vogelscheuche. Schon damals galt ich als Eigenbrötlerin, und die anderen Mädchen wollten nicht mit mir spielen. Für Jungs interessierte ich mich noch nicht. Ich hatte das entsetzliche Gefühl, in dieser Welt gebe es für mich keinen Platz, aber als ich dann Spock sah… Als halber Alien war er ebenfalls ein Außenseiter und stand gewissermaßen zwischen den Fronten.«
»Hat diese Geschichte eine Pointe?« Sari verzog das Gesicht. »Ich weihe dich in die Geheimnisse meines Seelenlebens ein, und du machst Witze.« »Entschuldige. Erzähl weiter.« »Die Pointe ist: Spock war immer ganz kühl und beherrscht – und gleichzeitig unglaublich sexy. Wenn ich ihn im Fernsehen sah, lief es mir heiß und kalt über den Rücken. Tja, und deshalb wollte ich Astronomin werden: um den Planeten Vulcan zu entdecken und dort meinen ganz persönlichen Mr. Spock zu finden.« Neville beugte sich zu ihr herab und gab ihr einen Kuß. »Freut mich, daß du es dir anders überlegt hast.« »Mich auch. Komm.« Sari ergriff seine Hand. Gemeinsam liefen sie im Licht der Sterne über den Strand und erreichten kurz darauf einen alten Schuppen. »Hast du irgend etwas Bestimmtes im Sinn?« fragte Neville. Die junge Frau lächelte verschmitzt und sah ihm in die Augen. »Was glaubst du wohl?« Sie schlang die Arme um ihn. »Dort drin gibt es Matratzen und Decken…« »Ja, und wir könnten uns gegenseitig wärmen.« »Genau.«
»Lieber Himmel, ich bin ja völlig nackt!« entfuhr es Mitchell Loomis. Als er sich umsah, stellte er fest, daß er sich in einem unbekannten Wald verirrt hatte. Er fror, und außerdem knurrte ihm der Magen. »Ich muß nach Hause… irgend etwas essen…« Er wankte über einen Pfad, an hohen Bäumen vorbei, und schon nach wenigen Metern begann er zu laufen. Zu seiner großen Überraschung machten ihm die Steine und abgebrochenen
Zweige auf dem Boden überhaupt nichts aus. Als er den Kopf senkte, fiel sein Blick auf seine blauen Turnschuhe. Nach einer Weile hörte er Schritte hinter sich, und er lief rascher, schnappte keuchend nach Luft. Etwa hundert Meter legte er im Sprint zurück, dann blieb er stehen und horchte. Stille. Er sah über die Schulter. Nichts. Daraufhin drehte er wieder den Kopf… Und schrie. Neville More stand vor ihm und knurrte und lachte wie ein Irrer. Langsam kam er auf Mitchell zu, in der einen Hand ein langes Messer. Loomis riß entsetzt die Augen auf. Das Messer schien mit jedem Schritt größer zu werden, mit dem Neville sich näherte. More brauchte aber auch eine halbe Ewigkeit, um zwei oder drei Meter zurückzulegen. Das Messer wurde zu einem Breitschwert und glitzerte im Licht der Sterne. Mitchell gab einen schrillen Schrei von sich, sprang los und stürzte durchs Dickicht. Irgendwo hinter ihm brüllte More. »Warum klingt er wie Tarzan?« fragte sich Mitchell laut. Das Gellen begleitete ihn und schien in seinem Kopf widerzuhallen, von einem Ohr zum anderen. Er stürmte weiter, stolperte, fiel, stemmte sich wieder in die Höhe und hoffte darauf, irgendwo Zuflucht zu finden. Weiter vorn… weiter vorn… Es ist nicht mehr weit… nicht mehr weit… Ein grünliches Glühen schimmerte durch die Dunkelheit des Waldes und wurde allmählich heller. Das matte Leuchten erfüllte Mitchell auf seiner Flucht mit neuer Hoffnung und gab ihm die Kraft, immer weiter einen Fuß vor den anderen zu setzen. Er sehnte sich nach Sicherheit und Wärme. Er streifte einen niedrigen Zweig beiseite, sah das Paradies vor sich und blieb erleichtert stehen. Sein Verfolger schrie nicht mehr, aber er hörte Mores Schritte nach wie vor hinter sich.
Mitchell keuchte, gab sich einen Ruck und taumelte dem grünen Glanz entgegen. Während er noch seine letzten Energiereserven mobilisierte, streckte der hausgroße Computermonitor schon eine farbige Grafikhand nach ihm aus und drückte ihn an seine elektronische Brust. Endlich war er wieder zu Hause. »Zu Hause, zu Hause…« murmelte Mitchell. »In Sicherheit…« Er beugte sich vor. Als ihn ein gleichmäßiges Piepen irritierte, richtete er sich abrupt auf und stellte fest, daß er sich in seinem Zimmer befand. Kalter Schweiß machte den Schlafanzug klamm, und sein Herz pochte ihm noch immer bis zum Halse. »Meine Güte… das war der mit Abstand schrecklichste Traum, den ich jemals hatte«, sagte er zu dem Computermonitor. »Ich kann es einfach nicht fassen. Bestimmt habe ich das Neville More zu verdanken – aber du hast mich gerettet.« Er zögerte und holte tief Luft, um sich wieder zu beruhigen. »Aber wie dem auch sei: Ich spreche mit einem Bildschirm. Na ja, immerhin hast du mich geweckt und von dem Alptraum befreit. Und jetzt könnte ich eigentlich ein wenig auf der Tastatur herumspielen, um mich zu entspannen. Woran hab’ ich heute gearbeitet? Ah, ja…« Er gab den Zugangscode ein und runzelte die Stirn, als ihm der Computer mitteilte, die Datei sei über das Hauptterminal geöffnet worden und stünde derzeit anderen Usern nicht zur Verfügung. Der Ärger, der in ihm hochstieg, wurde rasch von Neugier verdrängt. Er blickte auf die digitale Anzeige der Schreibtischuhr. »Wer benutzt denn den Computer um drei Uhr nachts?« Einige Sekunden lang suchte Mitchell nach seinen Pantoffeln – und bemerkte dann überrascht, daß er tatsächlich blaue Turnschuhe trug. Es lief ihm kalt über den Rücken und leise murmelte er: »Es gibt für alles eine vernünftige Erklärung.«
Als er die Betontreppe herunterging und sich den Laborräumen näherte, versuchte er so leise wie möglich zu sein, wie es einem übergewichtigen Computerspezialisten überhaupt möglich ist. Auf Zehenspitzen schlich er um die Ecke und sah, daß im Computerzimmer tatsächlich Licht brannte. Unsicher blieb er stehen und fragte sich, was er jetzt unternehmen sollte. Vielleicht geht überhaupt nichts Unmögliches vor sich. Aber andererseits: Möglicherweise lauert Neville More mit einem Messer von der Größe Floridas auf mich. Warum kehre ich nicht einfach in mein Zimmer zurück und krieche unter die Decke? Nein, bestimmt finde ich nicht eher Ruhe, als bis ich weiß, was hier los ist. Wenn More versucht, mir die Kehle durchzuschneiden, schreie ich laut und bitte den Computer um Hilfe. Das hat schon mal geklappt… Er machte den ersten Schritt, und die anderen fielen ihm plötzlich leichter. Vorsichtig spähte er in den Computerraum und sah tatsächlich Neville More, der an einem Gerät saß. Mitchell verdrängte seine Furcht, atmete tief durch und trat ein. »Sind Sie ein Nachtschwärmer, More?« fragte er scharf. Der Engländer zuckte so heftig zusammen, daß er fast vom Stuhl gefallen wäre. Insgeheim verspürte Mitchell bei dieser Szene tiefe Genugtuung. Dies entschädigt mich für den Alptraum, dachte er. Nach einigen Sekunden wurde ihm noch dazu deutlich, daß More merkwürdigerweise noch immer viel zu überrascht war, um Antwort zu geben. Es wird immer besser! Loomis hätte sich am liebsten zufrieden die Hände gerieben. Statt dessen trug er eine unschuldige Miene zur Schau. »Tut mir leid, alter Knabe. Wollte Ihnen keinen solchen Schrecken einjagen. Ich konnte nicht schlafen und bin hierhergekommen, um mich ein wenig zu entspannen. Da dachte ich mir: Warum nutzt du die
günstige Gelegenheit nicht, einige Arbeiten in Ruhe fertigzukriegen? Ihnen ging es ja wohl ebenso.« »Tja, äh, Sie haben völlig recht.« »Nun, bei echten Genies wie uns läuft der Verstand Tag und Nacht auf Hochtouren, was?« Mitchell lächelte gutmütig. Neville gab rasch noch einen Code ein und schloß hastig die Datei, an der er gearbeitet hatte. Dann wandte er sich zu Loomis um. »Oder wollen Sie jetzt ein wenig auf den Tasten herumklimpern?« »Ich? Nein, nein. Ich schätze, ich habe jetzt die nötige Bettschwere.« Mitchell gähnte. »Kommen Sie, ich begleite Sie zu Ihrem Zimmer.« Nevilles Mundwinkel zuckten kurz. »Danke.« »Nach Ihnen«, sagte Mitchell. Er wartete, bis More das Zimmer verlassen hatte, und schaltete dann das Licht aus. Ich frage mich, was du hier zu suchen hattest…
10. Kapitel
Obwohl er anderes geplant hatte, verbrachte Pete Forsythe den ganzen nächsten Tag damit, bei Dr. Donnenfeld und den anderen im Brook-Cove-Laboratorium zu arbeiten. In den unterirdischen Räumen herrschte angespannte Aktivität. Gegen Nachmittag aber legte Hannah eine Pause ein, und Pete begegnete ihr im Aufenthaltsraum. Mitchell, Sari und Neville More leisteten ihr ebenfalls Gesellschaft. »Kommen Sie, Pete«, sagte die alte Frau und winkte ihn heran. »Hören Sie sich das an.« Forsythe nahm am Ende der Couch Platz. »Haben Sie schon etwas herausgefunden?« Donnenfeld nickte. »Ich glaube schon. Ich bin jetzt sicher, daß es sich bei der fremden Substanz um ein genetisch manipuliertes Bakterium handelt, das weitaus mehr bewirken sollte als nur Atemnot und Hustenanfälle. Aber das ist noch nicht alles. Die Mikroorganismen ernähren sich von Öl, das bei ihnen eine erstaunliche Reproduktionsaktivität stimuliert.« »Mit anderen Worten: Es sind nur wenige Bakterien nötig, um einen großen Ölvorrat zu kontaminieren«, sagte Pete. »Genau. Ich bezweifle aber, daß die Visitors tatsächlich planten, jeden einzelnen Tank zu vergiften. Nein, Diana ist nicht auf den Kopf gefallen. Ich nehme an, sie will die Erdöllagerstätten im Boden bereits infizieren.« Forsythe brauchte einige Sekunden, um die ganze Tragweite dieser Vermutung zu verstehen. Zögernd zog er dann den Schluß: »Das würde angesichts der hohen Reproduktionsquote der Bakterien bedeuten, daß selbst die Förderung von neuem Öl keinen Sinn mehr hat.«
Hannah Donnenfeld nickte zustimmend. »Und an dieser Stelle kommt die Bohrinsel der Visitors im Persischen Golf ins Spiel. Sie dient wahrscheinlich dazu, die unterirdischen Vorkommen zu verseuchen. Wenn nichts dagegen unternommen wird, könnte es den Außerirdischen binnen kürzester Zeit gelingen, den Großteil der Erdölvorkommen auf diesem Planeten für uns unbrauchbar zu machen.« »Sie brauchen kein Öl«, warf Neville ein. »Ihre Energie stammt aus anderen Quellen. Aber wir sind erledigt, wenn wir keinen Nachschub bekommen. Und das weiß Diana ganz genau.« Mitchell erbleichte. »Also ist es mit uns aus.« Hannah bedachte ihn mit einem zornigen Blick. »Was soll dieses apokalyptische Gerede?« Loomis schüttelte niedergeschlagen den Kopf. »Ich für meinen Teil sehe keine Möglichkeit, den Visitors einen Strich durch die Rechnung zu machen.« Die alte Wissenschaftlerin schürzte die Lippen. »Vielleicht können wir das gegen sie verwenden, was sie nicht über Öl wissen.« Forsythe kniff die Augen zusammen. »Ich verstehe nicht ganz…« »Die Außerirdischen entwickelten die Bakterien, um raffiniertes Öl zu verseuchen. Ich habe einige Experimente durchgeführt, und sie beweisen, daß die Mikroorganismen die geplante Wirkung nicht hervorrufen, wenn sie es mit Rohöl zu tun bekommen.« Neville starrte sie groß an. »Was? Wie ist denn das möglich? Die Visitors sind uns doch in technischer Hinsicht weit überlegen…« »Ja, aber sie sind nicht unfehlbar«, schmunzelte Hannah zufrieden. »Wir nennen sie nicht umsonst ›Außerirdische‹. Diese Welt ist unsere Heimat, nicht ihre. Sowohl die erste
Invasion als auch der jetzige Krieg machen deutlich, daß die Echsenflotte von Militärs befehligt wird und nicht etwa von Wissenschaftlern.« »Diana ist Wissenschaftlerin«, wandte Neville ein. »Aber ihr geistiger Horizont ist durch militärische Erwägungen bestimmt«, konterte Hannah. »Weshalb sind Sie da so sicher?« fragte Pete. »Die Visitors sind so sehr darauf versessen gewesen, den Planeten gleich ganz zu erobern, daß sie es für unwichtig hielten, ihn systematisch zu erforschen. Ihr Wissen über die Erde besteht aus einem Sammelsurium zufälliger Daten, die keine einheitliche Struktur bilden. Wenn wir uns ihre Enzyklopädie Terra ansehen könnten, hätten wir wahrscheinlich allen Grund zum Lachen.« »Und was bedeutet das für uns?« warf Sari ein. »Es bedeutet folgendes: Vermutlich hatten es die Echsen noch nie mit Öl zu tun, zumindest nicht mit unserem Petroleum. Nirgendwo steht geschrieben, daß verschiedene Welten unbedingt die gleiche Geologie aufweisen müssen. In der gegenwärtigen Form fühlen sich die Bakterien der Visitors in einem Rohöl-Lager nicht besonders wohl. Andernfalls hätte ihre biologische Aktivität weitaus ernstere Folgen. Denn wenn sich der Mikroorganismus erst im Rohöl reproduzieren kann, wäre seine Wirkung auf den Menschen tödlich.« »Woher wissen Sie das?« fragte Neville. »Ich habe mit Hilfe des Computers eine Simulation durchgeführt. Derzeit löst verseuchtes Öl lediglich Hustenanfälle und dergleichen aus. Doch wenn er sich auf Rohöl spezialisierte – nun, dann sähe die Sache völlig anders aus. Offenbar wissen die Visitors aber nicht, daß raffiniertes Öl viele destabile Komponenten enthält und auch ein anderes spezifisches Gewicht hat als unbehandeltes Petroleum.«
Pete Forsythe kratzte sich verwirrt am Kopf. »Wenn ich alles richtig mitbekommen habe, sieht die Situation also folgendermaßen aus: Erstens – die Visitors hatten keine Ahnung, daß es einen Unterschied zwischen Rohöl und dem raffinierten Endprodukt gibt. Zweitens – sie spezialisierten die Bakterien auf raffiniertes Öl. Drittens – alle Anzeichen sprechen dafür, daß die Außerirdischen damit die unterirdischen Lagerstätten verseuchen wollen, ohne zu wissen, daß sie aus Rohöl bestehen. Und schließlich viertens – Sie haben eine Möglichkeit gefunden, den Mikroorganismus so zu verändern, daß er in Hinsicht auf Rohöl noch aktiver wird, als es jetzt schon bei raffiniertem Öl der Fall ist.« Eine lange Pause folgte, und Hannah wartete auf Einwände. Nach einer Weile nickte sie. »Alles vollkommen richtig.« »Um einmal bösartig zu sein: Hannah, wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich den Echsen schleunigst die Formel für das verbesserte Bakterium verkaufen«, sagte Pete ernst. »Dann hätten Sie ausgesorgt.« Mitchell gestikulierte aufgeregt. »Augenblick, ich habe da noch eine Frage. Warum entwickelten die Visitors aber ausgerechnet einen Mikroorganismus, der raffiniertes Öl verseucht?« Dr. Donnenfeld breitete die Arme aus. »Es ist natürlich nur eine Vermutung, aber ich nehme an, sie begannen einfach mit einer Probe. Und diese Probe bestand zufällig aus raffiniertem Öl. Auf dieser Grundlage machten sich ihre Gentechniker dann erst einmal an die Arbeit.« Sari sah tief besorgt aus. »Und was geschieht, wenn sie doch noch entsprechende Experimente mit Rohöl vornehmen?« Hannah zuckte mit den Schultern. »Früher oder später kommen sie ohnehin dahinter und verbessern die genetische Formel so, daß die Aktivität der Bakterien die gewünschte
Wirkung zeigt. Ihr anfänglicher Fehler gibt uns nur eine Atempause.« Mitchell lachte leise vor sich hin. »Wenigstens wissen wir etwas, was die verdammten Biester aus dem All übersehen haben.« »Das stimmt«, bestätigte Hannah. »Und solange wir einen solchen Vorsprung haben, brauchen wir noch nichts ernsthaft befürchten. Aber wenn sie das herausbekommen, was wir wissen, beginnt der Countdown – und ›Null‹ heißt dann: Vernichtung aller Erdölvorkommen auf der Erde. Für alle Zeiten.« »Ist das, äh, alles aus den vorhandenen Computerdaten entwickelt worden und entsprechend gespeichert?« fragte Neville. »Nur zum Teil«, entgegnete Hannah. Sie tippte sich an die Stirn. »Ich habe da meinen eigenen Computer, und damit erledige ich den größten Teil meiner Arbeit. Auf diesen speziellen Rechner kann ich mich verlassen.« Pete streckte sich, gähnte und sah auf die Uhr. »Für heute brauchen Sie mich wohl nicht mehr, oder?« »Nein, eigentlich nicht, Peter. Sie waren uns heute eine große Hilfe. Wenn es Ihnen als Arzt zu langweilig wird und Sie als Wissenschaftler ein Betätigungsfeld suchen…« Pete Forsythe grinste, hob grüßend zum Abschied die Hand und ging auf die Tür zu. Neville und Sari verabschiedeten sich von ihm, blieben aber noch sitzen und tranken ihren Tee. Mitchell folgte Peter auf den Korridor und fragte leise: »Kann ich Sie kurz sprechen, Pete?« »Entschuldigen Sie, Mitchell, aber ich habe es ziemlich eilig. Ich habe das Gefühl, meine Sachen stammen noch vom letzten Monat, und mein Rasierapparat rostet langsam vor sich hin. Vor allem aber bin ich mit Lauren und ihrem Vater verabredet. Wenn es also nicht gerade um das Schicksal der Menschheit
geht, möchte ich jetzt eigentlich keine Zeit mehr verlieren.« Pete wartete keine Antwort ab und klopfte dem Freund auf die Schultern. »Wir unterhalten uns bei einer anderen Gelegenheit, okay?« Er war unterwegs, noch bevor Mitchell eine Antwort geben konnte. »Was machen Sie denn für ein Gesicht, Mitchell, alter Knabe?« fragte Neville betont herzlich. »Ach, nichts«, erwiderte der knapp und ging fort. More rieb sich die Hände. »Ich finde, wir sollten diese jüngste Entdeckung feiern.« Sari und Hannah sahen ihn verwundert an. »Bist du übergeschnappt?« platzte Sari heraus. »Begeistert es dich so sehr, daß die Visitors so zügig darangehen, unsere ganzen Energiereserven zu vernichten?« More straffte seine Gestalt. »Wie wär’s dann mit einem Abschiedsessen – um der menschlichen Zivilisation Lebwohl zu sagen?« »Ha, ha, ha«, knurrte Sari sarkastisch. Neville lächelte zaghaft. »Na ja, um ganz ehrlich zu sein: Eigentlich suche ich doch nur nach einem Vorwand, um euch mit einem meiner unnachahmlichen Dinner zu überraschen.« »Jetzt behaupten Sie nur noch, Sie seien auch ein ausgezeichneter Koch«, spottete Hannah. »Ich will ja nicht übertreiben, aber am Herd bin ich ein echter Meister.« »Wie bescheiden«, kommentierte Sari und grinste ebenfalls. »Unsere Lebensmittelvorräte stammen aber nicht gerade aus einem Delikatessenladen«, wandte Hannah Donnenfeld ein. »Oh, machen Sie sich darum bloß keine Sorgen. Ich habe die Kühlschränke schon inspiziert – sie enthalten alles, was ich brauche. Also, was halten Sie davon? Möchten Sie sich von mir verwöhnen lassen?«
Hannah zögerte kurz und nickte dann. »Wär’ mal eine Abwechslung. Ich habe schon mit Spiegeleiern Schwierigkeiten.«
Neville More hielt sein Versprechen und kochte eine einfache, aber köstliche Mahlzeit. Nach dem Essen schob Dr. Donnenfeld ihren Stuhl zurück, tupfte sich mit einer Serviette die Lippen ab, hob ihr Weinglas und sah den Engländer an. »Das war das beste Essen seit Jahren, Mr. More. Ich trinke auf Sie und Ihre kulinarische Magie.« Die zwölf anderen Wissenschaftler und Techniker am Tisch prosteten ihm ebenfalls zu. »Vielen Dank, Hannah. Es freut mich sehr, daß es Ihnen geschmeckt hat.« »Wo haben Sie denn gelernt, so zu kochen?« fragte die alte Frau. Neville lehnte sich zurück und lächelte. »Damals in Oxford. Ich teilte meine kleine Bude mit zwei anderen Studenten, und unsere Kochkünste beschränkten sich darauf, Hamburger zu braten und Konservenbüchsen zu öffnen.« Hannah schüttelte verwundert den Kopf. »Dann haben Sie es ziemlich weit gebracht.« »Wissen Sie, das Studium interessierte mich nicht sonderlich, und außerdem lernte ich eine junge Dame kennen. Ein As am Herd. Aber sie vertrat verbissen ihre Meinung, jeder Mann, der nicht gerade als Chefkoch arbeitet, müsse ein kulinarischer Analphabet bleiben.« »Sie haben dann all das gelernt, weil Sie sich herausgefordert fühlten?« Hannah deutete auf die Reste der Mahlzeit. »Ich möchte nicht unbescheiden klingen«, sagte Neville, »aber ich war schon immer der Überzeugung, daß man alles lernen und jedes Hindernis überwinden kann.«
Mitchell beugte sich vor, stützte die Ellenbogen auf den Tisch und leckte sich die Finger ab. »Geht es Ihnen dabei nur um Selbstbestätigung?« »O nein, Mitchell. Ich beneide Leute, für die das als Motiv genügt. Ich gehöre leider nicht zu ihnen. Im Grunde meines Wesens bin ich ein Spieler. Ich liebe es, um einen hohen Einsatz zu spielen.« Mitchell nickte. »Und worin bestand der Einsatz, als Sie kochen lernten?« Neville hob die Augenbrauen. »Ach, Mitchell – einerseits sind Sie so intelligent, und andererseits so verblüffend naiv. Ich traf eine Übereinkunft mit der jungen Dame: ein köstliches Essen gegen eine angenehme Nacht zu zweit.« Er lächelte hintergründig, als er Sari ansah. »Ich habe die Wette gewonnen. Und keiner von uns war enttäuscht.« Neville sah schnell auch zu den anderen Anwesenden. »Ich hoffe, Sie nehmen mir meine Offenheit nicht übel.« Hannah lächelte maliziös. »Sie erwähnten eben Ihre Spielleidenschaft. Ein interessantes Hobby…« Der Engländer versteifte sich unwillkürlich. »Ich spiele nicht, um mir die Zeit zu vertreiben, Hannah. Ich nehme die Sache sehr ernst. Und aus diesem Grund gewinne ich meistens.« »Zum Beispiel?« Neville überlegte kurz. »Als ich mein zweites Unternehmen aufbaute, gab es die üblichen Liquiditätsprobleme. Die ganze Geschäftswelt beobachtete mich und wartete nur auf den Konkurs. Meine Konkurrenten hofften, mir Unfähigkeit in der Betriebsführung vorwerfen zu können.« Er sah Dr. Donnenfeld an. »Die Zeitungen berichteten sowohl im Wirtschaftsteil als auch in den Klatschspalten über mich. Nett, nicht wahr? Ist nicht gerade sehr angenehm, wenn man durch den Schmutz gezogen wird. Wie dem auch sei: Ich brauchte dringend Geld, um meine Leute zu bezahlen, die besten Software-Entwickler
der ganzen Welt. Sie waren Individualisten wie ich, und ich wußte genau, daß ich sie mit leeren Versprechen allein nicht halten konnte.« Neville zögerte erneut und vergewisserte sich, daß ihm die anderen Personen am Tisch auch wirklich zuhörten. »Aus diesem Grund flog ich nach Las Vegas. Ich benötigte zwanzigtausend Dollar, um über die Runden zu kommen. Und nach einer Nacht an den Spieltischen war der Fall erledigt.« Amüsiert lächelte er und stand auf. »Wie wär’s jetzt mit dem Nachtisch?«
»Und was reizt dich an mir, Neville?« fragte Sari sanft. Sie sah im Schuppen am Strand durch das Fenster, blickte übers Meer und zog sich die warme Decke enger um die nackten Schultern. »In dir sah ich ebenfalls eine Herausforderung«, antwortete Neville More, der sich neben ihr ausstreckte. Die junge Frau lachte. »Ich? Himmel, ich war doch nichts als Ehrfurcht, als ich dir zum erstenmal begegnete.« »Tja, und die Herausforderung bestand darin, bei dir diese Haltung zu überwinden und dich dazu zu bringen, mich als ganz normalen Menschen zu erkennen.« Eine Zeitlang herrschte Stille. Sari beobachtete den glitzernden Ozean, und nach einer Weile fröstelte sie. »Brr! Langsam wird mir kalt.« Sie lächelte. »He, es ist doch deine Aufgabe, mich zu wärmen, oder?« Sie gähnte. »Müde?« fragte Neville und schlang den Arm um sie. »Mhm«, brummte sie schläfrig. »Normalerweise hast du den gegenteiligen Effekt auf mich.« »Wir haben alle einen langen anstrengenden Tag hinter uns«, erwiderte der Engländer.
Sari gähnte erneut, und als sie dann sprach, fühlte sich ihre Zunge in ihrem Mund taub wie ein Fremdkörper an. »Vielleicht ist auch der Wein zum Abendessen daran schuld. Übrigens: Kompliment. Auch als Koch hast du echt was drauf.« Neville stützte sie. »Was hältst du davon, wenn wir uns jetzt anziehen und ins Labor zurückkehren? Wird Zeit für dich, daß du ins Bett kommst…« Es fiel Sari immer schwerer, die Augen offenzuhalten. »Ich… ich glaube, du hast recht, Nevy.« Er zog ihr das Sweatshirt über, und Sari fröstelte erneut. »Ach«, murmelte sie und schmiegte sich an ihn. »Vielleicht haben wir noch ein wenig Zeit. Mir ist so kalt…« Und sie spürte, wie er auf diese Worte reagierte, wie Neville sie in die Arme nahm. Sie ließ es willig mit sich geschehen…
Helles Sonnenlicht glitzerte vor Saris Lidern. Sie blinzelte und dachte: Meine Güte, warum habe ich gestern abend nicht die Fensterläden geschlossen? Langsam kehrte die Erinnerung in ihr Bewußtsein zurück: Der Spaziergang am Strand von Brook Cove, der Schuppen, Neville Mores warmer Körper, seine zärtlichen Berührungen… »Offenbar hat er mich ins Bett gebracht«, murmelte sie. »Der Wein muß es wirklich in sich gehabt haben.« Sari richtete sich langsam auf und stellte fest, daß mit ihrem Gleichgewichtssinn irgend etwas nicht stimmte. Erst nach einigen Sekunden verschwamm das Bild vor ihren Augen nicht mehr. »Muß mich anziehen…« Aber sie trug noch die Jeans und das Sweatshirt vom Vortag. Müde sah sie auf die Uhr am Handgelenk. »Was? Es ist schon zehn! Die anderen halten mich bestimmt für eine Schlafmütze.«
Rasch verließ sie ihr Zimmer. Zwar fand die eigentliche Forschungsarbeit in den unterirdischen Anlagen des Laboratoriums statt, aber allen Wissenschaftlern, die sich in den engen Quartieren unten nicht wohl fühlten, standen auf den Klippen Hütten zur Verfügung. Einige Sekunden lang blieb Sari im Flur stehen und beobachtete die geschlossenen Türen. Vorsichtig klopfte sie. Alles blieb still. Daraufhin machte sie sich schnell auf den Weg ins Labor. Als sie die lange Treppe hinuntergestiegen war, die schwere Stahltür geöffnet und den Korridor erreicht hatte, sah sie überrascht, daß nur wenige ihrer Kollegen arbeiteten. Mitchell rannte mit gesenktem. Kopf aus Hannah Donnenfelds Büro und wäre fast mit ihr zusammengestoßen. »Oh, Entschuldigung«, brummte er und errötete verlegen. »Schon gut«, sagte Sari. »Ist Hannah sauer auf mich, weil ich verschlafen habe?« »Keine Ahnung – sie hat sich hier auch noch nicht blicken lassen.« »Was? Normalerweise steht sie doch noch vor uns auf.« Mitchell klang besorgt, als er erklärte: »Ich dachte bisher eigentlich, ihr wärt beide am Strand.« Bei dem Gedanken an einen Dauerlauf an den Klippen entlang wurde Sari erneut schwindelig. Sie stützte sich kurz an der Wand ab. »Dazu bin ich im Augenblick nicht in der richtigen Verfassung.« Mitchell musterte sie. »In der Tat.« »Treibt sich Neville hier irgendwo herum?« Loomis zuckte mit den Schultern. »Er ist mir noch nicht über den Weg gelaufen.« »Sie scheinen vollkommen fit zu sein, Mitch. Haben Sie gestern abend denn keinen Wein getrunken?« »Nur sehr wenig. Alkohol bedeutet mir nichts.«
»Ebensowenig wie mir. Das Zeug muß verdammt stark gewesen sein. Vielleicht ist es Hannah ebenfalls zu Kopf gestiegen. Besser, wir sehen einmal nach, ob sie noch schläft.« Mit Mitchell kehrte Sari nach oben zurück und ging zu der Hütte, die Hannah Donnenfeld als Unterkunft diente. Die Tür war nicht abgeschlossen. Die junge Frau zögerte einige Sekunden mit der Hand auf dem Knauf. Loomis bemerkte Saris Abwarten und meinte: »Öffnen Sie ruhig.« Sie holte tief Luft und machte die Tür weit auf. Das Schlafzimmer war leer und das Bett zerdrückt. Kissen lagen auf dem Boden, und das Laken sah so aus, als sei jemand von der Matratze gezerrt worden. Wortlos wirbelte Sari um die eigene Achse und stolperte auf die Hütte zu, die Neville More zugewiesen worden war. Mitchell folgte ihr schnaufend. Die junge Frau riß die Tür auf und stellte auf den ersten Blick fest, daß das Bett während der vergangenen Nacht nicht benutzt worden war. Loomis lehnte sich an die Wand und brummte etwas Unverständliches. »Sprechen Sie es ruhig aus, Mitch.« »Was denn?« Sari starrte ihn an, und Tränen standen in ihren geröteten Augen. »Daß er Hannah entführt hat.« »Wir wissen noch nicht, was geschehen ist.« »Mir scheint der Fall völlig klar zu sein.« Mitchell schwieg und mied ihren Blick. Erst nach einiger Zeit sagte er: »Wir sollten jetzt schnell Pete Forsythe anrufen. Und anschließend suchen wir nach irgendwelchen Spuren und Hinweisen.« Er schluckte. »Ich hoffe nur, daß wir Neville zu Unrecht verdächtigen…«
11. Kapitel
Der Mercedes rutschte über den groben Kies auf der Zufahrt zum Laboratorium. Vor den Hütten trat Pete voll auf die Bremse und stieg aus, bevor der Wagen noch ganz zum Stehen gekommen war. Mitchell Loomis wartete mit den anderen bereits und erklärte ihm die Lage mit wenigen Worten. »Nun?« fragte er abschließend, trat auf Forsythe zu und verschränkte die Arme. Pete lehnte sich auf dem Stuhl zurück und zuckte mit den Schultern. »Nun was?« »Glauben Sie, daß Neville Hannah entführt hat?« »Offenbar gibt es keine andere Erklärung für ihr Verschwinden. Aber wenn Sie mich danach fragen, wohin er sie gebracht haben könnte…« Mitchell drehte sich um und ging unruhig auf und ab. »Ich hätte da eine Idee.« »Ja?« Sari sah zu ihm auf. »Und?« »Ich glaube, More arbeitet für die Visitors. Und ich möchte wetten, Hannah befindet sich nun an Bord eines Mutterschiffes.« Sari zwinkerte verblüfft. »Ach, kommen Sie, Mitch. Warum sollte Neville ein Agent der Außerirdischen sein?« »Ich hoffte, Sie wüßten vielleicht eine Antwort auf diese Frage. Ich meine, Sie kennen ihn von uns allen am besten, Sari. Sie haben sich ihm ja regelrecht an den Hals geworfen.« Auf Saris Wangen bildeten sich rote Flecken; sie stand jäh auf, sprang auf den beleibten Computerspezialisten zu, ballte
die Fäuste und holte aus. Pete war mit einigen raschen Schritten neben ihr und hielt sie fest. »Au! Lassen Sie mich los!« Sie versuchte vergeblich, sich aus Forsythes Griff zu befreien. »Regen Sie sich ab«, sagte Pete. »Das gilt auch für Sie, Mitchell.« Sari ließ den Kopf hängen, und er merkte, wie sie wieder ruhiger wurde. »Ich weiß, was mit Sari los ist. Mir ergeht es nicht viel anders. Wenn ich mich gestern abend hätte durchringen können hierzubleiben, wäre das alles vielleicht nicht passiert.« Er sah Loomis an. »Warum fühlen Sie sich schuldig, Mitchell?« »Ich verstehe nicht ganz…« »Ach, kommen Sie. Sie wissen ganz genau, was ich meine. Die Art, wie Sie vorhin Sari angegiftet haben, deutet doch daraufhin, daß mit Ihrem Gewissen ebenfalls etwas nicht in Ordnung ist.« »Himmel, ich habe allen Grund, sauer auf sie zu sein.« »Moralapostel«, zischte die junge Frau leise. »Sie wissen doch alle, daß ich nichts von Neville More hielt, aber besonders unsere weiblichen Mitarbeiter vertraten ja die Ansicht, mein Motiv sei nichts weiter als Eifersucht.« Er gab einen abfälligen Laut von sich. »Okay. Es war mir zwar gleich, was meine Kollegen von mir dachten. Ich wußte, daß es für meine Abneigung einen ganz anderen Grund gab. Auf eigene Faust habe ich Nachforschungen angestellt, um in Erfahrung zu bringen, was es mit Mores Computerhilfe für Widerstandsgruppen auf sich hatte.« Sari stampfte mit dem Fuß auf. »Wurden Sie bitte endlich zur Sache kommen?« »Immer mit der Ruhe«, fauchte Mitchell. »Hannahs Leben steht auf dem Spiel!« entfuhr es der jungen Frau scharf.
Pete mußte erneut eingreifen. »Die Einzelheiten, Mitchell. Haben Sie irgend etwas über More herausgefunden?« »Ja. Ich habe drei Labors angerufen, von denen er behauptete, er sei dort gewesen. Zwei bestätigten, er hätte die Computersysteme verändert, um einen wirkungsvollen Kampf gegen die Visitors zu führen.« »Wie verwerflich!« spottete Sari. »Das ist noch nicht alles. Die dritte Gruppe teilte mir aber mit, ihre Rechner seien wenige Tage nach Nevilles Aufbruch ausgefallen.« Pete hob ruckartig den Kopf. »Und es steht eindeutig fest, daß More dafür verantwortlich war?« »Beweisen kann man nichts, aber es ist die einzige Erklärung, die einen Sinn ergibt.« Der junge Arzt stand auf und wanderte nachdenklich hin und her. »Verdammt, Mitchell. Warum haben Sie mir das nicht sofort gesagt?« »Das wollte ich ja, gestern abend. Aber Sie hatten es eilig.« In Saris Augen blitzte es auf. »He, das ist nicht fair! Sie hätten Pete ruhig erklären können, worum es ging. Oder dachten Sie etwa, daß er Ihre Gedanken lesen kann?« Mitchell wollte schon wieder aufbrausen, aber Pete Forsythe unterbrach ihn sofort. »Was ist mit Ihren Computern? Funktionieren sie noch?« »Muß wohl. Als wir gestern abend den Laden dichtmachten, war mit ihnen alles in Ordnung.« »Und heute morgen?« Sari zuckte mit den Schultern. »Wir sind erst spät aus dem Bett gekommen. Bisher hat noch niemand von uns versucht, mit den Rechnern zu arbeiten.« »Dann sollten wir erst einmal feststellen, ob uns Neville einen netten Abschiedsgruß hinterlassen hat«, schlug Pete vor.
Mitchell ging voran, und Pete und die anderen folgten ihm in den Computerraum. Zwei jüngere Wissenschaftler saßen dort an ihren Terminals und standen auf, als sich Loomis den Geräten näherte. »Irgend etwas stimmt nicht«, sagte Donna, eine dunkelhäutige Frau mit krausem Haar. Mitchell erstarrte förmlich. »Was meinen Sie damit?« »Kenny hat es zuerst bemerkt«, sagte Donna und nickte ihrem japanischen Kollegen zu. »Oh«, machte Loomis und verzog besorgt das Gesicht. »Ohoh…« Seine Finger huschten über die Tasten, und auf dem Bildschirm bildeten sich wirre Linien. Pete Forsythe verstand zwar nicht viel von Computern, aber als er auf dem Monitor nur grüne Zahlen und Buchstaben sah, die keinen Sinn zu ergeben schienen, ahnte er, daß mit dem Rechner irgend etwas nicht in Ordnung war. Die Mienen der Wissenschaftler spiegelten den Ernst der Lage wider. Fünf Minuten lang arbeitete Mitchell schweigend am Terminal und gab nur dann und wann ein leises Brummen von sich. Schließlich lehnte er sich ruckartig zurück und schlug die Hände vors Gesicht. Sari trat besorgt vor und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Mitch? Was ist denn los?« Loomis schnappte keuchend nach Luft und hob langsam den Kopf. »Der Mistkerl hat sowohl das RAM als auch die externen Datenspeicher mit einem Computervirus infiziert.« Pete runzelte verwirrt die Stirn. »Mit einem was?« »Bei einem Computervirus«, brachte Loomis mühsam hervor, »handelt es sich um eine spezielle Software, ein Programm, das von seinem Entwickler so gestaltet werden kann, daß es sich selbst reproduziert und wichtige Datenbestände zerstört. Es verbreitet sich ähnlich wie ein lebendiges Virus im menschlichen Körper. Und da Computer
für gewöhnlich miteinander in Verbindung stehen, kann dieses Zerstörungsprogramm auch andere elektronische Verarbeitungsanlagen erfassen.« Pete Forsythe versuchte, sich die möglichen Auswirkungen vorzustellen. »Vielleicht hat More die Computer der anderen Laboratorien ebenfalls auf diese Weise manipuliert, so daß es nur eine Frage der Zeit und des Zufalls ist, daß dort ähnliche Programme aktiviert werden. Können wir irgendwie eine Ausbreitung dieses ›Computer-Virus‹ verhindern?« »Ich habe mich vor einiger Zeit mit solchen Sicherheitsproblemen in Datenverarbeitungskomplexen beschäftigt«, warf Kenny ein. »Wenn man Computerviren rechtzeitig genug entdeckt, besteht die Chance, sie zu eliminieren. Aber das ist sehr schwierig, denn sie fallen einem ja erst auf, wenn sie schon aktiv sind. Darüber hinaus können sie sich in anderen Programmen ›verstecken‹, sogar in Daten, die über DFÜ-Leitungen anderen Rechnern übermittelt werden. Die ganze Sache ist außerordentlich kompliziert. Denken Sie an die Inkubationszeit normaler Viren: Der Infizierte spürt zunächst überhaupt nicht, daß er sich angesteckt hat. Und wenn die Krankheit ausbricht, ist es bereits zu spät.« »Und das bedeutet?« Der Japaner erklärte ernst: »Es bedeutet, daß Mores Viren vielleicht schon Zeit genug hatten, andere Speicher und Programme zu infizieren. Es ist sogar denkbar, daß es ihnen gelingt, alle wichtigen Computer – damit meine ich insbesondere diejenigen, die in wissenschaftlichen Laboratorien und in militärischen Basen verwendet werden – sowohl in den USA als auch in vielen anderen Staaten außer Gefecht zu setzen.« Petes Gedanken rasten. Er versuchte, so schnell wie möglich die jüngsten Informationen zu verarbeiten und das weitere
Vorgehen daraus abzuleiten. »Also gut. Kenny, Sie scheinen von dieser Sache eine Menge zu verstehen. Mitchell soll Ihnen die Adressen der anderen Laboratorien geben, denen Neville More einen Besuch abstattete. Setzen Sie sich mit ihnen in Verbindung. Sie müssen auf die Gefahr hingewiesen werden und unverzüglich versuchen, die Computerviren zu isolieren und die infektiven Programme zu löschen. Außerdem müssen wir unbedingt alle anderen Computerzentren benachrichtigen.« Mitchell griff in die Tasche, holte einen zusammengefalteten Zettel hervor und reichte ihn Kenny. Der Japaner drehte sich auf den Absätzen um und verließ das Zimmer. »Ich begreife das nicht«, brachte Sari hervor. »Warum wurde Neville More zu einem Saboteur?« Sie schlug mit der Faust auf den Tisch. »Verdammter Mist – ich habe mich von ihm reinlegen lassen. Er hat mich einfach um den Finger gewickelt.« Pete klopfte ihr tröstend auf die Schulter. »Uns ging es doch nicht viel anders. Wir alle hatten reichlich Gelegenheit, Fragen zu stellen. Wir wußten, daß mit ihm irgend etwas nicht stimmte, aber wir ließen ihn trotzdem gewähren.« Sari schüttelte den Kopf und lachte bitter. »Hannah ist entführt. Neville hat unseren Computer unbrauchbar gemacht, und die Visitors sind auf dem besten Wege, unsere Ölvorräte zu kontaminieren, ohne daß wir etwas dagegen unternehmen können. Und das alles nur, weil wir gestern abend einmal ausgiebig getafelt haben. Wahrscheinlich war auch noch irgendeine Droge im Wein. More hat alles gut geplant.« Sie sah auf. »Ich möchte nur eins wissen: Warum?« Forsythe seufzte. »Vielleicht können Sie mit ein paar Hinweisen etwas anfangen. Nach der ersten Begegnung mit ihm stellte ich einige Nachforschungen an. Denise Daltrey nahm sich die CBS-Unterlagen vor, und dabei fand sie einige interessante Dinge heraus. Erinnern Sie sich an die
Gesellschaft, die er vor einigen Jahren gründete? Zwei Tage vor der Ankunft der Visitors meldete er Konkurs an.« Sari musterte ihn skeptisch. »Und? Was hat das mit seiner möglichen Agententätigkeit für die Visitors zu tun?« Mitchell räusperte sich. »Ich habe mich auch mit einigen Leuten unterhalten, mit Forschern und Wissenschaftlern der Laboratorien, die Neville vor uns besuchte. Einige von ihnen kannten ihn ziemlich gut. Offenbar arbeitete er an einer wichtigen Sache, bevor sein zweites Unternehmen Pleite machte. Man munkelte von finanziellen Problemen. More versuchte sie zu lösen, indem er Aktien verkaufte, und zunächst hatte er wohl auch Erfolg damit. Dann ging’s an der Börse bergab, und gleichzeitig wurden hohe Rückzahlungssummen für Kredite und Darlehen fällig. Von einem Augenblick zum anderen brach alles zusammen.« »Weiß jemand, um was es bei dem geheimen Projekt ging?« fragte Pete. »Ja – um neue Software und Superchips fürs Pentagon. Sie war Teil der Planungen für ein Raketenabwehrsystem, das unter der Bezeichnung ›Krieg der Sterne‹ bekannt wurde.« Forsythe nickte. »Habe davon gehört. Aber die ganze Sache kam doch nicht über die experimentelle Phase hinaus.« »Das stimmt. More versicherte aber wohl den Verantwortlichen, er sei durchaus in der Lage, ihre Pläne zu verwirklichen.« »Und was geschah dann?« drängte Sari. »Vermutlich schaffte es More, einen langfristigen Vertrag abzuschließen – der ihn im Laufe der Zeit zum Milliardär gemacht hätte. Aber er log. Er stahl anderen Technikern und Ingenieuren ihre Ideen und gab sie als seine eigenen aus. Im letzten Augenblick wandte sich einer dieser Leute an die Regierung, packte aus und meinte, die gestohlenen Konzepte taugten ohnehin nichts. More war außer sich und beteuerte
seine Unschuld. Er schwor, die Industrie habe sich gegen ihn verbündet, weil sie einen gefährlichen Konkurrenten in ihm sah.« Eine Zeitlang herrschte Stille. »Ich würde gern wissen, was ihm die Visitors alles als Gegenleistung für seinen Verrat angeboten haben«, sagte Mitchell leise. »Tja«, brummte Pete. »Spielt eigentlich keine Rolle. Wichtig ist nur eins: Neville erfuhr gestern abend, daß Hannah den Außerirdischen die Informationen geben kann, die sie brauchen, um ihre genmanipulierten Bakterien zu verbessern. Irgendwie muß es uns gelingen, Hannah zu befreien, bevor…« Forsythe stellte sich vor, wie Hannah Donnenfeld an Bord von Dianas Mutterschiff gefoltert wurde. Einem derartigen Verhör konnte kaum jemand standhalten. »Was sollen wir denn jetzt unternehmen?« fragte Mitchell schlicht. Pete holte tief Luft und ließ den angehaltenen Atem langsam entweichen. »Ich habe nicht die geringste Ahnung.«
12. Kapitel
Pete Forsythe rief den Präsidenten William Brent Morrow an und unterrichtete ihn von den Ereignissen im Brook-CoveLaboratorium. Morrow ordnete sofort an, alles in Bewegung zu setzen und dafür zu sorgen, daß Wissenschaftler und Verteidigungsexperten auf einen möglichen Ausfall ihrer Computersysteme hingewiesen wurden. Darüber hinaus leitete er eine landesweite Suche nach Neville More und Hannah Donnenfeld ein. Morrow vermutete allerdings ebenfalls, daß sich die Wissenschaftlerin inzwischen bereits in Dianas Gewalt befand. Ihm lag ein militärischer Bericht vor, daß ungefähr zum Zeitpunkt von Hannahs Entführung ein Skyfighter der Visitors im Luftraum über New York gesichtet worden war – was wohl kaum ein Zufall sein konnte. Der Präsident wies seinen Stab außerdem an, Kontakt mit der Widerstandsgruppe von Los Angeles aufzunehmen und Mike Donovan und Julie Parrish zu verständigen. Pete hatte bereits mehrmals mit den Widerstandskämpfern der Westküste zusammengearbeitet und dabei gute Erfahrungen gesammelt. Julie und Donovan hatten es schon mehrfach geschafft, Gefangene von Diana zu befreien, und vielleicht konnten sie auch diesmal helfen. Abgesehen von der Entführung Dr. Donnenfelds sah sich Morrow auch noch mit einem anderen Problem konfrontiert – mit Dianas Plan, alle Ölvorkommen zu kontaminieren. Ständig trafen neue Meldungen der verschiedenen Geheimdienste ein, und sie berichteten übereinstimmend, daß die Visitors im Mittleren Osten rege Aktivitäten entfalteten. Andere Gebiete
ignorierten sie dagegen einfach. Vermutlich diente die Bohrinsel im Persischen Golf erst einmal dazu, die Wirksamkeit ihrer Verseuchungspläne zu überprüfen. Die kritische Lage zwang Morrow zu einer wichtigen Entscheidung. Zunächst einmal mußte er davon ausgehen, daß die Visitors von ihrem Opfer über kurz oder lang alle gewünschten Informationen bekamen. Damit würden sie in die Lage versetzt, das Öl-Bakterium innerhalb kurzer Zeit zu verbessern und ihm wahrhaft verheerende Eigenschaften zu verleihen. Er zweifelte nicht daran, daß der Feind sofort daran gehen würde, die gewaltigen Ölvorkommen im Persischen Golf für die Menschheit unbrauchbar zu machen. Später kämen dann wohl die anderen Regionen der Erde an die Reihe. Morrow konnte daher nur hoffen, daß die kalifornischen Widerstandskämpfer bald einen Weg finden würden, Hannah Donnenfeld zu befreien, bevor es zur Katastrophe kam. Er setzte sich mit dem israelischen Premierminister in Verbindung. Avram Herzog war ein kleiner, schmächtiger, aber ein sehr energischer Mann, den der amerikanische Präsident sehr schätzte. Herzog teilte Morrow mit, aus dem Persischen Golf gebe es nichts Neues zu berichten. »Die Visitors arbeiten nach wie vor an der Fertigstellung ihrer Bohrinsel, Bill.« »Werden sie dabei beobachtet?« »Drei Agenten sind ständig am Ball – einer von uns, ein Saudi und ein Ägypter. Sie haben die Anweisung, uns sofort Meldung zu machen, wenn sich irgend etwas Neues ergibt.« »Gibt es eine Möglichkeit, die Visitors an ihrem Vorgehen dort zu hindern?« »Mit dieser Frage hatte ich bereits gerechnet«, antwortete Herzog. »Ich glaube, uns bleibt keine Wahl. Wir müssen einen Versuch wagen.«
»Eine ziemlich riskante Sache. Bestimmt erwarten die Außerirdischen eine Aktion unsererseits. Wahrscheinlich sind sie sogar überrascht, daß wir noch nichts gegen sie unternommen haben. Was ist mit Ihrer Luftwaffe?« »Nach wie vor einsatzfähig«, entgegnete der israelische Premierminister. »Viele gute Männer haben sich geopfert, um ihre Schlagkraft zu erhalten.« »Bei dieser Mission könnten die Verluste noch weitaus größer sein.« »Uns Israelis brauchen Sie nicht extra auf die Gefahren eines Krieges hinzuweisen, Bill.« Eine Stunde später starteten zehn Düsenflugzeuge mit dem blauweißen Davidsstern und nahmen Kurs auf den Persischen Golf. Diesmal ging es bei dem Kampf nicht nur um die Verteidigung der jüdischen Heimat, sondern um die Zukunft der ganzen Welt. Morrows und Herzogs Vermutung bestätigte sich: Die Visitors waren tatsächlich auf einen Angriff vorbereitet. Noch bevor die israelischen Jäger auf Sichtweite an die Bohrinsel heran waren, eröffneten Dutzende von Skyfightern das Feuer aus ihren Lasergeschützen. Lavi Mayer, Abdul ibn Aziz und Nefti, der dunkelhäutige Ägypter, beobachteten das Gefecht von den Dünen an der Küste aus. Zwei israelische Maschinen wurden getroffen und explodierten sofort. Ein dritter Jäger verlor eine Tragfläche und stürzte ab. Die sieben anderen Flugzeuge wichen den gleißenden Energiestrahlen aus und versuchten, nahe genug an die Bohrinsel heranzukommen, um sie unter Beschuß nehmen zu können. »He, seht euch das an!« rief Lavi und deutete auf eine Maschine, die unter den Skyfightern hinwegraste und immer
tiefer ging. Zwei andere Jäger versuchten, dem Beispiel des tollkühnen Piloten zu folgen. Ein greller Blitz flammte auf und leckte über den Rumpf des Flugzeuges. Zwei Explosionen zerrissen es, und die glühenden Trümmer fielen ins Meer. Die anderen Maschinen schalteten ihre Nachbrenner ein, beschleunigten und entfernten sich aus der Kampfzone. Lavi ließ niedergeschlagen die Schultern hängen, und Nefti beugte sich besorgt zu ihm herab. »Ich… ich bin schon noch in Ordnung«, murmelte er. »Sind Sie sicher?« fragte der Ägypter. »Ihr Israelis seid nicht daran gewöhnt, Verluste zu erleiden«, sagte Abdul leise. Lavi zuckte mit den Achseln. »Das stimmt wahrscheinlich. Aber diese Niederlage ist besonders schlimm.« »Noch haben wir nicht verloren.« Nefti schob trotzig das breite Kinn vor. »Tatsache ist aber, wenn wir gewinnen wollen, sollten wir uns verdammt schnell etwas einfallen lassen«, grübelte Lavi ernst.
Hannah Donnenfeld schlug die Augen auf, sah sich kurz um und schloß die Lider wieder. Langsam zählte sie bis drei – in der vergeblichen Hoffnung, aus einem bösen Traum zu erwachen. Trübes Licht glühte ihr matt entgegen, und der einzige vertraute Anblick war Neville More, der in dem kleinen Zimmer vor ihr saß. Die alte Wissenschaftlerin stellte fest, daß sie auf einer schrägen Koje lag, und verwirrt richtete sie sich auf. Die Wände waren glatt und fugenlos, abgesehen von einer kleinen Kontrolltafel mit Tasten und Sensorpunkten dicht neben der Tür. »Wie geht es Ihnen, Dr. Donnenfeld?«
Sie schürzte die Lippen. »Ich schätze, wir sind nicht mehr in Kansas, wie?« »Oh, ich verstehe – Der Zauberer von Oz.« Neville More lächelte dünn. »Sie haben Ihren Sinn für Humor nicht verloren.« »Aber auf Ihr ironisches Grinsen kann ich durchaus verzichten, Neville.« Sie zögerte kurz. »Vermutlich befinden wir uns an Bord von Dianas Mutterschiff, nicht wahr?« »Richtig getippt.« »Wenn ich für dieses Zimmer Miete bezahlen soll«, sagte Hannah verächtlich, »muß ich meine Gastgeber enttäuschen: Die Einrichtung ist miserabel.« »Ich fürchte, daran können wir nichts ändern… Aber was die ›Miete‹ angeht: Ich nehme an, Diana verlangt einen gewissen Preis für ihre Gastfreundschaft.« Hannah Donnenfeld stand auf und stellte fest, daß sie noch immer ihr dickes Flanellnachthemd trug. »Ich hoffe, sie hat nichts an meiner Aufmachung auszusetzen.« »Tut mir leid, Dr. Donnenfeld. Wir mußten Brook Cove ziemlich überstürzt verlassen.« Neville beobachtete die alte Frau, wie sie im Zimmer umherging und sich aufmerksam umsah. »Bin zum erstenmal an Bord eines Mutterschiffes«, erklärte sie. »Ich hoffe, das Programm sieht eine Besichtigungstour vor.« »Ich glaube kaum, daß Ihnen Diana diesen Wunsch erfüllen wird.« Hannah drehte sich um und musterte den Engländer. »Nur eine Frage, Neville. Warum?« Er lehnte sich entspannt zurück. »Oh, die Visitors bezahlen mich ziemlich gut.« »Es geht Ihnen doch bestimmt nicht um Geld. Das ist nicht Ihr Stil, More.«
»Ich bin ziemlich wichtig für die Außerirdischen. Man könnte sagen: unersetzlich. Was das Öl-Projekt angeht, habe ich den größten Teil der Computerarbeit erledigt. Die Visitors wissen es zu schätzen, daß ich ein Genie bin – im Gegensatz zu meinen sogenannten Kollegen.« »Und wieso hat Ihr Genie den Unterschied zwischen Rohöl und dem raffinierten Endprodukt übersehen?« More gestikulierte vage. »Oh, das war nicht meine Schuld. Diana hat die unangenehme Angewohnheit, ihre Informationen nur portionsweise herauszurücken. Eine ihrer Schwächen. Aber was soll’s: Niemand ist perfekt, nicht wahr? Wenn ich vollständigen Zugang zu allen Plänen und Daten gehabt hätte, wäre jetzt keine Verbesserung des genmanipulierten Bakteriums notwendig.« »Wollen Sie ihr das wirklich so offen sagen? Wie wird sie darauf reagieren, von einem Menschen auf ihren Fehler hingewiesen zu werden? Nach dem, was ich von der Dame gehört habe, wohl kaum mit einem freundlichen Lächeln.« »Vielleicht nicht«, gestand More ein. »Aber unsere Beziehung ist schon ein wenig komplizierter, als Sie sich das so vorstellen. Ich gehöre nicht zu ihren Speichelleckern, sondern betrachte mich eher als unabhängigen Berater. Wir begegnen uns wie Gleichrangige.« Hannah nickte zögernd. »Ich versuche mir das vorzustellen. Na ja, Sie sind auch kein Visitor-Offizier. Übrigens: Nehmen die Echsen denn neuerdings Menschen in die Besatzung ihrer Raumschiffe auf?« »Was wollen Sie damit andeuten?« fragte More scharf. »Oh«, machte Hannah, und ein hintergründiges Lächeln umspielte ihre Lippen. »Sie sind ein wenig empfindlich, was? Neville, niemand von uns bekommt die Anerkennung, die er zu verdienen glaubt. Wir alle müssen uns damit abfinden, von
vielen Leuten verkannt zu werden. So ist das Leben nun einmal. Das sollte Ihnen eigentlich klar sein.« Abrupt stand der Engländer auf, und in seinen Augen funkelte kalter Zorn. »Es gibt einen großen Unterschied zwischen Dummheit und der wohlüberlegten Heimtücke neidischer Konkurrenten«, entfuhr es ihm scharf. »Ausgerechnet Sie müssen mich auf die naive Sturheit der meisten Menschen hinweisen! Mangelnde Anerkennung, daß ich nicht lache! Was ist mit Ihrem Nobel-Preis, Ihren Auszeichnungen und Ehrungen?« Hannah nahm ruhig auf der Bettkante Platz und wandte den Blick nicht eine Sekunde von dem wütenden Mann ab. »Ich arbeite auf die gleiche Weise wie vorher. Mit anderen Worten: Es spielt keine Rolle, ob mir Preise zuerkannt werden oder nicht.« »Oh, das ist wirklich nett«, spottete Neville. »Derjenige, der Anerkennung satt hat, kann wahrhaftig gut behaupten, sie mache für ihn keinen Unterschied. Hören Sie bloß auf damit! Derartige Banalitäten kann ich nicht mehr hören! In dem Punkt habe ich nach meinem ersten geschäftlichen Mißerfolg genügend Erfahrungen gesammelt. Es gab Dutzende, die nur darauf warteten, meinen Unternehmungen den Todesstoß zu versetzen. Und nachdem es ihnen endlich gelungen war, mich zu ruinieren, hatten sie noch nicht einmal den Mut, ihren Haß auf mich offen zu zeigen. Statt dessen stichelten sie: ›Ach, armer Neville. Sie sind wirklich ein schlauer Bursche, aber leider doch nicht soviel besser als wir.‹ Nun aber; ich habe endlich eine interessante Botschaft für diese Typen: Ich bin tatsächlich besser als sie.« Bevor Hannah Donnenfeld darauf antworten konnte, öffnete sich die Tür. Zwei Visitor-Wächter traten ein, hinter ihnen Lydia und Diana. Die dunkelhaarige Kommandeuse streckte die Hand aus, aber als die alte Wissenschaftlerin keine
Anstalten machte, sie zu ergreifen, ließ sie den Arm wieder sinken. »Ich habe lange auf eine solche Gelegenheit gewartet, Dr. Donnenfeld.« Während Diana sprach, tastete Lydia einen Code in das Kontrollfeld neben dem Schott. Überrascht hob Hannah die Augenbrauen, als hinter ihr eine Öffnung in der Wand entstand. Sie gab den Blick in eine High Tech-Folterkammer der Visitors frei. In der Mitte sah man einen schwarzen Sessel mit stählernen Schellen für Arme und Beine und eine metallene Haube, die auf den Kopf des Opfers herabgelassen werden konnte. Auf der anderen Seite stand eine Konsole. »Als Wissenschaftlerin«, fuhr Diana fort, »bewundere ich Ihre Leistungen. Es mag seltsam klingen, aber ich bringe Ihnen wirklich großen Respekt entgegen.« »Danke«, sagte Dr. Donnenfeld schlicht. »Aus diesem Grund behagt es mir auch nicht, Sie foltern zu müssen. Neville hat mir schon mitgeteilt, daß Sie einen Fehler in meinem Plan gefunden haben. Wir alle hätten uns viel Mühe ersparen können, wenn nicht auch Neville ein Fehler unterlaufen wäre.« Ihre Züge wurden böse, als sie sich zu More umwandte. »Haben Sie Dr. Donnenfelds genetische Formel denn abgerufen, bevor Sie den Computer des BrookCove-Laboratoriums sabotierten?« »Die Antwort kennen Sie doch bereits, Diana«, wehrte sich der Engländer. »Sie lautet ›nein‹«, sagte Diana zu Hannah. »Er infizierte Ihre elektronische Anlage mit einem Computervirus – bevor er versuchte, die von mir verlangten Daten im Speicher zu finden.« »Machen Sie dem armen Neville keine Vorwürfe«, entgegnete Hannah und lächelte. »Ich ziehe klassisches Nachdenken der Arbeit an Computern vor. Das RAM enthielt
kaum irgendwelche Hinweise, die Ihnen von Nutzen gewesen wären, Diana.« »Das habe ich ihr schon erklärt«, warf Neville ein. »Aber sie ist immer noch skeptisch. Sie sind ein ungläubiger Thomas, Diana. Und das wird Ihnen eines Tages zum Verhängnis werden. Dr. Donnenfeld ist keine gewöhnliche Wissenschaftlerin.« Die Visitor-Kommandeuse bedachte ihn mit einem warnenden Blick. »Dr. Donnenfeld, ich brauche alle Daten, die in Ihrem Gedächtnis gespeichert sind. Und ich werde sie auch bekommen, ob Sie nun kooperieren oder nicht. Wenn Sie aber bereit sind, uns die Informationen zu überlassen, so können wir auf die sehr schmerzhafte Folter verzichten.« Hannah Donnenfeld schürzte die Lippen und gab lediglich einen verächtlichen Laut von sich. Das wütende Glitzern in Dianas Augen verschaffte ihr trotz allem große Genugtuung.
Im Korridor des Raumschiffs traten die Wächter beiseite und nahmen Haltung an, als hinter ihnen das Schott mit einem leisen Zischen aufschwang. Einige Sekunden später kamen Neville und Lydia aus der Verhörzelle, und die Tür schloß sich automatisch hinter ihnen. »Wir müssen mit ihr reden«, sagte der Engländer. Lydia lachte ironisch. »Oh, nein, wir nicht. Ich für mein Teil habe keinen Bedarf, Diana zu erklären, daß ihre Taktik falsch ist.« »Aber irgend jemand muß sie darauf hinweisen.« »Warum übernehmen Sie das nicht?« Lydia warf ihr blondes Haar zurück und ließ ihn stehen. Über die Schulter hinweg befahl sie den beiden Wächtern: »Beobachten Sie die Gefangene und erstatten Sie mir regelmäßig Bericht.«
Neville straffte seine Gestalt, machte einige Schritte, blieb dann unsicher stehen und wandte sich an die Soldaten. »Ah, wo befindet sich Dianas Quartier?« »So ein dummer Mensch«, murmelte einer der Wächter. Laut sagte er: »Ich zeige Ihnen den Weg.« »Danke, äh, Kumpel.« »Es ist wirklich unverschämt von Ihnen, einfach hierherzukommen, Neville«, sagte Diana, nachdem der hilfsbereite Wächter den Mann in ihre Kabine gebracht hatte. More nahm in einem niedrigen Sessel Platz. »Keineswegs. Dr. Donnenfeld ist immer noch ein großes wissenschaftliches Potential, und ich erachte es als meine Pflicht, Sie zu warnen: Die weitere Anwendung Ihrer Verhörtechniken könnte lediglich dazu führen, daß wertvolle Daten und Informationen verlorengehen.« »Wir haben diese Dame zwei Stunden lang vernommen. Und ihre einzigen Antworten bestanden aus Flüchen und vulgären Beleidigungen.« »Was hatten Sie denn erwartet?« »Ich erwarte überhaupt nichts. Ich verlange etwas: Auskunft. Und ich werde sie auch bekommen, früher oder später.« »Die kriegen Sie aber nicht, wenn Sie Hannah umbringen. Sie kennen Lydias Bericht: Hannah Donnenfeld ist alt und hat einen Herzfehler. Außerdem ist sie stur. Die Energiestärke, die Sie einsetzen müssen, um ihren Willen zu brechen, muß sie einfach umbringen. Und dann haben Sie nichts in der Hand.« »Ich bin sicher, daß sie lieber redet, als daß sie stirbt.« »Machen Sie da bloß nicht den Fehler, sie so zu unterschätzen. Sie ist anders als viele andere Menschen. Dr. Donnenfeld hat keine Angst vor dem Tod, Diana.« »Vielleicht habe ich Sie überschätzt, Neville.« »Bitte lassen Sie das, Diana. Ich gehöre nicht zu Ihren Offizieren. Sie können mich nicht so herunterputzen.«
Die Kommandeuse stand wütend auf. »Ein Wort von mir genügt, um Ihren Tod zu veranlassen, More. Vergessen Sie das nicht. Ich hielt Sie bisher nicht nur für fähig, sondern auch für loyal. Aber jetzt erkenne ich in Ihnen langsam Anzeichen feiger Unzuverlässigkeit.« Dicht vor dem Engländer blieb Diana stehen und fügte zischend hinzu: »Sie sind ganz und gar von meinen Entscheidungen abhängig, Mr. More. An Bord dieses Raumschiffes herrscht keine Demokratie. Sie haben kein Stimmrecht, was meine Beschlüsse angeht. Wenn Sie mit meinen Anweisungen nicht einverstanden sind, so behalten Sie das bitte für sich. Wenn Sie aber noch einmal versuchen sollten, meine Befehle in Frage zu stellen…« – die Visitor legte eine kurze Kunstpause ein –, »… könnte ich die Geduld verlieren. Und dann lasse ich mich vielleicht dazu hinreißen, Sie in die Konverterkammer zu werfen. Verschwinden Sie jetzt.« Neville zuckte zusammen, als sich die Kommandeuse abrupt umwandte und eine Taste betätigte. Hinter ihm schwang das Schott auf, und mit bösem Gesicht verließ er wortlos Dianas Kabine.
Als Diana die Zelle betrat, hatte Lydia die Gefangene schon an die Verhörmechanismen angeschlossen. »Ist alles vorbereitet? Ich will keine Zeit mehr vergeuden.« Ihre Stimme klang nervös und ungeduldig. Lydia nickte und deutete dann auf einen grauhaarigen Offizier, der die Abzeichen der medizinischen Abteilung trug. »Das ist Stavros. Er war bisher an Bord des Mutterschiffes über dem zentralen Mittelmeerraum. Glücklicherweise ist er ein Experte für menschliche Physiologie.«
Diana musterte ihn mit einem abschätzenden Blick. »Haben Sie die Gefangene untersucht, Doktor?« Der Mann nickte. »Ja, Kommandantin. Sie leidet an einer für ihr Alter typischen Arteriosklerose. Außerdem weist ihr Herz eine Kapazitätsbeeinträchtigung aufgrund eines zurückliegenden peripheren Infarkts auf. Meiner Ansicht nach gibt es eine Wahrscheinlichkeit von siebzig Prozent, daß sie beim regulären Verhör ums Leben kommt.« »Ich habe Sie nicht nach Ihrer Meinung gefragt, Doktor.« »Ich schätze, Sie haben da ein Problem, nicht wahr, Diana?« spottete Hannah Donnenfeld. »Wenn ich sterbe, sind alle die Informationen futsch.« Die dunkelhaarige Visitor lachte humorlos. »Sie überschätzen Ihre Bedeutung für mich. Meine Wissenschaftler arbeiten bereits an einer Lösung des Problems, auf das Sie uns so großzügig hingewiesen haben. Ich bin sicher, es wird den Spezialisten sowieso in kurzer Zeit gelingen, eine verbesserte Version des Öl-Bakteriums zu züchten. Ihre Angaben könnten die Zeit verkürzen, nichts weiter. Und selbst wenn Sie uns die Informationen weiterhin verweigern: Das Projekt wird trotzdem durchgeführt.« Lydia trat neben ihre Vorgesetzte. »Diana«, flüsterte sie leise, »beginnen Sie wenigstens mit einer geringen Energiestärke. Stavros meint, die Gefangene habe weitaus größere Überlebenschancen, wenn wir geduldig sind. Und Sie wissen ebensogut wie ich, daß die Wissenschaftler von einer Lösung noch weit entfernt sind.« »Geduld kostet Zeit, werte Lydia.« »Aber vielleicht gewinnen wir damit den Krieg, werte Diana.«
»Ohne Hannah sind die Teepausen nicht mehr das, was sie einmal waren«, seufzte Mitchell traurig. Pete, Lauren Stewart, Sari und Donna leisteten ihm im unterirdischen Aufenthaltsraum Gesellschaft. Sari sprang mit einem Satz auf und sah die anderen an. »Verdammt, Mitchell! Sie ist nicht tot!« Er nickte kummervoll. »Ich weiß.« »Warum reden Sie dann so, als läge sie schon im Grab?« »Tut mir leid«, sagte Mitchell verlegen. »Das hoffe ich auch. Ich habe es nämlich satt.« »Ich sagte: Es tut mir leid. Himmel, in letzter Zeit sind Sie ständig geladen.« »Unsinn. Ich will bloß verhindern, daß hier ständig Trübsal geblasen wird…« »Trübsal?« fauchte Mitchell wütend. »Sollen wir Hannah etwa einfach vergessen?« Sari schien gleich wieder aufbrausen zu wollen, aber Lauren Stewart kam ihr zuvor. »He, regt euch ab!« Sie wartete, bis sich Sari und Mitchell entspannten, dann fuhr sie fort: »Ich weiß genau, was Sie durchmachen. Im Ernst. Schließlich ist mein Vater ebenfalls einmal von den Visitors entführt und monatelang in einem Mutterschiff gefangengehalten worden. Ich kenne das Gefühl der Ohnmacht und Hilflosigkeit.« »Wir alle machen uns Sorgen um Hannah«, unterstützte Pete sie. »Sie haben recht.« Sari holte tief Luft und berührte Mitchell am Arm. »Entschuldigen Sie.« »Schon gut. Ist eine schwere Zeit.« Aber schon nach wenigen Minuten sprang Sari wieder auf und marschierte unruhig auf und ab. »Himmel!« entfuhr es ihr. »Ich finde es so verdammt frustrierend, einfach nur herumzusitzen und nichts für sie tun zu können.«
»Niemand legt die Hände in den Schoß«, tröstete Pete. »Und alle geben sich die größte Mühe.« »Das stimmt«, bestätigte Lauren. »Hunderte von Geheimdienstagenten, Polizisten und Widerstandskämpfern sind auf der Suche nach Spuren und Anhaltspunkten. Irgendwann wird sich bestimmt etwas ergeben. Und wenn wir nur den kleinsten Hinweis haben, unternehmen wir sofort etwas.« Nebenan räusperte sich jemand im Flur, und unmittelbar darauf hörten sie einen vertrauten britischen Akzent. »Ich schätze, dieser Augenblick ist jetzt gekommen«, sagte Neville More. »Ich bin nach oben gegangen, um einen Spaziergang zu machen«, erklärte Kenny, der neben dem Engländer in der Tür stand. »Und plötzlich sah ich einen Skyfighter, der direkt auf mich zuflog. Ich wollte sofort zurückkehren, um Alarm zu schlagen, aber da sah ich, wie dieser Typ ausstieg und hörte meinen Namen.« Er deutete auf More, der die rote Uniform eines Visitor-Captains trug. Saris Gesicht war kalkweiß, als sie an Neville herantrat, ausholte und ihm eine schallende Ohrfeige versetzte. Pete stand auf und hielt sie fest. »Danke, Kumpel«, sagte Neville und rieb sich die Wange. »Am liebsten würde ich Sie ebenfalls in die Mangel nehmen«, erklärte Forsythe böse. »Zuerst aber möchte ich hören, was Sie uns zu sagen haben.« Neville sah die Teekanne. »Hat jemand was dagegen, wenn ich mir eine Tasse genehmige?« Er wartete keine Antwort ab, bediente sich und nahm auf einem Stuhl Platz, einige Meter von Sari entfernt. »Ich rate Ihnen, schnell auszupacken«, knurrte Pete. »Ja, ja. Ich verstehe Ihre Neugier. Zunächst einmal: Als ich Dr. Donnenfeld zum letztenmal sah, war sie wohlauf und
sorgte mit ihren sarkastischen Bemerkungen bei Diana für einige Wutanfälle. Sie hatte gerade ein zweistündiges Verhör überstanden.« »Wenn Diana sie foltert«, sagte Sari leise und drohend, »so sollten Sie schon jetzt Ihr Testament machen.« Pete zog sie zurück. »Setzen Sie sich!« Zuerst zögerte Neville noch, weil er einen zweiten Angriff der jungen Frau befürchtete, dann seufzte er: »Als ich das Mutterschiff verließ, hatte Diana noch nicht mit der Folter begonnen.« »Als Sie es verließen«, warf Lauren ein. »Und warum kamen Sie hierher?« »Lassen Sie es mich einmal so ausdrücken: Zwischen Diana und mir kam es zu Meinungsverschiedenheiten. Es hat mir noch nie sonderlich gefallen, Befehle entgegenzunehmen – erst recht nicht, wenn sie falsch sind. Deshalb bin ich hier.« »Verdammter Hurensohn«, brummte Mitchell und ballte die Fäuste. »Nach allem, was Sie getan haben, sind Sie auch noch so dreist, hierher zurückzukehren.« »Entschuldigen Sie, Mitchell – ich wußte natürlich, daß Sie mich nicht mit offenen Armen empfangen würden. Aber ich nehme an, Sie sind alle daran interessiert, Hannah zu befreien, bevor Diana sie umbringt.« »Warum haben Sie sie nicht mitgebracht?« erkundigte sich Lauren. »Oh, das war leider nicht möglich, Miß Stewart. Diana begann gerade eine zweite Vernehmung. Aber ich nehme an, mit Ihrer Hilfe können wir sie retten.« In Mitchells Augen funkelte kalter Zorn. »Warum sollten wir ausgerechnet Ihnen jetzt noch vertrauen? Vielleicht hat Diana Sie hierher geschickt, um uns eine Falle zu stellen.« Höhnisch fügte er hinzu: »Die oberste Visitor würde Ihnen sicher lobend
auf die Schulter klopfen, wenn Sie ihr noch einige weitere Widerstandskämpfer ans Messer liefern.« Nevilles Lippen zitterten. »Um eins klarzustellen: Auf Lob von irgendeiner Art kam es mir nie an. Ich bedaure auch nicht, den Leuten eins ausgewischt zu haben, die in der Vergangenheit alles daran gesetzt haben, mich zu ruinieren. Meinen sogenannten Kollegen, die nur darauf aus waren, üble Gerüchte in die Welt zu setzen und meine Karriere zu zerstören.« »Wir haben dich als Freund aufgenommen und auch so behandelt«, warf Sari ihm vor, ihr Tonfall eine Mischung aus persönlichem Schmerz und beruflichem Stolz. »Ja, das ist richtig. Manchmal geraten leider auch Unschuldige ins Kreuzfeuer.« Lauren sah More an. »Warum nun der plötzliche Meinungswechsel?« Neville dachte über diese Frage einige Sekunden lang nach. »Ich habe meinen eigenen Ehrenkodex, Miß Stewart.« »Wie der bei Dieben?« konterte sie. »So in etwa. Ich habe nie behauptet, daß ich mich an die Regeln gebunden fühle, an die sich andere halten. Andererseits aber muß wohl jeder akzeptieren, daß ich meinen eigenen Vorstellungen von Ehre und Moral immer treu geblieben bin. Eins dieser Prinzipien lautet: Laß niemals zu, daß man Neville More ausnutzt. Diesen Grundsatz haben die Visitors verletzt.« »Und deshalb sollen die Außerirdischen jetzt büßen«, schloß Pete. »Genau. Wenn mein Plan funktioniert, bekommen Sie Dr. Donnenfeld zurück – und ich habe die Gelegenheit, mich an den Echsen zu rächen. Das scheint mir ein faires Angebot zu sein.«
»Hm«, machte Mitchell, »ich will zwar nicht den Miesmacher spielen, aber ich traue dem Kerl noch immer nicht.« »Die Situation läßt ihnen nur kaum eine andere Wahl, Mitchell: Wenn Sie mich abweisen, wird Hannah Donnenfeld vermutlich in der Vernehmungskammer sterben. Vorher bekommt Diana möglicherweise noch die Informationen, die sie für eine Modifizierung des Öl-Bakteriums braucht. Nur wenn wir zusammenarbeiten, haben Sie überhaupt eine Chance, die alte Dame zu retten. Verstanden?« Mitchell zuckte mit den Schultern. »Und was sollen wir unternehmen, um Hannah zu befreien? Wie sollen wir an Bord des Mutterschiffes gelangen?« Neville lächelte hintergründig. »Wie Sie sehen, habe ich schon eine Möglichkeit gefunden, die elektronischen Sicherheitscodes zu umgehen. Ich kann uns genauso wieder ins Raumschiff bringen. Und die anschließende Flucht ist ebenfalls kein Problem.« »Das wäre doch schon mal was«, brummte Pete. »Und wie nehmen wir Hannah mit?« »Ich hätte da schon eine Idee«, sprudelte plötzlich Lauren hervor. »Neville, sind Sie in der Lage, das Computersystem des Mutterschiffes anzuzapfen, sobald wir an Bord sind?« »Klar. Was haben Sie vor?« »Ganz einfach: Wir bringen keine Frau namens Hannah Donnenfeld fort, sondern einen klinisch toten Menschen.« Als sie die fragenden Blicke der anderen auf sich ruhen spürte, erklärte Lauren ihren Plan…
13. Kapitel
In der Nähe von Los Angeles beschattete Julie Parrish ihre Augen und beobachtete den blauen Himmel über der Wüste. Elisabeth Maxwell – zur einen Hälfe Mensch, zur anderen Visitor – stand neben ihr. Sie trug zu Bluejeans ein khakifarbenes Safari-Hemd, und auf den ersten Blick hätte man die beiden Frauen für Schwestern halten können. »Dort«, sagte Elisabeth leise. »Ich kann nichts sehen…« Elisabeth hob den Arm, und Julie sah in die angegebene Richtung. Ein kleines Shuttle der Außerirdischen näherte sich von Nordosten. Das Flugboot kam direkt auf sie zu und ging rasch tiefer, als es den Rand des Canyons hinter sich gebracht hatte, in dem die beiden kalifornischen Widerstandskämpferinnen warteten. Mit einem leisen Zischen setzte das im Sonnenlicht weiß schimmernde Gefährt sanft auf. »Bist du ihnen schon einmal begegnet, Julie?« »Mhm. Während des ersten Krieges bin ich nach New York geflogen, um unseren Freunden dort bei der Produktion des roten Giftstaubes zu helfen. Und Mike ist damals auch zur Ostküste gefahren.« »Hast du da auch Dr. Donnenfeld kennengelernt?« Julie lächelte, als sie sich erinnerte. »Ja. Sie ist ziemlich beeindruckend, Elisabeth, und bat mich sogar darum, nach dem Krieg in ihrem Brook-Cove-Laboratorium zu arbeiten.« »Bedauerst du es jetzt, dieses Angebot nicht angenommen zu haben?« Nachdenklich kaute Julie auf der Unterlippe. »Manchmal schon. Na ja, damals dachte ich, zwischen Mike und mir spiele
sich noch etwas ab, und auch aus diesem Grund blieb ich hier. Aber unsere Beziehung entwickelte sich nicht so, wie ich gehofft hatte. Außerdem: Wenn ich nach New York gegangen wäre, hätte ich keine Gelegenheit gehabt, hier den Kampf gegen die Visitors fortzusetzen, zusammen mit dir und den anderen.« Elisabeth schwieg einige Sekunden lang. »Es freut mich, daß du geblieben bist«, sagte sie dann. »Ohne dich wäre ich vielleicht schon tot.« Julie strich der jüngeren Frau eine blonde Strähne aus der Stirn. »Oh, inzwischen kommst du auch ohne mich ziemlich gut zurecht.« »Ich weiß nicht…« seufzte Elisabeth skeptisch. »Jedenfalls bin ich froh, daß du hier bist.« Sie wichen einige Schritte zurück, als der Antigravitationsantrieb des Flugbootes Staub aufwirbelte. Dann verklang das Summen der Motoren, und die breite Luke klappte auf. Lauren Stewart und Pete Forsythe erschienen in der Schleuse, und Julie ging auf sie zu, um sie zu begrüßen. Elisabeth folgte dicht hinter ihr. »Pete, Lauren – ich möchte Sie mit Elisabeth Maxwell bekannt machen.« Die junge Frau senkte verlegen den Blick und schüttelte den beiden Besuchern die Hand. »Ich habe viel von Ihnen und der Widerstandsgruppe ›Weiße Weihnacht‹ gehört«, sagte sie. »Verwenden Sie diesen Decknamen noch immer?« Lauren nickte. »Sie sind uns ebenfalls keine Unbekannte.« Julie legte Elisabeth den Arm um die Schultern. »In den letzten Monaten wurde sie zu einer voll ausgebildeten Widerstandskämpferin.« »Werde ich denn nicht vorgestellt?« Der britische Akzent war unüberhörbar. Neville More stieg aus dem Shuttle und
sprang zu Boden. Im Gegensatz zu seinen Begleitern trug er einen roten Visitor-Overall. Pete verzog kurz das Gesicht. »Julie, Elisabeth, das ist Neville More, der berüchtigte Computerspezialist, dem wir die ganzen Probleme zu verdanken haben.« »Und mit meiner Hilfe ziehen Sie einen Schlußstrich darunter.« »Die von Ihnen entwickelten Computerviren haben aber bereits überall großen Schaden angerichtet«, wies ihn Pete zurecht. »Pete, Pete«, warf Lauren ein. »Wir haben nicht genug Zeit, um uns zu streiten. Julie, wenn wir das alles hinter uns haben, erzähle ich Ihnen die ganze Geschichte. Im Moment kommt es aber darauf an, rasch zu handeln.« »Zum Glück stehen uns einige Uniformen der Echsen zur Verfügung«, sagte Forsythe. »Ohne sie wäre unser Plan wohl von vorneherein zum Scheitern verurteilt. So können wir uns wenigstens glaubhaft als Visitor-Ärzte ausgeben.« Julie lächelte schief. »Die Sachen stammen von einem Angehörigen der Fünften Kolonne unter den Visitors, der uns unterstützt. Ich hoffe nur, sie passen Ihnen.« »Übrigens, was uns angeht: Die Dinge, um die Sie uns baten, befinden sich an Bord.« »Ausgezeichnet!« jubelte Julie Parrish. »Insbesondere die Munitionshalterungen für die Ingram-Maschinenpistolen brauchen wir dringend.« Pete klopfte Neville auf die Schulter. »Helfen Sie mir beim Ausladen.« Während die beiden Männer fortgingen, wandte sich Julie an Elisabeth. »Holst du bitte den Wagen?« »In Ordnung.« Julie und Lauren sahen der »Tochter des Himmels« nach, als sie auf den geparkten Kombi zulief und einstieg. »Sie fährt
gern«, erklärte Julie. »Als sie dieses physische Entwicklungsstadium erreichte, war sie wie ein dreijähriges Kind im Körper einer achtzehnjährigen Erwachsenen. Das stellte uns vor ziemliche Probleme.« »Kann ich mir denken.« Julie nickte. »Später haben wir uns schier überschlagen, sie zu beschützen, und dabei wohl auch ziemlich übertrieben. Das machte ihr enorm zu schaffen, und sie ging einige verrückte Wagnisse ein, nur um uns zu beweisen, daß sie auf eigenen Beinen stehen kann. Wir fanden uns also mit der Situation ab.« Etwas leiser fügte sie hinzu: »Und manchmal sind ihre seltsamen Fähigkeiten außerordentlich nützlich.« Elisabeth lenkte den Kombi mit Allradantrieb nahe ans Shuttle und öffnete die Heckklappe. Pete und Neville trugen Kartons aus dem Flugboot, und die Frauen bestiegen ebenfalls das Shuttle, um ihnen zu helfen. Als sie fertig waren, reichte Elisabeth Lauren einen Beutel. »Da sind die Uniformen drin.« »Oh, und hier wäre noch etwas anderes.« Julie holte einen Zettel hervor. »Darauf stehen die neuesten medizinischen Codes der Visitors.« »Von Ihrem Freund aus der Fünften Kolonne?« fragte Forsythe. »Ja. Er ist Medizinstudent und heißt Howie. Nun, besten Dank für die Ausrüstungsgegenstände.« »Nichts zu danken«, sagte Lauren voller Wärme. »Es ist bestimmt nicht leicht, in einer Kriegszone zu leben. Wir sind in New York ja relativ sicher, und manchmal vergessen wir fast, wie es im Süden zugeht.« Pete schnippte mit den Fingern. »Fast hätte ich’s vergessen…« Julie sah ihn groß an.
Lauren grinste. »Ich schätze, Freiheitskämpfer haben wenig Gelegenheit, Fett anzusetzen. Sie und Elisabeth brauchen sich da wohl kaum Sorgen zu machen. Deshalb haben wir Schokolade mitgebracht.« »Lieber Himmel!« platzte es aus Julie heraus, und sie lächelte erfreut. »Es ist schon eine Ewigkeit her, seit ich zum letztenmal Schokolade gegessen habe.« »Genau das dachten wir uns.« Lauren und Pete umarmten Julie und Elisabeth zum Abschied. »Viel Glück.« Neville kehrte als erster ins Shuttle zurück. Lauren und Pete verharrten kurz in der Schleuse und winkten. Dann schloß sich die Luke, und kurz darauf stieg der kleine Skyfighter auf und flog auf Dianas Mutterschiff zu, das in der Ferne wie eine diskusförmige Wolke über Los Angeles schwebte.
Pete Forsythe saß an den Kontrollen und steuerte das Shuttle der unteren Seite des gewaltigen Raumschiffes entgegen, dessen riesenhafte Masse die Sonne verdunkelte. Die Öffnung des Hangarzugangs sah aus wie das aufgerissene Maul eines Wals aus einer Fabelwelt. Pete verringerte die Geschwindigkeit und lenkte den Skyfighter vorsichtig in den Deckbereich. »Und Sie sind wirklich ganz sicher, daß uns die Visitors nicht schon auf dem Hangardeck erwarten?« vergewisserte er sich noch einmal bei Neville. »Natürlich bin ich sicher«, erwiderte More. »Begreifen Sie endlich, daß Sie es nicht mit einem Amateur zu tun haben.« Er seufzte. »Also gut, ich wiederhole es noch einmal: Ich habe dieses Shuttle nicht einfach gestohlen, sondern unter Abwicklung der normalen Routine ausgeliehen – entsprechende Daten befinden sich im Kontrollcomputer des Hangars. Außerdem: Angesichts der Größe dieses
Mutterschiffes hätte das Verschwinden eines kleinen Skyfighters in dieser relativ kurzen Zeit wohl kaum auffallen können. Es fehlt Diana an zuverlässigen Leuten, und die wenigen Visitors, die zu ihr stehen, müssen sich um zu viele Dinge gleichzeitig kümmern. Wenn es Julie und den anderen Widerstandskämpfern irgendwann gelingen sollte, der Kommandeuse eine Lektion zu erteilen, so stellt sich bestimmt heraus, daß ein Großteil auch auf das Konto von Dianas schlechter Verwaltung geht.« »Napoleon«, murmelte Lauren, die in einem Sessel dicht hinter dem Cockpit Platz genommen hatte. Pete sah über die Schulter. »Bitte?« »Napoleon. Ihm erging es nicht viel anders bei dem Versuch, Rußland zu schlagen. Seine Truppen drangen durch fremdes Territorium vor, ohne daß die Nachschublinien abgesichert waren. Der französische Kaiser eroberte zu viele Gebiete in zu kurzer Zeit.« »Der Vergleich paßt tatsächlich.« Neville nickte. »Ich habe in gewisser Weise beide Seiten der Medaille gesehen; vielleicht schaffen Sie es wirklich, die Echsen von der Erde zu vertreiben, wenn die so viele Fehler machen.« »Daran zweifle ich nicht«, brummte Pete. »Und nach unserem Sieg werden Sie als Verräter vor Gericht gestellt.« More lächelte doppeldeutig. »Immer langsam, Forsythe. Noch sind die Visitors hier. Und es könnte bis zu Ihrem Sieg noch eine Menge geschehen. Vorausgesetzt, Sie schaffen es wirklich, sich gegenüber einer technologisch derartig überlegenen Kultur durchzusetzen.« Pete beugte sich vor, drückte einige Tasten und beobachtete die Anzeigen der Instrumente. »Da wären wir. Hoffentlich behalten Sie recht, Neville. Sonst ist dieses Rettungsunternehmen gescheitert, noch bevor es richtig begann.«
»Überlassen Sie das Reden jetzt lieber mir.« Forsythe zog den Schubhebel einige Zentimeter zurück, lenkte das Shuttle zur Landemarkierung auf dem Deck und ließ es vorsichtig aufsetzen. »Gute Arbeit, Forsythe«, murmelte More. Als das Summen des Triebwerks verklungen war, berührte Neville einen Sensorpunkt, so daß die Luke aufschwang. Ein Visitor, der keine menschliche Maske trug, stand vor dem Skyfighter, und das matte Licht spiegelte sich auf seiner grünen Schuppenhaut. Er nahm Haltung an. Der Engländer nickte ihm kurz zu und griff nach dem elektronischen Kontrollblock des Außerirdischen. Mit einem Laserstift berührte er einige Abtastfelder, und sofort erschienen einige Symbole auf dem kleinen Anzeigefeld. »Danke, Leutnant«, sagte Neville und gab den Block zurück. Dann wandte er sich an die vermeintlichen Visitor-Ärzte. »Kommen Sie.« Lauren und Pete trugen jetzt Uniformen, die Nevilles Aufmachung ähnelten, bloß die Abzeichen und Embleme wiesen sie als Angehörige der medizinischen Abteilung aus. More sah kurz zu dem Visitor-Wächter zurück. »Oh, Leutnant: Das Shuttle sollte startbereit bleiben. Wir werden uns voraussichtlich nur für kurze Zeit an Bord des Mutterschiffes aufhalten und kehren dann auf die Oberfläche des Planeten zurück.« »Geht in Ordnung, Captain.« Neville ging zielstrebig weiter, und Pete und Lauren mußten sich beeilen, um mit ihm Schritt zu halten. Forsythe versuchte ständig, seine Neugier zu bezähmen, aber er konnte der Versuchung nicht ganz widerstehen, sich einige Male fasziniert umzusehen. Er befand sich nun zum erstenmal an Bord eines Visitor-Raumschiffes und war entsprechend beeindruckt. Das gewaltige Mutterschiff wirkte eher wie ein riesenhaftes Gebäude: weite Hallen, breite Gänge, viele kleine Zimmer und
Kammern. Die Beleuchtung war ein wenig trüb – die Echsen vom Sirius waren nicht an das helle Licht auf der Erde gewöhnt. Deshalb trugen sie auch immer dunkle Schutzbrillen, wenn sie sich im Freien aufhielten. Neville schien sich im Innern des Raumschiffes gut auszukennen. Er brachte seine Begleiter zu einem Lift und wies die Steuerungselektronik mit einem knappen Befehl an, sie zur Krankenstation zu bringen. Als die Tür kurz darauf aufglitt, sahen sie einen leeren Raum mit kojenartigen Betten an den Wänden. Zwei Patienten wurden in dieser Abteilung versorgt. Beim einen handelte es sich um eine weibliche Visitor, deren schuppenbedeckter Arm in einer Schale lag, in der eine violette Lösung blubberte. Der andere Außerirdische hatte seine menschliche Maske abgelegt. Eine junge Frau mit dunklem, lockigem Haar untersuchte ihn und schob seine Beine vorsichtig in ein Stützgerüst. Mit einer knappen Geste bedeutete Neville seinen Begleitern, sie sollten abwarten, und blieb selbst neben dem zweiten Patienten stehen. »Zeigen Sie mir bitte das Krankenblatt, Schwester.« Er nahm einen Kontrollblock entgegen, der dem des Visitor-Wächters im Hangar ähnelte. Dann forderte er Lauren und Peter auf näherzutreten. »Sehen Sie sich das an.« Und zur Schwester: »Die Ärzte arbeiten auf dem Planeten in einem Feldlazarett. Ich möchte ihnen demonstrieren, wie wir hier die verletzten Soldaten behandeln, die man uns schickt.« Neville hielt das Krankenblatt hoch, so daß seine beiden Begleiter die seltsamen Symbole und Zeichen auf dem Anzeigefeld sehen konnten. Nach einigen Sekunden gab Neville den Block zurück. »Danke, Schwester…« »Bridget«, sagte sie rasch. »Äh, ja, Bridget.« Er machte Anstalten, Lauren und Pete fortzuführen, blieb dann noch einmal stehen und drehte sich
um. »Da wäre noch etwas, Bridget. Der gefangene Mensch… die alte Frau namens Dr. Donnenfeld. Hat sie das Verhör überlebt?« »Ja. Aber soweit ich hörte, geht es ihr nicht besonders.« »Sie liegt also in der Krankenabteilung?« »Ja, Doktor. In der Sicherheitssektion. Obgleich sie gar nicht in der Lage wäre, einen Fluchtversuch zu unternehmen.« Pete und Lauren wechselten einen besorgten Blick. »Vielleicht sollte ich sie mir einmal ansehen«, sagte Neville. »Die Erlaubnis habe ich ja bereits. Vielen Dank, Bridget. Machen Sie weiter so.« »Ja, Doktor.« Der Engländer bedeutete den beiden anderen »Ärzten« mit einem Wink, ihm jetzt zu folgen. »Das klang nicht besonders gut«, flüsterte Pete. »Wenigstens lebt Hannah noch.« Sie näherten sich einer massiven Tür, und durch eine kleine Beobachtungsluke konnten sie einen Blick ins nächste Zimmer werfen. Hannah Donnenfeld ruhte reglos auf einer schmalen Untersuchungsliege; dünne Schläuche ragten aus ihren Armbeugen. »Haben Sie irgendeine Möglichkeit, die Tür zu öffnen?« fragte Lauren leise. »Die Codeliste sollte uns eigentlich weiterhelfen. Lassen Sie mich mal sehen…« Forsythe holte den Zettel hervor, weigerte sich aber, Neville das Blatt zu überlassen. »Ich behalte es«, sagte er. »Sehen Sie sich nur die Kombinationen an.« »Pete, Pete… Sie sind ja krankhaft mißtrauisch. Befürchten Sie immer noch eine Falle?« »Ich möchte nur keine unnötigen Risiken eingehen.« Pete hob kurz die Hand. »Die Tür…«
More wandte sich der Kontrolltafel neben dem Schott zu und studierte kurz das Tastenfeld. Ihre Beschriftungen ergaben für Pete Forsythe keinen Sinn. »Können Sie die Schrift wirklich lesen?« fragte er. Neville zuckte mit den Achseln. »Die Laut- und Schriftsprache der Außerirdischen ist nicht schwieriger als Russisch. Und das habe ich in zwei Wochen gelernt.« Er kontrollierte noch einmal die Codeliste und betätigte hintereinander sechs Tasten. Der handtellergroße Schirm über der Eingabeeinheit leuchtete erst rot auf, dann purpurn und schließlich blau. »Die Visitor-Äquivalente für rot, gelb und grün.« Ein leises Surren erklang, ihm folgte ein plötzliches Klicken. Neville griff nach dem Knauf und öffnete die Tür. »Einer von uns sollte hier Wache halten.« Lauren schürzte die Lippen. »Na, da Pete Hannah untersuchen muß, bleibe wohl nur ich übrig. Beeilt euch, Jungs.« Pete trat rasch ein, eilte ans Bett der alten Frau und beugte sich über sie. Neville wartete hinter ihm. »Hannah«, sagte Forsythe drängend. Sie schlug die Augen auf, doch ihre Miene blieb nach wie vor leer und ausdruckslos. Die alte Frau atmete schwer, als sie mühsam die eine Hand hob und einen Wink andeutete. Pete bedachte sie mit einem aufmunternden Lächeln und sah dann auf den Monitor der Geräte, an die sie angeschlossen war. »Meine Güte, ich habe keine Ahnung, was das alles bedeutet.« »Spielt das eine Rolle?« »Natürlich. Ich würde gerne wissen, ob wir sie umbringen, wenn wir sie nur von der Apparatur lösen.« »Wenn wir sie nicht fortschaffen, ist ihr Tod auf jeden Fall gewiß«, wandte der Engländer ein.
Pete preßte die Lippen so fest zusammen, daß sie nur noch eine schmale, weiße Linie bildeten. Zu Nevilles Einschätzung blieb wirklich keine Alternative, und deshalb begann er sofort, Hannah zu untersuchen. »Können Sie mich verstehen?« fragte er nach einer Weile. »Drücken Sie meine Hand – einmal für ja, und zweimal für nein. Versuchen Sie nicht zu sprechen. Klar?« Ein Druck, nur schwach. »In Ordnung, Hannah, wir sind gekommen, um Sie von hier fortzubringen, aber dazu müssen wir Sie als Leiche ausgeben. Verstanden?« Erneut drückte sie zu, ganz leicht. Pete wünschte sich, sie hätte mehr Kraft, um alles Kommende zu überstehen. »Neville, holen Sie den Schweber dort drüben. Hannah, wenn Sie auf dem Ding liegen, dürfen Sie sich nicht rühren. Kapiert? Wir stecken Sie in einen Leichensack, und darin werden Sie vermutlich aussehen wie ET, als man ihn vom kleinen Elliot trennte.« Diesmal war der Druck etwas stärker. Pete lächelte erfreut und holte eine Injektionspistole aus seiner Arzttasche. »Okay, ich spritze Ihnen jetzt ein Mittel, das die Muskeln entspannt und Sie beruhigt. Wenn es wirkt, kann nur noch ein Mediziner feststellen, daß Sie leben. Sie sind soweit?« Die dünnen Lippen der alten Frau zitterten. »Ja, Dr. Frankenstein«, krächzte sie. Pete rollte ihr den Ärmel hoch. »Träumen Sie schön, Hannah.« Unterdessen hatte Neville den Schweber geholt: einen Tisch, der auf Antigravitationspolstern ruhte. »Tolles Ding«, sagte Pete anerkennend. »Wenn Sie noch einmal ein Vermögen machen wollen, Neville, sollten Sie unbedingt solche Geräte für unsere Krankenhäuser entwickeln.«
»Wird Hannah den Transport überstehen?« Pete warf More einen nachdenklichen Blick zu und verbiß sich eine scharfe Erwiderung. »Keine Ahnung«, murmelte er statt dessen und entfernte die intravenösen Schläuche. Es drang kein Blut aus den winzigen Einstichen in Hannahs Haut, aber Forsythe drückte trotzdem ein Pflaster darauf, um jedes Risiko auszuschalten. »Also los.« Vorsichtig hoben sie den Körper der Wissenschaftlerin an und legten ihn auf den Schweber. Peter faltete die bereitgelegte Kunst-stoffplane auseinander und zog den Verschluß zu. Nur eine kleine Atemöffnung blieb ausgespart. Neville machte ein besorgtes Gesicht. »Sie wird nicht ersticken«, sagte Pete. »Das injizierte Mittel reduziert ihren Sauerstoffbedarf. So, jetzt sind Sie an der Reihe. Setzen Sie sich mit dem Bordcomputer dieses verdammten Mutterschiffs in Verbindung und besorgen Sie uns einen Autorisierungscode.« Auf der anderen Seite des Zimmers war ein großes Terminal, und Neville trat zögernd darauf zu. »Stimmt irgend etwas nicht?« fragte Forsythe. More faltete die Hände und ließ die Knöchel knacken. »Seien Sie unbesorgt.« Er wandte sich der Tastatur zu, stockte jedoch, als er hinter sich ein leises Klacken hörte. Pete hielt eine automatische Pistole in der Hand und zielte damit auf den Engländer. »Denken Sie daran, Neville: Wenn Sie uns hereinlegen, geht es Ihnen an den Kragen. Auch Genies sind nicht unsterblich.« »Immer mit der Ruhe, Forsythe…« erwiderte Neville und rang sich ein schiefes Lächeln ab. »Nur nicht nervös werden.« Dann machte er sich an die Arbeit. Pete hatte das Gefühl, er müsse eine Ewigkeit lang warten, aber in Wirklichkeit vergingen nur zwei Minuten, bis More fertig war. »Alles klar, alter Knabe«, brummte der Engländer. »Das Shuttle wartet auf uns.« Er klopfte leise an die Tür, und Lauren
wirbelte erschrocken um die eigene Achse. Sie öffnete ihnen das Schott. Als sie aber die reglose Hannah sah, schnappte sie unwillkürlich nach Luft. »Mein Gott, sie scheint wirklich tot zu sein.« »Sie heißt jetzt nicht mehr Donnenfeld«, sagte Neville und holte eine kleine Kunststoffkarte mit einem silbernen Streifen hervor. »Wir befördern Sylvia Newton, eine Frau, die in der Gefangenschaft der Visitors starb. Sie wird ins Medical Experimentation Center in San Diego gebracht, wo einige Zellerhaltungs-Tests an ihr durchgeführt werden sollen. Ziel der Versuche ist es, eine neue Technik für die Konservierung von Nahrungsmitteln zu erproben. Die arme Mrs. Newton hat als Injektion ein Mittel bekommen, das die Struktur ihrer Zellen erhält und den Zerfall der Proteine verhindert. Auf diese Weise soll langfristig sichergestellt werden, daß tote Menschen die potentielle Nahrungsreserve der Visitors nicht verringern. Wenn die neue Technik funktioniert, brauchen die Außerirdischen ihre Opfer nicht mehr als lebendige Konserven in der Bereithaltungshibernation unterzubringen, und dadurch werden Lagerungskapazitäten frei.« »Arbeiten sie wirklich daran?« fragte Lauren entsetzt. »Ja, das ist eines ihrer Untersuchungsprogramme, Miß Stewart.« »Und wir verfügen über eine entsprechende Autorisierung?« »Ja. Dies ist Mrs. Newtons ID-Karte«, fügte Neville hinzu und zeigte die Plastikscheibe. »Wir sind übrigens sehr in Eile: Wir müssen Mrs. Newton so schnell wie möglich nach San Diego bringen, bevor in ihren Zellen der Zerfallsprozeß beginnt.« »Na gut«, brummte Pete. »Machen wir uns rasch auf den Weg.« »Oh, da wäre noch etwas.« Neville berührte einige Tasten des Interkom-Gerätes an der Wand. »Schwester Bridget, Schwester
Bridget, bitte melden Sie sich unverzüglich im BiopsyLaboratorium.« Vorsichtig spähte More in den Hauptraum der Krankenabteilung und stellte erleichtert fest, daß die Visitor bereits auf den Korridor trat, um der Aufforderung nachzukommen. »Jetzt können wir los«, sagte Neville.
Es erstaunte Pete noch lange, daß sie den Hangar erreichten, ohne unterwegs ein einziges Mal aufgehalten zu werden. Mehrmals fragte er sich, warum es bei den Visitors überhaupt kein Aufsehen erregte, wenn eine Leiche quer durchs Mutterschiff transportiert wurde. Aber Neville More verstand sich offenbar darauf, mit einem dreisten Bluff gefährliche Situationen zu meistern. Vor ihnen öffnete sich das große Schott, und Neville betrat als erster den riesigen Deckbereich, und nach ihm Lauren und Pete. Hannah Donnenfeld lag auf dem Schweber und bewegte sich nicht. Forsythe blickte sich argwöhnisch um. Auf dem Hangardeck herrschte rege Aktivität: Dutzende von Visitors waren bei der Wartung der kleinen Flotte von Skyfightern und Shuttle-Transportern. »Captain!« rief jemand. Neville reagierte nicht. Aus den Augenwinkeln sah Pete den Leutnant, mit dem More kurz nach ihrer Ankunft gesprochen hatte. Sie trafen ihn einige Meter vor dem Flugboot. »Was ist denn?« fragte Neville ungehalten. »Äh, wissen Sie, Sir, es ist eine Genehmigung erforderlich, um Menschen aus dem Mutterschiff zu bringen.« »Wir befördern eine Leiche«, erwiderte Neville scharf. »Ich bin als medizinischer Offizier dem Experimentation Center in San Diego zugewiesen, und selbst eine Verzögerung von wenigen Sekunden könnte den Erfolg der gegenwärtigen
Testreihen in Frage stellen. Es geht dabei um die Konservierung von Nahrungsmitteln.« »Es tut mir leid, Captain, aber ich muß mich an meine Vorschriften halten. Bitte zeigen Sie mir Ihre Autorisierungskarte.« Neville befeuchtete sich die Lippen. »Äh, die Karte?« Der Leutnant verschränkte die Arme. »Ja, Sir.« Er hakte einen Hololeser vom Gürtel. »Ohne eine Genehmigung kann ich Sie nicht passieren lassen.« Petes Pulsschlag beschleunigte sich, als er Unsicherheit in Nevilles Zügen sah. »Leutnant«, wandte sich More an Pete, »haben Sie eine Erlaubniskarte?« Als Pete den scharfen Unterton in der Stimme des Engländers hörte, wollte er schon verärgert aufbrausen. Dann aber begriff er, daß es sich nur um eine neue Taktik in Mores Auftritt handelte – er gab seinen Untergebenen die Schuld. Pete schlüpfte sofort in die zugewiesene Rolle. »Nun, leider nicht, Sir. Ich führe keine solche Karte mit mir. Ich wußte nicht, daß…« »Captain«, warf der Visitor-Wächter ein, »es handelt sich um eine neue Vorschrift, und es bleibt mir keine andere Wahl, als…« »Eine neue Vorschrift?« wiederholte Neville scharf. Pete begriff, daß der Engländer nur nach dem rettenden Strohhalm griff. »Davon hat mir niemand etwas gesagt. Lieber Himmel, ich arbeite mir die Finger wund und brauche bald eine neue Maske, wenn ich mir nicht vor lauter Löchern die Verkleidung ganz sparen will – und irgendein Idiot hat nichts Besseres zu tun, als neue Vorschriften zu erfinden. Aber eins steht fest, der Betreffende wird nicht ungeschoren davonkommen, wenn dadurch ein wichtiges Experiment scheitert.« More ließ heißen
Zorn in seinen Augen aufflammen. »Warum hat man mich nicht informiert? Das ist ein Versäumnis dieser Schwester namens Bridget! Wenn ich nächstes Mal an Bord zurückkehre, werde ich sie zur Rechenschaft ziehen und Diana höchstpersönlich Bericht erstatten.« »Darum kann ich mich kümmern«, sagte der Leutnant. »Nein, nein, das möchte ich selbst erledigen. Ich hasse Inkompetenz.« Pete trat vor. »Captain, vielleicht sollten Sie mit der Schwester nicht ganz so streng sein. Immerhin ist es eine neue Vorschrift. Ich glaube, die Verzögerung stellt noch keine Gefahr für unser Projekt dar. Vorausgesetzt allerdings, wir starten jetzt sofort.« »Nun, möglicherweise haben Sie recht, Pete«, erwiderte Neville und schob das Kinn vor. »Der Leutnant soll nur rasch die Autorisierungsdatei überprüfen, und dann machen wir uns gleich auf den Weg.« Er sah den Visitor-Wächter an. »Nun?« »Oh, natürlich, Sir.« Der Außerirdische trat an ein nahes Terminal heran und gab seine Anfrage ein. Wenige Sekunden später lächelte er. »Es ist alles in Ordnung, Captain Neville. Tut mir leid, aber ich konnte mich nicht an Ihren Namen erinnern. Sie haben tatsächlich die Erlaubnis, das Mutterschiff zu verlassen. Entschuldigen Sie bitte, wenn ich Sie sehr aufgehalten habe.« Der Visitor sah ihnen nach, als sie den Schweber ins Shuttle lenkten, und er entspannte sich erst wieder, als sich die Luke schloß. Pete nahm im Pilotensessel Platz, während Neville und Lauren die reglose Hannah im Heck-Abteil unterbrachten. »He, Neville, Sie sind wirklich nicht auf den Kopf gefallen. Das mit dem Wächter war echt großartig.« More winkte ab. »Bei der Zusammenarbeit mit den Visitors habe ich nach ganz kurzer Zeit die Erfahrung gemacht, daß
sich die Echsen eigentlich gar nicht so sehr von uns Menschen unterscheiden. Sie hassen es, sich Schwierigkeiten einzuhandeln.« Selbst Pete lächelte amüsiert, als er das Triebwerk einschaltete. »Sind alle angeschnallt? Okay…« Die Antigravitationsgeneratoren summten leise, als das Flugboot abhob und aus dem Hangar schwebte. Forsythe beschleunigte und ging auf nordöstlichen Kurs.
Bridget hörte, wie hinter ihr die Tür geöffnet wurde, und als sie sich umdrehte, sah sie Diana und Stavros. Sie stand rasch auf und salutierte, aber die Kommandeuse schenkte ihr überhaupt keine Beachtung und eilte wortlos an ihr vorbei. »Es ist zu früh, Diana.« Stavros’ Stimme klang bekümmert. Er hatte Mühe, mit der Kommandantin Schritt zu halten. »Meine Entscheidung steht fest«, sagte Diana. »Wir brauchen die Informationen jetzt sofort.« Vor der Tür zur Sicherheitssektion blieb sie stehen. »Öffnen Sie das Schott.« Stavros seufzte, senkte den Kopf und kam dem Befehl schnell nach. Diana trat ein – und fluchte zischend in ihrer eigenen Sprache. Der Doktor starrte ungläubig auf die leere Untersuchungsliege. Diana drehte sich in Zeitlupentempo zu ihm um, und in ihren Augen blitzte es, als sie fauchte: »Ihre Patientin scheint sich in Luft aufgelöst zu haben, Stavros. Finden Sie sie – sonst werden Sie sehr bald bereuen, an Bord meines Schiffes versetzt worden zu sein.«
14. Kapitel
Der Rückflug zum Brook-Cove-Laboratorium verlief ohne Zwischenfälle. Lauren rief ihren Vater an und bat ihn darum, sich intensiv um Hannah Donnenfeld zu kümmern. Sie selbst fuhr mit Pete und Neville More weiter, um im Hyatt Hotel mit dem Präsidenten zu sprechen. »Ich würde Ihnen am liebsten ins Gesicht spucken«, knurrte William Brent Morrow und starrte More finster an. »Aber Pete und Lauren haben mir davon abgeraten.« Neville schien in seinem Sessel zusammenzuschrumpfen, als der hochgewachsene Mann sich drohend vor ihm aufbaute. Pete und Lauren saßen auf dem bequemen Sofa und beobachteten stumm die Auseinandersetzung zwischen den beiden Männern. »Ich hätte Sie auf der Stelle verhaften lassen können, mein Lieber. Und das wissen Sie sicher.« Neville rieb sich den Nacken. »Ja, Sir, das ist mir klar. Die Frage ist nur: Was hätten Sie davon?« »Es wäre aber auch möglich, Sie als Verräter hinrichten zu lassen«, erklärte Morrow temperamentvoll, Wut und Empörung in der Stimme. Pete lächelte still vor sich hin. Er hatte bemerkt, daß es Neville wieder einmal fast gelungen wäre, aus der Defensive zu entkommen, aber der warnende Hinweis des Präsidenten hatte ihn wieder zu einer abwartenden Haltung gezwungen. »Also, wie ich eben schon sagte«, meinte More nach einigen Sekunden. »Wenn Sie mich jetzt ins Gefängnis stecken, verlieren Sie die einzige Möglichkeit, Dianas Bohrinsel im Persischen Golf zu zerstören.«
Morrow ließ sich in seinen Sessel sinken, ohne dabei den Blick von More abzuwenden. »Weshalb sind Sie so sicher, daß wir so etwas planen?« »Weil Sie genausogut wissen wie ich, daß Diana früher oder später eine Kontaminierung der Erdölvorkommen versuchen wird. Und nur ich bin in der Lage, das computerisierte Sicherheitssystem der Plattform zu knacken.« »Ist das noch eines von Ihren Projekten?« mischte sich Lauren ein. »Ich habe die Anlagen entwickelt, und deshalb kann ich sie auch außer Gefecht setzen. Mir sind nämlich einige Details aus unserer Entwicklungszeit bekannt, von denen Diana keine Ahnung hat.« »Einen Augenblick«, brummte Pete und machte ein Gesicht, als hätte er gerade in einen sauren Apfel gebissen. »Es ist eine Sache, ein bereits existierendes Computernetz anzuzapfen und in Erfahrung zu bringen, wie man es manipulieren kann. Es ist eine andere Sache, wenn man eines aufbaut. Ich bin sicher, Diana ließ Sie die ganze Zeit überwachen, während Sie die Sicherheitssysteme für die Bohrinsel konzipiert haben.« »Dem will ich gar nicht widersprechen. Einige Male sorgte ich sogar dafür, daß sie mich ertappte – sie wäre nämlich bestimmt argwöhnisch geworden, wenn ich mich wie ein braver Junge benommen hätte. Aber einem schlauen Fuchs wie mir fiel es nicht schwer, einige Hintertüren offenzuhalten. Die Programme enthalten ein elaboriertes Computervirus, das mir nicht nur jederzeit den Zugang zum System gestattet, sondern auch letztendlich die Kontrolle darüber. Mr. President: Wenn Sie die Anweisung geben, mache ich Diana einen Strich durch die Rechnung.« »Kommen Sie zur Sache.« »Die Verseuchung der Erdölvorkommen läßt sich nur verhindern, wenn ich persönlich in den Mittleren Osten reise
und die Bohrinsel aufsuche.« Neville beugte sich vor. »Dazu brauche ich das Visitor-Shuttle, das ich vom Mutterschiff mitgebracht habe. Und völlig freie Hand, ohne irgendwelche Einschränkungen.« Morrow runzelte die Stirn. »Sie werden sich genau an meine Anweisungen halten, Mr. More. Denken Sie ständig daran, was Ihnen blüht, wenn offiziell Anklage gegen Sie erhoben wird. Pete und Lauren sind meine persönlichen Assistenten und bekommen die Vollmacht, alle Anweisungen zu geben, die sie als notwendig erachten.« Morrow griff nach der Kaffeekanne und schenkte sich seine Tasse voll. »Wenn Sie nicht mit uns kooperieren, liefere ich Sie Diana aus. Inzwischen dürfte sie wissen, wie Hannah Donnenfeld aus der Gefangenschaft entkommen konnte. Und wenn sie Sie in die Hände bekommt, steht Ihnen eine sehr unangenehme Zeit bevor.«
Diana entspannte sich in ihrer Kabine und genoß das dämmrige Licht. Genüßlich beobachtete sie die weißen Mäuse in dem kleinen, transparenten Behälter auf ihrem Schoß. Sie fühlte sich versucht, den Deckel einfach aufzureißen und die Nagetiere voller Gier zu verschlingen, doch statt dessen griff sie nur nach einer Maus – der größten – und tötete sie mit einem raschen Biß, bevor sie quieken konnte. Es summte an der Tür, und Diana fuhr sich mit einer Hand durch das dunkle Haar, bevor sie das elektronische Schloß entriegelte. Lydia und Dr. Stavros kamen herein. »Und?« fragte die Kommandeuse. »Ich erwarte Ihren Bericht, Lydia.« »Deshalb bin ich hier. Dr. Stavros hat die Computeraufzeichnungen untersucht. In der
Bereithaltungshibernation vier fand er eine tote menschliche Frau mit der ID-Karte von Dr. Donnenfeld.« »Unmöglich.« Stavros nickte kurz mit dem Kopf. »Offenbar wurden die Identifikationsunterlagen der Toten verwendet, um die Donnenfeld unter dem Namen von Sylvia Newton aus dem Schiff zu bringen.« »Wir wissen längst, daß sie nicht mehr an Bord ist. Aber wo steckt sie jetzt, Lydia?« »Der Deckoffizier im Hangar berichtete nur, drei Mediziner hätten die angebliche Leiche in ein Shuttle gebracht. Als Flugziel gaben sie das Experimental Center in San Diego an.« »Vielleicht lügt der Kerl«, zischte Diana. »Das dachte ich zuerst auch«, meinte Lydia. »Ich habe die Autorisierungscodes kontrolliert. Die Transportanweisung war ordnungsgemäß eingegeben.« »Und wer hat die Genehmigung erteilt?« Lydia versuchte, ihre Genugtuung nicht allzu deutlich zu zeigen. »Ein gewisser Dr. Neville.« Sie legte eine kurze Kunstpause ein. »Ich habe Sie immer gewarnt, ihm zu vertrauen.« »Ich habe ihm ja gar nicht vertraut«, gab Diana scharf zurück. »Er wurde ständig überwacht.« »Ganz offensichtlich nicht genug.« Lydia lächelte. Dianas Züge wurden hart. »Vielleicht sollten wir einmal festzustellen versuchen, warum Ihr Sicherheitsteam bei einer solchen Routineaufgabe versagte, Lydia. Sie können gehen.« Die blonde Visitor drehte sich auf den Absätzen um und verließ die Kabine. Stavros sah die Kommandeuse nervös und unsicher an. »Verschwinden Sie ebenfalls!« fauchte Diana. Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, hob Diana den geöffneten Behälter mit den Mäusen auf und beobachtete die
kleinen Nagetiere eine Zeitlang. Dann kippte sie die Schüssel und verschlang die weißen Nager nacheinander. Die Gefangene war entkommen; daran ließ sich jetzt nichts mehr ändern. Bestimmt wird Lydia versuchen, davon zu profitieren, dachte Diana und lachte leise. Es wird sie überraschen, die neuesten Nachrichten zu hören. Der Laborchef hatte ihr gerade mitgeteilt, es sei endlich gelungen, den genetischen Fehler im Öl-Bakterium zu finden. Und das bedeutete: Innerhalb von achtundvierzig Stunden würde ein anderer Mikroorganismus zur Verfügung stehen, der den gewünschten Zweck erfüllt. Und anschließend würde es nicht mehr lange dauern, bis die größten Ölvorkommen der Erde für die Menschen unbrauchbar waren. Diana zweifelte nicht daran, daß ihr Sieg bereits feststand.
15. Kapitel
Es blieb Neville More keine andere Wahl, als auf die Bedingungen des Präsidenten einzugehen. Mit Pete und Lauren kehrte er zum Brook-Cove-Laboratorium zurück, wo sie das Shuttle mit Vorräten und Ausrüstungsgegenständen beladen wollten. Mit Überschallgeschwindigkeit dauerte der Flug zum Mittleren Osten zwar nur rund vier Stunden, aber sie mußten vorbereitet sein, wenn sie auf Patrouillen der Visitors stießen und gezwungen waren, vor dem eigentlichen Ziel zu landen. Es gab noch einen anderen Grund für den Abstecher nach Brook Cove. Sie wollten feststellen, wie es Hannah Donnenfeld jetzt ging. Die alte Wissenschaftlerin saß in einem Rollstuhl und wirkte ziemlich mürrisch und verdrießlich. Nach einem kurzen Gespräch schnauzte sie Pete und seine Begleiter ruppig an, nicht noch mehr Zeit zu verlieren. Doc Stewart und sie winkten Peter und Lauren nach, als sie mit Neville zum wartenden Flugboot gingen. Eine Hand von Laurens Vater ruhte wie absichtslos auf der Rückenlehne des Rollstuhls, die andere auf Hannahs Schulter. »Wollen Sie mich trösten?« fragte sie spöttisch. »Nein. Ich möchte nur verhindern, daß Sie aufspringen und ebenfalls an Bord gehen«, gab er gutmütig zurück. »Ich hasse es, an dieses verdammte Ding gefesselt zu sein, George. Und Sie brauchen mich nicht dauernd zu schieben. Die Sklaverei ist abgeschafft, oder wußten Sie das nicht?« Doc Stewart versuchte, ihrem Blick voller Ernst standzuhalten, doch schon nach einigen Sekunden stahl sich
ein Lächeln auf seine Lippen. Wortlos rollte er sie ins Haus zurück. »Haben Sie doch Mitleid mit mir, George!« jammerte die alte Frau. »Ich bin hier die Henne, die ihre Küken umsorgt. Ich habe einen Ruf zu verlieren. Hier gelte ich als Übeltäterin, nicht als Opfer.« Sari James und Mitchel schlenderten heran. »Geschieht Ihnen ganz recht«, ulkte Loomis. »Uns ist jetzt endlich aufgefallen, daß Sie eigentlich gar nicht gebraucht werden, um die Arbeit im Laboratorium fortzusetzen«, fügte Sari hinzu. Hannah rückte die Red Sox-Mütze auf ihrem weißen Haar zurecht. »Ich kehre von den Toten zurück, und Sie machen nichts weiter als dumme Witze über mich.« Sie seufzte. »Ach, hätte man mich doch bei den Visitors gelassen!«
Es war der längste Flug, den Pete Forsythe jemals mit einem Shuttle der Außerirdischen unternommen hatte. Die computerisierten Kontrollen des kleinen Skyfighters erforderten nur wenig Aufmerksamkeit, und so konnte Pete in aller Ruhe aus den Fenstern sehen und nachdenken. Sie schwebten über die Tundra von Grönland, über die gewaltige Wasserwüste zwischen Nordamerika und Europa, die Fjords von Skandinavien. Dort änderte Peter den Kurs, und der Flug ging nach Süden weiter, über die zerklüfteten Berge hinweg, die die Grenze zwischen Europa und Asien bilden. »He, bist du wach?« Laurens Stimme kam aus dem Heckabteil des Shuttles. Pete drehte sich um. »Ich habe nicht geschlafen, nur nachgedacht.« »Über was?« fragte Neville. »Die verschiedensten Dinge.« Forsythe zuckte mit den Schultern. »Es ist schon seltsam: Aus der Höhe sieht die Erde
so friedlich aus. Vor allem dann, wenn keine Visitors in der Nähe sind.« »Wie lange dauert es noch, bis wir das Ziel erreichen?« erkundigte sich Lauren. Pete blickte kurz auf die Anzeigen der Instrumente. Inzwischen kannte er die Bedeutung einiger Zeichen und Symbole der Außerirdischen. »In einer halben Stunde müßten wir da sein – am späten Nachmittag nach israelischer Zeit.« »Bist du jemals in diesem Teil der Welt gewesen?« fragte Lauren. Pete schüttelte den Kopf, und nach einigen Sekunden lachte er leise. »Was ist denn so komisch?« »Oh, mir fiel gerade etwas ein. Ich habe immer wieder gesagt, ich wollte weder in den Nahen noch in den Mittleren Osten reisen, solange sich Juden und Araber gegenseitig umbringen. Hielt das für zu gefährlich. Ständig riskiert man es, zwischen die Fronten zu geraten oder von einem verdammten Terroristen in die Luft gejagt zu werden.« Lauren nickte verstehend. »Mhm. In gewisser Weise ist es jetzt umgekehrt. Jetzt sind wir die Terroristen, die etwas zerstören wollen.« »Abwechslung ist die Würze des Lebens«, ließ sich Neville vernehmen. »Ach?« machte Pete. »Im Ernst. Ich bin ziemlich weit herumgekommen. So etwas erweitert den Horizont, wenn Sie verstehen, was ich meine.« »Insbesondere dann, wenn man unterwegs gute Wünsche und Computerviren verteilt«, brummte Forsythe. »Und wie ist es mit dir, Laur?« »Ich kenne die Juden und Araber von meiner Arbeit mit Olav Linstrom her. Wir waren in Israel, Jordanien, Ägypten, im Libanon und auch in Saudi Arabien. Ich wünschte mir immer,
mit heiler Haut zurückkehren zu können.« Sie sah aus dem Fenster und seufzte. »Von jener Region geht dennoch eine starke Faszination aus. Schließlich ist sie die Wiege der Zivilisation. Im Nahen Osten entstanden die drei größten westlichen Religionen.« Neville nickte ironisch. »Und bis vor kurzer Zeit wurden die biblischen Traditionen von einem ständigen Gemetzel begleitet. Zuerst ging es Israel zwar nur darum, sich zu verteidigen. Später aber kamen gewisse Kreise auf die Idee, ein Großisrael zu schaffen und sich die besetzten Gebiete ganz einzuverleiben. Sie schossen auf unbewaffnete Palästinenser, die mit Steinen nach ihnen warfen, ermordeten Frauen und Kinder. Und waren auch noch so unverschämt, sie als ›Terroristen‹ zu bezeichnen. Und wie würden Sie dann jemanden nennen, der hilflosen Gefangenen mit Steinen die Knochen zertrümmert?« Eine Zeitlang herrschte Schweigen. »Wo landen wir, Forsythe?« fragte Neville dann. »Bei Masada. Dort gibt es eine Basis der Widerstandsbewegung.«
Wenn man die judäische Wüste mit einem Ozean vergleichen will, so sind Felsen, Schluchten und Dünen seine Wellen. Das Hochland wirkt wie ein gewaltiges, flaches Schiff, das auf diesen symbolischen Fluten schwimmt. Von der Form her erinnert es tatsächlich an ein großes Boot mit abgerundeten Kanten. Jahrtausendealter Sand schmiegte sich sanft an die Flanken der Ruinenstadt Masada. Die sinkende Sonne am Horizont verlieh den sonst gelbbraunen Felsen einen blutroten Schimmer, und als sich das Shuttle von Nordwesten her näherte, zeichneten die Mauern klare Konturen vor einen tiefblauen Himmel.
Masada lag vierhundertvierzig Meter über dem Westufer des Toten Meeres, war wie ein Rhomboid geformt und durchmaß etwa eine halbe Meile. Die Breite entsprach zwei Fußballfeldern. Als Pete das Flugboot dem Boden entgegensteuerte, konnten sie die mehr als zweitausend Jahre alten Ruinen besser erkennen. Die drei getarnten Zelte standen in einem seltsamen Kontrast dazu, und unter den Planen verbargen sich unter anderem die Hubschrauber der lokalen Widerstandsgruppe. Im Norden von Masada erhob sich eine Festung, die direkt aus dem Fels gemeißelt zu sein schien. Lauren brach das ehrfürchtige Schweigen, als Peter die Geschwindigkeit reduzierte und zur Landung ansetzte. »Die Festungsanlage dort drüben wurde in den Jahren 36 bis 30 vor Christus von König Herodes dem Großen erbaut.« Ihre Stimme zitterte vor Aufregung. »Meine Güte, ich kann es noch gar nicht fassen, daß wir hier sind! Hoffentlich können wir uns auch ein wenig umsehen.« Pete räusperte sich. »Wir brechen ja erst morgen früh wieder auf. Mit anderen Worten: Wir haben noch den Rest des Nachmittags und den ganzen Abend, um Touristen zu spielen. Vorausgesetzt natürlich, die hiesigen Widerstandskämpfer haben nichts dagegen, sich mal als Fremdenführer zu betätigen.« »Dann beeil dich und lande, bevor die Sonne untergeht«, drängte Lauren. Das Shuttle setzte etwa hundert Meter von den Zelten entfernt auf, und als Pete das Triebwerk abschaltete, öffnete Lauren die Luke, stieg aus – und erstarrte förmlich. Neville und Forsythe folgten ihr und blieben genauso abrupt stehen. »Toller Anblick, was?« sagte Pete und blickte sich lächelnd um. Das einzige Geräusch stammte vom Wind, der leise über die Ruinen von Masada hinwegflüsterte.
Nach einigen Sekunden hörten sie eine Stimme. »Rührt euch nicht von der Stelle!« rief jemand. »Wie lautet das Kennwort?« Pete bildete aus den Händen einen Trichter vorm Mund und antwortete: »Es ist kein Kennwort, sondern ein ganzer Satz: Nichts versinkt im Toten Meer.« »In Ordnung«, bestätigte die körperlose Stimme. »Und die richtige Erwiderung darauf ist folgende: Das sagte meine Frau, bevor sie ertrank.« Sie hörten Schritte, und kurz darauf traten drei Männer hinter einer der alten Mauern hervor. Alle trugen khakifarbene Tarnanzüge. Ihr Anführer war ein hochgewachsener, bärtiger Araber. Ihm folgte ein dürrer Typ mit rötlichem Haar und ein zweiter Araber mit dunklerer Haut. »Stimmt es wirklich, daß im Toten Meer nichts versinkt?« fragte Pete. Der bärtige Araber lachte und zeigte dabei strahlendweiße Zähne. »Das behauptet man jedenfalls«, erklärte er mit auffallend britischem Akzent. »Es ist achtmal salziger als normales Meerwasser.« »Stimmt schon«, bestätigte der schmächtige Mann. »Nichts versinkt oder lebt darin. Ich bin übrigens Lavi Mayer.« Er deutete erst auf seinen bärtigen Begleiter und dann auf den dritten Mann. »Das sind Abdul ibn Aziz und Gamel Nefti.« Pete stellte Lauren und Neville vor. »Willkommen in Masada«, sagte Lavi. »Da wir hier in Israel sind, bin ich jetzt wohl der offizielle Gastgeber. Wenn wir nach Saudi Arabien kommen, kann Abdul die Rolle übernehmen.« Lauren hob den Arm und zeigte auf die Ruinen. »Ich habe über Masada gelesen, aber… Also, die Stadt ist einfach unglaublich.«
»Was halten Sie dann von einer Besichtigungstour?« fragte Lavi. »Diese Frage erspart uns eine entsprechende Bitte«, erwiderte Pete und lachte. »Aber was ist mit dem Shuttle? Wenn eine Visitor-Patrouille dieses Gebiet überfliegt und es entdeckt…« »Ich sorge dafür, daß es unter einem Tarnnetz versteckt wird«, sagte Gamel und verschwand in Richtung der Zelte. »Sind nur Sie drei hier?« erkundigte sich Neville. Abdul schüttelte den Kopf. »Nein. Die meiste Zeit halten sich mehr als zehn Personen auf. Es gibt hier gute Bedingungen, sich zu verbergen, und außerdem verfügen wir über elektronische Ortungsinstrumente.« Pete hob die Augenbrauen. »Wo verbergen Sie sich denn? Ich kann nicht einmal einen Busch sehen, hinter den man sich ducken könnte.« Lavi lachte. »Unser eigentlicher Stützpunkt befindet sich nicht auf den Felsen der Ruinenstadt, sondern darin.« Lauren schnippte mit den Fingern. »Jetzt fällt es mir wieder ein. Auch davon habe ich gelesen. Hier existieren viele unterirdische Gewölbe und Kammern.« »Kommen Sie«, sagte Lavi. »Bald wird es dunkel, und Straßenlaternen können wir leider nicht bieten. Was ist mit Ihnen, Abdul?« »Was halten Sie von einem guten Essen?« fragte der Araber und lächelte, als die Besucher erfreut nickten. »Dachte ich mir doch. Dann führen Sie unsere Gäste erst einmal herum, Lavi. Ich sorge inzwischen dafür, daß etwas auf den Tisch kommt. Wir sehen uns später.«
Während das letzte Tageslicht verblaßte und die Sterne am wolkenlosen Nachthimmel aufleuchteten, wanderten Pete, Lauren, Neville und Lavi durch die zweitausend Jahre alte
Ruinenstadt. Sie sahen sich den dreifach terrassierten NordPalast mit seinen wundervollen Fresken an, den Befestigungswall mit etwa dreißig Türmen, und bewunderten die eindrucksvollen Reste der zwölf Zisternen. Die Stadt war unmittelbar gestaltgewordene Geschichte, und gleichzeitig empfanden sie die Ruinen wie ein Symbol: Diesmal galt der Kampf nicht den Römern, sondern einem Feind, der nicht von dieser Welt stammte, der noch grausamer und unerbittlicher war als die Imperatoren vom Schlage eines Caligula. Später kehrten sie zum Lager zurück, und Lavi schritt rascher aus, als er einen vielversprechenden Duft wahrnahm. »Kommen Sie«, sagte er. »Ich glaube, das Essen ist schon fertig.« Die drei mußten sich beeilen, um nicht den Anschluß zu verlieren. »Wohin bringen Sie uns?« fragte Forsythe. Lavi zeigte auf einen massiv aufragenden Abschnitt des Befestigungswalls, und als Pete genauer hinsah, entdeckte er einen schmalen Durchlaß, vor dem eine Plane hing. Dahinter erreichten sie eine kleine Kammer, in der einige andere Widerstandskämpfer an einem Tisch saßen. Abdul füllte verführerisch duftenden Eintopf in zerbeulte Aluminiumteller. »Ich habe auch Kaffee gekocht«, sagte er. Lauren schob sich skeptisch den ersten Löffel in den Mund und leckte sich genießerisch die Lippen. »He, das schmeckt ja ausgezeichnet. Was haben Sie denn da alles reingetan?« Lavi winkte ab. »Vergessen Sie diese Frage am besten… Sonst schlägt Ihnen die Mahlzeit vielleicht doch noch auf den Magen.« »Ist es so schlimm?« erwiderte Lauren leise und starrte auf ihren Teller. »Schlimmer, aber wir ernähren uns schon seit Monaten von dem Zeug – und bisher haben wir’s überlebt.« Lavi kicherte plötzlich und lehnte sich an die Wand zurück.
Gamel rollte mit den Augen. »Der Kerl kann es immer noch nicht lassen. Er muß ständig seine blöden Witze reißen.« Er sah Lauren an. »Hören Sie nicht auf ihn. Er spinnt ein bißchen.« Sie lachten erleichtert, und nach einer Weile fragte Abdul: »Hat Ihnen die Besichtigungstour gefallen?« Pete, Lauren und Neville nickten begeistert. »Vielleicht sollten Sie ins Touristengeschäft einsteigen«, schlug der Araber mit einem Blick auf den Israeli vor. »Damit haben Sie jedenfalls größeren Erfolg als mit Ihren seltsamen Scherzen.« Pete löffelte den Eintopf heißhungrig in sich hinein. »Wie fühlen sich eigentlich Araber, die in den Resten einer zweitausend Jahre alten jüdischen Stadt leben?« »Oh, wir konnten die Römer ebenfalls nicht leiden«, entgegnete Gamel fröhlich. »Ganz im Gegensatz zu dem, was an manchen Stellen über Kleopatra und Markus Antonius geschrieben wurde.« »Ich möchte Ihre Freundschaft nicht in Frage stellen«, sagte Lauren vorsichtig. »Aber während meiner Arbeit bei der UNO mußte ich immer wieder erleben, daß Ihre drei Länder doch sonst nicht gerade ein Herz und eine Seele waren.« »Vor den Visitors – dieses Kapitel ist abgeschlossen«, antwortete Abdul. »Vielleicht wissen Sie es nicht: Seit die Archäologen Masada ausgegraben haben, legen die Soldaten der israelischen Panzertruppen hier ihren Eid ab. Sie schwören dabei, daß ›Masada nie wieder fallen wird‹. Und das können wir alle nur unterstreichen, wo damit jetzt unser ganzer Planet gemeint ist.« »Außerdem«, warf Gamel ein und sah ruhig auf, »waren Araber und Juden nicht immer Feinde. Einige Jahrhunderte nach der Gründung des Islam durch Mohammed stellten wir zusammen die bedeutendste Macht auf der ganzen Erde dar.«
»Das stimmt«, bestätigte Abdul. »In Europa begann das dunkle Zeitalter, und wir Araber sorgten dafür, daß das Licht der Zivilisation nicht erlosch. Unsere Gelehrten bewahrten nicht nur das Wissen der alten Griechen und Römer, sondern schufen auch die Basis für die moderne Mathematik. Arabien war damals das Zentrum von Kunst und Handel.« »Das klingt ganz nach Eigenlob«, sagte Lavi leise, »aber ich muß gestehen, daß jedes Wort der Wahrheit entspricht. Die Juden, die einst in Palästina lebten, wurden von den Römern deportiert oder verjagt. Die Flüchtlinge ließen sich sowohl in den verschiedensten Regionen der arabischen Welt nieder als auch in vielen Staaten Europas. Da wir praktisch ständig unterwegs waren, verdienten wir unseren Lebensunterhalt als Kaufleute. Wir verbanden Arabien mit den Nationen des Christentums.« »Zweihundert Jahre lang konnten die Juden in jener Zeit unter arabischer Herrschaft ihre Religion praktizieren, was ihnen von den Christen verboten wurde«, meinte Abdul. »Und sie gelangten dabei auch zu Wohlstand.« »Damals scheint ja alles bestens gewesen zu sein«, warf Neville ein. »Aber was geschah dann?« Der Israeli tauschte einen scheuen Blick mit seinen arabischen Kameraden aus. »Die allgemeine Lage veränderte sich«, sagte er bedauernd. »Die Gezeiten der Geschichte kamen in Bewegung.« »He, hat jemand Lust, mit mir Schach zu spielen?« fragte Gamel und beendete damit den Ausflug in die Geschichte. »Wie wär’s mit Ihnen, Pete?« »Tut mir leid, hab’ leider nie Schach gelernt!« »Ich bringe es Ihnen bei!« »Lieber nicht«, sagte Abdul. »Sie werden es bereuen«, warnte Lavi. »Er mogelt«, behauptete Abdul.
Gamels fröhliches Gesicht umwölkte sich für einige Sekunden. »Das ist eine Verleumdung«, protestierte er und wandte sich wieder an Pete Forsythe. »Lavi will nicht mehr mit mir spielen, weil er ständig verliert.« Der Israeli schnaufte abfällig. »Ja, und Sie vergleichen Ihre Züge dauernd mit den militärischen Aktionen während des Sechs-Tage-Krieges.« Gamel ignorierte diesen Einwand. »Warum Abdul sich so hartnäckig weigert, auf dem Schachbrett gegen mich anzutreten, habe ich bis heute nicht begriffen. Vielleicht deshalb, weil die Angehörigen der saudischen Königsfamilie schlechte Verlierer sind.« »Der königlichen Familie?« wiederholte Pete überrascht. »Natürlich«, sagte Lauren. »Prinz Abdul ibn Aziz. Hat in Princeton Ökonomie studiert. Sie waren doch Ölminister, als wir uns vor ungefähr vier Jahren bei einem UN-Empfang begegneten.« Abdul lächelte. »Ich fühle mich geschmeichelt, daß Sie sich daran erinnern.« Pete brummte und war noch immer verblüfft. »Und was machen Sie ausgerechnet hier?« Der saudische Prinz wurde wieder ernst. »Ich bin schließlich auch ausgebildeter Soldat, Pilot der Luftwaffe.« Er zögerte kurz. »Als die Visitors unsere Hauptstadt Rijad besetzten, gerieten die meisten meiner Familienangehörigen in Gefangenschaft. Viele von ihnen starben. Einigen anderen gelang dagegen die Flucht. Wir haben rasch begriffen, daß es vor allem darauf ankam, unsere Ölvorkommen zu schützen. Das war dann auch der Grund für die Bildung der Arabischen Verteidigungsstreitmacht.« »Wir sind genauso auf Erdöl angewiesen«, sagte Lavi. »Vor dem Auftauchen der Visitors kauften wir es bei den Saudis. Dann aber, nach der Invasion der Echsen, setzten wir uns mit
ihnen in Verbindung und schlugen vor, gemeinsam gegen den Feind vorzugehen.« Inzwischen hatte Gamel die Figuren aufgestellt und sah hoffnungsvoll von seinem Schachbrett auf. »Das ist richtig. Wir alle wollten überleben. Wenn es uns irgendwann gelingen sollte, die Außerirdischen zu vertreiben, haben wir noch immer Zeit genug, uns gegenseitig umzubringen, weil wir in Hinsicht auf die Heimat der Palästinenser unterschiedliche Meinungen vertreten. Aber wenn uns die Visitors besiegen, ist die Sache ohnehin erledigt.« Pete seufzte leise. »Und es besteht ein wenig Hoffnung, daß Sie später vielleicht gar nicht mehr gegeneinander kämpfen wollen.« Abdul nickte. »Möglicherweise haben Sie recht. Vielleicht nicht. Hoffen wir nur, daß wir überhaupt eine Chance bekommen, diese Frage noch zu klären.« Eine Stunde lang sprachen sie über andere Dinge, und Prinz Abdul unterhielt die Besucher sogar damit, daß er auf einer Mundharmonika spielte. Schließlich aber erinnerte Lavi daran, daß sie am nächsten Morgen früh aufstehen mußten, und schlug vor, endlich zu schlafen. Einige Widerstandskämpfer machten sich auf den Weg zu den Zelten. Andere verschwanden in ein unterirdisches Gewölbe. Die Gastgeber stellten Pete, Neville und Lauren zusammenklappbare Feldbetten zur Verfügung, und während die Liegen aufgestellt wurden, nahm Gamel Pete Forsythe beiseite. Der Ägypter wirkte plötzlich sehr verlegen. »Äh, ich hoffe, ich trete Ihnen nicht zu nahe… Als ich zur Armee kam, habe ich auch mal Ihre Heimat besucht. Dabei entdeckte ich meine Leidenschaft für Baseball und wurde zu einem Yankee-Fan.« Pete lachte leise. »Haben Sie viele Spiele beobachtet?«
»Leider war ich Panzerkommandant, und die militärischen Übungen fanden in Ihren Wüstengebieten statt. Auf dem Rückweg nach Hause hatten wir aber einen Zwischenaufenthalt in New York, und dort besuchte ich das Yankee-Stadion. Ich habe sogar einmal selbst gespielt, als dritte Base, und deshalb sah ich Ihnen genau zu.« »Hoffentlich habe ich Sie nicht enttäuscht.« »Oh, nein, ganz und gar nicht.« Gamel zögerte erneut. »Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich Sie, äh, um ein Autogramm bitte?« »Ich bin jetzt Arzt, Gamel. Schon seit zwei Jahren habe ich nicht mehr gespielt.« »Sie waren mein einziger Baseball-Held«, erwiderte der Araber. Pete lächelte. »Es wäre mir eine Ehre, Ihnen ein Autogramm zu geben.« Der Ägypter schien erleichtert zu sein, blieb vor Pete stehen und lächelte. Pete wartete einige Sekunden lang und hob dann die Hand. »Haben Sie einen Stift, Gamel?« »Nein. Und Sie?« Forsythe zog einen Kugelschreiber aus der Tasche. »Papier?« »Wenn Sie einen Zettel hätten…« Pete schüttelte den Kopf und lachte. »Kein Problem, Gamel. Im Shuttle. Kommen Sie.«
16. Kapitel
»Ich soll auf einem Kamel reiten? Kommt überhaupt nicht in Frage.« Pete schüttelte den Kopf, wie ein trotziges Kind, das sich weigert, bittere Medizin einzunehmen. »Was haben Sie denn gegen Kamele?« fragte Gamel. »Ich bin schon als kleiner Junge auf ihnen geritten.« »Ja, aber Sie wuchsen auch mit Kamelen auf.« Gamel gab sich empört. »Was wollen Sie damit sagen?« »Zum Teufel, Sie wissen schon, wie ich das meine.« Der Araber zuckte resigniert mit den Schultern. »Es gehört nun mal zum Plan. Wenn Sie nicht reiten wollen, müssen Sie zu Fuß gehen.« Abdul, Lavi und Neville beobachteten Pete amüsiert. Lauren runzelte argwöhnisch die Stirn. »Du scheinst Kamele nicht sonderlich zu mögen.« »Lassen wir das. Ich habe meine Gründe.« »Eine komische Phobie – und ausgerechnet jetzt mußt du uns darauf aufmerksam machen.« »Na, in New York brauchten wir uns in Hinsicht auf Kamele wohl kaum den Kopf zu zerbrechen, oder?« knurrte der junge Mann gereizt. Lauren stampfte mit einem Fuß auf. »Pete, das ist doch lächerlich. Erklär mir bitte, warum…« Er hob resigniert die Arme. »Schon gut, schon gut. Einmal habe ich mit meinen Töchtern den Zoo in der Bronx besucht, und sie wollten unbedingt auf einem Kamel reiten. In Ordnung. Was wußte ich damals schon über Kamele? Lawrence von Arabien ritt auf solchen Tieren. Das genügte mir. Die Mädchen waren begeistert. Sie hielten das alles für
eine tolle Sache. Der Wärter half ihnen beim Aufsteigen, und sie quietschten vor Vergnügen. Ich wollte das Kamel streicheln, und daraufhin brüllte das verdammte Biest nur und versuchte, mich zu beißen. Ich hasse Kamele.« Seine Zuhörer grinsten. »Zufrieden?« Abdul versuchte, möglichst ernst zu bleiben. »Vermutlich handelte es sich um einen New Yorker Taxifahrer, der als Kamel wiedergeboren wurde.« »Ha, ha«, machte Pete. Lauren krümmte sich vor Lachen, und er fragte sie spitz: »He, Laur – was hältst du davon, wenn ich unseren Freunden von deiner Phobie erzähle?« Sie richtete sich wieder auf. »Wag es bloß nicht.« »Wieso denn? Es würde sie bestimmt interessieren zu hören, daß du…« Sie ging kurzentschlossen auf ihn zu und hielt ihm den Mund zu. »Ich glaube, wir sollten jetzt besser aufbrechen. Die Einzelheiten des Plans können wir unterwegs besprechen.« Die anderen nickten und begannen damit, ihre Sachen zusammenzupacken. Als am östlichen Horizont das erste Licht des neuen Tages aufglühte, startete das Visitor-Shuttle, ließ Masada unter sich zurück und flog der aufgehenden Sonne entgegen. Sie überquerten das Tote Meer, eine unbewegte Wasserfläche, die sich glatt unter ihnen erstreckte. Pete saß an den Kontrollen, und Abdul ibn Aziz hatte im Sessel des Copiloten Platz genommen. Nach wenigen Minuten passierten sie die jordanische Grenze. »Die jordanische Wüste wird Hamada genannt«, erklärte Prinz Abdul. »Nichts weiter als Sand, Kies und Splitter von Feuersteinen.« »Klingt ganz so, als sollten wir hier lieber nicht abstürzen«, brummte Pete. »Kann man wohl sagen.«
Kurze Zeit später schwebten sie über Saudi Arabien und setzten den Flug nach Südosten fort. »Kaum zu glauben, daß Ihre Mitbürger es fertigbringen, in einem solchen Land zu überleben«, sagte Pete. »Wenn ich durch die Wüste unterwegs war, gingen mir oft ähnliche Gedanken durch den Kopf. Aber meine Heimat besteht nicht nur aus Sand.« »Nein?« »Nein, einige Gebiete sind sogar noch schlimmer. Im Süden gibt es eine Zone, die wir Ar Rab al Khali nennen. Sie umfaßt zweihundertfünfzigtausend Quadratmeilen Dünen, die der Wind ständig verändert.« Pete war schon längere Zeit nachdenklich. »Abdul, warum haben immer wieder irgendwelche Mächte versucht, den Nahen und Mittleren Osten zu erobern? Dies ist doch alles andere als ein Garten Eden.« Der saudische Prinz lächelte. »Heutzutage geht es natürlich ums Erdöl. Damals war dieser Teil der Welt so bedeutend, weil er Zugang zu anderen Gebieten gestattete. Für die Römer handelte es sich um eine Pufferzone an der Peripherie ihres Imperiums. Später zogen von hier aus Karawanen nach Indien und dem Fernen Osten.« »Und jetzt die Visitors.« »Ja. Die Außerirdischen sind nur die letzten Eroberer auf einer langen Liste.« Eine Zeitlang schwiegen sie. Pete sah aus dem Fenster und blinzelte verwirrt. »Was ist das denn?« »Für was halten Sie es, Yank?« »Sieht fast so aus wie in Kansas. Sind das da unten Felder und Äcker?« Abdul hob die Augenbrauen. »Ich sagte Ihnen doch mal, daß meine Heimat nicht nur aus Wüsten besteht. Es gibt viele
Oasen, und ein großer Teil des Geldes, das Staaten wie die USA für unser Öl bezahlen, wird in umfangreiche Bewässerungsobjekte investiert. Es geht uns dabei darum, die Nomadenstämme seßhaft zu machen.« Er lachte kurz. »Die Israelis sind nicht die einzigen, die es schaffen, eine Wüste in fruchtbares Land zu verwandeln, nicht wahr, Lavi?« »Sie haben ganz recht, Euer Hoheit«, kam die gutmütige Antwort aus dem heckwärtigen Abteil des Flugbootes. »In Ordnung, Yank«, sagte Abdul. »Wird Zeit, daß Sie mir die Kontrollen überlassen.« Er deutete durch die Bugkanzel. »Sind wir denn schon da?« »Ja. Wir landen bei der Oase Al Hasa – der größten in der ganzen Welt.« Peter spürte plötzlich ein dumpfes Unbehagen. »Und dort beginnt wohl unsere Kameltour, nicht wahr?« »So ist es.« Der Saudi sah sich um. »Wir landen in zehn Minuten!« rief er den anderen zu. Lauren griff nach einer Segeltuchtasche. »In Ordnung. Pete, Neville – hier sind eure Sachen. Ich habe uns allen Ausweise und diplomatische Papiere besorgt.« Sie wandte sich kurz an ihre drei Begleiter. »Und Sie brauchen bestimmt keine gefälschten ID-Karten?« »Ich bleibe beim Shuttle«, erklärte Gamel. »Und Lavi und Abdul sollten es eigentlich schaffen, sich wie Einheimische zu benehmen.« Pete und Neville machten sich an die Arbeit, und Minuten später hatten beide Männer einen Vollbart. Aufmerksam prüften sie ihr Aussehen im Spiegel und verglichen es mit den Fotografien der Ausweise. »Gute Arbeit«, sagte Neville und kontrollierte die Papiere. »Kein Wunder«, antwortete Lauren. »Sie stammen von der UNO.«
Mit einem sanften Ruck landete das Shuttle auf dem sandigen Boden. Pete öffnete die Luke und stieg als erster aus. In der Nähe standen einige braune Zelte, und Kamele und Ziegen tranken an einem kleinen Wasserloch. Die breiten Blätter hoher Dattelpalmen spendeten angenehmen Schatten. »Haben Sie nicht erzählt, das sei die größte Oase der Welt?« wandte sich Pete an Abdul. »Die ist noch zehn Meilen entfernt«, gab der Araber zurück. »Das hier ist nur eine der neuen Siedlungen, von denen ich vorhin gesprochen habe. Bei Al Hasa leben hunderttausend Menschen – zumindest waren es so viele vor der Ankunft der Visitors. Es gibt dort einen riesigen Basar, der inzwischen zu einem bedeutenden Schwarzmarkt geworden sein dürfte.« Lavi strich sich mit einer Hand übers dichte Haar. »Sind Sie sicher, daß uns keine Gefahr durch Visitor-Patrouillen droht?« »Ganz einfach«, sagte Abdul, »Sie begleiten mich, und ich sorge dafür, daß Sie wie Beduinen wirken. Kleine Gruppen sind ständig zwischen hier und Hofuf unterwegs, und die Außerirdischen ignorieren sie weitgehend. Wenn wir dort angekommen sind, schlüpfen wir beide in die Rolle von lokalen Fremdenführern und bringen drei Diplomaten per Eisenbahn nach Ras Tanura an der Küste.« »Keine Kamele mehr?« fragte Pete zaghaft. »Nein, nur während der ersten Etappe. Von Ras Tanura aus – dort gibt es übrigens viele Raffinerien – fahren wir mit einem Wagen nach Safaniya, zur Bohrinsel der Echsen.« Ein dicker Mann in einem weiten Burnus kam ihnen entgegen und lächelte strahlend. Zwei Goldzähne funkelten in seinem Mund. »Euer Hoheit!« Abdul umarmte ihn. »Said, mein Freund! Es scheint Ihnen trotz der schlechten Zeiten ziemlich gutzugehen.« Er deutete auf die Leibesfülle des Arabers.
Said neigte beschämt den Kopf. »Ich habe niemandem das Brot gestohlen, Hoheit.« »Da bin ich ganz sicher.« Abdul grinste. »Es macht mich verlegen, daß Sie mich Hoheit nennen – immerhin haben wir ja eigentlich keine echte Regierung mehr. Abdul genügt für den Augenblick. Ist alles vorbereitet?« »Natürlich. Wir haben uns streng an Ihre Anweisungen gehalten!« Said musterte kurz Abduls Begleiter und schürzte skeptisch die dicken Lippen. »Und solche Leute sollen als Beduinen durchgehen?« »Ein mühseliges Unterfangen, ich weiß. Ich verlasse mich ganz auf Sie, Said. Und jetzt: Beeilen wir uns.« Während die Reisegruppe passende Kleidung erhielt, wurde das Visitor-Shuttle halb im Sand eingegraben und mit lohfarbenen Palmen getarnt. Gamel winkte Abdul zum Abschied zu, als der saudische Prinz seine Begleiter in Richtung auf die Oasenstadt führte. An einigen Stellen war der Weg gepflastert, und deshalb kamen sie leichter voran, als Peter Forsythe zunächst erwartet hatte. Sie brauchten nur vier Stunden, um die zehn Meilen nach Hofuf zurückzulegen, einer Stadt, die eine sonderbare Mischung aus Altertum und Moderne darstellte. Bürobauten aus Beton und Glas gaben sich ein Stelldichein mit alten Moscheen und Minaretten. Abdul ging schweigend voran: durch schmale Straßen und Gassen, durch ein unentwirrbares Labyrinth aus Bogengängen und Arkaden. Hier und dort erklang Musik, und Straßenhändler priesen ihre Waren an. »Wohin reiten wir eigentlich?« fragte Lauren, als sie sich dem Stadtkern näherten. »Wir sind schon da«, sagte Abdul und ließ sein Kamel vor einigen Dattelpalmen halten. Ein Araber wartete im Schatten bereits auf sie, und zwei weitere standen einige Schritte hinter ihm. Der saudische Prinz stieg ab und sprach kurz mit den
Männern. Einige Sekunden später setzten die sich in Bewegung und halfen Pete, Lauren und Neville von ihren Kamelen. Pete machte ein paar Gymnastikübungen. »Mein Mercedes ist entschieden bequemer«, brummte er. »Rasch«, sagte Abdul und streifte den Burnus ab. Darunter trug er gewöhnliche Straßenkleidung. Die anderen folgten seinem Beispiel. Peter, Lauren und Neville hatten unauffällige Sachen gewählt. »Jetzt müssen wir zu unserem Kontaktmann«, sagte Abdul. Ohne weitere Pause gingen sie sofort los. Zwar konnte man die Präsenz der Visitors in Hofuf kaum übersehen, aber sie waren nicht so allgegenwärtig, wie Pete befürchtet hatte. Hier und dort marschierten kleine Gruppen von Soldaten in den typischen roten Uniformen und Helmen mit dunklen Visieren. Eliteeinheiten der Außerirdischen bewachten das lokale Hauptquartier der Echsen, eine Moschee, vor der ein offener Platz lag, der sich leicht verteidigen ließ. Im großen und ganzen erlaubten es die Visitors den Arabern offensichtlich, ihren Geschäften ungestört nachzugehen. Es wäre ihnen allerdings auch nur mit einer außerordentlich großen Streitmacht gelungen, alle Gassen und Bogengänge zu kontrollieren. Die Widerstandskämpfer hatten daher auch keine Schwierigkeiten, die wenigen Patrouillen zu meiden: Sie kauften Fahrkarten für einen Zug, und kurz darauf saßen sie in einem Waggon. Die Fahrt von Hofuf nach Ras Tanura dauerte rund zwei Stunden, und als sie dort ausstiegen, wurden sie bereits von einem jungen Araber erwartet. Er gab Abdul die Schlüssel für einen rostigen, zerbeulten VW-Bus, der in der Nähe parkte, und die beiden Männer unterhielten sich eine Zeitlang. Schließlich wandte sich der saudische Prinz wieder an seine Begleiter. »Neuigkeiten«, sagte er knapp und deutete nach
Osten. In der Ferne schwebte die gewaltige Scheibe eines Mutterschiffes. »Unser Mittelsmann berichtete, es sei erst vor kurzem eingetroffen«, erklärte Abdul. »Genauer gesagt: während wir im Zug unterwegs waren.« Pete schnitt eine Grimasse. »Vermutlich ist es Dianas Schiff.« »Aber seit dem Beginn der zweiten Invasion war es ständig über Kalifornien stationiert«, wandte Lauren ein. »Vielleicht braucht die Kommandeuse ein wenig Abwechslung«, erwiderte Lavi trocken. Pete wandte sich an Neville. »Gehörte das etwa zu ihrem Plan? Hatte Diana eigentlich von Anfang vor, mit ihrem verdammten Mutterschiff in den Mittleren Osten zu fliegen?« Der Engländer zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.« »Mist!« fluchte Pete. »Aber, wie dem auch sei: Fahren wir los.« Sie stiegen in den Bus und brachen nach Norden auf, in Richtung Safaniya. Während sie die Küstenstraße entlangfuhren, konnten sie deutlich die Veränderungen erkennen, zu denen es während der letzten sechs Jahrzehnte gekommen war. Im Vergleich mit den Sandwüsten, die sie mit dem Shuttle überflogen hatten, schien das Gebiet am Persischen Golf den Visionen eines irren Architekten zu entsprechen. Überall standen riesige Öltanks, Denkmälern des Industriezeitalters gleich, ein modernes Äquivalent der ägyptischen Pyramiden. Bis nach Safaniya mußten sie weitere hundertfünfzig Meilen zurücklegen, und das bedeutete, sie verloren noch einmal drei Stunden. Aber das Timing hätte nicht besser sein können: Als sie das Ziel erreichten, ging gerade die Sonne unter, und die Dunkelheit ließ gleich eine erste Erkundigung der VisitorInstallationen zu.
»Zwei Blocks von hier«, sagte Neville und deutete auf eine bestimmte Stelle der Handskizze vom Ölhafen. Er befand sich mit den anderen in einem kleinen Laden an einer Straße von Safaniya. Sie trugen Visitor-Uniformen und waren bereit, mit einer Sondierung der Lage zu beginnen. Pete und Neville hatten die falschen Barte abgenommen. »Das ist die Position des Kommunikationszentrums?« fragte Pete. Der Engländer nickte. »Ja. Wenn wir uns erst Zugang verschafft haben, zapfe ich das Computernetz der Visitors an, um herauszufinden, warum Diana mit ihrem Raumschiff hierher kam.« »Eins verstehe ich nicht«, warf Pete ein. »Warum lassen es die Visitors zu, daß derartig wichtige Anlagen fast ausschließlich von Computern überwacht werden?« »Das ist ganz einfach: Diana hat nicht genug Leute. Durch eine so weitgehende Automatisierung spart sie viele Arbeitskräfte ein und hat darüber hinaus die Möglichkeit, von der Zentrale an Bord ihres Raumschiffes aus alles persönlich zu kontrollieren.« »Und genau der Typ ist sie«, brummte Pete. »Eben. Diana möchte am liebsten alles selbst in der Hand haben. In diesem Fall kommt uns das gelegen. Ich habe einige Änderungen in der Systemsoftware vorgenommen und geheime Paßwörter programmiert – damals schon für den Fall, daß Diana versuchen sollte, mich zu betrügen.« Er lächelte hintergründig. Lavi hatte auf einer hölzernen Kiste Platz genommen. »Die Sache gefällt mir trotzdem nicht.« Neville verzog kurz das Gesicht. »Es wird klappen, glauben Sie mir.«
»Bei der Durchführung solcher Unternehmen fühle ich mich wesentlich wohler, wenn ich einige Pfund eines hochexplosiven Sprengstoffs in der Tasche habe.« Abdul schüttelte bedauernd den Kopf. »Er zieht es eben vor, Dinge ohne großes Überlegen einfach in die Luft zu jagen.« »Eine ebenso einfache wie wirkungsvolle Lösung«, bemerkte Lavi. »Und ziemlich laut«, gab Neville zu bedenken. »Außerdem unnötig, zumindest in diesem Fall.« »Die Entscheidung treffen nicht Sie, sondern wir«, sagte Pete fest. »Vergessen Sie nicht, daß Lauren und ich mit der Leitung dieses Unternehmens beauftragt wurden. Also: Wie viele Visitors halten sich Ihrer Meinung nach im Kommunikationszentrum auf?« »Oh, ich würde sagen: vier oder fünf. Mehr bestimmt nicht.«
Die fünf Widerstandskämpfer eilten leise durch die leeren Straßen von Safaniya und näherten sich einem kleinen, einstöckigen Gebäude, das aus weißen, vorgefertigten Betonteilen bestand. Ein fast vier Meter hoher Drahtzaun schirmte es ab. »Das erste Hindernis«, erklärte Neville. »Der verdammte Zaun steht unter Strom.« Lavi ging in die Hocke und öffnete seine Tasche. »Kein Problem.« Er holte ein elektronisches Gerät in der Größe einer Zigarettenschachtel hervor. Aus dem einen Ende ragten zwei Kabel mit dünnen Zangen. »Was ist mit der Drahtschere?« Abdul hielt sie schon bereit. Der Israeli verband die Zangen seines Gerätes mit dem Zaun, drehte an einem Schalter und beobachtete die Anzeige. Funken stoben knisternd, und dann herrschte wieder Stille. »Alles klar. Der Zaun ist neutralisiert.«
»Und was geschieht, wenn sich das Ding vom Draht löst?« fragte Pete. »Dann schließt sich der Stromkreis wieder. Ich bleibe hier, um das zu verhindern, solange Sie sich im Inneren des Gebäudes aufhalten.« Er gab Abdul das Zeichen. Der Saudi setzte die Schere an und durchtrennte rasch einige Drähte. Pete, Lauren und Neville zögerten nicht und schoben sich durch die Lücke. Der saudische Prinz folgte ihnen. »Beeilen Sie sich bloß«, flüsterte Lavi. Mit einigen raschen Schritten liefen Peter und seine drei Kameraden auf die schwere Stahltür zu, die mit einem elektronischen Schloß gesichert war. Neville holte eine Codekarte aus Kunststoff hervor und schob sie in den Scannerschlitz. Ein Sensorpunkt glühte auf, und mit einem leisen Klicken öffnete sich die Tür.
Lavi saß vor dem Zaun und beobachtete die Anzeige des Neutralisierungsgeräts. Plötzlich hörte er hinter sich Schritte. »Haben Sie irgend etwas entdeckt, Leutnant?« Der Israeli richtete sich langsam auf und drehte den Kopf. »Allerdings…« Er riß den Laser aus dem Gürtelholster und betätigte den Auslöser: Ein kobaltblauer Energieblitz fraß sich knisternd in die Brust des Außerirdischen. Die Gestalt in der roten Uniform sank zu Boden. Lavi betrachtete die Leiche und preßte kurz die Lippen zusammen. »Kann den verfluchten Kerl nicht einfach hier liegenlassen. Aber der Neutralisierer…« Er gab sich einen Ruck, schob den Laser ins Holster zurück und zerrte den Toten in ein nahes Gebüsch. Dann hastete er an den Zaun zurück und warf einen prüfenden Blick auf seine Armbanduhr.
»Hier entlang«, sagte Neville und führte seine Begleiter durch einen Korridor mit glatten Wänden. »Wozu diente denn dieses Gebäude, bevor es die Visitors zu ihrem Kommunikationszentrum machten?« fragte Lauren. »Als Kontrollstation, von der aus der Tankerverkehr vom und zum Ölhafen kontrolliert wurde.« Neville blieb stehen, als er in einem nahen Büro einen Visitor sitzen sah. Er trug keine menschliche Maske, sondern hatte den Helm abgelegt und kratzte sich an seinem grünen Schuppenkamm. More bedeutete mit einer Geste, die anderen sollten zurückbleiben, und näherte sich mit ruhigen Schritten dem Wächter. Der Außerirdische hörte ihn plötzlich und griff nach seiner Waffe. »Commander…« wandte er sich an Neville. »Es ist bereits ziemlich spät. Ich dachte, inzwischen seien alle an Bord des Mutterschiffes zurückgekehrt.« »Das stimmt auch. Ich bin hiergeblieben, um noch einige Dinge zu überprüfen. Wird nicht lange dauern.« »Wie Sie meinen.« »Im übrigen habe ich eben ein Geräusch aus dem Komraum gehört. Würden Sie mir bitte den Schlüssel geben?« »Ja, Sir.« Der Visitor griff in eine Tasche seiner Uniform und zog einen Kristallstift daraus hervor. Dann folgte er Neville, der an einer Abzweigung zur Seite trat, um den Wächter passieren zu lassen. Mit einem jähen Satz sprang Pete vor und versetzte dem Außerirdischen einen Handkantenschlag an die Kehle. Der Visitor sank lautlos zu Boden. Neville bückte sich und hieb den Kolben seiner Waffe auf den Schuppenschädel. »Sie können ziemlich brutal sein«, stellte Lauren fest, die nichts von überflüssiger Gewalt hielt. »Manchmal ist das nötig, um jedes Risiko auszuschalten.« Neville deutete auf den Visitor. »Dieser Kerl kann keinen Alarm mehr geben.« Er nahm den Kristallschlüssel an sich und
schob ihn ins Schloß. Die Tür glitt auf. More und Abdul zogen den Außerirdischen mit in den Raum. »Kümmern Sie sich um die Komanlagen«, sagte Lauren. »Ich übernehme den Posten des Wächters. Es könnte Verdacht erregen, wenn er vermißt wird.« Pete nickte. »Sei vorsichtig.« »An diesen Rat halte ich mich gern. Und was euch angeht: Beeilt euch.« Neville saß bereits am Computerterminal, als sich Pete umdrehte und die Tür schloß. Er trat zusammen mit Abdul an den Engländer heran und beobachtete, wie Mores Finger flink über die Tasten huschten. Fremdartige Zeichen und Symbole wanderten über den Bildschirm. Neville seufzte und schaltete den Rechner aus. »Und?« fragte Pete. »Schlechte Nachrichten.« »Sind wir zu spät gekommen?« erkundigte sich Abdul. Neville schüttelte den Kopf. »Nein, aber Dianas Wissenschaftler haben inzwischen das Öl-Bakterium verbessert. Die Kontaminierung der Erdölvorkommen soll heute nacht beginnen.« Er sah auf die Uhr. »Uns bleiben noch etwa zwei Stunden. Übrigens: Es ist tatsächlich Dianas Mutterschiff. Sie möchte das Experiment persönlich überwachen.« »Genügt uns die Zeit?« fragte Pete. »Ich weiß nicht. Aber wenn wir Dianas Pläne durchkreuzen wollen, sollten wir uns sputen.« Hastig verließen sie die Kornkammer. Lauren schloß sich ihnen an, als sie auf den Ausgang zuliefen. Vor der freien Fläche, die das Haus vom Zaun trennte, stoppten sie kurz und vergewisserten sich, daß keine Visitors in der Nähe waren. Dann krochen sie durch die Lücke zwischen den Drähten. Lavi
löste die Zangen des Neutralisierers und verstaute das kleine Gerät in der Tasche. »Wie sieht’s aus?« »Wir haben noch zwei Stunden, um eine Katastrophe zu verhindern«, sagte Pete ernst.
Dann zogen sie sich erst einmal in die Sicherheit des leeren Ladens zurück, um noch einmal ihren Plan zu überdenken. »Wir müssen eine kleine Veränderung vornehmen«, sagte Neville. Pete verschränkte die Arme. »Und die wäre?« »Ich begebe mich allein auf die Bohrinsel.« Einige Sekunden lang herrschte Stille, und dann sprachen alle gleichzeitig. Pete hob die Hand. »He, seid mal ruhig. Wenn ihr so schreit, kann uns Diana von ihrem Raumschiff aus hören.« Er sah Neville an. »Was, zum Teufel, meinen Sie damit?« »Ich gehe allein los, und damit hat sich’s. Wenn nicht, haben wir überhaupt keine Chance.« »Wie kommen Sie darauf?« »Ganz einfach: Das Sicherheitssystem, das ich für die Bohrinsel entwickelt habe, ist hundertmal komplexer als das des Kommunikationszentrums. Ich kann uns allen nicht einfach mit einer schlichten Codekarte Zutritt verschaffen. Die Programmdifikationen geben mir – und nur mir – die Möglichkeit, die Kontrollen mit dem richtigen Paßwort zu passieren. Es würde zu lange dauern, erst noch eine Möglichkeit zu finden, auch Sie unbemerkt in die VisitorAnlage zu bringen. Und Sie wissen ja, wie knapp die Zeit ist.« Pete ballte die Fäuste. »Verdammt! Und Sie erwarten im Ernst von mir, daß ich dazu meinen Segen gebe? Woher sollen wir wissen, was Sie auf der Bohrinsel anstellen?«
»Es bleibt Ihnen keine Wahl, Forsythe.« »Ich glaube, da hat er recht«, warf Abdul ein. Lauren stand auf, stützte die Hände an die Hüften und musterte den Engländer aus blitzenden Augen. »Was haben Sie vor, Neville?« »Ich werde zwei verborgene Computerviren aktivieren.« »Zwei?« Neville nickte. »Ja. Begreifen Sie denn nicht? Wenn wir diesmal einfach nur dafür sorgen, daß das Experiment scheitert, versucht es Diana irgendwann noch einmal, vielleicht an einem anderen Ort.« »Und das können Sie verhindern?« fragte Pete. »Ich bin stolz darauf, meinen Freunden immer einen Schritt voraus zu sein. Man kann nie wissen, wann sie zu Feinden werden.« »Ich verstehe. Und Ihr Plan?« »Das erste Virus löscht ein Programm, das den eigentlichen Kontaminierungsvorgang steuern soll, also die Anreicherung der unterirdischen Lagerstätten mit dem Öl-Bakterium. Das zweite beeinflußt alle elektronischen Speicher der Visitors, die Computersysteme der ganzen Flotte. Es vernichtet alle Dateien, die in irgendeinem Zusammenhang mit den genmanipulierten Bakterien stehen. Es wird sie Monate kosten, die entsprechenden Forschungsarbeiten zu rekonstruieren.« Abdul war beeindruckt. »Monate? Wirklich?« »Ja!« Neville gestikulierte ungeduldig. »Dabei handelte es sich ja nicht um irgendein Forschungsprojekt. Es ist schon verdammt schwierig, den genetischen Code einer bestimmten Lebensform zu entschlüsseln, ganz zu schweigen davon, ihn zu verändern. Außerdem weiß ich, daß die Echsen nicht gewöhnt sind, sich handschriftliche Notizen zu machen. Alle Daten mit Geheimstufe werden in RAM-Speichern abgelegt.« »Und Sie sind ganz sicher, daß es klappen wird?« fragte Pete.
»Natürlich bin ich das.« Auf Nevilles Wangen bildeten sich vor Empörung rote Flecken. »Allerdings dauert es eine Weile, die Computerviren aus den Programm-Nischen abzurufen und für alle Systeme freizugeben. Ich kann mich daher auf keinen Fall damit aufhalten, Sie auf die Bohrinsel zu bringen, nur damit Sie mir über die Schulter schauen können.« Pete sah Lauren an, die andeutungsweise mit den Schultern zuckte. »Der Präsident meinte, wir sollten alle notwendigen Entscheidungen treffen«, entschied sie. »Ich glaube, wir sollten Neville jetzt vertrauen.« Pete erhob sich, trat auf den Engländer zu und blieb dicht vor ihm stehen. »Wenn Sie lügen, wenn Sie uns noch einmal hereinlegen – dann nehme ich Sie auseinander, Knochen für Knochen. Und davon verstehe ich etwas; schließlich bin ich Arzt.« Neville lächelte schief. »Ich mache meine Arbeit. Kümmern Sie sich um die Ihre und bringen Sie mich irgendwie zur Bohrinsel.« Lauren und Lavi sollten im VW-Bus warten, der zwischen zwei Gebäuden in der Nähe der Docks parkte. Pete, Abdul und Neville trugen noch immer ihre Visitor-Uniformen, als sie sich an einer Strickleiter herabließen und in ein Schlauchboot kletterten. Es tanzte dicht neben dem Rumpf eines Frachters auf den Wellen und konnte daher nicht von Visitor-Patrouillen gesehen werden. Pete löste die Leine und stieß das Boot von der Mole ab. Es hatte zwar einen kleinen Außenbordmotor, aber sie benutzten lieber die Paddel, um Lärm zu vermeiden. Die Anlage der Außerirdischen war etwa eine halbe Meile entfernt. »Hoffentlich bewacht niemand die Plattform«, murmelte Pete und warf den Motor an, als sie weit genug vom Ufer entfernt waren.
»Das würde mich sehr wundern«, erklärte Neville. »Die wurde so konstruiert, daß alle Funktionen von Bord des Mutterschiffes aus kontrolliert werden können. Es überrascht mich eigentlich, daß die Visitors schon jetzt mit ihrem Projekt begonnen haben. Ich dachte, sie ließen sich noch einige Tage Zeit.« Die Plattform der Echsen unterschied sich wenig von anderen Bohrinseln, die man im seichten Wasser vor der saudischen Küste errichtet hatte, aber es gab eine Besonderheit: Sie war erheblich kleiner und bestand aus zwei Segmenten von fünfzehn Meter Breite. Auf jedem davon erhoben sich kastenartige Gehäuse, und in der Mitte ragte der Turm der eigentlichen Bohrvorrichtung in die Höhe.
Das Schlauchboot glitt einer der Plattformstützen entgegen, an der sie eiserne Sprossen entdecken konnten. Abdul erwies sich als recht geschickt, als er balancierte und nach der langen Leiter griff. Neville wollte hastig aufstehen, überlegte es sich aber anders, als das Boot heftig zu schwanken begann und fast gekentert wäre. Auf Händen und Knien kroch er an den Rand und schloß die Hand um eine der stählernen Streben. »Wir warten hier auf Sie«, sagte Pete. Neville kletterte hoch. »Nein. Bitte kehren Sie zurück. Ich gebe Ihnen ein Zeichen, wenn ich fertig bin. Wenn irgend etwas schiefgeht, landen wir wenigstens nicht alle zusammen auf Dianas Frühstücksteller.« »Gehen Sie keine unnötigen Risiken ein.« Neville grinste. »Ich bin ein praktisch veranlagter Mann, Forsythe. Das sollte Ihnen inzwischen klargeworden sein.« »Viel Glück«, rief Abdul, als Neville sich in die Höhe hangelte.
Als er den Rand der Plattform erreicht hatte und außer Sicht geriet, stieß der saudische Prinz das Schlauchboot vom Stützpfeiler ab. Pete schaltete den Außenbordmotor ein und nahm Kurs zurück aufs Ufer.
17. Kapitel
Neville erreichte das obere Ende der Leiter, betrat die eigentliche Plattform und schnappte nach Luft. Die Küste war ein dünner Streifen am dunklen Horizont, und das einzige Licht kam von den hoch am Himmel funkelnden Sternen. Diana hatte natürlich mit Angriffen auf ihre Bohrinsel gerechnet – die Abwehr der israelischen Flugzeuge war Beweis genug. Aber ein einzelner Mann in einem Schlauchboot? dachte Neville und lächelte zufrieden. Die Visitor-Kommandeuse verließ sich offenbar ganz auf das von ihm entwickelte interne Sicherheitssystem. »Und dazu hätte sie sonst auch allen Grund«, murmelte Neville. »Nur ahnt sie nichts von den geheimen Paßwörtern…« Geduckt lief er los und näherte sich dem größeren der beiden kantigen Gehäuse. Es bestand aus einer trüben Metallegierung aus den Visitor-Labors und war härter als der beste Stahl: Die Menschen hatten bisher kein Geschoß entwickelt, das diese Panzerung hätte durchdringen können. Neville erinnerte sich an Lavis Wunsch, Sprengstoff zu verwenden – ein solcher Anschlag wäre von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Die einzige Waffe, gegen die diese Legierung nicht schützte, war Nevilles Verstand. Langsam schob er sich an der Wand entlang, bis er eine kleine Zugangsnische entdeckte. Er klappte die getarnte Luke auf und kontrollierte ein kleines Computerterminal. Neville lächelte und konzentrierte sich auf die Sicherheitscodes, die er sich fest ins Gedächtnis eingeprägt hatte.
Laurens Hände ruhten auf dem Lenkrad des VW-Busses. Lavi hatte auf dem Beifahrersitz neben ihr Platz genommen und sah immer wieder auf die Uhr. »Möchten Sie wissen, wieviel Zeit uns noch bleibt, Lauren?« »Lieber nicht.« Sie bewegte nicht einmal den Kopf, sondern blickte weiterhin aufs dunkle Meer. »Fünfundsechzig Minuten.« »Warum haben Sie mich erst gefragt?« »Reine Höflichkeit.« »Aber meine Antwort interessierte Sie überhaupt nicht.« Lavi zuckte mit den Schultern. »Sie gaben mir die falsche Antwort.«
Das Schlauchboot hob und senkte sich im Rhythmus der Wellen, die an die Mole schwappten. Steif saß Pete auf der Mittelbank und starrte durch die Linsen des Feldstechers. Abdul hockte hinter ihm. »Wenn Sie das Ding nicht endlich mal absetzen, holen Sie sich noch einen Krampf in den Armmuskeln.« »Ich will Neville nicht aus den Augen lassen.« »Können Sie ihn sehen?« »Nein.« »Was beobachten Sie dann?« »Den Bohrturm.« »Und tut sich dort was?« »Nein.« Pete fluchte leise. »Himmel, das verdammte Warten geht mir auf die Nerven.« »Es bleibt uns wohl kaum etwas anderes übrig, oder?« Forsythe preßte die Lippen zusammen und schwieg.
Trotz der relativ kühlen Nacht spürte Neville, wie sich auf seiner Stirn Schweiß bildete. Mit dem Ärmel wischte er ihn weg. »Ganz ruhig, Junge«, murmelte er. »Jetzt die letzte Zahlenfolge…« Immer wieder tanzten seine Finger über die Tasten des Terminals. Der Indikator leuchtete auf und blinkte rot, purpurn und blau. Ein leises elektronisches Summen ertönte. Dann formten sich in der glatten Wand vor ihm plötzlich die Konturen einer Schleuse. Hydraulische Motoren surrten, und kurz darauf schwang das Schott auf. Neville More atmete noch einmal tief durch und trat ein. Im Innern des Gehäuses war es völlig finster. Der Engländer griff nach der kleinen Lampe, die er mitgenommen hatte. In welcher Tasche? Lieber Himmel, meine Hände sind ganz glitschig… Sei nicht so aufgeregt, alter Knabe. Neville warf einen kurzen Blick auf das leuchtende Ziffernblatt seiner Armbanduhr. »Noch fünfzehn Minuten«, sagte er laut, überrascht darüber, wieviel Zeit bereits verstrichen war. Entschlossen ging er weiter, trat an die Computerkonsole und nahm in dem Eingabesessel Platz. Hastig schaltete er den Rechner ein. Erste Zahlen und Symbole schimmerten auf dem Monitor, und in rascher Folge tippte Neville seine Daten ein; seine Finger flogen über die Tasten, wie bei einem Pianisten, der sich mit seinem Instrument bestens auskennt. Ein dünnes Lächeln umspielte seine Mundwinkel: Er stellte sich Dianas Reaktion vor und genoß seinen Triumph. Als er dem Computer mit einem letzten Tastendruck die Anweisung gab, die Befehlsfolge abzuarbeiten, leuchtete der Schirm grell auf – und wurde jäh dunkel. Neville lehnte sich langsam zurück und hielt einige Sekunden lang die Luft an. In der Mitte der Maske bildete sich ein
einzelnes Visitor-Wort, Buchstabe für Buchstabe. Es bestand aus insgesamt sieben Zeichen. Unmittelbar darauf begann es zu blinken. More ließ den angehaltenen Atem erleichtert entweichen. »Das wär’s«, sagte er. »Jetzt könnt ihr euer Projekt vergessen.«
Diana saß in ihrem Lieblingssessel und wippte mit dem Fuß im Takt der Musik, die ein Mensch namens Wagner komponiert hatte. Die Aufzeichnung stammte von einem aufmerksamen Offizier aus ihrem Stab, und zu ihrer eigenen Überraschung hatte Diana festgestellt, daß ihr die Klänge gefielen. Ein auf- und abschwellendes Summen durchbrach die ruhige Stimmung, und die Kommandeuse schaltete mit einem wütenden Zischen den Interkom ein. »Ich habe die Anweisung gegeben, daß ich nicht gestört werden will, Ilene – es sei denn, es handelt sich um einen echten Notfall.« Auf dem Schirm erschien das Gesicht einer offenbar sehr unsicheren jungen Frau. »Genau dazu ist es gekommen, Kommandantin«, erwiderte Ilene rasch und strich sich mit zitternden Fingern übers Haar. »Worum geht’s?« »Irgend jemand versucht, unsere Anlagen im Persischen Golf zu manipulieren.«
»Statusbericht«, forderte Diana scharf, als sie den Kontrollraum betrat. Ilene wandte sich ruckartig um. Sie sah das zornige Blitzen in Dianas Augen und schluckte. »Wir versuchen noch immer herauszufinden, was auf der Bohrinsel geschieht, Kommandantin.«
Diana sah die Visitor an, die an der Kommunikationskonsole saß. »Beordern Sie Lydia sofort hierher.« »Sie ist bereits auf dem Weg.« Kurz darauf glitt das Schott auf, und die blonde Leiterin der Sicherheitsabteilung trat an. Sie bedachte Diana mit einem hochmütigen Lächeln. »Schon wieder ein Plan, der sich nicht realisieren läßt, wie Sie es beabsichtigten, teure Diana?« Die Kommandeuse beherrschte sich mühsam und wandte sich wieder an die Computertechnikerin Ilene. »Nun?« fragte sie. Ilene kaute auf der Unterlippe, als sie weitere Befehlsfolgen eingab. Der Monitor blieb dunkel. »Es tut mir leid, Diana, aber… das System reagiert nicht.« »Ist es funktionsbereit, oder wurde es zerstört?« »Nein, nein, die Verbindung zu dem Steuerungskomplex der Bohrinsel besteht nach wie vor.« Diana überlegte kurz. »In Ordnung«, sagte sie dann. »Führen Sie die Aktivierungsschaltungen durch. Die Bakterien sollen sofort in die unterirdischen Lagerstätten geleitet werden.« Ilenes Finger tanzten über die Tastatur. Einige Sekunden später stöhnte die junge Frau leise auf, als sie feststellte, daß erneut keine Reaktion erfolgte. Langsam drehte sie sich um und überlegte dabei, wie sie einem Wutanfall der Kommandeuse entgehen konnte. »Heraus damit, Ilene – wurde der Anreicherungsprozeß ausgelöst?« »Nein, Kommandantin. Das Computersystem der Bohrinsel ignoriert alle elektronischen Anweisungen. Ich glaube…« Die Technikerin brach ab, weil sie sah, daß Diana ihr gar nicht mehr zuhörte. »Lydia«, zischte die Kommandeuse scharf, »machen Sie unverzüglich mein Shuttle startbereit.« »Sie wollen das Mutterschiff verlassen?« Lydia war skeptisch.
»Genau aus diesem Grund haben wir unsere Position über Kalifornien verlassen – damit ich hier persönlich eingreifen kann, wenn irgend etwas schiefgeht. Was dagegen, liebste Lydia?« fügte Diana spitz hinzu. »Es könnte gefährlich werden. Sie sollten die Aufgabe jemand anders übertragen…« »Ich bin gerührt, daß Sie sich solche Sorgen um mich machen. Oder haben Sie etwa Informationen über die allgemeine Lage, die mir noch nicht zugänglich waren?« »Nein. Aber ich rate Ihnen dennoch, vorsichtig zu sein.« »Ihnen untersteht doch die Sicherheitsabteilung. Wie wär’s, wenn Sie mich begleiten?« Lydia versteifte sich. »Es käme einem schweren Schlag für die Flotte gleich, wenn wir beide sterben. Ich halte es für besser, wenn wenigstens ich hierbleibe, um…« »Ich habe Sie nicht um etwas gebeten«, fuhr Diana sie an. »Sie kommen mit – das ist ein Befehl.« Die Kommandeuse drehte sich abrupt um und hielt auf das Schott zu. Lydia folgte ihr mit ausdruckslosem Gesicht.
»Arzt an Fährmann, Arzt an Fährmann, bitte kommen«, sprach Neville ins Mikrofon des kleinen Funkgeräts. Einige Sekunden lang knisterte nur statisches Rauschen im Lautsprecher. Dann: »Hier Fährmann. Bereit fürs Abholen?« »Negativ. Erste Aktion erfolgreich abgeschlossen. Diana hat noch schnell versucht, den Kontaminierungsprozeß einzuleiten. Aber ich habe ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht.« »Genießen Sie Ihren Triumph nicht zu sehr«, warnte Peter. »Das bedeutet doch, daß die Visitors auf die Computermanipulation aufmerksam wurden. Wahrscheinlich
sind sie bereits unterwegs. Es ist besser, wir bringen Sie in Sicherheit.« »Nein! Erst muß ich noch die Datenspeicher löschen.« »Seien Sie kein Narr, Neville«, knurrte Pete. »Dies ist nicht der richtige Augenblick, um den Helden zu spielen.« »Darum geht es nicht, Forsythe. Ich muß das zu Ende bringen, sonst ist meine Rache an Diana nicht vollständig, und davon bringt mich nichts ab. Ich unterbreche jetzt die Verbindung, die Zeit drängt. Ich melde mich wieder, wenn ich fertig bin. Ende.« Neville schaltete das Gerät aus und legte es auf den Boden. Dann wandte er sich erneut dem Terminal zu und betätigte die Tasten.
»Zum Teufel mit ihm!« fluchte Pete Forsythe. Das Schlauchboot schwankte hin und her, und Abdul richtete sich auf. »Was haben Sie jetzt vor, Yank?« »Wir holen den verdammten Kerl.« Der saudische Prinz beugte sich vor, um nach dem Paddel zu greifen. Pete hielt seinen Arm fest. »Starten Sie besser den Außenbordmotor. Ich schätze, jetzt kommt es auf jede Sekunde an.«
Diana betrat den großen Hangar des Mutterschiffes, dichtauf gefolgt von Lydia und zwei stämmigen Soldaten. Die Kommandeuse hielt geradewegs auf ihr Shuttle zu, stieg ein und nahm im Pilotensessel Platz. Als sie den Kopf drehte, bemerkte sie Lydias Unbehagen. »Und Sie sind ganz sicher, daß Sie mir nicht irgend etwas berichten sollten?« »Auf eine ähnliche Frage habe ich Ihnen bereits Antwort gegeben, Diana. Meiner Ansicht nach wäre es aber besser, eine
Einsatzgruppe aus Elitesoldaten auszuschicken. Hochrangige Offiziere wie wir sollten sich nicht unnötigerweise in Gefahr begeben.« Diana aktivierte die Triebwerke des Flugbootes. »Manchmal läßt es sich nicht vermeiden, große Verantwortung auf sich zu nehmen, Lydia.« Darauf gab die blonde Frau keine Antwort. Diana beschleunigte, steuerte den Skyfighter aus dem Hangar und nahm Kurs auf die Küste Saudi Arabiens.
Der Außenbordmotor brummte laut, und hinter dem Schlauchboot blieb weißes Kielwasser zurück. Abdul bediente das Ruder und ließ die schemenhaften Umrisse der Bohrinsel nicht aus den Augen. Pete hob das Funkgerät. »Neville, Sie verdammter Mistkerl – wir sind zu Ihnen unterwegs. Geschätzte Ankunftszeit: in drei Minuten. Machen Sie sich bereit. Es ist einfach nicht genug Zeit, daß Sie Ihr Ego rundherum zufriedenstellen können.« »He, Yank«, sagte Abdul. »Ich glaube, wir bekommen Besuch.« »Was?« »Sehen Sie hoch. In drei Uhr…« Pete hob den Kopf und beobachtete den schwarzen Himmel. Nach wenigen Sekunden sah auch er das Visitor-Shuttle, das sich der Bohrinsel mit hoher Geschwindigkeit näherte. »Diana?« fragte er leise. »Wer sonst?« Einige Sekunden lang herrschte Stille, und beide Männer im Schlauchboot dachten über die möglichen Konsequenzen nach. Schließlich brach Abdul das Schweigen. »Wenn wir den Kurs nicht ändern, sind wir wahrscheinlich Dianas erstes Ziel.«
Pete gab ein zustimmendes Knurren von sich. »Und wenn wir umkehren, ist Neville so gut wie tot.« »Die Entscheidung überlasse ich Ihnen, Yank.« Pete biß die Zähne zusammen, als er sich bei dem Gedanken überraschte: Warum sollten wir unser Leben für Neville More riskieren – nach allem, was er getan hat?
Lavi Mayer sah aus dem Seitenfenster des VW-Busses, und aus den Augenwinkeln sah er einen Schatten, der über den Himmel glitt. Ruckartig richtete er sich auf. »Stimmt etwas nicht?« flüsterte Lauren. Sie klang müde. Lavi gab keine Antwort. Vorsichtig öffnete er die Autotür, beugte sich zur Seite und hielt genauer Ausschau. Lauren fragte sich, was die Aufmerksamkeit des Israeli geweckt hatte. Sie sah ebenfalls hinaus, konnte jedoch nichts erkennen. Nach kurzem Zögern stieg sie aus und ging um den Volkswagen herum. »Das gefällt mir gar nicht, Lauren«, raunte Lavi. Sie rieb sich die Augen. Und dann sah sie es plötzlich: ein Visitor-Shuttle, das über dem Hafen kreuzte. »Lieber Himmel!« entfuhr es ihr. »Pete und Abdul sind irgendwo dort draußen.« Lauren und Lavi wechselten einen besorgten Blick, und ihre Mienen verdüsterten sich, als sie begriffen, daß ihnen die Hände gebunden waren. Ganz gleich, was nun auch geschah – sie konnten nichts unternehmen, und waren auf die Rolle von Zuschauern beschränkt.
Lydia justierte den Bodenscanner und kniff die Augen zusammen, als sich die Anzeige des Gerätes veränderte. Zufrieden nickte sie. »Diana.«
»Was haben wir denn hier?« Die dunkelhaarige Kommandeuse betrachtete das schematische Gitter, das der Computer auf den Sichtschirm projizierte. Rasch betätigte sie eine Taste, schaltete auf Vergrößerung und ging anschließend auf visuelle Erfassung: zwei Menschen in einem kleinen Boot, das auf die Bohrinsel zuhielt. »Koordinationsbestimmung, Lydia.« Die blonde Frau kam dem Befehl sofort nach. »Positiv, Kommandantin. Offenbar handelt es sich um Angehörige der Widerstandsbewegung. Jetzt wissen Sie, wohin sich Neville absetzte, als er mit Dr. Donnenfeld verschwand.« Diana nickte ernst, und Lydia fuhr fort: »Ich bin sicher, More befindet sich jetzt auf der Plattform. Nur er ist in der Lage, das Sicherheitssystem außer Kraft zu setzen. Immerhin hat er es selbst entwickelt. Mit anderen Worten: Sie haben ihm die Chance gegeben, das wichtige Projekt zu sabotieren. Obgleich ich Sie immer wieder davor gewarnt habe, einem menschlichen Verräter zu trauen.« »Ich habe ihm nicht vertraut«, erwiderte Diana scharf. »Ich traue niemandem. Wenn Neville dort unten ist, wird er nicht ungeschoren davonkommen. Zuerst aber…«
»Mist!« Pete schauderte. Furcht regte sich in ihm und lief ihm kalt über den Rücken, und aus schreckgeweiteten Augen beobachtete er, wie das Visitor-Shuttle direkt auf sie zuhielt. »Abdul…« »Halten Sie sich gut fest, Yank.« Der saudische Prinz riß das Ruder so weit nach Steuerbord wie möglich. Das Schlauchboot neigte sich jäh zur Seite, und im gleichen Augenblick zuckte ein blauer Laserblitz durch die Schwärze der Nacht und kochte an der Stelle durchs Wasser, wo eben noch das Boot gewesen war.
Peters Hände schlossen sich krampfhaft um die Haltestricke, und er beobachtete, wie Abdul immer wieder das Ruder betätigte. Über ihnen manövrierte der Skyfighter und begann den zweiten Angriff…
»Mutterschiff an Kommandoshuttle – dringend!« Die zitternde Stimme der jungen Computertechnikerin Ilene kam aus dem Lautsprecher der externen Kommunikation. Während Diana die Flugkontrollen des Shuttles bediente, nahm Lydia den Anruf entgegen. »Hier Shuttle. Was…« Ilene unterbrach sie. »Wir haben Rotalarm – kritische Fehlfunktionen im Computersystem.« Im Hintergrund hörte Diana das dumpfe Heulen der Alarmsirenen, und daraufhin änderte sie den Kurs und verzichtete auf einen weiteren Angriff, Pete riß unwillkürlich die Augen auf, als er beobachtete, wie das weiße Flugboot abdrehte, ohne noch einmal das Feuer auf sie eröffnet zu haben. »Was ist denn jetzt los?« »Ich verstehe das ebenfalls nicht«, sagte Abdul. »Aber ich bin verdammt froh.« »Kurs auf die Bohrinsel…« »Sind Sie übergeschnappt?« entfuhr es dem Araber. »Wir können nichts mehr für Neville tun, Pete.« Mit diesen Worten zog Abdul das Ruder herum, und das Schlauchboot näherte sich der Küste.
Dianas Gesicht glühte vor Zorn. »Statusbericht, Leutnant.« »Es… es ist zu einem kompletten Datenausfall in den wissenschaftlichen Speichern gekommen, Kommandantin«, meldete Ilene über Funk. »Der Löschprozeß ist immer noch
nicht zum Stillstand gekommen und greift weiter um sich. Wenn wir nicht schnell handeln, breitet sich die Fehlfunktion auf die System- und Programmspeicher aller Mutterschiffe aus!« Diana sah ihre Stellvertreterin an. »Analyse bestätigt, Diana«, sagte Lydia. »Die einzelnen Computer stehen miteinander in Verbindung. Die einzige Möglichkeit, den Ausfall aller Rechner zu vermeiden, besteht darin, die wissenschaftlichen Datenbanken vom Rest des Systems zu trennen.« »Das bedeutet, wir verlieren alle darin gespeicherten Informationen.« »So ist es.« Lydia nickte. »Geben Sie unverzüglich eine entsprechende Anweisung.« Die Herausforderung in ihrer Stimme war unüberhörbar. Diana schlug mit der Faust auf die Instrumentenkonsole. »Separierung der wissenschaftlichen Datenbanken, Ilene«, zischte sie. »Sofort.« Sie holte tief Luft und knurrte. »Dafür wird Neville More büßen.« Als Diana die Bohrinsel anflog, warf Lydia einen raschen Blick auf den Schirm des Bordcomputers. »Zu spät, Diana.« Auf dem Monitor leuchtete der Hinweis: PLATTFORMSEQUENZ Z AUSGELÖST. Und dann Zahlen: 10 – 9 – 8 – »Diana, beschleunigen Sie. Wir müssen sofort von hier verschwinden.« »Was soll das heißen? More befindet sich dort unten…« Der Countdown näherte sich seinem Ende. – 4 – 3 – Lydia stieß Diana beiseite, übernahm die Kontrollen und gab Vollschub. Das Triebwerk heulte auf, und in der überlasteten Hülle des Flugbootes knackte es bedrohlich. Der Andruck legte sich wie ein schweres Gewicht auf die Visitors an Bord. Unter ihnen, eine halbe Meile vor der Küste Saudi Arabiens, explodierte die Bohrinsel. Ein heller Feuerball glänzte und gleißte, und für einige Sekunden wurde die Nacht zum Tag.
Die Druckwelle schleuderte das Schlauchboot über die Wellen, und Abdul stemmte sich gegen das Ruder, um nicht die Kontrolle zu verlieren. Glühende Trümmerstücke rasten wie Geschosse vorbei, und Pete duckte sich. Er sah, daß sie sich den Molen und Anlegestellen näherten, und einige Meter vor den Kaianlagen schaltete der Araber den Außenbordmotor aus. Der junge Amerikaner griff nach der Leiter und zog sich rasch hoch. Anschließend half er dem saudischen Prinzen in die Höhe. Die Reste der Bohrinsel standen in Flammen und glühten wie ein loderndes Fanal am dunklen Horizont. Pete und Abdul betrachteten den gelbroten Glanz einige Sekunden lang, bevor sie sich umdrehten und zum Wagen liefen. Lauren hielt ihnen die Tür auf und lächelte. Als sie im Fond Platz nahmen, rollte der VW-Bus sofort los. »Wir haben es geschafft«, seufzte Pete.
Dianas Shuttle flog durch die Schneise in der Flanke des Mutterschiffes und erreichte den Hangar. »Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte Lydia. »Ich bin sicher, daß Neville More keine Chance hatte, mit dem Leben davonzukommen. Bestimmt befand er sich auf der Plattform, als wir die Manipulationsversuche bemerkten. Das Schlauchboot war in Richtung der Bohrinsel unterwegs, als wir es orteten, und bestimmt hatten die beiden Menschen die Absicht, More abzuholen.« Spöttisch fügte sie hinzu: »Aber wenn ich keine Vorsichtsmaßnahmen ergriffen hätte, wäre er jetzt vermutlich nicht tot.« Diana blickte geradeaus. »Was für Vorsichtsmaßnahmen? Ich wünsche eine Erklärung.« Lydia lächelte und versuchte nicht einmal, ihre hämische Freude zu verbergen. »Ich habe Neville von Anfang an nicht
getraut, aber Sie wollten ja nicht auf mich hören. Deshalb blieb mir keine andere Wahl, als auf eigene Faust zu handeln. Das Sicherheitssystem der Bohrinsel wurde von mir um eine automatische Selbstzerstörungssequenz erweitert.« »Dadurch daß Sie mich nicht davon informierten, haben Sie die Vorschriften verletzt – und dafür könnte ich Sie hinrichten lassen. Der Große Denker…« »… wird wissen wollen, warum Sie einem menschlichen Spion die Möglichkeit gaben, unsere Computergeheimnisse in Erfahrung zu bringen.« Einige Sekunden lang starrten sich die beiden Frauen schweigend an. Einmal mehr trafen sie so eine stille Übereinkunft – um sich gegenseitig zu schützen. »Eins würde ich gern wissen«, sagte Diana nach einer Weile. »Wenn ich Sie nicht mitgenommen hätte… Die Zerstörungssequenz wäre trotzdem ausgelöst worden, nicht wahr?« »Selbstverständlich. Zum Wohle der Flotte und unserer Mission.« »Ich hätte sterben können.« Lydia deutete ein Nicken an. »Wahrscheinlich. Jeder Sieg hat seinen Preis, Diana. Ich wäre bereit gewesen, Sie für eine Auszeichnung vorzuschlagen.« Sie legte eine Kunstpause ein. »Posthum.«