Paul Kearney
Der Weg nach Babylon Fantasy-Roman
Ins Deutsche übertragen von Michael Ritz
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Paul Kearney
Der Weg nach Babylon Fantasy-Roman
Ins Deutsche übertragen von Michael Ritz
Dieses E-Book ist die elektronische Sicherungskopie eines Printmediums. Es ist nicht verkäuflich!
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Kurzbeschreibung: Michael Riven war ein gefeierter Fantasy-Autor und lebte auf der Sonnenseite des Lebens, bis er bei einem Ausflug in den Bergen abstürzte und seine geliebte Frau starb. Nach dem Unglück zog Riven sich allein in ein kleines Landhaus zurück — voller Zweifel an sich und der Welt. Plötzlich taucht ein seltsamer Fremder auf und führt Riven nach Minginish — in seine eigene Fantasy-Welt. Ein dunkler Schatten liegt über Minginish: Unwetter verheeren das Land, gefährliche Tiere jagen umher, und alles scheint dem Untergang geweiht. Michael Riven muß dieses Reich, seine eigene Schöpfung, retten, aber zuerst muß er seine Verzweiflung besiegen. Doch wie soll ihm das gelingen — in einem kalten, feindseligen Land voller Gefahren? Ein opulenter, hintergründiger Roman über ein wahrhaft phantastisches Land. Der Debütroman von Paul Kearney, der damit zu dem erfolgreichsten Newcomer in Großbritannien wurde.
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BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Band 20 234
Erste Auflage: Juli 1994 © Copyright 1992 by Paul Kearney All rights reserved Deutsche Lizenzausgabe 1994 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co., Bergisch Gladbach Originaltitel: The Way To Babylon Lektorat: Elisabeth Rapp/Reinhard Rohn Titelbild: Paul Dämon Umschlaggestaltung: Quadro Grafik, Bensberg Satz: Fotosatz Schell, Hagen a.T.W. Druck und Verarbeitung: Brodard & Taupin, La Fleche, Frankreich Printed in France ISBN 3-404-20234-1 obx 4
Für meinen Vater Mein Dank gilt: John Wylkinson für viel harte Arbeit und Ermutigung, Martin & Suzie für viele ausgezeichnete Abendessen und meiner Familie für ihre unermüdliche Unterstützung.
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ERSTES KAPITEL Im Rückblick konnte er sich kaum noch vorstellen, wie es gewesen war. Damals, in den sonnigen Tagen, als sein Körper und sein Geist noch intakt gewesen waren. Bevor seine Welt zusammengebrochen war. In einem einzigen furchtbaren Moment war ihm alles genommen worden, was er liebte. Und jetzt war er allein. Ja, irgend jemand da oben mußte eine verdammt merkwürdige Art von Humor haben. Ich hoffe wirklich, du hast dich über meine Aufführung amüsiert — die zerschmetterten Knochen, die unaufhörlichen Schmerzen und die langen Monate, in denen sie versucht haben, alles wieder zusammenzuflicken. Und die besorgten Freunde. Mein Gott, das war doch am lustigsten gewesen — ihre schmerzvollen Debatten, wann man mir sagen sollte, daß sie tot war. Zerschmettert. Wegen eines Seils, das ich einmal zu oft benutzt habe. Es war immer zu teuer gewesen, ein neues zu kaufen. Ist das nicht zum Lachen? Lach dich doch tot. Die Sonne schien warm auf sein Gesicht. Er öffnete die Augen und sah auf den Fluß und die Wälder, die sich jenseits der großen Rasenfläche erstreckten. Die Gestalten in den Bademänteln wirkten völlig fehl am Platz. 6
Ebenso wie die weißgekleideten Krankenschwestern. Sie stammten aus einer Welt jenseits der Heide und der Adler. Und der Berge. Es gibt kaum etwas Zivilisierteres als Berkshire. Gedankenverloren strich er über die Armlehne des Rollstuhls. Alle waren so verdammt alt hier! Alte Männer und alte Frauen, die auf dem Weg zu einem Liegestuhl in Bournemouth waren, aber vorher noch einmal gründlich durchgecheckt werden mußten. Damit sie nicht umkippten und ihren Eiskaffee verschütteten. Ein angenehmer Ruhestand. Genau das brauche ich. Ein langsames Dahindämmern, mit Pantoffeln und einem Neufundländer Sonntags vielleicht ein Spaziergang. Fast hätte er gelacht, aber der stechende Schmerz in seinem Kiefer durchzuckte seinen Kopf wie ein Stromschlag. Er fluchte lautlos und betastete die Metallstäbe, die man ihm ins Gesicht implantiert hatte. Es wirkte wie die schreckliche Karikatur einer Akupunktur. Der Mann mit der Eisenmaske, das bin ich. Der Schmerz ließ nach, und schließlich spürte er nur noch die Sonne auf seinem Gesicht. Ich weiß, ich bin ein Glückspilz. Normalerweise müßte ich tot sein nach einem Sturz von sechzig Metern. So wie sie. So tot wie man nur sein kann. Es ist nicht richtig, 7
daß Menschen so sterben müssen. Sie sollten Zeit haben für einen letzten Wunsch und all diese Dinge. Einen letzten Kuß ... O ja, da sind wir wieder beim Thema. Du verfluchter Narr. Er rieb sich die Augen, bis sie trocken waren. Sein Kopf schmerzte jetzt wieder. Was soll's, dann habe ich eben Kopfschmerzen. Das Leben ist ein Miststück. Und tausend Jahre entfernt antwortet eine lachende Stimme: >Und dann heiratest du auch noch eine!< Er schob die rechte Hand auf den Kontrollhebel. Der Elektromotor heulte auf, und der Rollstuhl setzte sich ruckartig in Bewegung. Er steuerte einen zügigen Zickzackkurs über den Hof, bemüht, einen Zusammenstoß mit anderen an den Rollstuhl gefesselten Patienten zu verhindern. Haltet eure Bettpfannen fest, ihr pensionierten Bankiers! Dann erschien eine weißgekleidete Gestalt vor ihm, und ein Tablett voller Flaschen und Pillendosen flog durch die Luft. Der Zusammenstoß wurde von dem verwirrten Schrei einer Frau begleitet. Verdammter Mist! Er stellte sich taubstumm und fuhr eilig davon. Tabletten lagen in den Falten seiner Decke, und er spürte irgendeine klebrige Medizin an seinem Hals. »Mr. Riven, kommen Sie sofort zurück. Was glauben Sie eigentlich, was Sie hier tun?« Ich muß das Ding frisieren. Man kommt ja mit Krücken schneller voran. 8
Das Summen des Motors verstummte, und er wartete geduldig auf die stämmige Krankenschwester, die auf ihn zukam. Jesus, mit diesen Beinen hätte sie auch ein Bohrturm werden können! »Mr. Riven, ich habe Ihnen nicht erst einmal erklärt, was ich davon halte, daß Sie mit Ihrem Rollstuhl herumrasen. Hören Sie eigentlich nie zu? Es gibt hier noch andere Patienten, Mr. Riven, und die meisten davon sind alt und gebrechlich. Ist es Ihnen egal, was hätte passieren können, wenn Sie einen von ihnen angefahren hätten und nicht mich?« Erzähl mir was von Unfällen, du fette Kuh. Erzähl mir was von Verantwortung. »Ich werde Sie in den Park schieben. Da können Sie nichts anrichten. Seien Sie brav und genießen Sie die Sonne noch etwas. Sie sollten dankbar dafür sein, daß Sie sich hier draußen aufhalten können. Sie sind doch jemand, der sich gerne im Freien bewegt ...« Na klar. Laufen, Springen, Klettern. Nichts mache ich lieber. »Da sind wir. Sie können hier sitzen und die Sonne genießen. In einer Stunde gibt es Essen. Ich werde Sie dann abholen, und die frische Luft wird Ihnen einen schönen großen Appetit gemacht haben.« Sie rauschte davon. Mein Gott, kein Ruhestand kann so langweilig sein wie das hier. Er betätigte wieder den Kontrollhebel, aber der Motor war dem holprigen Rasen nicht 9
gewachsen. Der Rollstuhl bewegte sich nur einen Meter nach vorne und stoppte dann mit einem häßlichen Knirschen. Aua. Muß die Kupplung schon wieder vergessen haben. Ich frage mich, ob es diese Dinger auch mit Allrad-Antrieb gibt. Oder mit Ladefläche. Dann könnte ich meinen Neufundländer mitnehmen. ... Ich kann nicht einmal pfeifen. In theatralischer Pose blickte er finster vor sich hin, bis die Kopfschmerzen wieder einsetzten. Dann seufzte er und starrte auf seine Knie. Verkrümmt und dünn, sogar unter der Decke. Es war jetzt mehr Metall als Knochen in seinen Beinen. Das kriegen wir wieder hin, besser als vorher ... Nun, noch ein Stündchen in dieser herrlichen südlichen Luft, und Schwester Bisbee mit den haarigen Unterarmen, Die-derman-gehorchen-muß, wird mich hineinschieben. Zu einem Feinschmeckeressen aus kleingeschnittenen Würstchen und Stampfkartoffeln. Oder, falls der Koch heute experimentierfreudig ist, ein kleines Steak und Kidneybohnen mit einem schmackhaften Klecks Ketchup. Danach ziehen wir uns in den Salon zurück, nehmen ein paar Likörchen zu uns, werfen unsere Schmerztabletten ein und warten auf das Abendessen. Schließlich torkeln wir zufrieden ins Bett. Ein Leben nach Gutsherrenart. Moment mal, der verrückte alte Molesy kommt Hallo sagen. Er ist 10
nachgewiesenermaßen schwachsinnig und der einzige, der sich mit mir unterhält. Hey, Molesy, auf welchem Planeten befinden wir uns denn heute? Der alte Mann hatte ein rotes, zerfurchtes Gesicht, das aussah wie ein verschrumpelter Apfel, aber seine blauen Augen leuchteten daraus wie ein Gebirgssee bei Sonnenschein. Er schmatzte, hielt dann den Kopf schief und flüsterte: »Sie sind also noch nicht gegangen. Sie sind noch hier?« Aber nein, du alter Schwachkopf, ich bin nur eine Erscheinung. »Wissen Sie, ich frage nur, weil ich jeden Tag damit gerechnet habe, daß Sie verschwinden, weil Sie doch schon einmal dagewesen sind.« Er senkte seine Stimme noch mehr und blickte sich verstohlen um. »Nur Sie und ich wissen davon.« Der rhythmische Tonfall seiner rauhen Whiskystimme verriet seine Herkunft aus den schottischen Highlands. Dahinter verbarg sich noch ein anderer, unbestimmbarer Akzent. »Wir waren dort, und da ist es.« Eines Tages, lieber Molesy, verpasse ich dir eins auf deine große rote Nase. Du und deine zwielichtigen keltischen Geschichten. Du bist ein whiskygetränkter Spinner, der zu lange allein gelebt hat und dem der Nebel der Berge ins Hirn geraten ist. »Keine Angst. Ich weiß, daß Sie nicht darüber reden können. Ich weiß, daß Sie überhaupt nicht reden können. Darum reden auch die 11
anderen nicht mit Ihnen. Sie glauben, Sie hätten mit Ihrer Stimme auch ihren Verstand verloren. So wie sie glauben, ich hätte meinen Verstand verloren.« Er kicherte und wirkte dabei für einen Augenblick verblüffend pfiffig und irgendwie jünger. »Doch was soll's, wir behalten unser Geheimnis noch ein hübsches Weilchen für uns, nicht wahr, Mr. Riven? Wir haben Zeit, viel Zeit ...« Er verlor sich in Erinnerungen. »Ach, mir geht in letzter Zeit so viel durch meinen alten Kopf. Es war schöner auf Skye, ich wünschte, ich wäre zurück in Minginish. Ich vermisse den Wind und den Salzgeruch. Da war ich zu Hause, das ist mein Platz.« Ja, Chef. Vielleicht hast du da sogar recht. Aber du wirst nie wieder dort hinkommen. »Ich muß jetzt weg. Die verdammten Krankenschwestern ...« Und fort war er, ging auf unsicheren Beinen über den Rasen auf das Hauptgebäude zu. Wir haben Zeit, viel Zeit. Mit einer Mischung aus Motorkraft und den Bemühungen seiner gesunden Hand gelang es Riven, zurück auf den Hof zu gelangen. Als er ihn erreicht hatte, fühlte sich sein Kopf an, als müsse er jeden Moment explodieren. Geschafft, ihr Mistkerle! Bemüht euch bloß nicht, mir zu helfen, das könnte eure Geschwüre verstärken ... Verflucht, tut der Schädel weh. Ich wette, er ist immer noch gebrochen. 12
Viele Patienten waren jetzt auf dem Weg in die Gebäude zum Mittagessen. Die Herbstsonne schien warm. Unten am Fluß standen Weiden, deren Äste bis ins Wasser hingen. Sanft glitten ihre dünnen Blätter über die Wasseroberfläche. Er saß gerne an dem Kiesufer, wo die Sonne bis auf den Grund schien. Es war die Athmosphäre des Südens, friedlich und still. Er sah sich um und wünschte, er könnte jetzt dort sitzen. Aber der alte Mann hatte die Gedanken an den Norden wieder in ihm wachgerufen. Gedanken an Felsen, Farnkraut und Berggipfel. Das waren die schlimmsten Gedanken, denn in wenigen Augenblicken würde er sich wieder oben auf dem Sgurr Dearg befinden und auf das durchgescheuerte Seil starren. Im Unterhaltungsraum lief ein Radio. Für einen Moment hörte er mit verzerrtem Gesicht zu. Dann setzte sich der Rollstuhl in Bewegung, und er fuhr hinein. Innerlich pfiff er vor sich hin und dachte an andere Berge. Die Fleisch- und Gemüseportionen, die auf den Tellern der anderen Patienten fein säuberlich voneinander getrennt lagen, waren auf seinem Teller zu einem Einheitsbrei vermengt worden, den er vorsichtig in seinen schmerzenden Mund saugte. Um ihn herum fanden lebhafte Unterhaltungen statt. Der Raum war den mobileren Patienten vorbehalten. Die anderen aßen im Bett auf den Krankenstationen oder in ihren Zimmern. »Möchten Sie noch etwas, Mr. Riven?« 13
Er verdrehte die Augen und warf der jungen Krankenschwester einen Machen-Sie-WitzeBlick zu. Sie lachte. »Schon verstanden. Wenigstens können Sie nicht so auf uns losgehen wie Mr. Simpson.« Sie wandte sich ab. Gott, ich könnte ein Bier gebrauchen! Er hatte seit Monaten keinen Drink mehr gehabt. Die Medikamente, die unaufhörlich in seinen Körper gepumpt wurden, verboten es. Die Vorstellung, sich zu betrinken, schien ihm so angenehm wie abstoßend. Obwohl er zugeben mußte, daß es sich ohnehin erübrigte, soviel zu trinken, bis er nicht mehr auf den eigenen Beinen stehen konnte. Manchmal wünschte er sich zu trinken, bis er alles vergaß. Wünschte sich eine traumlose Dunkelheit, in der er das ausgefranste Seilende nicht mehr vor sich pendeln sehen würde. Dann fragte er sich wieder, ob durch das Trinken nicht alles wieder in seiner Erinnerung hochkommen würde und noch deutlicher vor ihm stehen würde, als jetzt schon. Er saugte die Reste seiner flüssigen Mahlzeit auf, ohne ihren Geschmack wahrzunehmen. Gegenüber saß ein Mann in den mittleren Jahre und aß bedächtig und sorgfältig. Er sah aus, als könne ihn selbst ein Erdbeben nicht aus der Ruhe bringen. Riven fühlte sich gefangen — von den Medikamenten, der Flüssignahrung, dem Alter der Leute um ihn herum. Er blickte sich um und sah schließlich 14
Doody, den Krankenpfleger, am anderen Ende des Raumes. Er winkte ihm zu. Doody war ein Schwarzer aus London. Er war wie Riven bei der Armee gewesen und außerdem im RAMC, dem Royal Army Medical Corps. Er hatte ein ausgesprochen unbekümmertes Naturell. »Hallo Sir, was liegt an?« Riven zog hilflos die Augenbrauen hoch und hielt einen Finger wie einen Pistolenlauf an die Schläfe. »Zum Teufel auch — so sieht's also aus? Damit kann ich nicht dienen. Warten Sie einen Moment, dann bringe ich Sie hier raus.« Er ging hinüber zu der aufsichtführenden Schwester und kehrte dann zurück. »Kommen Sie, wir lassen die alten Knacker sich die Bäuche vollschlagen und schnappen etwas frische Luft.« Er schob Riven wieder nach draußen. Goldenes Nachmittagslicht lag über dem Fluß. Sofort fiel Riven das Atmen wieder leichter. Das ewige Herumsitzen gab ihm das Gefühl, daß seine Lungen zusammenschrumpften. Früher war er viel gelaufen, viele Meilen, bis seine Lungen unendlich weit waren. All diese Ausdauer war am Fuße des verdammten Berges zurückgeblieben. »Hier, Sir, nehmen Sie das.« Doody reichte ihm ein Notizheft und einen Bleistift. »Sie haben es heute morgen liegengelassen, nicht wahr? Ich kann schon verstehen, daß Sie es manchmal nicht benutzen wollen.« 15
Manchmal macht es die Sache leichter, schrieb Riven schnell. Manchmal — er hielt inne. Manchmal ist mir alles scheißegal. Doody sah ihn mit ungewohntem Ernst an. »Das ist es Ihnen wirklich, was? Viele Leute sagen das, aber ich glaube, Sie sind der einzige Kerl, der weiß, was es heißt.« Der Bleistift blieb stumm. Doody beugte sich vor. »Es muß jetzt jeden Tag so weit sein, daß sie Ihnen die verfluchten Stahlschienen aus dem Gesicht nehmen, Sir. Dann können Sie wieder essen und reden und mich vollkotzen, wenn Sie Lust dazu haben.« Er richtete sich für einen Moment auf und sah sich um, als müsse er sich vergewissern, daß niemand in der Nähe war. »Und was viel wichtiger ist: Ich werde dann das eine oder andere Bier in ihren Hals schütten können.« Er lächelte, und sein Gesicht wurde dabei noch häßlicher, als es ohnehin schon war. Riven und er schlugen sich auf die ausgestreckten Hände. Du verdammter Zauberer. Ohne dich würde ich durchdrehen. Und ein gesunder Verstand ist eine fragile Sache. Ein schmaler Grat zwischen Licht und Finsternis. Er erinnerte sich daran, wie die Felsen an ihm vorbeigerast waren, an das Gefühl, daß ihm der Blick auf etwas gewährt wurde, das nur selten jemand sah, der nachher noch davon erzählen konnte. Der Tod. 16
Hier bin ich, hatte der Tod grinsend gesagt. Ich bin immer dagewesen, habe immer auf dich gewartet. Der ungeladene Gast. Und es war ihm egal gewesen. Ein leichtes Lächeln glitt unwillkürlich über sein Gesicht. Ich war glücklich, ihn zu treffen und ihm die Hand zu schütteln. Er brachte mich dahin, wo ich hinwollte. Der Schmerz der Erinnerung überwältigte ihn wieder, unbarmherzig wie immer. Es war ärgerlich, immer wieder unversehens von ihm überrascht zu werden. Würdelos. In den besten Geschichten — seinen eigenen — kam so etwas nicht vor. Es wird schnell langweilig, von Trauer zu hören. Er schüttelte den Kopf, soweit er dazu in der Lage war, befreite sich vom Nebel der Berge und dem Geruch der Heide. Er sah ein Gesicht vor sich: das einer dunkelhaarigen Frau mit buschigen Augenbrauen und einem ausgeprägten Kinn. Sie war sehr jung. Wer war sie? Vielleicht eine seiner Romanfiguren. Eine Jungfrau aus dem Reich der Träume und Geschichten. Es ist nicht immer einfach, eine grenzenlose Fantasie zu haben. Er wendete den Rollstuhl ruckartig. Doody sprach mit einer der Krankenschwestern. Ihr Gesicht sah dem der Frau aus Rivens Vorstellungswelt verdächtig ähnlich. Soviel zu der grenzenlosen Fantasie. Doody blickte herüber und winkte. 17
»Es sieht so aus, als hätten Sie eine Verabredung mit dem obersten Knochenflicker. Ich bringe Sie gleich hinüber.« Riven deutete ein Nicken an. Das Lächeln der Krankenschwester blieb unerwidert. Eine Verabredung. Und zweifellos galt es auch, Versprechungen einzuhalten. Bringt mir den Knochenflicker. Er bemerkte nicht, daß jemand ihn aus dem Schatten der Veranda beobachtete. Molesys Gesicht mit den berechnenden Augen wirkte für einen Moment wie das eines jungen Mannes. »Nun, Michael, es sieht so aus, als würden Sie Fortschritte machen ... noch ein letzter Stich ... das war's.« Er konnte nur das helle Licht über sich sehen. Er spürte, wie die geschickten Hände über sein Gesicht glitten und registrierte das leise Knirschen von Metall auf Knochen. Es war wie beim Zahnarzt. Merkwürdig, wie locker sein Unterkiefer war. Die Möglichkeit, ihn nach so langer Zeit wieder zu bewegen, war ungewohnt. »Sehr schön. Es werden kaum Narben zurückbleiben. Wenn die anderen Knochen genausogut verheilen, werden Sie bald darüber lachen ...« Der Chirurg brach ab und verzog das Gesicht. »Ich werde Sie jetzt den Kiefer bewegen lassen. Seien Sie erst einmal ganz vorsichtig. Keine plötzlichen Bewegungen. Da ...« 18
Es funktioniert. Verdammt noch mal, es funktioniert! »Ich kann sprechen«, sagte er mit belegter Stimme. Zum ersten Mal seit Monaten hörte er sich selbst sprechen. Er mußte mit den Tränen kämpfen. Die letzte Person, die seine Stimme gehört hatte, war sie gewesen. »Haben Sie irgendwelche Schmerzen oder Unannehmlichkeiten? Außer der allgemeinen Steifheit natürlich.« Er schüttelte den Kopf. Nicht mehr als sonst. Der Arzt beugte sich über ihn. Er hatte graue Haare und ein Raubvogelgesicht. Seine große Brille hatte eine schwarze Fassung. »Hey, Doc, vielleicht sind Sie doch nicht so häßlich, wie ich immer dachte.« Er grinste und ignorierte den stechenden Schmerz, der seinen Kiefer durchzuckte. »Das gleiche gilt für Sie. Sie sehen jetzt nicht mehr aus wie eine Fernsehantenne. Versuchen Sie mal, sich aufzusetzen.« Er tat es und spürte sofort, wie sein Unterkiefer nach unten klappte. Ohne die Metallschienen fühlte er sich wie ein Pendel an, das man an seinem Kopf befestigt hatte. Er spürte Speichelfäden am Kinn und wischte sich über den Mund. »Herrje, ich muß alles wieder von vorne lernen.« »Das wird nach ein oder zwei Tagen aufhören, wenn Sie sich daran gewöhnt haben, daß Sie jetzt wieder selbst dafür verantwortlich sind.« »Was ist mit dem Rest?« 19
Der Arzt schwieg für einen Moment. »Ich fürchte, das wird länger dauern. Es wird noch einige Zeit vergehen, bis Sie wieder laufen können. Aber der Arm sollte jetzt mit der Zeit immer kräftiger werden ...« Zeit. Kein Problem, davon habe ich jede Menge. Die Worte, die er von sich gab, waren unbeholfen und undeutlich artikuliert, so, als spräche er mit vollem Mund. Er trug nach wie vor sein Notizbuch mit sich herum — für den Fall, daß es ihm zu anstrengend war zu sprechen oder sein Gegenüber besonders schwer von Begriff war. Doody verstand natürlich jedes Wort, das er sagte, und schimpfte gelegentlich mit ihm, wenn er absichtlich nuschelte. »Nachdem man Ihnen diesen postmodernen Hutständer aus dem Gesicht entfernt hat, sollten Sie es mal bei Schwester Bisbee, der alten Kuh, probieren. Sie glaubt, daß Sie nicht ganz beieinander sind. Man kann sich prima mit ihr unterhalten. Sie hat nichts als Aspirin und Verbandszeug zwischen ihren Ohren.« Und zum ersten Mal seit langer Zeit lachte Riven, obwohl sein Gesicht dabei schmerzte. Die weiße Gestalt von Schwester Bisbee rauschte in den Raum wie ein Segelschiff in voller Fahrt. Doody verdrehte die Augen. »O je, jetzt gibt es was. Wahrscheinlich sollte ich gerade irgendwelche Hintern abwischen oder Fußböden sauberlecken.« 20
»Doody, sollten Sie zu dieser Tageszeit nicht woanders sein?« fragte Schwester Bisbee mit gerunzelter Stirn. »Zum Beispiel in der Wäschekammer?« »Aber ja, Massah, ich sein unterwegs«, antwortete Doody. Er nickte Riven zu und verschwand mit einem kurzen Winken. Schwester Bisbee warf ihm noch einen tadelnden Blick hinterher und begann dann mit der Arbeit. Sie brachte sein Bettzeug in Ordnung und bewegte ihn dabei wie ein Kind. »Nun, Mr. Riven, ich hoffe, Sie fühlen sich stark heute. Es ist Besuch für Sie gekommen. Ein wichtig aussehender Mann. Muß ein Rechtsanwalt oder so etwas sein. Wenn ich es Ihnen bequem gemacht habe, schicke ich ihn herein. Haben Sie Ihr Notizheft griffbereit? Gut. Ich werde ihn jetzt hereinbitten.« Ein Besucher für den neuerdings wieder sprechenden Michael Riven. Mist! Ein kleiner, untersetzter Mann in einem unauffälligen, aber schlechtsitzenden Anzug. Er hatte ein breites, rötliches Gesicht, und seine Haare waren fast militärisch kurz geschnitten. Wären seine weichen Augen nicht gewesen, hätte man ihn für einen Hufschmied oder einen Hauptfeldwebel halten können. Er warf Riven ein Lächeln zu und streckte ihm die Hand entgegen. »Hallo, Mike.« Riven drückte sie ihm kurz. Der Anflug eines Lächelns glitt über sein Gesicht. »Hugh«, sagte er deutlich. Der Mann war sein Verleger, 21
Geburtshelfer der Geschichten, die er geschrieben hatte, als die Welt noch eine andere gewesen war. Der Mann namens Hugh nahm neben Riven Platz. Sein Stuhl scharrte über den Boden, als er ihn näher heranzog. Er schien Schwierigkeiten damit zu haben, Riven in die Augen zu schauen. Mein Gott, seh ich wirklich so schrecklich aus? Schließlich sah er Riven an. Er zuckte mit den Schultern. »Zum Teufel, man kann nicht viel dazu sagen, oder?« »Nein«, erwiderte Riven. Das Wort kam klar wie Glas aus seinem Mund. Hugh schlug sich auf das Knie. »Ich bin hier, um dir jede Menge Mitgefühl zu versichern und dann allmählich zur Sache zu kommen und nach deiner Schreiberei zu fragen.« Er grinste kurz wie ein Schuljunge. »Mein Mund ist so trocken wie altes Brot. Solche Sachen lassen sich besser unter dem zivilisierenden Einfluß von Alkohol besprechen. Aber der ist tabu, habe ich gehört.« Riven nickte. »Für ein Bier würde ich meine Seele verkaufen.« Jetzt, da das Eis gebrochen war, entspannte Hugh sich sichtlich. Er blickte sich um und fischte eine seiner stinkenden Zigaretten aus der Tasche. Genüßlich zündete er sie an. »Die Medikamente, ich weiß. Ich habe mit dem Arzt gesprochen. Du mußt ja völlig high sein bei dem ganzen Zeug, das sie dauernd in 22
dich hineinpumpen ...« Er brach ab und betrachtete seine Zigarette. »Es tut mir so leid, Mike. Leid für dich und ... für sie. Leid wegen dieser ganzen beschissenen Sache. Was soll ich sagen, was du nicht schon hundertmal gehört hast? Du weißt, wie sehr ich sie mochte. Ich habe sie bewundert. Sie war eine bezaubernde Frau. Es ist alles so sinnlos.« Riven nickte wieder. Trauer war nicht nur langweilig. Sie war auch banal. »Ich weiß«, sagte er rauh. Es klang, als würde seine Batterie leer werden. »Vergiß es, Hugh.« Hör auf davon. Sein Verleger deutete mit der brennenden Zigarette auf Rivens Hand. »Zum Glück bist du Linkshänder.« Riven runzelte die Stirn. Wie bitte? Dann begriff er. Mein einziges unversehrtes Körperteil. Meine Schreibhand. Das war doch lustig. »Ich schreibe nicht. Werde für eine ganze Weile nicht schreiben, Hugh.« Der stämmige Mann nickte verlegen. »Um ehrlich zu sein, ich habe nichts anderes erwartet. Du wirst Zeit brauchen. Es wäre nicht anständig von mir, jetzt über Fristen und den Fortgang der Arbeit zu reden ...« Er sah aus, als hätte er trotzdem nichts anderes lieber getan. »Das Wichtige ist, daß du Fortschritte machst. Letzte Woche konntest du noch nicht einmal sprechen. Die Ärzte sagen, du kommst wieder vollkommen in Ordnung ... Wir werden dich nicht drängen.« 23
Da kannst du Gift drauf nehmen. »Über eine Sache müssen wir trotzdem noch reden, Mike. Das dritte Buch. Alle Welt verlangt danach. Der letzte Band der Trilogie. Die Fans schreiben uns deswegen.« Riven begann zu seiner eigenen Verwirrung zu kichern. Fans! Ich habe Fans! Mein Gott! Hugh lächelte. »Ich weiß. Seit dem Unfall haben sich die Verkaufszahlen fast verdoppelt. Manchmal ist die menschliche Natur eine seltsame und befremdliche Sache. Eine Tragödie im wirklichen Leben, und plötzlich will jeder die erfundenen Geschichten lesen. Ich habe das nie richtig begriffen.« Rivens Lachen blieb ihm im Halse stecken. Seine Kehle war trocken, und am liebsten hätte er ausgespuckt. »Vielleicht sollte ich in meinem nächsten Buch darüber schreiben«, knurrte er. Eine Felswand auf Skye. Er saß an der Kante, und das schlaffe Seil schwang vor ihm. Er konnte den Schrei immer noch hören. »Es tut mir leid«, sagte Hugh. Unruhig rutschte er auf dem Stuhl herum. Er sah auf die Uhr. »Ich werde jetzt gehen. Ich glaube, das ist dir auch lieber. Ruf mich an, wenn ... wenn du über alles nachgedacht hast.« Er stand auf, und für einen Moment schien es, als wollte er Riven die Hand hinstrecken, aber er überlegte es sich anders. »Ich geh dann jetzt«, wiederholte er. »Halt die Ohren steif, Mike.« Dann drehte er sich um und ging. Riven 24
fingerte am Kontrollhebel des Rollstuhls herum. Warum lösen diese Dinger eigentlich ein solches Unbehagen aus? Wenn man eine Weile in ihnen gesessen hat, verwandelt man sich in einen Metallzentaur, dem jeder aus dem Weg geht. Hier kommt Michael Riven mit seinem fantastischen Raketenschlitten. Er fuhr zum Fenster und blickte hinaus. Herbst. Herbst auf Skye. Das Farnkraut ist braun geworden. Auf den Cuillin-Bergen könnte der erste Schnee fallen. Aber der November kann da oben ausgesprochen mild sein ... »Ihr Besucher sah aber nicht besonders glücklich aus«, sagte Doody herzlich. Er schob einen Wäschewagen herein und rollte ihn neben Rivens Rollstuhl. »Bürokraten«, murmelte Riven abwesend. »Davon gibt es jede Menge.« »Ich dachte, das wüßten Sie mittlerweile, Sir. Es hat auch seine Vorteile, im Krankenhaus zu liegen.« Jawohl. Hat es. »Den wievielten haben wir heute, Dood?« »Zwölfter November. Zum Teufel, wie sehen denn diese Laken aus. Der verdammte Mr. Simpson hat wieder nicht aufgepaßt. Man sollte doch meinen, daß ein Handelsbanker seinen Hintern unter Kontrolle hat. Irgendwo hat es bei ihm einen Kurzschluß gegeben, wenn Sie wissen, was ich meine.« Ich bin seit vier Monaten hier. Jesus. 25
»Doody, wie oft habe ich seit meiner Einlieferung Besuch gehabt?« Doody hielt inne und dachte nach. »Oh, jede Menge. Zumindest ist oft jemand hiergewesen. Nicht, daß Sie jemanden zu Gesicht bekommen haben. Sie waren nur bei Ihnen, wenn Sie bewußtlos waren.« Er zog die Augbrauen hoch. »Und Sie haben nie gesagt, warum Sie niemanden sehen wollten.« Erinnerungen. Mitgefühl. Um Gottes willen. Er starrte wieder aus dem Fenster und beobachtete die Weiden unten am Fluß. Einmal hatte er den blauen Schatten eines Eisvogels dort unten gesehen. Ein EisvogelSommer ... Warum haben sie ihn zu mir gelassen? Natürlich, der weiße Wal. Was hatte sie gesagt? Wie ein Rechtsanwalt. Der Glanz der Respektabilität. Armer alter Hugh. »Wissen Sie, Sir, es klingt vielleicht bescheuert, aber Sie werden immer ruhiger in den letzten Tagen. Als Sie noch Ihr Notizbuch benutzt haben, haben Sie mehr erzählt als jetzt, da Sie wieder sprechen können.« Doody sah ihn scharf an. Das Bündel mit Kopfkissenbezügen in seiner Hand schien er vergessen zu haben. Riven sah ihn an. »Tja, Dood, Du weißt, woran das liegt, nicht wahr?« fragte er traurig. Doody schüttelte den Kopf. »Es sind die Alkoholentzugserscheinungen, du Weichbirne.« 26
»Aha!« Doody nickte weise und nahm seine Beschäftigung wieder auf. Er schob den Wäschewagen vor sich her. »Jetzt, da die Medikamente langsam abgesetzt werden, werde ich mal sehen, ob ich nicht die richtige Arznei für Sie besorgen kann, Mr. Riven, Sir ...«
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ZWEITES KAPITEL Das Beechfield-Center war ein privates Pflegeheim für Leute, die keine staatliche Einrichtung dieser Art in Anspruch nehmen wollten. Man konnte es nicht als >exklusiv< bezeichnen, aber es wurde doch Wert darauf gelegt, eine bestimmte Klientel anzusprechen. Hauptaufgabe des Centers war es, wohlhabende Mitglieder der älteren Generation auf die Unbilden des Alters vorzubereiten. Aus diesem Grunde standen Arthritis, Rheuma und geistige Verwirrung ganz oben auf der Liste der Krankheiten, die innerhalb seiner weißen Mauern behandelt wurden. Riven war eine Ausnahmeerscheinung, aber er war dennoch mit offenen Armen aufgenommen worden. In der Literaturwelt hatte er einen gewissen Namen. Er hatte zwei FantasyRomane geschrieben, die sich ganz gut verkauften und ihm ein ordentliches Einkommen garantierten, das er nur gelegentlich mit anderen Tätigkeiten aufbessern mußte. Seine Eltern hatten immer versucht, ihm einen >soliden< Beruf schmackhaft zu machen, und wenn sie auch von der Armee nicht begeistert gewesen waren, hatte sie dieses Kriterium wenigstens erfüllt. Doch Riven hatte die Armee als Leutnant 28
verlassen. Er hatte genug gesehen. Er hätte diese Erfahrung nicht missen mögen, aber es war keine Lebensaufgabe gewesen. Dennoch würde er immer stolz darauf sein, daß er Soldat gewesen war. Er hatte sich damit einen Kindheitswunsch erfüllt, und es hatte ihm Zeit zum Nachdenken gegeben. Im Beechfield-Center war man froh, ihn bei sich zu haben, wenn sein Verhalten auch manchmal einigermaßen exzentrisch war. Da war beispielsweise seine Weigerung, Besuch zu empfangen, oder die Tatsache, daß er einige Mitglieder des Pflegepersonals beharrlich ignorierte. Aber man mußte an die doppelte Tragödie denken, die ihn getroffen hatte: den Tod seiner Frau und seine eigenen schweren Verletzungen. So begegnete man ihm mit Nachsicht und würde das weiterhin tun, solange die Versicherung für seinen Aufenthalt bezahlte. Der Chefarzt, Dr. Lynam, ein freundlicher, stets lächelnder Mann, sah des öfteren nach ihm. Er war einer jener Männer, die mit vollendeter Inkompetenz Pfeife rauchen. Dennoch ließ er nicht davon ab; er wußte, daß er dieses Laster überwinden würde, wenn er erst im Ruhestand in seinem Haus in den Cotswoods leben würde. Er brachte seinen Patienten die gleiche gedankenverlorene Zuneigung entgegen wie seinem Hund. Das machte ihn nicht zu einem schlechten Arzt, löste bei den ihm anvertrauten Patienten aber das unangenehme Gefühl aus, mit ihren 29
Leiden das ruhige Gleichmaß seines Daseins zu beeinträchtigen. Es gab zwei Krankenschwestern: Schwester Bisbee und Schwester Cohen. Bisbee war ein Relikt vergangener Zeiten, man konnte sie sich gut in einem viktorianischen Klassenzimmer vorstellen. Sie war so warmherzig wie ein südamerikanischer Diktator. Ihr Gesicht glich einer mächtigen rosafarbenen Felswand, und ihr Haar war so straff nach hinten gekämmt und dort festgesteckt, daß Riven vermutete, ihr Gesicht würde abschlaffen wie das einer Dogge, wenn sie ihre Frisur einmal lösen würde. Schwester Cohen war das genaue Gegenteil. Sie war jung und zartgliedrig, hatte spitzbübische Augen und dunkles Haar, dessen Anblick Riven manchmal kaum ertragen konnte. Es gab noch einige andere Hilfskräfte sowie das Küchenpersonal. Doody betätigte sich sowohl als Pförtner als auch als Hilfspfleger, und manchmal machte er sich in der Küche nützlich. Niemand schien genau zu wissen, was genau sein Aufgabenbereich war. Als neunzehnjähriger Corporal bei den Rosshire Buffs hatte er freiwillig seinen vorzeitigen Abschied genommen, um ein Kriegsgerichtsverfahren zu vermeiden. Er hatte einen Offizier geschlagen. Es war in Irland gewesen. Die Patrouille, die er führte, war auf einen verdächtigen Lieferwagen gestoßen. Die Nachrichtenabteilung glaubte, er enthielte einen Sprengsatz, und so hatten sie auf einem 30
Hügel einen Beobachtungsposten eingerichtet, um die Gegend im Auge zu behalten. Dann erschien der Zugführer und verlangte von Doodys Spähtrupp, hinunterzugehen und den Lieferwagen zu durchsuchen. Als Doody sich weigerte, wurde er als Feigling und noch einiges andere beschimpft. Er hatte den Offizier niedergeschlagen. Einen Augenblick später war der Lieferwagen in die Luft geflogen. Doody hatte sich danach zum Royal Army Medical Corps gemeldet. Er machte seine Sache dort gut, aber der Offizier hatte weitreichende Beziehungen. Und so war Corporal David Doody mit zwanzig Jahren arbeitslos, nachdem ihm die Armee sowohl das Töten als auch das Heilen beigebracht hatte. Und das war das Logischste, das ihm in der Armee widerfahren war, pflegte er zu sagen. »Und so bin ich hier gelandet«, fügte er stets hinzu. »Wische den alten Krachern den Hintern ab und versuche, unserem Stalin in der weißen Uniform aus dem Weg zu gehen.« »Das Wetter ist herrlich«, schwärmte Schwester Cohen. Riven nickte. Sie schob ihn auf die Rasenfläche hinter dem Center. Er war gut eingepackt, eine Decke lag über seinen Beinen. Doch die Sonne schien hell und warm, und Stare umschwirrten die Weiden. Wie im Frühling. »Ich lasse Sie jetzt hier stehen und komme in zehn Minuten zurück, um nachzusehen, ob es 31
Ihnen nicht zu kühl wird. In Ordnung, Mr. Riven?« Er nickte wieder und rang sich ein Lächeln ab. Wie lang ihr Haar wohl wäre, wenn sie es offen trüge ...? Ach, verdammt. Er saß da und lauschte dem Murmeln des Flusses und den zankenden Staren. Der Himmel war klar, winterklar, und obwohl der Nachmittag noch nicht weit fortgeschritten war, neigte sich die Sonne bereits. Die Schatten wurden länger, und das Licht begann dämmerig zu werden. Ein Hand legte sich schwer auf seine Schulter, und er fuhr herum. Molesy. »Ah, Mr. Riven.« Er sah sich verstohlen um. »Ich habe gehört, Sie können wieder sprechen.« »Das stimmt.« Wenn du wieder mit diesem Unsinn über Skye anfängst, Molesy, fängst du dir eine. Krüppel oder nicht. Der alte Mann war alles andere als sauber, und der Geruch, der von ihm ausging — nach Schweiß und Erde — überraschte Riven. Im Beechfield-Center wurde peinlich genau auf Sauberkeit geachtet. Molesy schien der Aufmerksamkeit der Schwestern irgendwie entgangen zu sein. Überhaupt, er hatte den alten Mann noch nie zusammen mit einer der Schwestern oder einem anderen Angestellten gesehen. Riven spürte ein merkwürdiges Unbehagen. Als ob sie gar nicht wüßten, daß er hier ist?
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Molesy sah sich wieder um, wachsam wie immer. Hatte er Angst, gesehen zu werden? Riven rutschte in seinem Rollstuhl herum. »Wie lange sind Sie schon hier, Molesy?« fragte er. Der alte Schotte ignorierte ihn. »Wir teilen ein Geheimnis, wir beide«, sagte er — und hinter seiner schottischen Mundart war da wieder dieser Akzent, den Riven nicht einordnen konnte. »Aber keine Angst, das Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben.« »Welches Geheimnis?« fragte Riven verärgert. »Aber, aber, Mr. Riven, machen Sie sich nicht lustig über mich. Sie kommen von Eileen A Cheo. Sie wissen, was in den Bergen über der See liegt, wo der Wasserfall sich herunter zum Kap des Wolfherzens ergießt.« Er ist nicht mehr bei Trost. Er ist so verrückt wie eine Scheißhausratte. Aber das paßte nicht zu dem verschmitzten Gesicht des alten Mannes und seinem konzentrierten Blick. Seine Gesichtsmuskeln schienen sich für Sekunden zusammenzuziehen. Riven hatte für einen Augenblick den Eindruck, daß Molesy nicht alt war. Aber dann war es wieder vorbei. »Wenn Sie Ihre Beine wiederhaben und man Sie wieder zusammengeflickt hat, denken Sie daran, nach Hause zu gehen. Wir alle müssen irgendwann nach Hause gehen«, sagte Molesy ernst. »Sie werden dort gebraucht — da, wo sich Berge und Meer treffen.« Seine blauen 33
Augen funkelten. »Da oben gibt es Dinge, die erledigt werden müssen.« Riven sah Schwester Cohen über den Rasen auf sie zukommen. Molesy folgte seinem Blick und zuckte zusammen. Er fluchte leise. »Zeit, daß ich mich verdrücke«, murmelte er. »Zeit, wieder auf der Straße des Nordens zu wandern. Erinnern Sie sich an den Geruch der See, Mr. Riven, und den Schrei des Brachvogels zwischen den Gipfeln der Black Cuillins? Vergessen Sie das nicht hier im Süden, wo die Luft voller Rauch ist und das Wasser schal. Denken Sie daran, wohin Sie gehen müssen.« Und er taumelte eilig über die Wiese davon, rempelte dabei einen anderen Patienten an. Schließlich verschwand er zwischen den Bäumen, und nur ein schwacher erdiger Geruch kündete noch von seiner Anwesenheit. »Alles in Ordnung, Mr. Riven?« sagte Schwester Cohen fröhlich. Sie nahm die Griffe des Rollstuhls. »Wer, zum Teufel, ist das?« fragte Riven sie. »Wer?« »Der alte Mann — der alte Schotte. Ist er ein Patient?« »Wir haben keine Schotten in Beechfield, Mr. Riven. Nur einen Iren, der jetzt zu Abend essen wird. Es wird langsam kühl, finden Sie nicht auch?« Ein leichter Schauder durchlief Riven. Doch das kam nicht von der Kälte.
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Es wurde jetzt sehr früh dunkel, und er verbrachte abends viel Zeit in dem Erholungsraum. Die Patienten sahen dort fern, spielten Karten oder stritten halbherzig miteinander. Riven las. Er versuchte, in der »Fantasy-Szene« auf dem laufenden zu bleiben, wie sein Verleger es nannte. Er fragte sich manchmal, ob er jemals wieder schreiben würde. Es gab da ein dunkles Gefühl der Vergeblichkeit, das ihn jedesmal verharren ließ, wenn sein Stift das Papier berührte, und das jedes Wort, das er schrieb, in Unsinn verwandelte, nutzlosen Unsinn. Und so verbrachte er die langen Abende des nahenden Winters wartend. Außer Hugh hatte er mit niemandem aus seinem früheren Leben gesprochen, seit er das Krankenhaus verlassen hatte. >Früher< war seine Bezeichnung für das Leben vor dem Unfall. Er konnte sich kaum vorstellen, daß es ein solches Leben wirklich gegeben hatte. Der lachende Zugführer in der Armee, der Liebhaber, der Ehemann, der Schriftsteller. Alles das war jemand anderer gewesen. Er blickte aus dem Fenster hinunter zum Fluß, der langsam in der Dämmerung versank. Dorthin, wo Molesy verschwunden war. Das wird wieder eine dieser Nächte. Nun, es ist nicht die erste, und es wird nicht die letzte sein. Wie lange ist es her, daß ich zum ersten Mal auf Skye war? Ein unvergeßlicher Besuch, als ich noch in der Armee war. Ein Winter vor langer, langer Zeit. 35
»Wissen Sie, Sir, manchmal glaube ich, wenn es mich nicht gäbe, würden Sie sich vielleicht ein Loch graben und sich darin verstecken. Was glauben Sie eigentlich, was Sie da tun? Sie sitzen herum und starren ins Leere.« Verwirrt drehte sich Riven vom Fenster weg. Vor ihm stand Doody und betrachtete ihn mißbilligend. Verlegen wendete er den Rollstuhl. »Was soll's, ich habe hier einen Auftrag zu erfüllen.« Doody ging hinter den Stuhl und packte die Griffe. »Wir machen einen Ausflug ins Zauberreich, alter Junge — aber falls jemand fragen sollte, ich bringe Sie auf die Latrine.« Er schob Riven aus dem Erholungsraum und weg vom Lärm des Fernsehapparats. Dann blickte er sich nach allen Seiten um, als sei er auf Patrouille, und schob Riven in einen Seitengang. Er pfiff leise vor sich hin. »Darf man fragen, wo es hingeht, oder handelt es sich um ein Staatsgeheimnis?« fragte Riven mürrisch. Doody lachte. »Heute abend, Sir, werden wir beide uns eine Dröhnung verpassen. Sie bekommen ja jetzt keine Medikamente mehr.« Schließlich hielten sie vor der Tür eines Vorratsraums. Doody zog strahlend ein Schlüsselbund aus der Tasche. Er öffnete die Tür und verbeugte sich tief. Riven rollte in den Raum. 36
»Ist das eine verdammte Schatzhöhle, oder nicht?« fragte Doody. Er schloß die Tür und machte das Licht an. Riven antwortete mit einem Lachen. Auf einem Tisch in der Mitte des vollgestellten kleinen Raumes befanden sich mehrere Sechserpackungen Bier und eine große Flasche irischen Whiskys. Zwei Bierund zwei Schnapsgläser glänzten daneben. »Sagen Sie nicht, ich hätte nicht an alles gedacht. Ich habe sogar das Bier vorher kalt gestellt.« Doody grinste. Zischend verspritzte etwas Bier, als Riven die erste Dose aufriß. »Musik in meinen Ohren«, sagte er und begann zu trinken. Doody tat es ihm nach. »Anne Cohen paßt für uns auf«, sagte er. »Wir brauchen also keine Angst vor dem alten Drachen zu haben.« »Wie, in aller Welt, hast du das hier reingebracht?« Doody nahm einen langen Schluck und schloß die Augen für einen Moment, bevor er antwortete. »Kein Problem. Ich schiebe den ganzen Tag Wäschekörbe herum. Wäschekörbe sind groß. Man kann eine Menge Sachen darin verstauen. Wahrscheinlich könnte ich eine ganze Ballettgruppe hereinschmuggeln, wenn ich wollte.« Mit einem Schluck leerte Riven das Glas zur Hälfte. Er legte den Kopf zurück und starrte an die Decke, an der eine einzelne Glühbirne hing. »Weißt du, Doody, heute abend werde ich total ...« »Ganz und gar«, warf Doody ein. 37
»Völlig.« »Hundertprozentig« »Versacken.« »Auf das Vergessen, Sir!« Und ihre Gläser stießen klirrend zusammen. Sie bewegten sich geräuschlos durch die Straße. Seine Augen glänzten aus dem mit Tarnfarbe beschmierten Gesicht. Er machte eine Abwärtsbewegung mit der Hand. Der Spähtrupp ging in Deckung. Vier Soldaten verschmolzen mit Türeingängen. Ihre Gewehre beschrieben sichernde Bögen. In der Dunkelheit sahen sie aus wie volle Müllsäcke, die man zum Abholen bereitgestellt hat. Vorsichtig gingen sie weiter. Das Funkgerät rauschte leise. Um sie herum starrten die leeren Fensterhöhlen und geschlossenen Türen sie feindlich an. Einige waren zugenagelt, in anderen glänzten zerbrochene Fensterscheiben. Ein Hund bellte, und in der Ferne hörte man schwach das Rauschen des nächtlichen Verkehrs. »Hallo Mike Eins Null, hier ist Null. Verständigungsprobe, Kommen.« Er betätigte die Sprechtaste und spürte den Druck des Kehlkopfmikrophons. »Hier Mike Eins Null Alpha, ich höre Sie gut, Kommen.« »Hier Null, verstanden, Ende.« Sie kamen zu einer Kreuzung, die vom fahlgelben Licht einer einzigen Straßenlampe erleuchtet wurde. Glasscherben bedeckten die 38
Straße, und ein ausgebranntes Auto, das am Tag zuvor Teil einer Barrikade gewesen war, lag schwarz und verbeult auf dem Asphalt. Einer nach dem anderen passierten sie die gefährlich helle Stelle und bezogen schweratmend Stellung in der Dunkelheit auf der anderen Seite der Kreuzung. Dann gingen sie weiter, eine dunklere, engere Straße entlang, in der sich zahlreiche verlassene Häuser befanden. Überall war Graffiti an den Wänden. Einer der Soldaten trat gegen einen Stein, der über die Straße polterte, und sie zuckten alle zusammen. Die drei anderen verfluchten den Mann. Dann wurde die Nacht von einem grellen Blitz zerrissen. Der Luftdruck riß sie von den Beinen und preßte ihnen die Luft aus den Lungen. Im nächsten Augenblick kam der Knall und mit ihm ein Hagel von Ziegelsteinen und eine Staubwolke. Der Soldat, der als erster gegangen war, verschwand in der Explosion. Riven wurde über die Straße geschleudert, und das Gewehr in seiner Hand ging los, obwohl es gesichert war. Er lag zwischen Ziegelsteinen in den Überresten eines kleinen Vorgartens und dachte: Jetzt ist es also passiert. Schüsse kamen aus einem Haus weiter unten in der Straße, und er hörte, wie um ihn herum Kugeln einschlugen. Er drückte die Sprechtaste des Funkgeräts. »Mike Eins Alpha, Feindberührung ...« 39
Er kroch in Deckung, als Einschläge den Asphalt unmittelbar vor ihm zerrissen. »Belsham! Johnson! George!« schrie er. Ihm fiel ein, daß Johnson der Mann an der Spitze gewesen war und wahrscheinlich nie wieder etwas hören würde. Gewehrfeuer ganz in der Nähe beantwortete sein Rufen. Dann ertönte eine Stimme: »Belsham hier, Sir. George hat es erwischt. Ich weiß nicht, wo Pete ist!« »Mike Eins Null, Feindberührung ...« Er sah sich um. »... Ecke Creggan und Wishingwell Street. Zwei Ausfälle. Sind unter Feuer von mindestens einem Gegner. Bitte um MET.« »Hier Null, verstanden. MET ist unterwegs. Ende.« Er spähte vorsichtig über die kleine Gartenmauer hinweg. Die Mündungsblitze waren verschwunden. Der Heckenschütze hatte sich davongemacht. »Belsham! Wo, zum Teufel, stecken Sie?« »Hier, Sir, hinter dem Schuppen.« Er rannte hinüber. Belsham kniete neben dem ausgestreckt daliegenden George und riß ihm die Kampfjacke auf. Riven war schlecht. »Wo hat es ihn erwischt?« »In der Brust, Sir. Ich kümmere mich darum.« »Okay, ich werde mal nach Pete sehen.« Er rannte zu der Stelle, wo die Explosion stattgefunden hatte. Ein Schutthaufen blockierte den Weg. Er stolperte über ein Gewehr mit verbogenem Lauf und fand dann 40
das, was von seinem Untergebenen übriggeblieben war. Er übergab sich, während das Sirenengeheul der mobilen Eingreiftruppe langsam lauter wurde. Die Glühbirne wurde heller, und der Stapel der geleerten Bierdosen wuchs in die Höhe. Ihr Gespräch wurde lauter. »Wie war es denn beim ersten Bataillon?« fragte Riven. »Locker. Und im dritten?« Riven rülpste. »Hochnäsiger Haufen. Hatten nichts übrig für irische Leutnants.« »Schon komisch, daß wir im selben Regiment waren, Sir.« »Ich war in Irland, als du in Belize warst.« »Warum haben Sie aufgehört?« »Hab geheiratet.« »Ach du Scheiße. Entschuldigen Sie, Sir.« Riven winkte ab. »Egal. Ist scheißegal.« Er grinste verzerrt. »Das Leben ist ein Miststück.« Er starrte in sein leeres Glas. »Ist egal«, murmelte er wieder. Doody füllte ihre Gläser, trank einen Schluck und schnüffelte verlegen. »Wie war Ihre Frau?« Riven starrte noch immer auf sein Glas. Sein Kopf schwankte leicht. »Meine Frau. Verflucht noch mal.« Er blinzelte. »Sie war schlank. Schlank und dunkel. Hübsches Mädchen. Ihre Augbrauen waren zusammengewachsen. Ich habe immer Hexe zur ihr gesagt.« Er lächelte bei der Erinnerung. »Auf jeden Fall hat sie mich verzaubert. Jennifer Mackinnon von der 41
Isle of Skye, Insel des Nebels auf gälisch ... ach ...« Er leerte das Glas in einer Serie von hastigen Schlucken. Das leere Glas schimmerte in dem künstlichen Licht. Dann schmatzte er laut. »Scheißbier, hat nicht lange gereicht, was?« Doody öffnete feierlich den Whisky, und sie prosteten sich laut zu, bevor sie ihn hinunterstürzten. Riven spürte, wie die lang entbehrte Flüssigkeit seine Kehle hinunterbrannte, und der Raum verschwamm für einen Moment vor seinen Augen. »Verdammt noch mal«, sagte er, als Doody die Gläser wieder füllte. »Guter Stoff ist das.« »Vom Feinsten«, bestätigte Doody. Er verschüttete Whisky auf den Tisch und warf der Flasche einen finsteren Blick zu. »Ist schlecht verarbeitet, das Mistding.« Wieder stürzten sie den Whisky hinunter, als tränken sie Wasser. Riven konnte nicht mehr deutlich sehen. Hinter Doodys Kopf war ein Fenster, durch das man den blauen Nachthimmel sehen konnte, aber er hätte schwören können, daß dort für einen Augenblick eine dunkle Silhouette zu sehen gewesen war — eine merkwürdige Gestalt mit spitzen Ohren ... Ach was, ich bin das Zeug einfach nicht mehr gewohnt. Doody begann leise zu singen. Es war ein Militärlied, dessen Vokabular nichts für empfindliche Ohren war. Riven fiel grölend mit ein. Lautstark schmetterten sie den Refrain. 42
Mit einer heftigen Bewegung seines gesunden Arms warf Riven sein Glas auf den Boden, wo es zersplitterte. Verdutzt sahen sie auf die Scherben. Dann klopfte es an der Tür, und die beiden blickten sich an. »Ich bin nur ein Krüppel!« protestierte Riven. »Er hat mich verführt!« Die Tür öffnete sich, und Schwester Cohen kam herein. »Sind Sie beide immer noch hier? Können Sie nicht etwas leiser sein?« Doody starrte sie für einen Augenblick verständnislos an, dann begriff er. »Es ist unser Schutzengel, unser Wachposten. Ist die Luft rein, Anne?« »Sie sind ja beide total betrunken«, flüsterte Schwester Cohen. »Kann man wohl sagen«, bestätigte Riven abwesend. »Doody, um Himmels willen, mußten Sie ihn so abfüllen? Die alte Bisbee macht spätestens in einer Stunde ihre Runde. Mit den Hilfspflegern werde ich schon fertig, aber nicht mit ihr. Wir müssen ihn in sein Zimmer bringen.« Doody salutierte. Ein seliges Lächeln erschien auf seinem häßlichen Gesicht, und dann fiel er langsam vornüber. Schwester Cohen fluchte leise, ging hinüber zu Riven und riß ihm das Glas aus der Hand, das er sich genommen hatte. »Kommen Sie, bringen wir wenigstens Sie aus der Schußlinie.« Sie warf dem vor sich hinmurmelnden Doody einen letzten 43
verzweifelten Blick zu und schob Riven dann aus dem Raum. »Schwester«, sagte Riven bekümmert. »Schwester ...« »Was gibt's denn?« zischte sie und blickte sich um. »Ich muß mal pinkeln, Schwester ...« »O Gott, das soll wohl ein Scherz sein.« Riven schüttelte stumm den Kopf. Sie schob ihn zu den Toiletten, die die gehfähigen Patienten des Centers benutzten, und stellte sich vor ihn. »Ich werde Ihnen helfen müssen. Kommen Sie.« Sie hob Riven mit Leichtigkeit aus dem Rollstuhl. Er war erschreckend dünn geworden. Sie geleitete ihn zu den Urinalen und stützte ihn, während er sich erleichterte. »Das ist das erste Mal seit Monaten, daß ich auf meinen Beinen stehe«, sagte er. Aber die Gegenwart der Frau, die ihn stützte, wurde ihm plötzlich schmerzhaft bewußt. Die Berührung ihres Körpers, der Geruch ihres Haars. Er biß die Zähne zusammen und nickte, als sie ihn fragte, ob er fertig war. Sie brachte ihn zurück zum Rollstuhl und setzte ihn hinein wie ein kleines Kind. »So. Jetzt kann ich Sie ins Bett bringen.« Sie lächelte ihm zu und schob eine Haarsträhne unter ihr Häubchen. Er blickte zur Seite und flüsterte: »Es tut mir leid.« Sie lachte und begann, ihn den Korridor hinunterzuschieben. »So sind die kleinen Jungs nun mal. Aber Ihr Kopf wird Sie morgen früh hassen, Mr. Riven.« Sie half ihm ins Bett und deckte ihn zu. »Ich 44
glaube, Sie werden es überleben. Aber lassen Sie sich nicht so bald wieder dabei erwischen. Schlafen Sie jetzt. Ich muß mich um diesen Idioten Doody kümmern.« Der Hagel peitschte aus der Dunkelheit und brannte in seinem Gesicht. Der Eispickel lockerte sich ein Stück. Er schlug ihn tiefer ein, zog sich hoch und suchte nach Halt. Die scharfen Felsvorsprünge waren eiskalt. Seine Hände bluteten. Der Sturm war so stark geworden, daß er seine Augen schließen mußte. Er tastete sich langsam vorwärts. Warum? Warum mache ich das? Er zog den Stiefel hoch, suchte einen Spalt in der eisverkrusteten Felswand. Schnee bedeckte ihn, sammelte sich in jeder Falte seiner Kleidung, verstopfte seine Ohren. Ich will es so. Weil ... Er rutschte aus. Blitzschnell versuchte er, das Gleichgewicht wiederzufinden. Ein Stöhnen kam über seine Lippen. Er grinste verzerrt in seiner hilflosen Wut. Dann hatte er wieder sicheren Halt gefunden. Vom Sturm gebeutelt, aber in Sicherheit. Weil ich ein sturer Hund bin. Das Gesicht, das er anstarrte, war bleich und schmal. Die Wangenknochen traten stark hervor, und die Augen lagen tief in ihren Höhlen. Ruhige, graue Augen. Blondes Haar fiel in die vernarbte Stirn, und ein Bart in der 45
gleichen Farbe wucherte im unteren Teil des Gesichts. Eine Hand strich ihn nachdenklich. Herr im Himmel! Das ist also mein neues Ich. Wo ist der breitschultrige Soldat geblieben? Er drehte den Rollstuhl weg vom Waschbecken und dem Spiegel darüber und rollte zur Tür. Ich war nie besonders groß, aber ich war stämmig. Jetzt sehe ich aus wie eine Vogelscheuche. Das Wetter war kalt und schön. Ein leichter Nebel stieg vom Fluß auf. Er würde mittags verschwinden. Riven blickte über die Wiese zu den Weiden. Der Fluß glitzerte zwischen ihren überhängenden Ästen. Eines Tages werde ich darin paddeln, und wenn es das letzte ist, was ich tue. »Was macht Ihr Kopf, Mr. Riven?« fragte Schwester Cohen, die plötzlich hinter ihm stand. »Es ging ihm schon besser, aber andererseits war es auch schon viel schlimmer ... Wie geht's Doody?« »Er hat sich heute frei genommen. Hat eine Magenverstimmung.« »Aha! Ich hoffe, es ist nicht ansteckend.« »Da habe ich so meine Zweifel.« »Sie haben doch keinen Ärger gehabt, oder?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe einfach den Lagerraum abgeschlossen und Doody dort seinen Rausch ausschlafen lassen. Zum Glück hat er sich nicht übergeben. Als ich ihn heute morgen herausgelassen habe, ist er wie ein geölter Blitz Richtung Toilette verschwunden. 46
Ich hatte den Eindruck, er saß schon seit ein paar Stunden mit verschränkten Beinen da und hat um Erlösung gebetet.« Für einen Moment legte sie ihm die Hand leicht auf die Schulter. Dann war sie verschwunden. Riven saß ruhig da. Er spürte die kalte Luft auf seinem Gesicht und beobachtete die Stare, die das Vogelbad in der Mitte der Rasenfläche umschwirrten. Dann setzte er den Rollstuhl in Bewegung und ratterte über den Hof. Holpernd fuhr er auf den Rasen. Der Motor seines Kampfrosses heulte protestierend auf, und er drosselte die Geschwindigkeit etwas. Der Stuhl schlingerte und bockte. Der Rasen war nicht so eben, wie es den Anschein hatte. Das Gefährt schwankte bedenklich und fuhr sich schließlich unmittelbar vor dem letzten steilen Abhang, der zum Fluß hinunterführte, fest. Das unwürdige Ende eines Ausflugs. Der Rollstuhl neigte sich langsam über die Kante des Abhangs. Riven fluchte und lehnte sich so weit wie möglich zurück, aber es war zu spät. Er kippte vornüber und schlug mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden. Ein stechender Schmerz durchzuckte seine Beine. »Verdammter Mist!« Er spürte das taunasse Gras an seiner Wange und roch die Erde vor seiner Nase. Er schob sich unter dem Rollstuhl hervor, und es gelang ihm, sich aufrecht zu setzten. Gesicht und Hände waren dreckverschmiert. Seine Beine hatten sich mit der Decke zu einem 47
unförmigen Knäuel im Schottenmuster verwickelt. Du Arschloch, Riven. Du gewöhnst dir solche Aktionen wirklich an, was? Er sah sich um. Vom Center aus konnte man ihn nicht sehen, die Böschung versperrte die Sicht. Der Fluß war hinter den Bäumen, etwa hundert Meter entfernt. Seine Beine und Arme schmerzten höllisch. Er versuchte, den Rollstuhl aufzurichten, aber der stand auf dem Kopf und war zu schwer. Oder vielmehr war er zu schwach. Seine Schwäche machte Riven wütend. Er schlug mit der Faust auf das Gras. Du Bastard! Du nichtsnutziger Bastard! Zu allem Überfluß begann es jetzt auch noch zu regnen. Zuerst wehte eine leichte Brise von den Weiden herauf, strich ihm durchs Haar. Dann umhüllte ihn ein feines Nieseln, das schließlich in einen Regenschauer überging. Das Wasser lief ihm über das Gesicht und durchtränkte sein Hemd. Der Wind frischte auf. Er begann zu lachen. Das war wieder verdammt typisch! Er fing an zu kriechen, zog sich mit einem Arm über den feuchten Boden. Es konnten keine zweihundert Meter bis zum Center sein. Jesus, in Sandhurst bin ich zehnmal so weit gekrochen, mit voller Ausrüstung, während sie mit einem Maschinengewehr scharf über uns hinwegschossen. Los jetzt, Riven, du Memme, bist du ein Mann oder eine Maus? 48
Keuchend blieb er liegen, als er oben auf der Böschung angelangt war. Kleine Regenbäche suchten ihren Weg den Hang hinab. Er war völlig durchgefroren. Er blickte empor zu dem düsteren, wolkenverhangenen Himmel und dann durch den Regen in Richtung des Centers. Er winkte den Gestalten zu, die er durch die Fenster sehen konnte. Na los, ihr senilen alten Knacker. Einer von euch muß mich sehen. Sein Kopf sank auf den schlammigen Boden. Das ist nicht zu glauben. Ich kann doch nicht hier in dem verdammten Berkshire erfrieren. Da schäme ich mich vorher zu Tode. Er begann wieder zu kriechen. Er konzentrierte sich darauf, das Vogelbad zu erreichen, und vermied es, zu den Gebäuden zu blicken. Er spürte, wie seine Arme und Beine langsam gefühllos wurden. Der Regen ging in Schneeregen über. Der Winter hat sich für seine Ankunft wirklich den günstigsten Augenblick ausgesucht! Dann erschien ein Paar weißer Schuhe auf dem matschigen Boden neben ihm, und starke Hände griffen nach ihm. »Was haben Sie denn nun schon wieder angestellt, Mr. Riven?« Er wurde hochgehoben und blickte in das Gesicht von Schwester Cohen. Er lächelte schwach. »Sie haben sich verdammt viel Zeit gelassen.« Sie hatte ihr Häubchen verloren, und nasse 49
Haarsträhnen klebten in ihrem Gesicht. Er schloß die Augen. Ein Gesicht erschien über ihm, umrahmt von dunklem Haar. Dahinter war helles Sonnenlicht, reflektiert vom Schnee. Seine Augen wurden feucht, er blinzelte und versuchte, das Gesicht klar zu sehen. Graue, ernste Augen und ein lächelnder Mund. Schulterlange, rabenschwarz schimmernde Haare. »Wie fühlen Sie sich?« Eine tiefe Stimme mit dem Akzent der Highlands. Er lag in einem Bett, umhüllt von bunten Decken. Hinter dem Kopf des Mädchens konnte er durch ein Fenster den knallblauen Himmel sehen. Er hörte, wie der Wind durch die Dachbalken pfiff. »Ich ... gut, glaube ich. Wo bin ich?« »In der Nähe von Glenbrittle«, antwortete sie mit ihrer melodischen Stimme. »Wir haben Sie am Westhang des Sgurr Dearg gefunden, bewußtlos und völlig zerschunden. Ihre Taschenlampe brannte neben Ihnen, sonst lägen Sie jetzt noch da.« Er betastete den Verband an seinem Kopf und stieß einen leisen Pfiff aus. »Ich erinnere mich. Ich habe ein Steigeisen verloren und bin den Berg runtergeflogen.« Er schüttelte sich. »Wie, in aller Welt, habe ich das überlebt?« »Sie sind übel verschrammt und haben eine Platzwunde am Kopf, aber abgesehen davon sind sie so gesund wie ich. Ein bißchen blaß 50
um die Nase vielleicht, aber sonst gut in Schuß.« Er zog die Augenbrauen hoch und setzte sich mühsam auf. Das Mädchen half ihm. Er verzog das Gesicht, die Hautabschürfungen brannten wie Feuer. »Ich schätze, ich habe Glück gehabt.« »Das war schon mehr ein Wunder als Glück«, gab sie zurück. Sie half ihm aus dem Bett. Verlegen bemerkte er, daß er mit einem altmodischen Nachthemd bekleidet war. »Das war das einzige, was wir Ihnen überziehen konnten«, sagte sie mit einem spitzbübischen Lächeln. Er wurde rot und stand auf. Das Mädchen schlang den Arm um seine Hüfte und stützte ihn. Sie war genauso groß wie er. Er schwankte, und sie lehnte sich gegen ihn. Er roch den Duft ihres Haars. Er hatte Lust, sie zu küssen, begnügte sich aber damit, nach ihrem Namen zu fragen. »Jennifer Mackinnon. Mein Vater ist Calum Mackinnon. Wir wohnen hier.« »Ich bin Michael Riven. Danke.« Sie zuckte mit den Schultern. »Wir konnten Sie ja nicht da oben liegenlassen. Kommen Sie, sehen Sie sich einmal an, wo Sie runter gesegelt sind.« Sie führte ihn ans Fenster. Die Landschaft draußen war von blendend weißem Schnee bedeckt. Vor ihm ragte der Berg finster und mächtig empor. Schwarze Granitfelsen waren an einzelnen Stellen der steilen Wand zu sehen, dort wo der Wind den 51
Schnee weggefegt hatte. Er betrachtete den zerklüfteten, geröllübersäten Hang. Da war er hinuntergestürzt. »Und das habe ich überlebt?« »Aye,« sagte sie leise. »Das haben Sie. Ich glaube, jeder andere hätte sich den Hals gebrochen. Warum sind Sie überhaupt bei diesem Sturm geklettert? Verfolgt Sie jemand?« Sein Gesicht verfinsterte sich. »Vielleicht. Jemand, der schon den ganzen Weg aus dem Süden hinter mir her ist.« Und den ich immer noch nicht abgeschüttelt habe. »Das ist wirklich eine Schande. Tausendmal hat man Ihnen gesagt, daß Sie nicht mit dem Rollstuhl auf den Rasen fahren sollen. Jetzt muß ein Elektriker kommen, um ihn zu reparieren. Bis dahin müssen Sie im Bett bleiben — hoffentlich wird Ihnen das für die Zukunft eine Lehre sein. Denken Sie eigentlich nie an die Leute, die hier im Center arbeiten, Mr. Riven? Ihr Verhalten ist unbegreiflich. Sie sollten es schleunigst ändern, oder ich werde mit dem Vorstand darüber reden müssen, ob Ihr Aufenthalt hier noch zu verantworten ist.« Schwester Bisbee hielt inne. »Haben Sie gar nichts dazu zu sagen?« Riven blickte weiter aus dem Fenster in die Dunkelheit. Regentropfen trommelten gegen das Glas. »Nun, ich werde nicht noch mehr Zeit mit Ihnen verschwenden. Andere Patienten brauchen mich nötiger als Sie, Mr. Riven.« 52
Wutschnaubend verschwand sie. Zurück blieb eine Wolke selbstgerechter Entrüstung. Er legte sich nieder und blickte an die Decke. Er konnte nicht vergessen, wie Schwester Cohen sich um ihn gekümmert hatte. Die Berührung ihrer Hände. Das hat mir gerade noch gefehlt. Ein Anfall von Liebeshunger. Die Fensterläden klapperten im Wind. Er schloß die Augen und hörte den Sturm in den Cuillin-Bergen, den schrillen Schrei der Brachvögel und die See. Ich bin seit vier Monaten nicht hier herausgekommen. War nicht einmal bei der Beerdigung. Ich lag bewußtlos in einer Klinik, wo sie mich zusammenflickten. Der Rollstuhl war fast eine Woche lang nicht zu gebrauchen. Riven lag in dieser Zeit im Bett und kämpfte unablässig mit den Erinnerungen. Ab und zu schaute Doody vorbei und machte Witze über die Folgen übermäßigen Alkoholkonsums und über Rollstuhlakrobaten. Schwester Cohen bekam Riven nur selten zu Gesicht. Meistens versorgte Schwester Bisbee ihn. Sie schwieg dabei verbissen, machte allenfalls einmal eine belanglose Bemerkung über das Wetter. Manchmal sprach sie von Weihnachten, das langsam näherrückte. Riven haßte sie dafür. Seine Erinnerungen an das letzte Weihnachtsfest waren noch zu frisch. Man brachte ihn zu Dr. Lynam, der die Heilung seiner Beine überwachte. Er 53
konstatierte »ganz ordentliche« Fortschritte. Dann klopfte der gute Mann seine Pfeife aus und empfahl Riven, seine Beine in ein paar Tagen einmal auszuprobieren und festzustellen, wie er mit ihnen zurechtkam. Ganz so, als handele es sich um ein neues Auto. Doody und Schwester Cohen nahmen es auf sich, Riven aus dem Bett zu hieven und ihm einen Gehrahmen zu besorgen, mit dem er auf dem Flur die ersten unbeholfenen, von Schmerzen und Beinah-Stürzen begleiteten Gehversuche unternahm. Nach zwanzig Metern — Riven hatte darauf bestanden, so weit zu gehen — sah er alles durch einen roten Schleier. Der Schweiß lief ihm den Rücken hinunter. Sie mußten ihn in den Rollstuhl setzen, um ihn wieder in sein Zimmmer zu bringen. »Machen Sie sich keine Sorgen, Sir«, sagte Doody. »Diese Stadt, wie hieß sie noch gleich, wurde auch nicht an einem Tag erbaut. Wenn Sie Lust haben, probieren wir es morgen noch einmal.« Riven nickte schwach. Schwester Cohen deckte ihn zu. »Wir können auch morgen eine Ruhetag einlegen, wenn Ihnen das lieber ist. Ganz, wie Sie wollen.« Er schaffte es, ihr zuzulächeln. Ich bin so schwach wie ein halb ertrunkenes Kätzchen. Meine Beine sind im Eimer. Wie, in 54
aller Welt, soll ich wieder so werden, wie ich einmal war? Er mußte an seine Armeezeit denken, als er gerannt und gesprungen und gekrochen und marschiert war. Warum erforderte alles, was für ihn wichtig war, Mobilität? All diese Wanderungen durch die Highlands, die Klettertouren. Früher hatte er immer die Vorstellung gehabt, er könne sich auf das Schreiben zurückziehen, wenn seine Beine eines Tages nicht mehr mitmachten. Aber das war jetzt ... vorbei. Das war kein Ausweg mehr. Allein. Wie ich es am Anfang war. Ich habe soviel gehabt und so viel verloren; jetzt bin ich wieder da, wo ich am Anfang war. Der Schatten einer anderen Welt. Eine Zuflucht vielleicht, oder ein Handikap. Es hatte eine Zeit gegeben, in der er seine Welt, die Romanwelt, jederzeit zum Leben erwecken konnte. Er konnte mühelos einen leeren Raum mit Personen füllen, die ihm zulachten. In dieser Welt gab es einfache, offene Menschen, für die es im Leben nur schwarz oder weiß gab, keine Zwischentöne. Aber in Geschichten ist immer alles viel einfacher. Seine Bücher handelten von einer Welt, die ringsum von Meer und Bergen umgeben war, die Raum genug bot für Geheimnisse — und vielleicht sogar für Zauberei. Es war ein wenig wie auf Skye. Felsen und Farn und klare Luft. Genau wie Molesy gesagt hatte. Und großartige Märchengestalten — Menschen, die 55
beherrschten, was er beherrschte, so sicher, als führen sie Auto, spielten Squash oder betränken sich in der echten Welt. Er hatte alles getan, um so zu sein wie sie. Sie waren der Grund dafür, daß er Soldat geworden war, und sie hatten ihn in die Berge getrieben, so lange, bis er gestürzt war und am Fuß eines Berges das Mädchen getroffen hatte, das seine Frau werden sollte. Er hatte versagt, aber er hatte weiterhin ihre Geschichten erzählt — Sagen von Kämpfen und Ehre, von ruhmreichen Heldentaten mit blitzenden Schwertern. O ja. Aber irgendwie hatte er sie betrogen, als er seine Liebe jemandem aus seiner eigenen Welt schenkte. Er war sich nicht sicher, ob sie ihn jetzt noch haben wollten, jetzt, da er zerschunden und blutig war von dem Verlust, der so groß war, daß er ihn mit nichts als diesen Geschichten und den Personen in diesen Geschichten zurückgelassen hatte. Anfangs waren sie alles gewesen, was er jemals hatte haben wollen, aber jetzt wußte er es nicht mehr. Er wollte jetzt, daß die Welt einfacher und sauberer war, und er hatte das Gefühl, daß er das, was in seiner Vorstellungskraft entstanden war, beschmutzt hatte. Er konnte nicht mehr schreiben. Es waren keine Geschichten in ihm zurückgeblieben. Riven war noch nie der Geduldigste gewesen, und obwohl der Fortschritt, den seine Beine machten, von seinen Trainern, Doody und Schwester Cohen, gerühmt wurde, hatte er das 56
Gefühl, einen Berg mit einem Löffel abzutragen. Er tobte wie nie zuvor. Es dämmerte ihm, daß sich seine Zeit in Beechfield ihrem Ende näherte. Der Gedanke ließ ihn frösteln. Er wußte nicht, wie es danach weitergehen würde. Kümmere dich nächstes Jahr darum. Dieses ist fast vorüber. »Vor Weihnachten werden wir Sie so weit haben, Sir, daß Sie einen verdammten Marathon laufen können. Dann können Sie die Schwestern abhängen, die hinter Ihnen her sind.« Doody beobachtete ihn dabei, wie er mit dem Gehrahmen den Flur entlang polterte. »Obwohl ich glaube, daß Anne sie schon von Ihnen fernhält«, fügte er mit einem verschmitzten Lächeln hinzu. Riven drehte sich um und warf ihm einen scharfen Blick zu. »Komm mir nicht mit so einem Mist, Doody. Ich bestehe nur noch aus Haut und Knochen, kaputten Knochen, und ich werde mich daran gewöhnen müssen.« Doody schüttelte den Kopf. »Ihre Augen haben wohl bei dem Sturz auch gelitten, was?« Riven schob den Rahmen heftig weiter und zog seine schwankenden Beine nach. »Ich ... ich kann es nicht, Dood.« Doody zog die Augbrauen hoch. »Dann müssen wir beide wohl mal wieder einen kräftigen Schluck zu uns nehmen, Sir. Sie sind noch nicht so weit, daß Sie eine Nacht durchtanzen können.« Werde ich das jemals wieder können? 57
Und er setzte den Gehrahmen krachend ein Stück nach vorne und zwang seine Füße, ihm zu folgen. Die Schneewehen breiteten sich vor ihnen aus, so weit das Auge reichte. Auf der einen Seite fielen sie ab zur blauen See. Die Wintersonne schimmerte auf der ruhig daliegenden weißen Fläche. Er atmete die eisige Luft ein. Seine Abschürfungen schmerzten noch immer. Nur das Knirschen des Schnees unter seinen Füßen durchbrach die Stille. »Bla-Bheinn, Sgurr Alisdair, Sgurr nan Gillean ...« sagte das Mädchen neben ihm mit ihrer singenden Stimme. Mit ihrer behandschuhten Hand wies sie dabei auf die monolithischen, zackigen Berge ringsum. Die Aufzählung der Namen klang wie eine heidnische Litanei. Er sah sie an. Sie hatte von der frischen Luft eine gesunde Gesichtsfarbe bekommen, und ihre Augen funkelten. Die Lippen waren leicht geöffnet. Sie wurde sich plötzlich seines Blicks bewußt und errötete sofort. »Es gehört sich nicht, jemanden anzustarren, oder?« Sie lächelte. »Vielleicht«, sagte er ruhig. »Aber die Gegend gefällt mir eben.« Sie lachten beide, und nur die Berge konnten sie hören. Er wollte ihr Gesicht berühren, wandte aber schließlich seinen Blick ab, um nicht die Kontrolle über seine Gefühle zu verlieren. 58
»Das gefährliche, hektische Belfast ist ganz schön weit weg«, sagte er mit dampfendem Atem. »Aye«, erwiderte sie. »Ich hasse Städte, sogar Edinburgh. Und vor allem London. Mir liegen das Meer und die Berge im Blut. Ich bin durch und durch ein Skye-Mädchen.« »Ein Skye-Mädchen,« wiederholte er, ließ sich die Worte auf der Zunge zergehen. Es klang gut. Der Schnee knirschte, als sie sich umdrehte und nach Osten zeigte. »Sehen Sie Bla-Bheinn. Er ragt über der Glen Sligachan-Schlucht, die quer durch die Cuillins verläuft. Dort, wo die Schlucht am Meer endet, liegt Camasunary. Da sind schon lange die Sommerhütten der Schäfer. Mein Vater hat ein kleines Häuschen dort. Es ist das schönste Fleckchen Erde, das man sich vorstellen kann. Es geht keine Straße dorthin, nur ein Pfad, der über den Kamm nach Torrin führt. Ich habe einige Sommer dort verbracht.« »Ich habe es gesehen. Ich habe dort kampiert, als ich die Küste entlang nach Glenbrittle marschiert bin.« Er lächelte schief. »Als ich dort war, peitschte der Wind den Regen waagerecht durch die Luft, und wenn man seewärts blickte, konnte man nicht atmen.« Sie lächelte. »Aye. Nun, Sie müssen für die Schönheit hier oben auch die Rauheit in Kauf nehmen.«
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Der Impuls, sie zu berühren, war zu groß, und er hob die Hand und streichelte ihre Wange, strich ihr über das Haar. »Ich wünschte, ich würde hier leben und müßte nicht in den Süden zurück.« Sie sah ihn aufmerksam an, mit dem Lächeln, von dem er gewußt hatte, das es kommen würde. Geheimnisvoll, verschwörerisch. Einen Mundwinkel zog sie dabei weit nach oben. Sie strich über den Verband an seinem Kopf. »Dann bleiben Sie eine Weile«, sagte sie. In Beechfield verstrichen die dunklen Wintertage, und Weihnachten rückte näher. Etwas wie Feiertagsstimmung kam in den Stationen auf. Riven hielt sich von den Vorbereitungen fern. Er beobachtete mit tiefer Abneigung das Schauspiel alter Leute, die Papierketten anfertigten. Er saß jetzt oft stundenlang an den Fenstern, durch die man den Rasen und den Fluß sehen konnte, ein ungelesenes Buch auf dem Schoß. Den gutgemeinten Versuchen der Belegschaft, ihn mit einzubeziehen, verschloß er sich. Auch Doodys. Um die Gedanken an Sgurr Dearg aus seiner Erinnerung zu verdrängen, dachte er an höhere Berge, Berge seiner Romane: Im Osten der westlichen Berge, nördlich des Meeres, erstreckten sich Heide und Moor in hügeliger Landschaft. In den Tälern ließen die Hirten ihre Schafe und Rinder grasen, und es gab kleine Gerstenfelder für Brot und Bier. Die 60
Menschen lebten weit verstreut. Sie kamen nur zusammen, um Markt zu halten oder im Winter zur Abwehr von Wölfen und anderen Tieren, die ausgehungert aus den Bergen herunterkamen. Alte Festungen standen im Herzen der Täler, an Flußübergängen oder da, wo der Boden besonders fruchtbar war. Die ersten Menschen, die einst aus dem Norden gekommen waren, hatten sie errichtet und mit grasbewachsenen Erdwällen und Steinmauern umgeben. Dies waren die Rorims der Völker aus den Dales, den Tälern des Landes. Die Krieger lebten dort mit ihren Anführern und sorgten für den Schutz ihrer Völker. Sie kämpften gegen die Wölfe und gegen die Riesen aus dem Eis und gegen andere Kreaturen, die nur wenige Menschen je zu Gesicht bekommen haben, außer vielleicht als einen nächtlichen Schatten vor dem Fenster ... Riven blinzelte. Er hatte die Passage aus einem seiner Bücher fast wortwörtlich aus seinem Gedächtnis abgerufen. Für ihn klang es so hoheitsvoll wie eine Bibel, und er sah durch das Fenster in die Nacht hinaus, als spähe er vom Turm einer Festung hinunter. War Molesy jetzt dort draußen? Er war kein Patient hier, soviel war sicher. Irgend etwas bewegte sich unten bei den Weiden am Fluß — ein dunkler Umriß, der sich von einem Schatten in den nächsten schlich. Riven zuckte zusammen. Ein 61
streunender Hund, der hier etwas zu fressen suchte. Da war er wieder — nein, das war ein anderer. Er war sicher, daß da draußen zwei von ihnen waren, die sich jetzt in die tiefe Dunkelheit unter den nackten Ästen der Bäume zurückgezogen hatten. Er spürte wie seine Nackenhaare sich sträubten. Hunde, nur Hunde. Aber er spürte ihre Augen. Sie saßen geduldig auf ihren Hinterläufen in der Nacht und starrten unablässig auf die hellerleuchteten Fenster der Pflegestation. Hunde — ja. Aber sie erweckten eine alte, lang vergessene Furcht in ihm. Ich bekomme langsam den Tatterich von dem ganzen Rumsitzen, genau das wird es sein. Hunde — aber sie hatten ausgesehen wie Wölfe! »Das Weihnachtsfest steht vor der Tür, aber Sie sind eine von den Gänsen, die keine gute Weihnachtsgans abgeben würde«, sagte Schwester Cohen hinter ihm. Sie kam vor und musterte seinen abgemagerten Körper mißbilligend. »Wir müssen zusehen, daß Sie etwas zunehmen, vor allem jetzt, da Sie wieder herumlaufen.« »Herumlaufen!« rief Riven. »So hat das wirklich noch keiner genannt. Ich bin auch noch nie so herumgelaufen.« »Es ist ein Anfang, Mr. Riven, und Sie machen das schon sehr gut. Ich sehe doch, daß Sie Weihnachten genießen wollen.« 62
Riven senkte den Kopf. »Verlassen Sie oft das Center, wenn es schon dunkel ist?« fragte er sie und kam sich dabei töricht vor. Sie wirkte verwirrt. »Aus welchem Grund sollte ich in einer so kalten Nacht wie heute hinausgehen? Normalerweise gehe ich nur zu meinem Wagen, wenn meine Schicht vorbei ist, und sehe zu, daß ich nach Hause komme. Warum fragen Sie?« Er blickte finster. »Nur so.« Aber er wollte dort draußen sein, in der Kälte der Nacht, unten am Fluß. Es war fast so, als würde er gerufen. Und im gleichen Moment wußte er, daß er um nichts in der Welt allein da hinausgehen würde. Was ist dort? Meine Fantasie? Nichts. Vergiß es. Sei kein Narr. Schwester Cohen legte die Hand leicht auf seinen Nacken. Ihre Finger waren kühl. Er roch ihren frischgewaschenen Schwesternkittel und erstarrte. Seine Kiefermuskeln zuckten. Ihr Gesicht war plötzlich das des jungen, dunkelhaarigen Mädchens, das er vor einigen Tagen vor sich gesehen hatte. Er entzog sich ihrer Hand, und sie seufzte leise und klopfte ihm auf die Schulter. »Sitzen Sie nicht zu lange allein herum. Warum kommen Sie nicht und schließen sich den anderen an? Es ist ganz lustig mit ihnen, jetzt, kurz vor Weihnachten. Sie freuen sich wirklich wie die Kinder.« Er schüttelte den Kopf leicht, und nach einem Augenblick ging sie davon, zurück zu 63
dem Licht und Erholungsraums.
der
Wärme
des
In dieser Nacht hatte er zum ersten Mal einen Traum. Es war eisig kalt, und eine dicke Schneeschicht bedeckte den Boden. Die Flüsse waren hart und grau wie Schwertklingen in den Schatten der Berge geworden. Und die Riesen waren hier draußen; zum ersten Mal seit Generationen kamen sie wieder aus dem Hochgebirge herunter. Sie waren drei Tagesreisen von dem Rorim, der Festung im Tal, entfernt, als der Schneesturm sie erwischte und die Welt in einen Wirbel von Schneeflocken verwandelte, durch den man keine zwei Schritte weit sehen konnte. Sie suchten auf der Leeseite des Berges Schutz und fanden schließlich eine Felsspalte, die das Schlimmste des Sturmes von ihnen abhielt. Der Schnee häufte sich um ihre Unterschenkel, und langsam drang die betäubende Kälte durch ihre Winterfelle. Sie waren zu dritt. Einer war schlank und dunkel, der zweite war stämmig und hatte einen roten Bart, und der dritte hatte überall Narben und hinkte. Es war der dunkle Mann, der es zuerst bemerkte. Er riß den Kopf hoch und kniff die Augen zusammen, um durch den Vorhang aus tanzenden Schneeflocken etwas erkennen zu können. 64
»Was ist los?« fragte der rotbärtige Mann sofort. »Was hast du gesehen?« Der dunkle Mann verzog das Gesicht. »Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht war es nichts. Ein Schatten ...« Doch jetzt versuchten sie alle, mit ihren müden Augen den Blizzard zu durchdringen. »Wie sah es aus?« fragte Riven. Er rieb seine schmerzenden Beine. »Es war groß«, antwortete der dunkle Mann kurz, und Riven fluchte. Sie hörten das Knirschen im Schnee alle im gleichen Augenblick und erstarrten. »Hört!« sagte Riven drängend. »Sei still!« zischte der dunkle Mann. Mit pochenden Herzen warteten sie, verhielten sich absolut geräuschlos. Der Wind hatte ein wenig nachgelassen, aber der Schnee fiel immer noch in dicken Flocken. Dann hörten sie wieder das Geräusch — ein großer Körper schob sich durch die Schneewehen unterhalb von ihnen. Vielleicht auch ein rauhes Atemgeräusch. »Wo ist es?« fragte der Mann mit dem roten Bart. Hinter ihnen polterten Steine, und wie auf ein Kommando drehten sie sich um, wühlten sich durch den Schnee, der ihre Deckung umgab. Plötzlich ragte etwas wie eine graue Mauer vor ihnen aus dem Schnee: eine eisfahle, drei Meter große Gestalt. Ihre Augen brannten wie blaue Feuerbälle in dem ungeschlachten 65
Gesicht. Schattengleich fegte ein mächtiger Arm heran und fegte den rotbärtigen Mann zehn Meter weit durch die Luft. Riven schrie vor Angst. »Hau ab!« rief der dunkle Mann ihm zu und versuchte sein Schwert zu ziehen, aber Riven konnte sich nicht bewegen. Um seine Knie herum war der Schnee zu Eis gefroren, und er konnte die Beine nicht herausziehen. Er sah, wie der dunkle Mann wie eine zerbrochene Puppe zur Seite geschleudert wurde. Dann richtete sich das blaue Feuer in den Augen des Riesen auf ihn. Sie kannten ihn. »Heirate niemals eine Frau, deren Augbrauen zusammengewachsen sind«, sagte der Riese mit Jennys Stimme. Dann lachte er, die glockenhelle Stimme perlte durch den fallenden Schnee. Riven schrie. Die Nacht war still. Hatte er geschrien? Alles, was er hören konnte, war das Rauschen seines Blutes in den Ohren. Sein Herz raste. Die Decken hatten sich um seine Beine gewickelt. Der Mond warf ein seltsam fahles Licht durch das Fenster. Riven setzte sich auf und rieb sich die vernarbten Schläfen. Die Tür seines Zimmers war geschlossen. Wenn er geschrien hatte, hatte ihn vielleicht niemand gehört. Oder doch, die Nachtschwester würde es gehört haben. Nur ein Traum, um Himmels willen. 66
Aber der Riese war direkt einem seiner Bücher entsprungen, war eines seiner Hausmonster. Und seine beiden Begleiter ... Er kannte sie irgendwoher. »Verdammt verrückt«, murmelte er. Der Traum hatte einen unangenehmen Geschmack in seinem Mund zurückgelassen, als wäre irgendwo etwas nicht in Ordnung. Er fühlte ein durchdringendes Unbehagen, das zwar mit dem Schmerz und der Trauer in Verbindung stand, gegen die er ununterbrochen zu kämpfen hatte, aber doch davon verschieden war. Abwesend überlegte er, ob das Wetter oben bei der Hütte gut war. In einer Nacht wie dieser würde die See leuchten wie eine Lampe und kleine Wellen würden leise auf den Kieselstrand plätschern. Ach Mist. Er schwang seine Beine aus dem Bett und griff nach dem Bademantel und den Krücken. An Schlaf war vorerst nicht zu denken. Der kalte Fußboden unter seinen Füßen fühlte sich an wie Eis. Er schüttelte den Kopf. Träume von Riesen. Was würde als nächstes kommen? Die Krücken stapften über den Linoleumboden, als er sich mühsam zum Fenster begab und dort in einen Stuhl sinken ließ. Draußen hatte sich der Park in einen silbrig-grauen Irrgarten verwandelt. Die Bäume warfen Schatteninseln, und der Fluß glitzerte kalt im Mondlicht. Ein wenig ängstlich blickte er zu den dunklen Schatten, aber heute 67
waren dort keine Hunde. Und auch keine verdammten Wölfe, was das anging. Er lächelte. Fantasie ist eine Sache, aber Verfolgungswahn eine ganz andere. Er schob die Erinnerungen beiseite, die schon wieder auf ihn eindrangen, und versuchte, an etwas anderes zu denken. Seine Bücher. Ihm fiel ein, daß es in seinem zweiten Buch zwei Charaktere gab, die denen aus seinem Traum glichen, aber ihm fielen ihre Namen nicht ein. Ärgerlich. Und die Riesen aus den Bergen, Eisriesen, Kreaturen aus den Gletschern, die in den härtesten Wintern zu ihren Raubzügen in die Ebenen aufbrachen ... Das Mondlicht hatte den Rasen in eine makellose Schneefläche verwandelt, und er zuckte zusammen. Winter. Er spürte, daß er nie davon frei sein würde. So viele Türen waren in seinem Kopf zugefroren und ihm verschlossen. Seine Vorstellungskraft war eisverkrustet. Mein Lebensunterhalt, dachte er verdrossen und erinnerte sich an Hughs Worte. Die Fans lechzten also nach dem letzten Band der Trilogie. Nun, vielleicht würde es genügen, wenn er sich irgend etwas abrang. Aber Jenny war dort, in dieser Welt der Berge, der Riesen und der verzweifelten Krieger. Er schob diesen Gedanken beiseite. Die Zeit heilt alle Wunden, erinnerte er sich bitter. Aber wann werde ich den Mut haben, endlich nach Hause zu gehen? Er mußte an Molesys Geschwätz denken. »Denken Sie daran, wohin 68
Sie gehen müssen«. Leichter gesagt als getan, du alter Wirrkopf. Er schlug auf die Stuhllehne. Nimm dich zusammen, Riven! Wo ist der Soldat in dir geblieben? In Oxford hatte er einen Offizier gekannt, einen unglaublich gutmütigen Gentleman, der einmal, während er seinen Zug zum Angriff führte, ein altes angelsächsisches Kampflied gesungen hatte, Battle of Maldon. Irgendwie hatte sich damit der Kreis geschlossen — der Mythos begegnete der Realität und verschmolz auf eine merkwürdige Art mit ihr. Darum habe ich angefangen zu schreiben. Um meinen eigenen Mythos zu schaffen. Aber die harten Fakten des realen Lebens hatten die Angewohnheit, sich über so etwas lustig zu machen. Die Tür öffnete sich, und er zuckte zusammen wie ein angeschossener Hase. Fast hatte er erwartet, daß ein gigantisches Monster mit brennenden Augen hereinkam. Doch es war nur Schwester Cohen. Durch das Mondlicht auf ihrem weißen Kittel wirkte sie wie ein Geist. »Mr. Riven, warum sind Sie noch auf?« Er zuckte die Schultern. »Konnte nicht schlafen.« Sie legte eine Hand auf seinen bloßen Arm. Er spürte die Wärme ihrer Finger. »Sie frieren ja! Kommen Sie, ich bringe sie wieder ins Bett.« Er schüttelte den Kopf. »Ist schon in Ordnung. Mir geht's gut.« 69
Sie stand im Schatten neben dem Fenster, warf ihm einen langen Blick zu. »Schlecht geträumt?« »Vielleicht. Woher wissen Sie das?« Er meinte, ein leichtes Lächeln gesehen zu haben. »Ich sehe ab und zu einmal bei Ihnen hinein, wenn Sie schlafen. Das ist mein Job. Sie schreien manchmal im Schlaf, Mr. Riven.« Riven stieß einen kurzen Fluch aus und drehte sein Gesicht wieder dem hellen Fenster zu. »Mein Schlaf ist kein verdammter Zuschauersport, finden Sie nicht?« »Es tut mir leid.« »Allen tut es immer leid. Ich will kein Mitleid, von niemandem. Ich will nur in Ruhe gelassen werden.« Er schloß die Augen. »Tut mir leid.« »Alle entschuldigen sich immer«, sagte sie ruhig. »Es tut mir wirklich leid. Ich bin manchmal ein wahre Plage.« Er schwieg für einen Moment. »Mit einer schlechten Ausdrucksweise.« Jenny hatte es gehaßt, wenn er fluchte. »Das macht nichts«, sagte sie und setzte sich auf das Fensterbrett. Das Mondlicht umrahmte sie mit einem Silberkranz, und ihr Gesicht war nicht mehr zu erkennen. Riven ertappte sich bei der Frage, wie alt sie wohl war. »Werden Sie je wieder schreiben?« fragte sie unerwartet. Er antwortete nicht, und sie fügte hinzu: »Ich habe Ihre Bücher gelesen. Sie sind wunderbar. 70
Berge, Pferde und starke, schweigsame Männer.« Trotz allem mußte er lachen. »Werden Sie die Geschichte zu Ende bringen? Werden Sie den dritten Band schreiben?« Er konnte nicht reden. Die Geschichte hat mich zu Ende gebracht. Meine Rolle darin ist vorüber. Und Jennys. Es sind jetzt andere Charaktere darin. Und er spürte, wie ihm die Tränen in die Augen traten. »Scheiße«, murmelte er. »Ist schon gut«, sagte sie. »Hören Sie, ich wollte nicht ... ach verdammt.« Sie beugte sich zu ihm hinüber und umarmte ihn plötzlich so fest, daß seine Tränen ihren Hals benetzten. Er biß die Zähne zusammen. Nimm dich zusammen, Mann. Er spürte den weichen Druck ihrer Brüste unter dem Kittel. Sie richtete sich wieder auf, ließ ihn in trostloser Verwirrung zurück. »Ich gehe jetzt besser«, sagte sie. »Man wird mich sonst vermissen. Sind Sie in Ordnung?« Er nickte stumm. Sie sah ihn etwas unsicher an, lehnte sich dann vor und küßte ihn auf die zernarbte Stirn. »Gehört das zur üblichen Pflege?« »Es gibt verschiedene Arten von Pflege, Mr. Riven.« Sie stand auf. »Und denken Sie daran, wenn Sie mich brauchen, drücken Sie auf den Summer.« »Ist bequemer, als zu pfeifen«, sagte er mit einem schwachen Lächeln. 71
»Und sitzen Sie nicht mehr so lange hier in der Kälte herum. Ich werde später noch einmal nach Ihnen sehen, und ich möchte, daß Sie dann im Bett liegen. Gute Nacht.« Er sah ihr nach. »Gute Nacht, Mädchen«, flüsterte er. »Ich muß bald los, Jenny.« Das Feuer knisterte, die Torfkloben verschoben sich ein Stück, und die auflodernde Flamme warf große Schatten an die Wand hinter ihnen. »Ich bin seit zehn Tagen weg.« Der Wind heulte wieder um das Haus. Er strich von den Bergen herunter und ließ die Fensterläden klappern. Er kam von den Höhen des Sgurr Dearg, über dessen Hänge er hier hingekommen war, zerschunden und blutend. Der Berg war abwechselnd launisch, tobend und ruhig. »Vermißt dich jemand?« fragte sie ruhig. Sie blickte in das Feuer. Ihr Haar glänzte in dem rot flackernden Licht. Er lachte bitter. »Das bezweifle ich, aber ich habe dort zu tun. Ich kann nicht für immer hierbleiben.« Er drehte den Kopf und betrachtete ihr zartes, dunkles Profil. »Obwohl ich das gerne tun würde.« Ohne ihn anzusehen, schob sie ihre Hand auf seine und ließ sie dort liegen. »Möchtest du wirklich zurückgehen, Michael?« 72
»Ich muß. Mein Urlaub ist in zwei Wochen vorbei.« »Du könntest hierbleiben. Du paßt gut hierher, und ich weiß, daß Dad dich mag.« Er antwortete nicht. Nebelhafte Wunschträume stiegen aus dem Feuer und schwebten vor ihm, quälten ihn. Wie oft hatte er von so etwas geträumt? »Noch zwei Wochen«, sagte er. Jenny lächelte und neigte den Kopf, um dem Wind zu lauschen. »Nun, ich glaube, das ist genug Zeit ...« Riven schlief, tief und traumlos. Draußen schien der Mond durch die Wolkenfetzen, ließ ihre Ränder hell aufleuchten. Im Schatten der Bäume saß jemand, geduldig wartend. Zwei Wölfe saßen neben ihm. Es waren Winterwölfe, gespenstisch grau im Mondlicht und voll ausgewachsen.
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DRITTES KAPITEL Riven hatte keine weiße Weihnacht erlebt, solange er sich erinnern konnte. Der Dezember war kalt und trüb, mit Regenschauern, die durch die Äste der Weiden peitschten und die Oberfläche des normalerweise ruhig dahinfließenden Flusses kräuselten. In den Stationen des Heims war überall Lametta, und auch ein paar tapfer geschmückte Bäumchen tauchten auf. »Als nächstes werde ich mich als Weihnachtsmann verkleiden müssen.« Doody grinste. Wenn Riven das morgendliche Fegefeuer seiner Gehübungen hinter sich gebracht hatte und er erschöpft genug war, um für eine Weile ruhig im Bett zu liegen, zeichnete er manchmal ein wenig — meistens Pferde und Landschaften. Manchmal hing er einfach seinen Gedanken nach. Es tat gut, sich in diese andere Welt zurückzuziehen, deren grüne Weite sich zwischen den Bergen erstreckte. Ein Platz, an dem alles so ablief, wie es ihm am besten gefiel. Es war gut, seinen malträtierten Körper für eine Weile zu vergessen und die weiten Täler dieses Landes, die Dales, mit Beinen zu durchstreifen, die gehorchten. Oder auf dem Rücken eines 74
fügsamen Pferdes, nur in Begleitung seiner Fantasiegestalten. Davon gab es viele, und sie waren sehr verschieden. Wie ein Pilgerer teilte er die Straße mit anderen, die er sich vorstellte und wieder vergaß. Sie begleiteten ihn ein Stück des Weges, schlugen dann eine andere Richtung ein und verschwanden wieder. Es gab Farmer und Schäfer, Hausierer und Spitzbuben, hübsche Damen und Soldaten mit harten Gesichtern. Sie erschienen in voller Größe in seiner Vorstellungswelt, gekleidet in Leder und Leinen, rochen nach Erde und Schweiß oder dufteten nach Parfüm und Kräutern. Ihre Farbenpracht beschämte die trüben Dezembertage. Er ritt kreuz und quer durch die fruchtbaren Dales, die von steinernen Festungen beherrscht wurden, wo Krieger mit prächtigen Schärpen auf den Schutzwällen patrouillierten. Er rastete in Schenken, in denen das Bier so stark war wie Wein und der Branntwein ihm feurig durch die Kehle rann. Er lachte über die wilden Geschichten, die andere Reisende von fernen Ländern jenseits der Berge berichteten, erzählte aber selbst keine. Ihm war keine zum Erzählen übriggeblieben. Statt dessen hörte er staunend zu und beobachtete. Er verbrachte Tage bei einem Gastwirt namens Gwion, der sich um seine Gäste kümmerte, als wären sie Kinder, und dessen Glatzkopf das abendliche Kerzenlicht reflektierte wie ein Spiegel. Er betrank sich mit dem rotbärtigen Mann aus 75
seinem Traum und lernte ihn als eine unerschöpfliche Quelle selbstgestrickter Lebensweisheiten mit einem unübertrefflichen Sinn für Humor kennen. Er hieß Ratagan. Und es gab noch viele andere. Ein junger Mann mit blauen Augen und einem strengen Zug um den Mund betrachtete ihn, ohne zu lächeln, und rieb die Ohren von zwei zahmen Wölfen, die sich stets an seiner Seite befanden. Es war Murtach, Murtach der Gestaltenwandler. Und die bezaubernde Lady, die reiten konnte wie der Teufel. Sie kleidete sich in schwarz — nun ... und hier versiegten die Tagträume, und er starrte in den sanften Regen, der am Fenster hinunterlief. Er wunderte sich, denn es waren Gestalten aus seinen Büchern, aber in seinen Tagträumen nahmen sie ein eigenes Leben an und hatten eigene Geschichten zu erzählen. Sie wurden seine Gefährten, und ihre Gesichter waren ihm schließlich so vertraut wie die von Doody oder Schwester Cohen. Sie hielten die dunklen Erinnerungen in Schach, und erst wenn sie ihn abends verließen, kroch die Verzweiflung wieder in ihm hoch und peinigte ihn mit den schon vertrauten Erinnerungen. »Sie sind schon wieder dabei, Sir«, sagte Doody zu ihm. »Wobei?« »Beim Träumen.« Riven rieb sich die Augen. »Das ist wenigstens eine Beschäftigung.« 76
»Ich werde Sie schon beschäftigen.« »Kein verdammtes Weihnachtsschmuckbasteln mit den anderen. Das hing mir schon mit zwölf zum Hals heraus.« Doody schüttelte den Kopf. »Es wird immer schlimmer mit Ihnen.« Riven blickte düster vor sich hin. »Der Weihnachtsmann kann mir auch nicht bringen, was ich mir wünsche.« Es entstand eine Pause. »Das weiß ich, Sir ... aber so bringen Sie sie auch nicht zurück. Kommen Sie, Sie können doch nicht mit der ganzen Welt brechen.« Nach einem Moment lachte Riven. »Vielleicht hast du recht. Mein Bedarf an Brüchen ist eigentlich gedeckt.« Er klopfte Doody auf den Arm. »Es tut mir leid, Kumpel. Das nächste Mal, wenn ich in dieser Stimmung bin, prügelst du mich einfach über den Flur.« »Das klingt schon besser. Aber denken Sie daran, ich habe schon einmal Ärger bekommen, weil ich einen Offizier geschlagen habe.« Die Weihnachtsfeier war in erster Linie für die älteren und weniger mobilen Patienten des Centers. Man hatte sich alle Mühe gegeben, eine traditionelle Feier abzuhalten, und am Morgen hatte es für diejenigen, die darauf Wert legten, einen Gottesdienst gegeben. Riven legte keinen Wert darauf. Immerhin raffte er sich dazu auf, zwei Weihnachtskarten zu malen, für 77
Doody und Schwester Cohen. Merkwürdigerweise konnte er immer noch annehmbar malen. Es war das Schreiben, die weniger instinktabhängige Begabung, das ihm Schwierigkeiten machte. Das Gehen fiel ihm mittlerweile leichter. Die Fortschritte waren nicht sprunghaft erfolgt, sondern in kleinen Etappen. Er verzichtete nun auf den Gehrahmen und kämpfte sich mit einer einzelnen Krücke vorwärts. Er war achtundzwanzig Jahre alt, aber durch den Bart, die Krücke und seine gebeugte Haltung wirkte er wie vierzig. Mit jedem Tag starrte ihm ein grimmigeres Gesicht aus dem Spiegel entgegen. Tiefe Falten hatten sich um seinen Mund gegraben. Die Nägel in seinen Armen und Beinen würde die Metalldetektoren bei Flughafenkontrollen für den Rest seines Lebens durcheinanderbringen, und seine Narben würden niemals völlig verschwinden. Aber sein Körper kämpfte um Genesung und Gesundheit, ob er es wollte oder nicht. Die Kopfschmerzen traten nur noch selten auf und waren dann weniger stark, und die Schmerzen in seinen Beinen wichen allmählich einem Schwächegefühl. Zu Weihnachten schenkten ihm Doody und Schwester Cohen zusammen eine Feldflasche voll Whisky. »Der hält Sie in den kalten Winternächten warm, Sir«, sagte Doody mit einem Zwinkern. Riven schienen seine Wasserfarbengemälde ein unangemessenes 78
Gegengeschenk zu sein, aber die beiden waren entzückt darüber. Der Weihnachtstag; das gemeinsame Essen und der langweilige Nachmittag mit der Fernsehansprache der Queen, als die meisten Patienten schon vor sich hindösten. Dann kam der lange dunkle Abend, wurde zur Nacht, und es war vorbei. Eines der Ereignisse, vor denen er sich gefürchtet hatte, war für dieses Jahr überstanden. In dieser Nacht lag er unbeweglich in seinem Bett und kämpfte gegen die anstürmenden Erinnerungen an. Er schob sie weit von sich, in eine dunkle Ecke seines Bewußtseins. Am nächsten Morgen war er müde und zerschlagen. Es folgten die ereignislosen Ferientage bis Silvester. Doody und Schwester Cohen nahmen ihren wohlverdienten Urlaub. Riven sah, wie sie zusammen wegfuhren: Schwester Cohen nahm Doody mit bis zum Bahnhof. Damit war er dem zärtlichen Mitgefühl von Schwester Bisbee ausgeliefert. Es machte ihm nichts aus. Die beiden waren diejenigen, die versuchten, ihn in ein normales Leben zurückzubringen, und das wollte er noch nicht. Er hatte Weihnachtskarten von alten Freunden erhalten, die er fast alle aus seiner Zeit in Oxford kannte. Einige waren auch von Kameraden aus der Armee. Er brütete stundenlang über den Karten, fragte sich, was diese Leute von ihm wollten. Die Außenwelt war eine Rasenfläche und ein weidengesäumter Fluß, sonst nichts. Wenn er 79
über Dinge jenseits dieser Begrenzung nachdachte, bröckelte der Schutzwall ab, mit dem er die Vergangenheit umgeben hatte, und die schwarzen Erinnerungen holten ihn ein. An einem regnerischen Morgen, als er auf einer Expedition zur Toilette durch den Erholungsraum humpelte, entdeckte er wahrhaftig einen Patienten, der in einem seiner Bücher las. Er war einen Moment lang stolz und erfreut, verspürte dann aber eine merkwürdige Panik. Es war, als würde jemand in seine Schutzzone eindringen, als würde er einen Teil seiner Verkleidung verlieren. Die Welt, die ihn früher angetrieben und ausgefüllt hatte, wurde von anderen hierhergebracht. Es verfolgte ihn sogar hier. Erst Schwester Cohen und dann das. Wie konnte er so Vergessen und Heilung finden? Jenny war in dieser Welt, in jedem Wort, das er geschrieben hatte, so deutlich, als lächle sie ihn hinter jedem Satz an. Er nahm das Buch an sich, als der alte Mann zum Essen ging, und ging damit in sein Zimmer. Flame of Old. Sein erstes. Das, das er als Junge begonnen und abgebrochen hatte; bis er sie getroffen hatte. Das optimistische. Die Geschichte, die an ein Happy-End glaubte. Das Land war rauh, aber gut. Es gab reiche Böden in den Dales, in den geschützter gelegenen Gebieten fruchtbar genug für Gerste. Dort wuchs auch Kohl, und weithin leuchteten die Weizenfelder. Aber überall schoben sich die Berge in das Tal, griffen danach wie wilde 80
Brecher aus Granit, die in dichtgestreute Felsblöcke ausliefen. Moosbewachsene Felsen, umwuchert von Farn und Büscheln von gelblichem Gras. Knorrige, dornige Bäume duckten sich unter dem eisigen Hauch des Nordens, den die Menschen Wind nannten. Sie glichen verkrüppelten Männern, hart wie die Felsen, an denen sie standen. Und da war der Rorim. Ralarth Rorim, die Festung der südlichen Dales. Er lag auf einem flachen Hügel, von dem manche sagten, er sei durch Menschenhand entstanden. Andere meinten, es habe ihn schon immer gegeben. Von den Wällen blickte man auf ein weites Tal, durch das sich das glitzernde Band eines tiefen Flusses schlängelte. Unten im Tal standen die Häuser und Höfe der Völker der Dales. Die Felder und Äcker verliefen in geraden Linien, und in verstreuten Herden graste das Vieh. Aus den Häusern und Schenken, den Schmieden und Ställen stieg blaugrauer Rauch in die klare Luft. Wenn der Wind günstig stand, hörte man das Treiben eines Marktes. Er schmiegte sich unterhalb des Rorims an den Hang. Das Streiten und Feilschen der Marktbesucher trug der Wind nur als leises Gemurmel hinauf zur Burg. Jenseits des Dales von Ralarth rollten die Hügel wie ein trübes Meer bis zu den verschwommenen Bergen am Horizont. Sie waren übersät mit Felsen, dicht bewachsen mit Farnkraut und dem rauhen Gras des Hochlands. Eine Landschaft, über der Drachen 81
und Bussarde schwebten, durch die Wölfe streiften, in der wachsames Wild graste. Nach Süden hin überzog ein dunkler Wald die Hügel und säumte ihre felsigen Gipfel mit Tannen, Fichten, Kiefern, Buchen, vereinzelten Eichen und einem Wirrwarr von Farnen und Brombeersträuchern. Scarall Wood war der Name des Waldes, und wilde Geschöpfe bewohnten ihn. Und südlich des Waldes lief das Land in zerklüftete Klippen aus, die zwischen Wasserfällen zur Küste verliefen, wo das Meer wie seit ewigen Zeiten unablässig gegen die Säulen der Erde brandete. Ein Reitertrupp kam aus dem Norden, den Wind im Rücken und die sinkende Sonne zur Linken. Es waren zehn Männer auf großen dunklen Pferden. Die Hälse der Tiere waren weiß vor Schaum. Die Reiter trugen metallbeschlagene Lederkleidung mit blauen Schärpen. Schwerter klirrten an ihren Hüften, und leere Proviantbeutel hingen an ihren Sätteln. Als sie Ralarth Rorim vor sich liegen sahen, zügelten sie die Pferde. Sie standen in den Steigbügeln und sahen das weite Tal vor sich, auf das sich langsam die Dämmerung senkte. Vereinzelt funkelten Feuer wie Edelsteine in einer Mine, und sie hörten von weitem das Muhen der Rinderherden, die von den Weiden getrieben wurden. »Zu Hause«, sagte der große Rotbärtige, Ratagan, befriedigt. »Ich habe euch ja gesagt, 82
daß wir es bis zum Abend schaffen können, wenn wir uns beeilen.« Der schmale dunkle Mann mit dem scharfgeschnittenen Gesicht neben ihm nickte. »Obwohl die Pferde dafür ihr letztes geben mußten. Aber es wird gut sein, heute nacht ein Dach über dem Kopf zu haben.« »Und Mauern um uns herum«, fügte Ratagan hinzu. Sein Blick glitt über die umliegenden Hügel. »Ich habe keine Lust, mich schon wieder mit den jagenden Wolfsrudeln herumzuschlagen. Ich habe für eine ganze Weile genug von dem Pack.« »Dann wirst du Murtach wohl aus dem Weg gehen, wenn wir ankommen?« fragte der dunkle Mann mit einem blitzenden Grinsen. Ratagan lachte polternd. »Der und seine Köter! Sie fürchten sich vor ihrem eigenen Schatten. Ich glaube, ihre Mutter war ein verirrtes Schaf. Obwohl ich zugeben muß, daß sie gefährlich aussehen.« »Murtach sagt, daß der äußere Eindruck oft entscheidend ist«, sagte der dunkle Mann. »Aye, er muß es wissen — er ist schließlich der Gestaltenwandler. Ah, ich freue mich auf das Bier, das er heute spendieren wird für die Geschichten, die ich gesammelt habe!« »Und du bist der Richtige, sie zu erzählen.« Der dunkle Mann lächelte. »Doch komm jetzt, wir müssen weiter. Der Wind wird kalt, und wir haben noch ein paar Meilen vor uns.« Sie gaben ihren müden Pferden die Sporen, und die kleine Kolonne setzte sich wieder in 83
Bewegung. Vor ihnen funkelten die Lichter des Tals in der zunehmenden Dunkelheit. Aye. Aber für manche von uns kommt die Dunkelheit zu schnell, um unseren Weg weiter gehen zu können. Riven klappte das Buch zu und schloß die Augen. Noch immer sah er die Abenddämmerung über den Hügeln einer anderen Welt vor sich. Dann stand er langsam auf, nahm seinen Stock, und machte sich auf den mühsamen Weg zum Erholungsraum, wo er das Buch wieder an seinen Platz legte. Wenn das Weihnachtsfest hauptsächlich für die Patienten gedacht war, denen es nicht so gut ging, so standen am Silvesterabend diejenigen im Mittelpunkt, die — wie Doody es ausdrückte — noch nicht mit einem Bein im Grab standen. Viele Patienten verbrachten die Feiertage zu Hause, aber ein guter Teil blieb im Center, genau wie das Pflegepersonal, das sich um sie kümmerte. »Nun, Sir«, sagte Doody, als er Silvester aus dem Urlaub zurückkam. »Ich habe die Absicht, auf jeden Fall zu feiern, egal was Bisbee, die alte Kuh, sagt. Orangensaft, du heilige Scheiße! Anne und ich werden versuchen, für diejenigen, die es vertragen können, etwas Richtiges hereinzuschmuggeln. Sie glauben nicht, wie viele von ihnen die Ohren spitzen, wenn sie etwas von einem harten Drink hören.« 84
Silvester. Das war immer eine große Sache in Schottland. Nehmt Abschied Brüder und all das. Am Nachmittag dieses Tages schob Schwester Cohen ihn in den Garten. Er hörte ihr zu, wie sie von den Feiertagen erzählte, der Silvesterparty und Bisbees Tyrannei. Er achtete weniger darauf, was sie sagte, als darauf, wie sie es sagte. Es war kalt, aber der Regen hatte aufgehört, und eine unstete Sonne tauchte ab und zu zwischen den Wolken auf. Der Fluß führte viel Wasser, rauschte laut an den kahlen Weiden vorbei. »Bald wird es hier schneien«, prophezeite Schwester Cohen. Sie strich eine Haarsträhne zurück unter ihr Häubchen. »Aber dann kommen auch bald der Frühling und die Osterglocken. Die ganze Uferwiese wird übersät mit ihnen sein. Es ist ein prächtiger, aufmunternder Anblick.« Sie hörte auf zu schieben. »Werden Sie wirklich nicht hier sein, um es zu sehen, Mr. Riven?« Er zuckte die Schultern. »Vielleicht. Ich bin schon wieder ganz gut in Schuß. Ich habe keine Ausrede, noch viel länger hier zu bleiben.« Und ich habe etwas zu erledigen. Er rang sich ein Lächeln ab. »Ich sage es Ihnen nächstes Jahr.« »Nächstes Jahr. Nun, ich habe diesmal keine guten Vorsätze gefaßt, und so muß ich keine brechen, wie ich es sonst immer tue. Doody hat versprochen, sich ein bißchen besser zu 85
benehmen, aber das soll glauben, wer will. Die alte Bisbee könnte sich vornehmen, die Haare auf ihren Zähnen zu rasieren.« Riven lachte. »Mister Riven?« »Ja?« »Wenn Sie wollen, können Sie mich Anne nennen. Das tun die meisten Patienten.« »Okay, Anne also.« »Gut.« Sie sah zum Himmel. »Regen. Ich bringe Sie am besten wieder hinein. Es ist gegen die Vorschrift, daß Patienten naß werden.« Sie schob ihn zurück in Richtung des Gebäudes. Das Abendessen war nicht so festlich wie an Weihnachten, aber die Stimmung war wesentlich ausgelassener. Das Pflegepersonal aß zusammen mit den Patienten, und am Ende der Tafel, wo Riven zusammen mit Doody und Schwester Cohen — Anne — saß, ging es hoch her. Vor ihnen standen mehrere unschuldig aussehende Flaschen, die mit feurigen Getränken gefüllt waren. Das war der Grund für den beträchtlichen Lärmpegel, der Schwester Bisbee immer wieder zu mißtrauischen Blicken veranlaßte. Irgendein Bastler hatte ein Lautsprechersystem installiert, durch das das Geläut von Big Ben in den Speisesaal übertragen wurde. Als das Essen vorüber war und der große Moment näherrückte, wurde es ruhiger. Riven rollte von dem Tisch weg und 86
postierte sich in der Nähe eines Fensters, das zum Garten hinausging. Eine ideale Silvesternacht. Die Sterne waren so hell, daß er Sirius erkennen konnte, sogar von hier drinnen. Er wollte nach draußen, allein unter dem klaren Himmel sein, wie er es so oft in seinem Leben gewesen war. Im Speisesaal wurde es jetzt dunkler, und aus den Lautsprechern ertönte ein Knistern. Eine Stimme begann von der Menschenmenge am Trafalgar Square zu berichten und ihrem wilden Treiben um den Brunnen dort. Doody tanzte mit einer alten Dame, die sich vor Lachen ausschüttete. Sie sah aus, als hätte sie das Tanzbein seit Jahrzehnten nicht mehr geschwungen. Schwester Cohen schloß sich an; sie tanzte mit einem Achtzigjährigen, der normalerweise nörgelnd in seinem Bett lag. Die Glocken begannen zwölf Uhr zu schlagen, und die Tänzer hielten inne. Mit einem Glas in der Hand stand Riven auf. Neun, zehn, elf ... Mit dem letzten Glockenschlag trank er das Glas in einem Zug aus und hob es Richtung Decke. Auf dich, mein Mädchen. Ein neues Jahr. Als er aus dem Saal hinkte, sah er wie Doody Schwester Cohen küßte. Die Patienten wünschten sich Glück und hauchten sich Küsse auf die Wangen. Alle umarmten sich, und dann begann »Nehmt Abschied Brüder«. Das Singen folgte ihm, als er sich nach 87
draußen in die ruhige, kalte Nacht begab, zum Rasen und dem leise rauschenden Fluß. Das Gras war feucht und rutschig, und er kam nur langsam voran. Er blieb stehen und hielt nach den Sternbildern Ausschau. Orion mit seinem leuchtenden Gürtel. Der Große Wagen und der Nordstern. Knapp über dem Horizont die Venus, der helle Jupiter. Sie hatten ihm früher oft den Weg gewiesen. Und sie führten ihn jetzt, als könne man die Zeit zurückdrehen und er befände sich wieder auf Skye, mit einem Herzen, das nicht gebrochen war, und jemandem, der ihn liebte. Der hoch angeschwollene Fluß spiegelte das Licht der Sterne. Riven setzte sich und zog sich mit kraftlosen Händen mühsam die Schuhe aus. Dann die Socken. Er spürte den Tau kühl unter seinen Füßen. Das Wasser war zunächst schneidend kalt, aber dann kitzelte es nur noch, glitzerte um seine Waden. Er stand knietief in der Strömung und blickte zum Sternenzelt empor. Es schien sich um ihn zu drehen. Er war der Mittelpunkt, die Achse, um die es sich bewegte. Er wußte, daß seine Zeit in Beechfield vorüber war. Es war Zeit zu gehen. Zeit, in die Berge zurückzukehren.
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VIERTES KAPITEL Riven ging nicht nach Camasunary zurück, um ein Buch zu schreiben. Er wollte versuchen, dort die Gespenster der Vergangenheit zu vertreiben, Heilung zu finden. Er dachte, daß das Schreiben vielleicht dazugehören würde, aber er war sich nicht sicher. Was immer geschehen würde, jetzt war er hier, in einem Eisenbahnabteil, seine Habseligkeiten zusammengeknüllt in einem Rucksack auf dem Boden. Das BeechfieldCenter lag etliche Counties hinter ihm, und das neue Jahr eröffnete sich vor ihm wie eine dunkle Blume. Eine nächtliche Zugfahrt. Er hatte nicht versucht zu schlafen. Es war schon fast eine Gewohnheit, die Reise nach Skye so unbequem wie möglich zu verbringen. Es machte den ersten Blick auf die Cuillins jenseits des Sound of Sleats noch lohnender. Er blickte durch das Fenster in die blaue Finsternis. Wenn das Wetter so bleibt, werde ich nur den üblichen Nieselregen sehen. Carlisle blieb zurück und damit England. Das Rattern des Zuges ließ ihn einnicken. Stunden später erwachte er in verkrampfter Haltung. Seine Beine schmerzten, und er sah wie die Sonne über dem Hochland aufging. Auf 89
den Bergen lag schon Schnee. Er fragte sich, ob es auf den Inseln auch schon geschneit hatte. Zum ersten Mal beschäftigte er sich mit den Schwierigkeiten, die es machen würde, zu der Hütte zu gelangen. Es gab keine Alternative zum Fußmarsch über den Paß. Er würde wohl kaum jemanden finden, der ihn trug. Er verließ den Zug an einem grauen, feuchten Morgen in Mallaig und ging die kurze Strecke zum Hafen zu Fuß. Dort lagen zahlreiche Fischerboote vor Anker, und überall standen Fischkörbe und Hummerkisten herum. Über ihm kreischten Möwen. Es kam ihm vor, als habe er seit Jahren keine mehr gehört. Er blickte hoch und betrachtete die Häuser, die auf dem Hang eines Hügels über dem Hafen thronten. Der Hügel war braun von totem Farn, aber jenseits der Meerenge konnte er Skye sehen. Er war zurückgekehrt, zurück zu Meer und Felsen! Er konnte die Mittagsfähre nehmen und bestieg das kleine Schiff fast ängstlich. Wieder so nah zu sein — war das wirklich das Beste, was er machen konnte? Aber er war fest entschlossen. Während der kurzen Überfahrt blieb er an Deck und ließ sich den Wind durch den Bart streichen. Armadale, tief gelegen und bewaldet, näherte sich. Von dort aus war es eine lange Busfahrt und dann der Marsch über den Paß. Fahr schneller, mein kleines Boot ... oder nicht? 90
Die Fähre stampfte und schlingerte unter ihm, und die Möwen folgten ihrer Kielspur. Wohin kehrte er zurück? Der Gedanke an Camasunary, so tot wie sie, noch angefüllt mit ihren Sachen, so wie sie sie an jenem Sommermorgen zurückgelassen hatte, ließ ihn schaudern. Eine düstere Stimmung schwebte über ihm und senkte sich auf seine Schultern. Vielleicht war Molesys Rat doch kein so heißer Tip gewesen. Er betrat die Pier in Armadale und war damit den Unwägbarkeiten des Inselbussystems ausgeliefert. Ohne größere Schwierigkeiten gelangte er nach Broadford. Von dort konnte er den Postbus nehmen, der durch Torrin fuhr. Zunächst aber machte er es sich in einem Hotel gemütlich. Er setzte sich an die Bar und stärkte sich mit ein paar kräftigen Schlucken McLeods Whisky. Trinkfestigkeit war eine wichtige soziale Tugend, und er hatte sie während seiner Zeit in Schottland zu Genüge erprobt. Der kleine rote Bus, der die Inselpost beförderte, kam wie üblich zu spät. Der Fahrer erkannte ihn nicht, wofür Riven zutiefst dankbar war. Er saß schweigend da, während das Fahrzeug sich am Fuß der Berge entlangschlängelte, nach Süden, in Richtung Torrin. Für Riven war es wie eine Fahrt in die Vergangenheit. Die Monate in der Klinik erschienen ihm wie ein grauer, nebelhafter Traum, aus dem er endlich erwacht war. 91
Und schließlich ragte der Gebirgskamm vor ihm auf, bewachsen mit hellem Farn. Auf den Höhen lag Schnee. Er holte tief Luft, betastete seinen Stock und sah sich dann um. Von einem nahestehenden tropfnassen Haselnußstrauch schnitt er sich einen Stock, der dem unebenen Boden besser gewachsen war, und begann den beschwerlichen Aufstieg. Nach wenigen Augenblicken in dem windgepeitschten Nieselregen war die letzte Wirkung des Whiskys verflogen. Er beugte sich nach vorn, machte kleine Schritte und versuchte gleichmäßiger zu atmen. Geräuschvoll plätschernde Rinnsale kreuzten seinen Pfad — soweit von einem Pfad überhaupt die Rede sein konnte. Er spürte, wie er auf dem Rücken und in den Achselhöhlen zu schwitzen begann, obwohl sein Gesicht durch den Wind eiskalt war. Er blieb für einen Moment stehen, richtete sich auf und starrte auf den steilen Hang vor sich. Die Schmerzen in seinen Beinen versuchte er zu ignorieren. Ich muß verrückt sein. Aber er beugte sich wieder vor und stützte sich auf den Haselnußstock. Ein paar Hochlandrinder waren auf dem Hang. Wiederkäuend beäugten sie ihn mit sanfter Neugier durch die zottigen Haarbüschel, die ihnen in die Augen fielen. Er stapfte an ihnen vorbei und sah zu dem düsteren Himmel empor. 92
Sieht ganz so aus, als würde von da oben gleich etwas sehr Unerfreuliches herunterkommen. Er war mit diesem Pfad, diesem Felskamm vertraut. Er kannte die meisten Windungen des Weges, die falschen Gipfel, die sumpfigen Stellen, an denen schwarzes Moorwasser schimmerte. Ungewohnt war aber der schmerzende Körper, mit dem er sich vorwärtskämpfte. Neue Schwächeanfälle bestimmten jetzt die Aufstiegsroute, er mußte die kürzeste Route wählen. Ohne sich um die Anstrengungen zu kümmern, die damit verbunden waren, schlug er einen Weg ein, den er noch nie beschritten hatte. Er passierte die Schneegrenze, und der Regen verwandelte sich in Graupelschauer. Der Schnee sammelte sich auf den Felsen und dem Farnkraut, begann zu schmelzen und wurde von einer neuen Schicht überdeckt. Ein milder Tag, hätte Calum gesagt, die unvermeidliche Pfeife zwischen den Zähnen. Er hatte schon viel Schlimmeres gesehen. Aber Calum war ein Jahr vor seiner Tochter Jenny gestorben, in einer mondhellen Nacht mit einer silberglänzenden Brandung, den winselnden Hund zu seinen Füßen. Sein Herz hatte nicht mehr mitgemacht. Riven erreichte den Gipfel der Bergkette und setzte sich auf einen Felsblock. Vor ihm erstreckte sich das Sligachan-Tal in der Dämmerung. Der Wind fegte noch immer Graupelschauer vor sich her. Gegenüber war 93
undeutlich ein Berg zu erkennen, und links unten hörte er das Meer, das Rauschen der Brandung zwischen den Felsen der Küste. Tja. Ein milder Tag. Aber es würde keine milde Nacht folgen. Er massierte sich die Beine. Er fühlte sich völlig verlassen und war den Tränen nahe. Nur dieser sture, irgendwie militärisch geprägte Teil von ihm hielt ihn vom Schluchzen ab. So wie damals, als sein Corporal in Irland vor seinen Augen zerrissen worden war oder als er erfahren hatte, daß Jenny tot war. Und wieder sah er sie vor sich, mit wehenden Haaren, dick vermummt gegen die Kälte des Winters. Sie lachte und forderte ihn auf, sich zu beeilen. Mich zu beeilen, den Berg hinunterzukommen, den ich bestiegen habe, dachte er. So machte er sich wieder auf den Weg. Er verfluchte seine Beine, den Morast, das Wasser und den Winter. Und am meisten sich selbst. Bergab war es schwieriger, seine Waden schmerzten, und seine Beine zitterten. Er mußte sich an Farn und Felsblöcken festklammern und den Stock vor sich in den aufgeweichten Boden stemmen, um das Tempo des Abstiegs noch bestimmen zu können. Der Hang war so steil, daß der Weg sich oft in die entgegengesetzte Richtung wendete. Die Serpentinen schlängelten sich in einem blassen Muster den Berg hinunter. Kleine Bäche nahmen die direkte Route und kreuzten 94
häufig seinen Weg. Seine nassen Füße fühlten sich jetzt nicht mehr unangenehm an, aber die Schmerzen machten ihm zu schaffen. Er hatte Visionen von Metallbolzen, die sich lösten, von Schrauben, die langsam in das Muskelfleisch wanderten, von Metall, das unbefestigt über Knochen schabte. Die Graupelschauer verwandelten sich während des Abstiegs wieder in Regen. Kalter, stechender Regen, den der Seewind vor sich her trieb. Unten krachten die Brecher in die Bucht und schäumten weiß auf die Klippen. Sein Blick glitt die Küstenlinie entlang, während er den Hang hinunterstolperte, und er meinte, den dunklen Umriß der Hütte am Ende der Bucht ausmachen zu können. Dann rutschte er auf einem moosbewachsenen Felsen aus und stürzte schwer. Er rollte ein Stück den Abhang hinunter und blieb dicht neben einer Pfütze mit schwarzem Brackwasser liegen. Er lag für einen Augenblick still, während sich die Wasseroberfläche wieder beruhigte und er sein Spiegelbild zu erkennen begann. Dann stemmte er sich auf Hände und Füße. Er versank bis zu den Knöcheln im Morast. Völlig durchnäßt und schlammverschmiert kam er auf die Beine und stolperte weiter, fluchend, den Kopf gegen den Wind gebeugt. »Sieh nur, wie blau das Meer heute ist«, sagte er und blieb oben auf dem Bergkamm stehen. 95
Er schob die Daumen zwischen die Gurte des Rucksacks und seine Schultern. Sie blickte ihn an, ihr dunkles Haar wehte im Wind. »Im Sommer ist hier alles grün und blau, im Tal herrscht dann friedliche Ruhe. Allerdings gibt es jede Menge Mücken.« Sie nahm ihren Rucksack von den Schultern und ließ ihn auf den Boden fallen. »Laß uns einen Moment hierbleiben und verschnaufen.« Er setzte sich neben sie. Der Wind strich böig durch die Hügel, glättete das Gras und ließ die Unterseite der Halme in der Sonne leuchten. Weiße, bauschige Wolken trieben über den stahlblauen Himmel. Es war ein klarer Tag, deutlich waren die spitzen Felsgipfel der Cuillins-Bergreihe zu erkennen, die am Horizont aus den Hügeln ragte. Sie lagen nebeneinander im knisternden Farnkraut. Jenny strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und stützte sich auf den Ellbogen. Über ihnen schwebte ein Brachvogel und stieß schrille Schreie aus. Die Wolken verhüllten jetzt öfter die Sonne. Vielleicht braute sich über dem Meer ein Regenschauer zusammen und bereitete sich zum Angriff auf die bergige Küste vor. Jenny regte sich. »Menschen sind wie Jahreszeiten, weißt du«, sagte sie gedankenverloren. Riven sah sie fragend an. Sie lag jetzt auf dem Bauch, das Kinn in die Hände gestützt. Sie lächelte, als sie die Verwirrung in seinem Blick sah. »Es stimmt«, 96
sagte sie. »Einige sind wie der Winter, andere wie der Frühling oder Herbst.« Er lachte, und sie strich ihm durch das Haar. »Und was bin ich dann?« fragte er. »Ein Idiot«, prustete sie. Er packte sie und hielt sie fest, aber sie versuchte, sich zu befreien. »Idiot!« rief sie wieder triumphierend. Sie wand sich in seinem Griff, konnte sich aber nicht freimachen. Schließlich lag sie ruhig in seinem Arm. Der Wind, der über die Hügel strich und in dem sich die Möwen über ihnen treiben ließen, ließ ihr Haar wehen. Sie lächelten sich an, die Gesichter nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. »Du«, sagte Riven atemlos. »Du bist der Frühling, mit dem Wind und den Regenschauern, den treibenden Wolken ...« Er küßte sie zärtlich auf die Lippen. »Und der Herbst«, murmelte er. »Mit seiner reichen Ernte.« Ihre Lippen trafen sich wieder, und dann trieb der Wind neue Wolkenberge heran, die die Sonne verdunkelten. Es war dunkel, und er stolperte durch kniehohen Morast, der das Ende des Abhangs markierte. Die dunklen Umrisse der Berge zeichneten sich vor dem etwas helleren Himmel ab. Der Wind hatte die Wolkendecke aufgelockert, und der Regen hatte nachgelassen. Bald würde der Mond aufgehen. Er stapfte durch das Schilf, das diesen Teil des 97
Tals bedeckte. Der Schmerz in seinen Beinen zuckte in grellen Blitzen bis in seinen Kopf. Das Schlimmste ist überstanden, alter Junge. Jetzt nur noch durch die Bucht. Es hörte endlich auf zu regnen, aber der feuchte Seewind stach ihm ins Gesicht. Er spürte einen salzigen Geschmack auf den Lippen. Am Strand leuchtete der Schaum jetzt im Mondlicht. In langen weißen Linien schoben sich die Brandungswellen heran. Riven hatte das Schilf jetzt hinter sich, und unter seinen Füßen knirschte Kies. Er hatte Mühe, auf den größeren Steinen nicht auszurutschen, und sein Stock glitt von den glatten Kieseln ab. Ab und zu leuchtete eine Muschel zwischen den Steinen. Er blieb schweratmend stehen. Die Hütte war jetzt deutlich zu erkennen. Dunkel stand sie vor den mächtigen Bergen, neben ihr schimmerte das Meer. Kein Licht in den Fenstern. Kein Feuer. Eine Welle des Schmerzes und der Trauer durchlief ihn und verebbte wieder. Er fühlte sich verloren. Mist! Er stieß den Stock in den Boden und schleppte sich weiter. Sturmböen wehten durch das Tal. Er konnte sich vorstellen, wie sie an den Fensterläden rappelten und durch den Kamin heulten. Die Tür zuschlugen. Diese Tür. Und diese Türschwelle. Er stocherte mit den Schlüsseln herum, die er mit klammen Fingern aus einer Tasche 98
genommen hatte. Der Wind zerrte unablässig an seiner Kleidung. Gefühllos, nutzlos. Und die Tür öffnete sich. Schwankend stand er vor der Schwelle, das Brausen des Sturms hinter sich. Der Schmerz in seinen Beinen drang wie aus einer anderen Welt in sein Bewußtsein. Die Tür krachte an die Wand, und eine Windböe fuhr in die Hütte, wirbelte die Asche in der verlassenen Feuerstelle auf und blätterte die fahlen Seiten eines halbgelesenen Buches um. Der Ärmel eines Pullis, den jemand auf einen Stuhl geworfen hatte, pendelte im Durchzug. Den sie auf den Stuhl geworfen hatte. »Ich brauche ihn nicht — es ist so ein schöner Tag, ich würde mich darin totschwitzen. Los, Michael, du alter Mann, laß uns rausgehen, solange die Sonne scheint. Es wird jetzt schon wieder früher dunkel.« Und draußen das Gekreische der Möwen. Er schloß die Tür hinter sich, mußte sie gegen den Widerstand des Windes zudrücken. Der Raum lag wieder tot da. Dunkel bis auf die Lichtbalken, die der Mond durch die Fenster warf. Der Rucksack und der Stock fielen polternd auf den gefliesten Boden, und er sank auf die Knie. Seine Kleidung war völlig durchnäßt, und Haarsträhnen klebten auf seiner Stirn. Das Bild von ihnen beiden starrte ihn von dem dunklen Kaminsims her an. Daneben kaltglänzend die beiden Kerzenständer aus 99
Messing. Dort, auf seinem Tisch, seine Schreibmaschine und ein dicker Papierstapel, der von einem runden Stein vom Strand beschwert wurde. Eine Kaffeetasse stand griffbereit. »Aber ich habe noch nicht ausgetrunken ...« »Ach, laß den Kaffee stehen. Dein Kopf braucht klare Bergluft.« Hier, an der Tür, ein Paar Wellington-Stiefel. Auch seine Wanderstiefel, neben einem kleineren Paar. In einer sinnlosen Geste berührte er einen Schnürsenkel. Dann wandte er sich ab und stand auf. Müde. Gott, bin ich müde. Er ging durch den Raum und starrte in den toten Kamin, dachte an die Feuer der Vergangenheit. Daran, wie er im strömenden Regen Torf hereingebracht hatte, an die Wärme der ersten Flammen in seinem Gesicht. Plötzlich stieg Wut in ihm hoch. »Ich brauche das nicht, Herr im Himmel, ich brauche es nicht.« Er schlug gegen den Kaminsims, daß er zitterte, und löste dann seinen Blick von dem Bild, das darauf stand. Die Tür zum Schlafzimmer stand offen. Fluchend ging er hinüber. Im Schlafzimmer das ungemachte Bett, das Durcheinander der Kissen. In einem noch der Abdruck eines Kopfes. Und ihr Nachthemd. Ein warmes Bündel aus Fleisch und Haaren, nach Lavendel riechend und zusammengekuschelt in seinen Armen, leise im Schlaf murmelnd. Kalte Zehen suchten 100
seine Beine, um sich zu wärmen, das Gesicht schmiegte sich an seine Schulter. Ein Geräusch zwischen einem Knurren und einem Schluchzen entrang sich seiner Brust. Er spürte, wie die schwarzen Schwingen der Verzweiflung wieder über ihm zusammenzuschlagen drohten. Dennoch kniete er nieder und ballte das Nachthemd in seinen Fäusten zusammen. Es roch muffig und feucht, aber er vergrub sein Gesicht darin und sank auf die kalte Matratze. Dann, immer noch in seinen tropfnassen Kleidern, rollte er sich zusammen und zog sich die Kissen über den Kopf; blind und taub für den Sturm, das Tosen des Meeres, das Heulen des Windes in den Bergen. Calum stopfte seine Pfeife mit Fingern, die im Laufe der Jahre feuerfest geworden waren, und ließ eine blaue Rauchsäule zwischen seinen Zähnen emporsteigen. »Du möchtest sie also heiraten«, sagte er ruhig. Seine blauen Augen ruhten auf den auslaufenden Wellen, die der Südwind an den Strand warf. »Aye«, antwortete Riven ihm. Calum trug einen alten, flickenübersäten Tweedmantel. Auf dem Kopf hatte er wie immer seine Mütze. In seinem mageren Gesicht funkelten die grauen Augen in einem Wirrwarr von Alterslinien und Lachfältchen. Fast immer spielte ein Schmunzeln um seinen Mund. So wie jetzt, da dieser irische Soldat um 101
die Hand seiner Tochter anhielt. Der Mann, der eines Winterabends im wahrsten Sinne des Wortes in ihr Leben gestürzt war und seitdem regelmäßig seine Besuche machte. »Wirst du die Armee verlassen?« fragte er. »Ja, so bald wie möglich.« »In manchen Gegenden würde man behaupten, daß es heutzutage altmodisch ist, einen Vater um die Hand seiner Tochter zu bitten,« sagte Calum mit einem Augenzwinkern. »Vielleicht, aber du bist Jennys ganze Familie, und es ist wichtig.« Calum nickte zustimmend. Seine Augen folgten dem Flug eines Brachvogels, der über der Bucht schwebte. Sein langer, gekrümmter Schnabel glänzte in der tiefstehenden Sonne, seine Silhouette zeichnete sich dunkel vor dem Abendhimmel ab. »Ihre Mutter war eine wunderbare Frau«, sagte er schließlich, und sein Blick verlor an Schärfe, verlor sich in Erinnerungen. »Jenny ist aus dem gleichen Holz geschnitzt. Man trifft nicht oft ein Mädchen wie sie.« »Ich weiß«, sagte Riven sanft. Calum stieß eine neue Rauchwolke hervor. »Aye, das tust du. Ich weiß es, Mike.« Dann glitt ein Lächeln über sein Gesicht. »Wie wär's mit einer Mitgift?« »Was?« »Wenn du schon so altmodisch bist, können wir keine halben Sachen machen.« »Nein, Calum. Wir brauchen wirklich nicht ...« 102
»Ihr beide liebt doch Camasunary, die Hütte dort.« »Nun ja, das stimmt.« »Sie ist nicht luxuriös und muß etwas hergerichtet werden, aber ihr müßtet keine Schulden bei der Bank machen oder so etwas.« Riven lächelte. Zum ersten Mal sah ihm Calum in die Augen, und das Lächeln um seinen Mund wurde zu einem breiten Grinsen. »Wie wär's mit einem Gläschen, um den Abend zu begrüßen?« »Warum nicht?« Und sie gingen durch das Tal zurück zu der Hütte, aus deren Tür Licht schimmerte und in der Jenny mit dem Essen auf sie wartete. Voller Schmerzen und frierend erwachte er in der Morgendämmerung, hatte die Augen sofort ganz geöffnet. Krämpfe durchliefen seine Glieder. Er setzte sich auf und sah auf das feuchte, dreckverschmierte und zerknüllte Bettzeug. »Oh, mein Gott.« Verschlafen rieb er sich das Gesicht, und als er seine Hände senkte, war sein Blick leer. Da bin ich also. Schwankend erhob er sich. Um ihn herum starrte das vertraute Strandgut zweier Leben ihn an. Aus dem Kleiderschrank, von den Regalen und Wänden. Sein Atem dampfte. In der Hütte war es eiskalt. Er blieb stehen, um mit ausdruckslosem Gesicht ein Foto von ihnen beiden zu berühren, 103
und ging dann in den Wohnraum. Sein Rucksack stand einsam und verlassen in einer Pfütze bei der Tür. Der Stock lag daneben. Er nahm den Haselnußstab auf und strich über seine glatte Oberfläche. Irgendwie war es tröstlich, etwas zu besitzen, das mit der Vergangenheit nichts zu tun hatte. Er sah sich um. Dieser Ort war einmal ein Hafen für ihn gewesen. Aber das würde er nie wieder sein. Am liebsten hätte er alles niedergebrannt. Sie hätte das gemocht. Er hockte sich hin und begann den Kamin zu säubern. Er blickte auf die Überreste des letzten Feuers, das dort gebrannt hatte, und zögerte damit, sie zu beseitigen. Sie waren ein Überbleibsel. Aber auch eine Erinnerung. Er kehrte die Asche zusammen, und wenig später prasselte ein Feuer in dem Kamin. Dampf stieg aus Rivens feuchten Kleidern auf, aber er merkte es kaum. Es gab so viele Erinnerungen hier drinnen. Er schüttelte den Kopf, als müsse er eine lästige Fliege vertreiben. Er setzte einen Kessel mit Kaffeewasser auf und verdrängte den Gedanken an seine whiskygefüllte Feldflasche. Dafür war später Zeit genug. Er ging vor die Tür. Es war ein trüber Morgen und immer noch windig. Die Sonne versteckte sich hinter den Wolken, und es sah schon wieder nach Regen aus. Er konnte die See hören. Der Kessel pfiff durchdringend, und er ging hinein. Er trank schwarzen Kaffee. Alle verderblichen Lebensmittel waren längst 104
verdorben. Sein Blick glitt über das, was er geschrieben hatte, und er blätterte durch ein paar Seiten, auf die Jenny Kritik, Vorschläge und kleine Sticheleien gekritzelt hatte. Das hatte sie häufig getan. Schnell wandte er sich ab. Zu dicht, zu nahe. Noch nicht. Er nahm seinen Rucksack und legte seine Habseligkeiten vor dem Feuer zum Trocknen aus. Wie immer zog das Spiel der Flammen seinen Blick magnetisch an. Er trank den glühendheißen Kaffee und sammelte Mut. Nun denn, an die Arbeit! Er begann im Schlafzimmer. Sammelte ihre Sachen ein. Ihre gemeinsamen Sachen. Er legte alles auf einen Haufen: Fotografien, einen Teddybär, Kleider, Schuhe, eine Bürste, in der rabenschwarze Haare hingen. Wie Treibholz nach einem Sturm sammelte sich immer mehr an, während er methodisch die Schubladen und Regale kontrollierte. Ein Blick unter das Bett. In den anderen Räumen machte er es genauso. Er nahm auch ihr Bild vom Kaminsims. Es hinterließ eine Lücke. Er warf keinen Blick auf das Photo, als er es zu den anderen Sachen legte. Als er alle Erinnerungen eingesammelt hatte, legte er sie in den Kleiderschrank und schloß die Tür. Quietschend drehte er den Schlüssel herum und legte ihn auf den Kaminsims. Das Feuer knisterte vor ihm, spuckte Funken auf den Steinboden. Er zog seine immer noch feuchten Kleider aus und hängte sie neben 105
seinen anderen Sachen zum Trocknen auf. Für einen Augenblick musterte er seine nackten Beine. Sie waren bleich, dünn und voller Narben. Bitter dachte er daran, wie er früher gelaufen und geklettert war. Dann zog er sich an und schnürte grimmig seine Wanderstiefel. Er fühlte sich etwas besser, als er in den trockenen Kleidern vor dem Kamin saß. Er holte seine Vorräte aus dem Rucksack. Der Zucker war naß geworden, und er stellte ihn auf die Kaminplatte. Er legte den Haselnußstock neben den Kamin, zog einen Sessel heran und setzte sich. Was jetzt? Ein Blick zur Schreibmaschine. Er fluchte. Diese Blätter lagen immer noch da. Nun, vielleicht würde er sie irgendwann verbrennen. Vielleicht. Er ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Nichts erinnerte jetzt mehr daran, daß es sie je gegeben hatte. Außer dem Grab in Portree und vielleicht den Resten eines Blutflecks oben am Sgurr Dearg, dem Roten Berg. Aber der würde längst verschwunden sein, abgewaschen vom Regen, der über das Meer kam. Nein — nichts. Es war nicht fair. Es war einfach nicht fair. Er nahm den Stock und ging hinaus, wo ein grauer Tag auf ihn wartete. Die Wellen rauschten auf den Kieselstrand. Er begann Strandgut zu sammeln, teils aus Gewohnheit, teils um sich abzulenken. Durch 106
den Sturm in der vergangenen Nacht hatte sich allerhand angesammelt. Die unvermeidlichen Fischkisten vor allem, aber auch Überreste von Tauen, eine Plastikflasche, Stücke eines runden Holzbalkens und ein toter Seehund. Es war ein grauer Seehund, und sein Kopf war halb abgerissen, so daß Riven auf der einen Seite ein immer noch feuchtes braunes Auge anstarrte, und auf der anderen Seite der Schädelknochen grinste. Er trat dagegen, und ein Zittern durchlief den Körper des Tieres vom Kopf bis zum Schwanz. Er trug das Treibholz vor die Hütte, wie er es gewohnt war. An dieser Seite — der Seeseite — gab es keine Fenster. Der Wind strich zärtlich durch seinen Bart, und er rieb sich das Kinn. Er reinigte die Hütte sorgfältig, putzte den Steinboden und lüftete das Bettzeug, wenn es einmal nicht regnete. Er hatte mehr als genug Torf, um über den Winter zu kommen, niemand war vor Mitte Januar in der Hütte gewesen. Wasser konnte er dem Flüßchen entnehmen, das in der Nähe vorbeifloß. Er mußte nur ein Stückchen flußaufwärts gehen, um das Salz hinter sich zu lassen. Das einzige Problem waren Nahrungsmittel, und die waren in Camasunary schon immer ein Problem gewesen. Im Gefrierschrank, der vom Generator mit Strom versorgt wurde, hatte sich ein reichlicher Vorrat befunden, aber nachdem das Gerät monatelang außer Betrieb gewesen war, war alles verdorben. Riven hatte 107
das zweifelhafte Vergnügen, die Reste zu beseitigen und den Rost von dem Aggregat zu entfernen, der durch die feuchte Seeluft entstanden war. Schließlich tuckerte der Motor wieder lustig vor sich hin. Nachts und am frühen Morgen röhrten Hirsche durch das Tal. Ihr Ruf war alt, urzeitlich. Er starrte in die Flammen seines Feuers und hörte ihnen zu. Er hätte ein Höhlenmensch sein können, der in der Morgendämmerung der Menschheitsgeschichte den Winter abwartet und der Finsternis der Außenwelt seinen Rücken zuwendet. Die Küste war in der Umgebung der Hütte steil und felsig. Der Küstenweg nach Loch Coruisk und Glenbrittle war im Winter kaum zu passieren. Besonders haarsträubend war die >Steile TreppeÜberlebenstraining< nannte man das. Alle haßten es, aber — und so ist es mit vielen Erlebnissen der Militärzeit — als sie dann später beim Bier in der Kantine saßen, waren sie doch froh, daß sie es mitgemacht hatten. Er unterbrach die blutige Arbeit in der Küche für einen Moment. Er fühlte sich plötzlich einsam. Nicht nur wegen Jenny. Er vermißte auch die wilden Tage seiner Jugend. Dann kicherte er laut. Jugend! Ich bin wirklich noch nicht im Rentenalter, egal wie alt ich mich fühle. Er verstaute den Großteil seiner Beute im Gefrierschrank und begann aus den Resten eine Suppe zu kochen. Er pfiff dabei leise vor sich hin, hob aber den Kopf, als er bemerkte, daß der Wind nachließ. Jetzt hörte man nur noch das ruhige Rauschen des Meeres: sein liebstes Schlaflied. Das und das Tuckern des kleinen Dieselaggregats. Er lauschte für einen Augenblick, dann sträubten sich ihm die Nackenhaare, ohne ersichtlichen Grund. Er drehte sich schnell um, mit blutbefleckten Händen, aber da war nichts außer der Hütte und dem Zischen des Feuers. Der Generator brummte leise weiter, und das Meer rauschte wie zuvor. Aber irgend etwas hatte ihn dazu bewegt, sich umzudrehen. 110
Er verließ die Spüle und holte den Stock aus der Ecke. Er lauschte noch immer. Nichts, nur die normalen Geräusche der Nacht. Der Ruf eines verspäteten Brachvogels klang durch das Tal und verstummte. Dann erstarb das Brummen des Generators. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als das Licht in der Küche erlosch. Die einzige Lichtquelle war jetzt das gelbe Glühen des Feuers. Es war totenstill, bis auf das Plätschern der Wellen am Strand und das Klopfen seines Herzens. Er trat hinaus in die Stille der sternklaren, mondlosen Nacht. Der Kies knirschte unter seinen Füßen. Er sah den schwarzen Schatten des toten Seehunds hinten am Strand. Kein Lüftchen regte sich. Die Nacht war ruhig und leer. Sein Griff um den Stock entspannte sich. Verdammter Generator. Er fuhr herum, dachte, daß er drüben am Bach eine Bewegung gesehen hatte. Unentschlossen blieb er stehen. Dann fluchte er. Du siehst Gespenster, alter Junge! Er setzte den Generator wieder in Betrieb, obwohl er nicht feststellen konnte, warum er ausgegangen war. Als er wieder in die Küche kam, strahlte das Licht hell und herausfordernd. Ein merkwürdiger, schwacher Geruch lag in der Luft. Er schnupperte, aber sobald er den Duft aufnahm, schien seine Nase sich daran zu gewöhnen, und er verschwand wieder. Ein moschusartiger 111
Tiergeruch. Kam wohl von dem Wild, das er erlegt hatte. Er wandte sich wieder seiner Arbeit in der Küche zu.
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FÜNFTES KAPITEL Schreiben: Das Formen von Mustern auf Papier, als presse man Blut aus schmerzenden Fingerspitzen und beobachte, wie es die weiße Fläche markiert. Seine Romanfiguren wurden wieder deutlicher. Es gelang ihm nicht, sie auf Papier zu bannen, aber ihre Schatten umgaben ihn, während er an seinem Schreibtisch saß und ziellos die Tasten seiner Schreibmaschine betätigte. Er skizzierte Handlungsstränge, Aufstieg und Fall von Fürsten und Damen, Machtkämpfe in dem weiten grünen Land seiner Romane, Schlachten und Belagerungen und hoffnungslose Liebesgeschichten, in die er sich nie richtig hineinversetzen konnte. Nein, es ist nicht gut. Ich kann es nicht mehr. Seine Welt war flach und leblos, die Figuren wie Marionetten vor einer schlecht gemalten Bühnenkulisse. Die Szenarien, die er schuf, verdüsterten sich, wurden kälter. Seine Fantasie glitt ab in eine kalte, sternenlose Finsternis. Die Kämpfe wurden zu häßlichen, verzweifelten Gemetzeln, bei denen sich die Leichen hoch im Schnee türmten. Wölfe zerrten an den Körpern, und Brandgeruch verpestete die Luft. Die Tasten klapperten 113
unaufhörlich, und doch kam er nicht weiter. Resigniert hörte er auf. Ich bin eine Jahreszeit geworden, dachte er. Ich bin der Winter, das Warten in der langen Nacht vor dem Frühling. Wolkenverhangene Tage kamen und gingen, während er dasaß und aus dem Fenster hinaus in das Tal starrte und auf die nahen Ausläufer der mächtigen Berge. Er beobachtete das Zanken der Möwen über den Resten des Seehunds und wünschte sich, er hätte ihn verbrannt oder vergraben. Dann senkte er den Kopf, und die Tasten begannen wieder langsam zu klicken. Wie den Körper des Seehunds durchzuckte nur dann Leben die Geschichte, wenn er sie anstieß. Seine Hand war schwerfällig wie die Scheren eines Krebses, und die Worte, die er formte, lagen auf den Seiten wie unter einer Eisschicht. Er ging hinaus, suchte Befreiung in der blassen Sonne und dem frischen Wind. Er nahm den Stock und hinkte dorthin, wo das Wasser des Baches sich mit dem Seewasser vermischte, setzte sich an das rostfarbene Wasser und trank trotzig in großen Schlucken aus der Feldflasche. Abwesend starrte er auf ein Gewirr von Felsblöcken jenseits des Baches. Sein Blick folgte den Mustern der Flechten, glitt über unbewachsenen Felsen, über dunkle Vertiefungen, in denen sich Moos festgesetzt hatte. Der Whisky wärmte ihn, machte ihn ein wenig benommen. Sein leerer Magen glühte. 114
Nachdenklich rieb er seine Knie. Die Möwen hatten ihr lautstarkes Gezänk beendet und zogen ihre Kreise über den Klippen. Er blickte wieder auf die Felsen. Ihr Aussehen hatte sich geändert, änderte sich, während man zusah. Er ließ seinen Blick verschwimmen, formte Gestalten und Umrisse. Jetzt ein Pferd, ein Turm, ein Gesicht ... Ein schmales braunes Gesicht mit schwarz leuchtenden Augen und einem knappen Bart, den ein Grinsen teilte. »Jesus Christus!« Er sprang auf, und die Feldflasche fiel mit einem dumpfen Geräusch zu Boden. Er fixierte seinen Blick auf den Felsen, musterte jede Einzelheit — doch es gab dort nichts als Flechten und die grobporige Oberfläche des Granitblocks. Er rieb sich die Augen. Sollte tagsüber nicht trinken. Am Abend dieses Tages saß er vor einem großen Feuer und reinigte das Gewehr. Er nahm sich dazu mehr Zeit als gewöhnlich, da die Waffe einerseits seit langem nicht mehr gereinigt worden war, und es andererseits beruhigend war, über den glatten Holzschaft zu streichen und imaginäre Ziele in der Dämmerung ins Visier zu nehmen. Er hatte sich immer schon für Waffen interessiert, fand Gefallen daran, sie zu zerlegen und zu reinigen, außer wenn das Waffenreinigen zur Plackerei wurde, wie es in der Armee häufig der Fall gewesen war. Es war fast wie eine geheime Wissenschaft, handfest und befriedigend. 115
Er beschäftigte sich mit dem Verschluß, bis er sicher war, daß er Rost und Pulverschmauch restlos beseitigt hatte, und lud das Gewehr dann sorgfältig. Er mochte sich noch immer nicht eingestehen, daß das, was er am Nachmittag gesehen hatte, nur seiner Einbildung entstammte ... Die Nacht brach an. Das gleichmäßige Rauschen des Meeres und das Knistern des Feuers ließen ihn einnicken. Das Gewehr lag neben ihm auf dem Fußboden. Das Feuer spiegelte sich in dem Öl auf den Metallteilen. Er hatte das elektrische Licht nicht eingeschaltet, und der Schein der Flammen glitt über sein mageres bärtiges Gesicht und ließ die Narben auf seiner Stirn ebenso deutlich hervortreten wie die Falten, die sich selbst im Schlaf um seine Augen und seinen Mund zogen. Die Wärme des Feuers milderte den Schmerz in seinen Beinen, und das Rauschen der Wellen besänftigte den düsteren Ausdruck seines Gesichts. Er atmete tief. Ein Scheit fiel mit einem hellen Knistern im Kamin zusammen, und die Dachsparren knarrten im Seewind. Ein leises Geräusch schreckte ihn auf. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Es saß noch jemand an seinem Kamin und blickte ins Feuer. Er hielt die Luft an. Der Stuhl knackte unter ihm. Die angestaute Atemluft dröhnte in seinen Schläfen. Er wagte es, die Augen ein 116
wenig weiter zu öffnen, und zwang sich zu einem ruhigen Atemzug. Das Herz schlug ihm bis zum Hals und übertönte den leisen Seewind. Eine Hand streckte sich der Wärme des Feuers entgegen, die Finger wohlig ausgestreckt. Er vernahm etwas wie einen Seufzer, und die Gestalt am Kamin — halb Schatten, halb Feuerschein — rückte näher an die Wärme heran. Riven sah ein Gesicht mit dunklen Augen, umrahmt von schwarzem Haar. Tränen traten ihm in die Augen und liefen im Licht des Feuers funkelnd seine Wangen hinunter. Er wußte, daß es ein Traum sein mußte. Plötzlich wandte sich das Gesicht ihm zu. Ein ausgemergeltes Gesicht unter wirrem Haar, mit Schmutz auf den Wangenknochen. Gleichzeitig nahm er den moschusartigen Körpergeruch wahr, der schon im gleichen Moment zu schwinden begann, in dem er identifiziert war. Aber die Augen — die Augen! Sie blickten zu ihm herüber, über einen Abgrund von Verlust und Alpträumen, starrten ihn aus hundert Fotografien und tausend Erinnerungen an. Sie trafen seine eigenen Augen, so wie die Augbrauen über ihnen zusammentrafen. Er konnte nicht glauben, was er sah. Für eine Sekunde oder für ein Jahrhundert sahen sie sich an, so wie sie es hier früher in den klaren Nächten getan hatten, wenn das Feuer hoch aufloderte und Windböen hinten 117
durch das Tal strichen. Sie hatte an der Kaminplatte gesessen und mit lachenden Augen zu ihm hochgeblickt. Und dann war die Kaminplatte kalt geworden, und ihr Platz war leer. Da war nichts in ihren Augen. Fast nichts. Er bemerkte kein Erkennen. Es war, als wäre sie eine leere Hülle, eine schöne, filigrane, aber leblose Gestalt. Aber sie war es. Hier, in seinem Traum. »Jenny«, krächzte er ... und sie sprang auf und rannte quer durch den Raum. Ihre nackten Füße patschten über den Boden. Das Türschloß rasselte, und sie verschwand in der Nacht. Fluchend taumelte er hinter ihr her. Die Nacht traf ihn wie eine schwarze Wand, und Regen prasselte auf ihn nieder, als er durch die Tür trat. »Komm zurück! Komm zurück, verdammt noch mal!« Aber der Strand war leer, ruhig rauschten die Wellen über den Kies. Der Wind strich ihm durch den Bart. Komm zurück! Hinten in der Bucht umspülten die Wellen den toten Seehund. Riven meinte, noch ein anderes Aufspritzen in dem flachen Wasser zu sehen, war sich aber nicht sicher. Die Luft war kalt wie die See, und er fühlte sich völlig kraftlos. Er lehnte sich an den Türrahmen und schloß die Augen.
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Die Sterne zogen langsam ihre Bahn, der Große Wagen umwanderte den Polarstern. Es war fast Mitternacht. Er saß auf dem Stuhl neben dem ersterbenden Feuer. Das Gewehr lag neben dem Kamin. Er wollte nach Hause gehen, aber er wußte, daß es keinen Ort mehr für ihn gab, den er sein Zuhause nennen konnte. Er paßte nirgendwo hin. Aber er war sich sicher. Er hatte sie gesehen. Hatte gehört, wie sie an dem Türschloß herumfingerte. Die Tür war offen gewesen, als er ihr gefolgt war, aber nicht er hatte sie geöffnet. Sie war wirklich da gewesen. Er hatte nicht geträumt. Vielleicht eine Zigeunerin? Ein Wanderer, ein Landstreicher? Ein verlassenes Kind? In diesen Bergen? Er versuchte, sich an sie zu erinnern. Ihr Gesicht, ihre Kleidung. Der flüchtige Eindruck eines dunklen Unterkleids. Barfuß — in dieser Jahreszeit! Aber die Augen, die ihn angeblickt hatten. Jenny, die ihn anstarrte. Augen, die seine Seele einfingen. Unmöglich. Vielleicht jemand aus dem Hotel am anderen Ende des Tals — jemand, der sich verirrt hatte. Müde schüttelte er den Kopf. Wo war sie hingerannt? Schließlich schlief er ein, das Kinn auf die Brust gesunken, eine Hand hing hinunter zum Boden.
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Am nächsten Morgen fühlte er sich wie zerschlagen, seine Glieder waren stocksteif. Er verzog das Gesicht, als er mühsam aufstand, und verfluchte die Kälte in der Hütte und die graue Asche im Kamin. Er war es leid zu leiden, war es leid, allein zu sein, und doch litt er schon, wenn er nur an andere Menschen dachte. Ein weiterer grauer Tag. Sprühregen und schwarze Gewitterwolken. Die Berge würden heute wieder ihre Schleier anlegen. Den Regen hatte er auch satt. Er fragte sich, ob es schneien würde. Es war eigentlich kalt genug, aber hier unten auf Meereshöhe schneite es selten. Vielleicht würden die Berge etwas abbekommen. Vielleicht würden dann die Wolken aufreißen, und er könnte ein Stück Himmel sehen. Ein Klopfen am Fenster ließ ihn herumfahren, und er sah das Gesicht des bärtigen Mannes, der ihn durch die Scheibe lächelnd ansah. Der Mund formte Worte, die er nicht hören konnte. Er bückte sich, nahm das Gewehr an sich und riß die Tür auf. Ein Ausdruck des Erstaunens erschien kurz im Gesicht des Fremden, ein Unbehagen, das so schnell wieder verschwand, daß es kaum zu bemerken war. »Tut mir leid. Habe ich Sie überrascht?« Er folgte dem Blick des anderen auf das Gewehr und senkte den Lauf. Er war verärgert, und plötzlich schämte er sich ein wenig. 120
Gastfreundschaft hatte auf dieser Insel eine lange Tradition. »Entschuldigen Sie, Sie haben mich ganz schön erschreckt.« Beide schwiegen für einen Augenblick und schätzten sich gegenseitig ab. Dann zerriß lautes Donnergrollen den Himmel über ihnen und rollte weiter durch das Tal. Riven trat einen Schritt zurück. »Das wird ein rauher Tag. Ich beobachte schon den ganzen Morgen, wie sich etwas zusammenbraut«, sagte der Fremde. »Ich denke, es wird ganz schön stürmen.« Seine Stimme war tief und gleichmäßig, doch den Akzent konnte Riven nicht einordnen, obwohl er für einen Moment davon überzeugt war, ihn schon einmal gehört zu haben. »Kann ich für einen Augenblick hereinkommen?« Riven machte ihm Platz. »Aber ja, sicher«, sagte er, während die ersten schweren Regentropfen auf den Boden platschten. »Besten Dank.« Die Tür fiel hinter ihm ins Schloß. Er trug einen Rucksack und Wanderkleidung. »Ich bin in den letzten Wochen gewandert und herumgeklettert. Ich war schon einmal hier.« Er setzte den Rucksack ab. »Aber beim letzten Mal war alles verlassen, und ich habe in dem Verschlag mit dem Generator übernachtet. Ich dachte, es sei eine Sommerhütte. Ich hätte niemals damit gerechnet, jetzt jemanden anzutreffen. Leben Sie hier?« »Ich lebe hier«, antwortete Riven. »Ich bin ... fort gewesen.« 121
»Ah, das erklärt es.« Es regnete jetzt heftig. »Ja.« Ein Blick aus dem Fenster. »Nun hat der Sturm mich eingeholt.« Ein Blick auf seine Füße. »Neue Stiefel. Meine Füße brennen wie Feuer. Ich habe Blasen so groß wie Strandkiesel.« Er sah auf. »Oh, entschuldigen Sie ...« Er streckte Riven die Hand entgegen. »Ich bin Bickling Warbutt.« Ein trockener, fester Händedruck, ein wenig fester, als die schlanken Finger vermuten ließen. »Bickling?« Ein glockenhelles Lachen. »Ja, meine Eltern haben mich nach irgendeinem Vorfahr benannt. Ich werde meistens Bicker genannt.« »Mein Name ist Riven. Michael Riven.« Hatte er den Namen des Fremden schon einmal gehört? Er schien ihm irgendwie vertraut, wie ein halbvergessener Traum. »Freut mich, Sie kennenzulernen. Und danke, daß Sie mich hineingelassen haben. Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich hierbliebe, bis der Regen nachläßt?« Wieder dieses Grinsen. Nimm dich zusammen, Riven. »Nein, natürlich nicht.« Er fügte sich in die Gastgeberrolle. »Ziehen Sie die Stiefel aus, wenn Sie möchten.« Es donnerte wieder, lauter als vorher. »Ich werde Feuer machen.« Während der Fremde sich zu seinen Schuhen bückte, beschäftigte Riven sich mit dem Kamin. Er warf seinem Besucher immer wieder verstohlene Blicke zu. 122
Dieser verbreitete einen Eindruck von Sauberkeit, der mehr auf einem Gefühl beruhte als auf physikalischen Tatsachen. Dieser Bart und diese Augen würden wahrscheinlich immer makellos wirken, egal wie schmutzig der Mann war. Seine Hände hatten die richtige Größe, seine Füße waren klein. Sein ganzer Körper hatte die Kompaktheit eines Otters. Er war nicht der Typ, der mit seinen Armen und Händen nichts anzufangen weiß. Seine Kleidung war wintergerecht, aber man hatte nicht den Eindruck, daß er dem Winter ausgesetzt gewesen war. Er sah nicht so aus, als habe er jemals unter Blasen, Müdigkeit oder irgend etwas anderem gelitten. Er wirkte so gesund wie eine Stahlfeder, und sein allgegenwärtiges Grinsen war unüberwindlich. Riven verspürte eine irrationale Abneigung gegen ihn und schämte sich dafür, denn es war wie die Abneigung eines Kranken gegen die Gesundheit. Aber da war noch etwas anderes, was ihn beunruhigte, etwas, was er so wenig fassen konnte wie den Rauch des Torffeuers. Wenn er sich nur erinnern könnte! Im Kamin züngelten die Flammen hoch, wärmten ihn und tauchten den Raum in ein gemütlicheres Licht. Es geschah zu viel. Zu viele Dinge. Er wollte keine Gesellschaft — jedenfalls jetzt noch nicht! »Ah, das ist besser.« Bicker wackelte mit den nackten Zehen. Wieder donnerte es, und der 123
Regen klatschte unablässig an die Fensterscheiben. Riven starrte in die glühenden Torfballen im Kamin und hing für einen Moment seinen Gedanken nach. »Ich muß schon sagen, es ist nett von Ihnen, einen völlig Unbekannten in Ihr Haus zu bitten.« Der dunkelhaarige Mann erhob sich. Seine Stiefel trug er an den Schnürsenkeln. »Wo soll ich die am besten lassen?« »Stellen Sie sie neben die Tür.« Er stocherte in der Glut, ohne seinen Gast anzusehen, und beobachtete, wie glühende Funken nach oben in den Kamin tanzten. »Ich hoffe, Sie nehmen mir die Frage nicht übel, aber Sie sind nicht von hier, oder?« Riven nickte. »Nordirland.« »Ach so, verstehe. Ich nehme an, Sie sind herübergekommen, um die Unruhen zu vergessen. Kann man Ihnen nicht übelnehmen. Es ist eine Tragödie.« Riven schürte das Feuer heftig. »Sie sind wahrscheinlich hungrig. Ich werde Ihnen etwas bringen.« Er erhob sich, runzelte die Stirn und verharrte mit dem Rücken zum Kamin, die Hände den wärmenden Flammen entgegengestreckt. Bicker wühlte in seinem Rucksack herum. »Waren Sie gestern auf dem Hang, der zum Bach hinunterführt?« Der andere Mann blickte auf. »Ja richtig, ich bin dort gewesen. Warum fragen Sie? Haben Sie mich gesehen?« 124
»Ich glaube, Sie haben mich gesehen. Sie haben mich angegrinst.« »Es ist möglich, daß ich gelächelt habe, aber ich kann mich wirklich nicht daran erinnern, Sie angelächelt zu haben. Wissen Sie, ich sehe mich beim Klettern nicht viel um — es nimmt mich ganz gefangen.« Und Riven, der den stechenden Blick des Mannes bemerkt hatte, wußte, daß er log. »Ein nettes Schießeisen haben Sie da«, fuhr Bicker fort. Er nickte in Richtung des Gewehrs, während er seinen Rucksack wieder zuschnürte. »Sie benutzen es zum Jagen, nicht wahr?« Riven nickte und fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. »Sie haben kein dunkelhaariges Mädchen im Tal gesehen, oder?« Bicker wirkte für einen Moment verwirrt, schien dann aber über die Frage nachzudenken. »Nein, kann ich nicht behaupten. Wohnt Sie hier?« »Nein. Ich weiß nicht ... wo sie wohnt.« Er fühlte sich unbehaglich. Es kam ihm vor, als blies der Sturm draußen auch hier durch den Raum. Er wischte sich die Handflächen am Hosenboden ab. Muß mich zu sehr ans Alleinsein gewöhnt haben. Er ging in die Küche und begann damit, eine Fleischbrühe aufzuwärmen, zu der die örtliche Fauna ihren Teil beigetragen hatte. Er hörte, wie sein Gast in dem Wohnraum umherschritt, 125
und mußte sich dazu zwingen, ihn nicht durch die Küchentür zu beobachten. Es donnerte wieder, und das schwache Flackern eines Blitzes erhellte das Fenster. »Ist es hier immer so, zu dieser Jahreszeit?« »Nicht immer. Aber es ist schon oft stürmisch.« »Nun ich denke, hier oben muß man für die Schönheit auch die Rauhheit in Kauf nehmen.« Riven hielt einen Moment inne. Er runzelte die Stirn. Dann begann er wieder damit, die Brühe umzurühren. Der Sturm wurde heftiger, als der Abend hereinbrach. Der Regen ließ etwas nach, aber der Wind wurde stärker und pfiff über die Klippen und die Gebirgsausläufer. Riven tippte ziellos auf der Schreibmaschine herum — er schrieb irgend etwas, nur um nicht gezwungen zu sein, eine Konversation mit dem Fremden aufzunehmen. Kinderreime, Gedichte, alles mögliche. Ein Reim ging ihm nicht mehr aus dem Kopf, er konnte ihn nicht abschütteln: Wie weit ist der Weg nach Babylon? Fünfmal zehn Meilen und zwanzig dazu. Schaff ich den Weg, bis die Nacht anbricht? Ja, und zurück im Nu. Wenn's nicht deinen Beinen an Flinkheit gebricht, schaffst du den Weg mit dem letzten Licht. »Das gefällt mir«, sagte eine Stimme. »Es ist alt, nicht wahr?« 126
Es war Bicker, oder Warbutt, oder auf welchen albernen Namen er auch immer hören mochte. Er beugte sich über seine Schulter, wie Jenny es immer getan hatte, und las, was er getippt hatte. Riven wurde wütend. »Muß das sein?« »Oh, tut mir leid.« Bicker zog sich mit der angemessenen Zerknirschung zurück. »Ich weiß, es ist eine ärgerliche Angewohnheit, ich mag es selber nicht.« Riven hätte ihm am liebsten die Schreibmaschine an den Kopf geworfen, aber er wandte sich statt dessen mit einem stillen Fluch wieder seiner Arbeit zu. »Ist schon gut.« Er war nicht sicher, ob er sich mehr über Bicker oder über sich selbst ärgerte. Ich kann doch höflich sein, oder etwa nicht? Herrgott im Himmel! Das Klappern der Tasten verstummte. Ach, verdammt! Er war völlig aufgewühlt und den Tränen nahe. So geht's dir, wenn du unter Leute kommst. Er stand auf. Bicker las mit großer Konzentration ein Buch. Riven hätte schwören können, daß seine Lippen während des Lesens die Worte formten. Er schüttelte den Kopf und holte dann eine Flasche Malt-Whisky und zwei Gläser aus der Küche. Er stellte Bicker ein Glas hin und setzte sich ihm gegenüber an den Kamin.
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Warum soll ich ihm nicht den Glauben an die Gastfreundschaft in den Highlands wiedergeben? »Hier«, sagte er und füllte erst Bickers Glas und dann sein eigenes mit der schimmernden Flüssigkeit. »Ich bin kein großartiger Gastgeber, aber ich habe noch einen guten Whisky. Er hält einen zumindest warm.« Bicker lächelte. Es war das erste echte Lächeln, das Riven an ihm bemerkte. »Besten Dank. Worauf trinken wir?« »Slainte.« »Wie bitte?« »Slainte. Das ist der gälische Ausdruck für >Hoch die TassenManse< bezeichnet hatte. Der Platz war gepflastert, und in der Mitte befand sich ein Brunnen. Eine Gruppe von Frauen in braunen Kleidern schöpfte Wasser mit Holzeimern. Sie unterbrachen ihre Arbeit und starrten die Ankömmlinge an, besonders Riven. Er fühlte sich fehl am Platz mit seiner Wanderkleidung und dem Rucksack über der Schulter. Erstaunt und verärgert mußte er feststellen, wie sehr er sich der Narben in seinem Gesicht bewußt war. Mit einem stillen Fluch wich er den forschenden Blicken aus. 187
Die Türen der Manse öffneten sich, und zwei Männer traten heraus, dicht gefolgt von zwei Myrcanern. Der eine, ein breitschultriger Mann mit einem mächtigen blonden Bart, der ihm bis auf die Brust reichte, trug die Rüstung und Schärpe der Schutztruppe. Der andere war schmächtiger, ein grauhaariger und glattrasierter Mann mit leuchtend blauen Augen. Er trug einen schlichten Umhang und Hosen, um seinen Hals hing jedoch eine goldene Kette. Die Myrcaner waren — und das überraschte Riven nicht — Ord und Unish wie aus dem Gesicht geschnitten. Ratagan stieg mit einem Stöhnen vom Pferd und stützte sich auf Bickers Schulter. »Ich grüße dich, Vater«, sagte er. Der blondbärtige Mann legte seine großen Hände auf Ratagans Schultern. »Ärger gehabt, was? Deine Mutter war wie immer besorgt um dich, Ratagan. Mit gutem Grund diesmal, wie es scheint.« Er lächelte fast entschuldigend, aber Ratagan grinste ihn nur an. Die beiden Männer und die Myrcaner gingen zurück in das Haus, und die Neuankömmlinge folgten ihnen. Niemand schien von Riven Notiz zu nehmen, doch dann bemerkte er, daß der grauhaarige Mann ihn scharf musterte. Er mußte seinem Blick ausweichen. »Der Warbutt erwartet euch alle«, sagte der Grauhaarige. Seine Stimme war so spröde wie Herbstlaub. »Ich werde mich um eure Verletzungen kümmern, während ihr mit ihm 188
sprecht. Er wartet ungeduldig auf Neuigkeiten. Besonders von dir, Bicker.« Bicker seufzte. »Das habe ich mir gedacht, Guillamon. Ich bin länger fortgewesen, als wir alle dachten.« »Aber du hast deine Aufgabe erfüllt.« Es war eine Feststellung. »Ja.« Bicker deutete mit dem Kopf auf Riven, und wieder blickten diese leuchtend blauen Augen ihn einen Moment lang an. Sie betraten eine kleine Halle. Der Boden war mit Fliesen belegt, und Wände und Decke waren mit dunklem Holz vertäfelt. Die Myrcaner verließen sie hier. Dann folgten sie Guillamon und Ratagans Vater durch eine zweiflügelige Tür und kamen in eine große Halle, deren mächtige Deckenbalken sich über ihren Köpfen kreuzten. Staub tanzte in den Lichtstreifen, die durch die schmalen Fenster unter der Decke fielen. An den Wänden glänzten vergoldete Stofftapeten und alte Waffen. Im Kamin brannte kein Feuer, aber eine einzelne Kohlenpfanne glühte im Hintergrund des Raumes neben zwei hochlehnigen, thronähnlichen Stühlen. Auf dem rechten Stuhl saß jemand ruhig. Er erhob sich, als sie sich mit hallenden Schritten näherten. »Bicker. Mein Sohn ist zurück.« Er war alt, sehr alt. Das Haar über dem scharfgeschnittenen Gesicht war schlohweiß. Er wirkte wie ein Adler in der Mauser. 189
»Vater.« Bicker umarmte den alten Mann, und der setzte sich wieder. »Wie ich sehe, hat Ratagan etwas Pech gehabt. Ihr müßt mir viel zu erzählen haben. Guillamon, könntest du dafür sorgen, daß die Wasserschüsseln und das Essen und Trinken hereingebracht werden? Ich würde einen Bediensteten rufen, aber je weniger Ohren in diesem Raum sind, desto besser.« Guillamon nickte wortlos und verließ den Saal durch eine kleine Tür links neben den Stühlen. Alle schwiegen für einen Augenblick. Riven trat nervös von einem Fuß auf den anderen, und Bicker löste den Verband um Ratagans Bein. Murtach blickte düster auf den Steinboden, wo sich seine Wölfe zufrieden ausgestreckt hatten. Nach einigen Minuten erschienen Diener mit Schüsseln und Töpfen. Sie setzten ab, was sie gebracht hatten, und wurden dann von Guillamon schnell wieder hinausgedrängt. Er verbeugte sich tief vor dem Warbutt und setzte sich dann auf eine Plattform beim Kamin, in der Nähe der Gefährten. Für jeden gab es eine Schüssel mit schwach dampfendem Wasser, hellweißem Sand und ein grobes Handtuch. Des weiteren Krüge mit kaltem Bier sowie Käse, Äpfel, Fleisch, Brot und Honig. Sie wuschen sich, rieben sich mit dem feinen Sand den Schmutz hinunter und aßen dann, während der Warbutt sie mit ausdrucksloser Miene betrachtete. Fife und Drum machten sich über 190
Markknochen her. Das Splittern der Knochen klang laut durch die Stille in der Halle. Riven hörte Stimmen von draußen, entferntes Gelächter und das leise Muhen von Rindern. Ratagan setzte seinen leeren Bierkrug ab und wischte sich mit dem Handrücken den Schaum vom Mund. »Ah!« sagte er. »Das ist bessere Medizin, als irgendein Quacksalber sie verabreichen kann.« Guillamon kicherte, aber Udairn, sein Vater, sah ihn ernst an. »Wer hat das getan?« fragte er und blickte auf den Unterschenkel seines Sohnes. Ratagan zuckte mit den Schultern. »Ein Gogwolf, im Wald von Scarall.« Die beiden älteren Männer sahen sich an, aber der Warbutt hob die Hände, bevor sie etwas sagen konnten. »Alles zu seiner Zeit«, sagte er scheinbar gelassen, aber seine Augen blitzten. Nachdem Ratagans Bein frisch verbunden worden war, forderte der Warbutt Bicker auf, von seinem Ausflug auf die Insel der Nebel zu berichten. Der dunkelhaarige Mann warf einen Blick auf Bicker, der sich nach dem Waschen und der Mahlzeit viel besser fühlte, und begann zu erzählen. »Ich bin lange unterwegs gewesen. Es ist acht Monate her, seit Murtach und ich uns auf den Weg nach Staer gemacht haben, durch die Schneestürme, die mitten im Sommer unser Land verwüsteten. Acht lange Monate — die meiste Zeit davon in einem fremden Land, 191
einer fremden Welt. Und sehr oft war ich allein. Es gab Momente, in denen ich dachte, daß der Sohn des Warbutts sich eine Suppe eingebrockt hat, die er nicht auslöffeln kann.« Er grinste schwach. »Murtach wird euch erzählt haben, was sich in der Zeit ereignet hat, nachdem er Michael Riven entdeckt hatte. Er kam wieder in den Norden, berichtete mir, was sich ereignet hatte, und verschwand durch das Tor in unsere Welt. Mir blieb nichts anderes übrig, als auf der Insel auszuharren, bis der Geschichtenerzähler wieder in den Norden kam. Ich wußte, wo er lebte — das und noch viel mehr hatten wir in langen durchzechten Abenden mit den Einwohnern der Insel erfahren. Ich verbrachte eine lange, anstrengende Zeit in einem kleinen Verschlag hinter seinem Haus. Ich hatte noch etwas von dem Gold, mit dem Murtach und ich Geld der fremden Welt eingetauscht hatten, aber die meiste Zeit lebte ich von der Jagd und von Nahrungsmitteln, die ich aus den Gärten stahl. Ich lebte wie ein wildes Tier.« Bicker schwieg nachdenklich und nahm einen kräftigen Schluck Bier. »Ich hatte diese andere Tür zwischen den Welten zufällig entdeckt, als ich einem dunkelhaarigen Mädchen folgte, das die Insel durchstreifte. Ich sah, wie sie durch das Tor verschwand. Sie gehörte nicht zu dieser fremden Welt — das war mir sofort klar. Sie war wild wie eine Robbe und ließ mich nicht in ihre Nähe. Ich fragte mich, ob sie eine 192
Angehörige unseres Volkes sei, die versehentlich in die Welt der Insel geraten war und ihren Verstand verloren hatte, aber sie hatte etwas an sich, das mich daran zweifeln ließ. Sie schien etwas zu suchen — oder jemanden. Ihre Augbrauen waren in der Mitte zusammengewachsen. Das seltsame ist, daß ich sie kurz darauf wiedersah. Ein paar Tage, nachdem sie durch das Tor verschwunden war, tauchte sie wieder auf. Sie hielt sich in einem alten, verlassenen Anwesen in einem Tal der Insel auf, das die Bewohner Glenbrittle nennen. Sie konnte in der kurzen Zeit nicht in Minginish von dem einen Tor zum anderen gelangt sein; sie kennt also noch andere Tore, oder sie kann sie in beide Richtungen passieren, nicht nur in eine, so wie wir. Dort habe ich sie zum letzten Mal gesehen. Danach dauerte es nicht mehr sehr lange, bis Michael Riven in sein Haus zurückkehrte und ich ihn hierher locken konnte. Und so steht er jetzt vor euch — nicht gänzlich unwillig, wie ich hoffe.« Bicker schwieg und sah Riven an, aber der gab den Blick nicht zurück. Glenbrittle. Sie war in ihrem alten Zuhause gewesen, dort wo wir uns zum ersten Mal begegnet sind. Aber dort ist niemand mehr, der sie kennt. Guillamon nickte. »Du hast richtig gehandelt, Bicker, wenn auch nur die Hälfte von dem stimmt, was du und Murtach über diesen 193
Mann angedeutet habt. Doch erzähl weiter: Was geschah nach der Rückkehr nach Minginish? Wie kamen Unish und Ratagan zu ihren Wunden?« »Das kann ich dir sagen, und noch mehr«, sagte Murtach plötzlich. Seine Augen waren ebenso blau wie die seines Vaters. »Ratagan und ich machten uns vor zwei Wochen zusammen mit den beiden Myrcanern auf den Weg zum Tor, um Bicker dort zu erwarten. Ich hatte eigentlich direkt am Tor warten wollen, aber bevor wir uns trennten, hatte Bicker durchgesetzt, daß wir erst nach einem Tagesmarsch mit ihm zusammentreffen würden. So hatte er etwas Zeit, Michael Riven klarzumachen, was mit ihm geschehen war, bevor noch mehr fremde Gesichter ihn verwirrten.« Er grinste an dieser Stelle, aber Riven blickte nur finster vor sich hin. »Wißt ihr, für Riven bin ich gleichzeitig ein Fremder und ein alter Bekannter. Im Süden kannte er mich als einen wirrköpfigen Greis; ich hatte mir erlaubt, in der Heilstätte, wo er wohnte, so aufzutreten. Aber Michael Riven kennt mich auch noch woanders her — so wie er uns vielleicht alle kennt, und ganz Minginish.« »Genug jetzt davon«, sagte Guillamon, und sein Sohn verbeugte sich leicht vor ihm. »Die Geschichte vom Rest meines Ausflugs in die fremde Welt kennt ihr«, sagte er. »Sie ist nicht sonderlich erfreulich. Die Luft ist dort verschmutzt, und das Wasser ist schal, der 194
Boden ist mit Teer und behauenen Steinen bedeckt. Über den Städten hängen Schmutzwolken, und ihre Flüsse ersticken im Unrat. Ich möchte nie wieder dorthin zurück. Ich und Fife und Drum ...« Die beiden Wölfe spitzten die Ohren und sahen ihr Herrchen forschend an. »Hatten alle Mühe, irgendwie unser Leben zu fristen, trotz des Goldes, das ich bei mir hatte. Sogar die Gastfreundschaft hat in dieser Welt ihren Preis, und Reisenden begegnet man mit Mißtrauen. Mehrmals hätten mich fast die Schutztruppen in dieser Welt aufgegriffen. Jedesmal änderte ich mein Aussehen und stahl mich davon. Wie es aussieht, gibt es keine Magie in dieser Welt. Außer in den Geschichten, die man sich dort erzählt. Und das war meine kurze Geschichte.« Er trank von seinem Bier und versetzte Ratagan, der zu dösen schien, einen leichten Stoß. Der große Mann schreckte auf. »Ich sollte euch dann wohl von unseren letzten Abenteuern berichten.« Er blinzelte und blickte für einen Moment bedauernd auf seinen leeren Krug. »Es gibt nicht viel zu erzählen, außer, daß es richtig war, daß wir Ord und Unish mitgenommen haben. Auf unserem Weg in die Berge sahen wir viele Wölfe, aber sie hielten sich von uns fern. Wir bemerkten auch einzelne Grypeshs. Wir machten die Hälfte eines kleinen Rudels nieder, das uns folgte, als wir durch den Schnee der ersten Hügel marschierten. Die übrigen flohen. In dem 195
Tauwetter, das dem Schnee folgte, kamen wir besser voran. Dennoch hätten wir Pferde gebrauchen können. Am ausgemachten Platz warteten wir auf Bicker, und einmal in seinem Leben war der Bursche halbwegs pünktlich. Wir brachen nach Norden auf — eine leichte Wanderung bei gutem Wetter —, aber in Scarall griff uns ein Gogwolf an. Er zerfleischte mein Bein und brach Unish den Arm, bevor wir ihn vertreiben konnten. Den Rest kennt ihr.« Udairn schüttelte den Kopf. »Gogwölfe so nah bei Ralarth. Das ist neu. Es gefällt mir nicht. Die Schutztruppen müssen informiert werden.« »Was hat sich ereignet, während ich weg war?« fragte Bicker. Er sah seinen Vater an, doch von dem kam keine Antwort. »Nichts Gutes«, sagte Guillamon leichthin. »Wie Ratagan erwähnt hat, sind Grypeshs in der Nähe von Ralarth aufgetaucht, die Herden können nicht mehr allein gelassen werden. Die Schutztruppen haben alle Hände voll zu tun.« Er nickte Udairn zu, der tief seufzte. »Sechsundzwanzig Männer und acht Myrcaner, die zum Großteil um den Rorim herum postiert sind, können nicht das ganze Tal und die angrenzenden Hügel kontrollieren. Dieser Winter zur Unzeit hat die gesamte Ernte zerstört. Das Tauwetter kam zu spät. Die Männer, die auf den Feldern keine Arbeit mehr haben, werden an Waffen ausgebildet. Dunan kümmert sich darum. Ich möchte die Schutztruppen verstärken und habe Luib und 196
Druim von den Myrcanern mit der Ausbildung beauftragt, aber davon werden wir nicht so bald profitieren. Erprobte Kämpfer fallen nicht vom Himmel, im Gegensatz zu den Problemen, die unser Dale bedrohen.« Dann sprach der Warbutt. Er sah Bicker dabei an. »Während du unterwegs warst, haben wir Dutzende von Leuten durch die Bestien verloren. Wölfe sind bis an unsere Außenmauer herangekommen. Wir sind eine Insel geworden. In ein paar Monaten wird Hunger herrschen. Du wirst hier mehr gebraucht, als an irgendeinem Ort jenseits des Tors.« Bicker errötete jäh. »Zweifelst du an der Wichtigkeit meiner Mission?« »Ich muß erst von ihrem Wert überzeugt werden«, anwortete der alte Mann ruhig. Er sah Riven an. Jetzt war es an Riven zu erröten. Er betrachtete den Mann auf dem hohen Stuhl. Bis zu diesem Augenblick war er von den Erzählungen Bickers, Ratagans und Murtachs gefesselt gewesen, hatte unwägbare Dinge erwogen. Zu seinem Schrecken war ihm klar geworden, in welche Situation Bicker ihn gebracht hatte — und was seine Rolle hier sein könnte. Dazu nagte unterbewußt die Vermutung an ihm, daß Jenny lebte und sich höchstwahrscheinlich hier in Minginish befand. Wenn er daran dachte, wäre er am liebsten aus dieser Halle gestürmt, aus dem Rorim hinaus und in die von Wölfen durchstreiften 197
Hügel, um seine Frau zu finden. Dann sah er wieder ihre Augen vor sich, damals in der Hütte — leer und verängstigt. Er hätte vor Verzweiflung heulen können. Und jetzt sah ihn dieser alte Mann, den er in seinen Büchern als hochtrabenden Reaktionär beschrieben hatte, geringschätzig an. »Verdammt, das ist wirklich der Gipfel«, rief er aufgebracht. »Was glaubt ihr eigentlich, wer ihr seid? Ihr holt mich aus meiner Welt, aus meinem Leben und schleppt mich in dieses mittelalterliche Disneyland, erzählt mir wüste Geschichten von Tod und Untergang, bringt mich beinahe um mit einem Hund, der aus Holz ist, und dann setzt ihr euch vor mich hin und redet über mich, als sei ich gar nicht hier. Nun, ich bin hier — hier in eurer wundervollen, verdammten Welt —, und wenn ich euch helfen soll, schön und gut; aber bevor ich das tue, hört ihr gefälligst auf, mich wie ein Kind zu behandeln, das nicht weiß, was vor sich geht. Ich habe euch schließlich erschaffen!« Er brach ab. »Ich habe euch erschaffen ...« wiederholte er heiser. Es war totenstill. Fife und Drum richteten aufmerksam ihre Ohren auf. Schließlich brach der Warbutt das Schweigen. »So«, sagte er, noch immer in dem gleichen ruhigen Ton. »Er ist also doch nicht stumm. Das freut mich.« Die alten hellen Augen ruhten auf Riven. »Wenn wir dich beleidigt haben, bitten wir aufrichtig um Verzeihung. 198
Gastfreundschaft und Höflichkeit, so fürchte ich, sind im Rorim nicht mehr das, was sie einmal waren. Ich sehe, daß du ein Mann bist, obwohl du nicht aus Minginish kommst. Nimm an unseren Beratungen teil. Unser Heim sei das deine.« Riven nickte schwach. »Aber deine Worte bestätigen, was Bicker und Murtach uns bereits erzählt haben.« »Und was ist das?« fuhr Riven wieder auf. Er war noch nicht besänftigt. Der Warbutt deutet mit dem Kopf auf Bicker, und der leerte seinen Bierhumpen. »Ich werde noch einmal über dich sprechen, als seist du nicht hier«, sagte er mit einem schiefen Lächeln. Dann wendete er sich von Riven ab und blickte auf den Boden. Seine Hände spielten mit dem leeren Krug. »Wie hier jeder weiß, ist Riven ein Geschichtenerzähler. In seiner Welt schreibt er Geschichten nieder, die er sich ausdenkt, damit andere sie lesen können. In seiner Welt leben so viele Menschen, daß er es nicht so machen kann wie unsere Erzähler, die von Ort zu Ort ziehen und ihre Sagen gegen eine Übernachtung und ein Essen vortragen. Er schreibt sie auf Papier — Papier ist weit verbreitet und billig dort drüben —, so daß alle sie erfahren können, während er bleibt, wo er ist, und sich neue Geschichten ausdenkt.« Bicker sah zu seinem Vater auf. »Murtach und ich haben die beiden Bände seiner Erzählung gelesen, und sie handeln von 199
Minginish. Er beschreibt das Land — die Berge und die Dales, die Städte und das Meer. Er kennt die Eisriesen und die Grypeshs, die Schutztruppen und die Myrcaner. Und er kennt auch die Leute. Wir, die hier sitzen, kommen in Rivens Geschichten vor. Ratagans betrunkene Ausschweifungen ...« An dieser Stelle lachte der große Mann polternd los, und alle lächelten. »Aber Riven war nie in Minginish gewesen, als er diese Geschichten schrieb. Sie entstammen seiner Fantasie.« Bicker schüttelte den Kopf. Er war jetzt wieder ernst. »Und das ist noch nicht alles. Ihr wißt, wie sich die erste Tür öffnete, und wann das geschah; wie es mit Ereignissen im Leben des Geschichtenerzählers verbunden ist. Und ihr wißt auch, was Minginish danach widerfuhr — der Schnee und die Bestien aus den Bergen. Jetzt denkt einmal nach. Plötzlich setzte das Tauwetter ein. Wann war das, Ratagan?« Der bärtige Riese zog die Augenbrauen hoch. »Es begann zwei Tage, bevor wir uns südlich von Scarall getroffen haben. Es setzte ungewöhnlich schnell ein. Der Schnee verschwand so schnell, wie er gekommen war, im Verlaufe eines einzigen Nachmittags.« Bicker nickte grimmig. »Zur gleichen Zeit verließen wir Rivens Haus auf der Insel und machten uns auf den Weg die Küste entlang.« »Was willst du damit sagen?« fragte Riven. »Nur dies: Daß Minginishs Winter in dem Augenblick endete, als du das Haus verlassen 200
hast, in dem du mit deiner Frau gewohnt hast. Die erste frohe Botschaft in diesem Land, seit sie vor acht Monaten gestorben ist. Du bist es, Michael Riven, es sind dein Bewußtsein, deine Gefühle, die das Schicksal unserer Welt bestimmen.« Eine lautstarke Diskussion brach nach diesen Worten los, in die sich sogar der Warbutt einmischte. Das sei absurd, protestierten sie. Ein Zufall. Wie konnte so etwas sein? Dann durchschnitt Rivens Stimme den Raum. »Was ist mit meiner Frau?« rief er. Der Lärm erstarb. »Sie ist tot. Ich habe sie sterben sehen. Und jetzt läuft sie wieder herum. Erklär das, Bicker!« Der dunkelhaarige Mann spreizte die Hände. »Das kann ich nicht«, sagte er. »Ich glaube nicht an Geister«, sagte Riven wild. »Glaubst du an Magie?« fragte Murtach mit eigenartiger Stimme. Und als Riven ihn ansah, bemerkte er, daß die Augen des kleinen Mannes gelb im letzten Tageslicht funkelten, das durch die hohen Fenster in die Halle fiel. »Genug davon«, sagte Guillamon. Er wirkte verärgert. »Unser Gespräch beginnt sich im Kreise zu drehen.« »In der Tat«, stimmte der Warbutt zu. Er sah müde und erschöpft aus. Dunkle Schatten hatten sich über sein Gesicht gelegt. Draußen 201
ging der Tag zur Neige. Über den östlichen Hügeln erhob sich die Nacht. »Ich möchte eine Weile mit meinen Hauptleuten und meinem Sohn reden«, sagte er. »Die anderen können gehen. Der Steward wird euch unterbringen. Heute nacht schlaft ihr alle in der Manse.« Sie standen schweigend auf. Riven fühlte sich überflüssig und fehl am Platz. Bickers Worte hallten in seinen Ohren. Murtach nahm Ratagan am Arm und half ihm hinaus, und Riven folgte ihnen langsam. Er wäre gerne geblieben und hätte weiter geredet, um vielleicht irgendeine Logik in diesem Wahnsinn zu erkennen. Aber er war hier ein Außenseiter, der keine Rechte hatte. Und wenn Bicker recht hatte, war er dabei, diese Welt zu zerstören.
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ACHTES KAPITEL Gvvion, der Steward, war ein kleiner stämmiger Mann mit einem gutmütigen Gesicht. In den Tagträumen, die Riven in Beechfield gehabt hatte, war er der Besitzer einer Schenke gewesen; auch in Rivens Büchern tauchte er als Nebenfigur auf. Hier, in seiner Welt, hatte er eine Frau, die Ygelda hieß, eine große braungebrannte Frau mit einer rundlichen, mütterlichen Figur. Ihr dichtes und langes kupferfarbenes Haar hatte sie zu einem Knoten zusammengesteckt. Sie stemmte die Hände in die Hüften und warf Riven einen musternden Blick zu. Er fühlte sich wie ein Schuljunge, der bei einem Streich ertappt wurde. Dann befahl sie ihrem Mann, ihn in das ruhigste Zimmer zu bringen, das er finden konnte, denn »der arme Mann sieht fix und fertig aus«. Gwion gehorchte ohne Widerrede, mit einem einfältigen Lächeln; ein Lächeln, das Riven aus seinen Träumen kannte. Er starrte den Steward fast so eindringlich an, wie er selbst angestarrt wurde, als er zu seinem Raum geführt wurde. Es stellte sich heraus, daß man ihm ein kleines Gästezimmer im ersten Stock gegeben hatte, dessen Fenster nach Norden hinausging. Die gemauerten Wände waren zum Teil mit 203
schwarzem Holz verkleidet. Es gab ein Bett mit prunkvollen Decken und einen Tisch, auf dem eine Waschschüssel, ein großer Bierkrug und eine Schale mit frischem Obst standen. Auf dem Bett lag auch neue Kleidung. Nach den Nächten unter freiem Himmel war es der pure Luxus. Riven schenkte sich etwas von dem Bier ein. Er nahm einige Schlucke und sah aus dem Fenster hinaus in das ummauerte Refugium und das Dale dahinter. Der Sonnenuntergang färbte den Himmel rosa- und orangefarben, und im Zimmer wurde es langsam dunkel. Riven fragte sich, ob man von ihm erwartete, daß er mit der Sonne zu Bett ginge, als es an der Tür klopfte und Gwion mit zwei Kerzenständern und einer Handvoll weißer Kerzen erschien. »Ich habe heute so viel zu tun, daß ich es beinahe vergessen hätte«, sagte er atemlos. »Es tut mir leid; wie weit sind wir eigentlich schon gekommen? Gäste alleine im Dunkeln sitzen zu lassen! Was müßt Ihr von uns denken?« Er steckte die Kerzen in die Leuchter und holte einen Feuerstein und ein Eisenstück sowie ein kleines Metallkästchen aus der Tasche. »Hier.« Er sah Riven an, der gedankenverloren von seinem Bier trank. »Nun Sir, gibt es noch etwas, das ich für Euch tun kann? Ich kenne mich nicht damit aus, was ein fremder Ritter für sich brauchen könnte.« Riven mußte lächeln. »Nein, es ist alles in Ordnung. Ich bin bestens versorgt.« 204
»Nun, wir versuchen unser Bestes«, sagte Gwion, der sich offensichtlich über das Lob freute. Er ging wieder zur Tür. »Ich wünsche Euch eine angenehme Nacht, Sir«, sagte er und war verschwunden. Riven lächelte immer noch vor sich hin, während es im Zimmer immer dunkler wurde und draußen im Dale die ersten Lichter zu sehen waren. Er trank noch mehr Bier. Er hatte das Bedürfnis, sich gründlich zu waschen und frische Socken anzuziehen, aber jetzt, da diese Dinge möglich waren, hatte es keine besondere Eile mehr damit. Zu viele Dinge wirbelten ihm durch den Kopf, wie Schlamm in einem aufgewühlten Fluß, und er wollte erst einmal in der Ruhe des Raumes seine Gedanken ordnen. Er trank seinen Humpen aus, überzeugte sich davon, daß der große Krug noch nicht leer war, und zog sich dann aus. Jetzt, da die zwingende Notwendigkeit des Weitermarschierens nicht mehr gegeben war, spürte er den Schmerz in seinen Beinen wieder deutlicher. Aber er war froh darüber, sich nur mit dem körperlichen Schmerz beschäftigen zu müssen, den Bauch voller Bier, und die Aussicht auf ein weiches Bett; froh, daß es ihm gelang, sich für einen Augenblick von seiner Grübelei loszureißen. Das Wasser in der Schüssel war lauwarm, und er wusch sich ausgiebig von Kopf bis Fuß. Die nassen Haare hingen ihm ins Gesicht, als er die Kleidungsstücke untersuchte, die man 205
ihm zurechtgelegt hatte. Er hatte den Verdacht, daß sie Bicker gehörten, denn der dunkelhaarige Mann hatte annähernd die gleiche Figur wie er selbst. Ein Paar Wildlederhosen und ein kragenloses Leinenhemd mit weiten Ärmeln. Er streifte die Kleidung über und machte sich dann pfeifend daran, die Kerzen anzuzünden. Das kleine Kästchen enthielt einige Stoffetzen, von denen ein Spiritusgeruch ausging, und er schlug vorsichtig ein paar Funken auf sie. Sie fingen sofort Feuer, und er entzündete eine Kerze und löschte dann den glimmenden Zunder, indem er das Kästchen schloß. Sofort wurde die Welt vor dem Fenster unsichtbar, gab es nur noch den Raum im Kerzenlicht und ihn selbst. Er zündete drei Kerzen an, stellte sie an verschiedenen Stellen im Raum auf und legte sich dann auf das Bett, das Bier an seiner Seite. Die Kerzen waren erst einen Zentimeter heruntergebrannt, als ein lautes Pochen ihn aus seinem Dösen weckte. Er schreckte hoch, sprang aus dem Bett und öffnete die Tür. Vor ihm standen Murtach und Ratagan mit Flaschen und Gläsern in der Hand. »Wir haben uns gesagt, daß wir dich an deinem ersten Tag in Ralarth Rorim nicht gut allein lassen können«, sagte Murtach, als er sie hineinließ. Wie zwei schwarze Schatten glitten Fife und Drum in den Raum; das Kerzenlicht schimmerte in ihren Augen. 206
»Und wir sind nicht mit leeren Händen gekommen«, fügte Ratagan hinzu. Er hatte einen roten Kopf und stützte sich schwer auf einen Stock, aber seine Augen leuchteten. Sie stellten die Flaschen und Gläser auf den Tisch, und Murtach machte sich daran, den Wein zu entkorken. »Laßt die großen Herren unten über wichtige Dinge reden«, sagte er. »Wir haben Besseres zu tun, zum Beispiel diesen zwanzig Jahre alten Drinan zu kosten, den Gwion wahrscheinlich nicht einmal vermissen wird.« Geräuschvoll glitt der Korken aus der Flasche, und er roch an dem Flaschenhals und schloß dann die Augen. »Nektar.« Er füllte drei Gläser mit der im Kerzenlicht rubinrot schimmernden Flüssigkeit. »Man sagt, ein Wein muß lange atmen«, sagte er und reichte jedem ein Glas. »Ich glaube aber, der arme Kerl hat schon lange genug geruht und verdient es, sofort von der Warterei erlöst zu werden. Auf das Feuer eurer Lenden! Möget ihr euch nie die Finger daran verbrennen!« Er trank einen mächtigen Schluck. Riven folgte seinem Beispiel. Der Wein war süß und fruchtig, aber sehr stark. Für einen Moment verschwammen die Kerzen vor seinen Augen, und seine Kehle brannte. »Nun, Michael Riven«, sagte Murtach mit plötzlichem Ernst. »Was hältst du von Ralarth Rorim — und überhaupt von Minginish?« »Das ist keine leichte Frage.« Riven nahm noch einen Schluck von dem Wein. Er war sich 207
nicht sicher, ob er sich mit dem Gestaltenwandler über dieses Thema unterhalten wollte, aber dieser stützte die Ellbogen auf die Knie und sprach schon weiter. »Als ich in deiner Welt war, sah ich deine Bücher in den Schaufenstern. Ich kaufte sie und las sie — die Schrift deiner Welt ist kein Problem für jemanden von hier, wenn er erst einmal durch das Tor geschritten ist — , und ich war erschüttert. Ich hatte Angst, Mr. Riven, weil ich in ihnen vorkam, genau wie Ratagan hier und Bicker und der Warbutt und der ganze Rorim. Und weißt du — erinnerst du dich daran, wie die Geschichte in deinen Büchern verlief?« Riven sah ihm nicht in die Augen. »Ich erinnere mich daran.« Murtach nickte. »Natürlich tust du das. Du hast sie geschrieben. Du bist der Geschichtenerzähler.« »Worum geht es in der Geschichte?« unterbrach Ratagan brüsk. Er klang ungeduldig. Murtach lächelte. »Die Bücher sind eine Chronik der Geschichte dieses Landes, seiner Kriege und Intrigen, seiner Schlachten und Streitigkeiten — und seines Winters. Die Geschichte spielt im Winter, einem Winter, der das Land zerstört und die Bestien aus den Bergen treibt, bis drei Helden sich auf den Weg machen, nach Norden in die wüstesten Winterstürme ziehen, um ihre Welt zu retten.« 208
»Und weiter?« fragte Ratagan mit hochgezogenen Augenbrauen. »Und nichts, mein biersaufender Freund. Die Geschichte hat kein Ende. Es fehlt der dritte Teil mit der Erlösung — oder dem Untergang der Welt.« Murtach schwieg. Ein diabolisches Grinsen glitt über sein Gesicht. »Es sind drei Helden. Ratagan, Bicker und ich.« Ratagan erstarrte mitten in der Handbewegung. Er sah Riven an. »Ach so ist das«, sagte er langsam. Riven stürzte seinen Wein hinunter. Feuer stieg ihm in den Kopf, aber er streckte das Glas zum Auffüllen von sich, und Ratagan folgte dieser Aufforderung. Der große Mann sah besorgt aus, sagte aber nichts mehr. »Also«, fuhr Murtach fort. »Vielleicht verstehst du jetzt besser, warum wir dich nach Minginish gebracht haben, Michael Riven. Wir müssen herausfinden, wie du und deine Geschichten mit diesem Land verbunden sind. In der Halle sagtest du, daß du uns erschaffen hast. Vielleicht stimmt das sogar.« »Das ist absurd«, fuhr Riven auf. Der kleine Mann sah ihn ruhig an. »Du sitzt hier zusammen mit Leuten, von denen du dachtest, daß es sie nur in deiner Fantasie gibt, in einer Welt, die nach den Gesetzen deiner Welt gar nicht existieren dürfte. Wir sollten mit dem Wort >absurd< vorsichtig sein.« Murtach lächelte wieder, aber das Lächeln erreichte seine Augen nicht. 209
»Ich bin wie Bicker der Überzeugung, daß der Dreh- und Angelpunkt in dieser Sache der Tod deiner Frau ist. Er löste die Veränderungen in Minginish aus, die denen in deinen Büchern entsprechen. Er öffnete das erste Tor und riß damit ein Loch in die Mauer zwischen unserer Welt und der euren.« »Was war vorher?« fragte Riven. »Was ist mit der Geschichte eueres Landes?« »Sie ist, wie du es beschrieben hast«, gab Murtach zu. »Einige Dinge sind anders — zum Beispiel der Name Minginish — , aber zum größten Teil hast du diese Welt, ihr Volk und ihre historischen Begebenheiten exakt wiedergegeben.« »Toll«, murmelte Riven. »Wie war deine Frau, Michael Riven?« Es war ihm, als hätte er diese Frage schon einmal gehört, an irgendeinem anderen Ort. Er schüttelte den Kopf. Zu diesem Thema würde er jetzt nicht kommen. Nicht heute nacht. »Vergiß es.« Murtach sah ihn mit einem nüchternen Blick an. »Sie könnte hier sein.« »Sie ist tot!« stieß Riven hervor. Er trank von dem Wein. Die Kerzen funkelten wie gelbe Sterne, vor dem Fenster hing die Dunkelheit wie eine schwarze Wolke. Jenny war jetzt irgendwo da draußen, in der Finsternis. Er spürte, wie Trauer und Wut wieder in ihm hochstiegen. Eine Jenny, die ihn nicht erkannt hatte, die in der Hütte vor ihm davongelaufen war. Aber trotz allem seine Frau. 210
»Ich stimme auch Bickers Beobachtung zu, daß unser unnatürlicher Winter in dem Moment verschwand, als du dein altes Zuhause verlassen — und damit deine Erinnerungen hinter dir gelassen hast. Wer weiß, vielleicht hast du eine gewisse Zufriedenheit gespürt. So sieht es aus. Deine Stimmung bessert sich, und plötzlich scheint bei uns die Sonne. Aber unsere Ernte ist dennoch verloren. Wir werden im nächsten Winter hungern. Und noch immer terrorisieren die Bestien das Land, töten nach Belieben. Wenn es zur normalen Zeit kalt wird — und nicht vielleicht schon wieder früher —, werden die Alten und die Kinder als erste sterben. Zumindest für die Dales ist der Schaden schon jetzt irreparabel.« Riven verzog das Gesicht. »Was erwartet ihr von mir? Ich habe nicht anderes getan, als ein paar Geschichten zu schreiben, und dann starb meine Frau. Ich kann nichts für meine Gefühle. Ich kann nichts ändern ... es ist einfach so schwer zu glauben«, schloß er klagend. »Schwer zu glauben!« wiederholte Murtach. »Du sitzt doch hier mitten drin! Wie kannst du es nicht glauben?« »Weil es wie etwas aus einem Buch ist.« »Es ist etwas aus einem Buch — deinem Buch! Du schreibst Geschichten, und hier sterben Menschen!« Sie sahen einander an, Murtachs Wölfe angespannt und aufmerksam mit 211
aufgerichteten Ohren zwischen sich. Dann beendete Ratagans dröhnende Stimme das Schweigen. »Mein Gott, in meinem Bauch brennt es wie Feuer. Ganz schön feurig, das Weinchen. Vielleicht sollte ich besser bei Bier bleiben.« Er sah Murtach und Riven an und grinste. »Ich habe euch unterbrochen, nicht wahr?« Murtach lachte und klopfte ihm auf die Schulter. »Betrunken bist du klüger als nüchtern, du großer Bär.« Dann stand er auf und verbeugte sich förmlich vor Riven. »Wie der Warbutt schon sagte, lassen Umgangsformen und Höflichkeit zur Zeit zu wünschen übrig. Du bist hier Gast. Verzeih mir. Ich habe mich wie ein rüpelhafter Trunkenbold benommen, dir so zuzusetzen. Ich werde kein Wort mehr über ernste Dinge sagen — es wäre zu schade um den Wein.« Er setzte sich wieder und leerte die erste Flasche. »Du kannst mir Fragen stellen, ich werde versuchen, sie zu beantworten. Ich bin sicher, daß du vieles über den Rorim und Minginish wissen möchtest.« Riven sah ihn für einen Moment mißtrauisch an, aber der kleine Mann schien es ernst zu meinen. Er trank einen Schluck. »Der Rorim — es gibt noch mehr dieser Art, nicht wahr?« Murtach nickte. »Unsere nächsten Nachbarn sind Carnach Rorim im Osten, unter dem Befehl von Mugeary, und Garrafad im Norden unter Bragad. Carnach liegt weiter in den 212
Hügeln und hat noch mehr als wir unter den Raubzügen der Bestien gelitten; besonders unter den Riesen. Garrafad hat mehr Glück gehabt. Bragad hat sein Volk in Milizen organisiert und führt regelmäßige Patrouillen in seinem gesamten Dale durch. Er hat erbitterte Kämpfe mit einer beträchtlichen Zahl von Wölfen und Grypeshs, den Rattenschweinen, ausgefochten. Wir haben jedoch nicht viel Kontakt zu ihm. Er ist ein rätselhafter Mann, den niemand durchschaut. Ein großer Redner. Ich traue ihm nicht. Natürlich gibt es noch mehr Rorims, weiter im Osten und im Westen. Tulm und Gruamach, Pollagan und Moonen. Alle haben die gleichen Probleme. Wir haben nicht genug trainierte Krieger, um die Dales und die angrenzenden Hügel ausreichend zu schützen.« »Das überrascht mich nicht. Mit zwei Dutzend Männern kann man nicht viel ausrichten.« »Die Schutztruppen werden von den Myrcanern ausgebildet«, warf Ratagan ein. Er berührte die blaue Schärpe, die er trug. »Und dann sind da noch die Myrcaner selbst, hier in Ralarth sind es acht. Jeder von ihnen ersetzt eine Kompanie von irgendwelchen anderen Soldaten. Früher haben wir in Notzeiten die Dienste der Freien Kompanien in Anspruch genommen — Söldnerverbänden, die ihre Schwerter demjenigen zur Verfügung stellen, der am meisten bezahlt. Aber seit fast einem Jahr sind hier im Süden keine mehr 213
aufgetaucht. Es wird so sein, daß die Städte sie alle unter Vertrag genommen haben, um die Lehen, die vor ihren Mauern liegen, zu schützen. Bragad hat vorgeschlagen, daß unsere Rorims ihre Kräfte vereinigen und einen Feldzug in die Berge unternehmen sollen, um möglichst viele der Angreifer niederzumachen; aber das ist keine Lösung.« »Warum nicht?« fragte Riven. »Mir kommt das ganz vernünftig vor.« »Das ist es nicht, aus mehreren Gründen«, sagte Murtach. »Zum einen stellen diese Tiere sich nicht zum Kampf wie eine organisierte Armee, obwohl sie sich manchmal wie eine verhalten. Zum zweiten besteht Bragad darauf, daß eine solche zusammengefaßte Streitmacht unter seinem Kommando zu stehen hat, da er durch sein Milizsystem Erfahrung in der Führung größerer Verbände hat. Und zum dritten hat unser Freund, der Herr von Garrafad, schon immer nach mehr Einfluß und Macht gestrebt.« »Was wollt ihr denn sonst unternehmen?« Murtach streichelte Fifes Ohren. »Wir werden unser eigenes Volk bis zu einem gewissen Grad organisieren. Die Schutztruppen verstärken, wie der Warbutt schon sagte. Viel mehr können wir nicht tun.« Außer mit mir zu rechnen, dachte Riven. Er fragte sich, ob er hier, in seiner eigenen Geschichte, nur eine Statistenrolle zu spielen hatte. Nicht, wenn ich es verhindern kann! 214
Aber es war alles so seltsam. So verdammt unwirklich, hier zu sitzen und Wein zu trinken, mit ein paar Wölfen zu Füßen. In dieser fremden Kleidung das Hereinbrechen der Nacht über Hügeln zu beobachten, die nichts mit der Welt zu tun hatten, die er die seine nannte. Er spürte ein leichtes Bedauern darüber, daß seine Trauer alles überlagerte, und verfluchte sich sofort dafür. Wie konnte er hier sitzen und dies alles genießen, versuchen, sich hier einzufügen, während ... Nein. Schluß damit. Sie tranken noch eine Weile, bis ihre Zungen schwerer wurden und die Kerzen weit hinuntergebrannt waren. Aber dann war der Wein ausgetrunken. Es war Ratagan, der sich den letzten Schluck einschenkte und ihn hinuntergoß. »Es ist Zeit zu gehen«, sagte Murtach und erhob sich schwankend. Dann grinste er. »Ich könnte etwas frische Luft gebrauchen.« Die drei gingen hinüber an das Fenster. Ratagan summte fröhlich vor sich hin und stützte sich auf Rivens Schulter. Das Fenster schwang mit quietschenden Scharnieren auf, und die kühle Nachtluft, die in das Zimmer drang, ernüchterte sie etwas. Vor ihnen breitete sich Ralarth unter dem Sternenhimmel aus. Im Dale flackerten vereinzelt Lichter, und dahinter lagen die schwarzen Schatten der Hügel. Der Ruf einer Eule ertönte irgendwo in der Nähe, und sie konnten das Plätschern des Flüßchens in der 215
Stille der Nacht hören. In der Ferne blökten Schafe, und ein Hund bellte ein paar Mal und verstummte wieder. Ratagan holte tief Luft, und Murtach lehnte sich auf das Fensterbrett und starrte in die Nacht. Leise sagte er: »Ich liebe diesen Ort.« Dann traten sie zurück, wünschten Riven eine gute Nacht und einen besseren Morgen und gingen. Geräuschlos schlossen sie die Türe hinter sich. Es regnete, als Riven erwachte. Das Fenster war offen, und es war feucht im Zimmer. Für einen Augenblick lag er ruhig da und fragte sich, wo, zum Teufel, er war; dann stand er auf, schüttelte sich vor Kälte und schloß das Fenster. Er ging wieder ins Bett und überlegte, wann es Frühstück geben würde. Zu seiner Erleichterung hatte er einen klaren Kopf. Er trank etwas Wasser aus dem Krug neben dem Bett und lauschte dem Regen. Er packte das rauhe Leinen des Bettzeugs und spürte den groben Stoff an seinen Händen, auf seinem Rücken und an der Wange. Er spürte die kalte Luft im Raum; seine Füße prickelten noch von der Berührung mit dem kalten Steinfußboden. Das alles hier ist Wirklichkeit, so wirklich wie ich selbst. Ich bin mitten drin, atme, spüre und schmecke es. Aber wie kann das sein? Erinnerungen an physikalische Grundsätze wanderten durch seinen Kopf, aber keiner von 216
ihnen bot auch nur annähernd eine Erklärung. Er war nicht in einem lebensechten Theaterstück. Diese Leute waren sie selbst. Aus irgendeinem Grund fiel ihm Gwion, der Steward, ein, und er fand eine absurde Freude daran, sich den Romancharakter wieder ins Gedächtnis zu rufen. Er war genau so. Genau so, bei Gott, bis hin zu dem umständlichen Gehabe und dem strahlenden Lächeln. Ich kenne diese Leute. Noch immer lag er im Bett. Seine Füße waren wieder warm, und er atmete die herrliche, unglaublich klare Luft ein. Ein Lächeln glitt über sein Gesicht, und für einen Moment sah er wie ein kleiner Junge aus. Kurz darauf klopfte es an der Tür, und ein junges Mädchen mit einem Tablett betrat das Zimmer. Sie hielt den Blick auf das Tablett gerichtet, sah ihn aber kurz an, als sie hereinkam, und wünschte ihm einen guten Morgen. Riven erwiderte den Gruß; wieder war er sich seines vernarbten Gesichts bewußt. Sie stellte das Tablett auf den Tisch und begann, das Frühstück herzurichten. »Ich heiße Madra«, sagte sie schüchtern. »Ratagan bat mich, Euch Euer Frühstück zu bringen, Sir, und zu fragen ...« Sie mußte lächeln. »... ob Euer Magen schon wieder einsatzbereit ist. Er sagte, daß Ihr ihn in der Halle treffen könnt, wenn Ihr herunterkommen möchtet.« Sie richtete sich auf. »Ihr eßt besser, bevor es kalt 217
wird.« Dann ging sie hinaus und schloß die Tür hinter sich. Riven stand auf und zog sich schnell an. Er schlang das heiße Porridge herunter, trank die Buttermilch hastig aus und verließ dann das Zimmer. Er fragte sich, was Bicker machte; dann fiel ihm Bickers brennender Blick in der vergangenen Nacht wieder ein. »Es ist etwas aus einem Buch — deinem Buch.« Mein Buch. Vielleicht. Aber die Sache ist noch viel komplizierter. Die Manse war ein Irrgarten von holzvertäfelten Korridoren, plötzlichen Fensteröffnungen, Treppen und Durchgängen, Türen und Alkoven. Riven begegnete zahlreichen Bediensteten auf seinem Weg zu der Halle — zumindest hielt er sie für Bedienstete. Und einmal kam er an einem Mitglied der Schutztruppe mit blauer Schärpe vorbei, das so in seine Gedanken verloren war, daß es ihn nicht einmal bemerkte. Ein lauter Willkommensruf zeigte ihm, daß er schließlich am rechten Ort angekommen war. Die Halle war leer, bis auf Ratagan und eine kleine, dürre Frau. Sie trug kostbare dunkle Wollkleidung und viele Ringe an den Fingern. Der große Mann saß neben dem Kamin, einen Krug neben sich, und schnitzte an einem Stock. Der Regen prasselte gegen die Fenster unter dem Dach. »Michael Riven! Madra sagte mir, daß du an diesem nassen Morgen noch lebst und daß es 218
dir gutgeht. Ich dachte, du hast vielleicht Lust, einem verwundeten Mann Gesellschaft zu leisten.« Die Frau sah Riven jetzt an. Ihre Augen glänzten dunkel wie die eines Vogels; ihr Blick war unangenehm scharf, aber die tiefen Sorgenfalten um die Augen herum milderten diesen Eindruck. »Sieh mal einer an«, sagte die Frau. »Das ist also der Erzähler aus dem fremden Land jenseits des Meeres.« Ihre Stimme war piepsend wie die eines jungen Mädchens. »Willst du uns nicht vorstellen, Ratagan?« Der große Mann schien verärgert. »Natürlich, Mutter. Du weißt, wer Michael Riven ist.« Er machte eine Handbewegung; das Schnitzmesser funkelte. »Das ist Lady Ethyrra, meine Mutter.« Riven verbeugte sich linkisch. Er wußte nicht recht, was er sagen oder machen sollte. Die Frau nickte steif. Graue Strähnen durchzogen ihr dunkles Haar. »Ich lasse euch beide dann allein«, sagte sie. »Ich bin sicher, daß ihr zurechtkommt, ohne daß ich euch über die Schulter gucke. Vielleicht kannst du, Michael Riven ...«, sie hatte Probleme mit dem ungewohnten Namen, »meinen Sohn überreden, daß nächste Mal besser auf sich aufzupassen, wenn er sich in der Gegend, wo die Bestien lauern, herumtreibt.« Dann ging sie; ihr langes Kleid schleifte über den Fliesenboden. Ratagan war 219
sichtlich erleichtert. Für einen Moment schwiegen beide. Riven setzte sich, und Ratagans Messer scharrte über den Stock. »Wo sind denn alle?« fragte Riven den großen Mann schließlich. Ratagan schlug sich mit dem Stock auf die Hand. Die Falten auf seiner Stirn verschwanden. »Gute Frage. Heute geht alles drunter und drüber. Sie sind hinter einem großen Rudel Grypeshs her, das heute nacht in den Herden gewütet hat. Angeblich wurde es von einem Eisriesen angeführt. Ich halte das für ein Gerücht, aber sie haben sich jedenfalls alle auf die Jagd begeben, Bicker, Murtach, Dunan mit sechs weiteren Männern der Schutztruppe sowie Luib und Ord, die Myrcaner. Mein Vater tut sein Bestes, die anderen Hirten zu beruhigen.« Plötzlich schlug er heftig mit dem Stock auf den Boden. »Während wir beide hier herumsitzen.« Er hob die Hände bedauernd. »Uns entgeht der Spaß also, wie es scheint.« Er blickte hoch zu den Fenstern. »Der einzige Trost ist, daß sie naß werden. Guillamon hat gedroht, mir den Biernachschub abzuschneiden, wenn ich auch nur einen einzigen ungewaschenen Zeh vor die Türe setze. Alle anderen in der Manse sind mit irgend etwas beschäftigt, und so müssen wir uns hier allein amüsieren.« Riven war enttäuscht. Er hatte gehofft, an diesem Morgen mit Bicker sprechen zu können und vielleicht mehr von Ralarth zu sehen. 220
»Murtach kann mich nicht leiden«, sagte er, um ein Gespräch anzuknüpfen. Ratagan lachte bellend. »Da liegst du falsch, Michael Riven. Es ist nicht so, daß er dich nicht mag; er mag die Welt nicht, aus der du kommst, und er mag es nicht, daß sein Land von jemandem abhängig ist, der aus dieser Welt kommt. Es macht ihn unsicher. Murtach ist wie eine Katze: Er weiß gerne, wo er seine Füße aufsetzt, und du hast seinen Weg mit Fallgruben gespickt. Ist es ein Wunder, daß der arme Kerl nicht sehr freundlich zu dir ist?« »Nun, wie sieht es denn dann mit dir aus, und all den anderen? Lechzt heimlich der ganze Rorim nach meinem Blut?« »Du tust uns unrecht«, sagte Ratagan. »Ich selbst stehe für jeden ein, den ich gerne habe, egal, ob er das Schicksal der Welt auf seinen Schultern trägt oder seinen Lebensunterhalt mit Mistschaufeln verdient. Ein Mann ist ein Mann, was immer auch sein Beruf sein mag. So sehe ich das. Und was den Rest des Rorims angeht ... mein lieber Freund, die Dienstmädchen haben gewaltige Ehrfurcht vor dir, dem >Ritter von der Insel der NebelLordRitterFreund