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Rina Lazarus ist wie vor den Kopf geschlagen, als sie erfährt, dass ein infamer Anschlag auf die kleine Synagoge, zu der sie und ihre Familie gehören, verübt wurde. Die Wände sind mit antijüdischen Parolen beschmiert, der Boden ist mit rassistischen Pamphleten übersät, die kostbaren Bücher sind zerfleddert und beschmutzt. Peter Decker, Rinas Mann und Kommissar bei der Polizei von Los Angeles, nimmt routiniert die Ermittlungen auf. Vergehen wie dieses gehören zu seinem Alltag. Schnell kommt er denn auch Ernesto Golding, einem jungen Mann aus wohlhabendem Elternhaus, auf die Spur, der sich nach kurzem Widerstand zur Tat bekennt. Als Motiv nennt Ernesto das Entsetzen über seinen jüdischen Großvater, der angeblich ein Nazi gewesen sein soll. Ernestos Freundin Lisa freilich sät in Decker starke Zweifel an dieser Version des Geschehens. Als Ernesto einige Zeit später einem Mordanschlag zum Opfer fällt, muss Pete Decker erkennen, dass ihn der Fall weit mehr betrifft, als er bislang wahr haben wollte. Denn sein eigener Stiefsohn Jacob schient tief verstrickt in ein Netz zwielichtiger Machenschaften. Und sein Leben ist in Gefahr. »Faye Kellermans Lazarus/Decker-Romane sind keine Thriller im üblichen Sinne. Nicht Spannung und Action stehen im Vordergrund, sondern die zähe Ermittlungsarbeit der Polizei und die privaten Probleme der überarbeiteten Ermittler. Schön nach wenigen Seiten sind einem Detective Decker und seine Leute ganz einfach ans Herz gewachsen.« Faye Kellerman war Zahnärztin, bevor sie sich ausschließlich dem Schreiben widmete. Ihre Romane mit Peter Decke: und Rina Lazarus wurden alle zu Bestsellern. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Los Angeles.
Faye Kellerman
Der Väter Fluch Roman
Die Originalausgabe erschien 2001 unter dem Titel »The Forgotten«
Der Anruf kam von der Polizei. Nicht von Rinas Mann, dem Lieutenant, sondern von der richtigen Polizei. Sie hörte zu, während der Mann sprach, und als sie begriff, dass es nichts mit Peter oder den Kindern zu tun hatte, stieß sie einen Seufzer der Erleichterung aus. Nachdem sie den Grund für diesen Anruf erfahren hatte, war Rina jedenfalls nicht so schockiert, wie sie es hätte sein sollen. Schon in der Vergangenheit war die jüdische Bevölkerung im West Valley von Los Angeles von rassistischen Hassverbrechen erschüttert worden - Hate Crimes, die vor einigen Jahren darin gipfelten, dass eine Bestie von Mensch aus dem Linienbus stieg und das Jewish Convention Center zusammenschoss. Das jüdische Gemeindezentrum war seit jeher ein geistiger Zufluchtsort und Mittelpunkt des jüdischen Lebens in Los Angeles gewesen und konnte mit einem reichhaltigen Angebot aufwarten, von der Kinderkrippe über Tanztherapie bis hin zu Gymnastikkursen für Senioren. Wundersamerweise war dort niemand getötet worden. Aber das Ungeheuer - das am
selben Tag noch einen kaltblütigen Mord verüben sollte - verletzte mehrere Kinder und ließ das ganze Viertel in der lähmenden Angst zurück, dass so etwas jederzeit wieder passieren konnte. Seit dieser Zeit trafen viele der Juden von L. A. besondere Vorkehrungen, um ihre Familien und Einrichtungen zu schützen. Die Türen der Gemeindezentren und Synagogen wurden mit zusätzlichen Schlössern gesichert, und Rinas schul, ein kleines gemietetes Ladenlokal, war sogar so weit gegangen, den Aron ha-Kodesch mit einem Vorhängeschloss zu versehen - die heilige Lade, die die geweihten Thorarollen enthielt. Die Polizei hatte Rina angerufen, weil ihre Nummer als Einzige auf dem Anrufbeantworter der schul angegeben war - nur für 3 Notfälle. Sie fungierte als inoffizielle Hausverwalterin der Synagoge, die die Entscheidungen traf, wenn Handwerker wegen eines Rohrbruchs oder eines Lochs im Dach gerufen werden mussten. Da es sich um eine junge Gemeinde handelte, konnten sich die Mitglieder nur einen Teilzeit-Rabbi leisten, und so sprangen manche Gemeindemitglieder häufiger ein, wenn es darum ging, am Sabbat die Predigt zu halten oder eine Mahlzeit nach dem Kiddusch zu finanzieren. Die Leute waren immer wesentlich kontaktfreudiger, wenn gleichzeitig etwas zu essen serviert wurde. Die kleine Gemeinde steckte voller Enthusiasmus, und das machte die schreckliche Nachricht umso schwerer. Auf der Fahrt dorthin empfand Rina Angst, und dunkle Vorahnungen erfüllten sie neun Uhr morgens, und sie hatte einen Knoten im Magen und Sodbrennen. Die Polizei hatte keine Angaben über den Schaden gemacht; stattdessen war immer wieder das Wort »Vandalismus« gefallen. So wie sie es sagten, klang es mehr nach Schmierereien an den Wänden als nach wirklichen Schäden am Gebäude - aber vielleicht war das ja auch nur Wunschdenken. Häuser, Geschäfte und Einkaufszentren glitten vorüber, doch sie hatte kaum mehr als einem kurzen Blick dafür übrig. Sie rückte die schwarze Schottenmütze gerade, die auf ihrem Kopf thronte, und schob ein paar heraushängende Locken ihres schwarzen Haars hinein. Selbst unter normalen Umständen verbrachte sie kaum Zeit vor dem Spiegel, und heute Morgen hatte sie gerade noch das Telefon aufgelegt und war nur mit dem Nötigsten bekleidet - schwarzer Rock, weiße, langärmlige Bluse, Slipper und Mütze - sofort aus dem Haus gestürzt. Für ein Make-up war ihr keine Zeit geblieben; die Cops würden die ungeschminkte Rina Decker zu sehen bekommen. Die Ampeln schienen ihr heute besonders lange auf Rot zu stehen - so sehr drängte es sie, so schnell wie möglich in die Synagoge zu kommen. Die schul bedeutete ihr sehr viel: Sie war der Hauptgrund für den Verkauf von Peters alter Ranch und den Kauf ihres neuen Hauses gewesen. Da in ihrem jüdischen Haushalt der Sabbat eingehalten wurde, hatte sie nach einem Gotteshaus gesucht, das sie zu Fuß erreichen konnte - und damit war kein fünf Kilometer lan 3
ger Fußmarsch gemeint, wie zu Zeiten, als sie noch auf Peters Ranch lebten. Der Weg zu ihrer alten schul, Ohavei Torah Jeschiwa, hatte ihr zwar nichts ausgemacht, und auch die Jungs konnten die Strecke problemlos bewältigen, aber Hannah war damals erst fünf Jahre alt gewesen. Das neue Haus dagegen war genau das Richtige für Hannah: ein Spaziergang von fünfzehn Minuten bis zur schul und eine Menge kleiner Kinder, mit denen sie spielen konnte. Nicht viele ältere, aber das konnte Rina egal sein, weil ihre Söhne schon fast aus dem Haus waren. Shmueli hatte seine Sachen gepackt und sich nach Israel aufgemacht, und Yonkie, obwohl erst in der elften Klasse, würde vielleicht sein Abschlussjahr im Osten verbringen und die Jeschiwa Highschool beenden, während er sich gleichzeitig schon an der Universität einschrieb. Peters
Tochter Cindy, mittlerweile eine erfahrene Polizistin, hatte ein äußerst traumatisches Jahr hinter sich. Gelegentlich kam sie am Sabbat zum Essen und besuchte ihre kleine Schwester - für Cindy jedes Mal ein Erlebnis, weil sie selbst als Einzelkind aufgewachsen war. Rina war die Mutter einer echten Patchwork-Familie, die ihr manchmal wie das reinste Chaos erschien. Ihr Herz schlug schneller, als sie vor dem Laden eintraf. Das winzige Gotteshaus war Teil eines kleinen Einkaufszentrums, zu dem auch ein Maklerbüro, eine chemische Reinigung, ein Nagelstudio und ein thailändischer Imbiss gehörten. Im obersten Stock befanden sich ein Reisebüro und eine Anwaltskanzlei, die im Kabelnachtprogramm mit fröhlichen Interviews ihrer zufriedenen ehemaligen Klienten warb. Zwei schräg geparkte schwarz-weiße Streifenwagen beanspruchten den größten Teil der winzigen Parkfläche; ihre Lichtbalken sandten im Wechsel rote und blaue Blitze aus. Vor der Synagoge hatte sich eine kleine Menschenmenge versammelt, aber auch durch sie hindurch konnte Rina Teile eines frisch gemalten schwarzen Hakenkreuzes erkennen. Ihr sank der Mut. Sie zwängte ihren Volvo neben einen der Streifenwagen auf dem Parkplatz. Noch bevor sie aussteigen konnte, versuchte ein Uniformierter - ein Klotz von einem Mann in den Dreißigern -, sie wieder vom Parkplatz zu dirigieren. Rina erkannte ihn nicht, 4
aber das hatte nichts zu sagen, weil sie die meisten der uniformierten Beamten im Devonshire-Revier nicht kannte. Peter war als Detective dorthin versetzt worden, nicht als Streifenpolizist. »Sie können hier nicht stehen bleiben, Ma'am«, sagte der Of-ficer. Rina kurbelte die Scheibe herunter. »Die Polizei hat mich benachrichtigt. Ich habe die Schlüssel zur Synagoge.« Der Polizist wartete; sie wartete. Nach einer Weile sagte sie: »Ich bin Rina Decker, die Frau von Lieutenant Decker...« Sofortiges Erkennen. Der uniformierte Beamte nickte entschuldigend und murmelte dann: »Kinder!« »Wissen Sie, wer das getan hat?« Rina stieg aus dem Wagen. Die Wangen des Polizisten röteten sich. »Nein, noch nicht. Aber wir werden die Täter finden. Vermutlich waren es irgendwelche Jugendliche.« Ein weiterer Cop kam zu ihr herüber, den Streifen auf der Uniform nach ein Sergeant; auf seinem Namensschildchen las sie Shearing. Er war stämmig, mit gewelltem, spülwasserfarbenem Haar, rötlicher Gesichtsfarbe und schon etwas älter: Mitte bis Ende fünfzig. Sie erinnerte sich vage, ihn bei einem Picknick oder einem anderen gesellschaftlichen Anlass schon einmal gesehen zu haben. Der Name Mike fiel ihr ein. Er streckte ihr die Hand entgegen. »Mickey Shearing, Mrs. Decker. Tut mir Leid, Sie wegen einer solchen Sache herrufen zu müssen.« Er bahnte ihr den Weg durch die kleine Schar von Neugierigen, die sich durch diese Störung belästigt fühlten. »Bitte... treten Sie doch zurück... oder besser, gehen Sie nach Hause.« Dann rief er seinen Männern zu: »Kann mal jemand das Gebäude absperren, und zwar sofort?!« Als die Gaffer langsam zur Seite wichen, konnte Rina die Fassade vollständig sehen: ein großes Hakenkreuz, flankiert von ein paar kleineren auf jeder Seite. Daneben hatte jemand in Sprühfarbe geschrieben: Tod allen Untermenschen! Sie spürte, wie Tränen der Wut ihr in die Augen traten. »Ist das Schloss aufgebrochen worden?«, fragte sie den Sergeant. 4
»Ja.« »Waren Sie schon drin?« »Leider ja. Es ist...«, er schüttelte den Kopf, »es ist ziemlich heftig.« »Meine Eltern sind Überlebende der Konzentrationslager. Ich kenne so etwas.«
Er zog eine Augenbraue hoch. »Passen Sie auf, wohin Sie treten. Wir sollten nichts verändern, bis die Detectives kommen.« »Wer wird den Fall übernehmen?«, fragte Rina. »Wer ist für solche Delikte zuständig?« Sie wartete die Antwort nicht ab. Als sie über die Schwelle trat, spürte sie, wie sich ihr Körper verkrampfte und sie unwillkürlich die Zähne zusammenbiss. Sämtliche Wände waren mit bösartigen Sprüchen beschmiert, die alle auf unterschiedliche Art die Ausrottung der Juden forderten. Dazu so viele Hakenkreuze, dass es wie ein Tapetenmuster aussah. Eier und Ketchup waren gegen die Wände geschleudert worden und hatten glibberige Flecken hinterlassen. Aber die Wände waren noch nicht das Schlimmste - irgendjemand hatte die heiligen Schriften in Stücke gerissen und die Fetzen über den Boden verstreut. Doch selbst die Schändung der Thorarollen und der Gebetbücher war nicht so schlimm wie die grauenhaften Fotos von Opfern von Konzentrationslagern, die man auf die ruinierten hebräischen Texte gelegt hatte. Sie wandte den Blick ab, hatte aber schon zu viel gesehen - widerwärtige Schwarzweiß-Schnappschüsse, die einzelne Körper mit entstellten Gesichtern und weit aufgerissenen Mündern zeigten. Einige waren bekleidet, andere nackt. Auch Shearing starrte darauf, schüttelte die ganze Zeit den Kopf und murmelte leise »O Mann, o Mann« vor sich hin. Er schien Rina völlig vergessen zu haben. Sie räusperte sich, auch um ihn aus seinen Gedanken zu reißen, aber vor allem, um die aufsteigenden Tränen zurückzudrängen. »Ich sollte mich wohl umsehen, ob irgendetwas Wertvolles fehlt.« Mickey schaute Rina an. »Ja... ja, natürlich. Gab es hier irgendwas Wertvolles...? Ich meine, ich weiß ja, dass die Bücher 5
wertvoll sind, aber gab es etwas Wertvolles, das jedem sofort ins Auge gefallen wäre? Irgendwelche ökumenischen Sachen aus Silber... ist >ökumenisch< überhaupt das richtige Wort?« »Ich weiß, was Sie meinen.« »Es tut mir so Leid, Mrs. Decker.« Die Entschuldigung kam so ehrlich und aufrichtig, dass Rina zu weinen begann. »Niemand musste sterben, niemand ist verletzt. Es hilft, die Dinge im richtigen Verhältnis zu sehen.« Rina wischte sich über die Augen. »Die meisten unserer Gegenstände aus Silber und Gold sind in dem Schrank dort... der mit den Gittern. Das ist unsere Heilige Lade.« »Ein Glück, dass Sie die Gitter eingebaut haben.« »Das haben wir nach der Schießerei im jüdischen Gemeindezentrum machen lassen.« Sie ging hinüber zum Aron ha-Kodesch. »Nicht das Schloss anfassen, Mrs. Decker«, warnte Shearing sie. Rina hielt inne. Er versuchte zu lächeln. »Fingerabdrücke.« Rina betrachtete das Schloss mit hinter dem Rücken verschränkten Händen. »Die Kratzer sind neu - jemand hat versucht, es aufzubrechen.« »Stimmt, das ist mir auch aufgefallen. Wahrscheinlich haben die das Schloss gesehen und gedacht, dass hier die ganzen Wertsachen aufbewahrt sind.« »Damit hätten sie Recht gehabt.« Pause. »Sie sagten >dieHüter der Völkischen Reinheit oder so ähnlich. Ist schon eine Weile her. Ich werde mir die Akten ansehen, und zwar gründlich. Aber dazu muss ich erst mal ins Revier zurück.« »Okay. Fahr ruhig. Ich komm schon klar.« Sie drehte sich um und fragte: »Wer wird herkommen?«
»Wanda Bontemps bearbeitet die Hassdelikte. Versuch ihr nicht gleich den Kopf abzureißen. Sie hat in der Vergangenheit mit Juden ein paar schlechte Erfahrungen gemacht.« »Und so jemand setzt ihr auf Hassverbrechen gegen Juden an?« »Sie ist schwarz...« »Also eine Schwarze und Antisemitin. Glaubst du, das hebt sich irgendwie auf?« »Sie ist überhaupt keine Antisemitin. Sie ist einfach eine gute Frau, die ehrlich genug war, mir gegenüber offen über ihre Probleme zu sprechen. Ich möchte nur... Eigentlich hätte ich es gar nicht erwähnen sollen.« Er verzog das Gesicht. »Ich sollte endlich lernen, den Mund zu halten. Na ja, schreiben wir es einfach der Tatsache zu, dass ich ziemlich mitgenommen bin. Wanda ist neu dabei und hat sich die Stelle hart erarbeiten müssen - das ist gar nicht so einfach für eine vierzigjährige schwarze Frau.« »Das glaube ich gern«, antwortete Rina. »Mach dir ihretwegen keine Sorgen, Peter. Solange sie einfach ihren Job macht, werden wir prima miteinander auskommen.« 2
D
ie Fotos der KZ-Opfer mussten aus irgendeiner Quelle stammen. Es bestand die Möglichkeit, dass sie von einer Neonazi-Website heruntergeladen und vergrößert worden waren, um sie wie Originalfotos aussehen zu lassen. Andererseits war es genauso gut denkbar, dass sie von einer lokalen faschistischen Organisation stammten. Die extremistische Gruppe, an die Decker :i6
sich aus seinen Foothill-Zeiten erinnerte, hatte sich den Namen »Hüter der Völkischen Reinheit« gegeben. Als er noch beim Jugenddezernat arbeitete, hatte es sich bei dieser Gruppierung um kaum mehr als eine Postfachadresse und ein halbjährlich stattfindendes Treffen im Park gehandelt. Nach ein paar kurzen Telefonanrufen erfuhr er, dass die Gruppe noch existierte und inzwischen eine richtige Adresse am Roscoe Boulevard hatte. Decker wusste nicht genau, was sie machten und wofür sie eintraten, aber bei einem derartigen Namen musste die darin versteckte Botschaft etwas mit der angeblichen Überlegenheit der weißen Rasse zu tun haben. Er warf einen Blick auf seine Uhr; es war jetzt kurz vor elf. Er stand von seinem Schreibtisch auf und ging hinüber in den Bereitschaftsraum. Zahlreiche Schreibtische waren unbesetzt, was bedeutete, dass die meisten der Detectives der Devonshire Division zu einem Einsatz unterwegs waren. Aber glücklicherweise saß Tom Webster an seinem Tisch und telefonierte. Der junge Beamte vom Morddezernat war blond, blauäugig und sprach mit breitem Südstaatenakzent. Wenn irgendjemand sich als arischer Sympathisant ausgeben konnte, dann Webster... wenn man mal von der Kleidung absah. Normalerweise hatten Neonazis keine Designerklamotten an. Heute trug Tom einen marineblauen Anzug, ein weißes Hemd und eine kastanienbraune Krawatte mit winzigem Muster - wahrscheinlich von Zegna. Nicht dass Decker selbst solche Einhundertdollarkrawatten besessen hätte, aber er kannte die Marke, da Rinas Vater Zegna mochte und Sammy und Jake häufig seine ausgemusterten Exemplare vermachte. Webster sah von seiner Arbeit auf, und Decker bedeutete ihm, in sein Büro zu kommen. Eine Minute später betrat Tom den Raum und schloss die Tür hinter sich. Seine Haare waren erst vor kurzem geschnitten worden, aber einige Strähnen reichten noch bis zu den Augenbrauen, was ihn wie einen Schuljungen wirken ließ. »Tut mir Leid wegen heute Morgen, Lieutenant.« Webster nahm auf der anderen Seite von Deckers Schreibtisch Platz. »Wir haben gehört, es war ziemlich heftig.« »Da habt ihr richtig gehört.« Decker saß an seinem Tisch und 9
konzentrierte sich auf seinen Computer, bis er gefunden hatte, was er suchte. Dann drückte er auf den Druckerknopf. »Wie sieht denn dein Zeitplan für heute aus?« »Ich wollte in der Gonzalez-Geschichte noch einer Sache nachgehen, mich mit der Witwe unterhalten...« Er seufzte. »Die Verhandlung ist schon wieder verschoben worden. Perez' Anwalt hat seinen Dienst quittiert, und jetzt stellen sie ihm einen neuen Pflichtverteidiger, der aber mit dem Fall nicht vertraut ist. Die arme Mrs. Gonzalez möchte die ganze Sache einfach abschließen, aber das wird noch eine Weile dauern.« »Schlimme Sache«, stimmte Decker zu. »Ja, schlimm und wieder mal typisch«, erwiderte Webster. »Ich muss um halb zwei im Gericht sein. Ich dachte, ich geh noch mal meine Notizen durch.« »Du hast 'nen Collegeabschluss, Webster. Das dürfte also nicht allzu lang dauern.« Decker reichte ihm den Ausdruck. »Ich möchte, dass du das hier mal überprüfst.« Webster warf einen Blick auf das Blatt. »Hüter der Völkischen Reinheit? Was ist das? Eine Nazigruppe?« »Genau das sollst du herausfinden.« »Wann? Jetzt?« »Ja.« Decker lächelte. »Sofort.« »Und wonach such ich genau? Informationen zum Vandalismus in der Synagoge?« »Ja.« »Soll ich so tun, als war mir der Vorfall gar nicht so unrecht?« »Du willst Informationen, Tom. Also tu, was du tun musst. Da fällt mir ein: Nimm Martinez mit. Du bist weiß, er ist Latino. Bei diesen Rassisten könnt ihr das alte Spiel >Guter Cop, böser Cop< allein schon mit eurer Hautfarbe spielen.« Wanda Bontemps rief Decker von der Synagoge aus an und erzählte ihm von den drei Jugendlichen, die sie wegen früherer Vandalismusdelikte festgenommen hatte. Bei allen dreien war die Akte versiegelt. »Wie wäre es mit ein paar Namen?«, fragte Decker. 10 »Jerad Benderhurst - ein fünfzehnjähriger weißer Jugendlicher. Das Letzte, was ich gehört hab, war, dass er bei einer Tante in Oklahoma lebt. Jamal Williams - ein sechzehnjähriger Afroamerikaner; nicht nur wegen Vandalismus festgenommen, sondern auch wegen Bagatelldiebstahl und Drogenbesitz. Ich glaube, er ist an die Ostküste gezogen.« »Das ist nicht sehr viel versprechend. Sonst noch jemand?« »Carlos Aguillar. Meines Wissens nach vierzehn Jahre alt und noch immer in der Besserungsanstalt. Das sind die Jugendlichen, an die ich mich im Zusammenhang mit Vandalismus erinnere. Sie könnten aber auch noch mal mit Sherri und Ridel reden, vielleicht wissen die noch andere Namen.« Pause. »Andererseits, Lieutenant, sollten Sie auch den größeren Zusammenhang nicht außer Acht lassen, wenn es darum geht, jemanden einzubuchten.« Decker wusste genau, worauf sie anspielte - eine spezielle Gruppe weißer Jugendlicher aus der oberen Mittelschicht, die nicht nur vor Testosteron strotzten, sondern auch vom Leben entsetzlich gelangweilt waren. Erst kürzlich hatten diese Jugendlichen sich nach ihrer Festnahme sofort die Dienste von Daddys hoch bezahlten Anwälten gesichert, noch bevor überhaupt ihre Personalien aufgenommen waren. Die ganze Bande musste auf freien Fuß gesetzt und die Festnahme aus den Akten gestrichen werden, und das alles in Rekordzeit. Die meisten der Jungen gingen auf Privatschulen. Für sie waren selbst Drogen und Sex zu alltäglich und Straftaten die letzte Möglichkeit zur Rebellion. »Letztes Jahr haben wir eine Gruppe Jugendlicher verhaftet«, sagte Wanda. »Etwa zwanzig Jungs, die sich wie Gettokids kleideten und unbedingt den Bösewicht spielen
wollten. Sie haben eine ganze Reihe von Gebäuden beschädigt. Wenn ich eine Weile drüber nachdenke, könnte ich mich vielleicht an den einen oder anderen Namen erinnern.« »Sie könnten sich aber auch 'ne Klage an den Hals holen, dafür, dass Sie mir die Namen geben«, erwiderte Decker. »Was die Akten betrifft, so existieren keine. Aber ich weiß, wen Sie meinen.« Ein Blick auf die Armbanduhr verriet ihm, dass es inzwischen zwanzig nach elf war. »Wie läuft's denn da so?« 11 »Die Fotografen sind fast fertig. Auch die Spurensuche braucht nicht mehr lange. Ihre Frau wartet mit einer Gruppe von Freiwilligen - alle mit Putzeimern, Reinigungsmitteln und Schrubbern bewaffnet - darauf, loslegen zu können, und sie sind wütend. Wenn die Polizei sich nicht beeilt, wird noch jemand auf einen Besenstiel aufgespießt.« »Das klingt ganz nach Rina«, bemerkte Decker. »Möchten Sie mit ihr reden? Sie hängt regelrecht über meiner Schulter.« »Ich hänge nicht!«, rief Rina in den Hörer. »Ich warte.« Wanda gab ihr das Telefon. »Detective Bontemps hat angeboten, uns während ihrer Mittagspause beim Putzen zu helfen«, sagte Rina. »Ist das ein Wink mit dem Zaunpfahl?« »Dreimal darfst du raten.« Decker lächelte. »Ich komme, sobald ich mit der Arbeit fertig bin. Wenn es nötig ist, werde ich die ganze Nacht durch putzen und streichen. Was hältst du davon?« »Akzeptiert. Obwohl... um die Uhrzeit, wann du hier auftauchen kannst, ist es wahrscheinlich gar nicht mehr nötig.« »Ich hab gehört, du hast eine ganze Truppe zusammen?« »Ja, alle Gemeindefrauen sind hier versammelt, alle mit Schrubbern und Eimern. Außerdem hat jemand mit dem JCC telefoniert, und sechs Leute sind vorbeigekommen und haben uns ihre Hilfe beim Saubermachen und Weißein angeboten - einer ist sogar ein professioneller Maler. Und Wanda, die übrigens ein richtiger Schatz ist, hat tatsächlich in ihrer Gemeinde angerufen und ein paar Freiwillige besorgt. Sogar die Leute von der Presse wollen uns helfen. Wir würden jetzt wirklich gern loslegen.« »Detective Bontemps sagte mir, dass sie fast fertig sind.« »Es ist nur so... schrecklich, Peter. Jedes Mal, wenn ich es ansehen muss, wird mir schlecht. Und allen anderen geht es genauso.« »Welche Zeitungen sind da?« »Die L. A. Times, die Daily News und noch ein paar Fernsehteams, aber Wanda lässt sie nicht durch.« »Ist auch besser so.« 11
»Hast du die Reihe der Verdächtigen schon eingrenzen können?«, fragte Rina. »Ich muss ein paar Anrufe machen. Sobald ich etwas in Erfahrung bringe, lasse ich es dich wissen.« Er wartete einen Augenblick. »Ich hab dich lieb, Schatz. Ich freue mich, dass ihr so viel Unterstützung bekommt.« »Ich liebe dich auch. Und diese Mamzerim werden noch ihr blaues Wunder erleben. Das passiert nie wieder!« »Ich bewundere deinen Eifer.« »Da gibt's nichts zu bewundern, mir bleibt keine andere Wahl. Hast du die Pfandleihen schon überprüft?« »Was?« »Der silberne Kidduschkelch. Vielleicht hat man versucht, ihn zu versetzen.« »Ehrlich gesagt, nein, ich habe die Pfandleihen noch nicht überprüft. « »Dann solltest du das sofort tun. Bevor die Pfandleiher Wind davon bekommen, dass es sich um heiße Ware handelt.« »Sonst noch was, General?«
»Im Augenblick nicht. Jemand ruft nach mir, Peter. Hier ist Detective Bontemps noch einmal für dich.« »Ein echtes Organisationstalent«, meinte Wanda. »Wem sagen Sie das. Vielen Dank für Ihre Hilfe.« »Das ist doch selbstverständlich.« »Die Jugendlichen, von denen Sie sprachen, Wanda - die meisten von ihnen gingen auf eine Privatschule?« »Einige, ja. Foreman Prep... Beckerman's.« »Das könnte von Vorteil für uns sein. Bei Jugendlichen in öffentlichen Schulen kriege ich nur schwer einen Durchsuchungsbefehl. Aber für eine Privatschule gelten andere Regeln. Viele dieser Institute haben eigene Statuten, die der Schulverwaltung erlauben, nach eigenem Ermessen die Schränke ihrer Schüler zu öffnen, um nach belastendem Material zu suchen.« »Warum sollte ein Privatschulleiter einverstanden sein, so etwas für uns zu tun?« »Weil es keinen guten Eindruck machen würde, uns nicht zu unterstützen. Es sähe so aus, als ob er etwas zu verbergen hätte. Aber wahrscheinlich werden wir nicht viel finden... ein oder zwei Joints vielleicht.« »Und nach welcher Art von Belastungsmaterial suchen Sie, Sir? Antisemitisches Material?« »Nach einem silbernen Kelch.« »Ah ja. Ich verstehe.« »Es ist einen Versuch wert«, meinte Decker. Aber der Versuch würde nicht ohne Kontroversen und Konsequenzen bleiben. Denn um nach außen hin objektiv zu erscheinen - und die Polizei musste immer objektiv erscheinen -, würde er mehrere Privatschulen durchsuchen müssen, darunter auch Jacobs jüdische Highschool. Und dort würde er beginnen. 3 Wie ist die Adresse?«, fragte Webster. Martinez gab ihm die Hausnummer und biss gleichzeitig so herzhaft in sein TruthahnTomaten-Senf-Sandwich, dass kleine Roggenbrotkrumen seinen stahlgrauen Schnurrbart besprenkelten. Er hatte überlegt, ihn abzurasieren, als immer mehr graue Stellen das Schwarz durchsetzten. Aber seine Frau meinte nur, dass er vielleicht gar keine Oberlippe mehr hätte - nach all den Jahren, in denen dieses Etwas über seinem Mund gehangen hatte. »Irgendein besonderer Grund, warum Decker Jungs von der Mordkommission für den Fall einsetzt?« »Vielleicht weil ich gerade im Bereitschaftsraum war?« Er schaute auf das Sandwich seines Partners. »Hast du noch eins über, Bertie?« »Na sicher.« Martinez holte ein zweites Sandwich aus einer Papiertüte. »Nicht zu Mittag gegessen?« »Wann denn?« Webster verschlang die Hälfte seines Sandwichs mit drei Bissen. »Decker hat mich genau in dem Augenblick erwischt, als ich mich hinter die GonzalezGeschichte klemmen wollte. Der Lieutenant ist ganz scharf auf den Fall.« 12
»Stimmt. Ist was Persönliches.« »Das kannst du laut sagen - persönlich, und ziemlich hässlich, vor allem nach der Furrow-Schießerei im JCC und dem Mord an dem Filipino-Kurier. Ich glaube, der Lieutenant will der Welt beweisen, was für verantwortungsbewusste, kompetente Leute Polizisten sind.« »Ich hab nichts dagegen, ein paar kleine Gauner einzubuchten.« Martinez aß den letzten Bissen seines Sandwichs und spülte ihn mit einer Cola Light hinunter. »Weißt du irgendwas über diese Typen?«
»Nur das, was auf dem Ausdruck steht. Sind schon einige Zeit dabei. Ein Haufen Verrückter.« Webster bremste vor einer Ladenzeile, deren größtes Geschäft ein Neunundneunzigcentwarenhaus war, das damit warb, alle seine Artikel für nur - wie zu erwarten - neunundneunzig Cent zu verkaufen. Außerdem gab es auf diesem Eckgrundstück ein Schuhgeschäft, einen Bioladen und einen mexikanischen Imbiss, der als Spezialität den Big Bang Burrito anbot. Kosmologie und Sodbrennen - wenn das kein Stoff zum Nachdenken war. »Ich sehe keine Hüter der Völkischen Reinheit.« »Hinter der Nummer steht noch ein >lA