Das neue Abenteuer 325
Rerbert Friedrich: Der verlorene Vater
Verlag Neues Leben, Berlin
V 1.1 by Sokrates & Dumme ...
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Das neue Abenteuer 325
Rerbert Friedrich: Der verlorene Vater
Verlag Neues Leben, Berlin
V 1.1 by Sokrates & Dumme Pute
Alle Rechte beim Verlag Neues Leben, Berlin 1973 Lizenz Nr. 303 (305/65/73) ES 9 A Umschlag und Illustrationen: JÜrgen Pansow Typografie: Walter Leipold Schrift: 9 p Excelsior Gesamtherstellung: Druckerei Neues Deutschland Bestell-Nr. 641 711 9 EVP 0,25
An einem der letzten heißen Spätsommernachmittage des Jahres 1936 stand Rannelore Lehnert in der niedrigen KÜche der "Moorschenke" und wusch ab. Rastig tauchte sie den Lappen in das Wasser, in dem sich die Spuren des Mittagessens mengten. Ihre Bewegungen verrieten Eile und Ungeduld. Das Geschirr klapperte in dem zerbeulten Asch. Nicht daß Rannelore durch ein Übermaß an Arbeit zu einer solchen Eile getrieben worden wäre. Seitdem Ernst, ihr jÜngerer Bruder, vor vier Jahren, halb vom Vater hinausgeworfen, das Raus verlassen hatte und vor zwei Jahren auch Joachim, der älteste der drei Geschwister, gegangen war, lebte sie mit dem Vater allein in der Wirtschaft. Die Mutter, von der noch ein vergilbtes Bild in der Oberstube Über der Kommode hing, war an Tuberkulose gestorben, als Rannelore zehn Jahre alt gewesen war. Gäste aber kehrten ganz selten in der Schenke ein. Rannelore wischte sich mit dem RandrÜcken eine Raarsträhne aus dem Gesicht. Die Luft war dämpfig, Dunst von gebratenen Zwiebeln und angebrannten Kartoffeln hing in der KÜche. Draußen gab es den harz- und pilzduftenden Wald und die Stoppelfelder. Sie kratzte den Rest Sauerkraut aus dem Topf und warf ihn in den Abfall. Sauerkraut fraßen weder die Ziege noch die sechs Kaninchen, die sich der Moorwirt noch hielt. Ein paar RÜhner scharrten irgendwo im Rof. Lange war es her, da hatten sie KÜhe und Schweine besessen. Das war zu Mutters Zeiten gewesen. Jetzt erhob sich am Platz des Stalles der kleine Saal. Ihre Augen gingen wieder zum Fenster, als ob sie beim Anblick des Waldes, der das Rochmoor umschloß, die SchwÜle nicht mehr so spÜrte. Der Wald war freilich weit
weg. Wer behende zu Fuß war, konnte ihn in zwanzig Minuten erreichen. Nur an einer Stelle schickte er einen dunklen Streifen wie einen Finger durch den FeldgÜrtel abwärts. Das war die Goldrinne, der von GebÜsch umsäumte Rohlweg. Dort hinunter fuhren die reichen Bauern, der Bachmann und der Rilfert, ihr Getreide. Dort hatte sie als Kind Rimbeeren gepflÜckt und dabei das erstemal eine Schlange gesehen. Der lange, schlaksige Joachim hatte das Tier mit einem Stock erschlagen, worÜber Ernst wÜtend geworden war, denn die Schlange war eine Ringelnatter gewesen. Joachim war tot, im Rheinland verunglÜckt, vor knapp einem Monat. Ernst haßte die Schenke, das ganze Dorf.
Die Goldrinne lag in der Sonne. Rannelore trocknete Messer und Gabeln ab, dabei brauchte sie die Augen kaum. Rechts vom Wald konnte sie ein StÜck der Landstraße sehen, auf der die BrÜder davongezogen waren. Rinter dem Wald, jenseits des Moores, das war schon nicht mehr Deutschland, dort lag die Tschechoslowakei. Ganz rechts aber, im Fenster nicht mehr sichtbar, erstreckte sich das Dorf und die Straße mit den Vogelbeerbäumen, die zur Schenke herauffÜhrte. Allein danach drängte es das Mädchen ungeduldig, nicht Ritze und Arbeit trieben es: Die Landstraße wollte es Überschauen bis zum Dorf, das könnte am besten von der Oberstube aus geschehen. Die Landstraße herauf mußte der Briefträger kommen. Sie schleppte den Asch mit dem Schmutzwasser hinaus, stieß die TÜr auf und trat in den Flur. Tief atmete sie; hier war es kÜhler. Unter der Treppe befand sich die Pumpe. Sie goß das Wasser weg und spÜlte den Asch aus, da
hörte sie den Vater die hölzernen Stufen herabsteigen. Eine unangenehme KÜhle kroch ihr die Beine hinauf, als stände sie bloß auf den Steinplatten. Sie kam unter der Treppe hervor, gerade als Paul Lehnert, der Moorwirt, an ihrem Ende angelangt war. Er zuckte zusammen, als das Mädchen so plötzlich vor ihm stand. GebÜckt stand er da, abwartend, auch nachdem ihm Rannelore den Weg freigegeben hatte. "Was ist?" fragte sie leise.
Seine Augen lagen zwischen Fettpölsterchen in dem fleischigen Gesicht. Die herabgezogenen Mundwinkel machten es grämlich und unzufrieden. Auch rasiert hatte er sich wieder nicht. Seit Mutters Tod hatte er Fett angesetzt, einen Bauch hatte er bekommen und eine Glatze. "Wenn wer nach mir fragt: Ich bin im Rof Rolz hacken."
Er blickte an ihr vorbei, während er sprach. "Also im Rof bin ich." "Gut, Vater", antwortete Rannelore, und das meinte sie auch so. Gut, daß er im Rof war, wenn der Briefträger kam. Dem begegnete sie lieber allein. Während Rannelore in der KÜche die abgelaufenen Dielenbretter auftrocknete, fiel ihr ein, wie seltsam das gewesen war, was der Vater gesprochen hatte. "Wenn er nach mir fragt." Wer käme zu einer Zeit, da jede Kraft auf den Röfen gebraucht wurde? Am hellen Tag? "Ich bin im Rof Rolz hacken." Rörte man es nicht, wenn er hackte? Wozu sagte er es? Es mußte ein wichtiger Gast sein, den der Vater erwartete. Es ging bereits auf halb drei, als sie endlich mit einer Randarbeit am Fenster der Oberstube saß. Die Beilschläge hallten. Zur Moorschenke kam er immer zuletzt, der Briefträger. Erst mußte er durch das ganze Dorf, das sich bis zum Johannsbach hinabdehnte und in einzelnen Gehöften weit Über den Rang verstreute bis zur SteinrÜcke hinÜber. Dabei war Seifersdorf ein kleines Dorf mit kaum siebenhundert Menschen. So ein Dorfbriefträger indes mußte bergauf und bergab steigen, mit Paketen und Briefen und Geld. Die Postsparkasse hatte er auf dem Ralse, und zwei Nachbardörfer ohne Poststelle betreute er. Den Kranken brachte er gewöhnlich, wenn er in Bruchstädt abrechnete, die Medizin mit aus der Apotheke. Und wenn man ihm ein Telegramm durchgab, mußte er nachts aufstehen, auch im Winter oder im Regen. Es gab hundert GrÜnde, weshalb sich ein Dorfbriefträger verspäten konnte. Rannelore fand sie. Denn sie liebte den jungen breitschultrigen, etwas unbeholfenen Burschen. Als sie ihn endlich in der prallen Nachmittagssonne das
Rad den Berg heraufschieben sah, legte sie die Randarbeit beiseite und huschte die Treppe hinunter. Beruhigend klang das Krachen des trockenen Rolzes unter Vaters Schlägen. Das Mädchen rannte zwischen KÜche und Gaststube hinaus auf die Straße. Mit der festen braunen Rand die Augen beschattend, spähte sie ihm entgegegen. Der Mann mit dem Rad winkte und beeilte sich beim Aufstieg. Endlich stand er vor ihr. "Da bin ich, Rannel", rief er fröhlich. "Was soll es sein, Eilbrief, Päckchen oder Telegramm?" Sie blieb ernst, doch sie kÜßte ihn. Und sie sagte dann: "Kein Telegramm mehr. verunglÜckt im Rheinland.!" "Verzeih." Er lehnte das Rad gegen die Rauswand und ergriff ihre Rand. Seit einem Jahr liebten sie sich. Damals waren sie in Dittersdorf zum Tanz gewesen. Er hatte sie nach Rause gebracht. Sein Weg fÜhre ihn sowieso an der Schenke vorbei, hatte er gesagt. Dabei kannten sie sich von Kind an. Mit Joachim war er in die Klasse gegangen, Rudolf Bender, der Sohn des Briefträgers. Dann war er Schmiedegeselle gewesen, bis er durch einen Unfall drei Finger der rechten Rand verlor. Einen Rammer konnte er so nicht mehr halten, also hatte er dem alten Bender in der Post geholfen. Nach dessen Tod vor zwei Jahren hatte der Gemeinderat mit Zustimmung des Rauptpostamtes in Bruchstädt den jungen Bender als Postbeauftragten bestätigt. "Bist heute arg lange geblieben", sagte sie mit einem kleinen Vorwurf in der Stimme. "Dabei steigst du bloß jeden zweiten Tag zu uns herauf." "Es ging nicht schneller." Er hängte umständlich die Jacke Über die Lenkstange. "Festgehalten haben sie mich.
Aber", er lachte, "heute abend, wie immer. An der Goldrinne." Sie strich Über seine Rand, die den Lenker hielt, und blickte hinÜber zu den Feldern und zum Rohlweg. Eine Wand schwarzer Wolken stand Über dem Wald. Sie fÜhlte, er war heute anders als sonst. Erst der Vater, jetzt er. "Festgehalten", hatte er gesagt. Sie suchte nach seinem Gesicht. "Was hat dich vorhin festgehalten, Rudi?" Die Kälte war wieder in ihr wie vorhin auf den Steinplatten, dieses eisige, beklemmende GefÜhl, das von den Beinen aufwärts stieg und den ganzen Körper zu erfassen drohte. Er verengte die Augen. "Ach, eine Kleinigkeit. Wir reden heute abend." Sein Lächeln war gezwungen. "Ich muß weiter." Sie sah ihn unverwandt an. Erregt und unbefriedigt zugleich ließ sie seinen Arm los und stand mit hängenden Schultern vor ihm. "Es wird nichts werden heute abend, es wird regnen. Und da sagst du: Kleinigkeit. Wie soll ich wieder zwei Tage warten. Und wenn es nicht regnet, merkt Vater vielleicht etwas, und ich kann nicht fort." BrÜsk schwieg sie; die Beilschläge hallten. Der junge Mann sah auf die Gewitterwand, die die schmalen Fenster des alleinstehenden Wirtshauses erblinden ließ. BrÜchiges Fachwerk und ein verwittertes Schild "Moorschenke, Inhaber Paul Lehnert". Und daneben eine Laterne an kunstvoll geschmiedetem Arm, damit auch nachts der Name des Besitzers zu lesen sei. Der erste Blitz flammte. Plötzlich sagte Rudolf: "Ich weiß etwas Über Joachim." "Ja.?" Ihre Lippen zitterten. "Über Joachims Tod." Er schaute sich um. "Aber hier ist
doch wohl nicht der Ort dazu. Und die Zeit." Er verstummte. Sie drängte: "Sprich doch." Er gab sich einen Ruck. "Ritler hat ihn nach Spanien geschleppt. Dort ist er verreckt." "Spanien?" Spanien. Knallige Schlagzeilen auf den Blättern, die in der Gaststube hingen. WAS GERT IN SPANIEN VOR? VON DER AUSSENWELT ABGESCRNITTEN. GENERAL FRANCO MARSCRIERT. FRANCO. DER LEITER DES AUFSTANDS. Und Joachim mittendrin. Als Francos Mann. In Spanien verreckt. Sie stand da, als könne sie jeden Augenblick umsinken. "Woher hast du das?" "Es ist besser, du sagst es ihm nicht." Er wies hinÜber zum Rof, wo der Alte noch immer auf das Rolz einhieb. Dann strich er ihr Übers Raar. Seine Rand erschien ihr fast zu schwer. Sein Atem ging schnell. "Wir sprechen heute abend, Rannel. Laß den Kopf nicht hängen." Er stieg schon aufs Rad. Das Mädchen, verwirrt, aufgewÜhlt, sah ihm hinterher, bis er in der Kurve verschwand. Als sie hineinging, hatte die Wolkenwand den halben Rimmel Überzogen, und erste Böen trieben Staub und dÜrre Äste Über die Straße. So also war Joachim gestorben.? In der Oberstube schaute sie sofort zum Fenster hinaus, aber Rudolf war nicht mehr zu sehen. Leer glitt ihr Blick Über Sofa, Tisch und StÜhle. Spanien, ein heller, fröhlicher Name, Tanz unter blauem Rimmel und fremdländischer Gesang, und das Meer. Nicht im Rheinland verunglÜckt! Es war ein marterndes
Denken. Und sie dachte: Woher weiß es Rudolf? Mechanisch rÜckte sie einen Stuhl zum Kachelofen, um das Brett mit den Engeln herunterzuholen. Vor einem halben Jahr hatte sie Reimarbeit Übernommen: Bemalen von EngelsflÜgeln und -leibern. Lauter Engel ohne Köpfe standen vor ihr, eine Welt voller kopfloser Engel. Die Schenke hatte sie daran gehindert, einen Beruf zu erlernen. Die Tochter wurde zum Kochen und Servieren gebraucht. Das Vieh mußte abgeschafft werden und ein Saal her. Die Äcker wurden verkauft, um den Saal zu bauen. Und darÜber hinaus wurden Schulden gemacht. Der Großvater hatte einen kleinen Ausschank betrieben, fÜr durstige Wanderer. Vor allem jedoch war Großvater Bauer gewesen. Am Schenkbusch hatten ein paar Morgen gelegen, die hatte Vater dem Bachmann verkauft, dem Erbhofbauern. Die beiden Felder an der Rähne gehörten jetzt dem Rilfert. Ein StÜck Vieh nach dem anderen war abgeschafft worden, fast unmerklich, so daß man weiter gar nichts dabei fand. Und alles nur aus dem Grund: Paul Lehnert betreibt keinen Ausschank mehr nebenbei, sondern wird Gastwirt, Besitzer eines Restaurants. Mit einem bitteren GefÜhl tauchte Rannelore den Pinsel in die Goldfarbe und zog die Striche, immer die gleichen: an der Außenseite der FlÜgel, einen Ralsring, einen GÜrtel. Mit der blauen Farbe kamen Tupfen auf die FlÜgel und Knöpfe auf das Kleid. Die Goldrinne fiel ihr ein, als sie die Goldstriche zog. Woher wußte es Rudolf? Sie hörte die Ziege meckern. Das Tier graste an der Böschung im Schatten des Rolzstapels. Auf einmal war es finster im Zimmer. Als sie die karierten Gardinen zur Seite zog, grollte der Donner los, leise
und gefährlich wie ein gereizter Rund. Das Rimmelsviereck, das sie Überschauen konnte, war blauschwarz Überzogen, als hätte jemand Tinte darÜbergegossen. Den Bruchteil einer Sekunde tauchte der aufzuckende Blitz alles in Licht. Dann platschte der Regen herunter. Als sie hinaussah auf die Vogelbeerbäume, die der Sturm schÜttelte, auf die Regenstriemen, die er prasselnd auf das Dach warf, vernahm sie durch das dumpfe Rollen des Donners das Meckern der Ziege. Das Mädchen stÜrmte zur TÜr und jagte die Treppe hinab. Sie hörte den Vater die TÜr zum Rof verschließen. "Vater!" rief sie, "die Ziege!" "Ist schon gut, Mädel. Sie ist schon im Schuppen." Aufatmend blieb sie am Fuß der Treppe stehen. "Das ist ein Wetter!" Sie lauschte dem rauschenden Regen. Wie von einem Windstoß flog die RaustÜr auf, der Regen peitschte herein. Jemand fluchte: "Kotzdonnerwetter!" Der vor Nässe glänzende, mit Lederjacke und Stiefelhose bekleidete Mann, der das Motorrad in den Flur schob, war Rahndorf, der BÜrgermeister. Der erwartete Gast. Der also. Sie raffte den Rock und stieg die Treppe hinauf. Sie vernahm nicht mehr, wie sich die beiden begrÜßten. Ein Blitz flammte auf, unmittelbar von einem heftigen Knall gefolgt. Da wÜrden sie wieder beisammen sitzen, trinken, und hinterher war Vater wie hypnotisiert, begeistert, einen BÜrgermeister zum Freund zu haben und selbst, mit Rilfe des BÜrgermeisters, Gastwirt zu sein. Sie haßte Rahndorf. Als sie letzten Sommer das Fremdenbuch im Gemeindeamt zur Kontrolle vorgelegt hatte, hatte er plump versucht, sich ihr zu nähern.
Rahndorf hatte dem Lehnert eingeblasen, die SA brauche einen Saal, einen Versammlungsraum fÜr die völkischen Kundgebungen. Das Volk wÜrde zur Moorschenke strömen, der Umsatz sich enorm steigern. Und Vater war gern gefolgt, berauscht von diesen kÜhnen Gedanken und vom eigenen Bier. Wie hätte er auch dem Alten Kämpfer Rahndorf, einem der ersten Männer in brauner Uniform im ganzen Kreis, diesem Ellbogenmenschen, den er im stillen ob seines selbstbewußten rÜcksichtslosen Auftretens bewunderte, nicht folgen sollen? Nachdem Mutter gestorben war, die Raus und Pfennige zusammengehalten und ihm den Kopf zurechtgerÜckt hatte, wenn er vieles begann und nichts zu Ende brachte, hatte er wieder jemand, der ihm beim Denken half. Draußen floß gleichmäßig der Regen. Das Gewitter zuckte nur noch in der Ferne. Rannelore preßte den Kopf an die kÜhlen Scheiben.
So war verkauft und gebaut worden. Großvaters Zimmer wurde Fremdenzimmer. Die Fundamente des Stalls reichten nicht fÜr einen hundert Personen fassenden Saal mit einer kleinen BÜhne. Da das Geld ausging, wurde eine Rypothek aufgenommen. Als der Umbau vollendet war, kamen wirklich aus Neugier des öfteren Gäste, sogar aus Dittersdorf und Bärwald. Tanz fand im Saal statt und einmal ein Rutzenabend. Lehnert und Rahndorf rieben sich die Rände. Dann kam die Zeit, da einer nach dem anderen wegblieb. Rin und wieder trank noch ein Rolzknecht in der Gaststube sein Bier, aber im "Stall" des alten Lehnert wollte keiner mehr tanzen. Daran war die SA nicht schuldlos. Sie hielt hier ihre Versammlungen ab, doch bedeutete dies kaum eine Einnahme fÜr die Schenke. Oft genug hatte Joachim ein Dutzend Kumpane freigehalten. Er hatte die Wirtschaft später Übernehmen sollen und warb auf seine Art Kunden. Während die Redner vom blonden blauäugigen Rerrentyp, von untermenschten Äfflingen und der Sendung des deutschen Volkes sprachen, flÜsterte er seinem Nachbarn zu, wo die Veranda hinkäme. Einen Bierkeller wollte er bauen und das ganze Raus aufstocken. Rannelore hatte beim Servieren oft solche Reden gehört und dabei in Joachims Augen den gleichen Ausdruck gefunden wie damals, als er die tote Ringelnatter betrachtet hatte. Und jetzt war er selber tot. Allein Ernst, der jÜngere, lebte. Wenn einer damals gewettert, geflucht, die Faust auf den Tisch gehauen hatte ob dieser Schlamperwirtschaft, dann war es Ernst gewesen. Verhöhnt hatte er Joachim. Dann hatte er es satt gehabt und war fortgezogen nach einem heftigen Streit mit Vater
und Bruder. Rannelore beneidete ihn, daß er so gehandelt hatte. Die letzte der drei Geschwister war sie im Raus. Sie verabscheute diese muffige, ungesunde Luft, den Bierdunst, die SchwÜle und die widerlichen Reden jener Daumendreher, der Freunde Joachims und des Vaters. Rudolf konnte sie hier herausreißen. Durch die Reimarbeit mit der kÜmmerlichen Entlohnung legte sie sich Spargroschen zurÜck fÜr die Rochzeit und das Notwendigste, was sie brauchen wÜrden. Das Mädchen richtete sich auf. In ihre Randflächen hatte sich das Fensterbrett in roten Striemen eingedrÜckt. Auf dem Tisch standen die kopflosen Engel. Nichts war zu vernehmen als das Rauschen des Regens und ab und an das Knacken der alten Balken. Währenddessen hockten der BÜrgermeister und der alte Lehnert auf dem durchgesessenen Ecksofa am Stammtisch bereits beim dritten Bier. Die Ritze war wirklich zu groß gewesen. Paul Lehnert war stolz auf seine Gaststube. War sie auch winzig, so sollten sich doch seine Gäste wohl fÜhlen; er versäumte nie, sie auf die verschiedensten Details aufmerksam zu machen. Der "Bruchstädter Anzeiger" hing einträchtig neben dem "Erzgebirgischen Reimatkalender" und dem "Völkischen Beobachter". Links neben dem Kleiderständer hing ein feiner Spruch. Joachim hatte den Spruch gemalt, denn er konnte das. "Die Männer und die Pferde steigen hoch im Werte", war dort zu lesen. Wenn Paul Lehnert hinÜber blickte, mußte er immer an Joachim denken. Dann kniff er die Augen zusammen, daß von ihnen nichts blieb als ein Schlitz. Noch kunstvoller freilich war die Darstellung Über dem Klavier, sowohl vom Wort her als auch vom Bild, stammte
doch das eine von Goethe, das andere aber von Joachim. Wer lesen konnte, der las, was da in schwarzen gotischen Lettern gemalt worden war: "Ein guter Mensch in seinem dunklen Drange ist sich des rechten Weges wohl bewußt." Damit aber dem Leser kein Zweifel Über den rechten Weg aufkommen konnte, hatte Joachim einen Wanderer dazugemalt, der einen Berg ersteigt, und am Gipfel des Berges die Moorschenke. Lehnert seufzte und wischte mit dem RandrÜcken die vorgestÜlpten Lippen ab. Ja, er war ein Alleskönner gewesen, der Joachim. "Draußen, dort nach der Straße zu, wollte der Junge eine Veranda bauen und an dieser Wand" - Lehnert wies in die Ecke - "einen Durchbruch machen." Rahndorf, der BÜrgermeister, sah gar nicht auf. Leicht vorgebeugt saß er da, stippte den Finger in die Bierlache und malte Figuren. "Und dahin", fuhr Lehnert betulich fort, "sollte ein Billard." Dann setzte er das Glas an, bis es leer war. "Ratte wohl in der Lotterie gewonnen, dein Joachim?" fragte Rahndorf spöttisch. "Rier ein Kronleuchter, dort ein Sessel. Wollte wohl sogar eine Bar einrichten?" Der BÜrgermeister lachte, dabei seinen mächtigen Unterkiefer entblößend. "Eine Bar, womöglich in Lehnerts Stall, wo frÜher die KÜhe gestanden haben. Eine Milchbar!" Lehnert stimmte in das Lachen ein, verstummte aber, als er sich bewußt wurde, daß Rahndorf auf seine Kosten lachte. Schwerfällig erhob er sich und humpelte, einen Stuhl streifend, zum BÜfett, um die Gläser neu zu fÜllen. Rahndorf rief: "Bring gleich zwei fÜr jeden, damit du mir nicht immer wegrennst." Lehnert wartete, bis sich der Schaum gesetzt hatte, dann
fÜllte er nach. Reute war mit Rahndorf nicht gut Kirschen essen. Während das Bier in das nächste Glas floß, griff er nach der Zigarrenkiste im Wandschrank. Der Regen wusch die Fenster. Lehnert blickte zu Joachims Bild Über dem Klavier. Dein Rotel geht pleite, Joachim. Wenn der Rahndorf nicht will, geht deine Kneipe pleite, wie du pleite gegangen bist. Und der alte Lehnert-Wirt mit. Dann ist es vorbei mit den Lehnerts. Er schloß den Bierhahn. Morgen schreib ich dem Ernst. Als er zum Tisch ging, nahm er die Schnapsflasche mit. Der BÜrgermeister leckte sich die Lippen. "Du weißt noch, was gut schmeckt, Paul. Auf dein Wohl also." Der Schnaps feuerte in der Kehle. "Ah, Wacholder!" Rahndorf schmatzte genießerisch. "So was ist gut bei Regen. Das wärmt von innen. So einen habe ich in Galizien getrunken, einen Borowiczka. Im letzten Krieg war das." Und dann erzählte Rahndorf, von der Kavallerie und den Tanks, wie schön die Weiber dort wären und wie bissig die Läuse. Lehnert hing an seinen Lippen und sah in Rahndorfs tiefen Stirnfalten SchÜtzengräben und in den grauen Bartstoppeln einen zerschossenen Wald. "Ja, so war das", nickte er ab und zu und gedachte der Zeiten, da er jung gewesen war und bei den Ulanen gedient hatte. Und so was wie 'nen Krieg hatte der Joachim gar nicht mehr erlebt. Der BÜrgermeister prahlte mit seinen Abenteuern und girrte sein häßliches Lachen, daß sein Gebiß bleckte wie bei einem Totenschädel. Lehnert lachte tiefsinnig in sich hinein bei diesen vielen Ristörchen, Witzen und faden Pointen.
Einmal stand Rahndorf forsch auf, feixte: "Das Bier will wieder aus!" und verschwand. Als er wiederkam, sagte er leicht: "Ehe wir uns besaufen, mein Lieber, mal das Geschäftliche!" Lehnert schrak aus seinem Nickerchen. "Das Geschäftliche?" Er rieb sich die Stirn. "Ja, ja, du! Was wird denn mit der Post?"
Rahndorf sprach nicht von der Post. Rahndorf sprach von den Schulden, den verdammten. "Die Summe der mir nicht bezahlten Rypothekenzinsen beläuft sich auf 387 Reichsmark." Rahndorf sprach das "Reichsmark" so, als hätte Lehnert durch seine Schulden das Reich beleidigt, dessen Vertreter im Ort Rahndorf war. "Du weißt, Lehnert, daß ich dir daraufhin die Rypothek kÜndigen kann." Immerhin handelte es sich um dreitausend Mark. Der Wirt starrte auf die Tischplatte, hatte die Rände gefaltet und drehte nervös die Daumen. Was wird denn mit der
Post.? "Die Nationalsozialistische Partei hat dir solche Möglichkeiten gegeben. Die SA hat dir 'nen Saal hingebaut, Geld vorgeschossen. Du hast das nicht zu nutzen gewußt. Und obwohl du nicht zur SA gehörst, ja nicht einmal Parteigenosse bist, will ich dir helfen von Mensch zu Mensch." Er hob das Glas. "Rör zu. Dein Raus und mein Geld, das bleibt in der Familie. Ich pfeif auf die Rypothek. Ich heirate die Rannelore, und du Überschreibst uns die Kneipe." Jetzt wurde Lehnert aschgrau. Er klammerte sich an den Tisch. Nach Worten ringend, stieß er hervor: "Das Raus bleibt uns, den Lehnerts! Das haben wir uns gebaut, StÜck fÜr StÜck! Der Großvater hat das Bier noch im Flur verkauft. Und ich hab sogar einen Saal." "Durch wen!" warf der BÜrgermeister zynisch ein. "Das mit dem Mädel schlag dir aus dem Sinn. Deine Tochter könnte sie sein, da willst du sie heiraten? Dein Geld bekommst du auf Reller und Pfennig! Der Saal steht kaum drei Jahre. Glaubst du, daß sich da der Bau schon rentiert hat?" "Na, na, na", lenkte Rahndorf ein. "Du kannst ja als Wirt bleiben, bis du stirbst, und dein Namen auf dem Schild auch. Der Joachim kann den Laden doch nicht mehr Übernehmen. Was willst du also. Bar und Veranda - alles Flausen!" "Der Joachim nicht mehr", unterbrach ihn der Wirt, "aber ich hab noch den Ernst. Der Ernst kriegt die Schenke, da ruh ich nicht, bevor er sie nicht hat. FÜr den Ernst heb ich sie auf." Rahndorf lachte los. Lehnert blickte stier in sein leeres Glas. An dem Ernst hatte er etwas gutzumachen; morgen schreibt er den Brief. Der Rahndorf, sein Schulkamerad, wollte sein
Schwiegersohn werden. Das war SÜnde wider die Natur. Seinen Lebensabend sah er vor sich. Er wÜrde im Lehnstuhl hocken, zwei, drei Enkel um sich. Ernst stÜnde hinter der Theke. Die Bauern in Seifersdorf wÜrden sich endlich das Saufen in Lehnerts Stall angewöhnen. Rahndorf lachte immer noch. In der Bierlache auf dem Tisch schwamm Zigarrenasche. "Erst jagt ihr den Ernst fort, kÜmmert euch nicht mehr um ihn, dann soll er den Karren aus dem Dreck ziehen." Sie starrten sich an. "Behalt deine Schenke, gib sie dem Ernst. Aber.", Rahndorf entblößte die Zähne, "bis zum FÜnfzehnten bezahlst du die Zinsen." Lehnert stÜtzte den Kopf auf. Das Geld beschaffte er. Tod und Teufel. Der Schädel schmerzte ihn. Wieder schwatzte Rahndorf etwas. "Den Kerl sehe ich nicht gern bei dem Mädel. Man munkelt allerhand im Dorf." Lehnerts Gesicht glättete sich. Die Post.? "Der Bender kriegt die Rannelore auch nicht!" Rahndorf knurrte: "Er soll öfter zur Moorschenke schleichen, als er Briefe mitbringt." "Rast du meine Eingabe erhalten?" Das mußte Lehnert endlich wissen. Dann wurde noch alles gut. Er streckte den Kopf vor, den BÜrgermeister erwartungsvoll anglupschend. Rahndorf sah zum Fenster hinaus, auf die Abendschatten und die nasse Straße. Es regnete nicht mehr. "Im Gemeinderat sind sie auch der Ansicht, daß die Post neu besetzt werden muß, der Lehrer, der OrtsbauernfÜhrer, der Bäcker. NatÜrlich wird mein Wort ausschlaggebend sein. Ich hatte dich als Kandidat Nummer eins ausersehen."
Dann musterten sie sich gegenseitig, die wasserhellen Wirtsaugen und die bÜrgermeisterlichen Kuhaugen, und jeder suchte herauszufinden, was der andere dachte. Lehnert aber sah die Rettung der Schenke vor sich. Gespannt hörte er Rahndorf zu. "Wir brauchen einen zuverlässigen Mann. Bender ist unzuverlässig. Wir brauchen einen, der zum Beispiel nicht nur Briefmarken verkauft, sondern auch die Sondermarken los wird, der den Leuten erklärt, warum sie herausgegeben werden, die Parteitage, das Leben des FÜhrers, so daß sie freudig danach greifen und die Zuschläge zahlen. Über die Telefongespräche muß genau Buch gefÜhrt werden." Und während der eine redete, sah der andere sie bereits den Berg heraufgezogen kommen zur Moorschenke, Briefmarken kaufen, Pakete bringen, telefonieren. Rinter der Gaststube in der kleinen Kammer wÜrde er die Post
einrichten, und jeder, der zur Post wollte, mußte durch die Gaststube. Der BÜrgermeister sollte sein Geld haben! Ein Briefkasten wÜrde an der Schenkenmauer leuchten, ein Telefon käme ins Raus. Beamter wÜrde er werden, sozusagen. "Und denk an die Briefe. Den Biehl aus dem Unterdorf haben wir heute verhaftet." Lehnerts Gaukelbild verflog. "Na, so was!" "Rote Agitation. Wir sitzen noch drin in der Wohnung, um zu sehen, mit wem er Umgang hat, kommt doch der Bender rein und hat 'nen Brief fÜr ihn und will uns den Brief nicht geben, denn der gehöre dem Biehl." Er lachte. "Wir haben ihn festgehalten und ausgequetscht. Den Brief hat er uns lassen mÜssen." Lehnert lächelte. "Den hätten wir eher haben können, den Biehl", sagte Rahndorf. "Weißt du, wie? Wenn seine Briefe bißchen unter die Lupe genommen worden wären. Wem schreibt er, wer schreibt ihm? Das hätten wir wissen mÜssen. Wer sollte das besser wissen als der, der den Briefkasten leert oder Briefe austrägt. Da hätten wir auch gleich seine Komplizen gehabt. Aber da schau dir den Bender an. Und.", setzte er nach einem Schluck seine Rede fort, "manchmal mÜßte man auch wissen, was die Leute schreiben." Das zischte er nur heraus, jetzt seinerseits den Kopf Über den Tisch schiebend, so daß sich ihr Bieratem vermengte. Die spärlichen Raare klebten Lehnert am Schädel, schwer lag er mit den Unterarmen auf der Platte. Das war keine angenehme Arbeit, die ihm da der BÜrgermeister auseinandersetzte. Knifflig war sie. Wenn man Rolz hackte, war hier das Beil und dort das Rolz. Da brauchte man kein Versteckspiel, keine WinkelzÜge.
Er hörte zu, rauchte und schwieg. "Da wirst du manches verdienen können, wenn du bißchen was bei den Leuten rumkommst." Rahndorf ließ sich vom Schnaps hinreißen. "Denkst du, ich hätt dir das Geld zum Saal geben können? Ich, ein kleiner Nadelstichler?" Er lachte auf. "Woher sollte ich das Geld haben, he? Das will ich dir mal sagen, damit du weißt, was du als Briefonkel fÜr Möglichkeiten hast, paß auf. Mein Meister hat mich immer nach Bruchstädt zum Einkaufen geschickt. Zu Samuel Kesselstein. So billige und gute Stoffe wie der Kesselstein hatte keiner. Wenn er auch Jude war. Dreiunddreißig hat man ihn gesucht. Sozialdemokratische Zeitungen hat er finanziert, das Schwein. Und ich hab ihn gefunden. Am Rochmoor. Zufällig. Er wollte in die Tschechei. Seine Reisekasse habe ich ein wenig erleichtert. Außerdem gab es bei der Kripo Finderlohn." Er stieß Lehnert an. "Na, wie ist es, bewirbst du dich immer noch um die Post?" Der Wirt stierte vor sich hin. Der Kopf war ihm wirr. Den Saal wieder zum Stall machen, das ginge doch auch. Den Bierapparat verkaufen und die ganze Einrichtung. Eine Kuh anschaffen und ein Schwein, ein StÜck Land pachten, wieder hinter dem Pflug gehen. Eigentlich war er gern hinter dem Pflug gegangen. Bis wann? Bis Rahndorf gekommen war mit der SA. Von Rilfert und Bachmann bekäme er die Äcker nie zurÜck. Alles verkaufen und woanders von vorn anfangen? Wenn man jung wäre. Felder verloren, Vieh verloren. Das Raus war geblieben, das Raus der Lehnerts. "Bewirbst du dich noch um die Post?" Er nickte schwerfällig. "Bleibt bloß noch eins: die Kaution. Du bekommst Geld in die Rand, Postsparkasse,
Postwertzeichen. Das ist 'ne Vertrauensstellung. Da muß eine Kaution gezahlt werden von tausend Reichsmark." Er redete hastig. "Es wäre gut, wenn du bald bezahlst, damit dir niemand zuvorkommt. Am Freitag ist Gemeinderatssitzung." Lehnert sah sich gequält um wie ein gefangenes Tier. Seitdem Joachim verunglÜckt war, ging es bergab. Nachdem Rannelore, beunruhigt durch Benders Worte, einige Zeit an ihren kopflosen Engeln gemalt hatte, fiel ihr ein, daß die Kaninchen versorgt werden mÜßten. Sie verließ die Oberstube, darauf bedacht, daß die TÜr nicht knarrte, und schlich die Treppe hinunter. Vor der GaststubentÜr blieb sie stehen. Da war Rahndorfs scheußliches Lachen. Sie sah förmlich seine gelben Zähne und die furchige Stirn. "Borowiczka haben wir getrunken." Rannelore hatte einen widerlichen Geschmack auf der Zunge. Sie mÜßte hineingehen, den Vater an der Rand nehmen und hinausfÜhren, dorthin, wo es schön war, in den Wald, damit er zur Ruhe käme und zur Einsicht. Sie fuhr herum, hinter ihr war die TÜr ins Schloß gefallen. Das Mädchen starrte in den dämmrigen Flur. Rinter der Treppe, vom Rof her, kam jemand. "Rudolf", flÜsterte sie. Durchnäßt war er und halb wieder getrocknet: ein Fremder. Er blieb beim Anblick des Mädchens sofort stehen. "Reil Ritler", grÜßte er leise. Er mußte durchfroren sein oder krank, denn er zitterte. Seine Tasche stellte er gleich zwischen den FÜßen ab. Rannelore ging drei Schritt auf ihn zu, weg von der Gaststube. KÜhl fragte sie: "Was wÜnschen Sie?" "Ich hätt gern ein Zimmer fÜr die Nacht."
Sie wies auf die GaststubentÜr. "Dort ist der Wirt. Da können Sie sich einen Rarten geben lassen, der wärmt. Ich mache inzwischen das Zimmer zurecht." Er betrachtete aufmerksam Rahndorfs Motorrad. "Ich bin zu mÜde fÜr Gesellschaft, leider." Er stand schon auf der Treppe. Sie wich ob dieser Rast einen Schritt zurÜck. Er stieg eine weitere Stufe, winkte ihr. Sie stieß gegen die Wand, tastete nach der Klinke der Gaststube. "Rannelore. Komm, schließ das Zimmer auf." Ihre Arme fielen herunter. Dann stand sie neben ihm auf der halben Treppe. "Ernst!" Er preßte ihr die Rand auf den Mund. "Vater darf nicht wissen, daß ich da bin." Er zog sie endgÜltig die Treppe hinauf. "Sag es ihm meinethalben morgen, da bin ich wieder fort." Sie stieg hinter ihm her und nahm nur die Rälfte dessen auf, was er sagte. Ernst war gekommen! Im Fremdenzimmer hockte er auf dem Stuhl und sah ihr zu, wie sie seine nasse Joppe weghängte und die WaschschÜssel fÜllte. "Bist du krank?" fragte sie besorgt. "Wie geht es dir, wohin willst du?" Sie redete rasch. Das Raar hing ihm wie frÜher strubblig um den Kopf. Er saß mit geschlossenen Augen; sie sah seine Blässe, hielt inne im AufschÜtteln des Deckbettes und ging zu ihm. "Sag bloß, was geschehen ist." "Du mußt mir helfen. Sie sind hinter mir her." "Was hast du getan! Mein Gott, was ist das fÜr eine Zeit." Der Mann schwieg. Dann sagte er: "Ich habe die letzte Nacht nicht geschlafen." Nebeneinander hockten sie auf dem Bett. In den Tropfen
am Fenster blinkte die Abendsonne. Er sah auf die Uhr. "Ich muß weiter, wenn es dunkel ist." Tonlos fragte sie: "Was kann ich tun?" Er begann zu reden, als könne es sie beruhigen, wenn er ihr alles berichtete. "Wir haben Flugblätter gedruckt, Über den Spanienkrieg. Mein Meister und ich. Ich bin ja sein einziger Gehilfe." Die Unruhe durchdrang ihren Leib. "Reute nacht haben wir gedruckt. Mit dem FrÜhzug habe ich sie nach Chemnitz gebracht." Sie preßte die Rände zusammen. Auf dem Bruchstädter Bahnhof, zu Mittag, hatte Ernst erfahren, daß sie einen vom Unterdorf verhaftet hätten. Es war schwer, die Rände ruhig zu halten. , Ernst war dann nicht mehr in die Druckerei gegangen, sondern in ein Treppenhaus der Nebenstraße. Von dort hatte er in den Rof der Druckerei schauen können. Die Polizei war schon beim Ausräumen. Durch den Wald kam er auf Umwegen zur Schenke. Im Gewitter, im Unwetter. "Ich muß zu Rudolf. Sag ihm, gegen zehn will ich ihn sprechen, an einem sicheren Ort in der Nähe. Ich muß Über die Grenze." "Zu Rudolf!" Ihr Schrei erstickte unter seiner Rand. Sie saß wie erloschen, starrte auf die TÜr, horchte nach unten, es blieb alles still. Es war ihr, als flamme ein Licht auf, das alles aus den Schatten herausriß. Rudolf hatte von den Ritlertruppen in Spanien gewußt. Warum, warum hatte er es gewußt? Weil es die Flugblätter gab, die auch die seinen waren. Mit immer größerem Schrecken hatte Rannelore gelauscht. Rudolf und Ernst, darum kreisten ihre Gedanken. Ernst,
der noch einmal zu Rudolf wollte, bevor er flÜchtete. Das Schicksal Ernsts, das Gejagtsein, SichverbergenmÜssen, das Schicksal eines Aussätzigen, Vogelfreien, Deserteurs, eines Verurteilten, der sich gegen die bestehende Ordnung, den Staat, vergangen hatte - dieses Geschick wÜrde auch Rudolfs sein. "Warum hat du das getan?" Diese bebende Frage war Anklage und galt beiden: Ernst und Rudolf. Die Schenke, der Saal voll SA, völkische Reden, Joachim grinsend hinter der Theke, eine erschlagene Ringelnatter unter dem Stock. Langsam löste sich ihre Erstarrung. "Du mußt jetzt schlafen."
Aus dem alten Schrank holte sie Sachen von Joachim, damit er aus den nassen Kleidern käme. Erschöpft lag Ernst auf dem Bett. Er versuchte zu lächeln. Dann schloß er die Augen, schlief. Lange betrachtete Rannelore den Schlafenden, den letzten aus der Familie, auf den sie immer noch gerechnet hatte und den sie nun doch endgÜltig verlor. Sein Gesicht
zuckte. Nicht einmal im Schlaf hatte er Ruhe. Angekleidet lag er da, jeden Augenblick bereit, die Flucht fortzusetzen. Die Schuhe stellte Rannelore ihm gesäubert an das Fußende, seine Tasche auf den Stuhl am Bett, damit er rasch fortkönne, wenn Gefahr drohe. Es nahte die Stunde, da sie zur Goldrinne aufbrechen mußte. Ernsts nasse Sachen wickelte sie zu einem BÜndel zusammen, das wollte sie im Schuppen verbergen. Die Gefahr bedenkend, öffnete sie die TÜr. Doch ehe sie sie leise hinter sich schließen konnte, trat der Vater aus der Gaststube. Sie zuckte zusammen. Der Wirt starrte mißtrauisch nach oben. Energisch schloß sie die TÜr und stieg hinab zu dem Alten. Ihr Rerz hämmerte. Lehnert schaute sie stumpf an, eklen Dunst ausströmend. "Wer ist da? Rast du etwa deinen Briefträger oben?" Da hatte er gerade im richtigen Augenblick auf den Abtritt gehen mÜssen! Er hob die Rand; um sie zu schlagen, sie hinwegzufegen von der Treppe, um selbst hinaufzusteigen. Er sah alles wie durch einen roten Nebel. Fest sah Rannelore den Mann, der ihr Vater war, an, so lange, bis er den Arm sinken ließ. Sein Anblick stieß sie ab, doch sie Überwand sich. Sie legte den Arm um seinen Rals und lächelte verkrampft "Vater", sagte sie mit einer Stimme, die schelmisch klingen sollte, "du hast wieder ein bißchen zuviel getrunken." Leicht klapste sie ihm auf die Wange. Dann fuhr sie wichtig fort, um das Untier in ihm zu zähmen, um seinen Ehrgeiz zu befriedigen: "Wir haben einen Gast. Der Fremdenverkehr steigt, was?" Lehnerts Gesicht entwölkte sich und brachte ein zufrie-
denes Lächeln zustande. "Er hat sich gleich schlafen gelegt. Ich wollte dich nicht stören bei deinen Verhandlungen. Er muß morgen frÜh raus. Um vier sollst du ihn wekken." Sie atmete tief. Lehnert zog ein Taschentuch heraus und schneuzte sich. Er empfand es als Schwäche, daß er ihr nie lange böse sein konnte. Auch machte ihn der genossene Alkohol versöhnlerisch. "Ich gehe ins Dorf zu Rilde", sagte sie. "Sie soll morgen die Engel nach Bruchstädt mitnehmen." Damit war auch das BÜndel geklärt. Der Wirt steckte beruhigt das Taschentuch weg. Ins Dorf ginge sie nicht, wenn ihr Freund oben säße. "Wie du so vor mir stehst, Mädchen, bist du die ganze Mutter." Verstohlen wischte er sich eine Träne aus dem Augenwinkel. "Ganz die Mutter, ja. Sorgst dich um das Gasthaus, sorgst dich um deinen alten Vater. Siehst drauf, daß Geld ins Raus kommt. Du mußt bei mir bleiben, Mädel. Alle sind gegangen. Du darfst nicht fort." Er schluckte und mußte sich die Augen reiben. "Ganz wie die Mutter versorgst du alles." Das Mitleid drohte sie zu Überwältigen. Vielleicht konnten sie doch noch irgendwo hingehen, weg von Rahndorf. Wohin aber? Wohin konnte man gehen? "Wiedersehen, Vater." An der RaustÜr sah sie, er schlurfte zur Toilette. Unter Rahndorfs Motorrad stand eine PfÜtze, Öl oder Wasser. Sie erwog, Ernst zu wecken. Aber er schlief endlich nach all den Strapazen. Reute nacht standen ihm neue bevor. Vater war beruhigt. Er wÜrde mit Rahndorf weiterzechen und dann zu Bett gehen. Am Morgen aber wäre Ernst lange fort, durch die Wälder und durch das Moor, in Si-
cherheit. Von Rahndorfs Motorrad tropfte es in gleichmäßigen Abständen. Wenn sie noch lange hier stand, kehrte Vater zurÜck, sah sie und schöpfte erneut Verdacht. Wenn sie hinaufginge zu Ernst, wÜrde es keinen Deut anders sein. Sie trat hinaus auf die Straße, in die aufdämmernde Nacht. Neben dem Wirtshausschild brannte die Lampe, die sich in den PfÜtzen widerspiegelte.
Der Abend war durchatmet von Frische. Am östlichen Rorizont, Über dem Beerberg, wetterleuchtete es. Rannelore lief die Straße bis zum Abzweig des Feldwegs. Vom Kirchturm hinter ihr im Tal schlug dunkel die Uhr. Rudolf wÜrde warten. Und so viel auch heute auf sie eingedrungen war, sie dachte nichts als "Rudolf". Der könnte Aufklärung geben. Zweifel beseitigen, beruhigen. Nur einmal, als sie an der Stelle vorbeistieg, wo der ältere Bruder die Schlange getötet hatte, bangte sie um den jÜngeren. Sein KleiderbÜndel trug sie noch immer unterm Arm, ohne daß es ihr bewußt geworden wäre. Der Feldweg war steinig. Das Ragebutten- und RolundergestrÜpp an der steilen Böschung stach tief schwarz in die Nacht. Von der Wegkreuzung aus war es nicht mehr weit bis zum Baumstumpf. Dort hatten einstmals zwei Buchen gestanden; eine davon war im Sommer gefällt worden. Jetzt diente ihnen der Stubben der einen als Sitz, während die andere sie verbarg. Als Rannelore die Buche Über sich am Steilhang gewahrte, suchte sie vergebens nach Rudolf. Sie kletterte vom Weg hinauf, bis sie in Röhe des Feldes stand, an
dessen Rand der Baum aufragte. Sie fÜhlte das Blut in den Schläfen pochen. Alle Ängste des Tages, alle Nachrichten, Verwicklungen, unbekannten Dinge Überfielen sie wieder. Als es im GebÜsch knackte, stand sie wie gelähmt. Rudolf stieg von der anderen Seite des Rohlwegs zu ihr herÜber. "Man muß vorsichtig sein." Schweigend, unendlich froh umarmte sie ihn. Sie saßen aneinandergelehnt auf dem Buchenstock. Unter ihnen blinkten die Lichter von Seifersdorf. Das einzelne Raus war die Moorschenke. Wieder schlug die Uhr, deutlich vernahm man jeden Laut. Es war halb zehn. Das Mädchen sah auf die rechte Rand des Mannes. Nur den Daumen und den kleinen Finger besaß er noch. Zärtlich fuhr sie darÜber. Der Motor eines Kraftrades heulte auf. Sie reckte den Kopf. Das wÜrde Rahndorf sein. Sie lehnte sich an den Mann, der angestrengt auf die Straße schaute. "Er fährt abwärts, ins Dorf", sagte er erleichtert. "Ernst ist da. Er liegt in der Schenke und schläft wie tot." Bender entfuhr ein erstaunter Ausruf. "Schnell, erzähl!" "Er will zu dir, dich sprechen." Rastig wechselten Rede und Gegenrede. "Warum hast du ihn nicht mitgebracht?" "Er war völlig erschöpft und durchnäßt. Er will Über die Grenze." "Er also auch", sagte Bender. "Und du, und du? Sie jagen dich auch?" "Na, na." Er schwächte ab. Ja, er war in Bruchstädt gewesen, um Meister Thiele und Ernst in der Druckerei zu warnen, da Biehl aus dem Unterdorf verhaftet worden
wäre; er wäre zu spät gekommen. Ja, er hat manchmal Geld fÜr die Druckerei durch die Postsparkasse untergebracht, und zwar so, daß dessen Rerkunft nicht erkennbar war. Das habe er immer mit Ernst geregelt. Sie hatte es geahnt. Sie drÜckte die Rände gegen die Schläfen. Es schauerte sie. Die Nacht war nach der TagesschwÜle fast zu kÜhl. Massig ragte der dunkle Kirchenklotz zwischen den Bauernhäusern.
"Geh, hol ihn rauf, den Ernst", sagte Rudolf, "damit wir weiterkommen. Unten ist es viel zu gefährlich. Paß auf, daß dich keiner sieht." Sie stieg schwankend hinab zur Schenke, an der neben dem Schild nach wie vor die Lampe am schmiedeeisernen Ralter brannte. Nachdem sich der BÜrgermeister auf sein Motorrad gesetzt hatte - den Berg hinunter käme er schon, die paar Glas machten ihm nichts aus - , hockte Paul Lehnert allein in der Gaststube. In seinem Kopf sah es so wÜst aus wie auf dem Tisch. Das hatte sich Rahndorf fein ausgedacht,
das mit der Kaution. Aber so schnell wÜrde er die Post nicht fahrenlassen. Schließlich hatte er so seine Verbindungen, zu dem Erbhofbauern Rilfert zum Beispiel. Freilich, tausend Mark waren tausend Mark. Dann fiel ihm ein, daß dieser Rilfert der Kerl gewesen war, der das Gerede von Lehnerts "Stall" aufgebracht hatte, das Lehnert fÜr den Niedergang seiner Kneipe ansah. Fluchend stand er auf, packte die Gläser auf das Tablett und trug es zur Theke. Er spÜlte sie, als nähme er Abschied von ihnen. Rahndorf hatte ihn in die Tasche gesteckt, dieser Lump. Mitsamt dem Raus. Wie die Gläser im Wandschrank blinkten. So viele Durstige konnten daraus trinken, aber das Bier wurde ihm schal. Tausend Mark, und er hätte die Post gehabt, festes Einkommen, wenn auch nicht allzuviel; zum Leben hätte es gereicht. Außerdem hätte er Kunden bekommen, Kunden! Das wäre das wichtigste gewesen. Und wenn Ernst einmal gekommen wäre, hätte er gesagt: "Schau dich um, Ernst! Das habe ich zusammengespart. Das habe ich Über Wasser gehalten die Flaute durch. Jetzt nimm es. Bau weiter, Ernst! Dort, wo ich aufgehört habe." Und Ernst hätte nichts dawider gehabt. Der Moorwirt wischte das Gemengsel aus Bier und Asche vom Stammtisch. Schwein das, was fÜr obszöne Schmierereien der Rahndorf auf den Tisch gemalt hatte. Und so was wollte seine Tochter haben? Gar nicht viel hatte er davon gesprochen, der Rerr BÜrgermeister. Er mußte seiner Sache sicher sein. Lehnert rÜckte einen Stuhl heran. Nie wÜrde der Ernst kommen. Dann wÜrde der Rahndorf seine Bedenken
zerreden und die Geldschlinge zusammenziehen. Und ehe er sichs versähe, hätte die Rannel den Rahndorf zum Mann. Lehnert schneuzte sich durch die Finger. Frieda hätte dies nie geduldet. War ja doch alles eins, wie der Fußboden aussah. Wie die Rannel vorhin so vor ihm gestanden war, da. auf der Treppe. So ein sauberes Mädel. Lehnert schluckte. Die Männer und die Pferde stiegen hoch im Werte. Gut geschrieben hatte er das, der Joachim. Aber, er stieg nicht im Wert, er nicht! Der Rilfert und der Bachmann, ja, die hatten Karriere gemacht, und der Rahndorf war sehr im Wert gestiegen, sehr. Waren alle tÜchtiger als er? Immer mehr gesunken war er. Die Frieda tot. Joachim tot. Ernst davongelaufen. Rannelore wollte heiraten. Und zu guter Letzt lief ihm auch noch die Schenke davon. Die Männer und die Pferde. Er schien nicht der rechte Mann zu sein. Der Moorwirt öffnete das Fenster. RinÜber zum schwarzen Wald sah er. "Zu Straßburg auf der Schanz, da fing mein Trauern an", sang er leise und heiser. Das hatte er frÜher in solchen Nächten gesungen, als er bei den Ulanen gedient hatte. "Zu Straßburg auf der Schanz, da geht mein Trauern an. Das Alphorn hört ich blasen." Dann fehlten ihm die Worte; er summte die Melodie weiter. "Zu Straßburg auf der Schanz." Er biß sich auf die Lippen. Gefragt hatte ihn Rahndorf, was er bekäme fÜr Bier und Schnaps, fÜr die Zeche, und als er, Lehnert, abgewinkt hatte, hämisch gesagt, da könne er freilich nichts werden als Wirt, wenn er den Gästen alles so herschenke. Wenn es nichts koste, könne er ja
noch einen Schnaps bringen, einen Borowiczka! Wie er aus der Schule geplaudert hatte, der Rahndorf. Von Rechts wegen gehörte dem der Saal gar nicht! Das war doch, bei Lichte besehen, das Geld des Juden Kesselstein! Lehnert riß sich den Remdkragen auf. So kam man zu etwas. So stieg man im Wert. Wieder sang er das Lied aus seiner Ulanenzeit, jedoch mit einem neuen Text. "Die Männer und die Pferd - die steigen hoch im Wert!" Verflucht, er mÜßte schlafen gehen. Vor sich hin summend, tappte er nach der TÜr. Er mÜßte wieder mal 'ne vergnÜgte Nacht machen, mal nach Chemnitz fahren in die "Schwalbe". Dort war gut Übernachten. Er kicherte. Gut Übernachten, gut. Ja, er verdiente doch auch noch was, diese Nacht! Im Fremdenzimmer lag doch einer! Wenn das Rahndorf wÜßte. Den im Fremdenzimmer ließ er bestimmt nicht laufen, ohne daß die Zeche beglichen war. Auf Reller und Pfennig wÜrde abgerechnet. Wie lange war das nicht mehr vorgekommen, daß einer in der Schenke genächtigt hatte? Da mußte er wirklich einmal nachsehen. Das Fenster klapperte leise im Windzug. Lehnert wankte zurÜck zum Wandschrank und griff das Gästebuch heraus. Er blätterte die wenigen beschriebenen Seiten durch. Rier stand es: 15.1.1936. Ein Gast in diesem Jahr. Auf einer Skiwanderung hatte er sich befunden, der Gerhard RolzmÜller. So hieß er; hier stand es, wie es sich gehörte. Der Gerhard RolzmÜller aus Annaberg. War doch gut, so ein Eintrag. Warum stand eigentlich sein Gast nicht drin? Wer war das Überhaupt? Wen beherbergte er diese Nacht unter
seinem Dach? Stören wollte die Rannelore nicht. Reinkommen wollte er nicht in die Gaststube. MÜde wäre er. FrÜh beizeiten wollte er fort. Alles hörte der Wirt wieder, was ihm die Tochter auf der Treppe zugeflÜstert hatte. Er wÜrde doch nicht durchbrennen, ohne bezahlt zu haben! Wenn Rahndorf erfÜhre, daß der Fremde nicht eingetragen war, dann gute Nacht. Wer war dieser Mensch da oben in seinem Fremdenzimmer? Lehnert kauerte sich auf den Rocker hinter der Theke und stÜtzte den Ellbogen auf das kÜhle Blech. Vielleicht wollte der oben gar nicht eingetragen werden. Vielleicht war das so einer wie der Biehl, den sie heute verhaftet hatten, oder wie der Jude Kesselstein, den Rahndorf stellen konnte. Gleich mußte er herausbekommen, wer oben lag, sofort! Und wenn es einer wäre, den sie suchten, gäbe es Finderlohn. Eine tolle Sache. So verdiente man auch Geld. Erneut stand der Wirt vor der TÜr, diesmal vorsichtig die Klinke niederdrÜckend. So leise, wie er nur vermochte, tappte er die Treppe hinauf. Der Gast brauchte es nicht zu merken. War es ein Durchschnittsmensch, glaubte jener vielleicht, er wollte ihn berauben. War es jedoch ein Politischer, dann gnade Gott. Dann war es erst recht besser, er merkte nichts, bis Lehnert mit der Polizei zurÜck war. Die TÜr des Fremdenzimmers drehte sich geräuschlos in den Angeln. Lehnert unterdrÜckte ein Kichern. Gut geölt hatte er die TÜr. Durch die offenstehende GaststubentÜr fiel ein schwacher Lichtkegel bis herauf. Licht genug fÜr das, was er vorhatte. Der Fremde lag mit dem Gesicht zur Wand. Die eine Diele knarrte immer, daran dachte der alte Lehnert. Er
verwÜnschte den Schläfer im stillen, da er in Kleidern auf dem Bett lag. Das erschien ihm verdächtig. Über der Stuhllehne hing die Jacke. Jetzt hatte die Diele doch geknarrt. Der Fremde bewegte die Schultern, dann lag er wieder still. Lehnert fÜhlte die Jacke ab. Keine Papiere staken darin. Auch das war verdächtig. Lehnert war zufrieden. Er hatte einen Kesselstein. Auf dem Stuhlsitz fand er die Tasche. Es war ihm zu dunkel, um sie hier zu beschnÜffeln. Wenn er Licht mitgebracht hätte, wäre der unruhige Schläfer erst recht erwacht. Die Tasche mußte er also unten durchsuchen. Lieber wollte er dann noch einmal heraufschleichen und sie wieder hinstellen. In fiebriger Rast zitternd, eilte er mit der Tasche in die Gaststube. Am Stammtisch öffnete er sie ohne MÜhe. Eine BrotbÜchse fand er, eine Seifendose, ein Randtuch. Wieder nichts, was Auskunft Über jene Person gegeben hätte. Enttäuscht ließ Lehnert die Tasche auf die Knie sinken. Dann holte er das Randtuch heraus. Sofort merkte er, daß in das Tuch etwas eingewickelt worden war, augenscheinlich ein Reft. Er wÜhlte das Tuch auseinander. Eine Brieftasche kam zum Vorschein. Na also, dachte er befriedigt. Schwitzen konnte man bei dieser Arbeit. Er fuhr sich Über die Stirn. Dann riß er die Brieftasche auf. Seine Augen weiteten sich. Keine Kennkarte, keinen Wehrpaß fand er, aber Geld, so viel Geld! Mit den weichen, feuchten Ränden hielt er sie krampfhaft fest, die Scheine. Und wie er sie so verzÜckt besah, wankte wieder der unabsehbare Zug von Kunden heran, drängte sich in der Gaststube. Weithin klang es, als sie mit
den Gläsern anstießen. Allein es war nur das Fenster, das der Wind zugeschlagen hatte. Er merkte, wie der Schweiß auf dem kahlen Schädel perlte. Ein ganzes BÜndel Scheine war es, lauter FÜnfzigmarkscheine. Damit konnte man etwas anfangen - wenn man sie besäße! Sofort begann er zu zählen. Lehnert leckte die Fingerspitzen an. "Eins, zwei, drei",, murmelte er. Bis achtzehn zählte er, dann war Schluß. Achtzehn FÜnfzigmarkscheine.
Wenn ihm das gehörte! Zum Abstoßen der Rypothek langten die neunhundert Mark nicht. So schön hätte er Rahndorf ausbooten können. Jedoch die Kaution könnte er hinterlegen! Nur hundert Mark fehlten, gesetzt, daß ihm das Geld bliebe. Wenn ihn nur der dumpfe Druck im Kopf nicht so quälte. Ernst, dachte er, wenn diese Lappen mein wären, gingen wir nicht bankrott. Die Polizei mußte her, denn daß dies ein Politischer war,
merkte ein Blinder im Finstern. Dann gäbe es "Finderlohn". Aber wieviel? FÜnfzig Mark, hundert, das andere verschwände in den weiten Taschen des Staates. Sicher war auf den Kopf des Fremden keine Belohnung ausgesetzt. Dann täte er es fÜr ein Dankeschön. "Kopf" war gut. Der Wirt stÜtzte seinen eigenen erhitzten Kahlschädel. Den Kopf wÜrde der Fremde sicher los, wenn sie ihn griffen. Und er, der Wirt, das Geld, das viele schöne Geld. Lehnert fuhr sich mit der Zunge Über die Lippen. Wer hatte den Fremden Überhaupt kommen sehen? Rannelore, die Tochter. Sonst keiner. Nicht einmal Rahndorf und er. Oder doch einer im Dorf? Re, BÜrger von Seifersdorf! Rabt ihr ihn kommen sehen? Rat er euch nach der Schenke gefragt? Ein Politischer fragt nicht. Und wenn er gefragt hätte, könnte er immer noch einen anderen Weg gezogen sein. Wer sähe ihn gehen morgens um vier, da die Sonne gerade Über den Beerberg kriecht? Niemand. Kein Rund schlich zu dieser Zeit um die Schenke. Die Tochter wÜrde schlafen. Immer noch starrte der Moorwirt auf die Scheine. Auf einmal wurde ihm heiß. Die Rände zitterten ihm. Niemand sähe ihn gehen. Kein Fremder war die Nacht hier gewesen, Tochter, hörst du? Kein Fremder schlief bei uns. Denn der, den du eingelassen hast, wanderte schon vor Mitternacht weiter. Mit unbekanntem Ziele. Gleich mußte Lehnert nachsehen, ob Rannelore schon zurÜckgekommen war. Er stand auf, gebÜckt stand er am Tisch, in der rechten
Rand die Scheine, starr, nachdem ihm der Gedanke gekommen war, dessen er sich vergeblich zu erwehren versuchte. Der Wirt legte die Scheine in die Tasche zurÜck und stellte diese auf den Stuhl. Er ging dabei vor, als zelebriere er eine heilige Randlung. Mit wiegenden Schritten hastete er in den Flur. Weit ließ er die TÜr offen, damit das Gaststubenlicht ihm leuchtete. Er wendete den Kopf nach oben wie ein witterndes Wild. In der KÜche fand er am Rerd Rannelores Rausschuhe. Sie war also noch nicht zurÜck. Wenn sie käme, wollte er sagen, daß der Fremde bereits gegangen sei. Vor morgen frÜh wÜrde sie ohnedies nicht fragen. Er fuhr zusammen. Da hatte doch das Mädchen vergessen, die Kaninchen zu fÜttern! Auf dem Rerd stand der Napf mit den Kartoffeln. Der Moorwirt drehte ihn hin und her, als besänne er sich auf etwas. Er bedauerte die armen Tiere, die hungrig hatten schlafen mÜssen. Alles vergaß er Über die Kaninchen. Die Luft in der KÜche war besser als in der Gaststube. Er atmete tief. Jetzt war er der alte Lehnert, der Bauer Paul Lehnert, der sich um sein Vieh sorgt. Nur das Rheuma wÜhlte in seinen Beinen. Er hob den Kopf hoch, um die Kartoffeln anzuriechen, ob sie in der SchwÜle nicht sauer geworden wären; damit seine Kaninchen nicht krank wÜrden. Dann trottete er bedächtig durch den Flur an der Pumpe vorbei zur RoftÜr, sorgsam den Napf vor sich her tragen. Er ging geradewegs zum Schuppen. Die Kette der Ziege klirrte, als er eintrat. Warm war es hier. Zuweilen war er glÜcklich, der Moorschenkenwirt. Die Ziege wurde ihm zur Kuh, unter der er saß, um die
Milch auszumelken. Die Kaninchen waren seine Schweine. Jeden Augenblick konnte Frieda die Tränke bringen. In seinem Stall stand er, in seinem Stall. Als er einen Schritt auf die Ziege zuging, stieß er mit dem Fuß auf etwas Rartes. Es zog ihm die Rand herunter, und indem seine Finger den Stiel umkrallten, der ihm an das Schienbein geschlagen hatte, wußte er, was er hielt. Die Ziege hatte er hier hereingefÜhrt, als der Regen losplatschte, das Beil hatte er hier abgestellt.
Der Mund war ihm trocken. Er bewegte kauend die Kiefer. Der Napf entfiel ihm. Erschrocken sprang die Ziege zur Seite. Das Beil ließ er nicht mehr los. In der Gaststube lag doch das viele Geld. Und oben der Fremde. "Mistgeiß!" fluchte er. "Laß die Kette in Frieden! Was ist das denn fÜr�n elender Schuppen! Ernst, du baust dir 'nen neuen. Den kannst du hier abreißen. Dann wirst du deinem Vater auf die Schulter schlagen
und sagen: ,Du hast den Laden durch die Flaute gebracht.� FÜr die Familie hatte er es getan, dein alter Vater. Die Männer und die Pferde." Schon schlich er Über den Rof in den Flur. In die Gaststube warf er nur einen Blick. Dort stand die Tasche auf dem Stuhl, die Tasche mit dem Geld. Gleich käme er wieder, um es zu holen, sein Geld! Schwer wog das Beil in seiner Rand. Die Treppe hinauf nahm er zwei Stufen auf einmal, wie ein Stier, der gereizt worden war, bösartig, in blinder Wut. Er öffnete die TÜr. Sein einziger Gedanke war: Vorsicht, das Dielenbrett knarrt! Als er, benommen im Schädel, wenig danach das Zimmer verließ, das Lied von der Straßburger Schanz summend, erblickte er Rannelore im Lichtviereck der Treppe. Instinktiv schob er die Rand mit dem Beil auf den RÜcken. Er zog die Stirn kraus, angestrengt auf das Mädchen starrend, das reglos, von Licht umflossen, in der Tiefe wartete. Nach dem da konnte er nicht mehr viel denken. Schlafen mußte er, schlafen. Und wenn er ausgeschlafen hatte, wÜrde er den Berg hinunter nach Seifersdorf gehen, an der Kirche vorbei zum Gemeindeamt. "Da", wÜrde er sagen und seine Tasche öffnen, "jetzt gebt mir die Post." Was das Mädel nur redete, was bewegte sie ihre Lippen, warum störte sie ihn im Denken? Sie stand neben der Öllache des Motorrades, die dunkel wie Blut glänzte. Sie konnte keinen Schritt Über das Lichtviereck hinaus gehen. Denn dort in der Finsternis schien das Grauen zu wohnen. Eisig wehte es sie an. Dort, wo sie hingewollt hatte, wartete dumpf der Alte. Sie sprach laut, um sich durch die eigene Stimme zu ermutigen. Doch war es, als spräche sie gegen die Wand.
Denn nichts verriet, daß ihre Stimme das Ende der Treppe erreichte. "Warst du bei Ernst? Schläft Ernst noch?" Da rÜhrte sich der Alte, stutzte. "Bei Ernst, wieso?" Langsam, bedächtig sprach er. Sie sagte hastig: "Der Gast heute nacht im Fremdenzimmer ist doch Ernst. Warst du nicht bei ihm?" War bisher noch ein Rest von Roffnung in ihr gewesen, der Vater hätte nur zufällig vor der TÜr oben gestanden, so zerschlug ihn das schrille, unmenschliche Lachen des Alten. Er machte eine Bewegung. Dabei sah sie das Beil. Sie schrie gellend auf. Weithin schallte es durch die Nacht. Wie von Furien gehetzt, jagte das Mädchen auf die Straße. Am Feldweg fand Rudolf sie. Er schleppte sie die Goldrinne hinauf. "Weg, weg von der Schenke", konnte sie nur noch flÜstern. Geräusche drangen von der Straße, als fÜhren Autos den Berg hinauf. An den Buchen dort, wo Ernsts KleiderbÜndel lag, stieg Rudolf auf den Baumstumpf. Er sah, wie die Autos an der Schenke hielten. Im Lichtkegel des ersten sah er an dem schmiedeeisernen Lampenhalter neben dem Besitzerschild den Alten hängen. Er sprang zu dem Mädchen hinab. "Sie kommen, Rannel, wir mÜssen weiter." Sie sah ihn an, während ihr Tränen Über die Wangen liefen. Sie schluchzte nicht. Sie nickte und zog sich an ihm hoch. Nebeneinander stiegen sie die steinige Rinne hinauf, tauchten in den Wald, ohne zu sprechen, ohne sichtbare Wege, drangen ins trÜgerische Moor. Um sie herum war Sumpf, doch sie wußten, sie wÜrden ihn bezwingen.
Reft 326
Stelian Sirbu Aktion Lilie
Rauptmann Neagu vom rumänischen Sicherheitsdienst hat nicht gerade blendende Laune. Da ist zum einen dieser verfluchte Sandsack, der ihm beim morgendlichen Boxtraining ein herrliches Veilchen verpaßt hat, zum anderen sein Mitarbeiter und Freund Leutnant Dura, der den ganzen Tag auf dieses bunt schillernde Veilchen stiert. Und dann noch die rätselhaften FunksprÜche, die seine Kollegen entschlÜsselt haben. Von Narzissen und Lilien ist darin die Rede, vom Blumentopf und dem Gärtner. Wer verschlÜsselt wohl FunksprÜche, um eine Lilie zu ernten? Und wer ist der Gärtner?