Der Verfluchte aus Atlantis � von Jason Dark
Regen prasselte kalt auf die Grabsteine nieder und ließ manche von ihnen ...
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Der Verfluchte aus Atlantis � von Jason Dark
Regen prasselte kalt auf die Grabsteine nieder und ließ manche von ihnen aussehen wie dunkle Spiegel. Zumindest die neueren. Auf anderen klebten Moos und sonstige Pflanzenreste. An ihnen rann das Wasser herab, als sollten sie gewaschen werden. Es war eine nasse, eine widerliche, eine unangenehme Nacht, aber für bestimmte Dinge nahezu ideal, das wußte auch James Jarrel, der bei diesem Schweinewetter unterwegs war. Kalter Frühjahrsregen mit Schnee vermischt und Nebel, das Wetter hatte wieder umgeschlagen. Jarrel mochte Friedhöfe nicht besonders, auch wenn er sie sehr gut kannte. Aber wer von einigen Ausnahmen abgesehen liebte schon seine Arbeit?
Trotzdem tat er diesen Job, denn er brachte ihm etwas ein. Nicht der Friedhof direkt, sondern das, was unter den Grabsteinen lag, denn damit kannte er sich aus. Außerdem mußte er sich etwas nebenbei verdienen, denn mit seiner Pension, die er als ehemaliger Totengräber erhielt, konnte er sich nichts erlauben. Abnehmer für seine »Funde«, auch zahlungskräftige, gab es genügend. Schon des öfteren hatte er für ein gut erhaltenes Skelett fünfhundert Pfund kassiert. Das war für ihn eine Menge Geld. Einzelne Knochen brachten natürlich weniger, aber es läpperte sich zusammen. Und Friedhöfe gab es im Großraum London genug. Vor den Toten brauchte er sich nicht zu fürchten. Seine Furcht galt anderen Personen. Der Polizei. Seine Tätigkeit hinterließ Spuren, und deshalb war sie auf ihn aufmerksam geworden. Man hatte ihn den Unbekannten auf die Fahndungsliste gesetzt und die Friedhöfe bewacht. Jarrel und seine Leute versuchten, in einer Kneipe ihren Ärger zu ertränken. Erwischen lassen wollten sie sich jedenfalls nicht. Und jetzt, wo sie ein besonderes Grab im Auge hatten, sowieso nicht. Nichts an ihm, auch nicht an dem Stein, deutete darauf hin, daß der Verstorbene einer Religion angehört hatte. Der Stein war neutral und trotzdem etwas Außergewöhnliches. Jarrel war gespannt, wer darunter begraben lag, und er hoffte, ein noch gut erhaltenes Skelett zu finden, das ihm viel Geld einbrachte. Santer und Gordy, seine Helfer, mußte er ja auch bezahlen. Jeder war mit einem Fünfziger zufrieden. Als Tagelöhner waren sie es gewohnt, nach der Arbeit direkt ausbezahlt zu werden, und das hatte Jarrel immer eingehalten. In dieser Nacht noch wollte Jarrel den großen Fischzug starten. Und sein Gefühl gab ihm recht. Etwas ganz Besonderes würden sie finden. Mut hatten sie sich ja jetzt angetrunken. Sollten die Bullen das Friedhofstor bewachen, es gab auch andere Möglichkeiten, das Gelände zu betreten.
Bullen, dieser Gedanke ging Jarrel nicht aus dem Kopf, als er wie ein unheimlicher Schatten durch den Regen stampfte und mit seinen Gummistiefeln immer wieder in tiefe Pfützen platschte. Er dachte daran, seine Nebentätigkeit zu verlegen. Raus aus London, hinaus aufs Land. Aufgeschoben war nicht aufgehoben. Der Regen umrauschte ihn. Der Wind peitschte ihm die langen, kalten Schnüre ins Gesicht. Dicke Tropfen hämmerten auf den Regenmantel aus Gummi, den der einsame Mann trug. Die Kapuze hatte er übergestreift, doch er war naß darunter, als hätte er geduscht. Der Friedhof war ein Refugium der Einsamkeit und des Todes. Die hohen Bäume wirkten wie knorrige Schatten, die ihre Arme ausgestreckt hatten, um die armen Seelen zu fangen, die aus den Gräbern stiegen. Über diesen Aberglauben konnte der ehemalige Totengräber Jarrel nur lachen. Noch nie hatte er eine Seele zu Gesicht bekommen, obwohl ihm bei seiner Tätigkeit schon umheimliche Dinge passiert waren. Er erinnerte sich nur ungern daran, daß sie zweimal fast einen Scheintoten begraben hätten. Kurz bevor der eine Sarg endgültig hatte geschlossen werden sollen, da hatte sich aus dem Mund des Toten ein Geräusch gelöst, das wie ein Rülpsen geklungen hatte. Die Familienmitglieder, die den Sarg umstanden, hatten sich zu Tode erschreckt. Eine Frau war sogar ohnmächtig geworden. Beim zweiten Fall hatte der Tote mit den Augenlidern gezuckt. Das war dem Pfarrer nicht entgangen. Er war totenblaß aus der Nähe der Leiche geflohen. Natürlich kannte Jarrel auch die Geschichten, die sich um Ghouls und Nachzehrer drehten. Das waren Geschöpfe, die sich von Leichen ernährten. In seinem Kollegenkreis spaßte man gern darüber, aber gesehen oder erlebt hatte James Jarrel noch keines dieser Wesen.
Die Dunkelheit der Nacht hatte ihn geschluckt. Er fühlte sich bereits als Teil des Friedhofs und bewegte sich mit immer schnelleren Schritten dem alten Teil entgegen, wo die Bäume noch dichter wuchsen, Strauchwerk regelrechte Hecken bildeten, die auch im Winter ihr Laub nicht verloren und entsprechend dicht waren. Dort würde er seine Helfer treffen. Sie warteten an einem Platz, wo sich vier Bänke im Karree gegenüberstanden. Vom bewachten Tor wären das ein paar Minuten zu Fuß gewesen. Auf der Karte hatte Jarrel es ihnen genau eingezeichnet. Noch bevor Jarrel den Treffpunkt erreichte, glaubte er, daß der Regen allmählich nachließ. Er klatschte nicht mehr so laut auf seinen Mantel, und tatsächlich war aus dem prasselnden Regen ein Nieselregen geworden, der sich eher ertragen ließ wenn man nicht schon naß war. Jarrel grinste. Er war zufrieden. Eine gute Nacht. Sogar die Natur reagierte positiv. Was sollte ihm da noch passieren? Er beschleunigte seine Schritte. Durch den nachlassenden Regen hatte sich auch die Stille wieder über das Gelände legen können. Ei hörte jetzt seine eigenen Schritte deutlicher. Ein rauhes Lachen erreichte ebenfalls seine Ohren. James kannte die Lache. Sie gehörte Santer, seinem Helfer. Er war ein brutaler Typ. Fast wie ein Roboter, ohne Gefühle, aber für den Job genau richtig. Santer tat immer, was man ihm sagte, wenn der Lohn stimmte. Gordy rauchte. Er deckte die Glut der Zigarette nicht ab, weil er sich sicher fühlte, und Jarrel spürte, wie er anfing, sich über den Kerl zu ärgern. Wenig später hatte er das Viereck erreicht. Seine Helfer saßen auf einer nassen Bank: Neben ihr standen die beiden Säcke mit den Werkzeugen. Die Leute hatten ihren Anführer bereits gehört, jetzt sahen sie ihn auch, und Gordy warf seine Kippe auf den nassen Boden.
»Hi«, sagte er verhalten, als Jarrel stehenblieb. »Du sollst doch nicht paffen, verdammt! Das sieht man meilenweit.« »Bei dem Wetter?« »Wenn’s dunkel ist …« »Okay, reg dich ab.« Jarrel schlug dem wesentlich jüngeren Mann gegen die Schulter. »Den Ton lasse ich mir nicht bieten, du kleiner Scheißer! Schließlich lebst du von meinem Geld.« »Ohne die Kröten würde ich auch nicht verhungern.« Der pensionierte Totengräber lachte, während er sich über das nasse Gesicht wischte. »Dann möchte ich mal erleben, womit du deine Nutten bezahlst, wenn du keine Kohle mehr hast. Ja, das möchte ich sehen, du Großschnauze!« Santer schlug sich mit der Faust auf den rechten Schenkel. »Hört doch auf, euch zu streiten. Machen wir nun den Job, oder nicht?« »Wir gehen«, sagte Jarrel. Santer, der sich über den fast kahlen Schädel ebenfalls die Kapuze gezogen hatte, stand als erster auf. Er griff nach einem der Säcke und hob ihn an, als hätte der so gut wie kein Gewicht. Gordy, der Mann mit dem Pferdeschwanz, schnappte sich den zweiten Sack. Wie auch Santer trug er ebenfalls einen Anorak, der wegen der Nässe dunkel aussah. Die Hose aus Leder schimmerte heller, ebenso wie die Gummistiefel, die alle drei Männer trugen. »Und heute gibt es gute Kohle?« fragte Gordy, als er den Sack mit dem Werkzeug über seine Schulter stemmte, was Santer bereits getan hatte. »Ich denke schon.« »Wieviel?« Jarrel verzog die breiten Lippen. »Vielleicht einen Fünfziger.« »Hört sich nicht schlecht an.« »Aber zuvor wird gearbeitet, und zwar zügig.«
»Ist okay, Boß«, meldete sich Santer. Die Helfer kannten sich auf dem Gelände nicht aus. So lag es auf der Hand, daß James Jarrel die Führung übernahm. Er hatte sich genau eingeprägt, wie sie zu dem Grab gelangten. Der Regen hatte aufgehört. Die Luft war aber noch feucht und schwer zu atmen. Alles glänzte vor Nässe. Auf den Blättern der Rhododendren perlten die Tropfen und rutschten langsam herab. Irgendwo meldete sich ein Kauz. Sein Schrei hallte klagend über den Friedhof hinweg, als wollte er die hier Begrabenen besingen. Zumindest den Helfern wurde es unheimlich, und sie duckten sich, als sie den Schrei vernahmen. Nicht so Jarrel. Der kannte die Rufe des sogenannten Totenvogels und hatte sich längst an sie gewöhnt. Schließlich gingen dreißig Jahre Berufsleben nicht spurlos an einem vorbei. James Jarrel nahm jetzt keine Rücksicht mehr. Er verließ den schmalen Weg und schlug sich quer durch das Gelände. Die Kapuze hatte er wieder vom Kopf gestreift. Das schon weiße Haar schimmerte wie ein blasser Mondschein, der sich auf seinem Kopf festgesetzt hatte. Wenn er in eine Pfütze trat, war er froh, daß seine Füße in Gummistiefeln steckten. Seinen Umhang hatte er geöffnet. Unter dem Gummi schwitzte man einfach zu stark. Hinter ihm keuchte Gordy unter der Last der Werkzeuge. Er war nicht so kräftig wie Santer, aber mindestens so geldgierig wie die anderen beiden. Jarrel sah den Schatten und atmete auf. Unwillkürlich ging er langsamer, denn dieser Schatten überragte noch das Brombeergestrüpp. Es umgab die Grabstätte wie eine Mauer und hielt auch zufällige Besucher davon ab, näher an dieses seltsame Grabmal heranzugehen. Die Männer aber wühlten sich durch, und als sie das Hindernis überwunden hatten, ließen die Helfer die Säcke fallen. Sie standen da und sagten nichts.
In der Ferne schrie der Kauz, als wollte er sie warnen. Niemand hörte darauf. Gordy rang nach Atem. Erst als er sich einigermaßen gefangen hatte, war er in der Lage, eine Frage zu stellen. »Was ist das denn, verdammt?« flüsterte er. »Meinst du den Grabstein?« »Ja, James.« »Der sieht aus wie eine Pyramide«, meinte Santer. James Jarrel nickte. »Der sieht nicht nur so aus wie ein Pyramide, es ist auch eine.« Sie schwiegen. Der Vogel schrie nicht mehr. Eine ungewöhnliche Stille umgab sie, die schließlich Gordon mit seiner Frage zerstörte. Er konnte dabei das Zittern in seiner Stimme nicht unterdrücken. »Verdammt, wer mag darunter begraben sein?« Jarrel nickte. »Wir werden es bald wissen …«
* Sie gruben! Und diesmal machte auch James Jarrel mit. Er wollte diesen Job so schnell wie möglich hinter sich haben, deshalb stieß er immer wieder das blanke Spatenblatt schnell und routiniert in den weichen, aber doch schweren Boden. Manche Menschen achten ja auf ihre Gefühle und suchen nach irgendwelchen Vorahnungen. Der ehemalige Totengräber gehörte zwar nicht zu dieser Kategorie, aber heute nacht war alles anders. »Wer mag darunter begraben sein?« hatte Gordy gefragt. Eine gute Frage, davon ging auch Jarrel aus. Bestimmt keine normale Leiche. Seine Phantasie ging auf Wanderschaft. Ein Pharao war es sicherlich nicht, aber es mußte jemand sein, der der ägyptischen Kultur zugetan war. Daran glaubte Jarrel inzwischen. Wer bekam schon
eine Pyramide als Grabmal? So etwas war ihm in seiner langen Berufstätigkeit noch nicht begegnet. Ab und zu hob er den Kopf an, um dieser steinernen Pyramide einen prüfenden Blick zuzuwerfen. Sie sah normal aus. Zwischen den dunklen Fugen sah er das Moos. Die beiden Helfer gruben neben ihm weiter, ohne eine Pause einzulegen. So schnell waren sie selten gewesen. Wahrscheinlich wollten sie so schnell wie möglich diesen ungastlichen Ort verlassen, was auch verständlich war. Aber der Chef legte eine Pause ein. Er rammte den Spaten in einen Lehmhügel an der Seite, dann holte er wieder die Lampe hervor und ging auf die Pyramide zu. Er wollte sie untersuchen. Außerdem war ihm ein Gedanke gekommen, der sich zwar unwahrscheinlich anhörte, aber nicht von der Hand zu weisen war. Er war kein Ägyptologe, aber er konnte denken. Zudem hatte er etwas über die alten Ägypter gehört. Die Pyramiden waren ja keine Grabsteine gewesen, sondern regelrechte Gräber, durchzogen von Tunnels, Kammern und Gängen. In einer oft versteckt angelegten Grabkammer hatte man dann die letzten Ruhestätten der Könige gefunden. In der Kammer ja, aber nicht außerhalb. Demnach gruben sie hier umsonst. Das ärgerte Jarrel. Er hätte vorher daran denken sollen und drehte sich um. »Hört mal auf«, sagte er. Das ließen sich die beiden nicht zweimal sagen. Augenblicklich stießen sie ihre Schaufeln in den Lehm. Gordy trat einen Schritt zurück und fluchte, weil er mit dem rechten Fuß tief einsackte. »Was ist denn?« fragte Santer. Jarrel winkte ab. »Das erkläre ich euch später. Ich will mir die Pyramide genauer anschauen.« »Okay, ist dein Bier.«
James Jarrel dachte daran, daß dieses kleine Bauwerk einen Eingang haben mußte, wenn er mit seinen Vermutungen richtig lag. Noch immer wollte ihm nicht in den Kopf, daß er bisher der einzige Mensch war, der so dachte. Das hätte doch schon viel früher auffallen müssen, aber diesen Winkel des Friedhofs besuchte selten jemand, und als Pyramide, in der jemand liegen könnte, hatten es die meisten Menschen wohl nicht angesehen. Er aber dachte anders darüber. Der Lichtkreis seiner Taschenlampe glitt über das blanke Gestein hinweg. Der Regen hatte es nicht nur naß werden lassen, es glänzte auch an einigen Stellen wie poliert, und die Steine waren an ihrer Außenseite nicht so dicht bewachsen, als daß er hätte eine Tür oder einen Einlaß übersehen können. Jarrel suchte genau und konzentriert. Seine beiden Helfer unterhielten sich flüsternd, was ihn störte, aber er konnte ihnen die Worte schlecht verbieten. Gordy rauchte wieder. Der Qualm seines Glimmstengels trieb selbst um die dicken Mauern herum. In der Ferne heulte wieder der Kauz. Wie eine letzte Warnung klangen seine Rufe. An der Rückseite war der Mann stehengeblieben. Er blickte über die Schulter und entdeckte dort noch einmal das wilde Brombeergesträuch. Es wuchs da wesentlich höher und war zu einem regelrechten Wall geworden. Da gab es kaum ein Durchkommen. Dort wollte Jarrel auch nicht hin. Ihn interessierte vielmehr die Außenseite. Von unten nach oben wanderte der Lichtkegel über das nasse Gestein. Nichts zu sehen. Keine eingravierten Bannsprüche und erst längst kein Hinweis auf einen Eingang. Jarrel ärgerte sich darüber. Sollte er mit seinen Vermutungen so falsch gelegen haben? Er ging weiter. Wasser und weiche Erde schmatzten unter den
Stiefelsohlen. Es hörte sich an, als läge ein schmatzender Riese auf dem Boden. Auf einmal zitterte der Lichtkreis. Allerdings nicht von allein, denn auf ihn übertrug sich das Zittern der rechten Hand. Jarrel hatte etwas entdeckt. Er wollte es selbst nicht wahrhaben und glaubte an eine Täuschung, aber Sekunden später, nachdem er sich wieder etwas beruhigt hatte, mußte er zugeben, daß ihm kein Irrtum unterlaufen war. In der Wand zeichnete sich der Umriß einer Tür oder eines Eingangs ab. Nicht so hoch wie eine normale Tür, man mußte sich schon bücken, um die Pyramide zu betreten, doch zuvor mußte dieser Eingang erst einmal geöffnet werden. Jarrels Herz klopfte schneller, so wie er mußten sich auch die Ägyptologen gefühlt haben, als sie vor den Grabkammern der alten Könige standen. Ja, das war ein wunderbares Gefühl, endlich am Ziel seiner Wünsche zu stehen. Die Kehle war wie ausgetrocknet. Er mußte erst Speichel sammeln, um überhaupt sprechen zu können. Allein würde er die Tür kaum aufstoßen können, da brauchte er schon die Hilfe der beiden anderen. Er rief mit heiserer Stimme nach ihnen, und wenig später standen sie neben ihm. »Was ist denn?« fragte Gordy. »Ha, ihr werdet es kaum glauben, aber ich habe hier den Eingang gefunden.« Santer sagte nichts. Er starrte nur auf das Grabmal. Gordy schaltete schneller. »Dann sind wir fertig hier. Oder sehe ich das falsch?« »Wahrscheinlich nicht.« »Gut.« Gordy nickte. »Aber der Eingang ist verschlossen.« Jarrel ließ den Lichtkreis seiner Lampe dort herumwandern, wo er die Umrisse der Tür wenige Minuten zuvor entdeckt hatte. Die beiden anderen starrten gebannt hin. »Toll, super«, flüsterte Gordy. »Aber wie kriegen wir sie auf?«
»Das schaffen wir schon. Schließlich sind wir zu dritt!« »Sollen wir uns dagegenstemmen?« fragte Santer. »Richtig.« »Gut, Chef.« Santer hatte einen Befehl bekommen und wollte ihn sofort ausführen. Leicht gebückt stand er vor dieser geheimnisvollen Tür. Mit seinen breiten Händen drückte er gegen den Stein. Jarrel und Gordy hörten ihn keuchen. Als sich nichts bewegte, versuchte Santer es mit der Schulter, aber auch das schaffte er nicht, denn die Tür bewegte sich um keinen Millimeter. »Nichts zu machen, Chef«, meldete Santer keuchend. »Wir helfen dir.« »Gut.« Zu dritt versuchten sie es. So sehr sie sich auch anstrengten, sie blieben erfolglos. Da bewegte sich nichts, und so traten die drei Männer ziemlich erschöpft zurück. Santer schüttelte den Kopf. »Nichts zu machen, das Ding ist selbst für mich zu schwer. Und Herkules bin ich auch nicht.« Gordy tat etwas anderes. Er griff in die rechte Tasche seiner Regenjacke und holte eine kleine Flasche hervor. Als er sie aufschraubte, strömte Whiskygeruch aus der Öffnung. Er trank einen Schluck und bot dann den beiden anderen die Flasche auch an, die aber lehnten ab. »Sollen wir dann weitergraben, Chef?« »Nein, Santer, nein.« Jarrel schüttelte den Kopf. Er war davon überzeugt, daß der Eingang zu öffnen war. Wie hatten es denn die Fachleute gemacht? Darüber dachte er nach, ohne allerdings zu einem Resultat zu gelangen. Hatten die Erbauer der Pyramiden nicht Sicherheiten eingebaut, um Grabräuber abzuhalten? Gab es da nicht versteckte Kontakte und geheimnisvolle und gefährliche Fallen?
Darüber hatte er sogar schon Filme gesehen. Das konnte hier auch so sein, wenn auch weniger kompliziert. »Ich werde jetzt mal die Umgebung der Tür genau untersuchen und abtasten«, erklärte Jarrel seinen beiden Helfern. »Vielleicht finde ich einen Mechanismus, der uns hilft, das verdammte Grab zu öffnen. Wäre doch irre.« »Was willst du denn da finden, Chef?« »Frag nicht so dumm, Santer. Ein Skelett vielleicht.« »Mit oder ohne Grabbeigaben?« erkundigte sich Gordy mit leiser Stimme. Jarrel lachte. »Sehr gut, du weißt Bescheid. Das hier könnte uns reich machen.« »Hoffentlich nicht tot.« »Hör auf, Gordy. Wir sind nicht in Ägypten. Das schaukeln wir schon so weg, verlaß dich drauf.« In den folgenden Minuten begann Jarrel mit seiner Untersuchung. Er ging dabei systematisch vor. Auf die Lampe verzichtete er, denn seine Helfer leuchteten ihm. Er ließ nur seine flachen Hände über das Gestein gleiten, und er setzte besonders seine sensiblen Fingerkuppen ein, um auf irgendeinen Hinweis oder Mechanismus zu stoßen, der ihnen ein Eingang öffnete. Jarrel ließ sich Zeit dabei, murmelt mal etwas vor sich hin, streichelte, drückte, verharrte wieder, suchte nach Vorsprüngen oder kleinen Hebeln. Obwohl er noch nichts gefunden hatte, war er euphorisch-erregt. Er war sicher, daß es bald soweit war. Das sagte ihm sein Gefühl. Nur noch etwas Geduld, dann war die Sache gelaufen. Hinter ihm warteten Santer und Gordy. Auch sie waren erregt, das hörte er an ihrem Keuchen. Und die beiden vernahmen plötzlich das Lachen ihres Chefs, der in einer halb eingeknickten Haltung erstarrt war. »Verdammt, ich hab’s. Das muß es einfach sein!«
»Wie?« »Schnauze, Santer! Kommt her!« Die beiden stellten sich neben Jarrel, der seine Hand an der rechten Seite ein Stück nach oben bewegte und sie dann zur Ruhe kommen ließ. »Hier«, flüsterte er, »hier ist etwas. Ich spüre da einen kleinen Vorsprung. So etwas wie einen Hebel. Der wird den Mechanismus in Gang setzen, glaubt mir.« »Willst du es wirklich wagen?« »Ja, Gordy. Tretet zurück. In den nächsten Minuten wird sich entscheiden, ob wir reich werden.« James Jarrel war jetzt total aufgedreht, nervös. Er hatte sich nicht ganz unter Kontrolle. Das Blut pochte hinter seiner Stirn. Trotz der Feuchtigkeit waren seine Lippen trocken geworden. Wild fuhr er sich durchs Haar, dann packte er wieder den Hebel, holte noch einmal tief Luft und schob ihn nach oben. Nichts tat sich. Jarrel gab nicht auf und startete einen Versuch in die entgegengesetzte Richtung. Er spürte sogar einen kleinen Ruck, als sich der Hebel aus der Verankerung löste. Frei oder nicht? Etwas knirschte. Stein rieb über Stein, und Jarrel sprang so heftig zurück, daß er dem dicht hinter ihm stehenden Gordy auf die Füße trat, der aber nicht losschimpfte, so angespannt war er. Drei Augenpaare schauten zu, wie sich die niedrige Steintür in der Pyramidenmauer bewegte. Sie wich dabei nach innen, als wären unsichtbare Hände dabei, sie zu schieben. Stück für Stück öffnete sich vor ihnen das Grab. Sie konnten auch sehen, wie es geschah, denn der Mechanismus lief über Rollen. Die Tür schwang fast ganz auf. Das Grabmal konnte betreten werden. »Und das mitten in London«, hauchte Gordy.
Jarrel konnte nur nicken. Bisher hatte sich noch keiner von ihnen getraut, in das Grabmal hineinzuleuchten. Möglicherweise hielt sie auch die schlechte Luft davon ab. Sie wehte ihnen entgegen wie ein alter Atem aus der Hölle. Verwesungsgerüche quälten die Nasen. Es stank wirklich erbärmlich, und nur ganz langsam wurde die Luft in der Pyramide besser, denn durch die Tür wehte frische Luft herein. »Okay«, sagte James Jarrel nach einer Weile, wobei er die Lampe wieder einschaltete, den Strahl aber noch zu Boden gerichtet hielt und auf den hellen Fleck starrte. »Wagen wir es.« »Du zuerst?« »Ja, Santer, ich zuerst.« »Hoffentlich werden wir auch reich.« »Ruhe jetzt!« zischte Jarrel scharf. Er stand unter dem gleichen Druck wie vor einigen Minuten, als er nach dem Mechanismus gesucht hatte. Der pensionierte Totengräber ging langsam. Schon vor dem eigentlichen Eingang bückte er sich, dann aber mußte er noch tiefer hinunter, um sich über die Schwelle schieben zu können. Hinter sich hörte er die Schritte seiner Helfer. Die Grabkammer war breit genug, um auch die drei Männer fassen zu können. Nebeneinander blieben sie stehen. Keiner von ihnen war besonders glücklich, aber sie mußten das jetzt einfach durchziehen. Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Kein Zurück mehr. »Schaltet eure Lampen ein!« sagte Jarrel. Sie taten es. Zu dritt hoben sie die Arme, leuchteten nach vorn, und was sie da sahen, verschlug ihnen den Atem …
*
Es stimmte. Sie waren tatsächlich in einer Grabkammer gelandet, und die mußte Ähnlichkeit mit denen haben, die sich auch in den echten Pyramiden befanden. Die drei Männer hatten genau gesehen, was in der Mitte stand, doch es interessierte sie im Moment nicht, denn sie ließen die Lichtkegel über die Wände gleiten. Und so etwas hatte selbst der Totengräber Jarrel noch nicht gesehen. Bemalte Wände, dabei hell und kaum mit Staub bedeckt. Aber waren das ägyptische Motive? Jarrel war sich nicht sicher. Er kannte sie anders. In seiner Erinnerung stieg das hoch, was er in Büchern gelesen und auch in Filmen gesehen hatte. Menschen mit Tierköpfen. Ein Stier oder ein Falke. Aber auch welche mit dem Kopf einer Katze. Auch die Zeichnungen mit den Gondeln fehlten. Mit diesen Schiffen wurde der König über den großen Fluß ins Totenreich gefahren. Das fand man in jedem Grab. Aber nicht hier. Die drei Lichtkreise streiften über die Wände, wo sich schon die Motive abzeichneten, die jedoch nicht auf eine ägyptische Kultur hinwiesen, sondern auf eine Fremde. Seltsame Ungeheuer waren dort zu sehen. Vogelmenschen und auch große, Vampirähnliche Ungetüme. Sogar ein dunkles Skelett war angedeutet, das über allem schwebte. Sonnen waren ebenfalls gemalt worden, aber diese Sonnen verbreiteten keine Freude. Sie sahen eher aus wie triste Scheiben, die auf die Menschen hinunterblickten. James Jarrel sprach mit seinen beiden Helfern nicht darüber, denn sie hatten ihre Lampen bereits gesenkt und leuchteten gegen das, was in der Mitte stand. Es war tatsächlich der von ihnen so sehr herbeigesehnte Sarkophag. Das Grab des Königs, wie man es in Ägypten nannte, aber
hier war es trotzdem anders. Enttäuschung malte sich auf allen drei Gesichtern ab, denn von irgendwelchen Grabbeigaben war nichts zu sehen. Nur dieser Steinsarg stand in der Mitte, und er sah, das mußte Jarrel als Kenner zugeben, sogar ziemlich schlicht aus. »Da werden wir wohl nicht reich«, meinte der einfältige Santer. James ärgerte sich über die Bemerkung. »Warte erst mal ab, du Idiot. Mal sehen, was in diesem Sarkophag liegt.« »Eine Mumie?« flüsterte Gordy. »Kann sein, muß aber nicht. Ich glaube nicht, daß sich jemand die Mühe gemacht hat, um eine Leiche zu mumifizieren.« »Aber er hat auch das Grabmal gebaut.« Jarrel gab keine Antwort. Außerdem wollte er auch nicht darüber nachdenken und ließ die beiden stehen. Als erster näherte er sich dem Sarkophag, der aus grauem Stein bestand und als letzte Ruhestätte so gar nicht in die heutige moderne Zeit hineinpassen wollte. Jarrel fragte sich, wie lange diese Pyramide wohl schon stand und ob er noch ein normales Skelett finden würde. Der Lichtkegel strich über den Deckel hinweg. Staub lag auf’ ihm. Manche Partikel schimmerten hell. Jarrel bückte sich. Deckel und Unterteil lagen dicht zusammen. Wahrscheinlich schlossen sie sogar luftdicht. Das mußte auch so sein, um die Leiche zu erhalten. Santer und Gordy warteten noch immer nahe der Tür. Jarrel winkte sie heran. Sie kamen nur zögernd näher. Selbst im wüsten und fleischig aussehenden Gesicht Santers stand die Angst wie festgeschrieben. Sein Blick war unruhig, die Augen bewegten sich, als suchten sie nach bestimmten Gefahrenquellen. Gordy war ebenfalls nervös. Er kaute auf der Unterlippe. Mit der freien Hand deutete James Jarrel auf den Deckel. »Zu dritt schaffen wir es.« Santer nickte. Er bückte sich als erster. Gordy übernahm das eine,
Jarrel das andere Ende des Deckels. Santer wollte in der Mitte zufassen. Er baute sich breitbeinig über dem Sarkophag auf, faßte mit beiden Händen zu und starrte in Jarrels Richtung. Konzentriert wartete er auf das Kommando seines Chefs. James zählte. »Eins, zwei und jetzt!« Sie packten zu, hievten den Deckel hoch und waren überrascht, daß dies so relativ leicht klappte. Der Deckel wurde zur linken Seite geschwungen, das allerdings von Santer und Gordy. Jarrel war stehengeblieben und starrte in den jetzt offenen Sarkophag. Sein Herzschlag hatte für einen Moment ausgesetzt, denn was er da liegen sah, hatte er sich gewünscht. Im Sarg lag ein noch völlig intaktes Skelett mit ungewöhnlich schimmernden Knochen, die aussahen, als wären sie von einem bläulichen Licht erfüllt. Auch Santer und Gordy hatten den Knöchernen jetzt gesehen. Santer stöhnte auf. »Das gibt’s doch nicht, verdammt, das ist nicht zu fassen! Alles noch dran.« In seiner schlichten Sprache hatte er den Nagel genau auf den Kopf getroffen. Gordys Augen leuchteten. Er dachte an das Geld, das es zu verdienen gab, wenn Jarrel es verkaufte. »Das wird dir einiges bringen, James, und da mischen wir auch mit.« Der pensionierte Totengräber hatte die Worte gehört. Er reagierte nicht. Zu sehr stand er unter der Faszination seines Fundes. Es war kaum zu beschreiben. Ihm kam es schon wie ein Wunder vor. Das war einfach eine einmalige Chance. Zu schade, um den Knochenkörper an irgendwelche obskuren Satanszirkel zu verkaufen! Er wußte, daß auch die Museen Geld für außergewöhnliche Fundstücke zahlten, und er dachte bereits darüber nach, während sich der Lichtkreis auf dem Schädel verfing und ihn so noch stärker glänzen ließ. Sie merkten kaum, wie die Zeit verrann. Die hier herrschende Atmosphäre hatte sie voll und ganz eingefangen. Der Hauch aus der
Vergangenheit durchströmte sie wie ein Gefühl der Ehrfurcht. Alles war normal und trotzdem anders. Darüber machte sich Jarrel Gedanken. Er kam damit nicht zurecht, und ein ungutes Gefühl breitete sich immer stärker aus. Zudem hörte er wieder den unheimlichen und klagenden Ruf des Käuzchens. Wie ein tödliches Versprechen, dachte er. Tod … Plötzlich riß seine Gedankenkette. Er hatte etwas gesehen, was er nicht glauben wollte. Aus seinem Mund löste sich ein erstickt klingender Laut. James blickte nach vorn, zu seinen Helfern hin, die aber hatten nichts bemerkt. So senkte Jarrel den Kopf und schaute noch einmal in den Sarkophag hinein. Irrtum oder nicht? Nein, kein Irrtum! Der Schrei brach nicht mehr hervor. Er blieb steif und starr, aber die Tatsache ließ sich nicht wegleugnen. Das Skelett hatte sich bewegt!
* Manchmal gibt es Zufälle im Leben, das glaubt man einfach nicht. Aber ich will der Reihe nach berichten, und wie schon beim letzten Fall, begann die neue Geschichte an einem Vormittag. Allerdings war dieser längst nicht mehr so sonnig wie der vor drei Tagen. In der Nacht hatte es stark geregnet, und erst in den frühen Morgenstunden waren diese Wassermassen in ein Nieseln übergegangen. Deshalb platzte der Verkehr in London auch aus allen Nähten. Suko und ich waren mit der U-Bahn zum Yard gefahren, wo bereits die nicht sonderlich gut gelaunte Glenda Perkins mit frischem Kaffee auf uns wartete.
»Was ist los?« fragte ich sie nach der lockeren Begrüßung. »Was los ist?« blaffte sie zurück. »Schau doch mal nach draußen!« »Na und?« »Das Wetter.« »Für April ziemlich kühl.« Sie verzog den Mund, als wollte sie grinsen. »Nicht nur kühl, sondern auch naß.« Ich verdrehte die Augen und schielte zur Decke. »Auch hier im Büro? Regnet es durch?« Sie winkte ab. »Hör auf, John, sonst kriege ich noch die Krise.« Glenda schüttelte sich. Sie trug wieder einen dicken, schwarzen Pullover, und darüber hatte sie eine Weste gestreift, bei der die unterschiedlichen Knöpfe auffielen. Meine Tasse mit der frischen braunen Brühe hatte ich bereits auf die Untertasse gestellt und verabschiedete mich mit einem lockeren Winken der freien Hand. Suko saß bereits hinter dem Schreibtisch und telefonierte mit Shao. Sie hatte sich für ihren Computer ein neues Programm gekauft, kam aber noch nicht damit zurecht, und auch Suko wußte nicht damit umzugehen. Er wollte sie an mich verweisen, aber ich winkte so heftig ab, daß er ihr riet, die Service-Firma anzurufen. »Das hätte ich auch selbst gewußt.« Shao legte auf, und Suko nickte mir zu. »Jetzt ist sie sauer.« Ich deutete auf die geschlossene Tür. »Wie Glenda.« »Aber die regt sich nur über das Wetter auf. Shao aber hockt mit ihrem neuen Geliebten zusammen und hat sich regelrecht darin verbissen. Das wird noch was geben.« »Laß sie weiter im Internet surfen«, sagte ich und kam auf ein Thema zu sprechen, das am vergangenen Tag kurz vor Feierabend von unserem Chef angerissen worden war. »War Sir James schon hier?« »Wieso?«
»Hat er Unterlagen hier gelassen?« Suko schüttelte den Kopf. »Ich habe nichts gesehen, und Glenda hat auch nichts davon erwähnt.« »Dann wird er gleich auftauchen«, erklärte ich und trank einen kräftigen Schluck von Glendas bester Brühe. Auf das Klopfen verzichtete Sir James. Er öffnete die Tür und stand plötzlich vor uns. In seiner Hand hielt er einen Schnellhefter, und ich forschte in seinem Gesicht nach, wie wohl die Laune bei ihm aussah. Viel bekam ich nicht heraus. Er gab sich ziemlich gelassen, wünschte einen guten Morgen und war wie immer korrekt gekleidet in seinem grauen Anzug und dem weißen Hemd, zu dem er eine dezente Krawatte trug. »Morgen, Sir«, grüßten wir zurück. Er schaute zum Fenster. »Typisches Aprilwetter, meine Herren, da kann man froh sein, wenn man ein so gemütliches Büro hat wie Sie beide.« »Wir fühlen uns auch sauwohl«, erwiderte ich, wobei ich Sir James ansah, daß er mir diese Antwort nicht abnahm. Aber das machte nichts. Er rollte den Besucherstuhl heran und nahm Platz. Den blauen Schnellhefter legte er auf den Schreibtisch und tippte mit einem Finger auf das Deckblatt. »Darüber haben wir schon gestern abend kurz gesprochen. Ich meine, über den Inhalt.« »Geht es um die Gräber?« fragte Suko. »Ja.« »Können das nicht die Kollegen übernehmen?« erkundigte ich mich vorsichtshalber, denn ich sah uns schon im Geiste über Friedhöfe wandern und das bei diesem Wetter. »Sie haben es übernommen«, wurde ich belehrt, »aber sie sind nicht weitergekommen.« »Um was geht es genau, Sir?« Unser Chef ließ seine Hand auf dem Deckel liegen. »Wenn ich das so konkret wüßte«, gab er zu. »Es scheint kein direkter Fall für uns
zu sein, aber ich habe den Kollegen versprochen, daß wir uns trotzdem darum kümmern werden, denn auch sie haben uns schon des öfteren einen Gefallen getan. Um Sie beide zu informieren, muß ich Ihnen mitteilen, daß es in den letzten Wochen auf Friedhöfen in London und der näheren Umgebung zahlreiche Grabaufbrüche gegeben hat. Die Täter räumten die Gräber aus. Sie nahmen regelmäßig die Gebeine mit!« Ich schaute den Alten schräg von der Seite her an. »Ist das was Neues, Sir? Das hat es schon zu allen möglichen Zeiten gegeben.« Ich fügte noch einen Scherz hinzu. »Es sei denn, da möchte jemand einem Ghoul das Essen rauben.« Sir James grinste nur säuerlich, mehr war bei ihm nicht drin. »Davon brauchen wir wohl nicht auszugehen. Es bleiben die aufgebrochenen, geplünderten Gräber. Es gibt Menschen, die Gebeine rauben. Einfach so. Ich weiß nicht, was sie damit anstellen, aber ich könnte mir vorstellen, daß sie ihre Beute verkaufen.« »Und an wen?« fragte Suko. Sir James lächelte, und seine Augen funkelten hinter den Brillengläsern. »Nach dieser Bemerkung sind Sie schon einen Schritt weiter, Suko. Ich weiß nicht, was damit geschieht. Wichtig wäre doch nur, den oder die Täter aufzuspüren.« »Kann es sein«, fragte Suko, »daß ich etwas von einer Überwachung der Friedhöfe gehört habe?« »Zumindest haben Sie sich nicht verhört.« Jetzt mischte ich mich ein. »Die Friedhöfe werden also überwacht, wenn ich richtig gehört habe.« »So ist es.« »Was sollen wir da noch? Auf zwei Posten mehr oder weniger kommt es doch wohl nicht an. Oder sind wir degradiert worden?« Unser Chef schüttelte unwillig den Kopf. »Lassen Sie Ihren Sarkasmus, John. Niemand hat von einer Degradierung gesprochen, auch wenn es Ihnen so vorkommen mag. Ich finde nur, daß Sie beide den
Fall von einer anderen Seite anpacken können. So könnten Sie möglicherweise dank Ihrer Beziehungen herausfinden, wer hier in London so scharf darauf ist, an Gebeine heranzukommen. Sekten und Zirkel, die dem Teufel zugetan sind, existieren ja leider genug. So möchte ich Ihre Aufgabe definieren, nicht als Wachposten vor dem Friedhofstor stehend.« »Das wird auch schwer genug werden«, sagte ich. »Was ist schon leicht?« Ich hätte ihm tausend Dinge aus der Werbung aufzählen können, weil mit Light-Produkten immer wieder Reklame gemacht wurde, aber ich hielt den Mund, um ihn nicht noch mehr zu verärgern. »Ich denke, wir haben uns verstanden. Tun Sie Ihr Bestes und unterstützen Sie die Kollegen. Schönen Tag noch.« Sir James klopfte noch einmal auf die Akte und ging. »Welch ein Tag!« jubelte ich und dachte dabei an eine Bierreklame, die ich in Deutschland gesehen hatte. »Zum Jubeln?« fragte Suko. »Nein, zum Abgewöhnen.« Ich blickte auf meine Hände. »Kannst du mir sagen, wo wir anfangen sollen zu suchen?« »Bestimmt nicht im Telefonbuch.« »Ha, ha.« Da tutete das Telefon. Es gibt ja Momente, wo dieses verdammte Geräusch einfach störte, an diesem Morgen jedoch war ich froh, es zu hören, weil ich ahnte, daß der Tag noch einen Kick bekommen würde. Deshalb schnappte ich mir auch schnell den Hörer. »Mr. Sinclair«, hörte ich die Stimme des Kollegen vom Empfang. »Da ist jemand, der mit Ihnen sprechen möchte.« Ich verdrehte die Augen. Suko, der mithörte, grinste nur. »Hat er einen Namen genannt?« »Ja, er heißt Jason Leary, und er behauptet, daß Sie ihn kennen würden, Mr. Sinclair.« Ich dachte nach. Jason Leary. Ja doch, den Namen hatte ich schon mal gehört. Aber direkt hatte ich mit dem Mann noch nichts zu tun
gehabt, sonst hätte ich nicht erst zu überlegen brauchen. »Sind Sie noch dran, Sir?« »Ja, das bin ich.« »Und was soll ich dem Herrn sagen?« »Schicken Sie ihn hoch.« »Gut. Man wird ihn zu Ihrem Büro bringen.« »Was ist mit dir?« fragte ich, nachdem der Hörer wieder auflag. »Hast du den Namen schon gehört?« »Leider nicht, John.« »Bei mir hat es schon geklingelt«, gab ich zu. »Nur weiß ich nicht, wo ich diesen Leary hinstecken soll. Na ja, wir werden sehen, wenn er hier auftaucht. Zuerst muß er ja Glendas Kontrolle durchlaufen.« Das passierte drei Minuten später. Aus dem Vorzimmer hörten wir Stimmen, dann öffnete sich die Tür. Glenda ließ den Besucher vorgehen und machte ein Gesicht, als wollte sie uns bedauern. Ich schaute sie nicht an, sondern Jason Leary, und schlagartig wußte ich Bescheid. Unsere Bekanntschaft lag tatsächlich nicht lange zurück. Erst ein paar Tage. Da hatte ich mich in einem Zimmer in einer Baracke eingemietet, um dort einen vierfachen Mörder zu stellen. Leary gehörte zu den Personen, die auf demselben Flur gewohnt hatten.* Sogar einige Worte hatten wir gewechselt. Mir fiel auch wieder ein, welchem Beruf er nachging. Er war Prediger auf Beerdigungen und entsprechend gekleidet: dunkler Anzug, weißes Hemd, graue Krawatte. Der Fassonschnitt war korrekt gescheitelt. Den traurigen Blick legte er sicherlich nicht mal im Bett ab. Die Augen in dem blassen Gesicht paßten auch dazu. Sie waren groß, braun und traurig. Einer wie er konnte auf Kommando heulen. Vielleicht auch gegen entsprechende Bezahlung. »Ja, ich gehe dann besser wieder«, sagte Glenda. »Einen Kaffee *siehe John Sinclair Nr. 962: »Der Leichenflur«
bringe ich dem Herrn gleich.« Sie war froh, die Tür wieder von außen schließen zu können. Jason Leary fühlte sich sichtlich unwohl. Daran zu erkennen, wie er sich umschaute. Er war verlegen, spielte mit dem dunklen Hut und wußte nicht so recht, wo er hinschauen sollte. Ich erleichterte ihm die Sache, stand auf, ging auf ihn zu und reichte ihm die Hand. »Hallo, Mr. Leary, so sehen wir uns also wieder, schön, daß Sie uns mal besuchen.« Er lachte etwas verlegen, wurde rot, drückte meine Hand und atmete erleichtert auf. »Danke, Mr. Sinclair. Ich war noch nie bei der Polizei, verstehen Sie? Und dann noch Scotland Yard. Es hat mich schon Überwindung gekostet.« »Das macht doch nichts. Irgendwann ist es immer das erste Mal. Ist wie bei der Freundin.« Er schwieg. Vielleicht hatte er keine. Ich fing Sukos Blick auf. Mein Freund hockte bewegungslos auf seinem Platz und sah aus, als würde er darüber nachdenken, was wohl besser war. Sich mit Leary zu unterhalten oder über den Friedhof zu schleichen und offene Gräber zu suchen. Suko entschied sich für die erste Möglichkeit. Ich hatte Leary mittlerweile einen Platz angeboten und stellte ihm, als er saß, Suko vor. Der Prediger nickte ihm zu. Mit seiner so typisch weichen Beerdigungsstimme sagte er: »Diesen Herrn habe ich schon im Haus gesehen. Kurz nach dem man die tote Lisa Fox hinaustrug.« »Haben Sie bei ihr schon die Trauerrede gehalten?« erkundigte sich mein Freund. »Nein, Inspektor. Man hat mich nicht darum gebeten. Außerdem weiß ich nicht, ob sie schon begraben wurde.« »Da haben Sie auch wieder recht.« Bevor wir zum Grund seines Besuchs kommen konnten, erschien Glenda und brachte den Kaffee.
»Oh, das ist aber nett«, sagte Leary und bedanke sich noch einmal überhöflich. Glenda lächelte gequält und ließ uns allein. Leary probierte den Kaffee, lobte ihn über den Klee und stellte die Tasse wieder vorsichtig ab. Dann schaute er auf seine blassen Hände mit den langen Fingern und den gepflegten Nägeln. »Jetzt werden Sie sich bestimmt wundern, daß ich ohne Voranmeldung zu Ihnen gekommen bin.« »Das wundert uns allerdings«, gab ich zu. »Nicht daß Sie denken, ich wäre sehr neugierig, aber ich habe inzwischen erfahren, wer Sie sind, Mr. Sinclair, und auch Sie, Mr. Suko, und da habe ich mir gedacht, daß Sie die richtige Anlaufstelle für dieses ungewöhnliche Problem sind.« »Nur zu«, ermunterte ich ihn, »wir sind ganz Ohr.« »O ja, danke.« Er wußte nicht, wen von uns beiden er anschauen sollte. Drehte er den Kopf nach links, war Suko an der Reihe, schaute er nach rechts, sah er mich an. Um keinen zu düpieren, blickte er geradeaus. »Wie Sie vielleicht noch wissen, Mr. Sinclair und Mr. Suko, ich verdiene meinen Lebensunterhalt durch Reden und Predigten. Mein Arbeitsplatz ist also eine Umgebung, die von den meisten Menschen gemieden wird. Zumindest nur selten aufgesucht wird.« »Die Leichenhalle«, sagte ich trocken. »Ja, auch, aber nicht nur sie. Ich predige auch an Gräbern, wenn es verlangt wird.« Er hob die Schultern und zog die Stirn kraus. »Ich komme also auf Friedhöfen herum und kann mich in gewisser Hinsicht als Fachmann bezeichnen.« »Das spricht Ihnen niemand ab, Mr. Leary«, sagte ich. Er griff wieder zur Tasse und trank. Himmel, hatte dieser Mann eine Leitung. Ich wurde ungeduldig, und selbst Suko ging diese lahme Ruhe auf den Wecker, weil sie so unnatürlich wirkte und auch nicht von innen her kam.
»Da ich also viel auf Friedhöfen herumkomme und sich die Termine oft wegen irgendwelcher Dinge verzögern, habe ich noch immer Zeit, mich auf dem Gelände umzuschauen.« Seine Augen bekamen einen schwärmerischen Glanz. »Sie glauben gar nicht, was man da alles zu sehen bekommt, wenn man einen Blick für gewisse Dinge hat. Richtige Kunstwerke können Sie erleben. Wunderschöne Grabsteine verschiedener Epochen. Es ist informativ und kann wirklich Spaß machen, einen Friedhof zu besuchen, vorausgesetzt, man hat den richtigen Blick dafür.« Wir hörten zu, unterbrachen ihn nicht, denn wir wollten durch unsere Fragen und den noch längeren Antworten nicht noch mehr Zeit verlieren. »Aber in der letzten Zeit«, jetzt sackte seine Stimme wieder ab und bekam einen weinerlichen Klang, »macht es mir überhaupt keinen Spaß mehr, Friedhöfe zu besuchen. Es ist etwas passiert, für das ich einfach kein Verständnis habe.« »Was denn?« fragte ich. Dafür schenkte mir Leary einen Blick aus seinen traurigen Augen, in denen jetzt der Zorn glänzte. »Man hat einfach zu viele dieser Friedhöfe geschändet. Man störte die Totenruhe, brach Gräber auf, man holte die Gebeine der Toten hervor. Ich frage Sie, meine Herren, wer tut so etwas? Wer kann sich an den Gebeinen der Verstorbenen erfreuen?« Er erhielt von uns keine Antwort, denn Suko und ich starrten uns nur an. Wenn das kein Zufall war, den uns der Himmel oder auch die Hölle geschickt hatte, würde ich wirklich gehen und mich als Friedhofswächter vor ein Tor stellen. Erst vor wenigen Minuten hatten wir uns die Köpfe darüber zerbrochen, wie wir den Fall angehen sollten, und jetzt erschien wie ein Blitz aus heiterem Himmel dieser Knabe und berichtete uns von den gleichen Problemen. Leary selbst schien seinen eigenen Worten nicht mehr zu trauen, denn er war regelrecht zusammengesackt und
konnte es auch nicht fassen, daß er von uns keine Antwort kriegte. »Bitte, meine Herren, habe ich etwas falsch gemacht? Bin ich Ihnen auf die Nerven gefallen?« Diesmal redete Suko. »Nein, Mr. Leary, überhaupt nicht. Sie sind uns auf keinen Fall auf die Nerven gefallen. Wir müssen Ihnen sogar für Ihren Besuch dankbar sein.« »Ach.« Leary saß da und sah aus, als könnte er nichts von dem glauben, was man ihm gesagt hatte. »Doch, Mr. Leary, doch. Wir sind Ihnen dankbar. Sehr sogar, daran besteht kein Zweifel.« »Schön«, sagte er und strich über sein Haar. »Aber ich begreife Sie trotzdem nicht.« Diesmal griff ich ein. »Sie haben sich ja über uns erkundigt, sehe ich das richtig.« »Ich war so frei.« Er senkte wieder seinen Blick. »Gut. Dann wissen Sie auch, daß wir uns nicht eben mit normalen Fällen beschäftigen.« »Auch das ist mir bekannt.« »Okay. Und wie es der Zufall so will, kurz bevor Sie hier erschienen, hat uns unser Chef einen Besuch abgestattet und uns genau den Fall übergeben, von dem Sie soeben berichtet haben. Wir sollen uns um die offenen Gräber kümmern.« Leary war jetzt wirklich von der Rolle. So starren wie er konnte eigentlich nur ein Kind, aber er schaffte es, und ich konnte nicht anders und mußte lachen. Auch Suko griente. Ich entschuldigte mich bei dem Mann und erklärte ihm, daß ich ihn auf keinen Fall hatte auslachen wollen. »Das habe ich auch nicht angenommen, Mr. Sinclair, aber ich komme noch nicht zurecht.« »Wir werden das schon in die Reihe bringen«, sagte Suko. »Und Sie sind dabei unser wichtigster Helfer.« Wieder wurde er ein wenig verlegen.
»Wenn ich kann, dann helfe ich eben gern.« »Das ist auch vonnöten.« »Welche Fragen haben Sie denn?« Suko deutete auf mich, weil er wohl glaubte, ich käme mit dem Prediger besser zurecht. »Mr. Leary«, sagte ich, »wenn Sie Friedhöfe geliebt haben und sich auf ihnen immer sehr wohl fühlen, muß es Ihnen weh getan haben, die offenen Gräber zu sehen.« »Das hat es auch.« »Gut, das steht. Ich könnte mir bei Ihnen auch vorstellen, daß Sie sich nicht damit abgefunden haben. Ein Mann wie Sie ist doch konsequent.« Ich trug jetzt dick auf. »Er wird das nicht einfach hinnehmen. Oder liege ich da falsch?« »Könnten Sie sich etwas genauer ausdrücken?« »Gern, Mr. Leary. Haben Sie während Ihrer freien Zeit nicht versucht, auf dem Friedhof ein wenig Detektiv zu spielen, um eventuell herauszufinden, wer die Gräber schändet?« Da sich sein Kopf rötete, wußte ich, daß ich ins Ziel getroffen hatte. »Nun?« »Habe ich«, gab er zu. »Wunderbar.« Mein Kommentar erstaunte ihn. »Und Sie haben nichts dagegen, daß ich so etwas tat? Ich meine, das steht mir ja nicht zu, da bin ich auch ehrlich.« »Was sollte ich denn dagegen haben.« Ich setzte mich entspannt hin und lächelte. »Bei Ihnen kann ich mir vorstellen, daß Sie sogar einen Erfolg erzielten.« Er schwieg. Ich zwinkerte Suko zu, und der nickte zurück. Dabei hob er noch den rechten Daumen. Volltreffer. »Warum sagen Sie nichts, Mr. Leary?« »Sie kennen die Menschen, Mr. Sinclair«, gab er leise zurück. »Sehr
gut sogar.« »Sie haben also etwas herausgefunden.« »Ja.« »Sehr gut.« »Aber ich weiß nicht, ob ich das alles so sagen kann, denn ich möchte keinen Menschen in Mißkredit bringen. Das ist doch auch für Sie verständlich oder?« »Aber immer.« »Deshalb tue ich mich ja auch so schwer.« »Waren es Jugendliche, war es eine Bande, die die Gräber öffnete und die Gebeine hervorholte?« »Wenn es das mal gewesen wäre«, murmelte Leary, »aber so war es bei allen Heiligen nicht.« »Wie denn?« drängte ich. »Himmel, Leary, lassen Sie sich doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen.« »Aber der Schutz …« »Wir werden alles genau überprüfen. Das kann ich Ihnen hoch und heilig versprechen.« Er rieb sein rechtes Auge. »Ich glaube Ihnen auch, es ist trotzdem schwer für mich.« »Hier wird auch nichts heimlich aufgenommen. Darauf können Sie sich ebenfalls verlassen.« Er entspannte sich und wurde lockerer. »Das habe ich gehofft bei Ihnen. Es ist auch so eingetreten, aber der Verdacht, den Sie vorhin äußerten«, sprach er schnell weiter, »der trifft einfach nicht zu.« »Sie meinen die Bande?« »Ja. Es ist keine Bande im eigentlichen Sinne. Es sind nur drei Leute, und einen davon, wohl der Anführer, den kenne ich. Sogar relativ gut.« »Das ist ein Ding!« Ich sprach Suko an. »Was meinst du dazu?« »Der kleine Hammer.« »Vielleicht sogar der große. Reden Sie bitte weiter, Mr. Leary, wir
mußten nur mal kurz Dampf ablassen.« »Das verstehe ich sehr gut. Nun ja, dieser Anführer kennt sich wohl auf einem bestimmten Friedhof noch besser aus als ich, weil er dort sein Berufsleben verbracht hat.« »Ist er Totengräber?« fragte Suko. »Er war es. Jetzt ist der Mann pensioniert. Er muß ja am besten wissen, wo die besten Knochen oder Gebeine zu holen sind. Das hat er dann auch zusammen mit zwei Helfern getan. Ich habe sie bei Dunkelheit beobachtet, als sie ein Grab aushoben und die Knochen in eine Reisetasche legten.« »Hat man Sie entdeckt?« »Nein, Mr. Sinclair.« »Wann haben Sie das denn gesehen?« fragte Suko. »Oder wie lange ist es her?« »Mehr als zwei Wochen.« »Und Sie haben nichts gemeldet?« Er wurde rot. »Nein, das tat ich nicht. Ich wollte den Mann nicht anschwärzen, den ich kenne.« »Es stand aber in den Zeitungen, daß Zeugen gesucht werden.« »Schon, Mr. Suko.« Leary holte tief Luft. »Ich habe es damals nicht getan, aber als ich Mr. Sinclair kennenlernte, dachte ich eben anders darüber.« »Schon gut«, beruhigte ich ihn. »Ihnen wird nichts geschehen, Mr. Leary, aber wir brauchen den Namen des Mannes, der da die Gräber plündert.« »Ich weiß«, flüsterte er. »Es fällt Ihnen schwer, wie?« Leary nickte. »Möchten Sie einen Schnaps?« Über die Frage erschrak er richtig. »Was, schon so früh am Morgen? Ich bitte Sie!« »Manchmal kann ein Whisky auch Medizin sein.«
»Gut, dann versuche ich es.« Die Flasche stand ebenso versteckt in meinem Schreibtisch wie die Gläser. Leary staunte, daß ich nur ein Glas füllte und wir selbst nichts tranken. Er zögerte noch, nach dem Drink zu greifen, ich nickte ihm aufmunternd zu, dann nahm er das Glas, holte schnaufend Luft und leerte das kleine Gefäß mit einem Zug. Suko und ich grinsten uns an, weil wir wohl beide das gleiche dachten. So wie Jason Leary den Drink in die Kehle gekippt hatte, das ließ schon auf eine gewisse Routine schließen. So etwas war ein regelrechter Meisterschluck. »Tat es gut?« erkundigte ich mich, als Leary das Glas abgestellt hatte. »Sehr sogar.« Die Antwort hatte ehrlich geklungen. »Möchten Sie noch ein Glas?« Für einen Augenblick kam es mir vor, als zögerte er, dann schüttelte er den Kopf. »Eines reicht wohl, Mr. Sinclair.« »Das müssen Sie wissen. Doch jetzt hätte ich gern den Namen von Ihnen gehört.« Er faßte sich an die Stirn. »Natürlich. Der pensionierte Totengräber heißt James Jarrel.« Lange brauchte ich nicht zu überlegen. Gehört hatte ich diesen Namen noch nicht. Auch Suko schüttelte den Kopf. Er kannte ihn ebenfalls nicht. »Die Adresse kennen Sie sicher, Mr. Leary?« »Ich war mal bei ihm. Ganz kurz nur, denn er wollte mir etwas zeigen.« Leary lächelte verlegen. »Jarrel sammelt Totenanzeigen, aber nur die originellsten, verstehen Sie?« »Jeder hat ein Hobby. Sie nicht?« »Nein.« Leary wirkte etwas verlegen. »Oder ja«, gab er dann zu. Dabei errötete er. »Ihnen kann ich es ja sagen, Sie werden sicherlich schweigen. Ich sammle Comics.« »Oh«, sagte Suko, da ich sprachlos war. »Comics? Habe ich Sie
richtig verstanden?« »Es ist ein Hobby.« »Schon gut.« Ich erhob mich. »Kommen Sie, Mr. Leary. Da Sie den guten James Jarrel kennen, werden Sie uns zu ihm begleiten.« Das gefiel ihm weniger. »Muß das denn sein? Ich komme mir dabei vor wie ein Verräter.« »Sie werden ihm möglicherweise ins Gewissen reden können, Mr. Leary. Er hat sich strafbar gemacht, das steht fest. Schändung der Gräber. Störung der Totenruhe. Gerade als Totengräber hätte er das wissen müssen. Ich verstehe auch seine Motive nicht.« »Das bringt ihm Geld, glaube ich.« »Ja, schon, aber er muß ein sehr zwiespältiges Verhältnis zu seiner Arbeit gehabt haben. Jedenfalls müssen wir ihm einige Fragen stellen.« Ich hörte aus Sukos Richtung ein Brummen, das nicht eben zustimmend klang. Ihm gefiel es nicht, das Büro zu verlassen, und den Blick, den er mir zuwarf, den kannte ich auch. Er beinhaltete eine Frage. Warum fährst du nicht mit Leary allein? Bevor er es vorschlagen konnte, nahm ich ihm das Wort aus dem Mund. »Sir James hat uns beiden den neuen Job überlassen. Daran solltest du denken.« »Wieso? Ich habe nichts gesagt.« »Aber gedacht.« »Das darf ich doch wohl oder?« »Nur manchmal«, gab ich grinsend zurück. »Ansonsten sollte man das Denken den Pferden überlassen, die haben größere Köpfe.« Jason Leary sagte nichts. Aber er staunte über unseren Umgang. Das war er als Prediger nicht gewohnt. Aber hier hatte er es auch mit Lebenden und nicht mit Toten zu tun.
*
Es war nicht zu fassen, aber es stimmte. Das alte Skelett hatte sich bewegt. James Jarrel hörte den eigenen Herzschlag überlaut. Er wunderte sich, daß er noch in der Lage war, kritische Gedanken zu fassen. Gedanken, die sagten ihm, daß es ein Fehler gewesen war, dieses außergewöhnliche Grabmal zu öffnen. Sie hatten hier etwas an die Oberfläche geholt, das besser in der Dunkelheit geblieben wäre. Santer und Gordy hatten nichts gesehen. Sie waren in ihren eigenen Gedanken versunken. Wahrscheinlich rechneten sie noch immer nach, wieviel Geld ihnen das Skelett bringen würde. Nach einigen Sekunden war Jarrel wieder soweit, um hinschauen zu können. Er spürte die Kälte in seinem Innern. Er saugte die Luft ein, seine Lippen bewegten sich, ohne daß er sprach. Die Erinnerung kehrte zurück. Nach der Entdeckung war sie einfach weg gewesen. Da hatte er unter Schock gestanden. Der Knöcherne hatte seine linke Hand bewegt. Dort hatten die Finger einmal kurz gezuckt. Dies war keine Einbildung gewesen, und er konzentrierte seinen Blick deshalb auf die Hand. Jetzt lag sie ruhig. Das Fleisch war längst abgefallen. Die dünnen Knochen schimmerten hell. Viel zu hell für ein Skelett, denn da kannte sich der ehemalige Totengräber aus. Er wußte schon, wie altes Gebein aussah. Jedenfalls nicht so wie dieses hier, und das machte ihn zusätzlich nervös. Schon jetzt ging er davon aus, daß dieser Fund anders war als die bisherigen. Mit dem Knöchernen stimmte etwas nicht. Lebte das Skelett wirklich? Er wollte es nicht wahrhaben, und er wünschte sich, einer Täuschung erlegen zu sein. Aber glauben konnte er das nicht. Am anderen Ende des Sarkophags standen seine Helfer. Verdammt, auch sie mußten doch etwas gesehen haben, aber sie hatten nichts gesagt. »He!« zischte er ihnen zu. »He, ihr beiden!«
Sie reagierten nicht. »Santer, verdammt!« Die Enge des Grabs schluckte einen Teil seiner Stimme. So hörte sie sich dumpf an, irgendwie auch passend. »Chef?« Beide Männer schauten sich an. Jarrel sah, daß Santer sich nicht wohl fühlte. Auch Gordy hatte aufgeschaut. Das bleiche Licht der Lampen wirkte wie kalte Totenleuchten und gab den Männern eine gewisse Ähnlichkeit mit Wachsfiguren. »Ihr habt nichts gesehen, wie?« »Was denn, Chef?« Jarrel deutete auf das Skelett. »Na, hier. Was mit ihm geschehen ist. Mit dem Knöchernen.« Gordy und Santer schüttelten die Köpfe. »Tut uns leid«, sagte der Mann mit dem Pferdeschwanz. »Wir konnten wirklich nichts erkennen. Das ist alles komisch, aber …« »Es hat sich bewegt!« Jarrel konnte die Entdeckung einfach nicht für sich behalten. Er hatte in die Antwort hineingesprochen, aber weder Gordy noch Santer reagierten auf diese Bemerkung. Sie wollten weitersprechen, was Jarrel nicht zuließ, denn er schrie die beiden Männer plötzlich an. »Es hat sich bewegt, verdammt!« Erst jetzt schauten sie hoch. »Habt ihr verstanden?« Santer nickte nur, aber Gordy fragte: »Wie kann sich das Ding denn bewegt haben?« »Scheiße, das weiß ich auch nicht! Aber es ist geschehen. Ich habe es gesehen. Die Hand, der Finger es hat gezuckt.« Gordy schaute seinen Chef an, als hätte dieser nicht alle Tassen im Schrank. Eine Bemerkung lag ihm auf der Zunge, die aber brachte er nicht hervor, denn Jarrels Blick brachte ihn zum Schweigen. Santer, naiv wie immer, fragte: »Aber ist der denn nicht tot?« »Klar ist er das.« »Dann kann er sich doch nicht bewegen.«
James Jarrel winkte ab. Er sagte nichts mehr. Es war ihm jetzt egal, was die Typen über ihn dachten. In dieser Nacht war ihm überhaupt alles egal. Das Grab war aufgebrochen, es machte nichts. Sie würden die steinerne Tür auch wieder schließen. Dafür gab es einen alten Mechanismus. Aber rausholen wollte er das Skelett nicht. Dafür fürchtete er sich selbst als Totengräber, bei dem die Gänsehaut einfach nicht weichen wollte. »Wir werden gehen«, sagte er. »Ach.« Gordy spuckte aus. »Ohne Beute?« »Ja, ohne. Wir lassen es hier.« Gordy zeigte ein bissiges Grinsen. »Das finde ich aber gar nicht gut, Jarrel. Du hast selbst gesagt, daß ein solches Gerippe eine Menge Kohle bringt.« »Scheiß auf das Geld!« schrie Jarrel. »Ich habe meine Meinung eben geändert.« Gordys Hals schwoll an. Seine Gedanken bewegten sich in eine andere Richtung. Er leuchtete Jarrel ins Gesicht. »Dir glaube ich nicht, verflucht! Du willst uns nur loswerden, um zurückzukommen und die Kohle dann allein zu kassieren, wenn du den Knochenmann aus dem Sarkophag geholt hast.« Gordy lachte häßlich auf. »Aber so haben wir nicht gewettet, Mister, so nicht!« Sprachlos hatte sich Jarrel die Vermutung anhören müssen. Jetzt, wo Gordy nicht mehr sprach, lief er rot an. »Hör mal, Meister, spinnst du eigentlich? Bist du verrückt? Weißt du, wo wir uns hier befinden? In einer verdammten Grabstätte! Und ich habe oft genug gehört, daß derartige Grabstätten verflucht sind. In Ägypten ist das öfter geschehen. Man kann darüber lesen, und das gleiche könnte uns auch hier widerfahren. Bisher haben wir Glück gehabt, daß nicht noch mehr passiert ist. Ich werde den Fund nicht anrühren.« »Dann kannst du ja gehen.« »Was soll das heißen?« »Hau ab, alter Mann. Wir machen den Job allein. Von heute an steigen wir bei dir aus. Du hast uns ja vieles beigebracht. Dafür dan-
ken wir dir auch, aber wir brauchen dich nicht mehr. Kapiert?« Jarrel schüttelte den Kopf! »Du spinnst doch, Gordy.« »Nein.« »Was ist mit dir, Santer?« »Ich brauche das Geld, Chef.« »Er ist nicht mehr dein Chef!« knirschte Gordy. »Er ist alt, verbraucht und feige.« Der Typ kicherte. »Scheißt sich in die Hose, wenn er ein gut erhaltenes Skelett sieht. Spricht noch davon, daß es sich bewegt hat. Bewegt!« schrie Gordy und lachte. »Du kannst doch wirklich nicht mehr alle Tassen im Schrank haben. Du nicht, Jarrel!« James räusperte sich. »Es stimmt«, flüsterte er. »Es hat sich tatsächlich bewegt. Ich habe mich nicht geirrt. Ihr solltet die Finger davon lassen.« »Werden wir nicht!« erklärte Gordy. »Aber du selbst kannst dir einen Gefallen tun. Hau ab, mach die Fliege!« Er ging noch nicht. James war traurig geworden. Man hatte ihm klargemacht, daß er zum alten Eisen gehörte und nun aussortiert wurde. Gordy hatte das Kommando übernommen. Er würde so weitermachen, wie er es gelernt hatte. Aber er kannte die Gräber nicht so wie Jarrel und würde möglicherweise Schiffbruch erleiden. Die Gier nach Geld war zu groß. Er nahm keinen Rat mehr an. »He, Alter, mach dich aus dem Staub. Was stehst du hier noch herum? Dieses Geschäft übernehmen Santer und ich. Vielleicht können wir ja später irgendwann zusammenarbeiten, aber nicht heute und auch nicht in den nächsten Tagen. Klar?« James Jarrel nickte. »Ja«, sagte er mit sehr leise Stimme. »Ich habe verstanden und begriffen. Ich habe alles genau gehört. Aber glaubt nicht, daß ihr gewonnen habt. Glaubt das nicht. Es gibt Dinge, gegen die kommt ihr nicht an.« »Hau endlich ab!« Jarrel ging. Er senkte den Kopf. Nicht aus Scham, er wollte noch einen letzten Blick in den Sarkophag werfen. Inzwischen war er
wirklich unsicher gewesen, ob er sich nicht doch geirrt hatte. Jarrel faßte es nicht, daß dieses Skelett noch so gut erhalten war. Da fehlte einfach nichts. Es war kein Knochen aus dem Gefüge gebrochen, und es wirkte auch nicht grau, sondern unnatürlich hell, als hätte jemand das Innere der Gebeine damit gefüllt. Schlimm … Unnormal? »Geh schneller!« Jarrel kümmerte sich nicht um den Befehl. Er streifte weiterhin den Inhalt des Sarkophags mit sehr wachen Blicken und kriegte einen heißen Schreck, als er entdeckte, wie sich der rechte Fuß mit den Knochenzehen bewegte. Ein Zucken nur, nicht mehr, aber es reichte aus, um ihn auf dem Weg anhalten zu lassen. Wieder verlor sein Gesicht die Farbe, und er merkte, wie er zitterte. »Geh weiter!« fuhr in Gordy an. »Nein, schaut doch, verflucht! Es ist unsere letzte Chance. Wir müssen weg. Das Ding hier das Ding lebt!« Gordy lachte. Er war wütend. Dementsprechend klang auch sein Lachen. Er hatte sich oft genug von Jarrel herumkommandieren lassen. Das war vorbei! Jetzt war seine Stunde gekommen, und er griff ein. Bis zu Jarrel hatte er es nicht weit. Sein rechter Arm schnellte vor, dann griff er zu und wuchtete Jarrel zur Seite. Der Totengräber torkelte auf den Ausgang zu. James erreichte ihn auch, nur hatte er vergessen, sich zu bücken. Sein Hinterkopf stieß so hart gegen die Kante, daß er Sterne sah. Auf der Stelle schwankte er. Die Gestalten vor ihm verschwammen vor seinen Augen. Er sah, daß Gordy noch weiter auf ihn zukommen wollte, aber Santer hielt ihn zurück. »Laß ihn doch!« »Der soll …« Plötzlich war der Sturm da. Nicht nur einfach der Wind, sondern
ein regelrechter Orkan, der nicht von draußen in die Pyramide hineinbrauste, sondern in deren Innern entstanden war. James Jarrel hatte sich geduckt. Es war sein Glück, So fiel er nicht so hart wie Gordy und Santer, die vom Sturmstoß brutal zu Boden geschleudert wurden. Auch James fiel, aber er konnte sich noch herumdrehen, kam auf die Knie, stützte sich mit den Händen ab und schaute dorthin, wo der Sarkophag seinen Platz hatte. Die Taschenlampen der beiden anderen Männer wurden zu einem Spielball des Windes. Sie wirbelten nicht nur über den Boden, sondern wurden auch in die Höhe gerissen. Lichtblitze, fast wie in einer Disco, zuckten durch den Raum, und der lokal begrenzte Orkan wütete wie ein Raubtier. Gordy lag auf dem Rücken. Er strampelte mit den Beinen. Er schrie dabei, während sich der kräftigere Santer umgedreht hatte. Es war ihm sogar gelungen, die Arme auszustrecken und mit beiden Händen den Sarkophagrand zu umklammern, denn er diente ihm als Stütze. Hoch kam er nicht. Ein anderer übernahm dies für ihn, denn James Jarrel und auch Santer sahen, wie das Skelett seine letzte Ruhestätte verließ …
* Der ehemalige Totengräber hielt den Atem an. Er konnte es nicht fassen, denn was er hier erlebte, das war wie in einem Horrorfilm. Ein Skelett, das nicht leben durfte, war wieder zu einem unheilvollen Leben erweckt worden. Es kroch in die Höhe. Ein Wesen ohne Fleisch, ein kaltes Gerippe, das seine Knochenklauen auf die Sargränder gestützt hatte, wobei eine Klaue auf Santers linker Hand lag. Plötzlich fing er an zu schreien. Grausam, schlimm. Sein Gesicht
war verzerrt. Er litt unter wahnsinnigen Schmerzen und wollte auf die Beine kommen, aber es ging nicht. Das Skelett drückte ihm die Hand mit seiner Knochenklaue zu stark zusammen, daß ein dicker Blutfleck entstand und die Masse zäh über den Rand hinwegfloß. Dann stand der Unheimliche. Wieder fegte der Windstoß durch den Raum. So laut, daß er die Schreie des zurückkippenden Santer übertönte. Der hatte keine linke Hand mehr. Es hingen nur noch Reste dort. Gordy war in die Ecke geweht worden. Er kam dort auch nicht weg. Sein Jammern war ebenfalls zu hören. Das aber kümmerte das Skelett nicht. Er stand jetzt auf seinen Knochenfüßen und sah aus wie ein König, der seinen Thron verlassen hatte. Der Sturm tat ihm nichts. Etwas Unheimliches war im Gange. Die Malereien an den Wänden leuchteten auf oder zogen sich wieder zurück in den Schatten. Sie schienen ein Eigenleben zu führen, seit das Skelett sich erhoben hatte. Santer war bewußtlos geworden. Zumindest bewegte er sich nicht mehr. Das alles bekam Jarrel mit, und er wartete darauf, daß sich der Unheimliche auf den Ausgang zubewegen würde. Es wäre normal gewesen. Hier paßte nichts mehr zusammen. Es gab keine Normalität, es gab nur den kalten, brutalen Horror. Das Gerippe fing erst an. Es blieb noch immer im Sarkophag stehen, aber es streckte jetzt seine Knochenarme in die Höhe, als wollte es über die Decke kratzen. So weit reichten die Finger nicht, aber die Bewegungen waren nicht grundlos erfolgt, denn wieder fegte ein Sturmstoß durch die Pyramide. Er packte die beiden Männer. An Jarrel huschte er vorbei. Dafür wurde Gordy in die Höhe gehoben. Er wuchtete mit aller Macht unter die Decke, und Jarrel hörte die schrecklichen Geräusche beim Aufprall. Leblos fiel Gordy nach unten. Er blieb dicht neben Santer liegen, der sich einen Augenblick später erhob, weil ihm der Sturm-
stoß jetzt erwischt hatte und hart gegen die Wand knallte. Jarrel preßte seine Hand vor den Mund. Er wollte nicht schreien und einfach nur fliehen, aber es gelang ihm nicht, sich zu entfernen. Da war eine Macht, die ihn festhielt. Das grausame Spiel des Skeletts war noch nicht beendet, denn es kümmerte sich auf seine Art und Weise um die beiden Männer. Wieder fühlte sich Jarrel in einen Film versetzt, weil aus den Knochenfingern Licht sprühte. Blitzende Streifen, Lichtspeere, die Gordy und Santer trafen. Sie bohrten sich durch sie hindurch. Jarrel erwartete jeden Augenblick, daß aus ihnen Flammenzungen schlugen. Sie brannten nicht. Und trotzdem vergingen sie auf eine unendlich schreckliche Art und Weise, denn der Totengräber mußte zusehen, wie sich die Haut von ihren Knochen löste. Sie wurde zu einer schwammigen Masse, die auf das Skelett zuwehte. Darauf hatte es nur gewartet. Die Haut der anderen Männer wurde von ihm aufgesaugt. Sie drehte sich wie ein Mantel um die Knochengestalt und bedeckte dann ziemlich schnell das Gerippe. Es bildete sich ein neuer Mensch. Mensch? Jarrel wollte es nicht glauben. Er hörte sich schreien und weinen zugleich. Für ihn war die normale Welt zusammengebrochen. Er konnte auch nicht mehr hinsehen, denn die Verwandlung des Skeletts war noch nicht beendet. Die Haut der anderen Männer drehte sich um sein Knochengestell. Auch der Schädel wurde nicht ausgeschlossen. Da wuchsen plötzlich Haare, da entstand ein Gesicht, das sehr fremd aussah, und es floß nicht ein Tropfen Blut. James Jarrel zog sich zurück. Er merkte nicht mal, daß er durch die Graböffnung auf allen vieren nach hinten rutschte, und erst als er die kalte und nasse Erde unter seinen Händen spürte, tauchte er wieder in die Wirklichkeit zurück. Wie er es geschafft hatte, auf die Beine zu kommen, wußte er nicht. Jedenfalls befahl ihm sein Gehirn, daß es besser war, zu lau-
fen. Wegrennen, um nicht noch von diesem unsagbaren Grauen eingeholt zu werden. Was er gesehen hatte, war kein Traum gewesen, sondern eine Realität, die für ihn nicht akzeptierbar war, aber trotzdem stattgefunden hatte. Er war der Mann, der etwas geöffnet oder aufgerissen hatte, das besser im Verborgenen geblieben wäre. Zu ändern war es nicht mehr, und so würde er auch die Konsequenzen tragen müssen. Der Friedhof war dunkel. Er war an dieser Stelle dich bewachsen, und Jarrel durchbrach das Brombeergestrüpp wie ein Berserker. Er wollte nur weg. Nicht auf diesem alten Totenacker bleiben, den er durch seine Tat entweiht hatte. In seinem Kopf bildeten die Gedanken schreckliche Bilder, die kurz hintereinander erschienen. In chronischer Reihenfolge zeigten sie auf, was er erlebt hatte. Es wiederholte sich mehrmals, und er schrie plötzlich, weil die Erinnerungen zu stark waren. Jarrel gehörte nicht mehr zu den jüngsten Menschen. Der Friedhof war groß. Er wußte nur, daß er fliehen mußte, aber die Schatten um ihn herum verdichteten sich. Plötzlich prallte etwas gegen seine Stirn. Kein Totschläger, kein Sandsack, Jarrel war einfach nur gegen einen niedrigen Ast gelaufen. Wieder sah er Sterne. Diesmal noch stärker, denn der Schlag riß ihn von den Beinen. Verkrümmt blieb er liegen.
* Wann James Jarrel wieder mit einem Brummschädel und stechenden Kopfschmerzen erwachte, das wußte er nicht. Jedenfalls war es noch dunkel um ihn herum. Er fror so erbärmlich, daß seine Zähne aufeinanderschlugen und klapperten. Er hustete. Sein Gesicht war naß. Er fühlte sich schlecht. Der Magen revoltierte. Die Kleidung war mit Schlamm bedeckt und an eini-
gen Stellen bereits getrocknet. Der Schmutz klebte auch in seinen Haaren und ebenso an den Händen. Doch er lebte! Zuerst dachte er nicht weiter darüber nach. Bis er sich stöhnend in eine kniende Haltung drückte, sich dabei umschaute und niemanden in der Nähe sah. Er war allein. Allein mit den Toten, die unter ihm lagen, denn er war auf eine Familiengruft gefallen. Drei kompakte Grabsteine standen nebeneinander. Den Kopf massierte er sich, denn Schmerzen peinigten ihn. Die Stiche spürte er mehr im hinteren Teil des Kopfes, aber das alles nahm er in Kauf. Ich lebe! Verdammt, ich lebe! Man hat es nicht geschafft, mich zu töten! Ich lebe. Ich bin okay. Ich habe es überstanden. Ich bin wieder am Leben. Ich war nicht tot, die anderen sind … Seine Gedanken wurden zu einem Chaos. Plötzlich dachte er an Santer und Gordy. Glasklar stand die Erinnerung wieder vor seinen Augen, und er wußte auch, daß Gordy nicht mehr an seiner Seite hatte bleiben wollen. Freunde waren sie noch nie gewesen, aber dieses Ende hatten beide Männer nicht verdient. Wie ein Teppich hatte sich die Haut von ihren Körpern abgerollt. Das würde er nie vergessen. So etwas blieb in seinem Gedächtnis haften, wie auch die Neubildung eines Menschen. Menschen? War aus dem alten Skelett ein neuer Mensch durch die Haut der anderen geworden? James drehte bald durch, als er sich mit dem Gedanken beschäftigte. Das war mit Logik nicht zu erklären. So etwas konnte man nur als Horror bezeichnen. Ihn hatte es erwischt, ausgerechnet ihn. Er war zu gierig gewesen. Ich hätte die Toten in Ruhe lassen sollen, verflucht, aber ich wollte Geld. Ich habe Friedhöfe entweiht, und ich habe einen alten Fluch
damit ausgelöst. Noch auf dem Grab quälten ihn diese Gedanken. Und er spürte sehr genau, wie sie anfingen, ihn zu verändern, denn ein ganz anderes Gefühl stieg in ihm hoch. Angst! Trotz seines etwas makabren Jobs hatte er kaum Angst in seinem Leben gekannt. Von einem Augenblick zum anderen hatte sich das verändert. Natürlich hatte es mit den unerklärbaren Dingen in der Pyramide zu tun. Jetzt saß die Angst wie ein böser Stachel in ihm, den er aus eigener Kraft nicht herausziehen konnte. An einem der drei Grabsteine stützte er sich ab, um die Blicke in seine nähere Umgebung schweifen zu lassen. Es war düster. Noch regenverhangen, obwohl nichts mehr aus den Wolken nieselte. Dafür hatte sich Dunst gebildet. Wie seichte Schleier trieb er über den Friedhof hinweg, als wollte er alles, was auf ihm stand, umspinnen. Nie war ihm ein Friedhof unheimlich vorgekommen. Jarrel hatte ihn stets als einen normalen Arbeitsplatz angesehen. Diesmal jedoch fürchtete er sich. Er wollte weg. Nach Hause. Sieh verkriechen, denn er rechnete noch damit, daß die neue Gestalt über das Gelände streifen und nach ihm suchen würde. Der Gedanke daran ließ die Angst zur Panik werden. Er zitterte, sprach mit sich selbst, schluchzte, und es dauerte Minuten, bis er sich von diesem Anfall erholt hatte. Beide Hände lagen auf der Kante des breiten Grabsteins. Es kam James sogar vor, als würde sich dieser Stein bewegen. Dann rannte er weg. Die Schmerzen wühlten weiterhin stroboskopartig durch seinen Kopf, was für ihn allerdings zweitrangig war. Er rannte, er wollte weg, und er hetzte wie ein Gespenst durch den Nebel auf der Suche nach Opfern …
*
Die Wohnung des pensionierten Totengräbers zu finden, war gar nicht so einfach. Er lebte in einem Haus, das zu einer Siedlung gehörte. Der Bauart nach mußte sie in den fünfziger Jahren entstanden sein. Vierstöckige, graue Häuser. Sie standen nebeneinander, nur getrennt durch schmale Wege und Grünstreifen. Parkplätze waren Mangelware. An einem kleinen Spielplatz waren wir vorbeigefahren. Die Geräte dort verrotteten. Zudem war der Ort als Müllkippe und Hundeklo zweckentfremdet worden. Ich stellte den Rover schließlich neben einer schmalen Feuerwehrzufahrt ab und stieg als erster aus. Suko hatte Jason Leary die Tür geöffnet. Der Mann traf noch keinerlei Anstalten, den Wagen zu verlassen. Er saß gebückt und mit angezogenen Knien auf der Rückbank und schaute Suko erst gar nicht an. »He, was ist los mit Ihnen, Mr. Leary? Wollen Sie nicht aussteigen?« »Ich weiß es nicht.« »Warum denn?« »Ich weiß nicht, ob ich alles richtig mache. Ob es gut ist, James Jarrel zu besuchen. Ich komme mir immer mehr wie ein Verräter vor, je länger ich darüber nachdenke.« »Unsinn! Sie haben genau das Richtige getan. Jetzt kommen Sie endlich raus da!« Jason Leary seufzte. Er bewegte sich sehr langsam, als wollte er überhaupt nicht in die Kälte hinein. Seinen Mantel hatte er mitgenommen und streifte ihn über. Auch er war dunkel, und der Hut paßte natürlich dazu. Zehn Häuser hatte ich gezählt. Sie lagen unter einem grauen Himmel und sahen selbst sehr grau aus. Bei diesem naßkalten Wetter sahen wir nur wenige Menschen im Freien. Zumeist Frauen, aber auch kleine Kinder, die noch nicht in
die Schule mußten. Die kahlen Gerippe der Bäume reichten kaum hoch bis zu den Dachrändern. Sie glichen mehr einem zu hoch gewachsenen Gestrüpp und standen dort, wo die Zufahrt zur Straße begann. Das hier war eine kleine Insel, um die der Verkehr rollte. Zum Glück hatten alle Häuser Nummern, und die waren auch lesbar. Wir mußten in das Haus mit der Nummer acht und noch etwas laufen, da wir von der verkehrten Seite her kamen. Der Prediger lief zwischen uns her. Den Kopf hielt er gesenkt, obwohl er einen Hut trug. Mir und Suko wehte der Wind die Haare hoch und strich kühl über unsere Kopfhaut. Zwei Frauen, die zusammenstanden und beide Einkaufswagen festhielten, schauten uns verwundert an, als wir an ihnen vorbeigingen. Dieser Hauptweg führte an den Schmalseiten der Häuser entlang. Über kleine Wege kam man bis an die Eingänge heran. Das Haus Nummer acht unterschied sich in nichts von den anderen. Wir blieben vor der Haustür stehen und stellten fest, daß James Jarrel in der ersten Etage wohnte. Zu klingeln brauchten wir nicht, denn die Haustür war nicht geschlossen. Wir gelangten in einen düsteren Flur, dessen Wände beschmiert waren. Am Beginn der Treppe stand ein Fahrrad. Es war am Geländer angekettet worden. Schon auf dem Weg in die erste Etage hörten wir die Stimme der Frau. Sie rief immer wieder Jarrels Namen. »Was ist denn, James? Melde dich!« Wir gingen weiter. Suko holte tief Luft. »Sieht nicht gut aus, John. Da ist etwas passiert. Kann durchaus sein, daß wir in einen Sumpf hineinfassen.« »Nur wegen der Frau?« »Ist das normal?« »Wir werden mit ihr reden.«
Leary sagte nichts. Er hielt sich hinter uns. Nur manchmal stöhnte er leise. Natürlich hatte uns die Frau längst gesehen. Und sie schaute nicht gerade freundlich, als wir in ihr Blickfeld gerieten. Drei Fremde waren ihr schon suspekt. Dann wunderte sich die Frau noch mehr, als wir in ihrer Nähe stoppten. »Bitte?« fragte sie. Ich zeigte ihr meinen Ausweis. Das beruhigte sie. Wir erfuhren ihren Namen. Sie hieß Doris Porter und wohnte eine Etage über Jarrel. Ich schätzte sie auf fünfzig Jahre, auch wenn ihr Haar so dunkel war, daß es nur gefärbt sein konnte. Ihr Gesicht sah müde und faltig aus. In den Augen lag Besorgnis. »Sie wollten zu Mr. Jarrel?« fragte Suko. »Ja. Ich bin, nun ja, ich bin auch allein. Witwe. Wir haben uns oft besucht, um zu reden. Hin und wieder sind wir auch weggegangen. Daß er nicht öffnet, wundert mich.« »Einen Schlüssel zur Wohnung besitzen Sie nicht?« »Nein.« »Und Sie haben auch schon geklingelt?« »Sicher.« »Ist James Jarrel denn zu Hause?« erkundigte ich mich. Doris Porter nickte. »Klar ist er da. Das bereitet mir ja große Sorgen. Ich habe ihn gehört, und was da an meine Ohren drang, das gefiel mir gar nicht.« »Zum Beispiel?« Sie atmete tief ein. »Ich weiß nicht genau, wie ich es Ihnen sagen soll, aber komisch hörte es sich schon an. Ich hatte den Eindruck, als würde er schreien oder weinen. So genau konnte ich das nicht unterscheiden, aber es hat mir schon Furcht eingejagt.« Suko und ich schauten uns an. Die Tür aufbrechen konnten wir nicht. Es war nicht legal, denn es bestand kein zwingender Grund. Mein Freund schlug vor, es noch einmal zu versuchen.
»Bitte, wie Sie meinen.« Mrs. Porter hob die Schultern. Sie schellte lange, dann zog sie den Finger wieder zurück und nickte. »Jetzt werden Sie erleben, wie er reagiert.« Kaum hatte sie den Satz beendet, als die Antwort bereits von innen kam. So laut gesprochen, daß wir uns nicht anzustrengen brauchten, um sie zu hören. »Geh doch endlich weg, Doris! Laß mich in Ruhe. Ich bleibe hier. Ich will nicht raus!« »Soll ich antworten?« »Tun Sie das«, sagte ich. »Aber mach dich nicht verrückt, James. Ich bin es nur ich, Doris. Wir waren verabredet.« »Das ist vorbei.« Sie lachte etwas bitter und trat gegen das Türholz. »Da haben Sie gehört, was Sache ist.« Auch anderen Hausbewohnern waren unsere Stimmen aufgefallen. Auf der Treppe über uns standen zwei Frauen und ein älterer Mann. Sie hatten große Augen und große Ohren bekommen. Jason Leary drängte sich vor. »Darf ich mal?« fragte er leise. Ich wunderte mich. »Sie?« »Ja, vielleicht kann ich helfen.« »Bitte.« Leary klopfte laut gegen die Tür. »Hören Sie mich, Mr. Jarrel?« Keine Reaktion. »Ich bin es, Jason Leary. Und ich möchte zu Ihnen in die Wohnung kommen. Ich muß mit Ihnen sprechen. Tun Sie mir den Gefallen und öffnen Sie.« Seine Stimme hatte nichts Salbungsvolles mehr an sich. Er hatte hart und fordernd gesprochen. Die Antwort kam schnell. »Was wollen Sie denn?« »Wir kennen uns doch vom Friedhof her und …« »Hauen Sie ab, Leary. Verdammt, verschwinden Sie. Ich kann und will jetzt keinen mehr sehen. Ich bin fertig, verstehen Sie? Absolut fertig.«
Leary schob den Hut zurück. Durch ein Zeichen gab er mir zu verstehen, daß er gern weiterreden wollte. Wir ließen ihn auch. »Ich kann ja verschwinden, Mr. Jarrel, aber ich werde zurückkommen. Nur bin ich dann nicht mehr allein, denn ich bringe die Polizei mit. Haben Sie das verstanden, Mr. Jarrel?« Ich leistete Leary insgeheim Abbitte. Was er da gesagt hatte, war genau richtig gewesen. Er hatte Jarrel in die Klemme gebracht, denn der ehemalige Totengräber wußte genau, wessen er sich schuldig gemacht hatte. Trotzdem versuchte er es. »Wieso denn die Polizei? Was habe ich damit zu tun?« »Das wissen Sie genau. Denken Sie nur an Ihren kleinen Nebenverdienst, Mr. Jarrel.« Er schwieg. Wahrscheinlich war er ins Grübeln geraten. Durch das nicht eben dicke Holz der Tür hörten wir polternde Schritte. Von innen kam jemand auf die Tür zu, aber er öffnete sie nicht. »Soll ich die Polizei holen, Mr. Jarrel?« »Du bist ein Schwein, Leary!« Als er das hörte, zuckte der Mann zusammen. Er sah wieder aus, als wäre ihm alles peinlich. Uns warf er einen hilfesuchenden Blick zu. Suko und ich hatten uns neben die Tür gestellt. So wurden wir nicht gesehen, wenn der Mann von innen her durch das Schlüsselloch schaute. Ich winkte dem Prediger beruhigend zu und lächelte auch. Dann forderte ich ihn auf, weiterzusprechen. »Sie sollten aber öffnen, Jarrel.« »Warum?« »Ich will mit dir reden.« »Über die Gräber, wie?« »Ja, auch das.« »Willst du mich erpressen?« Jason Leary wußte nicht, was er darauf antworten sollte. Wieder
schaute er zu uns. Ich flüsterte ihm eine Antwort zu, die er auch aussprach. Darüber wunderte sich Doris Porter so stark, daß sie erbleichte. »Wenn ich mit der Polizei hier erscheine, sieht es nicht gut für Sie aus, Mr. Jarrel, das können Sie sich denken.« »Die Bullen können mich mal. Was ich erlebt habe, das hat mein Leben verändert. Da sind die Bullen nichts mehr als Peanuts. Aber gut, ich mache auf.« »Danke.« »Arschloch!« hörten wir. Doris Porter schüttelte den Kopf. »Meine Güte, so kenne ich James ja gar nicht.« Er schloß tatsächlich die Tür auf. Der Schlüssel drehte sich im Schloß, dann erschien ein Spalt, und sofort warf ich mich mit der Schulter gegen die Tür. Ich drückte sie nach innen, hörte einen wütenden Schrei, und einen Augenblick später standen wir uns gegenüber. Jarrel starrte mich an. Er war schon älter mit grauen Haaren und schmalem Oberlippenbart. Von der Körpergröße her nicht allzu groß, dafür aber breit in den Schultern. Er trug eine schwarze Hose und einen blauen Pullover. Sein Mund stand offen. Auf dem Gesicht lag Schweiß, und die Angst in seinen Augen rührte wohl nicht von unserem Auftauchen her. Suko schickte Doris Porter weg. Dann schloß er die Tür, während ich James Jarrel zunickte und sagte: »Ich denke, Sie haben uns einiges zu erzählen, Mister …«
* Eine halbe Stunde später. Die Hälfte der Zeit etwa hatten wir gebraucht, um das Vertrauen zwischen uns herzustellen, und so konnte sich James Jarrel darauf verlassen, daß wir ihn nicht einbuchten wollten. Er hatte auch mit
Jason Leary Frieden geschlossen, der sich seinen Platz nahe der Tür gesucht hatte, als wollte er jeden Moment verschwinden. Die Einrichtung des Zimmers hatte ebenfalls ihre Jahre auf dem Buckel. So hockten Suko und ich auf einer durchgesessenen Couch. Jarrel hatte seinen Platz in einem Sessel gefunden, über dessen Armlehnen er permanent mit den Handflächen strich. Er hatte uns eine Geschichte erzählt, die so unglaublich klang, daß selbst wir sie kaum fassen konnten, und das sollte schon etwas heißen. Wir verstanden auch seine Reaktion und die Angst vor der Polizei, denn er rechnete damit, als Mörder seiner beiden Helfer angeklagt zu werden. Wir hatten ihn in dieser Hinsicht beruhigen können, und darüber dachte er jetzt nach. Wenn er nicht gerade über den Stoff rieb, betrachtete er ein Landschaftsbild an der Wand, das ebenfalls einen Friedhof zeigte, der in der Einsamkeit eines windgepeitschten Geländes seinen Platz gefunden hatte. »Sie nehmen mir meine Erlebnisse ab?« Ich blickte auf das Röhrchen mit den Kopfschmerztabletten, das auf dem Tisch zwischen uns stand. »Ja, Mr. Jarrel, wir glauben Ihnen.« »Aber wieso denn?« »Sollten wir Sie jetzt auslachen?« »Nein.« Er lachte und schlug sich gegen die Stirn. »Das ist doch Wahnsinn! So etwas kann es nicht geben. Andere Leute würden mich für geistesgestört halten und einsperren.« »Wir sind eben nicht andere«, erklärte Suko. »Und spezialisiert haben wir uns auf anormale Fälle. Das gibt es sogar.« »Ja, habe ich gehört.« Er hob die Schultern. »Aber erklären kann ich es nicht.« »Uns reicht auch, was Sie gesehen haben«, sagte Suko. »Vor allen Dingen sind Sie mit dem Leben davongekommen.« »Bis jetzt, bis jetzt!« flüsterte der Mann»Ich weiß nicht, wie es wei-
tergehen soll.« »Für Sie?« »Klar, für mich. Ich rechne damit, daß dieser Unhold zurückkehrt und mich vernichtet. Ich habe mich nicht grundlos eingeschlossen. Ich habe Angst. Und ich weiß auch nicht, ob ich hier sicher bin.« Er schielte zum Fenster mit der grauen Gardine davor. »Da stecke ich in der Klemme. Dieses lebende Skelett hat eine unwahrscheinliche Kraft. Woher ist wohl der Sturm gekommen?« »Das werden wir herausfinden.« »Nein, ich …« Suko ließ James Jarrel nicht ausreden. »Haben Sie denn mitbekommen, wie das Skelett die Grabkammer verließ?« »Nein, habe ich nicht. Ich bin ja zum Glück noch ins Freie gerannt. Von dort aus weiter über den Friedhof. Ich habe mich auch immer nach einem Verfolger umgeschaut, aber ich konnte niemanden sehen. Kein Skelett und auch sonst niemanden. Zudem ist es neblig geworden. Jetzt überlege ich, ob ich nicht verreisen soll. Einen Koffer habe ich schon gepackt. Die Angst ist zu groß.« »Das bleibt Ihnen überlassen«, erklärte ich. »Etwas möchten wir von Ihnen noch wissen.« »Was denn?« »Keine Sorge.« Ich lächelte, weil ich wieder Panik in seinen Augen entdeckte. »Sie müssen uns genau berichten, wie wir das Grabmal finden können.« Er schluckte. »Das ist nicht einfach. Es liegt ziemlich versteckt, aber es ist eine Pyramide und so groß, daß sie mit der Spitze über das Buschwerk hinwegragt.« »Dann kann man sie ja leicht entdecken.« »Wenn man es weiß.« Suko holte einen Zettel aus der Tasche und reichte ihn zu Jarrel hinüber, zusammen mit einem Kugelschreiber. »Können Sie vielleicht eine Zeichnung anfertigen? Sie braucht nicht perfekt zu sein,
nur das Wichtigste bitte einzeichnen.« »Was denn?« »Einige markante Punkte.« »Ach so ja.« Er überlegte nicht lange. Auf Friedhöfen kannte er sich aus. Die Wege hatte er im Kopf und auch die Orte, wo Denkmäler oder andere Dinge standen, die auffielen. Er zeichnete auch die Bankbereiche ein, und ein Haus, das nicht zu übersehen war, obwohl es nur als Geräteschuppen diente. »Danach können Sie sich orientieren«, sagte Jarrel und gab Suko den Zettel zurück. »Danke sehr.« James Jarrel rieb seine Hände. »Und Sie wollen wirklich dorthin?« hauchte er. »Wir müssen.« Er senkte den Kopf und strich dabei über seinen schweißnassen Nacken. »Was wollen Sie denn dann machen?« »Uns umschauen.« »Haben Sie denn keine Angst vor dieser Gestalt?« Ich schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Das kann aber passieren, wenn wir uns gegenüberstehen.« »Das wünsche ich Ihnen nicht, ehrlich nicht.« Ich erhob mich als erster, Suko machte es mir nach, und auch der schweigende Jason Leary stand auf. Verlegen schaute er uns an und drehte wieder seinen Hut in den Händen. »Wir haben Ihnen zu danken, Mr. Leary«, sagte ich. »Das sage ich nicht nur so, das meine ich verdammt ernst. Wären Sie nicht gewesen, hätten wir so schnell von dieser Erweckung nichts erfahren.« »Das ist doch …« »Nein, nein, wir wissen schon Bescheid. Stellen Sie Ihr Licht nicht unter den Scheffel.« Meine rechte Hand legte ich auf seine Schulter. »Natürlich kann ich Ihnen keine Vorschriften machen, Mr. Leary, aber ich würde es besser finden, wenn Sie noch etwas hier bei Ihrem Bekannten bleiben. Er hat einiges hinter sich, wie Sie wissen, und
könnte Trost gebrauchen.« Der Prediger verzog die Lippen. »Ich weiß nicht so recht. Das kann ich ja nicht entscheiden.« »Doch, Sie können bleiben«, sagte Jarrel. Er hatte alles gehört und stand jetzt schwankend auf. »Es ist sogar gut, wenn ich mit einem Menschen reden kann. Sonst drehe ich durch, denn die Erinnerungen kehren immer wieder zurück.« Leary war einverstanden. »Wenn das so ist, dann bleibe ich natürlich.« Er lächelte verkrampft. »Wir können uns ja gegenseitig Mut machen.« »Brauchen. Sie das auch?« fragte ich. »Ja, Mr. Sinclair. Denken Sie an meinen Beruf. Der ist nicht immer leicht. Wann sehe ich denn mal nicht in weinende oder verquollene Gesichter? Das ist äußerst selten.« Wenn er das sagte, mußte es auch stimmen. Jason Leary bekam noch meine Karte mit zwei Telefonnummern darauf. Eine war dienstlich, die andere privat. »Und Ihnen beiden viel Glück«, sagte er. »Das können wir brauchen.« James Jarrel verabschiedete sich nicht. Er hatte sich wieder gesetzt und starrte dumpf zu Boden. Was er in der letzten Nacht erlebt hatte, bedeutete einen tiefen Einschnitt in seine Existenz, denn so etwas dürfte es normalerweise nicht geben.
* »Weißt du, John, worüber ich schon die ganze Zeit nachdenke?« fragte Suko. »Nein, aber du wirst es mir gleich sagen.« Ich stieg aus, weil wir den Parkplatz am Friedhof erreicht hatten, der bis auf vier abgestellte Wagen leer war. Suko warf die Tür zu. »Dieser Jarrel hat doch von den Zeichnun-
gen an den Grabwänden gesprochen.« »Sicher.« »Entweder hat er sich die Dinge eingebildet, was ich allerdings nicht glaube, oder er hat tatsächlich dort Bilder gesehen, die mit der altägyptischen Mythologie nichts zu tun haben.« Über das Autodach hinweg schaute ich Suko an. »Womit denn?« »Das weißt du doch schon.« »Atlantis?« »Ja.« Ich trat gegen den Vorderreifen und drehte mich zur Seite, »Stimmt, daran habe ich gedacht, und ich muß dir sagen, daß ich es verdammt unglaublich finde, daß wir hier mitten in London ein Überbleibsel dieses Kontinents finden können.« »Wie auch das Skelett?« »Klar.« »Aber wer hat es dort in das Grab gelegt? Und wann? Kannst du mir das sagen?« »Nein.« »Daß es nicht mehr als zehntausend Jahre alt ist, versteht sich von allein«, sagte mein Freund. »Und wir stehen praktisch am Beginn einer heißen Spur, die nach Atlantis führt.« »Führen kann.« Suko runzelte die Stirn. Worüber er nachdachte, sagte er mir allerdings nicht. Inzwischen hatten wir den Friedhof betreten. Über die Gräber hinweg wehte ein kalter Nordwind. Für April war es nicht das richtige Wetter. Ich fror trotz des Pullovers, den ich trug. Alte Grabsteine schauten uns an wie stumme Wächter. Wir sahen zahlreiche Kreuze, aber auch verwahrloste Gräber, die unter Unkraut und Büschen kaum erkannt werden konnten. Die Bäume warteten fast täglich darauf, ihr neues und frisches Grün zeigen zu können, aber noch hielt die Kälte an. So blieb es zunächst nur bei den ersten Knospen.
Am Himmel segelten dicke Wolken. Sie rissen immer mehr auf, und so kam das kalte Blau durch, und auch die Sonne hatte Platz, um Strahlen auf die Erde zu schicken. Sie hatten allerdings noch nicht viel Kraft. Suko warf ab und zu einen Blick auf die Zeichnung. Da er des öfteren nickte, ging ich davon aus, daß wir uns auf dem richtigen Weg befanden. In der Tat sahen wir schon kurze Zeit später das schräge Dach eines kleinen Hauses. »Da ist der Werkzeugschuppen«, sagte Suko. Er war stehengeblieben und schaute sich um. »Wenn mich nicht alles täuscht, müssen wir nach links gehen.« »Dann los!« Es gab da einen schmaleren Weg, der nicht mit Kies bestreut und auch nicht asphaltiert war. Der letzte Regen hatte seine Feuchtigkeit hinterlassen, und wir sahen auch zahlreiche Pfützen, deren Oberflächen ölig schimmerten. In denjenigen, die nicht im Schatten lagen, spiegelte sich das Sonnenlicht. Die Bepflanzung änderte sich. Waren wir zuvor durch ein sehr lichtes Gebiet gegangen, so hatten wir nun einen Teil des Friedhofs erreicht, der sehr alt sein mußte. Die Gräber wurden nicht mehr gepflegt. Auf den Steinen und Kreuzen lag eine dicke Schicht aus Moos und Pflanzenresten. Dorniges Buschwerk hatte sich ausbreiten können und bildete oft einen Wall, den so leicht keiner durchbrechen konnte. Als ich stehenblieb, stoppte auch Suko. Dabei zeigte ich auf einen bestimmten Punkt jenseits einer beinahe vollständig mit Efeu zugewachsenen Grabstelle. »Da«, sagte ich nur. Suko lächelte. »Gute Augen, John, das muß es tatsächlich sein.« »Das ist sie auch«, behauptete ich. Wir beide hatten die Spitze der Pyramide gesehen, die alle anderen Grabmale überragte. Zumindest von der Farbe her fiel sie nicht besonders auf. Ihre Steine waren braungrau geworden. Die Spitze
kam uns sogar leicht abgeflacht vor. Wir machten uns wieder auf den Weg, und wenig später sahen wir die ersten Spuren. James Jarrel und seine Helfer hatten in der Nacht, um an das Grabmal heranzukommen, das dornige Brombeergestrüpp nach unten getreten. So hatten wir es einfacher, die Stätte zu betreten. Spitzhacken, Spaten und Schaufeln lagen noch dort, wo die Männer sie hatten fallen lassen. Es war auch ein kleines Loch ausgehoben worden, bis ihnen eingefallen war, daß auf diesem Grund kein normaler Grabstein stand, sondern etwas, das an die Pharaonengräber aus Ägypten erinnerte. Auch jetzt, als wir direkt davor standen, konnten wir es kaum fassen. Ein altes Grabmal auf einem Londoner Friedhof. Es deutete auf ein ägyptisches Andenken hin, aber das mußte es nicht unbedingt sein. Erst wenn wir das Innere ausgekundschaftet hatten, wußten wir möglicherweise mehr. Vor dem Eingang blieben wir stehen und atmeten auf, weil er noch offen stand. Die schwere Steintür hatte den Zugang nicht wieder verschlossen. Wir konnten bereits in das Grabmal hineinschauen, aber nicht viel sehen, weil die Dunkelheit dort noch stärker war, als das nach innen sickernde Tageslicht. »Was denkst du?« fragte mich Suko, als er mich auf den Zugang starren sah. Ich hob die Schultern. »Nicht viel. Aber James Jarrel hat recht behalten. Zumindest bis zu diesem Zeitpunkt.« »Ja. Und weiter?« »Was soll das? Laß uns erst mal reingehen, dann wirst du vielleicht eine Antwort bekommen.« Suko blieb hart. »Wer hat es gebaut, John? Es muß doch jemanden gegeben haben, der die Pyramide hier hinsetzte und auch dieses Skelett hineingelegt hat.«
Ich hob die Schultern. »Weißt du nichts, oder willst du nichts sagen?« »Es wäre nur spekulativ.« »Gut.« Ich ließ meinen Freund vorgehen. Er zog den Kopf ein und betrat die Pyramide. Wenig später hatte auch ich die Schwelle überschritten. Ich stand ebenso stumm da wie mein Freund, nahm dabei auf, was die Augen sahen, und merkte, daß meine Gedanken dabei allmählich anfingen zu kreisen. Es war wirklich eine andere und auch makabre Welt, die wir hier sahen, denn eines stimmte schon mal. Da hatte uns der gute Jarrel nicht angelogen. Der offene Sarkophag interessierte uns momentan nicht. Zwischen ihm und der Seitenwand lagen die beiden Skelette. Fleischlos, hautlos. Leere Augenhöhlen. Leere Mundhöhlen und auch Löcher, wo sich mal die Nasen befunden hatten. Mir rann ein Schauer über den Rücken, als ich daran dachte, daß die beiden noch in der letzten Nacht normale Menschen gewesen waren. Nun sahen wir sie als makabre Gerippe vor uns liegen. Das war nicht so schnell zu verkraften. Natürlich dachten wir über die Gründe nach. Jarrel hatte uns ja einiges erzählen können, aber erklärbarer war es noch nicht gewesen. Hier mußte eine gewaltige magische Kraft mit im Spiel gewesen sein. Der Gedanke war eine logische Folge, und ich schaute mir deshalb auch die Wände genauer an. Von den Malereien dort hatte Jarrel ebenfalls berichtet. Trotz seiner Furcht hatte er sie noch gut in Erinnerung behalten. Wir sahen tatsächlich die Vogelmenschen und im Hintergrund schwächer gemalt die schwarzen Vampire, riesige Flugmonster, die vor sehr, sehr langer Zeit auf einen Anführer namens Myxin gehört hatten. Während ich mich nicht bewegte, ging Suko so weit vor, daß er be-
quem über die Wand und deren Malereien streichen konnte. Die Fingerkuppen fuhren über die freskenhaften Zeichnungen hinweg, als wollte er ertasten, ob sie lebten oder sich durch die Berührungen ein Tor in die Vergangenheit öffnete. Er hatte Pech gehabt. Es tat sich nichts, und ein wenig enttäuscht drehte er sich wieder zu mir um. »Das Rätsel wird nicht kleiner, John.« »Stimmt.« Suko räusperte sich. »Weißt du, wen ich mir jetzt herbeiwünsche?« »Dieselben Personen wie ich. Myxin und Kara. Vielleicht sogar noch den Eisernen Engel.« »Stimmt.« Er wies gegen die Wand. »Du kannst sagen, was du willst, das deutet doch auf den alten Kontinent hin. Hier ist jemand begraben, der aus Atlantis stammt und nicht aus unserer Zeit. Aber warum hat man ihn hier hinterlassen?« Ich hob die Schultern. Mehr konnte ich nicht tun. Auch nach unserem Eintritt in die Pyramide war das Rätsel nicht kleiner geworden. Dennoch hatten wir die normale Welt hinter uns gelassen. Zwischen diesen Wänden herrschte eine andere Atmosphäre. Es war auf eine bestimmte Weise kälter geworden. Je länger ich die Zeichnungen betrachtete, um so unheimlicher kamen sie mir vor. Sie berichteten von einer Welt, die es längst nicht mehr gab. Atlantis war untergegangen. In einer gewaltigen Katastrophe im Meer versunken, regelrecht verschlungen vom gierigen Maul des Wassers, einer strafenden Sintflut. Oder hatte das Skelett trotz allem etwas mit Ägypten und dessen alter Kultur zu tun? Ich erinnerte mich an die geheimnisvolle Fatima, die mir bei meinem letzten Ägypten-Besuch begegnet war und mir von einer rätselhaften Zeit, in der Frühgeschichte berichtet hatte. Sie hatte auch von Spuren gesprochen, die es noch auf der Welt gab. Sollten wir prak-
tisch durch Zufall einen dieser Orte gefunden haben? Ich wußte es nicht, und ich wollte mich auch nicht mit diesen Dingen belasten. Suko schaute in den leeren Sarkophag. Er leuchtete sogar hinein. Schon wenig später schüttelte er den Kopf. »Was ist?« »Keine Spuren.« »Habe ich mir gedacht. Was hättest du denn finden wollen?« Ich hob die Schultern. »Das weiß ich auch nicht. Vielleicht einen Knochensplitter oder so, den wir hätten untersuchen können. Nun aber stehen wir vor dem Nichts.« Leider hatte er recht. Wenn wir ehrlich waren, gab es nur noch eines für uns zu tun. Zum Wagen zurückgehen, die Kollegen anrufen, damit sie die Skelette abholten. »Du findest nichts«, sagte Suko, als er abermals meinen schon etwas suchenden und auch verstörten Blick sah. »Es gibt nichts. Die Magie hat dieses Grabmal verlassen.« »Du meinst das Skelett.« »Wen sonst?« »Es ist aber kein Skelett mehr. Es hat sich verändert.« Ich schlug mir vor den Kopf. »Das muß man sich mal vorstellen. Es hat sich das Fleisch und die Haut der beiden Menschen geholt, um sich auf seine Weise aufzufüllen oder wieder neu zu entstehen. Vielleicht so, wie es damals ausgesehen hat.« »Dann gehst du davon aus, daß es verweste.« »Ja, abgesehen von den Knochen …« »Ratlos, nicht?« »Ja.« Suko krauste die Stirn. »Bin ich im Prinzip auch, aber trotzdem nicht mutlos.« »Warum nicht?« »Es geht mir um die Zeichnungen. Sie sind ja nicht grundlos hin-
terlassen worden. Ich könnte mir schon vorstellen, daß sie etwas zu bedeuten haben und uns auf eine Spur bringen können.« »Ja, nach Atlantis und …« »Sei mal still, John!« Suko hatte die Worte gezischt, und ich brach den Satz ab. Was er entdeckt oder gehört hatte, war mir nicht klar, aber er bewegte sich plötzlich sehr nahe an die Wand mit den Zeichnungen heran, schaute genau hin, schüttelte den Kopf und drehte sich dann zu mir um. »Hast du was entdeckt?« Sein Lächeln fiel ziemlich verlegen aus. »Ich kann es dir nicht sagen, aber ich hatte plötzlich das Gefühl, daß wir beide hier nicht mehr allein waren.« Nach diesem Satz schaute ich zum Eingang hin. Da war nichts zu sehen. Hinter dem viereckigen Ausschnitt entdeckten wir das normale Buschwerk. Verändert hatte sich nichts. »War das alles?« fragte ich meinen Freund. »Bis auf das Geräusch.« »Welches?« Er wirkte verlegen. »Du kannst mich für einen Spinner halten, aber diesen fremden Laut habe ich mir wohl nicht eingebildet. Hörte sich an wie ein Kratzen.« Ich wollte schon eine Frage stellen, als ich sehr genau spürte, daß sich in meiner Nähe etwas tat. Aber so, daß ich es nicht sehen konnte. Hinter mir. Ich wirbelte herum. Für einen Moment glaubte ich an eine Halluzination, denn nicht weit vom Eingang entfernt stand eine Gestalt. Düster, unheimlich, mit gelben Augen. Und sie sah aus, als hätte sie sich einen braunen, zotteligen Mantel über den Körper gehängt. Ich wollte rufen, ich wollte hin und griff bereits zur Waffe, aber es war zu spät. In der folgenden Sekunde hörte ich über meinem Kopf das Knis-
tern. Ob es nun türkisfarbene Blitze waren, die in der Nähe des Eingangs die Luft durchschnitten und ob sie aus den Händen dieser draußen stehenden Gestalt gedrungen waren, das nahm ich nicht mehr so genau auf, denn etwas anderes forderte meine Aufmerksamkeit. Die Tür bewegte sich, als wäre sie von einem Orkanstoß getroffen worden. Ich warf mich noch vor. Hinter mir hörte ich Suko wütend aufschreien, doch die Chance war vertan. Bevor wir uns gegen sie stemmen konnten, fiel sie mit einem schwappenden Geräusch zu. Fugendicht! Ich prallte noch gegen das Gestein und prellte mir die rechte Schulter, während ich abrutschte und mich auf dem Boden wiederfand. Vor Wut hätte ich am liebsten in das Gestein gebissen, aber das hätte auch nichts mehr geändert. Wir waren eingeschlossen!
* Der Gedanke ließ nicht die Panik in mir hochsteigen, denn soviel Routine hatte ich inzwischen. Ich hatte mich auch schon in schlimmen Situationen befunden, um nicht sofort die Nerven zu verlieren, aber ein verdammtes Gefühl war es schon. Seitdem man mich einmal lebendig begraben hatte, kriegte ich jedesmal Magendrücken, wenn ich mich in einem stockfinsteren Raum ohne Ausgang befand. Es gab ihn zwar hier, nur war es fraglich, ob wir ihn von innen öffnen konnten. Ich blieb hocken. Ein Licht schimmerte auf, wurde geschwenkt, dann traf mich Sukos Lampenstrahl. »Hast du ihn gesehen?« fragte ich und stand langsam auf. »Die
Gestalt?« »Wen sonst? Das muß er sein. Er sah aus wie ein alter Mann, ein Alter aus Atlantis, wie auch immer. Verdammter Mist!« Mich überkam die Wut, und Suko ließ mich fluchen. Danach stellte er die Frage laut, über die ich ebenfalls nachdachte. »Wie kommen wir hier raus?« »Soll ich sagen, durch die Tür?« »Vielleicht.« Suko schob mich zur Seite. Er leuchtete den Mechanismus ab. Über einen Hebel, über Rollen und Seile ließ sich die Tür öffnen, aber diese Funktion lag jetzt brach, sie mußte von außen her in Gang gesetzt werden. Das war uns klar, aber niemand wollte so recht darüber sprechen, deshalb führten wir einen Test durch. Wir bewegten die Seile, drehten an den Rollen, nur geschah leider nichts. »Da ist nichts zu machen«, sagte Suko nach einer Weile. »Aus eigener Kraft schaffen wir das nicht.« »Und wer holt uns hier raus?« »Wir müssen Bescheid geben.« »Rufen, wie?« »Nein, aber du hast doch dein Handy dabei oder …« Sukos letzte Worte versickerten, als er in mein Gesicht schaute, und er flüsterte: »Hast du es etwa vergessen?« »Muß ich dir darauf eine Antwort geben?« Mich packte der Zorn. »Verdammt noch mal, wer hätte denn auch ahnen können, daß man uns hier einschließt?« »Keiner.« »Eben, Suko, eben. Wir wollten einen Typen besuchen, der Gräber öffnet, um die Knochen zu verkaufen.« Ich schlug mir vor Wut auf den Schenkel. »Und wo landen wir? In einem alten Grab. In einer kleinen Pyramide, die eigentlich in die Wüste gehört. Moment mal, du hast doch ebenfalls einen dieser tragbaren Quälgeister!« »Zu Hause.«
»Bei Shao.« »Nein oder ja. Sie sollte das Ding heute zur Reparatur bringen. Da ist was nicht in Ordnung. Ich hatte es dir nicht gesagt, weil ich es für bedeutungslos hielt. Abgesehen davon sind wir früher auch ohne die Dinger ausgekommen und haben überlebt.« »Das ist ja meine Hoffnung. Irgend etwas wird uns schon einfallen, denke ich.« »Uns?« Suko ging vom Eingang weg und setzte sich auf den Sarkophagrand. Die Füße stellte er dabei auf den Deckel. »Uns wird hier möglicherweise nichts einfallen.« »Warum nicht?« Er ließ den Lampenstrahl über die Malereien gleiten. »Ich gehe noch immer davon aus, daß sie etwas zu bedeuten haben …« »Klar, das haben sie.« »Moment, John. Sie sind ein Zeichen, ein Hinweis, und sie könnten zugleich ein Weg sein.« »Nach Atlantis.« »Das denke ich mir. Ein Tor, das nur jemand zu öffnen braucht.« Trotz der miesen Lage konnte ich das Lachen nicht unterdrücken. »Nur jemand zu öffnen braucht. Du hast gut reden. Wer, zum Henker, sollte es denn öffnen?« »Jemand von der anderen Seite.« »Zum Beispiel.« »Das ehemalige Skelett kommt ja wohl nicht in Frage. Es hält sich in unserer Welt auf. Und ob die Pyramide tatsächlich ein Tor in die Vergangenheit ist, wage ich zu bezweifeln.« Suko dachte einen Moment nach. Er hatte die Lampe ausgeschaltet, um die Batterie zu schonen. Seine Stimme hörte sich in der Dunkelheit dumpfer an. »Oder aber …« Er lachte. »Möglicherweise wird diese Pyramide selbst ein Stück Vergangenheit. Denk mal an früher. An die Pyramide des Wissens, die ja nun verlorengegangen ist. Könnte es nicht so etwas Ähnliches sein? Eine Art durch Magie be-
triebene Zeitmaschine, die rein zufällig auf diesem Friedhof gelandet ist? Möglicherweise wäre dieser Alte irgendwann wieder abgeflogen. Er hat nur eine Pause, einen kurzen Zwischenstopp eingelegt. Deshalb ist dieses besondere Grabmal den Besuchern nicht aufgefallen.« Suko gönnte sich ein leichtes Lachen. »Oder spinne ich jetzt? Was meinst du?« »Keine Ahnung, ob du spinnst, Suko. Ich sage zunächst einmal gar nichts dazu. Möglich ist alles. Da brauchen wir nur daran zu denken, was wir schon erlebt haben.« »Sehen wir es also positiv: Der Sauerstoff in unserem Verlies reicht schon für eine Weile.« »Wie tröstlich.« »Jedenfalls geht es uns besser als Menschen, die in einem Fahrstuhl eingeschlossen sind. Da kann es schon eng werden.« Da gab ich ihm recht. Aber ich fand einfach nicht die Ruhe wie mein Freund, der noch immer auf dem Rand des Sarkophags saß. Ich mußte herumgehen und brauchte Licht. Zudem wollte ich nicht über die beiden Skelette stolpern. Die Malereien auf den Wänden wirkten im Licht meiner Lampe anders. Viel bleicher, als hätte der helle Strahl Teile der Farben aufgesaugt. Deutlich waren die Vogelmenschen zu erkennen, die einmal den Eisernen Engel als Anführer gehabt hatten. Alle waren sie vernichtet worden. Aufgerieben in mörderischen Kämpfen, und nur der Eiserne Engel hatte überlebt. Er existierte auch heute noch und lebte zusammen mit Kara und Myxin bei den Flammenden Steinen, einem Ort, der in einer magischen Schutzzone lag und für menschliche Augen unsichtbar war. Man konnte ihn nur durch transzendentale Reisen erreichen, was wir allerdings schon oft erlebt hatten. War das eine Hoffnung? Ich befreite mich von diesem Gedanken, um möglicherweise nicht zu stark auf die falsche Karte zu setzen. Statt dessen sah ich sehr bald die unheimlichen Wesen. Riesige Fledermäuse, auf denen Men-
schen sogar reiten konnten. Es waren die schwarzen Vampire, und sie hatten einmal Myxin, den Magier, als Anführer gehabt. Er hatte sich schließlich gegen den mächtigsten Dämon damals den Schwarzen Tod gestellt und den Kampf verloren. Der Schwarze Tod hatte ihn nicht vernichtet, aber in einen Tiefschlaf versetzt, aus dem ich ihn nach mehr als zehntausend Jahren geweckt hatte. Klang wie ein Märchen, aber das hatte ich alles durchlebt und auch durchlitten. Myxin war dann über seinen eigenen Schatten gesprungen und hatte die Seiten gewechselt. Er war jetzt ein Verbündeter der Schönen aus dem Totenreich, wie Kara genannt wurde, ebenfalls eine Person aus Atlantis und Tochter des mächtigen Weißen Magiers Delios. Mit beiden verstanden wir uns gut. Wir waren befreundet, aber wir hatten lange nichts mehr von ihnen gehört. Kein Wunder, denn sie griffen nur ein, wenn ihre eigenen Interessen berührt wurden, die mit Atlantis in Verbindung standen. Dieser Fall war möglicherweise jetzt eingetreten, da ich hier auf der Wand die Hinweise sah, die den alten und längst versunkenen Kontinent betrafen. Ich war mir auch sicher, daß zwischen diesen Wänden noch eine rätselhafte Kraft steckte. Wie sonst hätte die verdammte Steintür zufallen können? Dieses Bauwerk barg sicherlich noch einige Geheimnisse. Konnten wir sie enträtseln? Und welche Rolle spielte dabei der geheimnisvolle Alte, der aus dem Skelett entstanden war? Keine Ahnung. Ich hatte nicht mit ihm gesprochen und auch keine Erklärungen bekommen. Daß er aber frei war und möglicherweise durch London irrte, lag mir schon im Magen. Aus Jarrels Erzählungen wußten wir, daß er keine Rücksicht kannte. Er hatte sich genom-
men, was für ihn wichtig war. Zwei Leichen hatte er bereits auf dem Gewissen. Andere Motive fand ich nicht auf der Wand. Keine Malerei vom Schwarzen Tod oder einem anderen Dämon. Aber auch nichts Positives, es war nur düster. Ich setzte mich neben Suko, der nur darauf gewartet hatte. Im Dunkeln fragte er mich: »Zeitreise, meinst du also?« »So ähnlich.« »Wenn das stimmt, muß es einen Grund gehabt haben, John. Ich könnte mir da eine Bestrafung vorstellen. Man hat ihn in dieses Grabmal gesteckt und auf die Reise geschickt. Wäre das eine Theorie, die du unterschreiben könntest?« »In diesem speziellen Fall unterschreibe ich alles, Suko. Wenn wir nur endlich hier rauskommen. Es ist doch ein Grab für ihn gewesen, nicht für uns.« »Das kann sich geändert haben.« Ich ging auf seine Bemerkung diesmal nicht ein. »Gesetzt den Fall, Suko, man hat ihn auf eine Reise durch die Zeiten geschickt, um ihn loszuwerden, dann frage ich mich, wo das Ziel liegen könnte.« »Sollen wir spekulieren?« »Wir haben ja nichts anderes zu tun.« »In der Zukunft?« »Wäre naheliegend und logisch«, sagte ich, wobei ich mit der Logik hier nicht viel anfangen konnte, denn es spielten andere Kräfte und Mächte eine Rolle. »Was hältst du von unserer Zeit als Ziel?« »Mehr.« »Bleibt die Vergangenheit.« »Das wäre ja wieder eine Reise zurück.« »Ja. Ist das nicht unlogisch?« »Für mich schon«, sagte ich. »Was soll er denn wieder dort oder an dem Ort, von dem man ihn verbannt hat?«
Suko blies die Luft aus. »Wenn ich ehrlich sein soll, habe ich daran nicht gedacht. Es muß nicht unbedingt Atlantis sein, wenn man in die Vergangenheit reist. Da sind wir uns einig oder?« »Richtig.« »Es kann also auch eine andere Zeit sein. Biblisch, vorbiblisch, wie auch immer.« Ich schlug ihm auf die Schulter und mußte zugleich lachen. »Toll machst du das.« »Wieso?« »Du schaffst es tatsächlich, mir den Pessimismus zu nehmen. Das will ich dir sagen. Ich bin schon gespannt auf die Zukunft.« »Ich auch.« »Was wir leider nicht beeinflussen können. Ich möchte gern mit dem Finger schnippen und dieses Ding hier auf die Reise schicken. Ist aber nicht drin.« »Und wie würde die Pyramide deiner Meinung nach angetrieben?« erkundigte er sich. »Durch welche Kraft?« Ich antwortete schnell. »Durch eine, die uns umgibt und auch dafür gesorgt hat, daß die Tür zufiel.« »Das war der Alte oder der Verfluchte.« »Kann sein. Möglicherweise hat er auch nur den Anstoß gegeben. Wie wir unsere Lage auch drehen und wenden. Wir sitzen zunächst einmal in der Klemme, und ich denke dabei sogar weniger an uns, sondern an den Alten, der sich in Freiheit befindet und durch London läuft. Was ist er damals gewesen? Ein Killer? Ein Mörder, ein Totschläger, ein Magier, ein Dämon. Bestimmt keiner, der auf der Seite des Guten steht. Davon gehe ich einfach aus, obwohl ich ihn nur kurz gesehen habe.« »Das wird wohl stimmen.« Ich räusperte mir die Kehle frei und fragte dann: »Welches Ziel könnte er wohl haben? Jarrel?« »Ist nicht von der Hand zu weisen. Ihn kennt er. Ich setze zudem
bei ihm einige große Fähigkeiten voraus, dann wird er auch sehr schnell wissen, wo er ihn finden kann.« »Jarrel wollte verreisen«, murmelte Suko. »Und wir haben es ihm indirekt ausgeredet, indem wir Leary überzeugten, bei ihm zu bleiben. Es ist alles vertrackt geworden.« »Und wann findet man uns?« wechselte ich das Thema. Suko schaute mich verwundert an. Er hatte extra die Lampe eingeschaltet. »Ich verstehe deinen Pessimismus nicht. Unser Verschwinden wird auffallen. Es ist ja kein so ungewöhnlicher Fall. Nur eine Routineangelegenheit …« »Ja, nur«, sprach ich dazwischen. Suko ließ sich nicht beirren. »Auch wenn sich die Dinge anders entwickelt haben, was wir nicht voraussehen konnten, aber Glenda zumindest weiß, daß wir zu Jarrel gefahren sind. Ich rechne zudem damit, daß sich Sir James erkundigen wird, ob sich bei uns etwas getan hat. Dann ist der Rest ein Kinderspiel. Glenda oder er werden bei Jarrel anrufen, und der wird ihnen erklären, wohin er uns geschickt hat. Das ist einfach, John, ganz simpel.« Wir saßen wieder im Stockfinstern. »Das ist zu einfach für mich«, hörte Suko meine Antwort. »Ich glaube einfach nicht daran, daß es so locker ausgehen wird.« »Nein …?« »Ich spüre es, Suko. Hier steckt mehr dahinter, als wir ahnen konnten oder geahnt haben. Dieser Verfluchte oder Alte aus Atlantis ist frei. An seiner Stelle sind wir gefangen. Ein perfekter Austausch, fürwahr. Das hätte ich mir nicht träumen lassen.« »Stimmt. Es war nur eine Vermutung. Wie sollte es denn deiner Ansicht nach weitergehen?« »Ich weiß es nicht. Wir sind wieder einmal Figuren in einem gefährlichen Spiel. Ob wir durch Zufall hineingeraten sind oder ob wir manipuliert wurden, kann ich auch nicht sagen. Jedenfalls fühle ich mich mehr als unwohl. Aber ich hoffe, daß du mit deiner Vermu-
tung recht hast. Sehr sogar, Suko.« »Bestimmt.« Es würde sich noch alles herausstellen. Zumindest in der folgenden halben oder folgenden Stunde würde sich nichts ereignen. Man hatte uns in eine perfekte Falle gelockt. Wie wir die Tür von innen öffnen sollten, war fraglich. Zudem teile ich den Optimismus meines Freundes nicht. Sollte man diese Grabstätte finden, würde man die Pyramide sehen, aber nicht uns. Wer konnte schon wissen, daß wir uns in diesem alten Grabmal aufhielten? Die Steine waren nicht fugen sondern auch schalldicht. Da drang kein Laut von innen nach außen und auch nicht umgekehrt. Es mußten wirklich schon einige günstige Umstände zusammentreffen, damit sich Sukos Wunsch erfüllte. Er schaute zu, wie ich aufstand und meine Lampe bewegte. Der Strahl suchte wieder die Wände ab. Umgeben von der Dunkelheit wirkten die Bemalungen, wenn sie denn vom Licht getroffen wurden, unheimlich und bedrohend. Das galt besonders für die schwarzen Vampire, die wir schon auf unseren magischen Reisen in die Vergangenheit erlebt hatten. Auch als das Licht sie erwischte, schienen sie sich zu bewegen. Auf meinem Rücken bildete sich unwillkürlich ein Schauer. Diese Malereien waren nicht umsonst im Innern der Pyramide hinterlassen worden. Sie mußten etwas zu bedeuten haben. Natürlich hatten sie generell mit dem versunkenen Kontinent Atlantis zu tun, speziell aber konnten sie auch mit diesem namenlosen Alten zu tun haben, der leider jetzt durch eine andere Welt ging. Bewegten sich die schwarzen Vampire? Zuckten die Vogelmenschen mit ihren Schwingen? Ich wußte es nicht. Einbildung? Vorstellung? Ein geheimer Wunschtraum? Keine Ahnung. Dieses hier war eine Welt für sich. Eine Insel. Ein Stück uralter Vergangenheit rätselhaft und gefährlich …
Es gab äußerlich keinen Grund, aber der Eindruck, daß etwas nicht Stimmte, festigte sich immer stärker in mir. Die Dinge liefen nicht mehr so gut. Es lag einiges in der Luft, ich spürte das. Ein Kribbeln huschte über meinen Rücken. Allerdings lief es nicht vom Nacken her nach unten, sondern stieg von meinen Füßen her in die Höhe. Und das gefiel mir gar nicht, weil es einfach zu ungewöhnlich war. Warum? Suko meldete sich. Seine Stimme klang leise, zudem etwas gepreßt. »Wenn mich nicht alles täuscht, John, bewegt sich der Boden. Ein leises Vibrieren …« Ich wartete mit der Antwort und konzentrierte mich dabei auf den harten Untergrund. »Ja, du hast recht.« »Wie bei einem Motor.« So ähnlich. Aber den gab es hier wohl nicht. Der Ruck kam plötzlich. Mit beiden Füßen stand ich fest auf dem Boden, aber trotzdem bewegte ich mich. Nicht nur ich, auch Suko und die gesamte Pyramide. Es gab keinen Zweifel mehr. Sie glitt weg, sie flog. Sie hatte zu einer bestimmten Reise angesetzt. Ich drehte mich. Das Licht erwischte Sukos Gesicht. Es lag nicht nur an seinem Schein, daß mein Freund um die Nase herum ziemlich fahl aussah. »Wolltest du etwas sagen?« fragte ich ihn. »Ja, setz dich. Auf Reisen ins Unbekannte sollte man es sich so bequem wie möglich machen …«
* An diesem Tag hatte Glenda Perkins sehr viel Arbeit gehabt und nicht gemerkt, wie schnell die Zeit vergangen war. Papierkram Abrechnungen, einen Bericht für ihren Chef tippen, das alles nahm ihre volle Aufmerksamkeit in Anspruch.
Eine kurze Pause hatte sie in der Mittagszeit eingelegt. Knäckebrot und Magermilch. Es war zwar nicht das Wahre, aber der leichte Winterspeck sollte verschwinden, damit sich Glenda im Sommer wieder im Bikini sehen lassen konnte. Zwischendurch hatte sie auch telefonieren müssen und so gut wie nicht an John Sinclair und Suko gedacht. Bis Sir James ihr Büro betrat. Genau zum richtigen Zeitpunkt, denn eine Minute zuvor hatte Glenda den Text seines Berichts ausdrucken lassen. »Er ist fertig, Sir.« »Wunderbar, danke.« Sir James nahm die vier Blätter entgegen und überflog sie. »Ja, das ist genau die richtige Länge«, kommentierte er. »Das wird die Leute nicht langweilen.« »Wer soll ihn denn lesen?« »Polizeischüler.« »O je.« Sir James hob die Schultern. »Es geht ja nur um Organisation und nicht um Action.« Glenda mußte lächeln. »Das kann ich mir bei Ihnen auch kaum vorstellen, Sir.« Er faltete die zusammengehefteten Blätter zusammen und ließ sie in seiner rechten Jackentasche verschwinden. »Sagen Sie das nicht, Glenda, auch ich bin mal jung gewesen.« »Weiß ich, Sir. Aber leider zuwenig. Können Sie da nicht den einen oder anderen Schwank aus Ihrer Action-Zeit erzählen?« »Besser nicht. Sie sollen auch weiterhin einen guten Eindruck von mir erhalten.« Er ging noch nicht, sondern setzte sich. »Bei Action sind mir doch John und Suko eingefallen.« Fragend schaute er die Sekretärin an. »Haben die beiden etwas von sich hören lassen?« Glenda erschrak leicht. »Nein, noch nicht, Sir.« Der Superintendent runzelte die Stirn. »Sollten sie sich immer noch auf diesem Friedhof aufhalten?« »Das ist schon möglich.«
Sir James verfiel in konzentriertes Nachdenken. »Wenn ich ehrlich sein soll, wundert mich das schon. Sie wollten sich doch nur ein Grab anschauen.« Glenda Perkins hob die Schultern. »Mit Verlaub, Sir, aber so locker sehe ich das nicht. Was dieser Jason Leary berichtet hat, das hörte sich nicht sehr gut an.« »Wie hoch schätzen Sie denn die Gefahrenquelle ein?« »Das dürfen Sie mich nicht fragen. Aber ich denke, daß man sie erreichen kann. Allmählich beginne ich damit, ein Handy zu loben und …« »Sir«, sagte Glenda leise, »das wird nicht klappen.« »Warum nicht?« »Weil John sein Handy nicht mitgenommen hat. Ich sah es auf seinem Schreibtisch, als ich die Tassen holte. Wir können ihn telefonisch nicht erreichen.« »Was ist mit Suko?« »Keine Ahnung.« »Versuchen Sie es dort.« »Natürlich.« Glenda machte sich sofort an die Arbeit. Es hob auch jemand ab, als sie die Zahlen eingetippt hatte, allerdings war es Shao, die sich meldete, nicht Suko. »Erwische ich dich zu Hause?« fragte Glenda sicherheitshalber nach. »Ja, das tust du.« »Mist! Ich hatte Suko haben wollen.« »Der ist nicht hier.« »Ja, Shao, das weiß ich und …« »Ist es dringend, Glenda? Ist was passiert?« Shaos Stimme klang gespannt. Glenda nagte für einen Moment an der Unterlippe. »Nein, das wohl nicht«, gab sie zu. »Aber es ärgert uns, daß die beiden ohne Handys losmarschiert sind.«
»Das kann passieren.« »Ja, schon gut.« Shao war neugierig geworden. »Warum wolltest du sie denn so dringend sprechen? Sind sie in Gefahr?« »Nein, das glaube ich nicht. Es ist auch meine ehrliche Meinung. Sir James wollte mit ihnen reden. Die beiden befinden sich auf einem Friedhof, um einen Grabstein zu untersuchen. Eigentlich harmlos. Es geht da um diese Grabräuber, die in der letzten Zeit Knochen aus den Gräbern geholt haben. Da wollten wir den Kollegen eigentlich nur einen Gefallen tun.« »Okay, das beruhigt mich. Du sagst Bescheid, wenn sich etwas ändern sollte.« »Versprochen.« Sir James räusperte sich. »Wissen Sie, wo ich dieses Grab suchen lassen kann?« »Sicher.« Glenda nannte ihm den Friedhof. »Der in Notting Hill« wiederholte Sir James. »Wissen Sie, daß er ziemlich groß ist und man da lange suchen kann. Können Sie nicht mit konkreteren Angaben dienen?« »Nein, aber dieser James Jarrel kann es sicherlich. Ich könnte ihn anrufen.« Sir James rückte die Brille zurecht und fürchte dabei die Stirn. Er dachte nach. Auf der einen Seite wollte er nicht die Pferde scheu machen, auf der anderen machte er sich schon Sorgen. »Es wäre nett, wenn Sie das tun würden.« Glenda holte eine Diskette hervor, schob sie ein und lächelte vor sich hin. Sie brauchte nicht mehr lange in den Telefonbüchern zu suchen. Auf dem Schirm erschienen sehr bald die Namen der Teilnehmer, die in London lebten und deren Nachname mit J anfing. Es gab zweimal den Namen James Jarrel. Sir James hatte ihr über die Schulter geschaut. »Gut, versuchen Sie es.«
Schon beim erstenmal hatte Glenda Glück. Ein Mann meldete sich mit gehetzter Stimme. Glenda blieb freundlich und erfuhr, daß es genau der Jarrel war, den sie suchte. Er hatte sogar noch Besuch von Jason Leary. Jarrel erklärte ihnen den Weg zum, Grabmal. Glenda schrieb in Steno mit, bedankte sich dann, bevor Jarrel noch Fragen stellen konnte. Sir James wurde aktiv. Auf seine Bitte hin wurde ein Streifenwagen in Bewegung gesetzt. Es konnte mehr als eine halbe Stunde dauern, dann bekamen sie Bescheid. »Ich werde in meinem Büro sein«, sagte der Superintendent. »Gut, ich warte dann.« Glenda war nervös. Urplötzlich hatte sie das starke Gefühl überkommen, daß etwas schiefgegangen sein könnte. Die nächste halbe Stunde kam ihr sehr lang vor, und als Sir James wieder die Tür zu ihrem Büro öffnete, da sah sie seinem Gesicht an, daß etwas passiert sein mußte. Er ging langsam in den Raum hinein, setzte sich und schüttelte den Kopf. »Was ist denn geschehen, Sir?« »Etwas sehr seltsames. Die Kollegen haben die Grabstätte gefunden, aber dieser Grabstein, die Pyramide, dieses wirklich außergewöhnliche Zeichen, war verschwunden.« Ihr Herz klopfte schneller. »Und was ist mit John und Suko?« Sir James hob nur die Schultern …
* James Jarrel trank den Gin aus, drehte sich um und schaute seinen Besucher an. Durch den genossenen Alkohol klang seine Stimme schon etwas schwer; er hatte schließlich nicht nur ein Glas getrunken. »Leary, ich bin nicht mehr sauer auf Sie, daß Sie mich verraten haben. Die ganze Sache ist mir über den Kopf gewachsen, verstehen
Sie?« Leary nickte. »Das ist gut, mein Lieber, das ist sehr gut. Ich habe meine beiden Helfer verloren.« Er kicherte plötzlich. »Keine Knochen mehr, ich werde keine Knochen mehr sammeln, obwohl ich. die meiner Gehilfen hätte einsammeln und verkaufen können. Die hätten gutes Geld gebracht. Sie waren noch toll erhalten.« Jason Leary räusperte sich. »Pardon, Mr. Jarrel, aber finden Sie diese Bemerkung nicht etwas pietätlos?« Er überlegte. »Kann sein«, gab er dann zu. »Kann durchaus sein, aber ich habe bei meinem Job die Pietät verloren. Das kommt davon, wenn man so lange Gräber auf buddelt und sieht, wie die Toten hineingelassen werden.« Er bewegte seine Hand von oben nach unten. »Ob arm oder reich, in der Kiste sind alle gleich.« »Stimmt.« Leary nickte. »Ich habe ja oft genug die Trauerreden gehalten. Aber was da in der Pyramide vorgegangen ist, das kann ich nicht begreifen.« Jarrel starrte Leary an. Seine Augenlider bewegten sich dabei hektisch. »Ich auch nicht, Leary, ich auch nicht. Es ist zum Verzweifeln. Ich weiß auch nicht, wieso …« »Darf ich eine Frage stellen?« »Ja.« »Sie haben nicht gewußt, was da in dieser komischen Pyramide gelegen hat, Mr. Jarrel?« »Nein, überhaupt nicht. Ich wunderte mich nur über die Pyramide. Das ist ein verdammt seltener Grabstein gewesen, das können Sie mir glauben. Er paßte überhaupt nicht auf diesen Friedhof. Und wenn ich genau darüber nachdenke, dann steht diese Pyramide noch nicht lange dort, meine ich jedenfalls.« »Ach.« Jason Leary war zwar nicht alarmiert, aber schon ein wenig aufgeschreckt. »Noch nicht lange? Können Sie da eine ungefähre Zeitangabe machen?«
»Leider nicht. Ich bin ja nicht nur auf einem Friedhof aktiv gewesen, um Knochen zu sammeln. Ich bin alle abgelaufen, und das sind ziemlich viele in London und Umgebung. Jedenfalls fiel mir diese Pyramide erst vor kurzem auf. Sie hat natürlich meine Neugierde geweckt. Nie hätte ich gedacht, daß so etwas dabei herauskommen würde.« »Womit haben Sie denn gerechnet?« »Tja, womit?« Jarrel schabte über seine Stirn. »Das ist wirklich schwer zu sagen. Es hätte ja sein können, daß in der Pyramide irgendwelche Dinge versteckt waren.« Sein Mund zeigte ein Grinsen. »Wir haben sogar an Grabbeigaben gedacht. Daß sich irgendein Spinner wie ein Pharao hat begraben lassen, weil er zu Lebzeiten ein Ägypten-Fan gewesen ist. Das Begräbnis lief dann mit allem ab, was dazugehört …« »Sie dachten an die Grabbeigaben.« »Korrekt, Leary, korrekt. Ich will mich auf keinen Fall davon freisprechen. Daran habe ich tatsächlich gedacht. Nie hätte ich damit rechnen können, ein Skelett dort zu finden, das plötzlich keines mehr war, weil es sich von meinen beiden Helfern das Fleisch geholt hat.« Er schlug sich gegen die Stirn. Das Gesicht rötete sich. »Himmel, das muß man sich mal vorstellen. Ein Skelett wird wieder normal und …« »Haben Sie denn genau gesehen, wie die Person aussah?« Jarrel überlegte. »Nein, nicht direkt. Ich habe nur gemacht, daß ich wegkam.« Jason Leary hob die Schultern. »Ob die beiden Polizisten das auch geschafft haben? Ich weiß es nicht, aber es sieht nicht gut aus. Sonst hätte man nicht bei uns angerufen. Zwar habe ich nicht die Wahrheit erfahren können, aber beim Yard scheint einigen der Arsch auf Grundeis zu gehen, meine ich.« Leary hob die Augenbrauen. Diese Art von Aussage gefiel ihm überhaupt nicht. Das war nicht sein Stil, aber er hielt sich zurück.
Schwierigkeiten würden die Männer sicherlich bekommen. Das war ja kein normaler Fall, denn dort ging es hart zur Sache. »Ob das Skelett sie umgebracht hat wie Ihre beiden Helfer, Mr. Jarrel?« »Das wäre der Hammer!« flüsterte er. »Möglich ist alles.« »Jedenfalls kennt er kein Pardon.« Jarrel kriegte eine Gänsehaut. »Wenn ich mir vorstelle, daß dieser Tote nicht richtig tot war, sondern auch als Skelett nur schlief, wird mir ganz anders. Aber das ist kein Film gewesen, sondern eine Tatsache. Da stecken wir mit beiden Beinen in der Realität.« Er schüttelte sich. »Damit komme ich nicht zurecht, und ich will auch nicht darüber nachdenken.« »Das sollten Sie aber«, gab Leary zu bedenken. Wie es seine Art war, saß er noch immer steif auf seinem Sessel, als wollte er jeden Augenblick starten. »Warum sollte ich das?« Jason Leary trank einen Schluck Wasser. »Ich will Ihnen ja nicht Angst machen, Mr. Jarrel, überhaupt nicht, aber wenn Sie darüber nachdenken, ist der namenlose Knöcherne doch verschwunden.« »Ja.« »Er wird sich vielleicht versteckt halten oder durch London irren. Er hat Sie zwar gesehen, Sie aber verschont.« Er kam jetzt ins Reden. Das Salbungsvolle aus seiner Stimme war verschwunden. »Er hat Sie also verschont, wiederhole ich noch einmal, aber ich weiß nicht, ob Sie für immer darauf bauen können. Das nämlich ist die große Frage, Mr. Jarrel.« James beugte sich vor. Er hatte seine Finger um die Lehnen gekrampft. Seinem Gesicht war schon anzusehen, was Leary hatte andeuten wollen, dennoch fragte er nach. »Was wollen Sie damit sagen, Mr. Leary?« »Es ist mir beinahe peinlich. Aber denken Sie nicht auch, daß diese Gestalt Sie uns besuchen könnte?« Der Totengräber stieß die Luft aus. Im Hals spürte er plötzlich den
Druck. »Sie glauben, daß er hier ins Haus kommt?« Leary wiegte den Kopf. »Das kann ich Ihnen nicht sagen. Aber von der Hand können wir es nicht weisen.« »Unmöglich.« »Warum?« Mit dieser raschen Gegenfrage hatte Jarrel nicht gerechnet, und er suchte nach einer Antwort. »Wie, ähm, wie sollte er denn wissen, wo er mich findet?« »Keine Ahnung. Instinkt oder so. Ich jedenfalls traue ihm verdammt viel zu.« »Meinen Sie?« »Für unmöglich halte ich nichts.« Jarrel schwieg, stand auf und warf seinem Besucher dabei einen langen Blick zu. Er ging zum Fenster und schaute hinaus. »Ich glaube nicht daran, daß er jetzt erscheinen wird. Er kann die Dunkelheit abwarten, dann ist es für ihn besser.« Jarrel drehte sich um. »Hören Sie, Mr. Leary. Eine derartige Type fällt selbst in einer verrückten Stadt wie London auf. Der wird keine hundert Meter weit kommen, dann schlagen die Menschen, die ihn gesehen haben, Alarm.« »Da bin ich mir auch nicht so sicher«, widersprach Leary. »Wer Möglichkeiten hat, sich aus dem Fleisch der Menschen selbst zu verändern, der schafft das andere auch.« »Das wäre fatal«, flüsterte Jarrel und ging wieder auf seinen Sessel zu, ohne sich allerdings zu setzen. Er blieb daneben stehen und schaute ins Leere, tief in Gedanken versunken. »Das wäre auch deshalb fatal«, nahm er das Wort wieder auf, »weil ich heute noch Besuch erwarte. Ja, heute nachmittag.« »Aha. Dann darf ich mich verabschieden …« »Nein, nein, bleiben Sie hier, Mr. Leary. Es ist nur meine Nichte Iris, die kommen will.« Leary schaute hoch. »Nichte?« sinnierte er.
»Ja, verdammt, das können Sie mir glauben. Das ist keine Ausrede. Die Tochter meines Bruders, der nicht hier in London lebt, sondern in Birmingham. Iris hat einige Tage frei. Sie wollte sich London anschauen. Es war auch alles klar. Ich hatte mir vorgenommen, ihr die Stadt zu zeigen, aber jetzt. Vielleicht will sie ganz nach London …« Leary winkte mit beiden Händen sanft ab. »Ich habe nur eine Vermutung geäußert, Mr. Jarrel. Das alles muß nicht eintreffen. Aber ich mache mir über das Verschwinden dieser Gestalt aus dem Sarg schon meine Gedanken.« »Zu recht, Mr. Leary.« Jarrel hatte den Kopf gesenkt. »Ich überlege nur, wie ich Iris all die Dinge beibringen soll. Die hält mich ja für verrückt, und das zu Recht.« »Das ist möglich.« »Was würden Sie denn an meiner Stelle tun?« fragte Jarrel. Leary sah die Schweißperlen auf der Stirn des Mannes und hob die Schultern. »Ich kann es Ihnen nicht sagen. Das müßte die Situation ergeben. Jedenfalls würde ich ihr die Wahrheit nicht sagen. Oder weiß sie über Ihren Nebenerwerb Bescheid?« »Nein, natürlich nicht.« »Dann lassen Sie doch alles auf sich zukommen.« Leary blickte auf die Uhr. »Für mich wird es wirklich Zeit. Ich muß noch etwas besorgen, Mr. Jarrel. Danke für das Gespräch und das Getränk. Ich hoffe, Sie tragen mir nichts mehr nach.« »Nein, auf keinen Fall.« »Ich werde Sie auch anrufen und mich erkundigen, wie sich die Dinge entwickelt haben. Oder mit Mr. Sinclair sprechen. Auf ihn sollten Sie setzen, Jarrel.« »Kennen Sie ihn besser?« »Nicht sehr gut, aber ich habe ihn erlebt. Ihn und diesen Chinesen. Beide haben in dem Haus, in dem ich wohne, eine Mordserie aufgeklärt. Alle Achtung, kann ich da nur sagen.«
Jarrel grinste säuerlich. »Morde sind für Polizisten etwas Normales. Was ich erlebt habe, das wird keiner glauben.« »Da darf ich Sie auf einen Irrtum hinweisen«, erklärte Leary arg gestelzt. »Die beiden Männer sind anders als andere Polizisten. Ob Sie es glauben oder nicht, Mr. Jarrel, aber Sie sind es gewohnt, sich mit ungewöhnlichen Fällen zu beschäftigen. Das sind Spezialisten. Ich sehe keinen Grund, den Leuten nicht zu glauben. Ich an Ihrer Stelle würde mich schon auf die beiden verlassen, und ich hätte auch nicht zuviel Furcht.« »Meinen Sie?« »Unbedingt.« James Jarrel produzierte ein unechtes Lächeln, bevor er sprach. »Sie können mir viel erzählen, Mr. Leary, aber diese beiden Männer befinden sich irgendwo, aber nicht in meiner Wohnung, wo sich möglicherweise die Gefahr zusammenbraut. Nein, nein, das sehe ich schon anders, wenn ich ehrlich sein soll.« »Ich habe Ihnen nur mitteilen wollen, wie ich denke, Mr. Jarrel. Dann werde ich jetzt gehen.« »Gut. Ich bringe Sie noch bis zur Tür.« Im Treppenhaus verabschiedete sich Leary. Er konnte seine salbungsvoll klingende Stimme einfach nicht verändern und drückte Jarrel mit beiden Händen die Hand, als er ihm viel Glück für die Zukunft wünschte. »Danke, das werde ich brauchen können.« Jarrel schaute dem Besucher nach, bis er hinter dem letzten Treppenabsatz verschwunden war. Erst dann ging er zurück in seine Wohnung und ärgerte sich über sich selbst, wobei zugleich die Furcht in ihm hochschlich. Seine Knie zitterten. Der Schweiß brach ihm aus. Im Mund spürte er den Geschmack scharfer Wacholderbeeren. Drei Gläser Gin hatten ihn hinterlassen. Dann fiel ihm wieder der Anruf ein. Nach John Sinclair und diesem Suko schien gesucht zu werden. Da war wohl irgend etwas
nicht so gelaufen, wie es hätte eigentlich laufen sollen. Sonst hätte man sich nicht bei ihm erkundigt. War die Polizei letztendlich doch hilflos? Gewundert hätte es ihn nicht. Er ging wieder in seinen Wohnraum, wo er aus dem Fenster schaute. Draußen hatte sich nichts verändert. Der Tag war trübe geblieben. Zwischen den Häusern herrschte jetzt mehr Betrieb, denn Kinder hatten die oft engen Wohnungen verlassen und spielten im Freien. Zwei Jungen kickten ihren Ball immer wieder gegen die Hauswand. Es war nur eine Frage der Zeit, wann sie eine Scheibe treffen würden. Jarrel drehte sich von der Scheibe weg. In der Wohnung kam es ihm warm und stickig vor. Der Vergleich mit einem Gefängnis zuckte ihm durch den Kopf. Er fühlte sich unwohl wie selten, und er hätte auch die Koffer gepackt, wenn sich seine Nichte Iris nicht als Besucherin angemeldet hätte. Sie hatte sich auf diesen Besuch gefreut. Er zerbrach sich den Kopf darüber, wie er ihr beibringen sollte, was er durchgemacht hatte. Wenn sie noch zu Hause gewesen wäre, okay, dann hätte er sie anrufen und warnen können, aber sie befand sich auf der Reise, und sie würde sich bestimmt bald bei ihm melden. Das Telefon tutete. Jarrel zuckte zusammen, weil er so tief in Gedanken versunken war. Nach dem dritten Läuten nahm er den Hörer ab und kam erst gar nicht dazu, sich zu melden. »Hi, Onkel James«, erreichte eine frisch klingende Frauenstimme sein Ohr. »Du wirst es kaum glauben, aber ich bin in London.« »Toll, toll.« Er versuchte, seiner Stimme einen freudigen Klang zu geben. »Wo steckst du denn jetzt?« »Am Bahnhof.« »Aha.« »Onkelchen, ich nehme mir ein Taxi und komme zu dir. Setz schon mal einen Kaffee auf.«
»Ja, Iris, das werde ich machen.« Als Jarrel auflegte, lächelte er versonnen. Es war deutlich herauszuhören gewesen, wie sehr sich Iris auf diesen Besuch freute. Er aber sah aus wie jemand, der am Leben verzweifelte und erst alles neu ordnen mußte. Er fragte sich auch, ob er es schaffte, Iris nicht merken zu lassen, wie es in ihm aussah. Es würde ihm kaum gelingen, denn Frauen besaßen einen gewissen Instinkt für unangenehme Dinge. Wieder spürte er das Frösteln auf dem Rücken, obwohl es in der Wohnung nicht kalt war. Er ging wieder in den Wohnraum, setzte sich, und seine Hand zuckte auf die Ginflasche zu. Dann aber zog er den Arm rasch wieder zurück, ohne die Flasche berührt zu haben. Nein, das brachte nichts, wenn er jetzt noch einen Schluck trank. Das war Unsinn. Warten auf Iris. Etwas anderes blieb ihm nicht übrig. Nur wollte das schlechte Gefühl nicht weichen. Seine Hände waren auch jetzt noch feucht und klamm. Der Magen drückte in Richtung Kehle. Jarrel hatte einfach den Eindruck, in seiner Wohnung nicht mehr allein zu sein. Er fühlte sich beobachtet. Auch als Leary noch bei ihm gewesen war, hatte er so gedacht, es sich aber nicht eingestehen wollen. Nun merkte er, wie der Druck zunahm, obwohl er keine Gefahr sah. Er stieß die Luft aus. Der Atem roch nach Gin. Das würde auch Iris riechen. Zähne putzen half da. Danach Pfefferminz essen, das würde den Geruch etwas übertünchen. Er ging ins Bad. Es war ein viereckiger Raum ohne Fenster. Wie immer roch es ein wenig feucht, weil die Lüftung nicht richtig funktionierte. Heute aber war noch ein anderer Geruch hinzugekommen, und den bildete er sich nicht ein. Es stank wie auf dem Friedhof. Oder wie an manchen Tagen und Nächten auf dem alten Totenacker.
So verfault … Vor dem Waschbecken blieb er stehen und schaute in den Spiegel, so konnte er einen großen Teil des Raumes überblicken. Zu sehen war nichts. Er war allein. Tatsächlich allein? Irgendwie konnte James Jarrel daran nicht mehr glauben. Seine Furcht wuchs …
* Auch ein Mensch wie Sir James Powell hatte Gefühle, obwohl die ihm von einigen Leuten abgesprochen wurden, weil sie in dem Mann ausschließlich einen kalten Technokraten und Organisator sahen. So dachte man, aber es war falsch, denn auch Sir James war kein Roboter. Das Verschwinden seiner beiden besten Leute bereitete ihm schon große Sorgen. Er spürte, wie er innerlich fieberte. Glenda Perkins gegenüber hatte er sich nichts anmerken lassen, doch in seinem Büro angekommen, hatte er die Entscheidung längst getroffen. Er wollte sich das Grab auf dem Friedhof mit eigenen Augen anschauen. So etwas tat er selten. In diesem Fall verspürte er den Drang. Bevor er mit einem Fahrer telefonierte, gab er Glenda Bescheid, wo er hinwollte. Ohne ihre Verwunderung zur Kenntnis zu nehmen, legte Sir James auf. Er streifte sich den Übergangsmantel über, griff zu seinem Hut und fuhr nach unten. Der Wagen stand bereit. Sir James nahm im Fond Platz und gab dem Fahrer das Ziel bekannt. Der Mann wunderte sich zwar, enthielt sich aber eines Kommentars und fuhr an. Über Telefon wies Sir James die Beamten auf dem Friedhof an,
sich auf keinen Fall vom Grab zu entfernen. Beruhigt war er trotzdem nicht. Und er würde es auch nicht sein, wenn er sich ein klares Bild von der Situation verschafft hatte. Möglicherweise mußte auch die Spurensicherung hinzugezogen werden, aber das stand noch in den Sternen. Der Wagen konnte nicht bis direkt an den Ort des Geschehens heranfahren. So blieb die Limousine auf einem der Hauptwege. Langsam rollte sie über den Friedhof. Die Schatten der noch blattlosen Bäume spiegelten sich in den Scheiben, als huschten dort die Geister der Toten entlang, um die Lebenden zu grüßen. Sir James bewegte seine Augen. Er nahm vieles auf. Er sah auch Besucher an den Gräbern, zumeist ältere Frauen. Nichts wies darauf hin, daß etwas Ungewöhnliches geschehen war. Der Streifenwagen stand dort, wo der Weg praktisch endete. Der Fahrer stoppte und stieg aus. Er wollte Sir James die Tür aufhalten, doch der war schneller. Es hatte ihn ins Freie gedrängt. Mit schnellen Schritten passierte er den Streifenwagen und wandte sich nach rechts, wo bereits ein Polizist stand und ihm zuwinkte. Er hielt dem Neuankömmling auch so gut wie möglich den Weg frei, damit sich Sir James dem Schauplatz des Geschehens nähern konnte. Noch zwei Uniformierte standen dort, während der dritte wieder zurück zum Wagen ging. Sir James wurde stramm gegrüßt, dann trat der ältere der beiden Männer vor. »Das ist alles, Sir, was wir hier vorgefunden haben.« Er war erkältet und schneuzte in ein großes Taschentuch. »Ein nicht sehr tiefes Loch im Boden. Hier hat jemand gegraben, Sie sehen ja noch die Werkzeuge, aber es wurde nicht so tief gegraben, als daß man auf einen Sarg gestoßen wäre. Wahrscheinlich haben es sich die Leute anders überlegt.« »Ja, das sieht ganz so aus. Gut beobachtet, Officer.« Sir James lächelte knapp, als er sich an dem Loch vorbeibewegte. Der Boden war nicht mehr gefroren, sondern sehr weich und feucht. Schon bald bedeckte eine Schmutzschicht die Schuhe des Mannes.
Als Sir James stehenblieb, ging er davon aus, daß sich dieses ungewöhnliche Grabmal genau an dieser Stelle befunden haben mußte. Nur war davon nichts mehr zu sehen, auch keine Eindrücke im Boden. Eine Pyramide bildete von der Grundfläche her ein Quadrat, das hätte sich abzeichnen müssen, was aber nicht der Fäll war. Dieses Grab sah jetzt aus wie ein Stück Feld, das zudem noch von dichten Brombeersträuchern geschützt wurde. Hier also hatten sich John und Suko befunden. Sie waren auf eine ebenso rätselhafte Art verschwunden wie der Grabstein, als hätten sich alle in Luft aufgelöst. Sir James schaute zu Boden. Er suchte jedes Detail ab, bevor er den Kopf schüttelte. Auf das Erscheinen der Spurensicherung konnte hier verzichtet werden. Die Experten würden auch nichts finden. Das Grabmal war verschwunden, als hätte man es weggeschafft. Einfach so … Sir James verfiel nicht in Furcht oder Panik. Er durchdachte die Möglichkeiten und ging durchaus davon aus, daß es eventuell zu einer Zeitreise gekommen war. Irgend jemand hatte den Grabstein weggeholt. Eine andere Kraft, die aus der Vergangenheit gekommen sein mußte, denn der Superintendent wußte, daß es so etwas gab. Demnach waren John und Suko entführt worden. Er drehte sich wieder um. Die beiden Beamten standen nebeneinander wie Zinnsoldaten. »Sonst ist Ihnen nichts aufgefallen?« erkundigte sich Sir James. »Leider nein.« »Es hat sich auch niemand dem Grab hier genähert, um nachzuschauen oder zu kontrollieren?« »Nein, das geschah nicht.« »Gut«, sagte Sir James und atmete schwer aus. »Dann darf ich mich für Ihren Einsatz bedanken.« »Können wir jetzt fahren?« »Ja, das können Sie.« »Danke, Sir.« Sie salutierten und zogen sich zurück.
Sir James blieb noch für eine Weile auf dem Grab stehen. Er ließ sich den Wind ins Gesicht wehen, der auch den Geschmack dieser Umgebung mitbrachte. Auf seinem Gesicht zeichnete sich eine gewisse Sorge ab. Er schaute dabei zum Himmel, wo graue Wolken ein wuchtiges Muster bildeten. Eine Antwort gaben sie ihm auch nicht. Eines aber blieb bestehen. John und Suko waren verschwunden. Niemand kannte das Ziel und wußte, wer sie entführt hatte …
* Als die Türklingel das typische und schrille Geräusch von sich gab, erschrak James Jarrel und ärgerte sich darüber, daß er eingeschlafen war. Das hatte er nicht gewollt, aber die Müdigkeit war plötzlich über ihn gekommen. Es mußte mit dem genossenen Alkohol in Verbindung gestanden haben. Wie auch immer, er schnellte aus seinem Sessel hoch und hörte die Klingel ein zweites Mal. Das konnte nur Iris sein, die so ungeduldig auf den Knopf drückte. Wahrscheinlich stand sie schon vor der Wohnungstür. Auf dem Weg dorthin strich Jarrel durch seine Haare und knetete sein Gesicht. Er wollte seine Nichte nicht verschlafen begrüßen. Bevor er die Wohnungstür öffnen konnte, hörte er schon das Klopfen. »He, Onkelchen, schläfst du?« »Nein, das tue ich nicht«, antwortete er und zog die Tür mit einem Ruck auf. Iris lachte ihn an. »Da bin ich!« rief sie. »Jetzt mußt du auch sagen, daß du dich freust.« James Jarrel sagte nichts, denn er war einfach sprachlos geworden. Wie lange hatte er die kleine Iris nicht gesehen? Fünf oder sechs Jahre? Was aus ihr in der Zwischenzeit geworden war, das konnte sich
verdammt sehen lassen. Vor ihm stand eine hübsche junge Frau mit weißblonden Haaren, die auf dem Kopf kurz geschnitten waren, aber länger im Nackenbereich. Die Augen funkelten ihn an. Auf dem Gesicht zeigten sich Lachgrübchen. Iris war beinahe ein Ebenbild ihrer Mutter in jungen Jahren, und James mußte daran denken, daß er diese Frau auch gern geheiratet hätte, aber sein Bruder war ihm zuvorgekommen. »Himmel, Iris, was ist aus dir geworden!« flüsterte er. »Wieso? Gefalle ich dir nicht?« »Doch, doch. Wenn ich dich so anschaue, sehe ich deine Mutter.« »Das sagen viele.« »Nein, stimmt nicht ganz, Mädchen. Du bist noch hübscher.« »Oh, das ist aber toll.« Iris warf sich in die Arme ihres Onkels und drückte ihn an sich. Dann hauchte sie ihm einen Kuß auf die Stirn, wo der Lippenstift deutliche Spuren hinterließ. »So, jetzt kommst du aber erst mal rein in die Wohnung, sonst stehen wir heute abend noch hier.« James schob seine Nichte zurück und hob die Reisetasche auf, auf deren dunklen Außenseiten sich helle Punkte abmalten. Er trug die Tasche direkt in das kleine Zimmer, in dem Iris wohnen würde. Dort standen ein Bett, ein Schrank, ein Stuhl. James schlief sonst darin. Er hatte das Bett irisch überzogen und würde sich nun mit der Wohnzimmercouch begnügen müssen. Iris war ihm gefolgt. Sie streifte ihren hellen Staubmantel ab und schaute sich um. »Gefällt es dir?« Die junge Frau zupfte ihren dunklen Pullover glatt. Dazu trug sie hellgraue Jeans. Um den Hals hatte sie eine Kette aus bunten Holzperlen gehängt. »Super, super!« Jarrel winkte ab. »So super wird es schon nicht sein. Hier schlafe ich sonst, aber wenn du hier bist, übernachte ich im Wohnzimmer auf der Couch.«
Iris wollte widersprechen. »Aber da kann ich doch …« »Nein, nein, nein, Kind. Das fang erst gar nicht an. Ich habe mich entschlossen, und dabei bleibt es. Außerdem sollst du ein eigenes Zimmer haben.« »Wie du willst.« Sie streckte sich und hatte Mühe, ein Gähnen zu unterdrücken. »Auspacken werde ich später, Onkelchen.« James mußte lächeln. Das Wort Onkelchen hatte sie schon früher immer benutzt. »Bist du müde?« »Ich könnte einen Kaffee vertragen.« »Koche ich dir. Willst du nicht auch zu Hause anrufen, daß du gut angekommen bist?« »Das habe ich schon vom Bahnhof aus.« »Okay, Iris, dann zeige ich dir jetzt meine Wohnung. Viel gibt es allerdings nicht zu sehen.« Die Besucherin schaute ins Bad, in die kleine Küche, dann erst führte er sie in den größeren Raum, der als Wohnzimmer eingerichtet war. Die Möbel hatten ebenfalls ihre Jahre auf dem Buckel. Wuchtige, dunkle Möbel, die noch nicht wieder modern waren. »Setz dich hin, wo du willst, ich verschwinde mal und koche dir einen Kaffee. Mit Milch und Zucker?« »Schwarz.« »Hast du von deinem Vater, wie?« »Ja.« »Wie geht es deinen Eltern?« »Gut, sie fühlen sich in Birmingham wohl. Ist aber nichts für mich, diese Stadt.« Sie schüttelte den Kopf. »Möchtest du von dort weg?« »So schnell wie möglich.« »Und wohin?« »Hier, nach London.« »Oh …« Iris lachte über das erstaunte Gesicht ihres Verwandten. »Keine
Sorge, Onkelchen, ich werde dir nicht lange auf die Nerven gehen. Das kann ich dir versprechen. Ich werde mir nämlich eine eigene Wohnung suchen.« »Das wird nicht leicht sein. Hast du denn schon einen Job?« »Den suche ich mir auch.« »Was willst du denn machen?« Sie hob die Schultern. »Weiß ich noch nicht. Ich habe im Hotel gelernt, muß mich noch weiterbilden und hoffe, daß ich in einem der größeren Häuser unterkomme.« »Na ja, wir werden sehen. Jetzt nimm erst mal Platz, und ich koche dir einen Kaffee. Auch was zu essen?« »Wäre nicht schlecht.« »Gebäck habe ich.« »Das reicht.« James Jarrel verließ das Zimmer. Er war froh, Besuch bekommen zu haben, das lenkte ihn von seinen trüben Gedanken ab. Obgleich er immer wieder den Druck spürte, den die Furcht bei ihm hinterlassen hatte. Er wußte nicht, ob er Iris einweihen sollte, vorerst jedenfalls nicht. Es konnte ja sein, daß er sich alles nur einbildete und man ihn in Ruhe lassen würde. Er stand vor der Kaffeemaschine und schaute zu, wie er in die Kanne lief. Während dessen hatte es sich Iris auf einem Sessel bequem gemacht und die Beine ausgestreckt. Eine Reise konnte anstrengen, auch wenn man im Zug saß. Iris fühlte sich irgendwie müde, was auch an der verbrauchten Luft liegen konnte. Hier mußte mal gelüftet werden! Iris schnüffelte. Der Geruch gefiel ihr nicht. Mit der Ginflasche auf dem Tisch stand er in keinem Zusammenhang. Er war anders, beinahe wie in einer alten Waschküche. Mühsam rappelte sich Iris auf und ging zum Fenster. Es klemmte, und sie mußte schon Kraft einsetzen, um es aufzuziehen. Die Umge-
bung sah nicht eben besonders aus. Danach sehnte man sich nicht. Aber sie wußte, daß London viele schöne Flecken hatte, große Parks, Theater und jede Menge Sehenswürdigkeiten. Kein Vergleich zu Birmingham. Es war noch frisch. Graue Wolken bedeckten den Himmel. War es das, was ihre Laune dämpfte? Eigentlich hätte sie doch gut drauf sein müssen, aber sie war es nicht, und das wiederum ärgerte sie. Etwas störte sie ganz gewaltig. Iris konnte nicht sagen, was es war, doch diese Umgebung kam ihr auf einmal bedrückend vor. Als würde dort etwas lauern. Das war ihr schon komisch, denn derartige Gefühle kannte sie eigentlich nicht. Sie konnte sie auch nicht in Worte fassen, erst recht nicht unterdrücken. »Ah, du hast frische Luft hereingelassen. Das ist gut, Iris.« Ihr Onkel hatte das Zimmer betreten. Auf einem Tablett stand die Warmhaltekanne mit dem Kaffee. Die Silberhaut sah direkt wertvoll aus. James hatte auch für sich eine Tasse mitgebracht. Er deckte den Tisch, während Iris das Fenster wieder schloß. Es war doch zu kalt. »So, dann wollen wir mal.« Iris mußte gähnen. »Himmel, immer noch müde?« »Ja, Onkelchen, versteh ich auch nicht«, erwiderte sie und ließ sich in den Sessel fallen. »Aber in der letzten Nacht habe ich nicht gut geschlafen.« »War es die Aufregung?« »Kann durchaus sein.« »Du bist ja kein Kind mehr.« »Das schon, aber ich erzählte dir bereits, daß ich vor einem neuen Lebensabschnitt stehe, und da überlegt man doch, ob man alles richtig macht.« »Da hast du allerdings recht, Kind, aber jetzt wollen wir erst einmal Kaffee trinken.«
Gebäck hatte er auch mitgebracht. Es war zwar etwas älter, aber wer Hunger hatte, aß auch das, und Iris hatte Hunger. Sie knabberte ein Plätzchen i nach dem anderen weg. Die erste Tasse war schnell leer. Iris schenkte sich selbst nach und schaute dabei ihren Onkel an. Seit einigen Minuten brannte ihr eine Frage auf der Seele, die Iris nicht mehr zurückhalten konnte. »Sag mal, Onkelchen, stimmt alles mit dir?« Jarrel, der seine Tasse hielt, erschrak so sehr, daß die braune Brühe überschwappte. Auf der Untertasse ließ sie einen Ring zurück. »Wie kommst du denn darauf?« »Keine Ahnung ehrlich. Gefühlssache. Außerdem habe ich mal einen Kursus besucht, der sich mit Psychologie beschäftigt. Ausdruck des Menschen und so weiter. Ich habe den Eindruck, daß du Probleme hast.« James Jarrel bemühte sich, ein Zittern zu unterdrücken n und seiner Stimme einen lockeren Klang zu geben. »Wie kommst du denn darauf, Iris?« »Es liegt an deinen Augen.« »Aha. Und weiter?« »Sie sehen nicht so klar aus, wenn du verstehst.« »Nein, bisher noch nicht.« Iris war etwas verlegen. »Ich weiß auch nicht, wie ich es dir sagen soll, aber der Ausdruck riecht nach Angst. Er ist nicht so ruhig. Unsere Lehrerin damals hätte daraus gefolgert, daß du versuchst, etwas vor mir zu verbergen.« »Was sollte ich denn vor dir verbergen.« Iris trank und knabberte an einem Keks. »Das müßtest du eher wissen als ich.« »Nein, nein, da hast du dich geirrt und deine Lehrerin auch. Ich verberge nichts vor dir. Was hätte ich auch für Geheimnisse haben sollen?« »Ja, das ist schon wahr. Aber der Ausdruck in den Augen kann
nicht täuschen wurde uns gesagt.« »Keine Sorge, ich bin schon okay.« »Toll.« James schüttelte den Kopf. »Das klang gerade so, als würdest du mir nicht glauben.« Sie deutete auf ihre Brust. »Dieses Gelernte aus dem Kursus sitzt eben zu tief.« »Kann ich verstehen.« Iris schenkte sich eine weitere Tasse Kaffee ein. Es war schon die dritte. »Hast du dir eigentlich schon darüber Gedanken gemacht, Onkelchen, wie wir die Zeit rumkriegen, bis ich einen Job gefunden habe?« »Ich werde dir London zeigen.« Sie stellte die Kanne wieder auf den Tisch. »Das ist ganz toll, aber London ist groß. Da müßte man doch einen Plan haben, kann ich mir denken.« »Nein, habe ich nicht.« »Schade.« »Überhaupt nicht, Iris, denn es kommt auf dich an. Du mußt mir sagen, was dich besonders interessiert.« Plötzlich lachte sie laut auf. »Stark, Onkelchen, wirklich, das ist stark. Soll ich dir sagen, was dein Bruder zu mir gesagt hat?« »Ja.« »Laß dir nur nicht die Stellen zeigen, die dein Onkel beruflich besucht hat.« James Jarrel winkte ab. »Ja, ich weiß schon. Er hat es nie so richtig überwinden können, daß ich Totengräber wurde. Nun ja, das ist vorbei. Ich bin pensioniert. Und du brauchst auch keine Angst davor zu haben, daß ich dich über Friedhöfe führen werde. Obwohl es auf manchen wirklich originelle Ecken gibt.« »Die brauche ich trotzdem nicht unbedingt zu sehen.« »Ist schon okay.«
Iris senkte den Kopf und strich ihre langen Haare nach hinten. »Ich habe mir natürlich auch Gedanken darüber gemacht, aber konkrete Dinge sind mir noch nicht eingefallen. Die besten Ideen habe ich immer unter der Dusche. Kann ich ins Bad und mich duschen?« »Natürlich. Wann?« Sie stand schnell auf. »Am besten sofort. Eine Dusche vertreibt die Müdigkeit.« »Du weißt ja, wo sie ist. Deine Handtücher liegen auf dem kleinen Hocker.« »Danke, das ist toll. An dir ist direkt eine Hausfrau verlorengegangen, Onkelchen.« »Hör auf, Kind.« Jarrel schaute seiner Nichte nach, wie sie zur Tür ging, und das gezwungene Lächeln auf seinem Gesicht verschwand. Es paßte ihm nicht, was ihm seine Nichte da gesagt hatte. Ihr war seine innere Unruhe oder sogar Furcht aufgefallen, und das paßte ihm nicht. Er konnte sich noch so beherrscht zeigen, aber auf den Ausdruck in seinen Augen hatte er keinen Einfluß. Iris kehrte aus dem Schlafzimmer zurück. Sie hatte über ihren Arm einen Bademantel gehängt, trug eine Kosmetiktasche in der rechten und eine normale Tragetasche in der linken Hand. »Bis gleich dann, Onkelchen.« »Laß dir ruhig Zeit, Kind.« »Du kannst dir ja schon überlegen, ob wir heute abend schon die Gegend unsicher machen.« James mußte lachen. »Unsicher ist gut, Iris, aber vergiß nicht, daß ich älter als dreißig bin.« »Du bist doch in Form.« »Wer sagt das?« Sie hatte die Tür vom Bad schon geöffnet. »Dein Bruder, der zugleich mein Vater ist.« »Was der meint, würde ich nicht so ernst nehmen.« Iris lachte nur und verschwand im Bad. Ihr Onkel blieb im Wohn-
zimmer sitzen. Eigentlich hätte ihn der Besuch seiner Nichte fröhlich stimmen müssen, dieses Gefühl jedoch überkam ihn nicht. Im Gegenteil, die trüben Gedanken kehrten zurück …
* Iris Jarrel war nicht anspruchsvoll. Sie fand das Bad okay, auch wenn es kein Fenster hatte. In Birmingham war sie auch nicht gerade in Luxus aufgewachsen. Der ungewöhnliche Geruch hatte sich nicht verflüchtigt. Während Iris sich auszog, überkam sie eine dumpfe Ahnung. Sie wußte dabei nicht so recht, wie sie dieses Gefühl einordnen konnte, und sie dachte wieder an ihren Psychologie-Kursus. Da hatten sie mal das Thema Vorahnungen gestreift, und die Lehrerin war davon überzeugt gewesen, daß sensible Menschen mehr spürten als andere. Spüren sehen? Über den letzten Ausdruck stolperte die Frau, weil sie einfach das Gefühl nicht loswurde, angestarrt zu werden. Sie drehte sich sogar um, aber da war nichts. Die von innen hell lackierte Tür blieb verschlossen. Daß ihr Onkel durch das Schlüsselloch gucken würde, das konnte sie sich nicht vorstellen. Nein, das mußte etwas anderes sein. Etwas lag in der Luft, tanzt zwischen den Wänden, mit dem sie nicht zurechtkam. Aus ihrer Kosmetiktasche holte sie das Duschgel und öffnete den Vorhang. Auch dort sah sie nichts. Ihr fiel nur auf, wie sauber alles war, da hatte sich der alte Totengräber schon Mühe gegeben. Im Gegensatz zu ihm war ihr Vater noch nicht pensioniert. Er war auch zehn Jahre jünger und arbeitete bei einer Versicherung. Sie stieg in die Dusche. Bevor Iris den Vorhang zuzog, warf sie einen letzten Blick in den Raum, und sie ließ sich auch Zeit damit. So betrachtete sie auch den Spiegel, der noch eine blanke Fläche bildete, was sich beim Duschen sicherlich rasch änderte.
Eine Fläche? Ja, aber Iris sah auch die Bewegung oder den Schatten darauf. Für einen Moment blieb sie stehen: Blitzschnell hatte sich die Gänsehaut über ihrem gesamten Körper ausgebreitet. Durch ihren Kopf schossen wieder einmal wilde Gedanken. Sie erinnerte sich an Filme, die sie einmal gesehen hatte. Da hatten sich die Spiegel als Fenster entpuppt. Sie waren also von der Rückseite her durchsichtig gewesen. Sollte das hier auch der Fall sein? Unsinn, dahinter lag kein weiterer Raum, sie bildete sich da etwas ein. Aber den Schatten nicht, denn den hatte sie schon gesehen, und davon wollte sie auch nicht abgehen. Er konnte allerdings auch entstanden sein, als sie den Vorhang bewegte. Das war alles möglich. Mit einem entschlossenen Ruck schloß sie die Lücke. Über Iris schwebte die Duschtasse. Ihr Onkel hatte sogar eine Mischbatterie einbauen lassen. Sie stellte den Hebel mehr nach links und schrie leise auf, als kaltes Wasser ihren nackten Körper traf, was sich allerdings sehr schnell änderte. Die Wassertemperatur wurde angenehmer, und es tat Iris gut, unter den Strahlen zu stehen. Sie konnte sich ihren Gedanken hingeben, und eigentlich hatte sie darüber nachzudenken, wie sie ihren Onkel heute Abend vor die Tür bekam. Ständig irrten ihre Gedanken ab. Dann wieder hin zu dieser seltsamen Atmosphäre und zu der Bewegung im Spiegel. Iris stellte das Wasser ab, um sich mit dem Gel einzureiben. Zuvor aber schaute sie durch den Spalt. Der Spiegel lag genau in ihrer Blickrichtung, und er sah aus wie immer. Abgesehen voneinergewissenBlindheit. Feuchte Schwaden verhinderten, daß man sich darin betrachten konnte. Beim Einseifen streichelten ihre Hände den Körper. Es tat immer gut, und sie massierte sich sogar dabei. Aber ihr wurde kalt, und so war sie froh, das Wasser wieder aufdrehen zu können, um sich den
Schaum vom Körper zu spülen. Das Haar wusch sie nicht. Daß es ein wenig feucht geworden war, war nicht schlimm. Wieder genoß Iris Jarrel den heißen Regen, der den Schaum abspülte. Sie streifte ihn zusätzlich noch mit den Händen ab, blieb noch eine Weile unter dem Wasser stehen, bevor sie den Regen abstellte und aus der kleinen Kabine trat. Auf dem schmalen Handtuch blieb sie stehen. Sofort schaute sie in den Spiegel. Er war mittlerweile derartig beschlagen, daß sie so gut wie nichts erkennen konnte. Auch wenn sich dort etwas bewegt hätte, sie hätte es kaum mitbekommen. Die frische Unterwäsche hatte sich Iris ebenso zurechtgelegt wie den Bademantel. Sie zog den Slip an, nachdem sie sich abgetrocknet hatte, und griff danach zum Bademantel, dessen Stoff ein wenig durchsichtig war. Iris zog ihn an und knotete den Gürtel. Dem Spiegel hatte sie dabei den Rücken zugedreht. Mehr im Unterbewußtsein dachte sie an ihn. Auch dann, als sie einen kalten, feuchten Hauch spürte, der durch den Stoff des Bademantels drang und über ihre Hand hinwegfuhr wie kühle Fingerspitzen. Sie drehte sich. Iris sah den Spiegel und glaubte, verrückt zu werden. Was sie da sah, war unmöglich, das war einfach grauenhaft, denn aus ihm nein, aus der gesamten Wand starrte ihr ein Monster entgegen …
* Das mußte ein Monster sein. Eine so furchtbare Gestalt kam in der Normalität nicht vor. Das sah man wenn überhaupt nur in einem Film. Sie schaffte auch keinen Schrei. Sie war einfach erstarrt, denn dieses Bild war zu schlimm. Aber ihre Augen funktionierten. Das Monstrum sah aus, als wäre es mit braunem und grünem Tang bedeckt. Vom Kopf bis zum Fuß,
und nur die Augen lagen frei, die wie zwei kalte Laternen innerhalb des Gesichts leuchteten. Dieser Blick war sezierend, er traf sie hart, überhaupt hatte sich das Bad an der Wandseite gegenüber völlig verändert. Die Normalität war verschwunden. Dort hatte sich tatsächlich ein Teil einer anderen Welt geöffnet. Iris konnte nicht mehr atmen, sondern nur stöhnen. Der Druck war einfach zu schlimm, und sie merkte, wie ihr allmählich das Blut aus dem Gesicht wich. Die Angst stieg in ihr hoch. Seltsamerweise zitterte sie nicht, obwohl ihr kalt wurde. Das Monstrum starrte Iris an. Noch immer wußte sie nicht, ob es einen Mantel trug oder mit diesem Tangzeug bedeckt war. Letztendlich spielte das keine Rolle, denn ihr war längst klar geworden, daß es diese Gestalt einzig und allein auf sie abgesehen hatte. Gedanken huschten durch ihren Kopf. Sie dachte auch an den Beruf ihres Onkels. Er war Totengräber gewesen, und diese Gestalt dort im Spiegel sah aus, als wäre sie aus einem seiner Gräber gestiegen, um schreckliche Rache zu nehmen. Auch den Geruch nahm sie wieder wahr. Jetzt noch intensiver und bedrückender. Er paßte überhaupt nicht in ein normales Mietshaus. Das war ein Gestank, den man eher in einer alten Gruft vermutete. Bisher hatte sich das Monstrum nicht bewegt. Das aber änderte sich, denn nach dem ersten Ruck, der die Gestalt durchzitterte, setzte es sich in Bewegung. Es gab nur einen Weg. Den nach vorn. Auf Iris zu, die sich nicht vom Fleck rührte. Die beiden Augen mit dem kalten Licht waren wie kleine Scheinwerfer, die sich einzig und allein auf sie gerichtet hatten und durch ihre Kraft Iris’ Willen unter Kontrolle brachten. Auch wenn sie es gewollt hätte, Iris kam einfach nicht weg vom Fleck. So stand sie wie gebannt und starrte dem Monstrum entgegen.
Zudem stand es inmitten eines düsteren Hintergrunds, der sich allerdings veränderte, denn weiter nach vom hin sah die junge Frau einen runden Durchlaß. Wie ein großes Loch, das jemand aus einer braunen und dicken Holztür herausgesägt hatte. Die Knie fingen an zu zittern. Iris spürte, wie schwach sie wurde. Von ihrem Selbstbewußtsein war nicht mehr viel übriggeblieben. Die andere Gestalt hatte sie übernommen, und dieser verfluchte hypnotische Blick drang bis tief in ihre Seele. Es kam näher. Und noch etwas empfand sie als schlimm. Iris hörte kein Geräusch. Dabei hätte das Aufsetzen der Füße so etwas Ähnliches hinterlassen müssen, nur war das bei dieser Gestalt nicht der Fall. Entweder konnte sie lautlos gehen, oder sie schwebte, was Iris durchaus für möglich hielt. Die Aura der Pestilenz und des Vergänglichen umwehte die Gestalt. Die Mitte des runden Tores hatte sie längst erreicht und brauchte nur noch einen Schritt zu gehen, um das Ziel zu erreichen. Dann war es im Bad! Iris schauderte zusammen. Sie hätte jetzt am liebsten losgeheult und geschrien, aber die unsichtbaren Hände drückten ihr die Kehle zu. Nichts drang über ihre Lippen, abgesehen von einem hektischen Keuchen, das aber kein Schrei nach Hilfe war, den ihr Onkel gehört hätte. Das Monster bewegte seine Arme. Vor und zurück, immer gleichmäßig, und so konnte Iris die langen und trotzdem klumpigen Finger erkennen. Sie wußte, daß diese Finger sie anfassen würden, und sie zuckte zusammen. Aber sie bekam nicht den Hauch einer Chance. Das Monster griff zu. Zugleich erwischte es die beiden Arme der jungen Frau, der es vorkam, als würde nichts ihre Haut bedecken, so kalt, glatt und trotzdem fest spürte sie den Griff. Sie hielt den Atem an.
Angst stieg in ihr hoch. Sie fing an zu zittern. Jetzt würde sich der Schrei lösen müssen, aber die linke Pranke des Monsters war schneller. Wie ein nasser Schwamm klatschte sie auf ihren Mund. Iris spürte einen widerlichen Geschmack auf der Zunge. So etwas war ihr noch nie widerfahren, und das Monstrum umschlang sie in den folgenden Sekunden ganz. Es preßte ihren Körper gegen den seinen. Der Knoten im Gürtel des dünnen Bademantels hatte sich längst gelöst. Die halbnackte Frau wurde zur Seite gezerrt, danach gedreht und anschließend auf das runde Tor zugeführt. Was dahinter war, wußte sie nicht, aber sie konnte über die Hand hinwegschauen, die ihr noch immer die Luft nahm. Es sah aus wie eine Höhle, die mit einem dicken, braunen Schlamm gefüllt war. Sie sah auch kein Licht, nur diese Dunkelheit, der sie nicht entkommen konnte. Das Monster nahm sie mit. Der Luftmangel ließ eine andere Angst in Iris hochsteigen. Die Furcht vor dem Ersticken, denn sie traute dieser schrecklichen Gestalt alles zu. Der Unheimliche zerrte sie in die Öffnung hinein. Dann ließ er sie plötzlich los, und schlug ihr auf den Rücken. Iris kippte nach vorn. Sie verlor den Halt. Sie fiel, fiel und fiel … Endlich löste sich ein Schrei aus ihrem Mund. Der aber verlor sich zwischen den Zeiten …
* Als Iris drei Minuten verschwunden war, stand James Jarrel auf und trat an den Wohnzimmerschrank. Er barg in der unteren Hälfte zwei breite Schubladen. James zog die linke davon auf. Er wußte, daß er
dort Unterlagen aufbewahrte, die ihnen vielleicht helfen konnten, London zu entdecken. Allerdings mußte er zugeben, daß sie schon mindestens fünf Jahre alt waren, und gerade in London veränderte sich die Szene rasch. So würde er keine Techno-Fabrik darin finden, wenn seine Nichten den Wunsch verspürte, sich dort zu amüsieren. Tischdecken und Kissenbezüge schob er zur Seite. Es waren noch Hinterlassenschaften seiner Frau, die nicht mehr lebte. Sie lag schon einige Jahre unter der Erde, aber James hatte sich nie mit dem Gedanken anfreunden können, wieder zu heiraten, obwohl ihm Freunde und Bekannte dazu geraten hatten. Das wollte er nicht, eine Ehe hatte ihm gereicht. Er kam auch gut allein zurecht. Ein paarmal fluchte er, weil er alles mögliche fand, nur nicht die Stadtpläne von London. Dafür entdeckte er alte Pläne von Friedhöfen und darauf eingezeichnete Grabstätten. Dann endlich hatte er Glück. Ganz unten lagen die Stadtpläne. Wie hätte es auch anders sein können? Er holte sie hervor. Die Fotos auf der Vorderseite waren schon etwas verblichen. James entschied sich für den Plan, der den Touristen als Orientierungshilfe durch die Londoner Szene dienen sollte. Die anderen Pläne packte er wieder ein, schob die breite Schublade zu und setzte sich wieder in seinen Sessel. Dort faltete er den Stadtplan auf, doch schon beim ersten Blick mußte er grinsen. Die Orte, die da angegeben waren, kannte er nicht. Da ging es einfach um das reine Vergnügen, und das hatte nicht nur unbedingt mit essen und trinken zu tun. Da ging es auch um andere Dinge. Er glaubte allerdings nicht daran, daß seine Nichte einen Saunaclub oder gewisse Studios besuchen wollte. Er packte auch diesen Plan wieder weg und wollte sich abermals setzen, als ihm etwas auffiel. Es gibt ja Menschen, die auch gern etwas länger duschen, aber so
lange wie seine Nichte? Das kam ihm schon ungewöhnlich vor. James kannte sich bei jungen Frauen nicht aus. Es konnte durchaus sein, daß sie sich nach dem Duschen noch einer Körperpflege hingaben, aber auch die dauerte nicht ewig. Noch fünf Minuten wollte er Iris geben, um dann vorsichtig an die Tür klopfen und nach ihr rufen. In den vergangenen Minuten hatte er sich nicht mit sich selbst beschäftigen können. Er war stets abgelenkt gewesen, und erst jetzt kam er ein wenig zur Ruhe. Die Ereignisse der vergangenen Nacht fielen ihm wieder ein. Er mußte daran denken, daß die Gestalt verschwunden war, nachdem sie sich verwandelt hatte. Wirklich verschwunden? James schüttelte den Kopf. Aber nicht, weil er daran nicht glaubte, sondern weil ihm alles suspekt war. Er bekam einfach keine Logik in die Vorgänge, und das frustrierte ihn. Was ihm blieb, war die bedrückende Furcht vor dem Ungewissen. Ein Blick auf die Uhr. Die Zeit war um. James Jarrel überlegte auch nicht mehr. Er wollte erfahren, was da im Bad geschehen war. Auf dem Teppich im Wohnraum waren seine Schritte kaum zu hören. Das änderte sich, als er den Flur betrat, denn der war noch mit dem alten Linoleum belegt. Früher einmal bunt, doch im Laufe der Zeit waren die Farben verblaßt. Das Rot sah braun aus, und das Gelb dazwischen war sogar totenbleich geworden. Aus dem Bad hörte er nichts. Auch bei geschlossener Tür hätte er das Rauschen der Dusche vernehmen müssen. Das war nicht der Fall. Also stand Iris nicht mehr unter der Dusche, was ihn aber keineswegs beruhigte, denn das innerliche Zittern blieb und verstärkte sich sogar.
Das Schlafzimmer lag noch vor der Dusche. Die Tür hatte Iris nicht geschlossen. James warf einen Blick hinein und sah es leer. Sie hielt sich also noch in der Dusche auf. Er ging hin. Tief holte er Luft, um den Atem dann anzuhalten. Er kam sich schon komisch vor, wo er hier stand und an der Tür lauschte. Wenn seine Nichte jetzt öffnete, würde sie wer weiß was von ihm denken können, aber sie öffnete nicht, und er hörte auch nichts. Jarrels Befürchtungen verschlimmerten sich. Er wischte über sein Gesicht, verwischte aber nur den Schweiß. Bevor er die Tür öffnete, wollte er nach seiner Nichte rufen. Ein kurzes Räuspern, die Kehle war frei. »Iris?« Warten. »Iris! Bist du noch im Bad? Melde dich doch! Ich fange an, mir Sorgen zu machen.« Von Iris hörte er nichts. Der Klumpen in seinem Magen wuchs. James stöhnte leise auf und ärgerte sich darüber. Als seine Hand nach der Türklinke faßte, zitterten die Finger. James Jarrel blieb nicht auf halbem Weg stehen. Er zog die Sache jetzt durch, klopfte auch nicht an, sondern öffnete die Tür mit einer schnellen und harten Bewegung. Sein Blick war frei. Und was er sah, ließ ihn beinahe an seinem Verstand zweifeln …
* Wir flogen. Wir glitten. Wir bewegten uns selbst nicht, denn das mußten wir unserem geheimnisvollen und rätselhaften Flugapparat überlassen, der nicht den Gesetzen der Aerodynamik gehorchte, sondern denen der Magie. Wir würden auch nicht hoch über den Friedhof hinwegsegeln und anschließend über London, nein, das hier lief anders ab, da waren
sich Suko und ich einig. Wenn man das überhaupt sagen konnte, wurde es ein ruhiger Flug, den wir zwar nicht genossen, aber wir hockten auf dem Rand des offenen Sarkophags und warteten ab. Äußerlich wurden wir nicht bedroht. Luft zum Atmen hatten wir auch noch genug, und an die pechschwarze Finsternis hatten wir uns gewöhnt. Suko stieß mich an. »Da wir hier so nett beieinander sitzen, könnten wir doch Wetten abschließen über unser Ziel.« Ich unterdrückte das Lachen nicht. »Fällt dir eigentlich nichts Besseres ein?« »Im Moment nicht.« »Dann fang mal an.« »Ich sage, man transportiert uns in die Vergangenheit.« »Sehr schön. Und was soll ich sagen?« »Die Zukunft.« »Glaube ich nicht.« »Dann laß dir was anderes einfallen.« »Sorry, aber so kreativ bin ich nicht. Außerdem möchte ich mich überraschen lassen.« »Ja, Weihnachten ist öfter.« »Laß uns abwarten.« Zwischen uns entstand eine Schweigepause, die sich auch noch hinzog. Es war schon sehr ungewöhnlich, in völliger Finsternis auf einem alten Sarg zu sitzen, dabei zu wissen, daß zwei Skelette in der Nähe lagen und uns eine Pyramide irgendwo hinbrachte. Jedenfalls stand sie nicht mehr auf dem Grab. Davon gingen wir einfach aus. Das würde auffallen, ebenso wie unser Verschwinden. Sir James würde davon erfahren, er würde Kollegen zum Friedhof schicken, und die würden ihn für verrückt halten, da sie eine Pyramide nicht sahen. Wohl aber ein leeres Grab.
Wie man es drehte und wendete, wir steckten wieder einmal in der Klemme. Wie ging es weiter? In alle Ewigkeiten würde man uns bestimmt nicht durch die Zeiten schicken. Es gab ein Ziel, und darüber dachte ich ebenso nach wie mein Freund Suko. Nur sprach der es vor mir aus. »Atlantis, John! Wir werden in Atlantis landen und mehr als zehntausend Jahre zurückgelegt haben!« »Stimmt.« »Dann sind wir uns ja einig.« Wieder schwiegen wir, weil wir uns noch auf das Schweben konzentrieren wollten. Aber war das noch vorhanden? Diesmal war ich schneller und sagte mit leiser Stimme: »Entweder täusche ich mich, oder wir sind tatsächlich zur Ruhe gekommen.« »Warte mal ab.« Ich spürte Sukos Hand auf meiner rechten Schulter. Der Druck verstärkte sich leicht, als er aufstand. Sekunden später hörte ich sein Flüstern. »Du hast recht, wir sind gelandet.« »Soll ich jetzt jubeln?« »Ist doch kein Grund.« Auch mich hielt nichts mehr auf dem Sargrand. Noch während ich mich bewegte, holte ich die kleine Leuchte hervor. Die Spannung steckte schon tief in mir. Ich wußte, daß es nicht so weitergehen konnte. Es mußte einfach etwas passieren. Und es passierte etwas. Wir beide hörten das Schaben und Knirschen, als sich die Steintür langsam über den Boden bewegte, weil sie von außen jemand geöffnet hatte. Aber wer …? ENDE des ersten Teils
Königin der Toten � von Jason Dark Suko und John waren John baff, als Iris ihnen er zählte, was sie in den letzten Tagen erlebt hatte. Eigentlich hatte sie ihren Onkel James in London besuchen wollen, doch sie traf ein furchtbares Monstrum und erlebte das Grauen. Iris erzählte mit bebender Stimme von ihrem Flug in den Spiegel, von ihrem Auftrag, nach Atlantis zu reisen und von dem Wunsch ihrer Partner, sie zur
Königin der Toten zu machen.