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Scan by Schlaflos Von Sterling E. Lanier erschien in der Reihe HEYNE SCIENCE FICTlON & FANTASY: Hieros Reise • 06/3425 In der BIBLIOTHEK DER SCIENCE FrCTION LITERATUR: Hieros Reise • 06/39
STERLING E.LANIER
Der unvergessene Hiero Science Fiction Roman Deutsche Erstveröffentlichung WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN HEYNE SCIENCE FICTlON & FANTASY Band 06/4197 Titel der amerikanischen Originalausgabe THE UNFORSAKEN HIERO Deutsche Übersetzung von Reinhard Heinz Das Umschlagbild schuf Karel Thole Die Illustrationen sind von John Stewart Die Karte zeichnete Erhard Ringer Redaktion: Wolfgang Jeschke Copyright © 1983 by Sterling E. Lanier Copyright © 1985 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 1985 Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Satz: Schaber, Wels Druck und Bindung: Presse-Druck, Augsburg ISBN 3-453-31172-8
Prolog Neue Mission Für Bruder Pete alias Berwick B. Lanier der aus unerfindlichen Gründen mein Fan bleibt. In den fünftausend Jahren, die seit dem >Tod< vergangen waren, hatte sich die Welt verändert. Gewaltige Wälder und Öden bedeckten das meiste Land. Die einstigen >Großen Seen< bildeten nun eine einzige Inlandsee. Das Klima war wärmer, da sich die Welt mitten in einer zwischenzeitlichen Periode befand. Gewisse Tier- und Pflanzenarten waren ausgestorben, während es bei anderen zu seltsamen Entwicklungen gekommen war. Im einstigen Westkanada lag nun die Republik Metz und rang, von den gelehrten Priestern der Abteien gelenkt, um die Erhaltung der Zivilisation und Wiederauffindung verschollenen Wissens. Aber sie verloren immer mehr an die Unreinen, einer Dunklen Bruderschaft jener, welche die normale Menschheit auszurotten und die Naturgesetze ihren bösen Absichten zu unterwerfen suchten. Sogar die geistigen Kräfte, die in den Abteien ausgebildet worden waren, erwiesen sich als unzulänglicher Schutz vor den jüngsten Übergriffen der Unreinen und ihrer scheußlich mutierten Tierhorden, der Lemuts. Der wohlehrwürdige Abt Kulase Demero war sich sicher, daß ein Mittel zur Vernichtung der Unreinen in den Aufzeichnungen und Artefakten zu finden wäre, die im Zentralarchiv der Abtei verwahrt wurden. Aber das Zusammentragen und Auswerten all dieser offenbar systemlosen Informationen erforderte Zeit und Arbeitskräfte, die er nicht hatte. Derartige Arbeiten wurden, wie er wußte, einst von sogenannten Computern geleistet. Abt Demero hatte keinen Computer allerdings deutete alles darauf hin, daß ein solches Gerät, vergraben und verschüttet, irgendwo im tiefen Süden noch existierte. Den Computer zu finden und mitzubringen wäre freilich
ein gefahrvolles Unternehmen. Wenig der über die Gegenden südlich der Inlandsee bekannt, und der Weg führt durch Länder, die von den Unreinen beherrscht wurden. Für diese abenteuerliche Mission erwählte Abt Demero seinen ehemaligen Schüler Per Hiero Desteen, einen Priestersoldaten, der sich als Läufer und Ältester Vollkämpfer im Grenzschutz bewährt hatte. Hiero brach auf mit seinem Ellk Klootz, einem weiterentwickelten Elch. Das intelligente, treue Reittier wurde telepathisch gesteuert und war bei jeder Gefahr ein unersetzlicher Verbündeter. Bald gesellte sich zu ihnen Gorm, ein junger Bär, von seinen Ältesten ausgesandt, um die Wege der Menschen zu ergründen. Gorm schickte Hiero die mentale Warnung, daß ein Adept der Unreinen ihm auflauere. Der Bär half ihm, den Adepten und später die gräßlichen Lemut-Horden zu schlagen, die die Unreinen immer zahlreicher auf die Gefährten hetzten. Dann rettete Hiero ein junges Mädchen, das von einem wilden Stamm gefoltert wurde. Sie hieß Lucare und bezeichnete sich als Prinzessin von Dalwah, einer Nation am Lantikmeer. Sie erzählte, aus ihrer ungewollten Ehe davon gerannt, von Sklavenhändlern gefangen und schließlich an die Folterer verkauft worden zu sein. Sie war anders als alle Menschen, die Hiero je zu Gesicht bekommen hatte, denn ihre Haut war sehr dunkel und ihr Haar dicht und kraus; sein Volk, die Metz, hatten glattes Haar und eine rosige Haut, denn sie stammten von den Mestizen, einer Mischung aus Frankokanadiern und Indianern ab. Später wurde Hiero von den Unreinen gefangengenommen. In ihrer Festung wurden seine geistigen Kräfte mit Hilfe der entarteten Wissenschaft der Unreinen ausgeschaltet, aber er lernte, bislang unbekannte mentale Kräfte zu nutzen. Damit unterwarf er sich einen Adepten und zwang ihn, ihm bei der Flucht zu helfen. Wieder mit seinen Gefährten vereint, ergründete Hiero seine neuen Fähigkeiten weiter, während er Lucare im Gebrauch ihrer erwachenden mentalen Kräfte unterwies. Auf ihrer Flucht in den Osten waren ihnen die Unreinen dicht auf den Fersen. Aber das Vorankommen wurde immer mühsamer, und schließlich saßen sie in den halb versunkenen Ruinen einer uralten Stadt fest. Sie wurden gerettet von einem plötzlich auftauchenden Elfer, einem jener geheimnisvollen Wanderer, die das sogenannte Elfte Gebot befolgen: »Du sollst nicht vernichten die Erde oder das Leben, das sie trägt.« Bruder Aldo benutzte die Macht, die er als Elfer über Tiere hatte, um aus der Tiefe ein Ungeheuer zu rufen und die unreinen Angreifer zu vernichten. Dann schloß er sich den Gefährten an, führte sie zu einem Schiff und bewegte Kapitän Gimp dazu, sie über die Inlandsee zu fahren. Sie wurden verfolgt und von den maschinengetriebenen Zerstörern der Unreinen angegriffen, hatten aber die Südküste erreicht, ehe ihr Schiff sank. Zusammen mit Kapitän Gimp und seinen Matrosen stürzten sie sich in die unbekannten Gefahren des südlichen Urwalds ihrem einzigen Weg in die Sicherheit und zum mutmaßlichen Fundort des Computers, den Hiero suchte. Nach der Begegnung mit einer wunderlichen Frauenrasse, die in den Bäumen lebte, gelangten sie in die Gegend, die auf Hieros uralter Karte bezeichnet war. Dort entdeckte Hiero mit Gorms Hilfe schließlich einen Eingang in eine große unterirdische Anlage voller mysteriöser Apparate. Bevor er die Anlage ganz durchsucht hatte, strömten die Kräfte der Unreinen in den unterirdischen Bau. Hiero konnte gerade noch einen Zeitzünder, den Bruder Aldo ihm gezeigt hatte, in Gang setzen. Dann mußte er mit seinen Gefährten fliehen. Aus sicherer Entfernung beobachteten sie die gewaltige Explosion, die das ganze Gelände zerstörte. Falls dort je ein Computer gewesen war, so war er nun für immer verloren. Dann deutete Bruder Aldo auf das, was Lucare unten entdeckt und mit heraufgebracht hatte. Sie hielt ein dreibändiges Werk mit dem Titel Principles of a Basic Computer*. Mit dieser Anleitung könnten die Abteien ein eigenes Gerät bauen. Nun mußten die Bücher nur noch in den Norden zu Abt Demero geschafft werden. Aber Bruder Aldo hatte andere Pläne mit ihm. Es brannten zwei Feuer in der Nacht und spendeten das einzige Licht in der finsteren Steppe. Eine kleine Gruppe saß um das eine. Etwas abseits kauerten am zweiten Hiero und Lucare, Bruder Aldo zugewandt. Der Greis blickte in die Flammen. Von seiner Haut, die
dunkel wie die von Lucare war, hob sich hell der gezwirbelte weiße Bart ab. »Ich muß wieder nordwärts ziehn«, erklärte Bruder Aldo schließlich. »Ich muß meine Mitbrüder wachrütteln. Seit vielen Leben erstreben wir den Frieden, aber es herrscht kein Friede. Wir stehen vor der Vernichtung und müssen uns dagegen wehren. Es genügt nicht mehr, abzuwarten und den Feind im Auge zu behalten.« Tiefe, traurige Falten gruben sich in sein Gesicht, so daß sich mit einemmal sein hohes Alter erkennen ließ. Hiero blieb stumm. Seine Haut war heller und rosiger als die seiner Gefährten, und sein schwarzes Haar, das bis zu den Ohren reichte, dick und glatt. Mit seiner Hakennase und dem kräftigen, geschmeidigen Körper hätte er fast einer seiner amerikanisch-indianischen Vorfahren sein können, wäre da nicht der hübsche Schnauzer gewesen; der Bartwuchs deutete auf den kaukasischen Einschlag bei seinen einst verpönten Ahnen hin. Neben ihm saß, offenbar dösend, Lucare, den Kopf auf seine Schulter gelehnt. Lächelnd schmiegte er den Arm fester um ihre Hüfte. Zu seiner Rechten plauderten Kapitän Gimp und die Seeräuber an ihrem Feuer. Zu seiner Linken ragte der Saum des großen Waldes im Dunkeln auf. Er dachte an die seltsamen Baumfrauen und ihre Königin Vi-lah-ri. Würde er eine davon noch einmal zu Gesicht bekommen? Er vertrieb die Gedanken daran, als Bruder Aldo wieder zu sprechen begann. »Wir haben uns soweit gut geschlagen«, erklärte der Greis. »Wir haben die Unreinen aufgehalten, viele davon 10 vernichtet und das erbeutet.« Er deutete auf das Bündel mit den verschollenen Büchern des Altertums. »Du hast deine Mission erfüllt, Per Hiero. Aber noch ist dein Werk nicht getan. Die nächste Gefahr droht aus dem Süden. Und dorthin mußt du nun gehen du und Lucare!« »Und was wird aus den Büchern?« wandte Hiero ein. »Ich muß sie schnellstmöglich zu Abt Demero bringen. In diesen südlichen Prärien habe ich nichts verloren. Ich bin nur hierher gekommen, um das Wissen zu beschaffen, das wir im Norden brauchen.« Der Elfer lächelte kurz. »Mach dir keine Sorgen um Demero, mein Junge. Die Bücher bring' ich in den Norden. Das wird dem Abt durchaus recht sein. Ich kenne Demero kenn' ihn schon länger, als du lebst. Wer, glaubst du, hat mich mit deinem Schutz betraut? Warum, meinst du, war ich im rechten Moment zur Stelle, als du in der versunkenen Stadt gefangen warst? Überleg doch mal!« Hiero brummte verdutzt. Aber das erklärte viel. Es war kein Zufall gewesen, kein Glücksfall, daß der Elfer rechtzeitig auftauchte. Wie viele andere waren beauftragt worden, diese Mission im Auge zu behalten. Hiero lächelte kläglich. »Ich hätte mir denken können, daß Demero ein paar Trümpfe in der Hand behielte, von denen ich nichts ahnen würde«, räumte er ein. Bruder Aldo kicherte, wurde aber gleich wieder ernst. »Ich breche bei Morgengrauen in den Norden auf. Ich nehme Gimp und seine Männer mit. Vielleicht können wir irgendwo ein Schiff ergattern. Allerdings muß ich auch Gorm mitnehmen. Ruf ihn!« Hiero schickte rasch einen Gedankenruf in der Wellenlänge des jungen Bären aus. Schläft denn hier sonst keiner? knurrte er im Geist, während er seine Massen neben ihnen niederplumpsen ließ. Hiero lachte. Du hast nichts als Schlafen im Sinn, während wir uns den Kopf zerbrechen müssen. Er beäugte Gorm abschätzig. Es war schier unglaublich, daß sein Volk den Schülern der Abtei nahezu verborgen geblieben war. 11 Ihr Verstand reichte fast an den menschlichen heran, und versteckt konnten sie sich nur so lange halten, weil sie scheu waren. Der >Tod< hatte sonderbare und gräßliche Mutationen hervorgebracht, aber auch manches Wunder gewirkt, wovon eines Gorms Rasse war, das stille, zurückgezogene Bärenvolk, dessen Weisen Gorm ausgesandt hatten, um Wissen zu sammeln. Du willst, daß ich mit diesem Alten nordwärts gehe, kam Gorms Gedanke. Er schien recht gelassen, und seine Gehirnströme waren klar und ungestört. »Ich will, daß du nirgendwohin gehst ohne mich«, sagte Hiero laut und setzte die Antwort dann in Gedanken um. Er war sich darüber bewußt, wie sehr er seinen Freund Petz vermissen würde. Aber Bruder Aldo meint, es wäre besser, wenn du mit ihm in den Norden
ziehst und wieder mit den Weisen deines Volkes in Kontakt trittst. Zu Hieros Überraschung hatte Bruder Aldo seine Gedanken aufgeschnappt sowohl Gedanken, die er für sich behalten wollte, als auch Gedanken, die für den Bären bestimmt waren. Nun sandte der Greis eine Botschaft, die an Hiero und Gorm gerichtet war. Hört mir gut zu, ihr beiden. Hier spielt sich ein großer Kampf ab zwischen dem Bösen, dem Schlechten und dem, was wir als gut und heilig sehen. Die Ratschlüsse der Unreinen sind uns verborgen, aber mein Orden beobachtet sie schon von alters her. Sie streben die Vorherrschaft an und wollen das Böse Wiederaufleben lassen, das der Welt den >Tod< gebracht hat. Wir müssen zusammenarbeiten, wir von den Aufrechten, Lebensbejahenden, ganz gleich von welcher Gestalt. Wir müssen sie bekämpfen, wo immer sie auftauchen. Das Böse steht auf im Süden, in Dalwah und seinen Nachbarn. Dorthin soll Hiero ziehn mit Lucare in ihr altes Königreich, in dem ich einst gelebt habe und das ich gut kenne. Und du, Gorm, sollst nordwärts ziehn und deinen Ältesten Bericht erstatten, ihnen unsre Not melden. Was sagst du dazu!1 Es herrschte Gedankenstille. Dann kam die Antwort des Bären: Ich muß gehn. Zum Teil verstehe ich, was du meinst. So muß es sein, denn das ist mir von den Weisen meines Volkes aufgetragen worden. Kann ich jetzt schlafen? Gorm ließ es nicht bei Worten bewenden, sondern erhob sich und strolchte in die Dunkelheit davon, wo er sich, wie man bald hören konnte, wieder behäbig ausstreckte. »Nun können wir«, sagte Bruder Aldo, »wieder reden, Hiero. Diese ganze Gedankenübertragerei ist doch ganz schön anstrengend, was?« Er lächelte. Hiero sah keinen Grund zum Lächeln. »Selbst wenn Abt Demero mich ziehen ließe, was könnte ich, glaubst du, im Süden schon ausrichten? Ich weiß bis auf das Wenige, das Lucare mir erzählt hat, nichts über Dalwah. Wie kann ich in einem fremden Land mit anderen Gesetzen und Sitten nützlich sein?« Er neigte den Kopf und drückte seine Wange auf den pechschwarzen Lockenschopf, der an seiner Schulter ruhte. Lucare blickte zu ihm auf aus klaren Augen, in denen keine Spur von Schlaf zu erkennen war. »Was du tun kannst? Lieber Per Hiero Desteen, hast du vergessen, wer ich bin? Mein Vater ist König Danyale von Dalwah, und ich bin der ^einzige Erbe. Du bist mein Gemahl. Als Prinz des unbekannten Ordens wird man dich akzeptieren.« Sie blickte zu Bruder Aldo. »Ihr habt viele Elfer dort, nicht wahr? Ich hab' sie in den Dörfern helfen gesehn, wenn's Schwierigkeiten gegeben hat. Das heißt also, wir haben dort Verbündete wenn auch nicht offiziell. Und wir haben Klootz.« Sie stieß einen schrillen Pfiff aus und winkte mit hochgestrecktem Arm. Hiero lächelte, als eine hünenhafte Gestalt mit mächtigen Hufen, die im Kies knirschten, vor das Mädchen trat. Ein gewaltiger Kopf mit wulstigen Lippen und einer schlaffen Schnauze senkte sich herab und stupste mit der breiten, weichen Nase an ihren Haarschopf. Dann wartete der Ellk, um zu sehen, weshalb er gerufen worden war. Als die Menschheit sich nach dem >Tod< wieder erholt hatte, waren die Pferde spurlos verschwunden. Im hohen Norden probierte man in den Abteien und dazugehörigen 12 13 Gehöften die verschiedensten Tiere aus, aber diese mutierten Nachkommen der Elche erwiesen sich als die besten. Hiero und Klootz hatten einander vor Jahren bei der jährlichen Kälberwahl ausgesucht und waren seitdem untrennbar. Ob's ihm im Süden gefällt? überlegte Hiero, an seine Gefährtin und Bruder Aldo gerichtet. So was wie ihn gibt's dort nicht. Werden die Leute vor ihm Angst haben? »Nicht Angst«, erwiderte Lucare, während sie dem Ellk übers Bein streichelte. »Man wird ihn bestaunen als ein Tier, wie's noch keiner gesehn hat. Das wird dein Ansehen mehren.« Hiero stand auf und streichelte über das mächtige Schaufelgeweih, wobei er behutsam den Bast abschälte, wo er locker war. Er fühlte die Wärme darunter, wo die Außenhaut des jungen Geweihs noch nicht ganz hart war. Klootz leckte ihm eifrig die Schulter. Aldo fuhr fort: »Bedenke, was du bereits erreicht hast in einem Land, das dir fremd gewesen ist, einzig mit Hilfe von Freunden, die du unterwegs getroffen hast. Du hast eine Prinzessin gerettet, die große Inlandsee überquert und einige deiner schlimmsten Widersacher besiegt.
Und du hast einen schier undurchführbaren Auftrag erfüllt.« »Du hast geschafft, was kein anderer geschafft hätte«, fügte Lucare hinzu, nachdem Aldo geschlossen hatte. »Du hast jenen besiegt, der sich Sduna nennt, das Haupt ihres gräßlichen Blauen Zirkels. Du kannst der Führer meines Volkes sein.« Hiero sah verliebt zu ihr nieder. Eine Liebe, groß wie diese, hatte er noch nie erlebt. Freilich dachte er nun an Abt Demero, den grimmigen alten Krieger, der ihn auf diese Mission gesandt hatte. Wäre es im Sinn des Vorsitzenden des Abteirats, daß er mit einem neuen Weib und einer neuen Aufgabe in den Süden zöge? Ihm war, als sähe er vor seinem geistigen Auge das faltige, alte Gesicht mit lächelnder Miene. Ein Zeichen? Hiero zuckte die Achseln und überlegte noch einmal. Vielleicht schnappte er einen schwachen, flüchtigen Gedanken aus großer Ferne auf. Er 14 lächelte und sah zu Bruder Aldo, einem ebenfalls weisen Greis, der in den Krieg gezogen war, weil er sonst keinen Seelenfrieden gefunden hätte. ;»Sag Gimp, daß ihr bei Morgengrauen in den Norden aufbrecht. Lucare und ich werden auf Klootz südwärts ziehn. Ich nehme an, du kannst mit deinen Elfern im Süden Kontakt aufnehmen. Laß es mich wissen, und wir richten eine feste Verbindung ein.« Er kicherte. »Du sagst, du kennst Abt Demero. Dann sei so gut und halt ihn mir vom Leibe, damit ich nicht verstoßen und exkommuniziert werde. Und nun wollen wir uns ein bißchen aufs Ohr legen.« Das Reich des Ostens Goldenes Sonnenlicht strömte durch die schmalen Fenster des Palastes, und ein großer Gong kündete vom neuen Tag im mächtigen Reiche Dalwah. Von nah und fern hallte das Echo wider, als die Wachen auf den Zinnen und die Posten auf den Brücken und Brustwehren mit ihren kleineren Gongs einstimmten. Die ganze wehrhafte Stadt erschallte in vielstimmigem Geläute. Hiero setzte sich im Bett auf und hielt sich, unmutig knurrend, die Ohren zu bei diesem Getöse. »Das machst du jeden Morgen«, sagte Lucare. »Inzwischen solltest du dich an den Gongschlag gewöhnt haben, würde ich meinen.« Er guckte sie neugierig an, wie sie vor dem Spiegel saß und sich die Lippen und Lider mit der bläulichen Paste in der neuen Modefarbe bei Hof bepinselte. Er schürzte die Lippen und gab ein schmatzendes Geräusch von sich. Sie blickte mit heiterer Miene zu ihm herüber. »Hab dich nicht so! Ich muß gut aussehen, wenn ich die Edeldamen zum Frühstück empfange. Warum bist du denn die halbe Nacht aufgeblieben? Hast wieder mit unserem Hohenpriester über Religion geplaudert?« »Hm.« Er machte sich an dem Tablett mit dem Frühstück zu schaffen, das sie ihm ans Bett hatte stellen lassen. »Der alte Markama ist nicht schlecht für einen Hohenpriester das heißt, einen Hohenpriester von Dalwah. Du meine Güte, was ist denn nur mit der Kirche hier passiert? Zölibat für die Priester! Und die vielen sogenannten Klöster, wohin der Adel seine unerwünschten Söhne und Töchter steckt, damit sie dort Bildtafeln bemalen oder nähen und beten den ganzen Tag und Schweigen und Keuschheit üben! Als ob die Unreinen schon die Herrschaft übernommen hätten und 16 daran arbeiten würden, die Menschen in den Wahnsinn zu treiben.« Seine Miene wurde mit einemmal ernst. »Ich bin mir nicht sicher, ob dies nicht schon eine Brutstätte der Unreinen ist, wo all ihre Lakaien einen Gedankenschild tragen.« »Hiero!« Sie sah ihn entrüstet an. »Ich weiß, du glaubst das. Aber du hast doch keinen Beweis dafür 's gibt nur ein paar Leute, deren Gedanken du nicht lesen kannst. Und du hast mir, als du mit mir geübt hast, einmal gesagt, daß manche Leute einen natürlichen Schirm haben, ohne sich dessen bewußt zu sein.« Seufzend beendete er dieses Thema, während sie den Hofball zur Sprache brachte, der an diesem Abend im Palast stattfinden sollte. Nachdem sie gegangen war, um ihren offiziellen Pflichten nachzukommen, zog er sich an und verließ den Palast, um sich im Straßengewirr der Stadt ein wenig die Beine zu vertreten. Er grübelte. Irgendein Unheil braute sich im Königsschloß zusammen. Er fühlte es, obgleich kein klarer Gedanke zu ihm durchdrang. Aber es herrschte eine haßerfüllte Grundstimmung, die sich
nicht verbergen ließ vor jemand, der wie er so viel erlebt hatte mit den Unreinen und ihren Waffenbrüdern. Freilich war ihm beste Behandlung zuteil geworden. Als Lucare und er auf Klootz erschienen waren, hatte die Wache am Haupttor salutiert und sie mit allen königlichen Ehren empfangen. Binnen einer Stunde saßen Lucare und er bei ihrem Vater Danyale IX., Erbkönig des Reiches Dalwah. Zu seinem Erstaunen mochte er den König und zeigte Danyale, daß auch er ihn als neuen Schwiegersohn mochte. Der König war groß, kräftig und noch recht muskulös, ob schon er ein wenig Fett angesetzt hatte, nun wo er ein halbes Jahrhundert auf dem Buckel hatte. Sein krauses, graumeliertes Haar trug er kurz, und sein stattliches Gesicht mit dem Schnurr- und Kinnbart wirkte ehrlich. Sein Kilt und seine Robe waren aus feinstem Tuch in erlesener Farbe, und er trug viele Ringe und Gehänge. Aber er war nie ohne ein langes, zweischneidiges Schwert, dessen Heft schlicht und abgegriffen war. Sein Händedruck war fest und hart. 17 War dies der hartherzige Tyrann, dessen einzige Tochter in die Fremde geflohen war, um einer Heirat zu entgehen, die ihr der Vater aus staatsmännischen Erwägungen hatte aufzwingen wollen, wie Lucare behauptete? Danyale kam darauf zu sprechen, als er mit Hiero auf den Zinnen seines Palastes saß. Die allgegenwärtigen Wachen waren mit einer Geste außer Hörweite gewinkt worden, wo sie nun tuschelnd beieinander standen und aus der Entfernung ihren Herrscher und ihren neuen Prinzen beobachteten. »Schau, Hiero, ich weiß, daß Lucare dir von dieser leidigen Heiraterei mit Efrem erzählt haben wird. Aber der Adel hat darauf bestanden der ganze Rat einschließlich der Kirchenväter. Was sollte ich tun? Weiß Gott, wir brauchen Bundesgenossen. Aber wir hatten nur Chespek. Da Efrem mich fürchtete, habe ich geglaubt, ihn in Schach halten zu können, damit er dem Mädchen nichts tue. Ich weiß so gut wie sie, in welch schlechtem Ruf der Bastard steht. Aber so was, verflixt noch mal, gehört halt zu den Bürden eines Königs, zumal mein einziger Sohn nicht mehr lebt...« Er blickte Hiero in die Augen und verstummte. »Verstehe«, entgegnete der Metz-Priester leise. »Zuerst kommt immer das Reich.« Eigentlich bewunderte er den alten Mann. Es fiel dem König gewiß nicht leicht, sich für etwas zu rechtfertigen, was er als wichtiges und übliches politisches Vorgehen erachtete. Es gab keinerlei Verständigungsschwierigkeiten. Hiero war sehr sprachbegabt und von Lucare auf ihrer Heimreise wochenlang in der Sprache von Dalwah unterrichtet worden. »Was wird Efrem nun tun?« Hieros Frage war mehr als ein Lückenbüßer. Die Priester, durch seine Gaben und sein Geschichtswissen in Erstaunen versetzt, hatten ihm viel erzählt, und noch mehr hatte er durch Gedankensuche herausgefunden. Aber schon aus Gründen der Höflichkeit konnte er Lucares Vater nicht aushorchen. Freilich mußte er wissen, was der alte Mann dachte und wozu er fähig war. Wollte er Dalwah vor den Unreinen und ihren grausigen Bundesge19 nossen bewahren sollte es unter den Fahnen der Abteien fechten so mußte er noch viel darüber in Erfahrung bringen. Danyale prustete verächtlich. »Er wird kochen vor Wut und schließlich das tun, was die Priester ihm auftragen, wenn er zur Beichte rennt und bekennt, irgendein Sklavenmädchen halb ermordet zu haben. Es ist nicht mit ihm zu rechnen.« Als er Hiero nun musterte, war seine Müdigkeit wie weggeblasen. »Hast offenbar Beziehungen zur Universalkirche, mein Junge. Hat bei euch oben der Adel Macht über die Kirche? Bei uns hier ist's ein ewiger Kampf, die Zügel in der Hand zu behalten und nicht an sie oder noch schlimmer die Marionette zu verlieren, die sie vielleicht gegen mich aufstellen. Du scheinst ihre priesterlichen Geheimnisse zu kennen und weißt natürlich über die euren Bescheid., Du könntest mir eine große Hilfe sein«, meinte er schließlich. Schade, meinte Hiero. Danyale war freilich kein Ränkeschmied, sondern ein aufrechter, wenn auch nicht gerade heller Soldat, umringt von einem dekadenten Hofstaat und umzingelt von Intriganten aus sowohl weltlichen als auch kirchlichen Lagern. »Bei uns ist's anders«, wich er aus. »Unser Adel wird vom Kampf gegen die Unreinen so
beansprucht, daß wir längst gelernt haben, als eine Säule des Staates zu fungieren und die Kirche als seine zweite zu unterstützen. Und...«, ergänzte er im Nachhinein, »wir haben natürlich keinen König an sich, sondern eine Kammer, einen höchsten Rat aus sowohl kirchlichen als auch weltlichen Mitgliedern.« Das war nur eine halbe Lüge, denn das war der Abteirat auch. Daß es keinen Adel gab, konnte noch warten. »Nun«, begann Danyale bedeutsam, »ich vermute, auch ihr habt eure Geheimnisse. Ich verstehe neuerdings die Welt immer weniger.« Er blickte auf, wobei ein Lächeln über seine vollen Lippen huschte. »Eins noch. Ich bin ehrlich froh, dich zum Schwiegersohn zu haben, ob Prinz oder nicht. Das Verrückte ist, daß ich meine Tochter liebe und mich freue, wenn sie glücklich ist. Aber wichtiger noch ...« 20 er beugte sich vor und tippte Hiero auf die Knie »Ich glaube, du wirst mir sehr dienlich sein, mein Junge mir und Dalwah.« Er stand auf, klopfte dem Metz auf die Schulter und ging seinen Pflichten nach. Er war durchaus eine Herrscherfigur, überlegte Hiero, und vielleicht gar nicht so dumm, wie es den Anschein hatte. Es gab andere ähnliche Begegnungen und gleichfalls Begegnungen mit den Großen des Landes. Markama, der greise Erzpriester, war ein durchaus aufrechter Mann und hätte große Macht ausüben können, wäre er ein besserer Menschenführer gewesen. Aber ihn beschäftigten nur Ritus und geistlicher Obskurantismus. Immerhin war er kein Feind und hatte gewaltigen Respekt vor dem gebildeten Hiero, der die Geheimnisse der Kirche kannte und über die von ihm wirklich gefürchteten und verabscheuten Unreinen Bescheid wußte. Die Geschäfte der Kirche die Bücher, die Verwaltung, die Schulen und dergleichen wurden offenbar von einem gewissen Joseato geführt, dem ranghöchsten Priester unter Markama, der ein schmächtiger, blasser Mann und fahriger Mensch war und stets ein Bündel von Papieren mit sich herumtrug. Hiero fand keinen bestimmten Grund für seine Abneigung gegen ihn, wobei freilich sein abgeschirmter Verstand eine Rolle spielte. Ob er unter seiner Robe ein stahlblaues Medaillon, den mechanischen Gedankenschirm der Unreinen trug? Natürlich könnte der Schild, wie Lucare betonte, auch angeboren sein, was nicht selten der Fall war, oder von verkümmerten Geistesübungen herrühren, wie sie selbst in dieser Südkirche noch gepflegt wurden. Es ließ sich nicht feststellen, ob hinter einem guten Gedankenschirm eine geistige oder physikalische Kraft steckte, und er konnte den Priester natürlich nicht darum bitten, sich auszuziehen. Es galt also, Joseato im Auge zu behalten, soweit dies möglich wäre. Gedankenversunken hielt er inne, machte kehrt und begab sich zu den Ställen des Palastes. Es waren zu viele Ab21 geschirmte hier, die es zu beobachten galt. Da war zum Beispiel Graf Ghiftah Hamili, ein guter Krieger von hohem Adel und Großgrundbesitzer. Der stille junge Mann hatte einmal um. Lucares Hand angehalten und galt viel bei Hofe. Obschon durchaus freundlich, hatte er einen stechenden Blick, den er öfter auf den Priester aus Metz richtete, als diesem lieb war. Schließlich aber hatte Hiero einen verläßlichen Freund gefunden. Ein Laienbruder der Elfer war auf das Betreiben von Aldo und der im Untergrund agierenden Bruderschaft auf ihn zugegangen. Das Mitrash ein Leutnant der Palastwache war, war ein besonderer Vorteil. Tag und Nacht konnte er, ohne Argwohn zu erregen, im stark bewachten Palast ein und aus gehen. Der glatzköpfige, ältere Veteran strahlte Zuversicht und Tüchtigkeit aus. Leider war er nicht sehr gebildet. Obschon sehr hilfsbereit, war er weiter nichts als ein guter, rechtschaffener Soldat, der vom Orden als Akoluth angeworben und als Beobachter in den Palast eingeschleust worden war. Die Verkommenheit und Zerrüttung, die im ganzen Reiche festzustellen waren, betrachtete er mit großer Sorge, aber er war kein Meister des Geistes wie Aldo. Zwar hatte er viele Kontakte und konnte mit anderen Mitgliedern des Ordens in Verbindung treten, aber es dauerte seine Zeit. Und er hatte einen abgeschirmten Verstand was in seinem Fall bloß gut war. Hiero hatte darum gebeten, daß Mitrash der Hauptmann seiner Leibwache würde, aber der Amtsschimmel wieherte in Dalwahs Heer wie in jeder anderen Armee. Zwischenzeitlich wäre der Mann bei der Hand, um auf Lucare achtzugeben, falls ihr prinzlicher Gemahl in die Ferne gerufen würde.
Nun war Hiero beim Stall angelangt. Es war an der Zeit, Klootz und sein neues Reittier, einen Hüpfer namens Segi, zu bewegen. Der riesige Ellk freute sich beim Wiedersehen und stupste Hiero freundschaftlich an sehr zum Erstaunen der Knechte, die das Tier aus dem Stall führten. Von einem Ellk hatte man in Dalwah noch nichts gehört oder gesehn, und das 22 mächtige, geweihtragende Tier erfüllte alle mit scheuem Respekt, der sich besonders auf seinen Reiter übertrug. Hiero, dem dies natürlich nicht verborgen blieb, nutzte jede Gelegenheit, sich auf dem hohen, dunkelhäutigen Rücken zur Schau zu stellen, wenn die Schaulustigen zum Abreitplatz strömten. Hinter dem Ellk folgte Segi, den ein Knecht ritt. Beim Erscheinen des Hüpfers schwoll Klootz' mächtiger Rumpf zornentbrannt; hätte der Ellk Segi allein angetroffen, hätte er seinen Rivalen zu Brei gestampft, denn daß Hiero auf einem anderen Tierrücken ritte, kam für ihn nicht in Frage. Segi schien diesen Groll durchaus wahrzunehmen, denn er hielt wohlweislich Abstand zu Klootz. Segi war ein Hüpfer, das übliche Reittier der Kavallerie von Dalwah, eine Mutation, die sich der Mensch als Ersatz fürs längst ausgestorbene Pferd gesucht hatte. Der zahme, gutmütige Segi überragte seinen Reiter um fast zwei Meter. Er ging auf zwei kräftigen Hinterläufen, vom langen, säulenförmigen Schwanz gestützt. Seine winzigen Vorderfüße, so kurz wie der Arm eines großen Mannes, waren weit oben an seiner mächtigen Brust angesetzt. Er hatte ein weiches, braunes Fell, eine Blesse an der Stirn und große Ohren, die er bald nach links, bald nach rechts stellte. Dieses stattliche Tier machte dem königlichen Gestüt alle Ehre und war die geschätzte Hochzeitsgabe für Danyales neuen Schwiegersohn. Hiero wüßte nichts über die Abstammung der Hüpfer. Aber er war begeistert von der unbeschreiblichen Bewegung, die sie ihrem Reiter vermittelten, und entschlossen, die keinesfalls einfachen Figuren zu erlernen, die eine gerittene Parade zu einem Spektakel machten, wie es sich kein anderer Kavallerist der Welt erträumen würde, Segi trug seinen schweren, abgewinkelten Sattel hoch am Rücken, wobei der breite Gurt unmittelbar unter den Vorderbeinen verschnallt war. Im Maul hatte er eine Trense, die mit Doppelzügeln verbunden war. Aber anstatt der üblichen Steigbügeln, wie der Ellk sie hatte, steckten die Füße vom Reiter eines Hüpfers in langen, starren Säcken ähnlich der Sattelta23 sche; die Hieros Werfer gehalten hatte. Diese Säcke waren wiederum am unteren Sattelende befestigt und über einen Drehzapfen mit einem eigenen Bauchgurt versehen, der unterhalb des Sattelgurts festgemacht war. Obgleich es nicht einfach war, aus ihnen herauszukommen, waren diese Bügeltaschen unerläßlich. Davon konnte sich der neue Prinz bald überzeugen, als er sah, wie ein Wächter seinen Hüpfer in Bewegung setzte. Der außerordentlich hohe Sattelrücken bekam ebenfalls neue Bedeutung. Ein normaler Hüpfer und Segi war der beste konnte aus dem Stand fast fünfzehn Meter weit springen. Obendrein konnte er in der Luft Haken schlagen, wobei der lange Schwanz als Hebel und Ruder wirkte. In ebenem Gelände konnte ein ganzer Hüpfer atemberaubend schnell rennen oder springen. Als er einer Schwadron der Gardetruppen bei einem Geschwindigkeitsdrill zusah, blieb ihm die Luft weg. Im Gleichschritt ritt Reihe um Reihe an, änderte in der Luft die Richtung und landete in der gleichen wunderbar einheitlich Formation, ohne daß irgendein Paar ausgefallen wäre oder gestockt hätte, bis ein kurzer Hornstoß ein ebenso jähes Stillgestanden gebot. Die langen Lanzen mit ihren Wimpeln erhoben sich zum Salut und wurden mit abgestimmten, fließenden Bewegungen wieder gesenkt. Der im Kriegshandwerk geschulte Hiero staunte nicht schlecht, als er all dies sah. Eine Division dieser wunderbaren Tiere und altgedienten Veteranen als leichte Kavallerie und eine zweite mit dem riesigen Ellk als Nachhut was wäre das für eine Truppe! Er hätte den ganzen Nachmittag bei den Hüpfern verbracht/wären nicht noch tausend andere Dinge zu erledigen gewesen. Also gönnte er sich nur eine Stunde, wobei er sich genauso lange dem aufgebrachten Ellk widmete, der verächtlich und zornig schnaubte, während sein Herr auf dem Rücken Segis unter Anleitung eines erfahrenen Sergeanten, der nun als königlicher Ausbilder diente, die Sprungfiguren absolvierte. Daß ihr neuer, exotischer Prinz sein wunderliches Tier so
24 rasch zu reiten lernte, verwunderte und erfreute die Männer von Dalwah. Sie waren ahnungslos gegenüber den mentalen Hilfen, die Hiero zu geben verstand, um die unzähligen Übungsstunden auszugleichen, die sie selbst auf dem Exerzierplatz hatten verbringen müssen. Segi war freilich nicht so intelligent wie Klootz, aber keineswegs dumm, und faßte zu seinem neuen Herrn bald Zuneigung. Nach den jeweiligen Übungen stieg Hiero zu einem Ritt durch die Stadt in den Sattel von Klootz. Die Stadt Dalwah war viel größer als Kalina, die einzige andere Stadt im Reiche, die viele Meilen südwärts lag. Aufgrund seiner Beobachtungen und der Fragen, wie er in einem fort stellte, hatte Hiero, der in nicht geringem Ausmaß auch fremde Gedanken anzapfte und aufschnappte, einiges über sein neues Land erfahren. Er hatte eine leider viel zu kurze Reise zur Küste unternommen und zum ersten Mal den Lantik mit seinen mächtigen, schaumgekrönten Brechern gesehn, die unablässig auf den Strand unter den hohen grünen Dünen rollten. Es war ein seltsames Gefühl, sich vorzustellen, daß man wahrscheinlich der erste Mensch seines Volkes sei, der sowohl den endlosen Ozean des Ostens als auch das Meer im Westen geschaut habe. Jenseits des schäumenden Meeres lag das rätselhafteste aller Mysterien Europa, das Stammland der Kultur, die Urheimat der Kirche, den Kindern des westlichen Kontinents seit alters unerreichbar. Aber es war keine Zeit für derartiges Träumen, weder heute noch irgendwann anders. Als er auf seinem riesigen Ellk im Geleit von je zwei Hüpfern vor und hinter sich durch die belebten Straßen ritt, wich die Menge scheu zurück und zog zum Gruß Kappe und Helm. Fürwahr wirkte er nun wie ein Prinz, gewandet in purpurrote Seide, aus der Jacke und goldbestickter Kilt gearbeitet waren, während die Lederstiefel und die weichen Reithandschuhe scharlachrot leuchteten. Sein teures Kurzschwert an einem Kreuzgehenk aus goldenen Gliedern hatte er über den Rücken geschlungen. Ein schmaler Goldreif hielt auf seiner Stirn die purpurne Schirmhaube, woran, mit 25 einer Gemmenbrosche von großem Wert befestigt, eine schneeweiße Reiherfeder nickte. Die Dalwahner liebten Farbenpracht und alles Neue und Reizvolle. Ihr neuer Prinz und das viele Gerede um seine Abenteuer und die Art, wie er aus dem Nichts auftauchte und ihre verschollene Prinzessin zurückbrachte, schmeichelten ihrem Stolz. Während Hiero die Grüße erwiderte, indem er seine Haube antippte, fragte er sich, wer in diesem Meer dunkler Gesichter nicht hinter den Hochrufen und Jubelschreien stünde, die ihm von jeder Gasse und jedem Balkon zuflogen. Hinter so manchem Lächeln, das breit die weißen Zähne zeigte, und hinter verschiedenen geschlossenen Fensterläden lauerte der Feind um so gefährlicher, weil unbekannt. Dessen war Hiero sich sicher. So sehr er sich auch bemühte, er schnappte keine anderen Regungen auf als den üblichen Neid von einigen Hungerleidern und den Hohn gewisser Adliger, die sich auf ihre hehre Abstammung zu viel einbildeten. Das war völlig normal. Wo sind die bösen Buben, Freund? meinte er zu Klootz, der damit zu kämpfen hatte, sich über das altertümliche, mit allerlei modernem Unrat übersäte Kopfsteinpflaster zu balancieren. Wo sind die Unreinen? Sie sind da, Klootz, sind da, das steht mal fest. Wie finden wir sie bloß, wie können wir sie ausräuchern, bevor sie ausschwärmen und uns schnappen? Von einem lachenden, halbnackten Mädchen kam ein lustiger, derber Zwischenruf über einen möglichen Erben. Hiero zuckte mit gespielter Ahnungslosigkeit die Achseln, woraufhin die Menge in grölendes Gelächter ausbrach. Dennoch vergaß er seine Sorge nicht. Die Feinde waren schlau, aber nicht perfekt. Wenn er auf der Hut wäre und auch Lucare, wie er sie gelehrt hatte, Vorsicht walten ließe, bekäme er vielleicht irgendwann seine Chance. Einstweilen konnte er nur warten und die Augen offenhalten. Zu sehen gab es viel. Da überquerten Männer einer nicht christlichen Religion so etwas hatte er bisher nur von den Unreinen gekannt einen Platz. Sie beteten zum gleichen Gott, aber durch einen anderen Propheten, und verehrten 26 den Halbmond. Es waren Mumanen mit schneeweißen Gewändern und grünen Zylinderhüten. Sie lebten in einer großen Kolonie an der südwestlichen Landesgrenze, die sie nur selten verließen, und betrieben hauptsächlich Viehzucht. Berühmt waren sie für ihre
Kaw-Herden, das langhörnige Nutztier der Nation. Die Hüpfer verabscheuten sie aus irgendeinem Grund und wollten nichts mit ihnen zu tun haben. Aber sie waren gute Läufer und besonders als leichtes Fußvolk geeignet, da sie sichere Bogenschützen waren und mit dem Schwert umzugehen verstanden. Mit geschürztem Kilt konnten sie schneller als die eigenen Kaws rennen und dieses Tempo stundenlang durchhalten. Obwohl sie einem fremden Ritus angehörten, stand ihre Loyalität nie in Frage. Bis auf ihre Kleidung sahen sie aus wie alle anderen Dalwahner mit ihrem krausen Haar, dem dunklen Gesicht und den vollen oder auch hageren Zügen mit breiter beziehungsweise gebogener Nase. Sie verbeugten sich vor Hiero, hatten aber nichts Unterwürfiges an sich, und musterten ihn mit scharfen Blicken, wobei sie freilich nur seine Waffen und sein Reittier beäugten, nicht aber all seinen Putz. Nachdem sie vorübergezogen waren, kam eine andere Gesellschaft herbei, diesmal eine Karawane aus bunt gekleideten Kaufleuten, die gerade aus dem Süden eintrafen und noch mit dem Schmutz der Reise besudelt waren. Manche trugen die frischen Male geschlagener Schlachten, und Hiero wußte, sie würden wie alle Reisenden beim Hofchronisten, der über alle Vorgänge im Reich stets im Bilde zu sein hatte, Meldung darüber erstatten. Viele dieser Neuankömmlinge schmückte ein Davidsstern; sie gehörten also jener anderen Religion an, die in Hieros neuem Reich verbreitet war. Wie in jeder anderen Gemeinde waren darunter Reiche und Arme und Vertreter aller Schichten. Sie glaubten zwar an den einen Gott, hatten aber keine Propheten und Heiligen; ihre Priester beriefen sich einzig auf geheime Schriften, die nur für Glaubensbrüder einsehbar waren. Sowohl Davidsjünger als auch Mumanen hielten hohe Hofäm27 ter inne, und manche gehörten dem Erbadel an; im Privatleben jedoch blieben sie meist unter sich, wie sie auch selten eine gemischtgläubige Ehe eingingen. Dennoch genossen sie das volle Vertrauen von Danyale und Lucare. »Ich wünschte, ich könnte mir meiner Glaubensbrüder ebenso sicher sein wie der Davidsjünger oder Mumanen«, hatte der König freimütig geklagt. Und tatsächlich fanden sich viele davon in der Leibgarde und in den einzelnen Milizen, die zusammen die Reichswehr bildeten. Die Straße verengte sich, und sie kamen, wie Hiero sah, zu einer der Brücken mit hoher Brüstung, von denen es in der Stadt ihrer viele gab. Sie überspannten die zahllosen Kanäle, mit denen die Stadt und das ganze Umland durchzogen waren. Diese Wasserstraßen verbanden ein Dutzend träger Flüsse und führten in die Marschen und zu den Buchten des Lantiks. Beim Näherkommen entdeckte Hiero einen neuen Grund für die steinernen Seitenmauern an diesen und allen anderen Brücken im gesamten Kanalnetz. Ein grausiger Schädel mit Schuppen und Reißzähnen im weit aufgerissenen Maul und mindestens zwei Meter lang steckte auf einem dicken Eisenpfahl an der Brückenbrüstung. Aus dem Halsstumpf rann scharlachrotes Blut, das in den Rinnstein sickerte. Als er anhielt, schnaubte Klootz verächtlich und stampfte mit den Hufen, daß es nur so klapperte. Einer von der Nachhut ritt mit seinem Hüpfer neben Hiero und erklärte in der lockeren, vertrauten Art eines altgedienten Kriegers: »Ist Euch wohl was Neues, Hoheit, 's ist ein Grunzer und ein verdammt großer, mit Verlaub, noch dazu. Hab' sie in den Sümpfen brüllen hören, daß man meint, man müßt' taub werden. Komisch, aber es gab sie noch nicht so massenhaft, als ich 'n Kind war wenn ich nicht irre. Vermehren sich wohl ganz schön, diese Blutsauger. Müssen überall neue Mauern hochziehn, sogar in den Außenbezirken, wie ich mir hab' sagen lassen.« »Bringen Sie irgendeinen Nutzen?« fragte der Metz. »Sehn ja scheußlich aus.« 28 »Nun, geräuchert ist das Fleisch nicht schlecht, hat aber 'nen Fischgeschmack. Und aus den Häuten kriegt man gute Schilde und dergleichen raus, muß sie aber höllisch beizen und trocknen. Ob das die Leute, das Vieh und die Schweine aufwiegt, die die Grunzer sich schnappen, ist 'ne andre Frage. Wenn das Landvolk keinen Brunnen hat, ist's nicht leicht, an Wasser ranzukommen. Sogar ein junger Grunzer, nicht ein Drittel so groß wie der hier, kann ein Kind zerreißen. Ein junger Vetter von mir ist vor ein paar Jahren aus einem Kahn geschnappt worden; hat 'ne Luke geöffnet, um rauszusehen, aber statt dessen hat ein Grunzer den Kopf reingesteckt. Schwärmen nun mordsmäßig in die Städte, diese Viecher.
Wird von Jahr zu Jahr schlimmer.« Während er den braunen Reptilienschädel mit den glasigen Augen betrachtete, überlegte Hiero. Der Wachsoldat sah nur die Folgen. Aber gäbe es auch einen Auslöser, einen Anlaß? Wenn die Wasser- und Bootswachen verdoppelt werden mußten, um dieses Geschmeiß nur eine von verschiedenen feindlichen Arten abzuwehren, bedeutete das nicht eine deutliche Schwächung des Reiches, wobei die Intelligenzen hinter diesen Übergriffen verborgen blieben? Daß die Herren der Unreinen solcher Tücken fähig wären, daran bestand kein Zweifel. Er hatte im Norden und während seiner jüngsten Reise zuviel dergleichen erlebt. Jedenfalls war dies ein weiterer Faktor innerhalb der wirren Gesamtlage, der zu bedenken wäre. Hieros kleiner Zug überquerte die Brücke und kehrte in einem langem Bogen durch die Stadt zum Palast zurück. Er sollte am späten Nachmittag die Garde besichtigen und eine Gesandtschaft aus dem tiefen Süden empfangen. Danyale war von Herzen froh darüber, daß sein neuer Schwiegersohn für alles Interesse zeigte, und wünschte, daß so viele Untertanen wie möglich Hiero zu sehen und zu hören bekämen. Obendrein galt es, sich auf den großen Hofball, dem ersten der bevorstehenden Sommerfeste, vorzubereiten, der diesmal ebenfalls dem Zweck diente, den neuen Prinzen vorzuführen. 30 Der schmale Mund unter Hieros schwarzem Schnurrbart krümmte sich zu einem schmerzlichen Lächeln. Man denke nur, es waren ihm von Lucare Tanzstunden verordnet worden! Zum Glück brauchte sie sich auf dem Parkett kaum mit ihm zu schämen. Er hatte ein gutes Taktgefühl, und in den Tänzen der Republik Metz hatte er sich stets als besonderer Könner hervorgetan. Nun trat, als er einen weiteren Platz überquerte und in einem fort zu den unablässigen Grüßen nickte und die Haube antippte, ein breites Lächeln in seine Miene. Ein dreist gerittener Hüpfer setzte, von der gegenüberliegenden Platzseite kommend, auf ihn zu. Eine aufgeputzte Gestalt winkte von seinem Rücken und führte ihn im waghalsigen Sprung über Kleiderbuden und Gemüsestände. Das keuchende Tier kam mit dumpfem Aufschlag so dicht vor dem verächtlichen Klootz zu stehen, daß keine Hand zwischen sie gepaßt hätte, und aus einem grinsenden Gesicht unter dem scharlachroten Turban leuchteten perlweiße Zähne. »Zum Gruß, edler Prinz aus dem Land der Eisdrachen.« Es war Herzog Amibale Aeo, Lucares junger Vetter, der erst vor einer Woche aus seinem großen Herzogtum im Süden angereist war und den nicht nur Hiero, sondern die ganze Stadt schon ins Herz geschlossen hatte. Dieser Sohn des toten Cousins ersten Grades zum König, der erst neunzehn Jahre jung war und noch den ersten Flaum auf der Oberlippe trug, nahm seinen honorigen Stand mit Gelassenheit. Wenn er nicht auf seinem Hüpfer um die Wette an den Palastmauern galoppierte, jagte er in einem einsitzigen Kanu die wilden Tiere des Flusses. Trotz seiner Jugend hatte er schon eine Reihe von Herzen gebrochen und vertrug den starken Wein Dalwahs so gut wie die Veteranen der Garde. Hinter dem Lachen und munteren Wortschwall, dem Schäkern und Plaudern, verbarg sich, wie Hiero wußte, ein ganzer Mann. Die schrägen Augen waren voller Geist und Witz, und wenn seine Miene gelassen war; hatte sein ovales, dunkles Gesicht, wie der Metz feststellen konnte, markante Züge. Nur angetan mit scharlachrotem Kilt und 31 Stiefeln, stellte er, als er, munter plauschend und mit bloßer Brust neben Hiero einherritt, eine feine Ergänzung zu seinem Gefährten dar. Der schlanke Säbel und Krummdolch an seiner Seite bezeugten, daß er jederzeit kampfbereit war. »Alles klar für den großen Ball, Hiero?« meinte er. »Warte, bis du siehst, was ich anhab'! Ich werd' diesen verstaubten Gestalten im Palast mal zeigen, wie ein Prinz von edlem Geblüt auszusehn hat. Hoffe, du und Lucare habt was Besonderes, woran sie sich die Augen ausglotzen können. Nicht daß ich mir wegen ihr Sorgen mache. Aber bei dir, du fades Nordlicht, hat man, wie ich höre, die Garde gebraucht, um dich aus deinem Ledergewand zu schälen, mit dem du angekommen bist.« »Mann und Frau in Metz-Tracht«, erwiderte Hiero, der unverwandt vor sich nieder blickte. »Weißes Leinengewand ohne jeden Schmuck. Das hält die bösen Geister fern.« Amibale lenkte seinen Hüpfer geschickt zu einem Strauß scharlachroter Orchideen, den ihm
ein kicherndes Mädchen von einem Balkon zugeworfen hatte. Eine Blüte steckte er sich hinters Ohr und die anderen in den Harnisch seines Reittiers, woraufhin er sich wieder Hiero zuwandte und ein entsetztes Gesicht machte. Kaum sah er dem grinsenden Hiero ins Gesicht, als er auch schon in herzliches Gelächter ausbrach, das kein Ende nehmen wollte. »Zum Teufel! Auf deine eiserne Miene fällt wohl ein jeder rein. Aber das war' dir glatt zuzutrauen. Im Ernst, was trägst du heut' abend wirklich? 's ist, wie du weißt, ein Maskenball 'ne alte Tradition aus der Zeit, wo man sich bei Festen und dergleichen angeblich vor Meuchelmördern hat fürchten müssen. Nun sag schön«, säuselte er, »ich verrat's keinem, ehrlich!« »Nun, Lucare sagte, es sollte eine Überraschung sein für die Herrschaften, wozu man dich Spitzbube aber nicht zählen kann. Lucare hat mir nicht einmal ihr Kostüm gezeigt. Ich gehe als Blauer Mensch, allerdings in goldverbrämter Seide. In was Aufwendigeres lass' ich mich nicht stecken, 32 darfst mir glauben. Ihr Leute hier in den Sümpfen seid ja richtiggehend putzsüchtig,« Der junge Herzog widersetzte sich dem Seitenhieb nicht. »Es ist unser heißes südländisches Blut, was ihr kühlen Eisbären nicht versteht.« Er schien zu überlegen, während sie auf das Haupttor des Palastes zuhielten und die Wächter abschwenkten. »Blauer Mensch, mh? Das verschleierte Volk vom Rand der westlichen Wüste, 'ne hübsche Verkleidung ist das. Angeblich haben sie das Blau ja von den Wüsten des Todes, da sie als erste nach dem >Tod< diese Gebiete wiederbetreten haben. Angeblich können sie das Feuer des >Todes< im eignen Leib entdecken und somit die Stellen meiden, die noch gefährlich sind.« Während Hiero den Gruß der Wachen erwiderte und Klootz zum Schritt durchparierte, überlegte er, daß es keinen Sinn hätte, seinem Gefährten zu erklären, daß auch er durch die gleiche Methode solche bedrohlichen Stellen ausfindig machen könne. Sachte tastete er sich in Amibales Denken vor, stellte jedoch fest, daß er so dicht wie er selbst abgeschirmt war. Höheren Adligen wurde in den Klosterschulen, die sie in der Jugend meist besuchten, die Technik dazu oft gelehrt, obgleich diese Praktik außer Gebrauch kam, weil die Kirche dafür keine Veranlassung mehr sah. Hiero verabschiedete sich von Amibale und vergaß ihn schnell, als er abstieg und in sein Quartier eilte, da ihn ein neuer Gedanke quälte. Keine Notwendigkeit für Geistes^ Schulung? Und dies zu einer Zeit, da die Unreinen unter Aufbietung aller Kräfte zum letzten Sturm anrannten? Die Fäulnis war tief, sehr tief vorgedrungen in Dalwah. Große Mühen wären erforderlich, sie wieder auszumerzen angesichts der Dummheit und des Aberglaubens, insbesondere wenn die geistigen Führer der Bösen an Ort und Stelle aktiv wären, wie er und Bruder Aldo es vermuteten. Der Metz-Priester kochte innerlich vor Zorn, als er zu seinen Gemächern gelangte, wobei sein Gesichtsausdruck den altgedienten Leibgardisten, der an der Tür Wache* stand, so verunsicherte, daß ihm der Gruß im Halse steckenblieb. 33 »Nun«, meinte seine Frau froh, »wir sind allein. Ich spürte eine finstere Wolke über die Treppe kommen; wenn ich dein Gesicht betrachte, weiß ich, wo sie ihren Ursprung hat. Was plagt den mächtigen Meister der Mysterien Metzlands diesmal?« Hiero rang sich ein Lächeln ab, als sie ihn küßte. »Nenn es die maligne Manifestation mörderisch maliziöser Motive in Verbindung ...» er schöpfte Atem »... mit dem wüsten Wahnsinn und der wütenden Wirrköpfigkeit eurer...« Eine schmale Hand legte sich über seine Lippen. »Ich weiß, was du meinst, ohne raten zu müssen. Die Dummheit der hiesigen Kirche, der moralische Verfall bei Klerus und Adel, die Blindheit gegenüber den Gegebenheiten und gegenüber dem Feind, der mitten unter uns gerückt ist. Alles richtig, stimmt's?« »Alles richtig. Und schlimmer. Aber ich will dich nicht mit so etwas belästigen an diesem Festtag. Es ist schon später Nachmittag. Ist das dein Ballkleid?« fragte er mit einem bewundernden Blick auf das halb durchsichtige, weiße Gewand, unter dem sie offenbar nichts mehr trug. »Idiot! Das ist ein Hausmantel! Von wegen Ballkleid! Wie könnt' ich mich nur auf so 'nen Bauernlümmel einlassen, der Lumpen nicht von einem ordentlichen Gewand unterscheiden kann?«
»Nun«, meinte Hiero, »du hast fast nicht mal solche getragen, als ich dir zum ersten Mal begegnet bin. Ein Blick auf die zarte Haut, wär's auch ungeziemend, und ich sagte zu Klootz: >Klootz, alter Knabewas braucht's da noch Kleider?< Frag ihn doch selber, wenn du mir nicht glaubst!« Er setzte sich in einen breiten Sessel, woraufhin sie kam und sich auf seinen Schoß niederließ. Nach einer Weile richtete sie sich mit ernster Miene auf. »Hast du neue Sorgen? Hast du irgend etwas rausgebracht?« »Nein.« Er stand auf, trat ans schmale Fenster und blickte über die Stadt hinaus, deren Lärm als verzerrtes Echo in ihre Turmgemächer drang. Schließlich gab er zur Antwort: 34 »Aber ich habe den Kopf eines Ungeheuers aus dem Fluß gesehen, der auf einem Pfahl steckte. Der alte Jabbrah von der Garde sagte, dergleichen gebe es seit ein paar Jahren häufiger und sie seien gefährlicher als früher. Könnte sein, daß die Unreinen dahinterstecken. Es gibt nichts, womit sie nicht auf die eine oder andere finstere Weise fertig würden. Aber darum geht's eigentlich nicht, im Moment wenigstens nicht. Was mich besorgt macht, ist das wachsende Gefühl, daß hier vor unsrer Nase etwas zugange ist. Zuerst war ich sogar gegenüber diesem äffischen Amibale mißtrauisch. Irgend etwas geht vor sich, aber so gut ich auch bin, ich kann es nicht entdecken.« »Liegt wohl viel an den Nerven, und dazu kommt noch, daß du so ein blödes Kostüm, wie du sagst, anziehn und dich den ganzen Abend vorzeigen mußt. Aber wenn du von hier wärst, würdest du gegenüber Amibale auch mißtrauisch sein. Er ist ein junger Balg, freilich auch der nächste in der Thronfolge nach mir, mußt du wissen. Mein Vater hat große Pläne mit ihm, falls er je ein bißchen erwachsener wird. Zum Glück gerät er nicht seiner Mutter nach. Der Vater Vetter Karimbale also war ein bißchen dumm. Aber Fuala puh!« »Was war denn mit ihr?« fragte Hiero, der noch hinab in die Straßen blickte, beiläufig. »Sie ist schon tot, nicht wahr? Ebenso wie der Vater, richtig?« »Mausetot«, sagte sie trocken. »Wurde von einem Liebhaber, einem von vielen, auf dem herzoglichen Ehebett erdolcht. Der Mörder wurde zwischen zwei wütende Hüpfer gespannt, bis es ihn in Teile zerriß. Lese majeste und dergleichen. Offengestanden war mein Vater froh. Sie kam nicht oft an den Hof. Zu viele Augen. Aber ich kann mich gut an sie erinnern. Weiß Gott, sie war sehr schön, hatte aber etwas durch und durch Schlechtes an sich. Sie hielt sich oft irgendwo im Wald auf, wenn sie daheim im Süden war, und nahm wochenlang Amibale mit ohne Geleit bis auf ein paar narbige Urwäldler, persönliche Sklaven ihrer Familie. Vielleicht war sie nur ein kleines Luder, ich jeden35 falls habe ihr ebensowenig getraut wie mein Vater. Er sagte immer, sie habe politische Ambitionen. Eigentlich regierte sie das Herzogtum, denn ihr dummer Mann tat, was sie sagte. Zuweilen ließ sie Sklaven grausam bestrafen. Nein, Fuala war nicht nett. Amibale kann froh sein, daß sie tot ist falls sie überhaupt tot ist.« »Du hast gerade gesagt, sie sei mausetot. Darf ich fragen, was ich von dieser Bemerkung halten soll?« Nun war es Lucare, die den Blick abwandte. Hiero nahm mit Belustigung zur Kenntnis, daß sie verlegen geworden war. »Nicht wenige haben sie für eine Hexe gehalten, und eine Hexe läßt sich natürlich nur auf besondere Weise töten.« Lucare sah ihm ins Gesicht. »Wenn du's unbedingt wissen willst, ich hab' bei ihrem Anblick 'ne Gänsehaut bekommen. Es gibt nicht viel, wovor ich mich fürchte, aber vor ihr hatte ich eine Mordsangst. Freilich ist sie tot, aber sie hatte eine so starke, böse Ausstrahlung, daß mir heute noch ganz anders wird. Karimbale ist einen Monat später gestorben. An einer Krankheit, wie man sagt«, fügte sie scheinbar zusammenhanglos hinzu. »Nun«, meinte Hiero beschwichtigend, »wir alle kennen ein paar Leute, die uns auf die Palme bringen. Apropos Palme, ich muß schnell die Garde besichtigen oder komme zu spät zur Audienz, was die südländische Handelsdelegation auf die Palme bringen wird, denn ich soll sie zusammen mit deinem Vater empfangen. Bis später also, wenn’s losgeht mit der Narretei.« Sie warf ihm ein Kissen nach, als er zur Tür hinausging.
Der Ball war tatsächlich ein prunkvolles, farbenprächtiges Schauspiel, wie Hiero es sich nicht hätte träumen lassen. Der Große Saal war hell von Kerzen und Pechpfannen erleuchtet und von tausend Düften erfüllt. Sein azurblaues, goldverbrämtes Kapuzengewand war nur ein Lumpen im Vergleich mit den meisten Kostümen. Der König ging in Purpur und Weiß, schwer mit glitzernden Juwelen behangen. 36 Lucare war in Smaragdgrün gewandet und trug als Schmuck nur den großen Reif der Baumfrauen am bloßen, dunklen Arm; eine grüne Larve zierte ihr hübsches Gesicht. Der Klerus der Universalkirche wohnte dem Ball im Prunkgewand bei, handelte es sich doch um einen Staatsakt, der seines Segens bedurfte. In reichgeschmückten Masken, bunt wie der Regenbogen, wiegte und drehte sich der Adel des Reiches zu den exotischen Klängen der südländischen Trommeln und Hörner. Die Damen waren nicht schöner geputzt als die Herren. Hiero hatte kaum Gelegenheit, sich mehr als einen allgemeinen Eindruck zu verschaffen. Er lehnte an einer Marmorsäule und betrachtete mit Verwunderung das bunte Treiben, als ein hoher Lakai ihn auf den Arm tippte. »Verzeihung, Hoheit, eine dringende Meldung. Ihr wollt bitte unverzüglich in die Halle kommen. Von Eurer Leibwache denk' ich.« Während er überlegte, was dies zu bedeuten habe, folgte er dem Mann, dessen Gesicht ihm irgendwie bekannt vorkam. Beim Verlassen des großen Ballsaals sandte er Lucare einen Gedanken. Sie befand sich mitten auf dem Parkett, wo sie sich pflichtbewußt irgendeinem wichtigen Dümmling widmete, dessen Familie großen Einfluß hatte. Eine Meldung von der Leibwache, Liebling, anscheinend dringend. Bin gleich wieder da. Es kam die scherzhafte, verliebte Antwort: Laß dir Zeit, aber brauch nicht zu lange, Liebling. Du mußt noch mit fünf dicken Damen tanzen, bevor du das Fest verlassen kannst die Ehre des ganzen Reiches steht auf dem Spiel! Kichernd folgte er dem Mann durch die Tür in ein kleines Nebengemach der Halle. Er war in Gedanken noch bei Lucare, als er plötzlich zu seiner Rechten eine rasche Bewegung bemerkte, hatte aber keine Zeit mehr zum Umdrehen. Es traf ihn auf den Schädel, und er verlor das Bewußtsein. 2 Allein Es dauerte lange, bis er wieder erwachte, wobei er verschiedene Eindrücke bekam Eindrücke, die aus der Wirklichkeit, wie er wußte, nicht aus Alpträumen stammten. Verschwommene Gesichter tauchten in seinem Blickfeld auf. Er sah das Gesicht von Joseato, der zu ihm herabblickte, während er gefesselt auf einer Bank in einem tiefen Gewölbe des weitläufigen Palastes lag, einer düsteren Kammer, wie er durch den Schleier von Pein und pochendem Kopfschmerz gewahrte. Bald wurde aus dem Gesicht des abgehetzten Kirchenverwalters eine alte, kalte Fratze, aus der spöttische, siegessichere Augen funkelten. Hiero erkannte, daß er Joseatos Augen bisher noch nicht richtig betrachtet hatte und verfluchte sich insgeheim dafür. Aus dem vertrauten Gesicht glotzte der stiere Blick der Unreinen! Hiero wand sich verzweifelt in den Fesseln, die ihn hielten. Dabei bemerkte er ein zweites Gesicht, woraufhin ihm der Schreck die Glieder lähmte. Es war das Gesicht von Amibale Aeo, dessen junge Augen genauso böse funkelten, wobei noch etwas hinzukam: Amibale wirkte ganz irre, irre und feindselig und abschätzig, wie's für die Unreinen typisch war. Erinnerungen wurden in Hiero wach. Sie war eine Hexe. Sie nahm ihn mit in den Urwald. Er spürte wieder einen Stich im Arm und sah, daß Joseato einen Glaskolben hielt, aus dessen Kappe eine blutige Nadel ragte. »Kaltmachen können wir ihn später«, wurde geflüstert. »Aber jetzt noch nicht. Die Prinzessin würd's wohl merken und sofort was unternehmen. Sie sind sich im Norden einig, daß er ihr Gedanken übermitteln kann. Aber wenn sie keinen Tod, sondern nur Stille fühlt, so gibt uns das Zeit. Sie sagen, das hier lähmt die Geisteskräfte, warnen uns aber, 38 auf der Hut zu sein; er ist anders und stark. Er muß sterben aber nicht hier nicht hier. Entfernung verringert die Gedankenverbindung. Nicht einmal er kann große Entfernungen
überbrücken noch nicht. Er muß unter Drogen bleiben. Dann wird er still sein bis zu seinem Tod. Verstanden?« »Klar.« Das bartlose Gesicht verzog sich zu einer Grimasse, während aus den jungen, glatten Zügen die Augen grausig funkelten. »Ich schaff ihn fort. Geh zum Ball zurück! Ich komme gleich nach. Unsre Abwesenheit darf nicht auffallen. Das hier überlaß mir. Eine meiner Karawanen bricht bei Morgengrauen gen Westen auf...« Dann wurde der Schmerz übermächtig, und Hiero sank in Bewußtlosigkeit. In den kommenden Stunden erwachte er in unregelmäßigen Abständen, bald fieberheiß, bald unnatürlich fröstelnd. Er lag, mit schmutzigen Tüchern gefesselt, in einem seltsamen Behältnis, das knarrte, schwankte und stank. Er fragte sich beiläufig, ob er auf einem Schiff fahre, aber das war ja wohl nicht wichtig. Er versuchte, eine kleine Gedankenverbindung aufzubauen, brach sein Bemühen aber rasch wieder ab, als nichts passierte; er ahnte unbewußt, daß er die Fähigkeit dazu verloren hatte. Wie ihm die körperliche Freiheit genommen worden war, so war auch die Kraft seiner Gedanken lahmgelegt. Gleichfalls fehlten ihm offenbar sein Zeit- und Orientierungssinn, so daß er nicht wußte, wie spät es war. Er erinnerte sich dunkel, mit einer scheußlichen Brühe gefüttert worden zu sein. Zwar ahnte er, unter Drogen zu stehen, hatte aber nicht die Kraft, sich zu widersetzen. In seinem komatösen Zustand schluckte er alles, was sie ihm gaben. Die sonderbaren, wilden Gesichter, die er zuweilen erspähte, bedeuteten ihm nicht mehr als jeder andere Bestandteil eines schier endlosen Alptraums. Manchmal war es offenbar hell, manchmal dunkel, was aber keine Rolle spielte. Mit einemmal ertönte ein gräßliches Gekreische, gefolgt von wildem, unartikuliertem Geschrei, zu dem sich Erschüt39 terungen und heftige Bewegungen gesellten. Seine Unterlage machte einen jähen Satz, woraufhin etwas Schweres auf ihn fiel. Die Stoffetzen, in die er gebunden war, zerrissen zum Teil bei den Zuckungen, die durch das schwere Ding über ihm gingen. Schmerz schoß durch seine Beine. Instinktiv stemmte er sich damit aus Leibeskräften ab, wobei ihm ein kleiner Adrenalinstoß half, so daß ihn die schwere Last nicht erdrückte. Da seine Augen bedeckt waren, konnte er nichts sehen. Seine Hände waren gebunden, aber er konnte sie befreien ... Befrei dich nicht! Lieg still! warnte seine innere Stimme. Jede Bewegung war' tödlich! Er vernahm rasche, flüchtige Laute, die sich anhörten wie rasselndes Metall und knarrendes Leder. Nahebei murmelte eine Stimme, der eine zweite von weiter entfernt antwortete. Er hörte Getrappel wie von rennenden Tieren; dann herrschte Stille. Noch lag er regungslos da, nur darauf bedacht, kein Geräusch zu machen. Ohne es zu merken, fiel er alsbald in tiefen Schlaf. Als er erwachte, war er ziemlich hungrig und durstig. Seine Beine waren offenbar frei, nicht aber die Hände, und auch die Augen waren noch verbunden. Freilich wär's ein Kinderspiel, selbst mit gefesselten Händen die Stoffstreifen von den Augen zu entfernen. Blinzelnd sah er sich um im grellen Tageslicht des Nachmittags. Er befand sich in einer Bodenmulde unter dichtem Gestrüpp. Etwas Großes drückte gegen sein Gesicht und ragte, jede Sicht verwehrend, hoch über ihn auf. Ein schon kräftiger Verwesungsgeruch ließ darauf schließen, daß es sich um einen Tierkadaver handelte, wie sich auch zeigte, war Hiero mit Lederriemen in Tücher aus Leinen gebunden. Hiero blieb eine Weile still liegen und lauschte. Eine leichte Brise strich durch das Gebüsch über ihm, aber daneben vernahm er noch ein unregelmäßiges Schnattern und Gackern, das manchmal zu einem gellenden Quaken wurde und wieder verstummte. Es fiel ihm nicht schwer, dahin40 ter das Gekreische von Aasvögeln zu vermuten; hier mußte also der Tod gewütet haben. Seine Gedanken wurden rasch klarer. Er untersuchte seine Hände. Sie waren nicht mit Ketten oder Lederriemen gefesselt, wie er befürchtet hatte, sondern lediglich mit Leinenstreifen. Offensichtlich hatten seine Entführer nicht mit der Möglichkeit einer Befreiung gerechnet. Es war einfach, die Hände freizubekommen. Daraufhin zog er sich an dem Tier, unter dem er Schutz gefunden hatte, empor.
Fünf tote Kaws, das übliche Trag- und Zugtier in Dalwah und im tiefen Süden, lagen auf einer kleinen Lichtung. Hiero spähte über den Kadaver eines sechsten, für dessen Tod der abgebrochene Schaft eines Pfeiles, der einen Fingerbreit neben dem Gesicht steckte, eine hinlängliche Erklärung lieferte. Vier splitternackte Männer lagen mit zusammengekrümmten Leibern beim toten Vieh. Alles war geraubt und geplündert worden bis auf das zerbeulte Blech an Hieros Reittier seinem Harnisch, wie's schien. Offenbar war Hiero in einer einfachen Sänfte aus Leder und Leinen auf dem breiten Tierrücken befördert worden. Eine Schar schmächtiger, schwarzer Geier mit tranigen, nackten Köpfen zupften das Fleisch von den Leichen. Sie blickten wachsam auf, als Hieros Kopf erschien, und flatterten ins nahe Gebüsch. Sonst regte sich nichts; der einzige Laut war das dumpfe Geschnatter der Aasvögel. Unter Aufbietung aller Kräfte schüttelte Hiero seine Benommenheit vollends ab und überlegte, was hier wohl passiert sei. Die vier Männer und vielleicht noch ein paar mehr hatten ihn fortschaffen wollen und waren neben den Lasttieren gegangen. Bei Dämmerung oder Nacht hatten ihnen Wegelagerer aufgelauert. Hieros Tier war auf der Stelle tot gewesen, aber zum Glück nicht mit seinem vollen Gewicht auf ihn gefallen. Die Wegelagerer hatten ihn bei ihrer hastigen Suche nach Beute übersehen, weil er unter den Trümmern der Sänfte und dem Kaw begraben gelegen hatte. Um nicht entdeckt und verfolgt zu werden, waren die Räuber flugs 41 abgezogen, nachdem sie alles, was sie finden und verwenden konnten, mitgenommen hatten. Hiero, dessen Beine noch genauso taub waren wie sein Verstand, stolperte in die Mitte der Lichtung. Das Krächzen der Vögel war lauter geworden, aber sie flogen nicht davon, als er den Schauplatz aus nächster Nähe besichtigte. Die Toten waren ihm unbekannt. Was er sah, behagte ihm nicht, insbesondere da er nun sicher sein konnte, daß es sich um seine ehemaligen Entführer oder Bewacher handelte. Auch wenn man ihren qualvollen Tod berücksichtigte, so waren sie doch unerhört bleich, die kleinwüchsigen Leichen. Bleich waren auch ihre Haare, und sie hatten rasierte Gesichter, schmale Augen und hervorstehende Kinnbacken. Irgendwie erweckten sie den Anschein lichtscheuer Geschöpfe. Hiero fragte sich, was für Leute sie seien und wohin sie ihn gebracht hätten. Während er das Dornengestrüpp, das ihn umgab, im schwindenden Licht der Nachmittagssonne beobachtete, rang er darum, seine schlummernden Gedanken wiederzuerlangen, obschon sich ihm noch alles drehte. Allmählich fing er an, nach irgend etwas zu suchen, das ihm nützlich sein könnte. Keine Waffen lagen umher, obgleich der Angriff wohl kaum ohne Kriegsgerät vonstatten' gegangen war. Überhaupt nichts lag umher bis auf die Leichen. Die Räuber, die ihn freilich übersehen hatten, hatten ganze Arbeit geleistet. Sogar die Pfeile hatte man wieder mitgenommen bis auf den Stumpf in seinem Kaw. So fand er weder etwas Brauchbares noch Hinweise über seine Entführer oder deren Mörder. Abgesehen von den getragenen Ledersandalen, die er beim Erwachen anhatte, besaß er absolut nichts. Er machte sich gerade daran, die Spuren, mit denen die Lichtung übersät war, zu erforschen, wobei er nur verwischte Abdrücke von Stiefeln und von wenigen Kaws entdeckte, als die Aasvögel verstummten und aus dem Gebüsch aufflatterten. Aus großer Ferne erklang von Osten das schwache Hornsignal eines Suchtrupps. 42 Hiero erstarrte vor Schreck. Die Vögel hatten sich tief über dem Dornengestrüpp gehalten und waren nicht als Schar hoch aufgestiegen, worüber er froh war. Er wußte nicht, wer dieses Hörn geblasen hatte, aber diese Öde barg, was ihn betraf, nichts als Feinde. Und ihnen waren die aufsteigenden Vögel vielleicht aufgefallen. Abermals ertönte das Hörn zu seinem einsamen Ruf. Nun wurde er aus Norden und Süden erwidert, aber beide Signale waren weit entfernt und noch ein gutes Stück östlich von seiner Position. Insgesamt waren es mindestens vier Hörner, die den Standort und Vormarsch signalisierten. Die Gegend wurde in weitem Bogen abgesucht. Wem sonst als ihm konnte die
Suche gelten? Ohne lange zu überlegen bückte sich der Metz, von mühsam antrainierten Reflexen geleitet, und hob einen stachligen Zweig mit dürrem Laub auf. Flugs verwischte er alle Spuren seiner Füße in der trockenen Erde. Dann eilte er westwärts, wobei er, soweit möglich, auf kiesigem Gelände lief; andernfalls verwischte er seine Spuren sorgfältig. Er lief schätzungsweise eine halbe Stunde und achtete darauf, die eingeschlagene Richtung beizubehalten. Hinter ihm ertönten nach wie vor die Hörner. Die Entfernung schien noch die gleiche wie beim ersten Signal zu sein, woraus er schloß, daß die Verfolger mit ungefähr gleicher Geschwindigkeit vorankamen. Die Sonne vor ihm ging nun rasch unter und zeigte ihm, daß das Gestrüpp sich lichtete. Es gab mehr sandige, kiesige Stellen, und bald verschwanden das Gebüsch und das spärliche, rauhe Gras fast ganz. Die Farbe des Bodens war von Braungelb in ein bläuliches Grau umgeschlagen. Später veränderte sich das Hornsignal. Wenigstens zwei Bläser riefen mit schnellen, kurzen Läufen zum Sammeln. Hiero schloß daraus, daß sie auf die Toten gestoßen seien. Eisern marschierte er weiter. Wie qualvoll war der Gedanke, daß es sich vielleicht um Freunde handelte, die Lucare geschickt hätte, aber die Chance war zu gering; er hatte keine Ahnung, wo er war oder wie weit man ihn seit seiner Ent43 führung verschleppt hatte, wußte aber, daß er ein gutes Stück Weges zurückgelegt hatte. Wenn das stimmte, bedeuteten der bläuliche Boden und das Fehlen aller Vegetation, daß neue, unbekannte Gefahren seiner harrten. Daß nur mehr vereinzelt Büsche standen, so etwas hatte er schon im hohen Norden erlebt. Es bedeutete, daß er sich einer Wüste näherte. In diesem Breitengrad von Dalwah war auf den Karten nur eine Wüste verzeichnet eine Todeswüste. Es dauerte nicht lange, bis Hiero wußte, daß er recht hatte. Das Gebüsch hörte vollends auf; vor ihm erstreckte sich bis zum westlichen Horizont kieselhaltiger Sand, von dem ein bläuliches Glimmen ausging. Hinter sich hörte er wieder die Hörner der Suchtrupps in alter Weise. Hiero blieb keine andere Wahl. Ohne Wasser und Nahrung und Waffen brach er in die Wüste auf, um nicht in die Hände seiner Verfolger zu fallen. Alles wäre besser als die jüngste Gefangenschaft. Als die Nacht hereinbrach, verstummten die Hörner. Aber Hiero schleppte sich unverzagt weiter gen Westen. Inzwischen war sein Tempo langsam und unregelmäßig, und zuweilen strauchelte er. Einmal fiel er auf die Knie. Das Aufstehen forderte ihm am meisten Kraft ab. Er humpelte durch eine flache Senke und gelangte zu einem felsigen Stück, worauf es sich leichter gehen ließ als auf dem Sand. Hier legte er keuchend eine Atempause ein. Er lutschte an einem kleinen Kieselstein; das war besser als gar nichts, aber er brauchte dringend Wasser. Sein gestählter Körper konnte ohne Nahrung auskommen, nicht aber auf Wasser verzichten. Er hob den Blick und ließ ihn über die öde Landschaft gleiten, die sich im Schein des Halbmonds offenbarte. Breite Sandfelder lagen im Süden, so weit sein Auge reichte. Im Osten strebte der Sand dem Horizont zu; Sand fand sich auch im Norden, durchsetzt von Kies- und Steinfeldern. Aber im Westen zeichneten sich schwarze Giebel vom Sternenhimmel ab vielleicht die Gipfel einer Bergkette oder der zackige Grat eines Kliffs. 44 Mit letzter Kraft raffte er sich hoch. Wenn er irgendwo Zuflucht fände, so in diesen Felsen. Dort gäb's vielleicht Höhlen oder wenigstens Nischen, die ihm vor der Hitze des kommenden Tages Schutz bieten könnten. Dort gäb's vielleicht Wasser und Nahrung, wenn er nur ordentlich suchte. Als er sich zum Weitergehen überwand, vernahm er aus südlicher Richtung ein schwaches, fernes Geräusch. Er lauschte angestrengt und versuchte zum hundertsten Mal, mit der Kraft seines Geistes einen Gedanken auf die Suche zu schicken, wie er's sich im vergangenen Jahr mühsam beigebracht hatte. Sein ganzer Leib spannte sich an, als er mit schier körperlicher Anstrengung die Nacht erforschte. Schließlich ließ er mit einem stummen Fluch wieder davon ab. Was immer man ihm auch angetan hatte, es schien eine bleibende
Wirkung zu haben. Er war blind im Gebrauch seiner Geisteskräfte. Irgendwie hatte man ihm mit Hilfe der Drogen seine Gaben gestohlen, so daß er in dieser Wüste ohne physische und mentale Waffen völlig hilflos war. Er fluchte abermals und tadelte sich dann dafür. Flüchtig zeichnete er ein Kreuzzeichen auf die nackte Brust und murmelte ein kurzes Reuegebet. Er hatte vergessen, daß er Priester war und als Priester Gott für alle Gnaden danken müsse auch die Gnade, überhaupt noch am Leben zu seih, zum Beispiel! Mit langsamen, gleichmäßigen Schritten brach er zu den fernen Bergen auf und kümmerte sich nicht um seine Müdigkeit und den quälenden Durst, der ihm immer schwerer zu schaffen machte. Während des Marsches lauschte er angestrengt. Bis auf das Scharren und Kratzen seiner Ledersandalen brach kein Laut die Stille, dennoch ließ er sich nicht zur Achtlosigkeit verleiten. Seine Gabe, die Gedanken anderer Lebewesen zu erforschen, war vielleicht verlorengegangen; aber einige der in ihm schlummernden Synapsen, die ihn schon so lange beschützt hatten, regten und rührten sich noch, wenn auch zaghaft und ungewiß. Es lag etwas Böses in dieser Nacht! Er wußte es, als stünde es in großen Lettern in den Sand geschrieben. Jemand oder etwas war 45 auf der Pirsch, also mußte er sich, da er keinerlei Waffen besaß, um sich zu wehren, einen Unterschlupf suchen oder beim Versuch sterben. Er zwang sich zum Weiter gehen, indem er sich nur darauf konzentrierte, einen Fuß vor den andern zu setzen. Hinsichtlich seiner mißlichen Lage machte er sich nichts vor. Er befand sich an einem tückischen Ort, von dem nur wenige der mutigen Reisenden, die sich zu ihm vorgewagt hatten, zurückgekehrt waren einer Todeswüste. Vor Jahrtausenden hatten hier die Höllenfeuer des Atoms gewütet. An den schlimmsten Stellen glimmte noch der fahle Schein absolut tödlicher Strahlung. Freilich handelte es sich hier nicht um eine dermaßen verseuchte Gegend. Wie alle Metz des hohen Nordens konnte Hiero von Natur aus Strahlungen aufspüren und eine gewisse Menge davon vertragen. Er hatte hier ein ödes Stück Land vor sich, dessen tödliche Gammastrahlung sich längst mehr oder weniger erschöpft hatte. Das bedeutete keine Minderung der Gefahr; vielleicht war ihm nur eine Gnadenfrist eingeräumt. Obzwar keine blauen Irrlichter über den Sand und das Geröllfeld huschten, gab es in dieser Gegend weder Wasser noch Leben. Es wuchsen keine Pflanzen, nicht einmal Flechten, wenigstens nicht in dem Stück, das er seit der Abenddämmerung hinter sich gebracht hatte. Dennoch hatte die schwindende Radioaktivität ganz eigene Spuren hinterlassen. Seltsame Lebensformen waren aus grausigen Mutationen hervorgegangen. Es gab sie überall auf der Welt, aber in diesen Wüsten war es angeblich zu besonders seltsamen Auswüchsen gekommen. Mochte die Landschaft im fahlen Licht auch unbelebt erscheinen, so gab es doch Leben von verschiedener Form. Trotz des Verlustes seiner geistigen Kräfte spürte er das. Die Bedrohung, die er witterte, wogte durch seinen brummenden Schädel. Gequält kämpfte er sich weiter, den Blick auf die dunkeln Felsentürme geheftet, die im Westen seiner harrten. Wieder rastete er, um zu verschnaufen, sank aber nur auf ein Knie nieder, weil er befürchtete, nicht mehr die Kraft 46 zum Aufstehen zu finden, falls er sich hinhockte. Und abermals vernahm er jenes Geräusch aus südlicher Richtung. Diesmal war es ein klarer, seltsam hoher, vibrierender Laut wie das Blöken eines Schafes in unvorstellbar kreischenden Tönen. Der Priester und Vollkämpfer, Soldat und Waldläufer, der Hiero war, spürte einen eisigen Finger entlang seines Rückgrats streichen. Was immer diesen Laut von sich gab, er wollte seinem Urheber keinesfalls über den Weg laufen. Abermals bekreuzigte er sich, stand auf und zog weiter westwärts. Er war in allen Gliedern taub vor Erschöpfung, schleppte sich aber dennoch weiter. Der Schrei stammte sicherlich von einem Raubtier, das seiner Spur folgte. Wie es angelockt worden war und seine Spur aufgenommen hatte, das wußte er nicht, aber daß es ihm folgte, dessen war er sich sicher. Matt kämpfte er sich voran. Als er wieder aufblickte, sah er die Felsen vor sich aufragen. Zu beiden Seiten erhoben sich die Hänge und Felsen aus dem Sand, der in all den mühsamen Stunden sein einziger Begleiter gewesen war. Er bemerkte in einem Felsspalt links von sich
ein stachliges Gebilde, das er für eine Art Pflanze hielt, ein sonderbares, unangenehmes Gewächs freilich. Vielleicht fände er hier doch noch Wasser, wenn er nur gründlich suchte. Weiter und immer weiter ging er, während die letzte Feuchtigkeit in seinem Körper ihn mit einer knisternden Schicht aus Sand und Schweiß überzog. Hinter ihm ertönte wiederum der grausige Schrei unter dem weiten Himmel, viel lauter als beim letzten Mal, fremdartig und unheilvoll in jenem unerhört hohen Ton ausklingend, der in jeder Faser seines Körpers schier schmerzte. Diesmal legte er keine Rast ein, sondern schleppte sich mit letzter Kraft voran über das ansteigende Gelände vor sich. Wenn die Nacht stockfinster gewesen wäre, so wäre er recht hilflos gewesen, weil er sich langsam hätte vorantasten müssen. Aber der Halbmond offenbarte ein kleines Tal, das sich ins Gelände schnitt und hinauf zu den höheren Felsen führte eine schwarze, bedrohliche Schlucht, die ihm nun 47 wie ein Hafen der Zuflucht vorkam. Wenn er nur durchhalten könnte, bis er in den Bergen wäre! Als er die Klamm erreichte, nahm er alle Kraft zusammen und wankte hinein. Der Mond schien nur stellenweise in das Tal, aber es war hell genug zum Sehen. Der Schieferboden unter seinen Sandalen war brüchig und trügerisch, dennoch kam er einigermaßen gut voran, während er an den Seiten nach einer bergenden Höhle oder einem anderen Versteck Ausschau hielt. Obgleich er hinter sich nichts mehr hörte, ließ er sich nicht täuschen. Was immer ihm folgte, es war ihm dicht auf den Fersen. Wenn er sich nicht bald an einen sicheren Ort flüchten könnte, wär's um ihn schlecht bestellt. Einen Augenblick lang erfüllte sein Denken ein Gesicht, ein hübsches Frauengesicht, dunkel und geheimnisvoll, umrahmt von braunen Locken, mit vollen, sinnlichen Lippen und dunklen, strahlenden Augen. Lucare! Sollte er hier allein und verlassen sterben, ohne sie je wieder lächeln zu sehen? Verzweifelt tapste er durch die enger werdende Schlucht, während er mit geschultem Soldatenblick nach einer Stelle suchte, die ihm wenigstens Deckung und einen Vorteil im drohenden Kampf verschaffen würde. Doch kein Spalt, keine Nische fand sich in den Seitenwänden der Klamm, die immer näher zusammenrückten und schließlich nur mehr wenige Meter auseinanderstanden. Entmutigt blickte er auf; dann sah er es. Ein kurzes Stück voraus machte die ansteigende Schlucht einen Knick nach links. An dieser Stelle ragte aus der südlichen Seitenwand ein turmartiger Vorsprung mit einer schmalen, flachen Kuppe. Aber die Seite dieser aufschießenden Säule war bröcklig und zerklüftet! Einem geübten Bergsteiger freilieb hätte das keine große Schwierigkeit bereitet. So müde Hiero auch war, er spürte, wie neue Kraft in seine Glieder strömte. Bald war er am Fuße des Spitzfelsen angelangt und hatte sich daran gemacht, ihn zu besteigen, wobei er auf dem Weg nach oben Hände und Füße schnell und sicher ansetzte. 48 Da der brüchige Felsenturm nur gut fünfmal so hoch war wie Hiero selbst, war er rasch oben angekommen. Keuchend zog er sich über den Rand auf die mehr oder weniger flache Kuppe und blickte hinab. Aber er gönnte sich keine Sekunde Rast. Er wußte nicht, was ihm folgte und wozu es imstande wäre, ahnte aber, daß es ihm dicht auf den Fersen war. Könnte es klettern, wäre seine neue Zuflucht eine mörderische Falle. Sein Blick strich über das schmale Dach des bröckligen Monolithen, wobei seine Augen grimmig funkelten. In Armeslänge lagen mehrere Felsstücke umher, die Witterung und Erosion längst herausgelöst hatten. So leise es ging, rückte er die zwei größten mit letzter Kraft dicht an seine Brust, wobei er sich zwingen mußte, vor Anstrengung nicht grunzend zu schnauben. Dann versuchte er sich zu entspannen, während er unentwegt hinab in die schwarze Schlucht spähte und nach dem Verfolger Ausschau hielt. Da er ahnte, daß es gleich unangenehm würde, war er" froh um jede Sekunde, die ihm zum Verschnaufen blieb. Und dann hörte er es. Zunächst drang bloß ein gedämpfter Laut aus der stillen Nacht an seine Ohren, der Laut einer schwerfälligen Bewegung, der sich bald mehrmals wiederholte. Er lauschte den plumpen Tritten irgendeines Kolosses, der sich über den gleichen Weg näherte, den er gerade gekommen war eines Kolosses, der freilich so unauffällig wie möglich anschlich, um sein Opfer blitzartig zu überraschen. Hieros Augen funkelten zornig.
Wenigstens würde er nicht überrumpelt werden. Der Verfolger bekäme zu spüren, daß ein Vollkämpfer aus Metz sich nicht wie ein gejagtes Reh durchs Gelände hetzen ließ. Nach Tagen der Hilflosigkeit endlich eine Chance, sich zu wehren! Immer näher kamen die Laute. Einmal hörte er ein leichtes Poltern auf dem Schieferton, als wäre etwas Schweres auf einen Haufen lockerer Steine getreten. Nun vernahm er ein Atmen, ein heiseres, rauhes Schnauben. Und dann kam es um die Ecke. Mochte Hiero auch schon allerlei wunderliche Schlachten 49 geschlagen haben und an die monströsen Lebensformen, die der »Tod« hervorgebracht hatte, gewöhnt sein, so hielt er doch die Luft an, als er sah, was aus diesem südlichen Ödland auferstanden war, um ihm an den Kragen zu gehn. Im fahlen, Ungewissen Schein des Mondes erschienen gewichtige Massen von einer sonderbar blauen Farbe, als hätten die blauen, giftigen Feuer der großen Wüste ihr grausiges Erbe in der Farbe dieses ihres Sprosses hinterlassen. Der mächtige, ungeschweifte Leib in der Größe des längst ausgestorbenen Pferdes wurde von vier stämmigen Beinen getragen, die in dreizehigen Hufen, wahren Klauen, endeten. Am langen, blau gescheckten Hals entwuchs der gleichfalls pferdeähnliche Kopf, aus dessen wulstigen Lippen allerdings tückische Fangzähne ragten. Und am großen Schädel, dem Ohren fehlten, standen zwei nadelspitze Hörner. Am gräßlichsten allerdings und das unterschied das Ungetüm von allen normalen Lebewesen waren seine Augen. Sie saßen tief und funkelten feurig, hatten aber keine Pupillen. Und der Mann, der auf der Felskuppe kauerte, wußte, was er vor sich hatte. Es war der Todeshirsch, worüber er in den alten Schriften Dalwahs gelesen hatte. In grauer Vorzeit waren diese Ungetüme im Süden weit verbreitet gewesen und im Rudel über die verstreut lebenden Menschen hergefallen. Sie kamen aus ihrem Unterschlupf in den Wüsten und rissen alle Warmblüter, die sie erbeuten konnten, so daß sie die an die Wüsten angrenzenden Landstriche entvölkerten, bis die wenigen Stämme, die dort beheimatet waren, in ihrer Verzweiflung fluchtartig die Gegend verließen. Seit Menschengedenken indes war kein Todeshirsch mehr gesehen worden; es rankten sich allerlei Legenden um ihn, der nur mehr im Hirn der Menschen fortlebte. Als Hiero das geifernde Maul sah, wußte er, daß dieses Gebiß, von welchem vorzeitlichen Tier es auch abstammen mochte, kaum zum Äsen gedacht war. Diese Kiefer wenn auch nicht viel kleiner als bei Klootz dienten zum Reißen und Beißen von Fleisch, zum Bersten von Knochen und Zer50 mahlen von Sehnen, um den gierigen Raubtiermagen zu sättigen. Hieros Gedanken überschlugen sich beim greulichen Anblick dieser leibhaftigen Erscheinung aus der finsteren Vorzeit. Während er es von oben betrachtete, hob es den Kopf und entdeckte ihn. Abermals schallte sein grimmiger, klagender Ruf durch die stille Nacht, diesmal nur so laut, daß ihm das ohrenbetäubende Getöse schier die Sinne raubte, als es von den Felswänden widerhallte. Hiero drückte die Augen zu, als dieses abscheuliche Geschrei ihm durch Mark und Bein fuhr. Als das Echo davon verklungen war, schlug er die Augen wieder auf. Gerade in diesem Moment setzte der Wüstenteufel zum Sprung an und riß das Maul auf, daß Hiero sowohl die Hauer als auch die Reißzähne an den Ecken sehen konnte. Dann sprang er. Obgleich darauf vorbereitet, kam dieser Angriff für den Priester aus Metz überraschend. In den gewaltigen Hinterbeinen steckte eine Kraft, die er nicht vermutet hätte, und das monströse Raubtier kam mit diesem einen Satz fast bis an Hiero auf der Felskuppe heran. Einen gräßlichen Moment lang starrte er in die wäßrigen, glänzenden Augen des Ungetüms, kaum eine Schwertlänge von ihm entfernt, während sein stinkender Atem ihm als widriger Dunst entgegenschlug. Dann war es verschwunden, und Hiero hörte ein lautes Poltern, als es zurück zum Fuß des Felsen plumpste. Mit klopfendem Herzen spähte Hiero über den Rand des Monolithen, wobei er die leise Hoffnung hegte, die Ausgeburt hätte sich beim mächtigen Fall sämtliche Glieder gebrochen. In Wirklichkeit kauerte es unverletzt am Boden und funkelte ihn mordgierig an. Es brauchte schon eines himmelhohen Falles, um der Kreatur die Knochen zu brechen. Hiero besann
sich auf die alten Schriften, worin von der Unverletzbarkeit dieser Ungetüme die Rede war; sie könnten die schweren Balken wie Grashalme aus den Stadtmauern reißen, wurde da behauptet. Das Untier würde nie durch eigenes Versagen Schaden erleiden. Wenn Hiero 51 überleben wollte, mußte er zum Angriff übergehen, so hoffnungslos dieses Unterfangen auch schien. Wieder richtete das Monstrum sich auf, diesmal allerdings recht behäbig, bis die Vorderbeine mit den mächtigen Hufklauen ganz gestreckt waren. Die drei Krallen an jedem Fuß klammerten sich fest am Fels ja, bohrten sich ins Gestein, während die drahtigen Sehnen sich spannten, und zermahlten den Schiefer schnell und mühelos. Vor den Augen des entsetzten Hiero bröckelte die Felsspitze, auf die er sich geflüchtet hatte, allmählich ab. Auch die Hinterbeine höhlten scharrend das erodierte Gestein aus, wobei die grausigen Augen unverwandt zu ihm hochstarrten. Während Hiero zurückwich, drang das Untier empor. Vor seinen ungläubigen Augen drang diese Ausgeburt aus längst vergessenen Zeiten durchs Gestein. Trotz des beeindruckenden ersten Sprunges hätte Hiero ihr das nie zugetraut. Bald würden die Klauen sich höher strecken und über den Rand der Kuppe reichen. Und eine düstere Ahnung sagte ihm, daß dies sein Ende bedeuten würde! Die grausigen Augen ließen sein Blut gerinnen, als er sich auf den Fels duckte. Wie in einem Traum sah er die Krallen der rechten Vorderpranke zum letzten Schlag über den Felsrand stoßen. Flugs erhob er sich und stemmte den größeren der beiden Felsbrocken, die er für einen solchen Moment bereitgelegt hatte, hoch über den Kopf. Es war ein schwerer, scharfkantiger Stein, den er kaum zu heben vermochte. Das Monstrum sperrte das gewaltige, Fänge bewehrte Maul auf, als es abermals zu seinem markerschütternden Schrei ansetzte. Der Felsbrocken sauste mit aller Kraft, derer Hiero fähig war, nieder. Zwischen die geifernden Lefzen und die mörderischen Reißzähne fuhr er mit der Gewalt und dem Schwung einer Lawine und drang als Geschoß mit tödlicher Treffsicherheit und Wucht tief in den aufgerissenen Rachen. Es krachte, als wäre eine Riesenaxt in einen dicken Baumstamm gefahren. Ein grausiges Röcheln, vom zerfetzten Gewebe und sprudelnden Blut erstickt, gurgelte aus sei52 ner Kehle. Wieder wurde ein mächtiger Fall vernehmbar, zu dem sich das Scharren und Stoßen um sich schlagender Glieder gesellten. Dann trat Stille ein, und der erschöpfte Hiero spürte eine leichte Brise durch sein Haar streichen und das Leben in seinen Adern pulsieren. Mühsam krabbelte er wieder vor und spähte zum Fuß des Felsen hinab. Er sah alles verschwommen und wußte, daß ihm bald die Sinne schwinden würden, aber ein einziger Blick genügte. Der massige Leib, der schlaff dort unten lag, würde sich nie mehr bewegen. Der lange Hals zitterte noch in den letzten Todeszuckungen, und ein breiter, schwarzer Blutstrom quoll aus dem zerschmetterten Schädel, rann über den Boden der Schlucht und verlor sich in der Dunkelheit. Hieros mörderische Waffe hatte sich tief in den Schädel gebohrt und das entartete Hirn mit dem Sitz des zentralen Nervensystems zerfetzt. Dem Untier, das Widerstand von Seiten seiner Opfer nicht gewohnt war, waren der Mut der Verzweiflung und die Schwerkraft zum Verhängnis geworden. Hiero versuchte, ein Gebet zu sprechen, aber kam nicht weiter als bis zum Wort >GottTod< angerichtet hatte. Die Menschheit hatte, was immer sie sich auch hatte zuschulden kommen lassen, teuer für ihre Sünden bezahlt; das Feuer der Atome und die Geißel der Pest hatten einen unvorstellbar hohen Preis gefordert. Und das wollten die Unreinen wieder in Gang setzen! Hiero biß sich auf die Lippen und gelobte abermals, alles zu tun, was in seiner Macht stünde, um dieses Vorhaben zum Scheitern zu bringen. 78 Auch wenn es keine Menschen geben mochte, so wimmelte das Land geradezu von Tieren. Der Metz hätte dreimal täglich frische Beute erlegen können, wenn er gewollt hätte. Er hätte leicht selber zum Fraß der Tiere werden können, wenn er nicht ständig auf der Hut gewesen wäre. Antilopen verschiedener Arten zogen in starken Herden durch die Savanne, wovon einige Vertreter so groß waren, daß Hiero ihnen lieber aus dem Weg ging. Viele Rassen waren
offenbar gerade beim Kalben, so daß Hiero es nicht riskieren wollte, in den Hörnerwald der Kühe und patrouillierenden Böcke zu geraten. Er begegnete auch Rehen, die in Rudeln lebten, obwohl er in dieser Jahreszeit natürlich keine geweihtragenden Böcke zu sehen bekam. Daneben stieß er auf Tiere, die ihm völlig fremd waren. Manche waren winzig, andere aber so groß, daß er einen weiten Bogen um sie machte. Ein Riesentier erinnerte ihn an den Koloß, der vor Monaten während seiner Reise gen Süden sein Lager im Dschungel zertrampelt hatte. Ein mächtiger Rüssel ragte aus dem wuchtigen braunen Kopf, die Beine glichen Säulen, und das Maul war mit schweren, gebogenen Stoßzähnen bewehrt. An den Wasserläufen stieß er auf ein ähnliches Tier mit glatter Haut und langem Rüssel, das dem andern an Größe nicht nachstand, allerdings kürzere Beine hatte. Alle schienen sie mehr oder weniger Pflanzenfresser zu sein, wobei Hiero sich freilich vorsah, keins davon zu reizen oder zu stören. Einmal bemerkte er in der Ferne ein Rudel, das sich in mächtigen Sätzen vorwärtsbewegte, indem es mit den kräftig entwickelten Hinterläufen sprang. Sicherlich handelte es sich dabei um eine Art Hüpfer, vielleicht die Urform seines verlorenen Reittiers Segi. Traurig dachte er an Segi und Klootz, ließ aber bald von diesen Gedanken ab. Er konnte es nicht ertragen, an Lucare erinnert zu werden, und brauchte seine ganze Kraft und Entschlossenheit zum Weiter gehn, wußte er doch, daß er sich mit jedem Schritt mehr von seiner Geliebten und ihrem Vaterland entfernte. Inmitten dieser Abertausend Pflanzenfresser schlichen die 79 Fleischfresser herum. Immer wieder mußte Hiero sich auf den nächsten Baum flüchten und einmal sogar seinen Ast in der Krone verteidigen. Eine lohfarbene Großkatze nämlich folgte ihm mit einem einzigen gewandten Satz ins Geäst. Nur mit einem Schlag seines Steinschwertes, das sie am Schädel streifte, wurde er sie wieder los; halb betäubt und blutend fiel sie zum Fuß des Baumes, woraufhin sie fauchend davon hinkte und sich wohl eine leichtere Beute suchte. Freilich hatte er bei dieser Begegnung Glück gehabt. Manche Fleischfresser der Gegend hatten eine Statur, die ihm keine Chance gelassen hätte. Da gab es zum Beispiel eine Raubkatze mit Stutzschwanz und schwarz-gelb gestreiftem Rücken, vor der nur die allergrößten Tiere nichts zu fürchten hatten. Ihre riesigen Reißzähne reichten bis unters Kinn, und sie jagte offenbar mit Vorliebe an den Wasserläufen. Wie wurde Hiero doch vorsichtig, wenn es ans Trinken oder Füllen des Wasserbeutels ging. Daneben gab es Wölfe, die bis auf das hellere, rötlichere Fell denen seiner nordischen Heimat glichen, und eine Schar kleinerer, schakalähnlicher Räuber, die zum Glück wie die meisten anderen Räuber vorwiegend nachts auf Beutefang gingen. Dann freilich, wenn die Nacht von ihrem wilden Gekreische und Gebrüll widerhallte, saß Hiero in einer hohen Astgabel, die er sich beizeiten vor Sonnenuntergang als Zuflucht erwählt hatte. Natürlich hätte Hiero eine Rast einlegen können, um sich bessere Waffen zu bauen, als er jetzt besaß, aber er wollte keine Zeit verlieren. Irgendein Drang, der zunächst sehr schwach war, aber zusehends stärker wurde, trieb ihn vorwärts, so daß er nur innehielt, wenn es sein mußte. Er erlegte Tiere, die ihm über den Weg liefen, und machte nur Feuer, um ein Minimum an Fleisch zu räuchern. Er war etwas nach Süden abgefallen, tat dies aber, nachdem es ihm aufgefallen war, als belanglos ab. Ohne daß seine geschwächten Sinne es gemerkt hätten, hatte irgend etwas klammheimlich die Steuerung übernommen und lenkte seine Schritte. Freilich blieb es ohne Wirkung auf seine alltäglichen Verrichtungen und ließ ihn nicht unvorsichtig werden. Am sechsten Tag nach dem Aufbruch vom Fels, wo er die alte Asche entdeckt hatte, bestieg er einen Kamm, der höher als alle anderen lag. Er sah tief im Südwesten eine blaue Linie. Es könne sich nur um ein Gebirge handeln, folgerte er aufgeregt. Das waren die Berge, von denen er vor einer Woche geträumt hatte, obschon er sich weder an sie noch an den Traum selbst bewußt erinnerte. Wie wunderschön sie doch waren! Er müsse sie sehen, er müsse dorthin und über ihre Hänge und bewaldeten Höhen wandeln, dachte er. Dieser Wunsch, der sich nun in seinem Verstand einnistete, war für sein eigentliches Ziel nicht hinderlich. Daß er in Wahrheit von seinem westlichen und später nördlichen Kurs, den er vor wenigen Tagen festgelegt hatte, abwich, registrierte er in seinem bewußten Denken gar nicht. Geschickt
hatte der Fischer den Köder ausgelegt, und der Fisch schwamm, ohne es zu merken, munter darauf zu. Das nächste, was ihm auffiel, war etwas ganz anderes, eine rein praktische, nüchterne Feststellung: er wurde verfolgt! Mehrmals an diesem Tag hatte er das Gefühl, etwas sei ihm auf den Fersen. Als es wieder einmal später Nachmittag geworden war und die Sonne tief über dem weiten Land stand, war das Ding, wie er glaubte, immer noch hinter ihm her. Während der letzten Stunden war ihm zweimal aufgefallen, daß ein Stück hinter ihm Vögel aufgestiegen waren. Zwar hatte er nichts anderes Verdächtiges gehört oder gesehen, ahnte aber, daß es ihm was immer es sein mochte noch auf der Spur war. Mochten die Kräfte seines Geistes, die telepathischen Netze, auch erloschen sein, so hatte er doch nicht den geringsten Zweifel. Die Sinne und Instinkte eines alterfahrenen Jägers waren nicht stumpf geworden, so daß er den Verfolger gewahr wurde, wie ein Tier Gefahr wittert. Er fragte sich, ob es einer der großen Wölfe sei. Die Vertreter der Katzenfamilie spürten keinen Fährten nach; das 80 81 hatte sich seit dem Anbeginn der Zeiten nicht geändert. Aber es kämen viele andere Möglichkeiten in Frage. So rechnete er auch mit etwas völlig Unbekanntem, einer Kreatur, die er noch nie gesehen hätte. Die Wildnis des einstigen Nordamerikas barg allerlei seltsames Leben, wie er aus eigener Erfahrung nur allzu gut wußte. Dennoch war ihm die Sache schleierhaft. Was ihm folgte, bewegte sich anscheinend nicht gerade schnell; tatsächlich wurde das Gefühl, etwas sei in der Nähe, zuweilen ziemlich schwach in seinem Bewußtsein, als hätte das Ding von ihm gelassen oder gar kehrtgemacht. Dann meldete sich die Empfindung jedoch mit neuer Kraft, als hätte der Verfolger seine Spur wieder aufgenommen und machte den Rückstand wieder wett. Dieses Zaudern war nicht die Art eines Wolfes. Ob es sich um einen Menschen handelte? Hiero hatte keinen Rauch eines Feuers gesehen, aber vielleicht hatte der andre auch so selten und bescheiden Feuer gemacht. Hiero war sich darüber im klaren, daß er nichts anderes tun könnte, als noch vorsichtiger zu sein und sich unterwegs stets in der Nähe brauchbarer Bäume zu halten. Was oder wer immer ihm auch folgen mochte, käme irgendwann so dicht heran, daß Hiero einen Blick darauf tun könnte möglichst von sicherer Warte herab. Während er seine Reise zu den fernen Bergen im Südwesten fortsetzte, hielt er stets nach geeigneten Zufluchtsorten Ausschau. Die folgende Nacht verbrachte er in der Astgabel einer hohen Eiche, blieb aber viele Stunden wach und lauschte in die Dunkelheit hinaus. Freilich klang die Kakophonie der nächtlichen Savanne nicht viel anders als sonst. Das Gekreische und Gebrüll der Jäger und Gejagten unterschied sich kaum von den anderen Nächten. Einmal stapfte eine Gruppe der riesigen Rüsseltiere, die vermutlich zu einem Wasserloch zogen, dicht an seinem Baum vorbei, so daß Hiero sich sehr ruhig verhielt, während die massigen Körper vorüberwankten. Denn war sein Baum auch kräftig und hoch, so wollte er doch nicht erleben, wozu diese gigantischen 82 Schultern, falls gereizt, imstande wären. Bald war die Herde, deren dreifach mannsgroße Kälber in einem fort quieksten, vorbei. Eine ganze Weile später wurde Hiero von zornigem Trompeten geweckt, das die Erde erbeben ließ, ob schon es weit entfernt war. Er vermutete dahinter ein Raubtier, vielleicht einen großen Säbelzahntiger, der sich wohl an eines der Riesenkälber herangeschlichen hatte und nun von der Herde verjagt wurde. Im übrigen blieb die Nacht ereignislos, so daß Hiero schließlich in tiefen, ungestörten Schlaf fiel. Als der Morgen dämmerte, brach er wieder in Richtung Berge auf, wobei er einerseits nach Spuren seines Verfolgers spähte und andrerseits die vor ihm liegende Strecke im Auge behielt, um sich nicht zu weit von einem rettenden Baum oder Termitenhügel zu entfernen. Nicht selten höher als die umliegenden Gebüsche, zeigten sich die Insektenburgen nun immer öfter und boten rasche Zuflucht und hervorragende Aussicht. Auf einem solchen Bau bezog er gen Mittag Position, sowohl um zu rasten, als auch um sein kärgliches Mahl aus getrocknetem Fleisch und Beeren zu essen. Das Obst wuchs an den
niedrigeren Büschen und erwies sich oft als genießbar und wohlschmeckend. Mit einemmal flog zeternd und schimpfend nur wenige Meter hinter ihm auf dem Weg, den er gekommen war, eine Vogelschar auf. Während er vorsichtig das Fleisch ablegte, duckte er sich hinter den Rand des Termitenhügels und beobachtete die Stelle. Er rechnete fest damit, nun von seinem rätselhaften Verfolger eingeholt worden zu sein, und wollte diesen auf jeden Fall zu Gesicht bekommen. Hinter sich wußte Hiero eine hohe Baumgruppe, die er sich vorher ausgesucht hatte, sollte sich der von der Sonne gebackene Termitenhügel als unzulänglich erweisen. Es dauerte nicht lange, bis sich das Dickicht teilte. Etwas Wuchtiges zwängte sich langsam durchs Astgewirr. Hiero spannte alle Muskeln, zur blitzschnellen Flucht bereit. Die Masse, die sich heranschob, schien gigantisch. 83 Dann stach ihm etwas Helles, Blitzendes ins Auge, und schon stand es im freien Gelände. Ein freudiges und verdutztes Lächeln zugleich trat in Hieros Züge; am liebsten hätte er laut losgebrüllt. Es näherte sich dem Termitenbau, als suchte er dort die Geborgenheit seines wohligen Stalles, ein kolossaler Hüpfer. Er war mit dem Sattel seines Herrn versehen, dessen Steigbügel hochgeschnallt waren, um nicht lose herabzubaumeln. An seinem Harnisch hing allerlei Ausrüstung, ebenfalls sicher verzurrt. Segi war gekommen, seinen Herrn zu holen. Das stattliche Tier war nicht zu verwechseln. Hiero kannte seinen eigenen Harnisch. Obendrein trug es auf dem Rücken Hieros geliebten Speer, einst Teil von Klootz' Sattel im Norden, der so festgemacht war, daß sich die Spitze beim Gehen nicht im Geäst verfing. Hiero stand auf und glitt langsam den Termitenhaufen hinab, wobei er dem herantrottenden Hüpfer zurief. Segi legte leicht erstaunt ein Ohr zurück, wirkte aber weder beunruhigt noch geängstigt. Nachdem er Hiero lange beschnüffelt hatte, richtete er sich wieder zu voller Höhe auf, lehnte sich auf seinen mächtigen Schwanz zurück und warf stolze Blicke umher, als wollte er sagen: »Nun, ich hab' das Meine getan. Das übrige liegt an anderen.« Eine lange Zeit stand Hiero, von seinen Gefühlen überwältigt, vor seinem Hüpfer und begrub das Gesicht in seiner großen, braunen Flanke. Mit so was hätte er in dieser öden Wildnis nicht gerechnet! Er mußte sich eine Weile ganz schön zusammennehmen. Segi zuckte hin und wieder mit den langen Ohren, wenn Fliegen ihn belästigten, stand aber ansonsten zufrieden und geduldig vor seinem Herrn und harrte seiner neuen Wünsche. Schließlich gewann Hiero seine Fassung zurück, klopfte dem Hüpfer auf die breiten Flanken und machte sich daran, zu inspizieren, was er ihm mitgebracht hatte. Da war zunächst einmal der kurze Speer, eine Kopie der mittelalterlichen Spieße, wie sie im fernen, vergessenen Europa zur Sauhatz verwendet worden waren. Er löste die Verschnürung und legte den Speer griffbereit neben sich auf den Boden. Schon fand er das nächste Stück, ebenfalls am Sattel befestigt, und ihm hüpfte das Herz vor Freude. Dort hing in lederner Scheide die erlesenste seiner Waffen, das schreckliche Kurzschwert des Nordens, der altertümliche Säbel, den er zum Akademieabschluß in Metz erhalten hatte. Lang wie sein Unterarm, auf einer Seite gebogen, gerade und stumpf an der andern, schimmerte die Machete des einstigen Weltreichs mit seinem öligen Glanz in der Sonne. Das abgegriffene Rangabzeichen mit den verblichenen Buchstaben »U.S.A.« schien gleichsam ein Versprechen aus der Vergangenheit für künftige Siege. Nachdem Hiero sich das Schwert über die Schulter geschnallt hatte, so daß das Gewicht angenehm auf dem Rücken zu tragen war und das Heft griffbereit über der linken Schulter hing, fühlte er sich wieder komplett. Komplett mit Speer und Schwert ja, da war auch noch sein Dolch mit zweischneidiger 6-ZollKlinge und Hirschhorngriff. Schließlich stieß er auf einen breiten Ledergürtel und eine Lederschatulle, die zwar klein, aber schwer war. Würfelzeichen und Kristallkugel! Des weiteren entdeckte er zwei Päckchen Dörrfleisch, die gut verpackt waren für die lange Reise. Er hätte Freudentänze aufführen können, denn nun stand außer Frage, wer dies geschickt hatte! Wo war bloß ihre Nachricht? Seine tastenden Finger huschten über den Sattel, wie ein Eichhörnchen ein Häuflein Nüsse durchwühlt. Dabei fand er eine kleine Wasserflasche aus Leder, handlich genug, um sie obendrein auch zu Fuß mitführen zu können. Aber wo war bloß die verflixte Nachricht? Daß es sie gäbe, dessen war er sich gewiß.
Er zwang sich zum Innehalten und Nachdenken, während der geduldige Segi sich bückte und an seinem schwarzen Fell schnupperte. Gebrauch dein Hirn, Dummkopf! Angenommen, Segi war' was zugestoßen!1 Meinst du, sie würd' ihm die Nachricht ans rechte Ohr hängen, damit jeder auch Feinde s/e lesen könnte? Denk, wie sie für dich gedacht hat, Hornochse! 84 85 Schließlich fand er sie nach langwieriger Sucherei. Sie war in einem winzigen Päckchen aus feinem, gefettetem Leder verschnürt, kaum größer als sein Fingerknöchel, und steckte tief im hohlen Sattelknauf. Mit zitternden Händen wickelte er es auf und begann, den Brief zu lesen. Über ihm bebten zuweilen die Nüstern des Hüpfers, wenn der sanfte Wind verschiedene Gerüche herantrug. Freilich schien keine Witterung auf Gefahr hinzudeuten, so daß die mächtige Gestalt gelassen auf seinen gewaltigen Hinterläufen hocken blieb, während ihr Herr auf dem Stück Pergament immer wieder die Nachricht von seiner fernen Geliebten las. Geliebter, stand dort, ich weiß, Du bist nicht tot. Wo Du bist und was Dir widerfahren ist, das weiß ich nicht. Die Unreinen haben irgend etwas gemacht. Wenn Du nicht tot bist und ich Deinen Geist nicht erreichen kann, müssen die Unreinen dahinterstecken. Ich hätte Dir dies durch Klootz geschickt, aber er ist weg. Die Stallknechte sagen, er sei in jener Nacht toll geworden und habe schnaubend in seinem Stall getobt. Als man ihn beruhigen wollte, trat er die Stalltür ein, als wäre sie aus Stroh, und floh durch den Stallhof in die Nacht. Es wurde gemeldet, er habe in der Stunde vor Sonnenaufgang das nördliche Stadttor eingetreten. Seitdem ist er nicht mehr gesehen worden. Vielleicht folgt er Dir, also gib acht! Am Ende des Balls wurde ein Anschlag auf Danyale verübt. Der Attentäter hüllt sich nach wie vor in Schweigen. Der König ist verletzt, wird aber am Leben bleiben. Mein Vetter Amibale ist ebenso verschwunden; keiner weiß oder will sagen, wo er geblieben ist. Auch vom Priester Joseato fehlt jede Spur. Der Hohepriester sagt, er wisse nichts. Die Truppen sind allem Anschein nach loyal, und Mitrash ist bei mir. Er läßt ausrichten, daß er Meldung erstattet hat. Gott stehe Dir bei, Liebster. Segi trägt meinen Auftrag in seinem einfachen Verstand. Falls er Dich finden kann, wird er Dich finden. Komm zu mir zurück! Der Brief war nur mit einem geschwungenen >L.< unterzeichnet. Hiero war froh, daß ihn nun bis auf Segi keiner sehen 87 konnte. Denn hat man schon einmal von einem Vollkämpfer aus Metz, der Elite der nordischen Waldläufer gehört, dem Tränen über das verschwitzte Gesicht kullern? Als er nach einer Weile wieder klar sehen konnte, erfaßte ihn Bewunderung für seine Liebste. Fast noch ein Kind doch was für eine Frau! Keinen Augenblick hatte sie den Kopf verloren. Hiero war nicht tot, also eine Nachricht überbringen. Klootz war weg, also den besten Ersatz hernehmen Segi nämlich, den ausgesuchten Hüpfer, der ihn schon kennengelernt und liebgewonnen hatte. Hiero schüttelte bewundernd den Kopf. Er wollte wetten, daß sie bereits die richtigen Befehle an die Truppen ausgegeben habe und sie und Danyale in Sicherheit und das Reich bestmöglich gegen alle Übergriffe gerüstet seien. Und das plötzliche Verschwinden des Herzog Amibale und des Priesters hatten sie argwöhnisch gemacht, auch das stand fest. Das würde es ihnen nicht gerade erleichtern, Lucare zu übertölpeln, selbst während der Abwesenheit ihres Gatten. Mitrash hat Meldung erstattet, nicht wahr? Ein guter Kerl. Die Meldung war sicherlich an die Bruderschaft des Elften Gebotes gegangen. Auch wenn Bruder Aldo und die Seinen weit weg waren, wüßten sie in diesem Augenblick vielleicht schon, was sich zugetragen habe, und holte zum Gegenschlag aus. Das erleichterte den Metz ungemein. Lucare und ihr Vater waren sicher, soweit man in diesen Tagen überhaupt sicher sein konnte, und das Königreich war gewarnt. Er hatte alle Hilfe erhalten, derer Lucare in dieser Lage fähig war, alles andere läge nun an ihm. Nur die Sache mit Klootz war ihm noch ein Rätsel. Wohin mochte es den Ellk verschlagen haben? Er klopfte Segi wieder und redete ihm gut zu. Der große Hüpfer hatte wahrlich Wunder vollbracht. Durch Sattel und Harnisch behindert, hatte er auf der Spur seines verschollenen Herrn Aberhundert Meilen zurückgelegt. Und obendrein sah er noch ganz passabel aus, als wäre er gut im Futter. Obwohl Hiero allerlei über das Können der Hüpfer erfahren hatte, war
er dennoch erstaunt. Auch Segi mußte die 88 grausige Wüste durchqueren und tagelang Wasser entbehren. Im Anschluß daran war er ohne Zaudern weitergezogen, war den Raubtieren ausgewichen, hatte sich hie und da ein Maulvoll Laub geschnappt und keine Pause gegönnt, bis er Hiero fand. Wie viele Menschen, überlegte Hiero, hätten so etwas getan, hätten sich aus reiner Freundschaft in eine unbekannte Wildnis gestürzt? Verdiene ich, verdient irgendein Mensch, so große Hingabe? In wenigen Sekunden war er auf den Termitenhügel gerannt, um seine Habseligkeiten zu holen. In Windeseile hatte er die Bügeltaschen abgelassen und war aufgesessen. Den Kopf hinter dem seines Tieres, ritt er den Hüpfer sachte in südwestlicher Richtung an. Ihre Köpfe ragten in die untergehende Sonne und zu jener fernen, blauen Linie. Die lockenden Berge hatten Hiero noch im Griff; gedankenlos trieb er sein wunderliches Reittier vorwärts, ohne zu ahnen, was ihn an den fernen Hängen erwartete. Finstre Gefahren, finstrer Rat In einem unterirdisch gelegenen Saal war eine Wand mit einem großen Schirm versehen. Blaue Glühbirnen in den bleichen Steinmauern warfen ihr fahles Licht auf die große Tafel aus poliertem schwarzen Marmor. Um die Tafel unter dem Schirm standen vier schwarze Stühle, deren Beine von schauerlich entstellten Figuren dargestellt wurden und deren breite Lehnen und Rücken mit allerlei seltsamen Arabesken und Ornamenten verziert waren. Vom Haupt der Tafel weggerückt, stand ein fünfter Stuhl, größer und reicher verziert als die übrigen. Er allein war unbesetzt. Auf den anderen vier Stühlen saßen oder kauerten vier graugewandete Männer. Wäre ein Fremdling in den Raum getreten, hätte er sie für Vierlinge ein und derselben Mutter gehalten, so ähnlich sahen die vier Sitzenden sich. Alle waren sie glatzköpfig oder hatten Gesicht und Schädel geschoren, daß kein Haar übriggeblieben war. Alle hatten sie eine elfenbeinfarbene Haut. Beim Anblick dieser Gesichter hätte ein Kind unwillkürlich aufgeschrien. Die Augen waren tot, ein grauer Schlund des Nichts, aus denen dennoch ein grausiges Licht leuchtete. Die Mienen waren ausdruckslos, wie versteinert, hatten grimmige und zugleich weiche Züge und wirkten zeitlos und zugleich mumienhaft alt. Nur das Zucken der gräßlichen Augenpaare, die zum Schirm und zurück in die Runde blickten, deuteten auf Leben hin so auch die ineinander verschlungenen Hände auf der glatten Tafel.' Die Gestalten betrachteten aufmerksam den Schirm, aber gelegentlich raunte der eine dem andern etwas zu oder machte flüchtige Notizen auf dem vor sich liegenden Schreibzeug. Der Große Rat der Unreinen, der sogenannten Erwählten Meister, tagte. Obschon die Gestalten bei flüchtiger Betrachtung einan90 der glichen, ließ sich bei genauerem Hinsehen der eine oder andere Unterschied erkennen. Jeder der Männer trug auf seiner grauen Brust ein aufgesticktes Zeichen aus glitzernden Metalldrähten, das jeweils eine andere Farbe aufwies; das erste war rot, das zweite gelb, das dritte blau und das letzte grün. Keine dieser Farben aber wirkte natürlich, da sie bald ölig schillerten, bald blaß und dunkel wurden. Jedenfalls wechselte der greuliche Farbglanz in einem fort. Beim Giftgrün des vierten Gesellen wär's am schlimmsten; es wirkte wie eine grausige Parodie auf das frische, helle Frühlingsgrün in der normalen Welt. Und der Zerstörung dieser Welt oder ihrer Neuordnung, wie sie's nannten hatten sich diese Ungetüme verschrieben. Ihre Zeichen estanden aus Spiralen und Ringen, die dermaßen wundersam verschlungen waren, daß Auge und Verstand dem Muster nicht folgen konnten, als reichten sie scheinbar in eine andere, schlimmere Dimension hinein. Der Schirm selbst war mit einem Gewirr feiner Metalldrähte überzogen, die gleich den Symbolen der Robenträger wahnsinnige Kurven und Winkel beschrieben und hin und her liefen in kühnen Formen, die sich von Augenblick zu Augenblick änderten. Ständig wand und drehte es sich zu neuen, eigentümlichen Figuren. Hie und da flackerten im Drahtgewirr winzige Lämpchen verschiedener Farben auf. Sollte es sich hierbei um Glühlämpchen handeln, so waren sie so seltsam wie der Hintergrund, denn auch sie bewegten sich in scheinbar sinnloser Zufälligkeit, wobei der Schein freilich trog. Denn es war offenkundig, daß die vier Männer das Schaubild versehen und lesen konnten, wie unsereins eine gedruckte Seite liest. Allerdings war das nur diesen und einem weiteren möglich, handelte es sich doch
um den Großen Schirm, in den alles Wissen und Andenken der Unreinen ebenso eingebettet war wie all ihre Pläne und Möglichkeiten der Zukunft. Es hätte ein normales Menschenleben gedauert, nur die Grundlagen zur Interpretation der allereinfachsten und zugänglichsten Geheimnisse zu erlernen. 91 Schließlich wandte sich der Träger des höllischen Grüns vom Schirm ab und musterte seine Ratskollegen nachdenklich. Genau wie der Blaugezeichnete auf irgendeine unerklärliche Weise am jüngsten wirkte, so schien der Grüngezeichnete am ältesten, obwohl sich nicht sagen ließ, warum dieser Eindruck entstand. »Ich spreche gemäß den Regeln des Großen Rates, vor dem kein Geist als verläßlich gelten und kein Gedanke mit unsren Ratschlüssen betraut werden darf.« Hierbei handelte es sich eindeutig um eine rezitierte Eröffnungsfloskel für die Sitzung. Der Redner sprach leise und zugleich schallend, tonlos und zugleich stimmhaft. Außerdem klang er kühl, schrill und gläsern wie knirschender Firn auf alten Gletschern. »Als Euer Ältester wende ich mich zuerst an den werten Sduna, den Ersten der Bruderschaft vom Blauen Zirkel. Ihm ist die Hauptlast der jüngsten Ereignisse zugefallen. Er und die Seinen haben viel von der Verantwortung dafür zu tragen. Dies sage ich nicht zum Tadel, sondern aus Gründen der Rechenschaftspflicht. Und ...«, fügte er hinzu, als Sduna achselzuckend auf seinem Stuhl hin und her rutschte, »aufgrund höherer Weisung.« Als die anderen erstaunt den Blick hoben, führte der Grüngezeichnete die Hand an die Stirn und verneigte sich vor dem großen, leeren Stuhl am Kopfende der Tafel. »Ja«, fuhr er fort, »es erreichte mich, den Ersten, in meiner südlichen Festung des Nachts über den Einen Kreis eine Botschaft. Der Unbekannte, dessen Namen man nicht ausspricht, der Nicht-Seiende, welcher aber war und sein wird, sandte mir eine Botschaft. Jeder von uns hätte sie empfangen können; warum abgesehen von Gründen des Alters ich sie empfing, weiß ich nicht, obwohl ich's mir denken könnte.« Er machte eine Pause. »Ich glaube, und ich habe unterwegs viel darüber nachgedacht, daß ich die Botschaft empfing, weil ich die weiteste Anreise hatte. Meine Meinung, und mehr ist es nicht, lautet: Während in der Außenwelt viele, viele Leben verstrichen sind, ist für uns Vier oder 92 unsre Lehrmeister und Vorgänger nur selten eine persönliche Zusammenkunft erforderlich gewesen. Nun freilich wird es Ernst, weshalb wohl einleuchtet, warum ich, der ich am weitesten entfernt lebe, beauftragt worden bin, uns zusammenzurufen. Der Namenlose, die Wahl der Wahl birgt viele Geheimnisse. Es mag andere Erklärungen geben, aber ich glaube, das genügt.« Er faltete die bleichen Hände im Schoß seiner Robe. »Möge der werte Sduna nun sprechen und uns seine Sicht der jüngsten Vergangenheit unterbreiten.« Der Meister des Blauen Zirkels verzog keine Miene. Obgleich er hier nicht auf einer Anklagebank saß, wurde er von den anderen kritisch beäugt und überprüft. Sie waren alle gleich, denn der Große Rat war ins Leben gerufen worden, um den ewigen Bruderkrieg zu beenden, der in der Vergangenheit die Pläne der Unreinen immer wieder vereitelt hatte. Waren sie auch gleich, so lag es doch nicht in ihrer Natur, einander vor Schmerz zu bewahren, zumal sie von Kindheit an zum Quälen abgerichtet waren. In die Schwierigkeiten der jüngsten Vergangenheit war jedoch Sduna viel mehr verwickelt gewesen als alle übrigen, weshalb sie ihn aufmerksam beobachteten. Nicht daß sie besonders feindselig waren, aber geringsten Zeichen von Schwäche, von Unentschlossenheit... Im übrigen war da noch der Namenlose, ihr unbekannter Herrscher, der seine Weisungen gegeben hatte. Ob die Weisungen mit den jüngsten Fehlern in Zusammenhang standen? Ob sie gar Befehle für den Fall nachlässiger Führerschaft enthielten? Falls dem Blauen Meister ein Schauder über den Rücken lief, so blieb dies zumindest dem Auge verborgen. Er begann: »Der Tod von Snerg aus dem Roten Zirkel war uns die erste Warnung dafür, daß etwas nicht stimme. Denn seine Leiche blieb lange unauffindbar, obwohl wir wußten, daß es ihn erwischt haben mußte; sein Selbstsucher bewegte sich ständig von uns weg. Wir setzten Getreue bloße Tiere auf die Spur. Auch sie wurden getötet. Das war die zweite Warnung, obschon der 94 Tod eines hohen Bruders sicherlich viel schwerwiegender ist.« Keiner sagte etwas, keiner
zuckte mit der Wimper bei dieser Klarstellung. Nicht der Blaue Zirkel war als erster berührt worden. »Dann zog die Kreatur oder Gruppe in den Palud, den großen Sumpf, den nicht einmal wir betreten. Dennoch riefen wir etwas, das dort seit unvordenklichen Zeiten haust, obgleich wir dieses uns recht rätselhafte Geschöpf fürchteten. Wir waren überzeugt, es könnte uns dienlich sein. Aber es wurde ebenfalls getötet.« Die gleichförmige Stimme hielt kurz inne. Eine weitere Klarstellung. »Nun machten wir uns allmählich wirkliche Sorgen. Der Eindringling hatte das Gebiet betreten, für das ich zuständig bin. Es war ihm gelungen, den Sumpf zu durchqueren an sich kein Kinderspiel, wie bekannt ist. Ich berechnete den Kurs, den er nähme, denn er hatte den Selbstsucher entdeckt und zerstört, so daß wir ihm nicht mehr folgen konnten. Und ich habe ihn, wie bekannt ist, gestellt. Man höre und staune! Was hatten wir denn da erwischt? Ein Priesterchen aus den verhaßten Abteien, von der sanften Religion des Altertums, von den Kreuzanbetern. Einen Vagabunden aus diesem Waldläuferpack, halb Soldat, halb Jäger, die sie für ihre blöden Missionen einsetzen. Begleitet wurde er von zwei Tieren und einem Sklavenmädchen, das er Menschenfressern sozusagen vom Tisch weggeschnappt hatte. Dieses Häuflein hatte den ganzen Norden erschüttert und uns angst und bange gemacht!« Er sah einen um den andern an, während er vor dem Weitersprechen offenbar seine Worte abwägte. »Und hier irrte ich, wie ich offen gestehe. Und sollte der Große Plan darunter gelitten haben, so nehme ich mein Teil der Verantwortung dafür auf meine Kappe. Denn ich konnte einfach nicht glauben, daß dieser höchst gewöhnliche Mensch, mochte er auch tapfer und klug die Gefahren der Wälder bestanden haben, sein konnte, was er war. Wie jeder, der sich mit der Sache befaßte, war ich überzeugt, daß die Abteien oder auch dieser Mensch allein in einer Toten Stadt der Vergangen95 heit ein Geheimnis gefunden hätte etwas, womit sich die Geisteskräfte mehren ließen, eine Maschine vielleicht, oder auch eine fremde Droge. Dieses Geheimnis wollten wir ihm auf Maroun, der Toten Insel, die keiner ohne unser Wollen je betreten hat, ganz gemütlich entlocken. Wir mißachteten die Flucht des Sklavenmädchens und der beiden Tiere völlig; sollen sie in der Öde umkommen, dachten wir. Unwichtig.« Sein elfenbeinener Schädel begann zu wackeln, als er den Kopf schüttelte. »Fehler über Fehler, Irrtum über Irrtum. Der Mann hatte angeborene, angezüchtete Fähigkeiten in seinem Kopf, wovon einige zusammen mit entsprechendem Training ihn hierher in diesen Saal geführt hätten, meine Brüder gleich uns selbst. Das war letztendlich unser größter Fehler zu übersehen, was für verblüffende Kräfte dieser angebliche Waldläufer, dieser Halbpriester, im Innersten seines Verstandes verborgen hielt!« Der Nachdruck, die Leidenschaft, die sich ansatzweise in den Schlußsatz eingeschlichen hatte, entlockte Slorn ein ungläubiges Zischeln, das er aber sogleich einstellte, als er den Gesichtsausdruck der Meister vom Roten und Gelben Zirkel gewahr wurde. Denn sie schienen voller Einmütigkeit. »Was dann geschah ist leider allzu gut bekannt«, führte Sduna weiter aus. »Er entwischte. Floh mitsamt seinen Waffen von der Toten Insel, wobei er noch einen Bruder tötete! Der Anführer meiner Heuler, ein dummer Primitivling, erahnte die Flucht auf einer Ebene, die uns verschlossen blieb; der zähe Kämpfer, langjährig von mir ausgebildet, ging ebenfalls drauf. Nun überlegt mal, Brüder, denkt scharf nach! Bis heute wissen wir noch nicht, wie oder durch welche Kraft dies bewerkstelligt worden ist! Unsere Wissenschaften, unsere Aufzeichnungen hier, die wir für die Summe aller bekannten Wissensschätze hielten, bleiben uns eine Antwort schuldig. O ja, der Mann hat seinen Verstand benutzt. Damit hat er den Bruder getötet. Das steht fest. Aber wären wir ohne Waffen und Maschinen dazu auch imstande? Nein, wir alle wissen, das könnten wir nicht. Wie ging's weiter? Mehr durch Glück als durch konkrete Anhaltspunkte spürten wir ihn wieder auf, diesen dummen Priester-Mörder, diesen Per Hiero Desteen, von dem wir nun so viel wissen. Und was geschah diesmal mit der zerlumpten Vagabundentruppe? Denn er hatte durch Gedankenverbindung das Mädchen und die Tiere wiedergefunden, obgleich wir uns das wiederum nicht erklären können. Wie ging's weiter? Diesmal 'ne ganze
Schiffsladung, eines der wenigen neuen Schiffe, die von der Kraft des Todes selbst angetrieben werden, Schiff mit Besatzung, noch ein hoher Bruder, Scarn, dritthöchster nach mir und kein leichter Gegner samt und sonders verschwunden!« Die folgende Pause war unbeabsichtigt und lang. Er gab sich nun keine Mühe mehr, seinen Ärger und Verdruß zu verbergen. Mit Besonnenheit lauschten die anderen und verdauten seinen Redeschwall mit gespannten Mienen. Slorn von den Grünen war nicht minder aufmerksam. »Wir taten unser Bestes. Wir gaben so viele handgearbeitete persönliche Gedankenschirme aus, wie wir hatten, und warnten alle auf oder an den Ufern der Inlandsee, die mit uns verkehrten oder unter unserer Kontrolle standen. Wir alarmierten unsre Brüder vom Gelben Zirkel im Süden. Auch ich begab mich in den Süden. Denn inzwischen war ich überzeugt, welch schreckliche Gefahr uns von diesem Mann drohte, der die Macht hatte, mit seinen Geisteskräften wie mit Blitzen um sich zu schießen. O ja, mittlerweile war ich überzeugt, zutiefst überzeugt! Was dann geschah, ist nicht sicher, aber wir haben einige Hinweise, die wir mühsam zusammengetragen und aneinandergesetzt haben. Sie ergeben folgendes Bild: Irgendwie ist's dem Priester gelungen, die Inlandsee zu überqueren. Auf der Überfahrt kämpfte er schon wieder, nun über ein Schiff samt Besatzung verfügend; wie und wo er dazu kam ist uns ein Rätsel. Er kämpfte gegen einen Piraten, der uns schon lange fügsam ist, und tötete ihn im Zweikampf und mit ihm einen Glith, die neueste und stärkste Lemut-Züchtung, wie der Feind unsre tierischen Sklaven nennt, die wir uns traditionsgemäß halten. Die Piratenmannschaft kapitulierte. Nicht einmal die Angst vor uns konnte sie dazu bewegen, das alte Seefahrergesetz der Sieger bekommt die Beute zu bre97 chen. Wir haben alle verhört, die wir inzwischen erwischen konnten, und so allerhand erfahren, aber es ist langwierig und mühsam. Diese Schlacht«, fuhr er fort, »verursachte Gedankenstürme. Außerdem wurden Selbstsucher mitgenommen. Wir lokalisierten das Gebiet, berechneten den Kurs und schickten ein zweites der neuen Schiffe aus, diesmal von einem geheimen Hafen nahe Neeyana an der Südküste. Es fand den Feind und zerstörte sein Schiff, gelenkt von Selbstsuchern den Gedankenschirm, die er erbeutet und an Bord vergessen hatte. Aber wir kamen zu spät! Wir äscherten zwar den alten Kahn ein, aber alle an Bord waren entkommen in den tiefen Wald, in den wir keinen Fuß setzen und der für uns voller Rätsel ist. Hört, Brüder!« Seine nicht gerade angenehme Stimme wurde zu einem Zischeln, einem Geifern in giftiger Erbostheit. »Elfer! Ins Spiel kommt die sogenannte Bruderschaft des Elften Gebotes, unsre alten Erzfeinde, die tier- und pflanzenliebenden Erdwühler, die Viehhirten, die Hebammen für alles, was kreucht und fleucht, die Verehrer nutzlosen Lebens, die Helfer der Schwachen, die Hüter der Armen und Sanftmütigen! Pfui! Elfer!« Sein Zorn würgte ihn schier, doch hatte er bald die Beherrschung wiedererlangt. »Einer von diesem Gezücht war auf dem Schiff mit dem Priester, dem Weib und den beiden Tieren. Er wurde gesehen. Ein alter Mann, offenbar recht hochgestellt in ihrer verderbten Hierarchie, denn die großen Seeungeheuer waren ihm fügsam. Vielleicht hatte er auch etwas mit dem Schiff zu tun, das wir im Norden verloren hatten. Ich war in Neeyana und wandte mich an Bruder Sryath, meinen Kameraden und Meister des Gelben Zirkels hier, um Hilfe und Rat. Und weil ich an ihn die Oberleitung abgetreten habe, möchte ich, daß er selber berichtet, was wir ersonnen haben und was dabei herausgekommen ist.« Sduna lehnte sich zurück, als wäre er erleichtert, sein Teil getan zu haben. Sein Zornausbruch hatte ihm ungewohnte Schweißperlen aus der bleichen Stirn getrieben. Sryath zu Sdunas Linker zögerte kurz, als überlegte er, womit oder auch wie er beginnen sollte. Freilich ließ er den Faden erst gar nicht abreißen. »Wir, Sduna und ich, versuchten etwas, das längst hätte getan werden sollen, wenn wir nur Zeit gehabt hätten, die wir natürlich nicht hatten.« Er blickte sich um wie einer, der auf eine Herausforderung wartet, aber da er offenbar keine sah, fuhr er fort. »Unsre Überlegung war diese: Warum war der Priester geschickt worden oder warum zog er in den Süden weit über die Grenzen seines barbarischen Landes hinaus? War er überhaupt geschickt worden oder aus eigenem Antrieb gekommen, um sein Glück zu versuchen? Wir
glaubten das weniger, wir beide. Sduna hatte mir einleuchtend dargelegt, daß es sich nicht um einen falschen Alarm handelte, sondern um eine unverhoffte ernste Bedrohung für uns und den Großen Plan. Was suchte er, dieser Priester? Wohlgemerkt ahnten wir damals noch nichts vom Elfer. Diese Kenntnis erlangten wir erst später. Wir faßten zusammen, was wir wußten. Dieser Waldläufer war im Besitze von Snergs Karten; das nahmen wir jedenfalls an. Darauf waren viele Orte des Großen Todes und der Herren der Welt vor dem Tod verzeichnet. Ob dieser Fremdling aus dem einen oder andern Grund auf der Suche nach einem solchen Ort war? Es war denkbar; wenigstens hatten wir keine gegenteiligen Informationen. Sdunas Spitzel durchstöberten den Norden ebenso wie die Späher von Bruder Scarn, meinem Gegenüber und Meister des Roten Zirkels. Aber alle Spione selbst die, die wir im Norden haben brauchen Zeit zum Auskundschaften, während wir es höchst eilig hatten und noch haben. Wir mußten uns aufs Raten beschränken und für alle Fälle einstweilen Truppen sammeln. Dies ging sehr rasch. Männer, Tiersklaven aller Art alle Verfügbaren wurden herangezogen. Es war eine starke Truppe unter dem Befehl von fünf, sechs Brüdern. Und dann erhielten wir Meldung wenn auch vom Absender unbeabsichtigt! Am östlichen Saum dieses weiten Waldes gebrauchten 98 99 der Priester und sein Pack ihren Verstand, weil sie sich anscheinend gegen seltsame Lebensformen dieser Gegend zur Wehr setzen mußten. Wir wußten, daß dort grausige Kreaturen hausen, die das Atom hervorgebracht hat und die uns noch nicht fügsam sind. Es war eine uns fremde Umgebung, die wir nur aus finstren Gerüchten kannten. Viele sind in diesem Land spurlos verschwunden, viele von uns und viele vom Menschengezücht Kaufleute und dergleichen. Wir studierten die Karten und entdeckten nahebei eine Anlage aus der Zeit vor dem Tod, zu der obendrein ein Eingang verzeichnet war, den wir öffnen könnten. Wir kennen unzählige ähnliche Stellen, die für die künftige Erforschung vermerkt sind. Manchmal dienen sie uns als Schatzkammer, sind aber meist unnütz. Aber das ist ja alles bekannt.« Er blickte sich wieder um, diesmal mit einem kecken Ausdruck im Gesicht; seine Beherrschung ließ allmählich nach, als er zu rechtfertigen versuchte, was dann gekommen war. »Nein, Sduna und ich haben das Heer nicht begleitet. Im Nachhinein kann man sich fragen, ob das nicht ratsam gewesen wäre. Allerdings will ich keine Entschuldigung vorbringen. Wozu züchten und bilden wir uns Knechte und Diener heran, wenn nicht für solche Fälle? Ich frage, ob jemand unsern Mut in Zweifel stellt, ehe ich fortfahre.« Da er nichts in diesem Sinne in den Mienen der anderen entdeckte, sprach er weiter, wobei er die Stimme senkte, als habe ihn ungewollte Scheu ergriffen. »Wer hätte sich das träumen lassen, aber die Truppen wurden zerschlagen, wie's in unsrer ganzen Geschichte ohne Beispiel ist. Wir erhielten Meldung Gedankenblitze von unsren Brüdern, daß sie den Ort gefunden hätten, wie er auf der Karte eingetragen sei, und sie ihn nun betreten wollten. Dann nichts mehr. Alle Gedankengänge verstummten, als sie unter Tage stiegen, wie wir vermuteten. Es trat große Stille ein, die bis heute ungebrochen ist. Viele Tage später entdeckte einer unsrer Späher, der das Gelände mit aller Vorsicht erkundete, ein großes Feld von Moder und Fäule, das sich zersetzte und einen Pesthauch 100 zum Himmel schickte. Wo die Höhle des Mächtigen Todes gelegen hatte, breitete sich nun ein Trümmerhaufen aus, dem ein scheußlicher Brodem entströmte. Nicht das Atom, nicht die Kräfte des Todes, denn diese spüren wir, sondern eine andere, vielleicht ältere Macht, ein großes Geheimnis der Alten war wohl entfesselt worden. Mehr haben wir über das, was sich zugetragen hat, nicht in Erfahrung gebracht. Hier endet also meine Geschichte.« Womit er, vor sich nieder auf die Tafel blickend, verstummte. Das Schweigen dauerte an, als würde sich keiner getrauen, es zu brechen. Die Bedeutung des Geschilderten, das ihnen im großen ganzen freilich schon bekannt gewesen war, hatte alle in ihren Bann geschlagen. Als schließlich tatsächlich eine Stimme erklang, schienen die eigentlichen Laute dort fehl am Platze. »Aber ich kann noch etwas anmerken, Brüder, und was ich sage, wird uns neuen Mut
machen.« Slorn lächelte sogar, freilich nicht aus Frohsinn, sondern tiefempfundener Genugtuung. »Faßt euch ein Herz, Brüder, und hört, welche Kunde ich vom Süden, meinen eigenen fernen Landen bringe! Viel ist mir erst heute von meinem verläßlichen Boten vermeldet worden. Die Sache sieht gar nicht schlecht aus.« Er beugte sich beim Sprechen vor und tändelte mit den Fingern auf der kühlen, glatten Tischplatte. »Uns allen ist bekannt, daß der Priester in Dalwah eingezogen ist und das jahrelange, geduldige Wirken unsrer dortigen Günstlinge und Verbündeten zunichte gemacht hat. Denn horcht, das zerlumpte Sklavenweib, das dieser Holzwurm im fernen Norden aufgelesen hatte, war man höre und staune! die verschollene Prinzessin, die Tochter des dummen Königs von Dalwah, die wir längst für tot wähnten. Der Priester wußte dies, päppelte sie hoch und heiratete sie schließlich im läppischen Ritus ihres Volkes. Somit hatte er sich mit einem einzigen unglaublichen Streich zum eigentlichen Herrscher über das Reich gemacht. Ich hatte ein gut Teil des Erfolgs dieser Kreatur reinem Glück und wie ich offen gestehe einer zu Hilfe kom101 menden Nachlässigkeit im Norden zugeschrieben.« Er hatte sich in der Runde umgesehen und jedem Blick standgehalten, ehe er fortfuhr: »Ich möchte mich nachdrücklich entschuldigen bei jedem hier, der meint, ich hätte seine Bemühungen in der Vergangenheit mit gewisser Geringschätzung betrachtet. Dieser geniale Streich, diese Verbindung mit dem Sitz der Macht hat über Nacht meine Meinung von Per Desteen umgekrempelt. Wenn er ein bloßer Diener der Abteien ist über die ich nur das wenige weiß, was mir aus euren Landen zugetragen wird , wer und was sind diese dann? Falls er jedoch, wie ich vermutete, eine seltene Mutation, ein Zufallsprodukt sozusagen ungeplant und planlos wäre, dann würde sich vielleicht eine Gelegenheit bieten. Ich ging mit mir zu Rate und ersann einen Plan. Wir haben mächtige Verbündete in diesem Land, selbst in der Königsfamilie, und seine wunderliche Kirche ist von unseren Dienern durchsetzt, die in ihre Geheimnisse eingeweiht sind. Es wurde in unseren geheimen Zentralen eine neue Droge entwickelt, eine Droge, die alle Geisteskräfte abtötet selbst beim Aller stärksten. Wir haben an solchen experimentiert.« Daß die Experimente vermutlich den Tod von wenigstens einem Mitbruder, der sich Slorns Ungnade zugezogen hatte, zur Folge gehabt hatte, das schien allen in der Runde offensichtlich. Freilich störte sich keiner daran. Denn so erwirbt man Macht und erhält sie sich. »Ich traf mich mit unsern Verbündeten weit entfernt von ihrer Stadt«, fuhr Slorn fort. »Denn ich duldete keinerlei Denkarbeit in der Nähe dieser Priesterkreatur. Er sollte auf nichts Verdächtiges stoßen und stieß auch auf nichts! Nun hab' ich eine wahre Frohbotschaft, Brüder. Heute kann ich sagen, Per Hiero Desteen dieser Prinz von Dalwah, dieser Titan, der unsren großen Orden erschüttert hat ist tot!« Wenigstens einer Kehle entwand sich ein verblüfftes Aufatmen. Es kam allerdings nicht von Sduna von den Blauen, dessen kalte Miene unverändert blieb. 102 »Dieser Priester-Prinz, dieser Landstreicher, dieser Geistesriese bekam schlicht einen Schlag auf den Schädel verpaßt, wurde mit der neuen Droge, von der ich sprach, vollgepumpt und weit in die Wildnis verschleppt. Er wurde nicht an Ort und Stelle umgebracht, denn die prinzeßliche Dirne, sein Weib, hätte seinen Tod wohl erfühlt und wäre vielleicht gegen unsre Bundesgenossen vorgegangen, ehe diese bereit gewesen wären. Es stimmt. Das ist die unleugbare Wahrheit. Er ist tot, unwiederbringlich tot. Er ist vom Spielbrett abgetreten, Brüder, und wir können wieder sinnen und planen wie einst, nachdem dieser Störenfried beseitigt ist!« Diesmal fiel das Schweigen nicht kurz aus. Die schnurrende Stimme von Sduna, in der nichts Frohes, sondern nur Kaltes lag, brach es schließlich. »Bevor wir jubeln und feiern, Ältester Bruder, habe ich, der ich der Jüngste unter euch, nichtsdestoweniger aber derjenige bin, der diesen Mann am besten kennt, der ihm gegenübergestanden hat und noch lebt, ein paar kleine Fragen. Wer hat den Leichnam gesehn? Ja und außerdem, wie und wo wurde er getötet? Sind deine Bundesgenossen im Besitz des Leichnams? Wenn ja, was wurde damit gemacht? Wenn ihr diese bescheidenen
Fragen beantworten könnt, war' vielleicht auch mir wohler.« Eine leichte Röte stieg dem bleichen Meister der Grüngezeichneten ins Gesicht. Slorn war offensichtlich erzürnt und erstaunt zugleich, so ins Gebet genommen zu werden. Sichtlich gereizt, setzte er krächzend zur Antwort an. »Unser Hauptverbündeter im Königreich ist als Kind unter mir herangezogen worden. Er schickte den durch die Droge betäubten Priester unter strenger Bewachung tief in den Westen auf Wegen, die nur er selber kennt. Er betraute damit verläßliche Männer, Diener aus Kindertagen, die er in zwei Gruppen losschickte. Dies erwies sich als klug, denn die zweite Gruppe fand die Leichen der ersten. Alle, ich wiederhole, alle waren tot und noch warm. Ich sehe keinen Grund, irgend etwas davon in Frage zu stellen. Wer sie um103 gebracht hat, das wissen wir nicht; vermutlich eine Bande von Geächteten, die das westliche Sumpfland unsicher machen. Ist das Antwort genug?« »Ja«, meinte Sduna bedächtig. »Das ist Antwort genug. Aber ich warne euch alle, mit Verlaub, Ältester Bruder, daß dieser Mann nicht leicht zu töten ist. Ich wünschte, ein Bruder, am besten ein hoher, hätte die Leiche gesehn. Ich will, wenn schon, ehrlich sein. Es gefällt mir nicht. Dennoch vielleicht zu Unrecht, was ich mehr hoffe als jeder andere. Das wenigstens dürft ihr mir glauben.« »Sollte es sich als falsch erweisen, werde ich dafür gerade stehn«, fauchte der andere zurück, darüber erbost, daß seinem Triumph so viel Skepsis entgegengebracht wurde. »Aber wir haben schon viel zuviel Zeit damit vergeudet. Daß ein solcher Priester überhaupt in Erscheinung treten konnte, zeugt von einem viel größeren Plan. Wir haben es nun, meine Brüder, mit einem organisierten Komplott gegen uns zu tun. Auf breiter Front fordert man uns heraus, die wir unsren Feinden stets verborgen geblieben sind. Höchst selten hat der Feind bislang einen Bruder zu Gesicht bekommen und die Begegnung lebend überstanden, um davon zu künden. Um unsre Existenz wußte keiner bis auf die Elfer, die verfluchten, verabscheuungswürdigen. Ihr eigenes Credo, alles Leben zu erhalten, nichts zu schaden das bewahrte uns, waren wir überzeugt, hinlänglich davor, von ihnen beschnüffelt und bespitzelt zu werden. Sollen sie sich umherschleichen, dachten wir, bis der Große Plan in Erfüllung geht, um dann zusammen mit allem anderen Geschmeiß, das für uns ohne Nutzen ist, hinweggefegt zu werden! . Aber nun ...« Seine Stimme wurde streng. »Was erfahren wir nun? Sie haben zumindest zum Teil von ihrer Torheit abgelassen. Tatkräftig unterstützen sie unsre Widersacher. Das ist schlimm, könnte schlimmer nicht sein. Sie wissen viel über uns. Nur weil sie untätig und dumm waren, ließen wir sie bislang ungeschoren; sie haben uns beobachtet, länger vielleicht, als wir ahnen. Und wenn sie ihr Wissen bloß an andere weitergeben, die nicht so vor Gewalt zurückschrecken, könnte sich das als tödliche Waffe gegen uns erweisen.« Nach einer Pause fuhr er fort: »Der Priester ist tot. Nicht aber, was ihn geschickt hat. Er kam aus dem Norden, von euren Abteien, die ihr angeblich unter Kontrolle hattet, Brüder. Zwei Staaten im Norden, die beide von den Abteien regiert werden die Republik Metz im Westen und die Otwah-Liga im Osten haben diesen gefährlichen Aufrührer hervorgebracht. Von dort kam er. Gibt es dort was für uns wichtiger ist seinesgleichen mehr? Wir müssen rasch handeln. Diese Gefahr muß an den Wurzeln ausgemerzt werden ohne Zaudern! Deshalb das weiß ich in meinem innersten Sein, wurd' ich beauftragt, diesen Rat zusammenzurufen.« Die drei anderen neigten sich vor und lauschten gespannt, als er sein Vorhaben darzulegen begann. An andrer Stelle, fern der tiefen, finstren Stollen der Unreinen, stand ein Hain aus mächtigen Kiefern oder verwandten Nadelhölzern. Flechten überzogen die gewaltigen Stämme, deren alte Borke silbrig glänzte. Inmitten des Gehölzes lag eine Lichtung im Schein des aufsteigenden Mondes, von vielen Schichten abgefallener Nadeln bedeckt. Kein Kraut wuchs auf der ringförmigen Lichtung, obschon das Nadelbett stets frisch und sauber war. Kein Laut brach die Stille der Nacht bis auf den fernen Schrei einer jagenden Eule und das Ächzen des sanften Windes in den hohen Wipfeln. Dennoch war die Lichtung nicht leer. Auch hier hatte man sich versammelt. Dunkle, rundliche Gestalten lagen im Kreis auf dem Boden; nur ihre leuchtenden Augen deuteten auf Leben hin. Große, pelzige Seiten hoben
und senkten sich, als das Bärenvolk gespannt zum kleinwüchsigeren Gorm in seiner Mitte blickte. Tiefe Gedanken strömten über geistige Bahnen, die anderen in der Wildnis verschlossen blieben. Geduldig studierten die Weisen des Volkes die Neuigkeiten, die ihnen überbracht worden waren. Sie hatten sich lange vor den an104 105 deren empfindungsfähigen Rassen der Welt verborgen gehalten. Nun wollten sie sich nicht zu einer vorschnellen Entscheidung hinreißen lassen, die ihre Zukunft beeinträchtigen könnte. Die Nacht verstrich langsam, während die Gedanken von Verstand zu Verstand strahlten. Vor den Mond glitt schließlich eine große Wolkenbank. Als das fahle Licht des Nachtgestirns wieder auf die Lichtung fiel, war der kleinwüchsigere Gorm aus der Mitte verschwunden, während die übrigen im Kreise lagen und ihre pelzigen Seiten sich sacht hoben und senkten. Im tiefen Dschungel lag ein stiller Teich, von den Stollen der Unreinen und dem Hain der Bären genauso weit entfernt wie diese voneinander. Hier ragten die Bäume, die sich über das braune Wasser wölbten, so hoch in den Himmel, daß die mächtigen Kiefern im Vergleich dazu wie Schößlinge wirkten. Die gewaltigen Stämme verzweigten sich erst in solcher Höhe in die Hauptäste, daß sie vom Boden fast nicht mehr sichtbar waren. Lange, wirre Lianen und ganze Wälder von Schmarotzern hingen an den aufschießenden Stämmen. In der Mittagshitze schwirrten emsige Insekten umher, lockten die Vögel mit ihren Rufen. Über einen ausgetretenen Wildwechsel näherte sich dem Teich leise ein großes, schwarzes Tier. Es hielt inne, beäugte die Umgebung und hob witternd die geblähten Nüstern in die Luft. Auf dem glänzenden Unterschenkel war die blutende Wunde einer mächtigen Pranke eingegraben. Das große Schaufelgeweih, das es am Kopf trug, war mit Blut verkrustet. Dennoch wirkte das zwar wachsame Tier in keiner Weise ängstlich. Bald hatte es sich davon überzeugt, daß das Gelände sicher sei, woraufhin es langsam in den kleinen Teich glitt, bis nur noch der Kopf aus dem Wasser ragte, wobei die Augen unablässig hin und her rollten und beim geringsten Laut die großen Ohren und wulstigen Lefzen zuckten. Schließlich stieg Klootz mit sauberem, glänzendem Ge106 weih und Fell aus der Suhle ans andere Ufer, wo der Wildwechsel weiterführte. Über diesen verschwand er, so leise wie er gekommen war gen Norden. Als Hiero erwachte, sah er sich gähnend um und streckte sich. Ein neuer Tag war angebrochen. Von seiner Baumgabel aus konnte er die Savanne weit überblicken; nur hie und da war ihm durch hohe Baumgruppen wie der seinigen die Sicht verwehrt. Mit jedem Tag stieg das Gelände mehr an und standen die freilich noch recht vereinzelten Bäume dichter. Er bemerkte allerlei Tierherden, die durch die Ebene wechselten. Meist handelte es sich um Antilopen und verwandte Arten, die den Tag im Buschland verbrachten, wo sie vor Insekten und schnellfüßigen Räubern, die im freien Gelände auf sie Jagd machten, geschützter waren. Andere kehrten nach einer gefahrvollen Nacht und einem Besuch im Wasserloch, wo lauernde Räuber sie beim Saufen reißen, ins offene Grasland zurück. Hiero beugte sich aus dem Geäst und rief schallend hinunter. Er hatte sich umgesehen, aber keinerlei Lebenszeichen bemerkt. Sogleich tauchte ein prüfend blickender Kopf aus einem hohen Gebüsch auf; mit einem Satz kam der massige Hüpfer zum Vorschein, munter wie nach einer ruhevollen Nacht im eigenen strohweichen Stall. Hiero kletterte vom Baum und barg Ausrüstung und Sattel, die er am Vorabend in einem Dickicht versteckt hatte. Es war an jedem Morgen eine richtige Erleichterung, daß Segi noch lebte. »Tatsache ist, mein Guter«, sagte Hiero und kraulte den Hüpfer zwischen den langen Ohren, als der den Kopf senkte und ihn beschnupperte, »daß du ein ganz schönes Problem bist. Mir wär's lieber, du wärst nicht hier. Ist das eine Dankbarkeit, was, nach allem, was du für mich auf dich genommen hast, mh?« Eine lange, himbeerrote Zunge leckte über sein Gesicht, und er spuckte und lachte.
Aber das war eigentlich kein Scherz. Hiero machte sich 107 ernstlich Sorgen um Segis Sicherheit; eine Lösung war nicht in Sicht. Er selbst hatte es gut, konnte er doch nachts in die Bäume steigen, während Segi, ein Fluchttier der Prärien, in den dunklen Stunden im Gelände ausharren mußte. Es gab zwar noch genügend freie Flächen um sie herum, aber mit jeder Abenddämmerung auf dem Weg in die Berge wurden sie kleiner. Je dichter der Wald wurde, in dem es von hungrigen Mäulern nur so wimmelte, desto mehr verminderten sich Segis Möglichkeiten zum Selbstschutz. Ein Hüpfer war nur durch die Nase und Ohren und die mächtigen Hinterläufe gegen Angriffe gefeit. Um seine Beine einsetzen zu können, brauchte er Platz zum Springen und Ducken und Hakenschlagen. Und dieser Platz wurde immer beschränkter. Als einzige machbare Maßnahme sah Hiero das völlige Abhalftern und Absatteln des Tieres, so daß es zumindest in seiner Bewegungsfreiheit nicht eingeschränkt wäre. Allmorgendlich hoffte er mit halbem Herzen, daß es den Hüpfer fort in seine ferne, sichere Heimat gezogen hätte. Mit der Bürde von Sattel und Ausrüstung beladen, hatte er es durch unwegsame, von Raubtieren heimgesuchte Gegenden bis zu seinem Herrn geschafft. Sattel- und zügellos hätte er also eine gute Chance, lebend in den fernen Osten zu gelangen. Aber Segi dachte nicht daran zu türmen. Was immer Lucare seinem einfachen Verstand auch eingeprägt hatte, gepaart mit Segis Liebe zu seinem Herrn wär's eine übermächtige Bindung. Er hatte seinen Herrn gefunden und wollte nicht wieder von ihm weichen. Nicht mit Schlägen und nicht mit Worten ließ er sich zum Umkehren bewegen. Als Hiero eines Nachts verstohlen von seinem Baumversteck kletterte und sich unter Lebensgefahr fortzustehlen versuchte, hüpfte das blöde Vieh unverzüglich hinter ihm drein, so daß der Ausflug zum Boden erst recht gefährlich wurde. Dieses Manöver versuchte Hiero erst gar nicht mehr. Wenn seine Geisteskräfte intakt gewesen wären, hätte er den Hüpfer auf der Stelle wegzuschicken vermocht. Wenn... Er seufzte und klopfte gedankenversunken die 108 warme, braune Flanke. Das große Tier war ihm in den letzen Tagen richtig ans Herz gewachsen. Daheim in Dalwah hatte Hiero dem Hüpfer ein schwärmerisches Interesse entgegengebracht, mehr nicht. Nun war es eine tiefe Zuneigung, die auf Gegenseitigkeit beruhte aber natürlich nicht mit dem Verhältnis zu Klootz vergleichbar. Hiero und der große Ellk waren zusammen aufgewachsen, und Klootz' Intelligenz, Ergebnis jahrhundertelanger Züchtung in den Abteien, war Segis Verstand weit überlegen. Man war sich nicht einmal mehr sicher, wie gescheit die Ellktiere neuerdings eigentlich wurden. Während Hiero sein kärgliches Frühstück verzehrte, fragte er sich, ob Klootz noch am Leben sei. Er vertrieb den Gedanken an Lucare, der als nächstes kam; für müßige Trauer hatte er keine Zeit. Wenige Stunden später zügelte er Segi und spähte unter vorgehaltener Hand zu den Erhebungen im Westen. Sie ritten nun schon eine ganze Weile durch hochstämmigen Wald. Hiero wußte von sich aus, daß sie einen Ausläufer des großen Dschungels, einen Zipfel des südlichen Waldlands erreicht hatten. Die Bäume um sie herum, die in seiner nordischen Heimat durchaus als stattlich gegolten hätten, waren nur Unterholz des echten Waldes, Ausleger des größten Dschungels, den die Erde je gesehen hatte. Das Feuer des Atoms, der >Tod< mit seinen Grauen, hatten unter anderem ein gewaltiges Größenwachstum vieler Pflanzen zur Folge gehabt. Vom Treibhaus-Effekt, wie die Alten es nannten, wohl noch gefördert, hatten insbesondere die großen Bäume der Nördlichen Tropen, von denen man nun sprach, eine auf der alten Erde beispiellose Stattlichkeit entwickelt. Und jenseits dieser Bäume erhoben sich, wie er glaubte, die purpurnen Berge. Wie. er sich doch nach ihnen sehnte! Nur sein Charakter und gesunder Menschenverstand hielten ihn davon ab, sein Reittier in ein übermäßig schnelles Tempo zu treiben. Hätte der Metz noch über eine dritte seiner einstigen Geisteskräfte verfügt, wäre ihm sofort aufgefallen, daß er ange109 lockt wurde und keinesfalls aus eigenem Antrieb handelte, obgleich der Gedanke, der ihn seit Tagen mit sanfter, aber unerbittlicher Gewalt Südwestwerts gezogen hatte, mit subtiler Raffinesse ausgelegt war. Hiero wußte freilich, daß er schon vor Wochen alle Fähigkeiten Gedankenlesen, Schilde, Vorhersage und die blanke Kraft seines einst mächtigen Geistes
eingebüßt hatte. Er hatte Mal um Mal versucht, sich vorzutasten, irgendwo und irgendwie zu lauschen, um eine andere Intelligenz ausfindig zu machen. Jeder Versuch war kläglich gescheitert. Die grausige, von Joseato verabreichte Droge hatte nur zu gut gewirkt. Geistig war Hiero so blind wie ein neugeborenes Kind und vielleicht blinder, falls der Säugling gute mentale Anlagen hätte. Da er geistig so blind war, glaubte er, auch für Außenstehende nicht wahrnehmbar zu sein. Damit hatte er recht, aber nur zum Teil. Die Droge hatte gewirkt scheußlich genug. Für die übrige Welt und besonders die Unreinen war Hiero geistig eine Null, eine Leere. Nicht einmal Lucare hätte ihn entdecken können. Der Hüpfer war seiner Duftspur gefolgt, konnte er doch mit seiner feinen Nase mehrere Tage alte Gerüche aufnehmen, wozu auch manche Hunde imstande waren. Aber es gab neben den Unreinen andere Intelligenzen, gleichfalls dem >Tod< entsprungen. Hiero wußte das so gut wie kein anderer. Allerdings war ihm nicht in den Sinn gekommen, daß er auf einer Stufe seines Verstandes, die ihm bislang selbst im letzten Jahr völlig verborgen geblieben war, nach wie vor erreichbar, nach wie vor brauchbar und verlockbar wäre. Dennoch war dem so. Den ganzen Tag zog er mit Segi langsam, aber stetig, bergan, wobei er dichtes Laub und eng stehende Stämme mied. Dies wurde von Stunde zu Stunde schwieriger. Das Gelände, längst nicht mehr hilfreich, wurde zum Hemmnis. Bodenfalten kamen zum Vorschein, zunächst noch flach, aber zunehmend steiler werdend. Stellten diese Schluchten zuerst auch noch kein großes Hindernis dar, so waren sie doch die ausgestreckten Finger der Berge, die Klammen, durch die der tropische Regen zu Tal stürzte. Viele der Schluchten führten Wasser, obwohl Trockenzeit war. Bei Nachtanbruch schlug Hiero am Rande einer überschaubaren Klamm, durch die in kiesigem Bett ein Wildbach rauschte, das Lager auf. Er fand eine Felsnische im oberen Hang, die er mit herbeigeschleppten trockenen Ästen und Stämmen verbarrikadierte, nachdem er Segi ins Innere geführt hatte. Hier wären sie zumindest einigermaßen sicher. Natürlich standen ringsherum unzählige Bäume, aber Hiero konnte in diesem dicht bewachsenen Gelände den Hüpfer nicht wehrlos auf dem Boden übernachten lassen. Segi war der Pferch zunächst zuwider, so daß er nervös wurde, beruhigte sich aber, nachdem Hiero ein kleines Feuer angefacht hatte. Am Boden wuchs feines Kraut, und über die Seiten der Nische rankten sich Sukkulenten. Nach dem Fressen legte sich das große Tier schließlich zum Wiederkäuen nieder. Es schien kein Mond, aber die Sterne waren hell. Hiero durchwachte die meisten Stunden der Nacht und studierte die schwarzen Umrisse der Berge, die nun hoch über ihm thronten. Es war ein altes Gebirge, mutmaßte er, mit abgetragenen Kuppen, ohne scharfe Grate und Spitzen wie die schneebekrönten Gipfel im fernen Nordwesten. Stellenweise reichten die Wälder bis zu den Kuppen. Hiero hatte auch schon blanken Fels gesehen, anstelle von Bäumen mit Moos und Farn bedeckt. Er konnte sich denken, daß es hier steile Felswände gab, die nicht leicht zu überwinden waren. Wie in den letzten Tagen, beschäftigte ihn auch nun das Problem mit dem armen Hüpfer. Wie könnte er Segi dazu bewegen, ihn zu verlassen? Solange sie in diesem zerklüfteten, waldreichen Bergland zusammen wären, lebte Hiero selbst doppelt gefährlich. Er mußte sich sowohl um sich als auch den Hüpfer kümmern, denn Segi hatte längst keinen Platz mehr für die gewaltigen Sätze, die seine einzige Verteidigung waren. Zweimal wurden sie in dieser Nacht gestört. Ein starker Raubtiergeruch deutete auf einen Eindringling hin, und der Hüpfer duckte sich schnaubend in die Felsnische und rollte furchtsam die Augen. Er machte keinen Versuch einer Flucht, sondern verließ sich auf seinen Herrn, was in diesem Fall nur 110 111 klug war. Hätte er sich mit Bocksprüngen zu wehren versucht, wäre ihr Unterschlupf zum Alptraum geworden. Hiero hockte mit bereitgelegten Waffen am Boden und hielt die Augen offen. Bald glitt lautlos eine Pranke mit rotem Fell und mächtigen gelben Klauen durch die aufgeschichtete Holzbarrikade und tastete prüfend nach einem Halt. Das ging zu weit, dachte Hiero!
Mit seinem breiten Speerblatt schaufelte er aus dem glimmenden Feuer feuerrote Glut auf die breite, tastende Pranke. Es folgte ein Augenblick der Stille; dann wurde die Pranke blitzartig zurückgezogen, und statt dessen drang nun gräßliches Gebrüll über die Barrikade, daß dem Metz fast das Trommelfell geplatzt wäre. Mit ebenso ohrenbetäubendem Fauchen und Knurren wälzte und brach das vor Schmerz rasende Tier durch berstendes Gehölz. Während Hiero ein breites Grinsen aufsetzte und der Hüpfer noch schreckensstarr in der Ecke kauerte, verhallte der Lärm talwärts; das Untier suchte das Weite und womöglich Abkühlung im Fluß für seine verbrannte Pfote. Sodann blieb es eine ganze Weile friedlich, und Hiero döste wie sein Reittier, am Boden kauernd; hin und wieder legte er neues Holz auf das Feuerchen. Daß die umliegende Hügellandschaft voller Leben gewesen ist, bedarf keiner weiteren Erwähnung. Die Nacht hallte wider vom Gekreische der Jäger und Gejagten. Zuweilen wurde nahebei das Tapsen mächtiger Pranken hörbar, woraufhin Hiero automatisch hellwach wurde. Allerdings wurden die meisten Fleischfresser vom Feuer, von der hölzernen Barrikade und dem gemischten Geruch nach Mensch und Hüpfer offenbar abgestoßen. Es hätte sich nicht ausgezahlt, ganz einzuschlafen, was Hiero nie tat. Das war auch besser so, denn der nächste Angriff vollzog sich so sonderbar, daß er gerade wegen seiner Eigenartigkeit um ein Haar gelungen wäre. Der Metz war schon eine ganze Weile auf ein seltsames Geräusch aufmerksam gewesen, bevor er Gefahr witterte. Es handelte sich um ein weiches Flattern, das ihn an schnelles Fächeln erinnerte und von irgendwo links oben zu kommen schien. Bald nah, bald fern, schwirrte es zuweilen so dicht heran, daß 112 das Rauschen des kleinen Wildbachs darin unterging. Freilich war der Laut überhaupt nur dann zu hören, wenn die Stimmen des Urwalds kurzzeitig verstummt waren. Segi schenkte ihm keine Beachtung, falls er ihn überhaupt hörte, sondern döste weiter, aus halb geschlossenen Augen ins Feuer stierend. Kurz vor dem ersten Morgengrauen vernahm Hiero wieder das näherkommende Geflatter im Dunkeln. Unwillkürlich legte er ein paar Äste aufs niedergebrannte Feuer. Das Geräusch wurde urplötzlich lauter, und der mächtige Flügelschlag erzeugte einen Luftzug in der Nische, in die Hiero und Segi sich duckten, daß die Glut lichterloh aufflackerte und der Mann auf die Beine sprang. Vor Schreck und Staunen sperrte er den Mund auf. In der Luft vor ihm hing schwerelos eine Dämonenfratze mit großen Zähnen in der runzligen Schnauze unter den leuchtenden Augen und faltigen Ohren wie aus gefettetem Leder. Dieser schauerliche Schädel war allein schon so groß wie ein Weinfaß. Als die grausigen Zähne nach ihm schnappten, wich Hiero zurück und riß abwehrend den Speer hoch. Wieder flatterte das Ungetüm und fachte mit seinen zwischen den Fingern ausgespannten Flughäuten das Feuer noch mehr an. Der Hüpfer stieß einen markerschütternden Angstschrei aus bei diesem Bild des Grauens. Nun allerdings stand der Krieger aus Metz bereit. Sein Speer fuhr in mörderischem Bogen hoch. Obschon das fledermausartige Tier schnell auswich, bohrte sich die Spitze tief in die Schulter, wo der große Flügel mit dem Leib verwachsen war. Mit einem unheimlich schrillen Aufschrei stürzte der unheimliche Geselle in das neblige Tal, aus dem er aufgeflogen war. In Sekundenschnelle war der Spuk vorüber, und Mann und Tier starrten verdutzt ins Leere. Nun bemerkte Hiero auch das erste Grau im Osten. Die lange Nacht war vorüber. In unsäglicher Erleichterung sank er auf die Knie, ohne freilich den Speer aus der Hand zu legen. Während der Himmel allmählich heller wurde und die Stimmen der Nacht mit dem nahenden Tag verstummten, kniete er mit geschlossenen Augen vor dem Allmächtigen und dankte aufrichtig für die Rettung vor den Gefahren der Dunkelheit. Mit vorgehaltenem Speer betete er für die Zukunft, nicht nur die eigene, sondern auch die Zukunft aller Menschen, aller Tiere und der unbändigen Schönheit des Landes. Erflehte um Kraft in kommenden Prüfungen und Beistand für die Seinen. Als dann die ersten Sonnenstrahlen auf den Fels über seinem Kopf schlugen, fiel er endlich in Schlaf. Segi, der mit dem Nahen des Tages alle Schrecken vergessen hatte, spitzte die Ohren und streckte die Zunge nach einem zarten Kraut aus. Er würde Wache halten.
114 Die Spinne und das Netz Als Hiero erwachte, hatte er Kopfweh. Er fühlte sich nicht gerade müde, aber etwas steif und benommen. Ob das von der Feuchtigkeit komme, fragte er sich. Es war nicht kalt, eher warm, aber es nieselte unaufhörlich. Dies hatte ihn schließlich auch geweckt, obwohl er schon oft im Regen, in schwerem Regen, geschlafen hatte. Vielleicht war in der Nacht vom Wildbach mit dem Nebel irgendein Pesthauch aufgestiegen. In der Regel erfreute Hiero sich bester Gesundheit. Jetzt kannte man in der Welt nur wenige Krankheiten im alten Sinn. Einige alte Orte des >Todes< bargen noch die eine oder andere Schreckensseuche, ging das Gerücht, und alle solchen Stellen wurden, wenn bekannt, tunlichst gemieden. Aber abgesehen von gelegentlichem Schnupfen und einem gebrochenen Bein war dem abgehärteten Metz jede Krankheit fremd. Dennoch tat ihm der Kopf weh. Er schüttelte ihn, als wollte er den Schmerz durch rohe Gewalt vertreiben. Es war nicht einmal so schlimm, nur ein dumpfes Pochen, aber weil er so etwas nicht gewohnt war, störte es ihn sehr. Er müßte etwas dagegen tun, überlegte er, falls es nicht bald aufhörte. Daß der Schmerz aus seinem Unterbewußtsein stammte, das in seinem Namen mit einer äußeren Kraft rang, das kam ihm nicht in den Sinn. In seinem geistigen Dämmerzustand, der die angeborenen und erworbenen Fähigkeiten abgelöst hatte, konnte er so etwas natürlich nicht durchschauen. Zunächst verzehrte er sein Mahl und dachte betrübt über Segi und die zurückliegenden Stunden nach. Noch ein paar Nächte wie diese kämen ihnen teuer zu stehen! Segi war ein ausgesprochenes Tagtier, und obgleich Hiero natürlich nachts hätte reisen können, wäre das in dieser unbekannten 116 Wildnis höchst gefährlich gewesen. Beim Gedanken an das fliegende Ungeheuer der Nacht stieß er einen Pfiff aus. Er war noch nie aus der Luft angegriffen worden, es sei denn, er zählte die Riesenvögel hinzu, vor denen er Lucare gerettet hatte. Aber das war eine künstliche Situation gewesen, denn die Vögel waren von den Menschenbestien zu ihrem Opfer gelockt worden. Diese dämonische Fledermaus war von nichts anderem als ihrer Freßgier gelenkt worden, daran bestand kein Zweifel. Was war das nur für eine Welt, die solche Ungetüme beherbergte, die einem erst in dem Augenblick bewußt wurden, wo sie über einen herfielen! Er ließ seinen Blick durch die Schlucht schweifen, während er Segi sattelte, entdeckte aber in der Luft nur schwalbenähnliche Vögel, die im Dunst des Bachs Insekten jagten. Die Stimmen der Nacht waren endgültig verklungen; nur gelegentlich vernahm man noch ein mürrisches Brüllen, wenn ein Räuber hungrig in sein Lager zurückschleichen mußte. Seltsame Vögel sangen ihre lieblichen Weisen oder krächzten spöttelnd vom Hang herab, während zu all dem der Bach munter murmelte. Nichtsdestoweniger war Hiero äußerst vorsichtig, als er die Barrikade niederriß und Segi ins Freie führte. Bis auf ein paar niedergetrampelte Büsche war von dem Untier, das die Pranke hereingesteckt hatte, keine Spur mehr zu sehen. Der Mann saß auf, und der große Hüpfer ritt gehorsam an und hoppelte über eine Gasse in den hohen Wald, der mit mäßiger Steigung hinauf in die Berge zu führen versprach. Eine ganze Weile später steckten die beiden tief in den Falten und Schluchten des ansteigenden Berglands. Hiero war sich nicht klar, wohin er wollte, und marschierte offenbar recht ziellos durch die Gegend. Sein Kopfschmerz war stärker geworden, aber er schenkte ihm keine Beachtung mehr. Einem Außenstehenden wäre sofort aufgefallen, daß Hiero starrte und eine verwunderte, gespannte Miene aufgesetzt hatte, als würde ihm gerade irgendein Gedanke erklärt. Oder untergeschoben. 117 Unruhig wurde nicht der Mensch, sondern das Tier; insbesondere seitdem sie die letzten Vogelstimmen hinter sich gelassen hatten. Der Sprühregen hatte aufgehört, aber dafür war Nebel aufgekommen und wand sich in dichten Schwaden um sie, so daß rundherum so gut wie keine Sicht mehr möglich war. Große, moosbedeckte Felsen tauchten im grauen Brodem auf und verschwanden beim Vorübergehen. Anstelle von Bäumen gab es hier mächtige Aronstäbe und breitblättrige, rhabarberartige Gewächse. Überall standen Farne, wovon
manche Arten Stämme von mehreren Fuß Durchmesser hatten, die nicht selten so hoch aufragten, daß sie sich im bleiernen Dunst verloren. Der Weg war schlüpfrig, und die Fußballen des Hüpfers glucksten mit jedem Tritt auf dem weichen Boden. Nervös rollte er die Augen, und unentwegt lauschte er mit zuckenden Eselsohren in das Plätschern und Spritzen der Sturzbäche hinein, die von Hangrinnen und hohen Klammen zu Tal schössen. Selbst ein normaler Mensch ohne Hieros Erfahrung als Waldläufer wäre inzwischen unruhig geworden ob mit oder ohne zusätzliche Geistesgaben. Hiero aber wirkte wie in Trance. Ein Teil seines Verstandes bemerkte geistesabwesend, daß sie sich im Grunde eines tiefen Tales befanden, das langsam höher führte. Dieser Umstand wurde einfach als belanglos registriert. Als Segi unwillig zu prusten begann und zappelig wurde, brachte Hiero ihn sachte wieder unter Gewalt, so daß das Tier zitternd, aber fügsam weiterging. Seine Zuneigung und langjährige Abrichtung beschwichtigten seine Furcht und seinen animalischen Instinkt, daß etwas nicht stimme. So zogen sie stundenlang weiter. Der Boden, vielmehr die Mischung aus Moos und Morast unter ihren Füßen, wurde wieder eben. Die Steigung war überwunden, und bald ging's ebenso langsam wieder bergab. Die Rinnsale, durch die sie hie und da stapften, flössen nun träge in die gleiche Richtung wie die, in der sie zogen. Die Stille war nicht bedrückend. Bis auf ihr Atmen, das knirschende Leder und Segis plätschernde Füße war im sie 118 umhüllenden Nebel alles still. Nur das Rauschen von Wasser aus der Höhe und das Tropfen von den Blättern drang an ihr Ohr. Es war, als hätten sie sich in eine stille Nebelwelt verirrt, eine Welt der Ruhe und Regungslosigkeit, in der Leben seit Anbeginn nur in Form grauer Nebel und stummer Pflanzen existierte. Diese Welt konnte Bewegung und Hektik alltäglicher Laute und Verrichtungen entbehren, wäre schier daran zerbrochen. Es war ein Stilleben mit Wasser und Pflanzen, Moos und Fels. Dennoch zogen sie weiter, bald durch Morast, bald über blanken Fels, wo nicht einmal das allgegenwärtige Moos sich hatte einnisten können. Der Nebel, teils leicht, teils dicht, umwallte sie nun in immer dickeren Schwaden und verschluckte sogar die Geräusche, die sie verursachten, als wollte er ihnen die ihm innewohnende Ruhe auferlegen. Hiero merkte bald, daß das Tal breiter wurde. Obgleich • der Brodem jede Sicht verwehrte, trog ihn sein Gefühl nicht. Sie befanden sich nicht mehr in einer schmalen Schlucht, sondern in einem weiten Kessel im Herzen der Berge. Hier wartete etwas auf sie, wie es auf unzählige andere gewartet hatte. Hierher waren sie durch die weite Öde gelockt worden wozu, das wußte nur der Herrscher dieses Nebelreiches. An diesem vermeintlichen Ziel aller Wünsche hielt der gedankenleere Hiero seinen Hüpfer an und blickte sich um, wobei sich sein Erstaunen in Grenzen hielt. Währenddessen lüftete sich der Schleier des Nebels, so daß er das Wasser sah. Vor ihnen lag ein schwarzer, stiller Teich, dessen Ufer im grauen Dunst verborgen blieben. Sie standen auf einer flachen Sandbank, die riffartig ins Wasser ragte und etwas härter war als der moosbedeckte Morast, den sie so lange begangen hatten. Der Grund bestand nicht aus Gestein, sondern aus aufgehäuftem, weißem Material, wobei hie und da spitze Trümmer aus der modrigen Masse abstanden. Knochen, so weit das Auge reichte; moosbedeckte, alte Gebeine, wovon einige noch recht weiß und frisch wirkten. Sie waren auf einen grausigen Friedhof gestoßen! 119 Wie viele Generationen, wie viele Lebewesen der Außenwelt hatten wohl beitragen müssen, um einen solchen Riesenberg verwesender Skelette aufzuschichten: diese Frage hätte nicht einmal der Bewohner des Sees beantworten können. * Ohne Unterschied waren die Zeugen der Vergangenheit vereint. Mächtige Schädel mit bröckligen, ellenlangen Stoßzähnen lagen zwischen zarten Hirnschalen der huftragenden Savannengänger. Schauerliche Pranken, mit Flechten und Schimmel überzogen, zeugten davon, daß auch die Fleischfresser nicht verschont geblieben waren. Die Schenkel und Hufe, die Cranien und Astragali von allerlei kleinerem Getier mischten sich einträchtig mit den riesigen Rippen und Mittelhandknochen der größten Landbewohner. Aus leeren Augenhöhlen starrten die Geister von Reptilien in aller Gelassenheit auf Säugetiere. Die
ganze Evolution hatte hier das gemeinsame Schicksal der Sterblichkeit ereilt. Die einzigen Besieger waren Nässe, Moder und brodelnder Nebel. Die einzige Grabschrift war Stille. Ebenso still wie die Gerippe um sie herum warteten der Mensch und sein Hüpfer. Segi hatte sogar das nervöse Zittern eingestellt und wagte sich nicht zu rühren. Hiero saß regungslos wie eine Bronzestatue auf ehernem Roß. Die zwei Köpfe starrten vor sich auf den dunklen See nieder, langmütig wie die sie umringenden Berge. Der kondensierte Dunst tropfte unbemerkt vom ledernen Stirnband des Metz. Er hatte sich des unnütz gewordenen Hutes längst entledigt. Seine dunklen Augen blickten stier aufs Wasser, ohne zu zucken, ohne Regung und Empfindung. Er wartete auf den Ruf. Doch als er kam, geschah dies so seltsam, daß Hiero bebend hochfuhr. Denn er kam in seinem Verstande. Willkommen, Zweibeiner! Du hast eine für euren Zeitbegriff lange Reise hinter dir. Das Tier, das dich trägt, hat dir geholfen, zu mir zu gelangen. Laß es nun stehn! Es hat seinen Zweck erfüllt, einstweilen zumindest. Wir beide jedenfalls können es nicht brauchen. Geh rechts ums Ufer, da wirst du dich wohlerfühlen! Wir haben viel zu bereden, wir zwei. Als die Stimme in seinen Verstand drang, wurde Hiero ein anderer Mensch. Äußerlich blieb er, was er seit langem war, ein Gefangener seines Körpers nämlich, dem Willen fügsam, der ihn rief. Aber die seltsame Stimme hatte in seinem Gehirn all die lange ausgefallenen Schaltkreise in Gang gesetzt, die von der Droge der Unreinen eingeschläfert worden waren. Sie ließen sich zwar nicht von ihm steuern, waren aber aktiviert. Er war wieder imstande, alle Emotionen zu fühlen, den Geist zu spüren, der sich an ihn wandte, mit seinem ganzen Intellekt auf die Zukunft hinzuplanen, den von der Droge angerichteten Schaden zu begutachten; vor allem aber kam er sich nicht mehr wie ein Gefangener im Kerker seines Schädels vor. Dennoch mußte er gehorchen. Er stieg ab, wie befohlen. Der Hüpfer blieb regungslos wie ein Standbild hocken und starrte aus seinen großen, sanftmütigen Augen ins Leere. Hiero ging entlang des dunklen Wassers vorsichtig über die schlüpfrigen, bröckligen Gebeine. Es war keine menschliche Stimme, die ihn geistig wachgerüttelt hatte. In gewisser Weise glich sie dem Haus, diesem pilzartigen, intelligenten Amalgam, das er weiter nördlich in seinem unterirdischen Stollen vernichtet hatte. Die Ähnlichkeit begründete sich auf eine gewisse Kälte und das Alter. Freilich hörte sie dort aber auf. Das Haus war ein tolles, feindseliges Gebilde gewesen, das alles haßte und verabscheute, was nicht der eigenen fauligen Natur entsprach, und sich mit seinen geil wuchernden Sporen die ganze Welt einverleiben wollte. Der Geist hier, ruhig wie sein Bergsee, war ganz anders: entrückt, gleichgültig, ohne Neid und Haß, denn er stand so hoch über allem, daß er sich solchen Banalitäten nicht hingab. Waren tiefe Emotionen vorhanden, so waren sie gut versteckt. Während Hiero über die Stimme nachdachte und versuchte, die hundertfach aufstiebenden Gedanken zu ordnen, die zusammen mit seinem Verstand plötzlich erwacht waren, tapste er weiter über die moos- und flechtenbedeckten Gebeine. Bald erreichte er das Ende und gelangte in eine kleine Bucht am Ufer des schwarzen Sees. Über 120 121 dem Wasser hing der Nebel in dichten, wallenden Schwaden. Es wurde heller, als die Sonne wieder zum Vorschein kam und sich schillernd im erstrahlenden Nebel brach. Hiero setzte sich auf ein dickes, grünes Moospolster und betrachtete eine schmale graue Felsspitze, die dicht am Ufer im Wasser sichtbar wurde, als der Nebel sich etwas lichtete. Die Stimme war nun schon seit einer ganzen Weile stumm geblieben, und sein Verstand konnte nichts registrieren. Dennoch wußte er genau, daß der Rufer noch in der Nähe war und er selbst ohne dessen Erlaubnis zu keiner Bewegung imstande wäre. Von der Stelle, von der er gerade gekommen war, drang ein dumpfer Plumpslaut herüber. Ansonsten blieb es still. Hiero auf seinem Mooslager wunderte sich über das Geräusch. Während er noch verdutzt darüber nachdachte, drang mit einemmal die Stimme wieder in seinen Geist. So, Zweibeiner, du ruhst dich aus. Ich entnehme deinem Empfinden, daß du weder Hunger noch Durst hast. Das ist gut, sehr gut. Dann können wir uns unterhalten. Die seltsame Stimme sprach nicht in Worten, sondern in. Bildern. Des weiteren kamen diese Vorstellungsinhalte stockend und mühsam und unterschieden sich völlig von der klaren Gedankenverständigung, die Hiero mit dem heimgekehrten Bären und Kameraden Gorm
verwenden konnte. Offenbar hatte das Wesen keine oder wenig Übung. War es auch hochbegabt mit allerlei Fähigkeiten, so mangelte es ihm doch an der nötigen Praxis. Du kannst mit mir sprechen, Zweibeiner, wie dus mit keinem sonst kannst, zumindest nicht in dieser Art. Wisse, es ist keiner hier, den du mit Lauten anreden könntest, wie dus mit deinesgleichen tust. An diesem meinem Platz ist sonst keiner mehr. Sprich also mit mir oder gar nicht. Gespannt versuchte Hiero, sich auf dem Gedankenweg verständlich zu machen. Gleichzeitig bemühte er sich, eine Blockade zu errichten, damit derjenige, der ihn angesprochen hatte, nicht in sein verborgenes, innerstes Denken vorstoßen könnte. Wer bist du? sendete er aus. Was willst du? Warum kann ich dich nicht sehen? Wo bin ich hier? Er hätte wetten können, beim Sprecher eine gewisse Belustigung oder wenigstens Ironie zu spüren. Allerdings schien gegen ihn nichts Niederträchtiges, Feindseliges gerichtet zu sein. Gleichzeitig erkannte er, daß das Wesen recht hatte. Er sendete nur zu ihm. Seine Fähigkeit war nur auf diesem einen »Kanal« wiederhergestellt worden. Abgesehen von diesem unsichtbaren Gesprächspartner war er nach wie vor von der Welt des Geistes abgeschnitten. Viele, viele Fragen, kam zur Antwort. Du brauchst sie nicht alle auf einmal zu stellen. Aber ich will versuchen, sie dir zu beantworten. Du wirst mich schon noch sehen, also laß dir Zeit. Ich habe meine Gründe, damit zu warten. Du bist sehr ungeduldig aber seid ihr Zweibeiner das nicht alle? Er ging über die eigene Frage achtlos hinweg und fuhr fort: Das ist mein Platz, der einzige Platz, den ich kenne, vielleicht je kennen werde. Ich habe dich hierher geschafft, was dir, wie ich sehe, nicht entgangen ist, indem ich an deinem Denken gezogen habe sachte zunächst, aber mit allmählich zunehmender Kraft. Denn ich erkannte deinen Geist als einen, der anders war als alle anderen, die ich bisher erlebt hatte. Viele Neu- und Vollmonde sind verstrichen, seit der letzte Zweibeiner hier bei mir war. Es ist schon so lange her, daß ich's vergessen habe. Schien mir nicht wichtig. Es kamen nur sehr wenige, und ihr Geist war blind und töricht, unvernünftig und schreckhaft. Da ich ihren Geist nicht erreichen konnte, habe ich ihnen schließlich den Frieden geschenkt. Ihr sogenannter Verstand war blutrünstig, furchtsam und grausam zugleich, wies die einfachen Tiere, die zu mir kommen, nicht sind. Wie diese sind sie nicht mehr. Hiero dachte an den moosbedeckten Knochenberg. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Wie lange hauste dieser unsichtbare Bewohner schon hier, und meinte er mit »Frieden geschenkt< und >sind nicht mehr< dieses modrige Beinhaus? Das Wesen, das zu ihm sprach, entdeckte seine Furcht 122 123 sofort. Hiero wußte, daß er in seiner jetzigen Verfassung nicht in der Lage war, auch nur den geringsten eignen Gedanken abzuschirmen. Fürchte dich nicht! sagte die Stimme mit erstaunlichem Nachdruck. Du bist von keinem Nutzen für mich, wenn du wie die übrigen Vertreter deiner Gattung in Panik gerätst. Ich will dir nichts Böses. Als ich die Kraft deiner Gedanken spürte, welche die Atmosphäre versengten denn obgleich dein Geist gebrochen und stumm gemacht worden ist, gewahre ich seine verlorene Macht , versuchte ich, dich hierherzuziehen. Du warst sehr weit weg, Zweibeiner, und ich konnte dich gerade noch aufspüren. Unter Aufbietung aller Sinneskräfte konnte ich dich eben noch erreichen. Es hat mich erschöpft ein Gefühl, das ich noch nicht gekannt habe. Als ich deinen Verstand endlich fand, war er blockiert, abgesperrt von allen äußeren Gedanken, selbst den meinen. Der Sprecher machte eine Pause, als suchte er nach einer Formulierung für ungewohnte oder gar völlig neue Gedankengänge. Aber diejenigen, die deinen Verstand vor der übrigen Welt verschlossen haben denn ich sehe, das wurde dir unfreiwillig und nicht zu deinem Vorteil zugefügt , wußten nichts von mir. Diese Bemerkung war nicht ohne einen gewissen Stolz gefallen, wie Hiero erkannte. Eine große Leistung, der die Stimme sich durchaus rühmen konnte. Ich fand eine kleine Stelle, die nicht von der Blockade betroffen war, ein Loch, könnte man sagen. Und in dieses Lock schickte ich meinen Gedanken, der dich zu mir rief. Es beanspruchte viel Energie. Ich habe immer Hunger. Sogar jetzt nach dem Mahl bin ich hungrig. Ich muß mehr Nahrung anlocken, ehe wir weiterreden können. Auch du, Zweibeiner,
mußt essen und ruhen. Geh zurück an den Platz von vorhin und hol die Speise, die du mitgebracht hast; dann kehre hierher zurück und iß und ruhe dich aus! Später können wir weitersprechen. Hab keine Angst! Hier herrsche ich allein, und kein Feind oder Tier kann ohne mein Wollen kommen oder gehen. Gegangen ist noch keiner. 124 In Hieros Verstand wurde es still. Die Stimme war weg. Beim Gedanken an die letzte Äußerung schauerte ihm. »Gegangen ist noch keiner.« Sollte dies auch sein Schicksal sein? Sollte er, von einem namenlosen Wesen tief ins Gebirge gelockt, einsam in diesem See des Nebels vergehen müssen, ohne seine Mission erfüllt zu haben und ohne daß Lucare und die Seinen je davon erführen? Er bekreuzigte sich. Wenn er je den Schutz des Herrn gebraucht hatte, so jetzt. Nicht die Furcht vor seinem Los und nicht einmal, daß er allein und verlassen sterben müßte, setzten ihm zu, sondern die Vorstellung, so viel auf sich genommen und überwunden zu haben, nur um ein so miserables Ende zu nehmen. Als er jedoch über die Vergangenheit, sowohl die jüngere als auch ältere, nachdachte, schöpfte er neuen Mut. Er besann sich auf die Abertausend Meilen, die er aus seiner nordischen Heimat gekommen war, die Erfolge, die ihm beschieden waren, die Feinde, die er besiegt hatte, und insbesondere auf die Frau, die er gerettet und für sich gewonnen hatte. Das war genug. Er war immer noch ein Mensch, seit seiner Jugend zum Kämpfer erzogen. Ein Krieger weiß, wann er kämpfen und wann er warten und der Dinge harren muß. Das Wesen, das er nicht leibhaftig gesehen hatte, hatte ihm kein Haar gekrümmt, sondern sich nur irgendwohin zurückgezogen. Es hatte ihn zum Essen und Ruhen aufgefordert. Also gut, so wollte er das denn tun. Gestärkt und erfrischt, würde er dann schon sehen, was als nächstes zu tun wäre. Hiero machte sich auf den Weg zurück zu der Stelle, wo er den gebannten Segi zurückgelassen hatte. Obwohl es heller geworden war und der Regen aufgehört hatte, hatte er Mühe, auf dem Pflaster aus zersplitterten, gebrochenen und schleimig-schlüpfrigen Knochen zu gehen. Er sah vor sich auf der >Sandbank< einen braunen Haufen und meinte, Segi habe sich hingelegt, obschon der Hüpfer im Nebel eigentümlich kurz wirkte. Dann erkannte er mit Entsetzen, daß das Tier überhaupt nicht da war. Er fing trotz 125 des schlechten Bodens zu laufen an und gelangte keuchend zu dem, was er mit Segi verwechselt hatte. Zu seinen Füßen lagen Sattel und Zaumzeug, komplett mit Zügeln, Stiefeln, Speer und Satteltaschen. Aber von dem braven Tier, das ihm so weit gefolgt war und ihn so geduldig getragen hatte, fehlte jede Spur. Der Hüpfer war verschwunden, als hätte er sich selber das Geschirr abgelegt, um ein kühlendes Bad im See zu nehmen. Überall auf dem Leder klebte ein klarer, geruchloser Schleim. Hiero zog das große Hausmesser, wirbelte herum, und kehrte sich dem See zu. Nun fiel ihm das dumpfe Plumpsen wieder ein, das er in der moosbedeckten Bucht, in die er gebeten worden war, vernommen hatte. Jetzt wußte er, woher es gerührt hatte! Du Verfluchter! tobte er in seinen Gedanken und schleuderte das Signal so wuchtig, wie er konnte. Komm und schnapp mich! Hör auf mit dem Versteckspiel! Hier steht einer, der sich wehren kann, kein armes dummes Vieh, das dir nichts getan hat! Los, hier steht ein Mann, also trau dich, du Kröte, du...! »Komm, ich warte!« Hiero war so wütend, daß er sein Schwert drohend gegen das Wasser schwang und den letzten Satz laut brüllte. Er bebte vor ohnmächtiger Wut über den feigen Mord am hilflosen Segi, denn er war sich sicher, daß das Tier nicht nur abgemurkst worden war, sondern auch keinerlei Möglichkeit gehabt hatte, sich zu wehren. Aus dem stillen Wasser kam keine Antwort. Keine Welle trübte die glatte Oberfläche; der glitzernde Nebel, bald grau und weiß, bald golden schimmernd, zog ruhig wie eh und je über den Teich, dessen anderes Ufer nicht zu erkennen war. Bis auf das immerwährende Tropfen der Wasserperlen von den Felsen und Blättern blieb alles regungslos. Hiero kämpfte seine Wut nieder. Er war mit süßen Worten eingelullt worden, während Segi in irgendein grausiges Lager verschleppt worden war, um einem widrigen Ungetüm zum Fraß zu dienen. Das erboste ihn. Bald wurde sein flammender Zorn jedoch von einer neuen Empfindung, ei-
126 nem kalten Unwillen, abgelöst. Was geschehen war, ließ sich nicht mehr ändern. Sie waren von einer Macht hierhergelockt worden, die sich rühmte, kein Opfer entkommen zu lassen. Sein unseliges Reittier hatte Hiero sein Leben anvertraut und es verloren. Da sein Gedächtnis wieder in Bestform war, erinnerte er sich ohne Mühe daran, wie Segi versucht hatte, ihn auf dem langen Weg ins Gebirge zu warnen, indem er bockend und schnaubend alles versucht hatte, seinen Herrn auf die Gefahr aufmerksam zu machen und zum Handeln zu bewegen. Aber gefühllos, betört, gebannt von dem hier lauernden Unding, hatte Hiero das arme Tier einfach weitergetrieben. Und das war die Folge! Nun denn, wie vorhin wollte er einfach dem Rat des Wesens folgen. Er nahm aus der Satteltasche Dörrfleisch und genießbare Wurzeln und aß, wobei er das Wasser keinen Moment aus den Augen ließ. Obschon er nicht damit rechnete, daß etwas aus dem stillen Teich auftauchen würde, ahnte er, daß Segis Würger von dort gekommen war. Die knochenübersäte Sandbank war dafür Beweis genug. Seit Jahrhunderten wohl rief die Stimme, die auch ihn angelockt hatte, ihre Beutetiere herbei, und dieser See war nicht aus Zufall ihr aktives Epizentrum. Hiero hatte keine Möglichkeit, das Wesen jetzt zu erreichen, wäre aber zumindest darauf gefaßt, wenn es zurückkäme. Denn es kam bestimmt zurück. Am moosigen Ufer suchte er sich sorgsam eine trockene Stelle. Im schwindenden Tageslicht denn er spürte, daß hinter dem Nebelschleier die Sonne unterging streckte er sich auf dem Boden aus. Sein Speer lag über der Brust und sein Schwert griffbereit daneben. Freilich war ihm klar, nachdem er den ersten Zorn verwunden hatte, daß ihm materielle Waffen wenig nutzen würden. Er sah sie als ein Symbol für seine Bereitschaft, mehr nicht. Daß sein Speer mit dem Querzinken am Blatt die Form eines Kreuzes hatte, bestärkte ihn zusätzlich mit der Gewißheit seines Glaubens. Er wurde mit einemmal schläfrig, fand aber daran nichts seltsam. Als die Nacht anbrach, vergaß er nicht, seine Ge127 bete zu sprechen, wobei er darin auch des guten Tiers gedachte, das ihm bis zuletzt treu gedient hatte. Draußen in den dunklen Wassern des Sees lauschte jemand seinem Beten jemand Fremdartiges und Einsames. Als Hiero erwachte, war es schon Vormittag, wie ihm seine innere Uhr verriet. Der Nebel war viel dünner als tags zuvor, und die Ufer reichten, wie er nun sehen konnte, weiter, als zunächst vermutet. Zwar war der Himmel darüber noch bedeckt, aber das Licht der Sonne fiel golden, wenn auch spärlich, durch den wallenden Brodem. ' Er gähnte und streckte sich; als ihm die Ereignisse des Vorabends wieder in den Sinn kamen, flackerte sein Zorn von neuem auf. Er zog die Knie an, legte sich den Speer über die Arme und blickte finster übers Wasser, das nun silbergrau im hellen Morgen vor ihm lag. Auf seinen Zornausbruch erhielt er sofort Antwort. Ich habe dir unrecht getan, wie ich sehe, verkündete die Stimme in seinem Kopf. Ich habe Einblick in dein Denken erlangt, während du geschlafen hast. Dies gelingt mir nicht so mühelos wie im wachen Zustand. Doch als dein Verstand geruht hat, habe ich in den dunklen Stunden großen Zorn gegen mich entdeckt. Daß ich das Tier, das dich hergetragen hat, getötet habe, das stimmt. Daß ich gewußt habe, damit deinen Zorn zu erregen, stimmt nicht. Zwischen dem Tier und dir hat irgendeine mir unfaßbare Bindung bestanden. Dennoch war es keineswegs dein Freund. Es hat dich getragen wie eine Last, was ihm kaum behagt hat, ob schon's für dich bequem gewesen ist. Es trug dich so, wie ein großes Tier ein kleines, das sein Blut saugt, trägt. Dennoch hat es dir weiter nichts verschafft als ein etwas schnelleres und müheloseres Vorankommen. Es folgte eine kleine Pause, als würde der Sprecher mit einer Formulierung ringen. Schließlich sagte er oder schickte er: Ich verstehe den Grund für deinen Zorn nicht, will aber alles in meiner Macht Stehende tun, um Wiedergutmachung zu leisten, falls du mir eine Erklärung für das Ganze gibst. Aus Gründen, die einem Nicht-Telepathen schwer ver128 ständlich zu machen wären, verpuffte Hieros Zorn augenblicklich. Er wußte auf der Stelle, daß der Sprecher die Wahrheit sagte. Sein langjährig geschulter und insbesondere in der jüngsten Vergangenheit erweiterter Verstand irrte nicht. Das unsichtbare Wesen, das sich
ihm mitteilte, log nicht. Alles, was es sagte, stimmte in seiner Sicht. Es stand wirklich vor einem Rätsel. Die Beziehung zwischen Mensch und Tier war ihm völlig schleierhaft. Der alte, kühle warum dachte er nur an dieses Adjektiv? Verstand, der ihn befragte, war wirklich verdutzt. Er wollte eine ehrliche Antwort! Hiero legte fast unwillkürlich den Speer weg und stand auf. Am Ende der >Landzunge< kräuselte sich das Wasser. Die unsichtbare Stimme hatte einen Besitzer. Und dieser Besitzer würde sich nun endlich zeigen, wie die Stimme versprochen hatte. Eine rundliche, glänzende, braune Masse hob sich zunächst kuppenartig aus dem Wasser. Es war der Deckel eines riesigen Schädels mit einem Durchmesser von mehreren Ellen. Dann kamen große, runde Augen mit braunen Pupillen und gelbem Rand zum Vorschein. Über den Augen hafteten zwei fleischige Klumpen, die sich ausstreckten und beim Auftauchen schließlich als lange hornige Tentakel entpuppten. Ihre Haut war wie die des Kopfes weich, aber rauh, und braun marmoriert. Es fehlte die Nase, und der Mund bestand nur aus einem Schlitz unter dem kinnlosen Gesicht. Ohren waren ebenfalls nicht vorhanden. Vor den Augen des verblüfften Menschen hob sich der Kopf auf dem glatten, säulenartigen Hals höher und höher; bald neigte sich das Haupt und blickte zu ihm herab. Das Wasser verdrängend, glitt das Gebilde langsam näher. Als es ans Ufer gelangte, hob sich der Hals noch mehr, und ein dicker werdender Leib folgte. Als der Leib ein Stück aus dem Wasser ragte, hielt er inne und kam nicht weiter heraus. In Sturzbächen strömte das Seewasser vom ruhenden Leib. Nun siehst du mich mit eigenen Augen, Zweibeiner, ohne 129 dich zu fürchten wie die unzähligen andern, die mich bislang gesehen haben. Hiero schaute zum Titanen auf. Ganz abgesehen von seinen Geisteskräften, die Hiero für gewaltig einschätzte, hätte er einen Buffer wie eine Ameise zermalmen können. Daß der größere Teil des Leibes noch unter Wasser lag, daran bestand kein Zweifel. Er hatte sich zu diesem Plausch einfach mit dem Vorderteil auf den Fels gestützt. Allem Anschein nach besaß er keinerlei Gliedmaßen, es sei denn, man zählte die fühlerartigen Auswüchse dazu, die sich über den Augen reckten und streckten. Es herrschte eine Weile Stille, während die beiden sich musterten. Der Mensch nun schickte die nächste Botschaft eine einigermaßen wirre. Wer bist du? Was bist du? Den du getötet hast, das war mein Freund. Er vertraute mir und kam auf mein Geheiß hierher, obschon er nicht wollte. Weißt du, was ein Freund ist! Noch während er zum mächtigen Verstand vor sich sprach, erkannte er, daß er die letzte Frage natürlich selbst beantwortet hatte. Viele, viele Fragen hat der kleine Zweibeiner wieder. Da Hiero den Erzeuger der Gedankenstimme nun sehen konnte, schienen seine Worte in seinem Kopf zu tönen und zu hallen, was er sich nur einbildete. ' Ich hab' mir nie Gedanken darüber gemacht, wer ich bin, fuhr der Teichkoloß fort. Ich war stets allein. Mir ist klar, daß Möglichkeiten der Unterscheidung erforderlich sind, wenn es von einer Rasse viele gibt. Aber einen wie mich gibt's kein zweites Mal. Nenn mich, wie du willst. Ich weiß, wer gemeint ist. Daran schloß sich anscheinend eine Pause an. Was ich bin, das kann ich nicht mit Gewißheit sagen. Mein Gedächtnis reicht weit zurück, Zweibeiner weit zurück in die Zeit, wo ich noch nicht denken konnte. Zurück in die Zeit meiner Anfänge, wo ich nicht denken, sondern nur fühlen konnte! Ich war muß gewesen sein ein dummes Tier, eins von dem blöden Vieh, das mir nun als Nahrung dient, dessen Gebeine das Ufer bedecken. 130 Hiero fragte sich, wie lange es gedauert haben mußte, einen solchen Berg von Skeletten aufzuhäufen. Das Wesen aus dem Teich schnappte seinen Gedanken auf. Ja, es hat lange gedauert. Länger, als du denkst! Denn die Knochen, die du siehst, sind nur die jüngsten. Das ganze Ufer, auf dem du stehst, und alles um dich herum, so weit das Auge reicht, besteht aus Knochen, von Moos und Pflanzen überwuchert. Als ich zu fressen begann, gab es hier nichts als blanken Fels!
Hiero machte große Äugen. Wieviel Zeit verflossen sein mußte, damit aus den Gebeinen Bett und Ufer des Sees entstehen konnten! So viel Zeit, versetzte sein Gegenüber, das wiederum den Gedanken aufgelesen hatte, daß ich, der ich nie die Gabe der Zeitmessung beherrschte noch ihrer bedurfte, nicht sagen kann, wie lange. Aber ich kann mich dunkel an etwas erinnern: nämlich an Furcht! Selbst ich, der Einzige, habe Furcht gekannt. Es war ein großes Feuer am Himmel, durch das kleinere Feuer schlugen. Die Erde bebte, und die Gebirge stürzten zu Tal. Es wurde so heiß, daß die Luft schier brannte. Es war eine eigentümliche Hitze, wie man sie sonst nicht kennt; also nicht diejenige, die bei Unwetter vom Himmel schießt, denn diese Hitze kenne ich gut. Erstere, die Hitze von dereinst, machte alles Wasser warm. Ich mußte den See verlassen und mich tief ins Gestein verkriechen. Schließlich getraute ich mich wieder hervor zum Licht und zum kühlen Wasser. An all dies besinnt sich mein Körper, nicht aber mein Verstand. Verstehst du, Zweibeiner? Erst damals sagte ich mir: »Ich bin.« Und ich war noch nicht einmal so groß wie du und trug etwas mit mir herum, das an mir festgewachsen und zu meinem Schutz unerläßlich war. Das ist schon eine Ewigkeit her. Und als ich lernte, Nahrung zu beschaffen, denn ich brauchte ungleich mehr, legte ich ab, was ich mit mir herumtrug. Ich war zu groß geworden dafür. Dennoch bewahrte ich es auf, denn es war das einzige Erinnerungsstück an die alten Zeiten, die Tage der Furcht, als ich zitterte und die Berge bebten. Ich hab's 132 noch, denn ich verwahre es sicher in meinem Körper. Vielleicht wird es dir von meinem Alter und von den davorliegenden Zeitaltern künden. Der riesige Hals schien sich zu kräuseln, als streckte sich der Leib. Der Metz konnte beobachten, wie sich eine nicht besonders große, aber deutliche erhabene Ausstülpung in der weichen, schleimigen, braun marmorierten Haut bildete. Von der Stelle, wo der Leib aus dem Wasser ragte, wanderte der Hautsack nach oben, bis er in der Höhe von Hiero angelangt war. Daraufhin teilte sich die Haut einfach, und das, was die Beule aufgewölbt hatte, kam zum Vorschein. Es lag auf dem mächtigen Leib und glänzte im weichen Licht, das durch den Nebel drang: ein hübsches, goldenes Schneckenhaus, nicht größer als eine Melone. Vor den Augen des Priesters teilte sich die Ausstülpung abermals, woraufhin das Schneckenhaus verschwunden war. Er hätte beinahe gelächelt, wäre er nicht so verdutzt gewesen. Eine Schnecke! Dieser Berggott, dieser uralte Titane war eine Schnecke! Seine Verwunderung wurde rasch wieder von nüchternem Denken abgelöst. Was immer dieses Wesen sein mochte, es war sicherlich nichts Verabscheuungswürdiges. Was hatte es nicht alles gesehen! Es war ein Kind des Todes! Denn was waren das Feuer und die Hitze, die huschenden Lichter und die erschütterten Berge anderes als die lebendige Erinnerung daran, was vor unzähligen Jahren die Erde zerstört hatte? Seit jener Zeit hauste dieses Geschöpf in diesen Bergen, wuchs und gedieh, erwarb Weisheit, indem es aus Erfahrung lernte, forschte und grübelte und suchte nach Wissen. Und stets war es allein! Was war das wohl für ein Leben, dieses Leben in jahrtausendelanger Einsamkeit? Hiero bekam Mitleid mit ihm. Er hatte den lebenden Beweis für die These von Bruder Aldo und seinen Elfern vor sich, daß nämlich alles Leben einen Zweck habe? Die Frage war nur, welchen Zweck dieses Wesen hatte? Während er diesen Überlegungen nachhing, wurde er von den großen Bernsteinaugen ohne Lider oder Wimpern 133 beäugt. Und das Gehirn des Riesen war durchaus logisch und verfügte über intakte Erinnerungen der jüngsten Vergangenheit. Zweibeiner, ich habe versucht, dir zu erklären, was ich bin. Wie ich sehe, hast du verstanden, worüber ich froh bin. Trotzdem ist da noch die Sache mit dem Tier, das dich auf seinem Rücken getragen hat. Ich hab's gegessen. Ich entfernte die Dinge, die an ihm waren, denn ich dachte, sie gehörten dir und du brauchtest sie noch. Dann zog ich es ins Wasser. Es spürte nichts, sondern sank in tiefen Schlaf. Und ich aß es. Das tu' ich schon, seitdem ich denken kann. Ich wollte und will dir nichts Böses. Ich wünschte, ich könnte das Tier wieder lebendig machen. Du sollst mir nicht grollen, Zweibeiner, denn ich habe dich nicht
hierhergeholt, um dir etwas zuleide zu tun. Ich will sprechen, endlich zum ersten Mal mit einem anderen sprechen, Gedanken austauschen; nur deshalb habe ich dich hergelockt, wie ich seit alters her Beute anlocke. Obgleich ihn Segis Tod schmerzte, verwarf Hiero nun jeden Gedanken an Rache. An Segis tragischem Ende hatte letztendlich keiner schuld. Die Riesenmolluske könnte ihm in dieser und wohl keinerlei Hinsicht irgend etwas vormachen. Sie hatte keine Erfahrung im Lügen. Wieso sollte sie auch ihre Absichten verbergen? Die Zeitalter, die sie durchlebt hatte, verliehen ihren Äußerungen genügend Beweiskraft. Gefühle waren diesem Wesen, das Jahrtausende ohne Gefährten verlebt hatte, völlig fremd. In all den einsamen Jahren hatte sie nur eine Sache vor dem sicheren Wahnsinn aus Langeweile bewahrt: Neugier auf die Außenwelt, der Drang, in Erfahrung zu bringen, was es sonst noch gäbe neben dem abgelegenen Bergsee, der der Vergessenheit anheimgefallen war. Hiero, selbst all sein Lebtag auf der Suche nach Weisheit, verstand den wißbegierigen Titanen nur zu gut. Er wollte niemandem weh tun, sondern schlicht mit dem ersten Geist, den er in seinem langen Leben aufgespürt hatte, in Verbindung treten. Er überlegte rasch: Du sagst, unwissentlich mein Tier ge134 tötet zu haben, das mir teuer war, obwohl du so etwas nicht verstehen kannst. Ich denke, ich glaube dir. Aber neben dieser zugegebenermaßen unbeabsichtigten Tat hast du auch davon gesprochen, den angerichteten Schaden wiedergutmachen zu wollen. Vielleicht hast du mehr angestellt, als du ahnst, denn wisse, ich bin auf einer Mission, einer Reise. Eile tut not, damit meine Feinde, die Feinde alles Guten, die Ziele, die sie sich gesetzt haben, nicht erreichen. Von diesem Weg hast du mich abgelenkt, indem du mich unzählige Meilen von meinem eigentlichen Weg, der im hohen Norden liegt, fortgelockt hast. Dies spricht neben dem Tod des Hüpfers zusätzlich gegen dich, wenn du ehrlich bist. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Ich habe die Wahrheit gesagt, wenn wahr ist, was ich glaube. Aber ich habe keine Möglichkeit, die Wahrheit abzuwägen, wie du es nennst, obschon ich erkenne, daß du's kannst und daß unzählige andere es können. Paß auf! Das Wesen machte wieder eine Pause; Hiero wußte nun, daß dies seine Art war, seine Gedanken in Ordnung zu halten. Er mochte keine Unordnung, dieser einsame Geist. Und während Hiero dies dachte, trat beinahe ungewollt ein Name über seine Lippen: »Solitär.« Die große, kühle Stimme hallte von neuem durch die endlosen Windungen seines Verstandes. Aha du hast mir einen Namen in den Klängen deiner Sprache erteilt! Ich, der ich nie einen Namen hatte oder brauchte, nehme ihn an. Solitär! Zum großen Erstaunen des Menschen tauchten in seinem Verstand die Buchstaben des Wortes in bester Metz-Schrift auf! Der Titane jedoch übermittelte unbeeindruckt weitere Botschaften. Ich habe schon viel, sehr viel von deinem Verstand gelernt. Während du geschlafen hast, habe ich alles Wissen, das er ohne weiteres hergegeben hat, übernommen. Ich habe das Gefühl und das ist an sich schon etwas Neues , daß du verstehst, was dies für mich bedeutet. Ich habe neue Gedanken, neue Konzepte in Hülle und Fülle! 135 Seine Begeisterung dröhnte wie der Freudenschrei eines Riesen durch Hieros Kopf. Nun hör, was ich herausgefunden habe, während du geschlafen hast, Hierol Wieder prägte sich der Name in richtigen Buchstaben seinem Denken ein. Ungeachtet der Verwunderung des Menschen wurde der Gedanke aber fortgeführt. £s besteht ein Risiko, aber nur ein kleines, wie ich meine. Dem steht der gewaltige Gewinn für dich gegenüber, falls du gewillt bist, es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Wenn du die Kraft und den Willen dazu hast, mir auch weiterhin zu vertrauen und zu glauben, daß ich dir nichts Böses, sondern nur dein Bestes will, dann kann ich vielleicht aber nicht sicher, denn ich weiß eigentlich noch zu wenig deinem Verstand helfen. Der Metz hatte sich wieder gesetzt und ruhte behaglich auf einem Polster aus tiefem Moos, während er zu den suppentassengroßen Augen über sich aufschaute. In seinem Kopf freilich ging's hoch her, als er die letzte Bemerkung registriert hatte. Meinem Verstand helfen? Seine schwarzen Augen blickten unruhig zum dunstigen See, dann wieder zu ihm. Mein Verstand wenn du damit meine Geisteskräfte meinst, die Fähigkeit, in die Ferne zu sehen, mit anderen in Verbindung zu treten ist tot. All das ist einer
von meinen Feinden verabreichten Droge zum Opfer gefallen. Dies ist der hauptsächliche Grund, warum ich durch die Wildnis irre und nicht in offenem Kampf mein Volk ins Feld führe. Wie du, Solitär, selbst gesagt hast, kannst du nur durch einen kleinen Spalt mühsam in meinen Verstand vordringen. Was genau meinst du denn damit!1 Die große, ruhige Stimme versetzte beschwichtigend: Ich meine damit folgendes, mein... es folgte ein fast scheues Zögern Freund. In der endlosen Zeit seit dem >Tod< wie ihr es nennt, das schreckliche Feuer, das euer Volk einst entfesselt hat; ich weiß nun, daß ihr es wart, mögt ihr auch wie Zwerge erscheinen habe ich notgedrungen viele Erfahrungen gesammelt. Ich lockte die niederen Tiere 136 nicht einfach nur zum Verspeisen an, obgleich das zunächst der einzige Grund war. Ich hab' mehr mit ihnen gemacht so auch mit den Pflanzen. Dein Wort dafür lautet: >StudienTod< selbst und seine Auswirkungen und Ursachen. Weiter fände ich die Kriege deiner Rasse und den, den ihr gerade führt, interessant. Ich würde gern etwas über eure Feinde erfahren, die ihr >Unreine' nennt, und über die Verbündeten an den Orten, die du durchwandert hast. Was dir sonst noch einfällt, das ich vergessen habe, würd' ich auch gern erfahren. Und dann bin ich noch ganz gespannt auf die allerwichtigste Frage. Was, in aller Welt, soll das sein? warf Hiero verdutzt ein. Nichts von dieser Welt, erwiderte die Molluske. Zumindest entnahm ich das deinem Gebet vor dem Einschlafen. Ich bitte um Einsicht in das Wesen und Sein Gottes. »O je«, sagte Hiero laut, »darum hab' ich wohl gebeten, ja!« Sobald ich mit deinem Gehirn fertig bin, wollen wir reden, erwiderte Solitär. Und dann heißt's für dich: Schleunigst aufbrechen. Die Pflicht ruft. Läufer der Nacht Eine Wochenreise nördlich von Solitärs See stützte sich Hiero auf seinen Speer und blickte zurück zum langen Paß, über den er gerade abgestiegen war. Er rastete und ruhte, so gut es ging, ohne in dieser Wildnis sein Leben zu gefährden. Ein paar kleine Vögel zwitscherten im Dickicht, und ein Falke, der fast an die Größe eines Adlers heranreichte, beäugte den Menschen argwöhnisch von seinem Horst auf einem Sims in der Felswand zu seiner Linken aus. Kleine Nagetiere und Eidechsen trippelten hastig durchs Unterholz. Aber es waren keine gefährlichen Tiere in seiner Nähe. Das wußte Hiero. Er war geistig nicht mehr blind, sondern wieder im Besitz seiner gestohlenen Fähigkeiten und konnte mit seinem Geist sehen! Er vermochte in die kleinen, wilden Gehirne um sich herum einzudringen und mit einiger Mühe durch die Augen der huschenden Kreaturen zu sehen! Er polierte gedankenversunken seinen Schild mit dem Arm, während er in der Morgensonne stand. Er hatte Anlaß zur Dankbarkeit und der Schild war ein weiterer Beweis dafür, denn er war ein Geschenk eines neuen Freundes, von dem er sich nur ungern getrennt hatte. Ich gebe dir dies, Hiero, hatte Solitär zum Abschied gesagt. Du hast mir ein Bild von deinen Kämpfen übermittelt. Bei diesen hast du so etwas verwendet. Vor langer Zeit, als die Welt vielleicht noch von deiner Rasse beherrscht wurde, fiel ein großer Klumpen dieses Materials tief in meinen See. Ich fand ihn ist auch schon lange her und bewahrte ihn auf, weil ich nicht wußte, was es war. Aber du kannst das jetzt gebrauchen, meine ich, also hab' ich das Material in der Nacht, während du geschlafen hast, für dich geformt. Trag es, auf daß es dir Schutz gewähre, wie mir mein eige142 ner Schild Schutz gewährt hat, als die Welt jünger war und die Feuer noch nicht gewütet hatten. Der Metz betrachtete den kleinen Schild voller Freude. Er war rund und sehr leicht und hatte einen Durchmesser von gut zwei Fuß. Die Farbe war graubraun, und die matte Oberfläche reflektierte wenig Licht. Hiero wußte, worum es sich handelte, und versuchte, es der großen Molluske, die dafür starkes Interesse zeigte, zu erklären. Plastikteile kamen bei Erdarbeiten immer wieder zum Vorschein, obschon sie meist bröcklig und wertlos, zuweilen aber auch noch intakt waren. Hieros Mutter hatte einst ein solches Stück besessen, einen Teller mit dem Bild eines seltsamen Tiers, das wahrscheinlich auch dem Tod zum Opfer gefallen war, eines breitschnabligen Vogels in Menschenkleidung. Doch selbst in grauer Vorzeit war Plastik von solcher Dichte und Härte eine Rarität. Einst Versuchsstück in einem längst untergegangenen Laboratorium, war es nun einer neuen Bestimmung zugeführt worden. Der Riese hatte sogar daran gedacht, in die Fläche Löcher einzufügen, die Hiero zum Befestigen der ledernen Armschlaufen brauchte. Darüber hinaus hatte Solitär in die Mitte des Schildbuckels einen schwarzen Stein mit funkelndem Schliff gesetzt. Das ist der härteste, dichteste Stoff, der mir je begegnet ist, erklärte er dem Menschen. Wenn dein Schädel aus diesem Material wäre, wäre unser Versuch zur
Wiederherstellung der Geisteskräfte auf alle Fälle gescheitert! Hiero hatte schon den einen oder anderen Diamanten in Frauenhaar oder an Finger und Handgelenk glitzern gesehen. Dieser große Brocken von industriellem Diamantabfall war etwas Neues für ihn. Eigentlich spielte es gar keine Rolle. Er hätte mit Freuden alles genommen, was der große Herr des Sees ihm zu geben geruht hätte. Denn die allergrößte Gabe überhaupt war, wieder im Besitz leider nicht im Vollbesitz seiner Geisteskräfte und Sinne zu sein. Als er am Morgen nach der Operation erwacht war, stellte sich heraus, daß Solitär enttäuscht war vom Ergebnis. Der 143 Riese unterbrach Hieros dankbaren Wortschwall mit ständigen Rechtfertigungen. Ich habe nicht alle Verbindungen verstanden, nicht ihren Sinn und Zweck durchschaut. An diejenigen, die mir schleierhaft waren, wagte ich mich nicht heran. Ich bin mir völlig darüber im klaren, daß ich weniger erreicht habe, als ich gewollt und versprochen habe. Was der Mensch auch versuchte, er vermochte den Riesen nicht aufzuheitern, obschon er ein wahres Wunder vollbracht hatte. Solitär hatte den Menschen in Tiefschlaf versetzt, indem er die hypnotische Kraft seiner großen Augen einsetzte, wobei Hiero freilich keinen Widerstand leistete und möglichst unverkrampft blieb. Vom Sonnenuntergang bis tief in den nächsten Morgen hinein hantierte der seltsame Chirurg die ganze Nacht lang mit den Mikro-Instrumenten, die sein Körper ausgebildet hatte, an seinem Gehirn. Er stellte allerlei Verbindungen wieder her und besserte operativ Schäden aus, wobei er nur aus dem Gedächtnis und anhand seines Tastsinns vorgehen konnte. Er schuftete wie verrückt. Als er schließlich überzeugt war, alles in seiner Macht Stehende getan zu haben, weckte er seinen Patienten. Mit wachsender Begeisterung stellte Hiero fest, daß seine verlorengegangenen Fähigkeiten wiederhergestellt waren. Die geistige Blindheit war aufgehoben und sein Bewußtsein für anderes Leben wieder vorhanden. Als Solitär einen jungen Bock aus den Tälern anlockte, bemerkte der Metz das näherkommende Tier und konnte sich schließlich in seinen Verstand versetzen. Daraufhin brachte er es nicht mehr übers Herz, zuzulassen, daß der Riese es verspeiste. Solitär wandte leicht beunruhigt ein, irgend etwas müsse er ja essen, da er hungrig sei, woraufhin Hiero aus dem Blickfeld verschwand und sich in ein stilles Eckchen verzog. Was, dem Ruf des Riesen folgend, herbeieilte, das erfuhr der Priester nie; er hoffte nur, etwas Großes, Niederträchtiges und Blutdürstiges. Nachdem Hiero zu ihm zurückgekehrt war, zeigte sich Solitär noch immer besorgt darüber, daß er dem Menschen eine Gabe nicht hatte wiedergeben können. Es handelte 144 sich hierbei um die neueste Errungenschaft Hieros, die Fähigkeit nämlich, einen anderen Geist zu packen und seinem Willen zu beugen. >Sehen< und sich verständigen konnte er so gut wie früher, wenn nicht besser. Aber zum geistigen Kampf war er nicht mehr befähigt. Der Wirkstoff der Unreinen hatte diese Gabe so gründlich zerstört, daß nicht einmal der geniale Solitär Abhilfe hatte schaffen können. Sodann hatte die angekündigte Fragestunde stattgefunden. Hiero geriet in arge Bedrängnis, den Wissensdurst des Riesen zu stillen. Seine Kenntnisse aus der Klosterschule wurden einer ungeahnt harten Prüfung unterzogen. Was ist das und woher kommt's? lautete die grundsätzliche Frage der Riesenschnecke zu allem. Hiero schauderte insgeheim beim Gedanken daran, was seine Lehrer in der Kirche zu seinen Äußerungen über das Wesen des Allmächtigen sagen würden. Dennoch gab er sich alle Mühe; besser hätt's keiner machen können. Es war gar nicht so schwer, wie er's sich vorgestellt hatte. Solitär war sehr verständig und begriff schnell. Sein unglaublicher Verstand, vollgestopft mit den Erinnerungen und Überlegungen aus fünf Jahrtausenden, bedurfte wenig Hilfestellung, um einem Gedankengang zu folgen. Als Hiero das Wesen der Unreinen erläuterte, erfuhr er auch etwas über den >anderen GeistAffensitz< war ebenfalls deutlich vernehmbar. Mich zu töten ist nicht so leicht, schickte der Mensch als Erwiderung. Ein paar verstauchte Glieder und brummende Schädel sollten Beweis genug dafür sein. Ich habe deine Kätzin hier in meiner Gewalt. Abgesehen von einem weiteren Brummschädel ist sie unverletzt, aber das kann sich rasch ändern! Er ließ seine Verachtung unmißverständlich durchklingen. Diese Kreaturen trieben ihr Spiel schon viel zu lange! Die Gedankenverbindung brach in der für diese Katzen typischen Weise ab. Allerdings vernahm Hiero von unten ein schnurrendes Gemurmel. Die Katzen waren nicht auf den Kopf gefallen. Ihre gesprochene Sprache könnte er schwerlich belauschen, wobei sie im übrigen nicht genau wußten, wozu er imstande wäre. Deshalb wollten sie lieber Vorsicht walten lassen gegenüber diesem neuen Phänomen. Die Maus zeigte Zähne! Also nur nichts überstürzen und gut überlegen, was zu tun wäre. Mittlerweile spürte Hiero, daß in den Körper unter seinem Fuß allmählich wieder Leben kam. Er bückte sich rasch und löste die Schnalle an seinem Gürtel, woraufhin er ihr die Arme auf den Rücken fesselte. Mit einem kurzen Lederriemen aus seinem Ranzen band er ihr an den Knöcheln die Füße zusammen. Falls ein neuer Angriff käme, wollte er keinesfalls eine Einmischung von Seiten einer rasenden Wildkatze dieser stürmischen Gattung riskieren. Nach einer Weile schickte der Führer eine weitere Mitteilung hinauf. Laß die junge Kätzin runter! Wenn ihr nichts geschieht, überlegen wir uns das Ganze. Andernfalls kommen wir und bringen dich um. Im fahlen Licht des wolkenverhangenen Mondes sann der Metz nach. War das nur Bluff? Die Kreatur unter dem Baum hatte nichts versprochen. Sobald sie die junge Kätzin wiederhätten, könnten sie erneut angreifen und hätten nichts verloren im Gegenteil. Er hingegen hätte seine Geisel verloren, die ihnen offensichtlich viel wert war. Seine Gedanken überschlugen sich, als er abwägte, was er wußte und was er über diese Wesen erraten hatte, wobei er vor allem ihre Herkunft und ihr wahrscheinliches Verhalten gegenüber einer neuen Situation in Betracht zog. Dem Menschen fiel nicht nur das rücksichtslose Vertrauen auf, sondern noch etwas anderes, nämlich zweierlei, um genau zu sein. Zum einen ein Gefühl der Aufrichtigkeit, als hätte es das Wesen noch nie nötig gehabt zu lügen; zum andern etwas, worauf Hiero von Anfang an gehofft hatte: Neugier. Das würde die Katzen vielleicht nicht umbringen, könnte aber von Nutzen sein. Nicht zum ersten Mal in seinem aufregenden Leben beschloß Hiero, das Wagnis einzugehen. Seine Gefangene hatte das Bewußtsein wiedererlangt. Aus den länglichen Augen funkelte sie ihn verachtungsvoll an, wobei sich die Sehschlitze zornig verengten. Sie bleckte die scharfen Zähne im breiten, fast lippenlosen Mund, um ihm zu zeigen, was sie bei erster Gelegen176 177 heit mit ihm machen würde. Hiero bemerkte die feinen Schnurrhaare auf der Oberlippe und entlang der spitzen Schnauze denn das war die Nase in Wirklichkeit, stellte Hiero nun fest. Sei schön artig, Schwesterchen. Ich tu dir nichts. Ich lasse dich frei und hinunter. Dein Führer er übermittelte ihr ein Bild der dominanten Katerpersönlichkeit hat gebeten, daß ich dich
unversehrt zurückgebe. Langsam löste er die Fessel an ihren Beinen und dann an den Armen, wobei er stets wachsam auf mögliche jähe Bewegungen achtete. Er fürchtete zwar nicht unbedingt den Zweikampf mit diesem Geschöpf, war sich aber darüber im klaren, daß die Zähne und Krallen nicht nur als Zierde dienten. Sie erhob sich ebenso vorsichtig, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Ihr Blick war nicht mehr zornig, sondern verblüfft. Als er ihr das lange Messer reichte, das er schon vorhin aus der Baumgabelung geborgen hatte, machte sie noch größere Augen. Dann steckte sie es in die Scheide am wieder umgeschnallten Gürtel und glitt über den Ast flink den Baumstamm hinunter. Hiero hockte sich zurück und wartete. Er hatte das Gefühl, lange warten zu müssen. Der Morgen graute und der Mond sank unter den Horizont. Ein paar Schakale bellten in der Ferne, und eine große Eule flog in Hieros Baum, bemerkte den Menschen und flatterte mit klagendem, angewidertem Geschrei wieder auf und davon. Aber Hiero wußte, daß er nicht allein war. Er hatte nicht die Absicht, seinen sogenannten Affensitz zu verlassen und nachzusehen, wie viele Augen ihn aus der Dunkelheit anfunkelten. Die einzelnen Gehirne waren ihm versperrt, aber er spürte eine gemeinsame Aura, die wuchs, als immer mehr Wesen der Nacht hinzukamen und sich der Gruppe anschlössen. Unter dem Baum mußte es inzwischen nur so von ihnen wimmeln. Er fragte sich, ob er in dieser Nacht blutig sein Ende finden würde und sprach seine Gebete mit besonderem Nachdruck auf die Tugenden Güte und Barmherzigkeit. Dabei dachte er in erster Linie nicht an seine Person, sondern an jene, die sie besäßen! 178 Der Ruf kam so unverhofft wie alle anderen Reaktionen, die er beim Katzenvolk beobachtet hatte. Wenn du willst, daß dir nichts geschieht, dann steig sofort herunter! forderte der Führer ihn auf. Wir gehn jetzt und nehmen dich mit. Mürrisch fügte er hinzu: Du kannst deine Waffen behalten. Aber versuch nicht, sie zu verwenden! Als er bedächtig den Baum hinabkletterte, jubelte Hiero insgeheim. Es hatte funktioniert! Bis jetzt zumindest hatte er recht behalten. Die nächsten Minuten würden zeigen, ob seine Kehle heil bliebe. Natürlich gab er sich keinen Illusionen diesbezüglich hin, eine ganze Schar dieser ungewöhnlichen Mutanten auf dem Boden abwehren zu können. Er schickte ein letztes Stoßgebet empor und setzte den Fuß auf die Erde. Es war dunkel unter dem Baum, aber nicht so dunkel, daß er den Kreis großer Gestalten mit den zornig funkelnden Augen nicht hätte sehen können. Er fragte sich, wie viele Menschen in der Vergangenheit mit diesem letzten Bild vor Augen gestorben seien gelähmt vor Angst und völlig wehrlos. Der Griff um seinen Speer wurde fester. Immerhin hielt sich seine Angst in Grenzen, und wehrlos war er auch nicht. Komm! Es war der Führer, der befahl. Du kannst gehen, wie du es gewohnt bist. Wir werden langsam gehen und warten, langsam wie die Kriecher da drüben. Der verächtliche Gedanke war aufs Dorf gerichtet. Ich bin nicht von da drüben, erwiderte Hiero, wie ihr heut' nacht wahrscheinlich festgestellt habt. Seine Kühnheit ließ den Zorn wieder aufflammen. Diesen Leuten war es völlig fremd, daß ihnen in irgendeiner Weise Widerstand geboten wurde; schon gar nicht von bloßen Menschen. Der große Führer jedoch beherrschte seinen Unmut. Er beugte sich nun über Hiero, den er um einen guten Kopf überragte, wenn der Metz sich in dem düsteren Licht nicht verschätzte. Nein, du bist gewiß nicht wie die. Du kannst sprechen, wie nur (Hiero übersetzte den seltsamen, vokalreichen Ausdruck mit >TerowärBuorchKuriosum< oder >Rätsel Diejenigen von der Holzwand jagen mit Fallen und bedeckten Gruben. Kannst du im Dunkeln jagen wie wir? Ja, dachte Hiero. Aber ich jage langsamer. Ich kann in der Nacht nicht so gut sehen wie ihr. Und ich kann nicht so schnell rennen. So habe ich noch keinen rennen gesehen, meinte er ganz ehrlich. Keiner kann mit uns mithalten, versetzte Buorch voller Stolz. Wir sind die Kinder des Nachtwinds. Dennoch, meinte er, gibt es sogar unter diesem niedrigen Volk gute Jäger, die teilweise der Beute auflauern. Manchmal machen wir Jagd auf sie! Und dabei kommt zuweilen der eine oder andere von uns nicht mehr zurück. Hiero war sich darüber im klaren, daß der Kater eine Rechtfertigung dafür suchte, einen gemeinen Menschen, mochte er auch noch so verwunderlich sein, gleichsam wie einen Ebenbürtigen oder fast Ebenbürtigen zu behandeln. Dem arroganten Führer war dies ein Bedürfnis. Freilich spielte noch ein zweiter Faktor eine Rolle, derjenige nämlich, mit dem der Metz von Anfang an gerechnet hatte: der Führer war neugierig. Er empfand das neue Rätsel als verlockend und wollte keineswegs davon lassen. Das Kätzchen hatte einen neuen Wollknäuel gefunden! Nicht nur die jungen Kätzinnen spielten gern mit allerlei Dingen, wie es schien. Hiero verkniff sich ein Lächeln bei der Vorstellung, der neben ihm tapsende Riese sei einmal ein Kätzchen gewesen. Wir mögen sie nicht, die Affen hinter den Wänden, die 181 von Pflanzen und von ihren zahmen Tieren leben. Die Milch der Tiere ist freilich gut, und wir nehmen uns reichlich davon. Eine Sie du hast ihr fast den Schädel eingeschlagen hast du schon kennengelernt. Bald wirst du einer anderen Sie begegnen. Vielleicht erfährst du, warum wir die Kreaturen, die dir viel ähnlicher als uns sind, nicht mögen. Mir fallen schon die schlimmsten Sachen ein. Reden wir nicht mehr, bis wir im Heim/Lager sind. Diese letzten Gedanken waren gar nicht ermutigend. Seit einer Weile schon hielten sie auf einen dunklen Schatten zu, der sich aus der Ebene erhob. Es handelte sich um eine ähnliche Baumgruppe wie die, in der Hiero Zuflucht gesucht hatte. Nur war sie größer und nicht leer, das spürte der Metz deutlich. Das Katzenvolk vermochte zwar den einzelnen Verstand vor ihm verbergen; als Gruppe aber strahlte es ein Miasma aus, das er als gedankliche Wolke leicht aufspüren konnte. Dieses Gehölz also war
ihre Heimstatt. Er hoffte nur, daß es nicht seine letzte Heimstatt würde! In wenigen Minuten gelangten sie an den Saum des Wäldchens und eilten über einen schmalen Pfad durchs Unterholz. Nach vielen wirren Windungen gelangten sie schließlich auf eine Lichtung inmitten dichtstehender Bäume. Hieros Gesichtssinn war so gut ausgebildet, daß er im Dunkeln die vielen Leitern sah, die an den Stämmen festgemacht waren. Zu einer davon wurde er nun von den Katzen freundlich, aber bestimmt geführt. Die Leiter war recht steil und ziemlich hoch. Schließlich standen Hiero und Buorch allein auf dem äußeren Rand einer Plattform, einem Geflecht aus Lianen und Weidenruten, falls Hiero sich nicht täuschte. Allein? Nein. Es war noch jemand anwesend auf einer Matte aus Zweigen an der gegenüberliegenden Seite. Ein glühendes Augenpaar starrte sie aus der Dunkelheit an. Ein Arm winkte. Setzen! Seite an Seite setzten der Kater und der Mensch sich nieder, während die Gestalt vor ihnen sie stumm beäugte. Es wurde kein Versuch unternommen, seinen Verstand zu beschleichen oder mit dem Führer in Kontakt zu treten. Dafür spürte Hiero förmlich, wie die Person überlegte, alte Erinnerungen wachrief, abwägte, einschätzte und verwarf. Sie ließ sich Zeit. Schließlich erhob sie sich von ihrer Matte aus Zweigen, trat ein paar Schritte vor im düsteren Licht und hockte sich vor die beiden. Sie war alt, wie der Metz feststellte, alt und verbraucht. Aber sie sprühte vor Leben, war geistig rege und hellwach, obschon der Körper matt und die Knochen spröde geworden waren. Buorch war gewiß ein guter Kämpfer und Führer eines Jagd- oder Kriegstrupps. Aber sie war der eigentliche Herrscher! Ich habe keinen Namen, nicht einmal in unsrer eigenen Sprache, Seltsamer! Aus ihren großen Augen funkelte eine innere Glut, aber es fehlte jedes Zeichen von Ungeduld, wie sie ihm selbst bei Buorch aufgefallen war. Ich bin die Sprecherin, ich bin die sich Erinnernde. Seit der vergessenen Zeit, in der wir frei geworden sind, muß eine wie ich das Volk zur Besinnung auf die Vergangenheit zwingen. Es darf die Schlechte Zeit nicht vergessen werden, die wir an einem anderen, einem fernen Ort verlebt haben, bevor unsre Ahnen Sonne und Mond haben aufgehen sehn. Nun kommst du als erster vielleicht seit der Heranbildung und Benennung einer Sprecherin. Es mag deine Ankunft der einzige Grund dafür sein, daß es mich gibt, mich und die vielen Sprecherinnen vor mir, die der Wind verweht hat. Mit einer geschmeidigen Bewegung rückte sie noch näher zu den beiden. Hiero hatte das Gefühl, daß er nicht umhin könnte, nun darauf einzugehen. Eine vage Vorstellung bezüglich der Vergangenheit dieser Rasse war ihm in den Sinn gekommen, aber er behielt sie lieber für sich und schickte statt dessen eher Schmeichelhaftes hinüber. Zumindest bin ich kein Feind von euch. Ich habe dem Führer hier gesagt, daß ich nicht zu den Leuten der Savanne, den Dorfbewohnern gehöre. Ich denke, er glaubt mir. Die forsche Antwort lautete: Wer hier was zu glauben hat, das ist nicht er, sondern bin ich, Pelzloser. Deshalb bin 182 183 ich hier. Nach diesem Kontra wurde sie wieder ruhig und wechselte das Thema. Wir sind nicht, wie du offenbar glaubst, Feinde dieser Kreaturen, die draußen in ihren Pferchen hausen und weniger lebendig sind als die Tiere, von denen sie sich ernähren. Nein! Wir benutzen sie. Und sie erfüllen einen zweiten Zweck, der auch dich unmittelbar angeht, denn du hast mit ihnen viel mehr gemein als mit uns. Kannst du dir denken, was für ein Zweck das ist? Der Priester machte sich rasch Gedanken, die er freilich für sich behielt. Dies war eine schwerwiegende, gefährliche Frage. Er stand sozusagen am Rande eines Abgrunds. Er könnte mit dem nächsten Atemzug tot sein, wenn er die falsche Antwort gäbe. Dennoch konnte er nicht länger zaudern. Also beschloß er, alles zu wagen. Diese Leute da draußen im freien Gelände, die von meiner Art sind, obschon sie einfältig und an sich harmlos sind, dienen als Beispiel. Sie gemahnen uns an längst vergessene Zeiten. Zeiten, als andere, die ihnen zumindest körperlich glichen, nicht harmlos waren! Er hielt die Luft an und blickte gespannt in die senkrechten Sehschlitze der Sprecherin. Diese atmete fauchend auf, was Verwunderung und Anerkennung zugleich zum Ausdruck brachte. Du weißt also Bescheid? Und wenn ja, wieviel weißt du? Und vor allem, falls du
tatsächlich im Bilde bist, woher stammt dein Wissen? Hiero formulierte seine Gedanken mit höchster Sorgfalt. Die Sache stand immer noch auf Messers Schneide. Eine falsche Bewegung, und der bullige Führer, der so still neben ihm kauerte, spränge ihm an die Kehle und zerfleischte ihn, ehe er sich rühren könnte. Die alte Kätzin brauchte nur zu nicken. Glaube mir, ich weiß nichts, entgegnete er. Aber ich bin in meinem Leben weit herumgekommen. Ich habe viele Länder bereist und gekämpft an der Seite von Bundesgenossen, die ihr euch in euren kühnsten Träumen nicht vorstellen könntet. Auf uns stürzten sich noch viel wunderlichere Gegner, teils von meiner, teils von anderer Gestalt. Die schlimmsten dieser Unholde, meine Erzfeinde, sind äußerlich von meiner Art. Er machte um der Spannung willen eine Pause. Nur äußerlich. Wobei ihnen freilich Haare fehlen, da sie an Kopf und Körper völlig unbehaart sind. Hatten sich nicht soeben die Pupillen verengt? Er fuhr fort: An geheimen Orten, die für gewöhnlich unterirdisch liegen, züchten sie Sklaven, zumeist aus anderen Rassen, die sie in ruchlose Diener des Bösen umwandeln. Wie zum Beispiel diese: Er übermittelte das Bild eines Zottelheulers, eines Lemuts der Primatenfamilie, und nachdem sie es aufgenommen hatte, offenbarte er ihr eine grausige Menschenratte, das intelligente Riesennagetier. Allmählich wurde die Sprecherin gelöster, lockerte sich ihre Haltung. Aber sie ließ ihn keine Sekunde aus den Augen. Ihr nächster Gedanke hatte etwas Bittstellerisches an sich. Ihr Groll war zumindest was ihn betraf verflogen. Nun gut, wenn dus schon nicht weißt, ahnst du vielleicht wenigsten, was für eine Schmach auf uns, den Freiesten der Freien, noch lastet? Ich betrachte es nicht als Schmach, gegen seinen Willen von den Dienern des Bösen gefangengehalten und gemartert zu werden. Mir selbst ist dies widerfahren. Und ich bin entkommen, geflohen! Ja, ich bin noch immer auf der Flucht zurück in meine nordische Heimat. Genauso sind einst auch die Kinder des Nachtwinds geflohen, um den weiten Himmel zu schauen und Freiheit zu atmen. Auch von Hiero war nun alle Spannung gewichen. Seine wüsten Vermutungen, gestützt auf verschiedene Andeutungen, die die ganze Zeit gefallen waren, erwiesen sich als korrekt. Mit ihrem nächsten Gedanken bestätigte die Sprecherin ihn darin. Zeig mir in deinen Gedanken den Feind! Einen von der Spitze, einen von oben! Dies fiel dem Metz nicht schwer. Das verhaßte Gesicht von Sduna, dem Unreinen Meister, seinem eingefleischten 184 185 Todfeind, geisterte oft durch seinen Kopf. Die bleiche, haarlose Fratze mit den beinahe pupillenlosen, grausig funkelnden Augen und der boshaften Ausstrahlung nahm vor dem geistigen Auge der Katzendame Gestalt an. Abermals fauchte sie, wie auch der Führer neben Hiero fauchte vor Abscheu, die viele Generationen der Freiheit nicht hatten mildern können; die stolzesten und unabhängigsten Zuchttiere haßten ihre Kerkermeister von einst, die sie für ihre niedrigen Zwecke zu gebrauchen dachten, abgrundtief. Das sind sie! Der Blitz soll sie erschlagen! Krepieren sollen sie in ihren Höhlen, verrecken diese Folterknechte, die die Jungen und die Alten umgebracht, mit ihren gescheiten Werkzeugen und scharfen Messern an ihnen herumhantiert haben. Denn sie machten uns wehrlos mit ihrem Willen, so daß wir wie gelähmt ausharrten, während sie uns ob unsrer Schmerzen verlachten. Sie würden aus uns etwas Brauchbares machen, sagten sie. Wir wären gute Diener, hätten sie uns erst gebrochen und ganz ihrem Willen unterworfen. Hör zu, Fremdling, der du sie ebenfalls haßt. Ich, die sich Erinnernde, die Sprecherin des östlichen Rudels, will dir von dieser Zeit berichten, wie mir von meiner Mutter berichtet worden ist! Erfahre die Geschichte, die all unsre Jungen erfahren müssen. Denn wenn du sie haßt und ich spüre, daß du nicht lügst , dann bist du unser Freund. Sei dir der Hilfe des Rudels gewiß! Endlich konnte Hiero sich vollends gelöst zurücklehnen. Die Unreinen, denen die bloße Vorstellung den Schaum der Raserei vor den Mund getrieben hätte, hatten ihm neue Bundesgenossen gestellt! Als im Osten der neue Tag heraufzog, hörte Hiero von der Gefangennahme des Katzenvolks
in einem anderen Land, irgendwo viele Hundert Meilen im Südwesten. Er vermutete, daß die Unreinen die Katzen auf gesteigerte Intelligenz und Vitalität gezüchtet hatten, um aus ihnen eine neue Kriegerrasse zu machen, obschon er dies nicht zur Sprache brachte. 186 Sie sollten sich täuschen! Mit der gesteigerten Intelligenz erhöhte sich der freie Wille. Das Katzenvolk wurde sich darüber bewußt, daß sie Sklaven, nichts als Vieh, Nutztier zur Verwirklichung des Großen Plans waren. Die Gefangenschaft förderte den Gemeinschaftsgeist. Schmerz und Verzicht förderten ihre Verschlagenheit. Sie organisierten sich. Es folgte eine blutige Nacht. Sie entwichen aus den Höhlen und unterirdischen Laboratorien, was auf beiden Seiten große Verluste kostete. Sie hatten ihre Herren dermaßen überrascht, daß die Entkommenen so gut wie gar nicht verfolgt wurden. Und sie rannten, die Stolzen, die Freien, rannten, bis ihnen das Herz im Leib schier zersprang, rannten mit den Jungen im Arm. Schließlich befanden sie sich außerhalb der geistigen Reichweite, der unsichtbaren Ketten ihrer früheren Herrn, aber liefen dennoch weiter und gelangten eines Tages in ein neues Land. Hier ließen sie sich nieder, vergaßen aber nie, was ihnen geschehen war. Nie wieder würden sie sich so überrumpeln lassen. Die schauerliche Geschichte wurde jedem Jungen eingeschärft, bis sie unauslöschbar ins Rassenbewußtsein eingeprägt war. Als eine umherziehende Siedlergruppe mit ihrem Vieh in die Gegend kam, wachten im Dunkeln geschlitzte Augen. Die einzigen Menschen, mit denen das Katzenvolk Bekanntschaft geschlossen hatte, waren die Unreinen. Also wollte man die Siedler allesamt auf der Stelle umbringen. Aber die Vernunft siegte. Man beobachtete die verhaßten Kreaturen und kam zum Schluß, daß diese Menschen harmlos seien. Die Milch und das Fleisch falls gewünscht waren nützlich. Sollen die Siedler in ihrem Dorf bleiben. Wir besteuern sie und herrschen über sie. Das Joch ihrer Herrschaft war nicht drückend, wenngleich es ein paar strenge Gesetze gab. Jeder Mensch, der die Kinder der Nacht aus der Nähe sähe, müßte sterben. Ausnahmen wären nicht statthaft. Bei den herrschenden Ältesten des Katzenvolkes war man der Meinung, daß die Menschen mehreren Zwecken dienten. Abgesehen von den leicht zugänglichen Speisen, die sie anboten, waren sie ein wan187 delndes Mahnmal für die Vergangenheit. Des weiteren waren die Dorfbewohner eine Tarnung für die Katzen, wodurch ihnen Zeit zum Handeln bliebe, sollten die Unreinen oder ihre Verbündeten in dieser Gegend auftauchen. Und so spielte es sich schon an die zweihundert Jahre ab, wie Hiero schätzte. Die Dorfbewohner hatten sich bei Nachtanbruch unweigerlich hinter ihre Palisaden zurückgezogen, woraufhin die Kinder der Nacht, die natürlich das Tageslicht scheuten, ausströmten und das Land für sich einnahmen. Als geschickte Jäger hielten sie die Gegend frei von gefährlichen Tieren, womit auch den drei Dörfern geholfen war. Und das Katzenvolk teilte sich in drei Rudel, eins für jedes Dorf. Es war in gewisser Weise ein grausames Spiel, aber für die Dorfbewohner nicht nur nachträglich. Bald lernten sie die Regeln. Man müsse mit den Geistern leben, zu bestimmten Zeiten auf gewisse Weise Milch und Speisen anbieten. Wer nach der Abenddämmerung spurlos verschwunden ist, dem ist halt ein Geist erschienen. Ihre Angst hielt sie in den Dörfern und dämpfte jede Neugier. Hin und wieder sah ein Mensch, der von der Nacht überrascht wurde und auf einem Baum das Morgengrauen abwartete, in der Ferne eine Meute über die Savanne jagen und erkannte in den rennenden Gestalten die Götter seines Stammes, was auf Respekt und Gesetzestreue eine förderliche Wirkung hatte. Gleichmütig besann sich Hiero darauf, daß er gar oft Menschen gesehen hatte, die ein schlechteres, wenngleich >freies< Leben führten. Eines Tages hätte er oder jemand anders vielleicht Gelegenheit, sich in bezug auf diese zwei gegensätzlichen Kulturen etwas einfallen zu lassen und das Ganze ein bißchen umzukrempeln und auszugleichen. Nachdem sie ihre Geschichte erzählt hatte, ließ die Sprecherin den Mann schließlich zu einer schattigen Plattform führen, wo er sich bei Tagesanbruch schlafen legte. Nun war ihre eigentliche Schlafenszeit angebrochen, obwohl sie weniger Ruhe als die Menschen brauchten und ihren Schlum-
188 mer hin und wieder mit kleinen Verrichtungen wie Lederarbeiten, Töpfern und Flechten unterbrachen. Am Nachmittag wurde der Mensch von Buorch geweckt. Das ganze Rudel hatte sich auf der Lichtung versammelt, und Hiero wurde nun jedem einzelnen bis zum kleinsten Jungen vorgestellt. Ein Bote wurde zu den anderen zwei Rudeln geschickt, um ihnen das Vorgefallene zu melden. Nach diesem offiziellen Akt wurde Hiero entlassen und konnte sich in aller Freiheit umsehen, was er nun mit größtem Vergnügen tat. Die Katzen standen in mechanischen Dingen auf einer niedrigen Kulturstufe, die den Eingeborenen der Vorzeit entsprach. Als einzige Waffe benutzten sie das Messer, das vorzugsweise aus Metall und ansonsten aus Flint war. Sie beschafften es sich aus den Dörfern. Mehr brauchten sie eigentlich nicht, wie der Metz selbst erlebt hatte. Ihre unglaubliche Wendigkeit und der Einsatz des Todeswindes machten das Jagen fast zu einfach. Ansonsten hatten sie alles, was sie brauchten. Feuer verwendeten sie nur zum Wärmen und Leuchten, denn ihr Fleisch bevorzugten sie roh. Gelegentlich aßen sie Beeren und Knollen. Verschiedene Heilpflanzen fanden in ihrer dürftigen Heilkunde Verwendung. Eine Kätzin warf durchschnittlich zwei Junge, die Hiero besonders reizend fand. Sie erwählten den neuen, pelzlosen Mann zu ihrem Lieblingsspielzeug; wenn er am Abend durchs Lager schlenderte, trug er für gewöhnlich auf jedem Arm einen zappelnden, schwänzelnden Pelzknäuel. Ihm auf den Fersen folgte eine Schar älterer Kinder oder scheuer Halbwüchsiger, die ihn mit so vielen Fragen gleichzeitig beschossen, daß ihm der Schädel brummte vom vielen Konzentrieren auf die einzelnen Gedanken und vom Beantworten. Er war in jedem Heim willkommen und versuchte, täglich woanders zu speisen. Abends stattete er der Sprecherin einen förmlichen Besuch ab denn die Katzenmenschen waren sehr förmlich und plauderte ein Stündchen oder zwei mit ihr, Buorch und der jungen Sprecherin in spe, der Kätzin, die er beim ersten Zusammentreffen niedergeknüppelt hatte. Ihr Name lautete Mrien, soweit er die Laute überhaupt nachvollziehen konnte, und sie berechtigte zu großen Hoffnungen, stand sie doch, so hatte er den Eindruck, ihrer Lehrerin an Intelligenz nicht nach. Die persönlichen Beziehungen der Katzen untereinander waren heikel und oft schwer verständlich. Es gab zwar von tiefer Zuneigung geprägte Paarbindungen, aber alles Geschlechtliche war verpönt. Die Jungen gehörten stets der Mutter, die wiederum bei einem Kater blieb oder den Partner wechselte. Es gab Feste, wie man Hiero gegenüber andeutete, bei denen für kurze Zeit alle Regeln über Bord geworfen wurden. Bei solchen Gelegenheiten verbrannten sie das Laub gewisser Kräuter und gerieten dabei in höchste Verzückung, um nicht von Rausch zu sprechen. Zum Sprecheramt wurde man erwählt; es erforderte lange Ausbildung. Buorch freilich hatte sich, wie Hiero erriet, die Stelle des Jagd- und Kriegsführers erkämpfen müssen und würde eines Tages wiederum von einem der Jüngeren herausgefordert werden. Sollte er alle diese Rivalitätskämpfe überleben, was zuweilen vorkam, so rückte er in den erlauchten Kreis der Ältesten auf, die der Sprecherin beratend zur Seite standen und die Tradition zu erhalten halfen. In bestimmten Nächten fand sich das Rudel zum »Liederabend« zusammen, um der Runde einen Namen zu geben. Es war dies eine Mischung aus Dichtung und Gesang oder wie Hiero insgeheim dachte, bloßem Gemaunze. Bald war das gemeinsame Brummen und Schnurren beruhigend, bald taten einem bei dem Gejammer die Ohren weh, wobei Hiero natürlich all dem geschmeichelt Gehör schenkte. In der Woche, die er beim Rudel verbrachte, wurden mehrere Katzenkonzerte zu Ehren seiner Ankunft und der Verbrüderung mit ihm veranstaltet. Hiero empfand das Katzenvolk als höchst angenehm. Er konnte sogar bei einem Problem helfen, das die Ältesten lange beschäftigt hatte; es ging dabei um den steten Rück190 gang der Geburtenziffer. Hiero stellte fest, daß das Rudel, in dem ein starker Gruppengeist vorherrschte, mehr oder weniger ganz davon abgekommen war, sich mit den beiden anderen Rudeln zu verpaaren. Das hatte eindeutige Inzuchterscheinungen zur Folge. Hiero wies die Sprecherin und den Rat aus alten Männchen höflich darauf hin, daß dies aufzuhören habe
und daß die Begegnung zwischen der Jugend aller Rudeln zu fördern sei. Das Einheiraten in fremde Sippen sei anzuregen und das Volk über die Gründe dafür aufzuklären. Man dankte Hiero für seinen Rat und sicherte breite Anwendung auf der Grundlage freier Entscheidung zu. Er hatte dazu seine Bedenken, aber Mrien erklärte ihm im persönlichen Gespräch, daß es in die Tat umgesetzt werde, wenngleich es seine Zeit brauche. Dem Mitglied eines Rudels gebe man keine Befehle, höchstens verschleierte, sinnige Andeutungen. Damit bewirke man, daß ein jeder eine gewisse Sache als eigene Idee ansehe. Jede zweite Nacht gingen alle Jagdtüchtigen auf die Pirsch. Natürlich mußte der neue Freund dabei sein, wozu man ihn freilich nicht lange zu bitten brauchte. Da er nicht so schnell rennen konnte wie die Katzen, kam das Wild eben zu ihm. Der Wind des Todes wurde nicht eingesetzt, da die Erwachsenen beiden Geschlechts lieber ohne ihn vorgingen, wenn sie nicht in Eile oder im Krieg waren. Hiero brachte nie in Erfahrung, wie er erzeugt wurde, hatte aber den starken Verdacht, daß es sich um das Sekret einer natürlichen Duftdrüse handelte, auf die man durch den Genuß gewisser rarer Pflanzen Einfluß nahm. Dieses Geheimnis wurde von bestimmten Kätzinnen gehütet, die allein diesen Geruch erzeugen konnten. Er war vor langer Zeit entdeckt worden und hatte ihnen auch bei der Flucht aus den Folterkammern der Unreinen geholfen. Ihr liebstes Wildbret wurde in der Gegend immer seltener, aber sie entdeckten einen Vertreter dieser Gattung im Gelände und nahmen den Metz in einer mondhellen Nacht mit hinaus, um zu sehen, was er davon halte. Man stellte ihn an eine bestimmte Stelle nicht zu weit von den Bäu191 men, was Hiero als Beweis für ihren Takt wertete, und forderte ihn auf, sich bereit zu machen. Er begriff nun, daß ihm die Ehre des Fangstoßes zustand, und fragte sich, um was für ein Tier es sich handelte und ob er ihm überhaupt gewachsen wäre. Die Katzen hüllten sich in Schweigen. Da er ihren wunderlichen Humor kannte, überlegte er schon, ob einer der rüsseltragenden Riesen auf ihn zugetrieben würde. Er war folglich recht erleichtert, als er den wilden Galopp und das zornige Schnauben eines schnellfüßigen Pflanzenfressers vernahm. Als sich ihm das Jagdwild im Mondschein offenbarte, war er sich freilich nicht mehr so sicher. Vom Kopf abwärts hatte das Tier die Gestalt eines riesigen Bockes. Über den tiefsitzenden Augen ragten zwei lange, gerade Homer auf, die an sich schon eine gefährliche Waffe darstellten. Aber an der breiten Schnauze stand ein drittes, ein gerader Stamm, der sich in grausige Spitzen verzweigte. Als das rasende Tier nach seinen Folterknechten stieß, die es herantrieben, wunderte sich Hiero, wie sie trotz aller Wendigkeit seinen flinken, tödlichen Sätzen ausweichen konnten. Als das Tier ihn als einsames, fixes Ziel erspähte, blieb ihm keine Zeit mehr zum Überlegen. Diesen schrecklichen Hörnern bei gesenktem Haupt mit vorgehaltenem Speer entgegenzutreten, das wäre offensichtlich schwachsinnig gewesen. Als das Ungetüm also gegen ihn anrannte, schleuderte er ihm den schweren Speer in die Brust und sprang zur Seite, wobei er seinen Dolch zückte und ausholte. Der breite Speer bohrte sich bis zum Ansatz in den Leib. Das mächtige Tier bäumte sich auf. In diesem Augenblick zielte Hiero und warf das Messer aus nur zwei Schritt Entfernung: nicht ins Herz, sondern in das blutunterlaufene Glotzauge. Die Klinge drang bis zum Heft ein und zerfetzte das Gehirn. Röchelnd brach das Tier zusammen. Die übrigen Jäger jubelten stürmisch; erst jetzt spürte Hiero seine weichen Knie. Als sie beim Zerlegen der Beute zum Heimtransport des 192 Tier näher besahen, wurden Hieros Knie nachträglich noch weicher. Wie sich zeigte, waren die Tieraugen von knöchernen Wülsten eingefaßt, so daß sein Messer abgeprallt wäre, hätte er nicht ganz genau getroffen! Er dankte seinem Schöpfer stumm für den Meisterwurf. Hast den guten alten Vier-Hörner prima erledigt, lautete Buorchs freudiger Kommentar. Wir hätten nicht eingreifen können, nicht bei dem kurzen Abstand. Das ist mit ein Grund, warum wir ihn als Beute so schätzen: oft erwischt es dabei den Jäger. Ist immer ungeheuer spannend, die Jagd auf ihn. Hiero bedankte sich in aller Form bei den Jägern für die wunderbare Gelegenheit, die sie ihm eingerichtet hatten. Seine persönlichen Gefühle brauchten sie ja nicht unbedingt zu erfahren!
8 Ein Hafen im Sturm Die Hüpfer, wenngleich ausgesuchte Tiere der Königlichen Garde, waren sehr erschöpft. Den ganzen Tag lang waren sie von einer Front zur anderen gejagt und ihrer hohen Herrin gefolgt. Die Prinzessin war überall. Ihr bunter Helmbusch über dem vergoldeten Harnisch wehte wie eine Kriegsfahne über den Köpfen, wenn sie hier ihre Ulanen sammelte oder dort frische Lanzer nachschickte. An jeder bedrohten Stellung erschien sie und machte durch ihre Anwesenheit den Männern neuen Mut. Dennoch war die Schlacht verloren. Die königliche Armee, die zahlenmäßig weit unterlegen und an den Flanken abgedrängt worden war, mußte den Rückzug antreten. Der rebellische Herzog oder einer seiner füchsischen Kriegsherren hatte seine Taktik gut durchdacht und schneller zugeschlagen, als Lucare oder der König für möglich gehalten hätten. Des weiteren hatte der verschlagene Herzog Kriegslisten gebraucht, die entweder seinem gescheiten Kopf entsprungen oder auf das Zutun der Unreinen zurückzuführen waren. Josesato hatte ebenfalls die Hand im Spiel, aber Amibale, so überlegte Lucare finster, war allein schon gerissen genug. Bei den Bettlern und Dieben und aufgehetzten Straßenhändlern war es zum Aufstand gekommen, als in der Stadt die Armee ausrückte. Er wurde rasch niedergeworfen, und die Aufwiegler wurden sofort gehängt, aber der Zwischenfall hatte viel Zeit und so manches Soldatenleben gekostet. Dies hatte zur Folge, daß die Truppen der beiden königlichen Heere, die sich zwanzig Meilen südlich der Stadt trafen, von den Straßenkämpfen erschöpft und durch die Verluste geschwächt waren. Amibale, ein zugegebenermaßen mutiger Kriegsherr, hatte nicht nur die Streitkräfte seines Herzogtums, sondern 194 auch wilde Haufen aus teilweise fremden Rassen ins Feld geführt. Eine besondere Gefahr stellte eine Schar kleinwüchsiger, stämmiger Männer dar, die als Plänkler eingesetzt wurden und von Bögen als auch Blasrohren einen Hagel von Giftpfeilen verschossen. Aber das war noch nicht alles. Schließlich mischten sich offen die Hexenmeister der Unreinen ein. Ein Regiment aus mutierten Affen, den Zottelheulern, stürmte einen Flügel, während ein Haufen kreischender Menschenratten gegen den anderen anrannte. Obendrein war Amibale so schnell gewesen, daß nicht einmal das ganze königliche Heer rechtzeitig hatte anrücken können. Die mumanische Infanterie aus den westlichen Ebenen war noch nicht angekommen. Kämen sie noch oder nicht? Die Dorfmilizen und die Grenztruppen waren aus Zeitgründen genauso wenig da wie die kühnen Matrosen von den Buchten des Lantiks, wurden aber dringend gebraucht. Also wurde die Schlacht von den Truppen des Hofes und den stehenden Heeren der loyalen Adligen aus dem Um-. kreis der Hauptstadt bestritten und verloren. Einmal wäre bei einem massiven Ansturm sogar das Hauptheer kläglich zerschlagen worden, hätte es nicht der unerwartet eintreffende Graf Ghiftah Hamili davor bewahrt. Er faßte sich ein Herz und ritt an der Spitze seiner zwei Lanzerschwadronen gegen den Feind. Hätte Lucare irgendwelche Zweifel zur Person des stillen Grafen gehegt, so hätten sie sich auf der Stelle geklärt, als er wie ein Teufel an der Stirn seiner Hüpfer kämpfte und Amibales Infanterie zurückschlug. Aber es reichte nicht zum Sieg. Allmählich war die ungebrochene Armee zum Rückzug gezwungen, wobei sie die Flanken schützte und in die Reihen des Feindes immer wieder empfindliche Wunden schlug. Aber eine andere Wahl blieb ihr nicht. Gegen Abend besprach sich Lucare mit ihrem Stab, während die angeschlagenen Truppen sich in den Randbezirken der Stadt verschanzten. Noch immer war keine Meldung aus dem Hinterland eingetroffen, und es ging das Gerücht eines neuen schrecklichen Angriffs, der in der 195 Stadt selbst seinen Ursprung habe. In jener Nacht gab es im müden Heer wenig zu lachen. Um ein Feuerchen hockten vier stumme Gestalten. Das Feuer brannte in der riesigen Stammgabelung eines Mammutbaums, der gut und gerne einem ganzen Dorf hätte Schatten spenden können. Eine fünfte Gestalt stand ein paar Äste höher Wache. Tief unten sogar bei Tageslicht außer Sicht, die das viele Laub und Schlingpflanzengewirr verwehrte lag der nachtfinstere Sumpf, aus dem vor einer Ewigkeit der Baum entsprungen war. Hiero besprach sich mit Mrien, Buorch und Zariech, einem kraftvollen jungen Krieger. Der über ihnen wachende Chuirch, der zweite Jüngling, konnte beliebig an ihrem
Gedankenaustausch teilnehmen. Für gewöhnlich schwiegen die Jungen, wenn die Alten sprachen, aber wenn sie gelegentlich andrer Meinung waren, so hatten sie ein Recht darauf, angehört zu werden. Es herrschte nun eine Denkpause, denn alle lauschten sie dem Geschrei aus dem Sumpf viele hundert Fuß unter ihnen. Ein grausiges Brüllen drang herauf, ein krächzender Guttural von solcher Lautstärke, daß die duftende Waldluft schier erbebte. Die unzähligen Stimmen der Natur verstummten bei diesem Ruf. Was ist das, Hiero? Buorch wußte wie die übrigen darüber Bescheid, daß Hiero den Verstand andrer Wesen anzapfen konnte, während die Katzen auf das eigene Volk beschränkt waren. Über dem Kopf des Menschen schaukelte eine große, wohlriechende Blüte und verströmte ihr Aroma, während Hiero überlegte. Abermals hallte das mächtige, zornige Grunzen durchs Laub herauf. Schließlich wurde der Metz wieder gelöster und lächelte. Ich weiß es nicht. Ein Elfer sie gehören zu unsren Freunden, wie ich euch erzählt habe könnte es wohl feststellen. Sie haben sich auf alle Lebensformen, alles Atmende spezialisiert. Ich kann nicht immer zwischen den vielen niederen Gattungen mit kleinem oder keinem Gehirn unterscheiden. Es könnte ein Reptil sein, eine Schlange oder Echse. Aber ich tippe eher auf Amphibie, also Frosch oder Salamander. Sie haben noch weniger Gehirn als Reptilien. Was ich spüre, ist blinder Zorn einer recht niedrigen Stufe. Mir ist so etwas schon einmal begegnet droben im Palud, dem großen Sumpf des Nordens. Ihr Denken geht so schleppend vonstatten, daß sie unaufspürbar sind. Zumindest für mich. Ein Frosch! Wenn’s ein Frosch ist, kann er heraufspringen! Dieser Gedanke kam von Chuirch herunter. Was so viel Lärm macht, kann überhaupt nicht springen, versetzte Mrien. Aber trampelt vielleicht einfach den Baum um. Sie schauderte achtungsvoll, wobei sich im Feuerschein das Spiel ihrer Muskeln unter dem getüpfelten Pelz zeigte. Wie bin ich froh, daß wir von Baum zu Baum wandern können und nicht da drunten gehen müssen. Hiero sah davon ab zu erwähnen, daß einige der unglaublichen Froschungetüme aus dem Palud sehr wohl springen konnten. Freilich war er der Ansicht, daß nicht eines von diesen Untieren da unten sein Unwesen trieb, sondern eher irgendein gewaltiges Kriechtier im Schlamm zu Füßen der Bäume lauerte. Die kleine Gruppe war nun seit über zwei Wochen unterwegs gen Norden und durchquerte seit zwei Tagen schon diesen Sumpf. Der Urwald am Fuß der mächtigen Stämme barg viele Gefahren, so daß sie Tag und Nacht auf der Hut sein mußten. Als sie auf die Anfänge dieses weiten Moorlands gestoßen waren, schien jedes Weiterkommen unmöglich, zumal die Katzenmenschen Läufer der Ebene und völlig unvertraut mit dem verwachsenen Morast und seinen Bewohnern waren. Die Bäume jedoch waren weitergegangen, als wäre die dunkle Brühe zu ihren Füßen einfach eine neue Form von Erde, also hatten die Reisenden den logischen Schritt getan. Sie waren in die Luft gegangen. Dadurch verloren sie natürlich Zeit. Manchmal hörten die Lianenbrücken und Riesenbäume unverhofft auf, so daß sie wie aus einer Sackgasse umkehren mußten. Hiero wußte al196 197 lerdings, wohin des Weges, denn sein innerer Kompaß funktionierte bestens. Des weiteren war durch das Laubdach zumeist der Stand der Sonne erkennbar, so daß sie ihren Kurs nach Norden recht genau einhielten. Der Weg durch die Kronen brachte weitere Vorteile mit sich. Waren die Katzenmenschen und Hiero gut im Klettern, so fehlte den wirklichen Ungetümen, wovon sich gerade eins unter ihnen suhlte, die Fähigkeit zum Bäumeklettern wahrscheinlich. Die Luft hier oben war frisch und kühl, und es gab reichlich Wild in Gestalt argloser Vögel und Säugetiere. Erst an diesem Nachmittag war Buorch auf einen Nachbarbaum gestiegen und einem großen Vogel an die Kehle gegangen. Er und seine halbwüchsigen Jungen gaben ein stattliches Abendessen ab, wovon noch reichlich fürs nächste Frühstück übrig war. Natürlich war ein solches Leben nie ganz sicher. Einmal mußten sie das Hasenpanier ergreifen, als eine ganze Brut von Baumschlangen sich zügelnd auf sie stürzte. An einer
anderen Stelle trafen sie auf feindselige Menschenaffen, die für Hieros Geschmack zu große Ähnlichkeit mit Zottelheulern hatten; die ganze Kolonie folgte ihnen beharrlich ein ganzes Stück Weges und sammelte offenbar Mut zum endgültigen Angriff. Es waren große Tiere mit glänzendschwarzem Fell, einem Stummelschwanz, einem wilden, nackten, grünen Gesicht und abscheulichen Reißzähnen. Als Hiero schon im Begriff stand, seinen Speer zu riskieren und einen davon zu töten, hielt die keifende Truppe wie an einer unsichtbaren magischen Grenze inne. Hiero und seine Begleiter eilten weiter und ließen die bellenden Affen im grünen Meer des Laubes zurück. Die zwei Jünglinge waren erbost darüber, so durch die Gegend gejagt zu werden, und bettelten darum, umkehren zu dürfen, um die ganze Horde auszurotten, aber Buorch setzte diesem Unsinn mit ein paar gefauchten Befehlen ein rasches Ende, und sie fügten sich. Hiero war sich über sein Glück im klaren. Er hatte sich ganz und gar nicht auf die einsame, aber unumgängliche Reise durch den gefahrvollen Urwald des Südens gefreut. Denn zum einen müßte er ja irgendwann schlafen; zum andern war er schon einmal dort gewesen, wenngleich in einem andern Teil, so daß er eine gewisse Vorstellung der dort lauernden Gefahren hatte. Es war für ihn deshalb eine freudige Überraschung gewesen, als die Sprecherin ihn zu einer kurzfristig anberaumten Versammlung berief und ihm offen darlegte, daß vier Personen ihres Volkes mit ihm ziehen würden. Der Führer, die junge Sprecherin in spe und die beiden Kater hatten sich freiwillig gemeldet und darüber hinaus die vollste Zustimmung der Ältesten gefunden. Hast du auch viele Gefahren gemeistert, so stehen dir noch viel größere bevor, glauben wir. Hiero hatte dem Stamm notgedrungen von einigen seiner jüngsten Abenteuer berichtet und war sich nicht einmal sicher, ob sie ihm glaubten. Die Kunst des Geschichtenerzählens war in diesem wunderlichen Volk hoch entwickelt. Die Sprecherin legte ihre pelzige Hand mit den nackten Ballen in die seine und fuhr fort: Hiero, du kämpfst gegen den Erzfeind von uns allen. Dein Weibchen kämpft für dich in der Ferne, und sie ist nicht die einzige, die dir beisteht. Du bist unser Freund. Wenn die Schänder, die Kindsmörder, die nackthäutigen Gedankenhäscher siegen, wie lange wären wir dann sicher, wir, die wir vielleicht vergessen worden sind? Nicht lange, meinen wir alle. Es gibt unserer nicht viele, und es kennt uns noch kein Außenstehender bis auf dich. Aber wie lange würde das so bleiben, falls der Feind mit den schrecklichen Maschinen, von denen du gesprochen hast, alle erobern würde, die sich ihm jetzt noch widersetzen? Nein, wir müssen helfen, denn deine Mission wenngleich wir sie nicht ganz verstehen ist von höchster Wichtigkeit. Es muß so sein, denn du lügst nicht und hast uns vor Augen geführt, wie sie dich hassen, wie sie dich zu töten versucht haben nicht ein Mal, sondern oftmals. Du mußt einer ihrer Erzfeinde sein, wenn nicht der größte Feind überhaupt. Freunde sind zum Helfen da, also sei dir unsrer Hilfe gewiß. Der ausgediente, ordentlich gerupfte, alte 198 199 Buorch kann leicht ersetzt werden. Der wackere Krieger, von dem die Rede war, schnurrte einfach; er wußte, in welchem Zustand er war, zumal er auch danach aussah. Die Sprecherin seufzte in Gedanken. Ich würde selber mitkommen, um neue Dinge zu sehn und viel von der Außenwelt zu erleben, was mir so verborgen bleiben muß. Aber ich kann Mrien schicken. Sie wird mir Auge und Ohr sein. Ich kann eine andere ausbilden, sollte sie nicht wiederkehren, obgleich sie ein gescheiter Kopf ist. Die beiden Jünglinge sind dumm wie jeder Er, ob jung oder alt. Dennoch zählen sie zu den besten Jägern im Rudel. Sie können viel zu deiner Sicherheit beitragen. Und Mrien besitzt das Geheimnis vom Wind des Todes! Es war nicht einfach gewesen, ihnen allen zu danken, da insbesondere nur er genauer wußte, worauf sie sich eingelassen hatten. Und sie hatten noch etwas getan, ohne darum gebeten worden zu sein, was ihn noch tiefer mit ihnen verband. Sie haben richtiggehend gelobt, die Menschen draußen in den Dörfern in Ruhe zu lassen und keinen davon mehr aus irgendeinem Grund zu töten, während sie selbst sich weiterhin versteckt halten würden. Keine Kinder würden mehr als Schoßtierchen entführt, keine Männer auf Pirsch mehr in einen schrecklichen Tod gejagt. Das waren große Zugeständnisse. Nun saßen sie also hier in der Stammgabelung, sinnierte Hiero, während er die groben Züge
mit den braunen, schwarzgestreiften und lebhaft funkelnden Augen betrachtete, die rollenden Muskeln, die elfenbeinweißen, ausgestreckten Krallen an den Gliedmaßen der ruhenden Katzen. Wer hätte so etwas noch vor zwei Wochen gedacht? Denn sie waren ihm freilich eine ungeheuere Hilfe gewesen. Es war nicht einfach, in diesem von Leben strotzenden Urwald Gedanken auseinanderzuhalten; obschon er sich größte Mühe gab, schaffte er es nicht, alle gefährlichen Tiere rechtzeitig aufzuspüren. Die Menschenaffen waren gar nicht dumm gewesen; während er sich auf niedere Fleischfresser und anderes Raubzeug konzentrierte, hatten sie sich unbemerkt 200 angeschlichen. Der junge Zariech hatte das Rascheln des Laubes in den windstillen Kronen vernommen und sie so vor dem Hinterhalt gewarnt. Die Katzen hatten eine Nase, die nicht der Rede wert war; tatsächlich war Hieros Geruchssinn besser. Aber ihre Augen und Ohren waren ungleich schärfer und im oft düsteren Licht unendlich wertvoll. Es war Mrien gewesen, die die zischelnde Schlangenbrut hatte herangleiten hören, woraufhin die ganze Mannschaft kehrtmachte und sich zum Glück über breite Äste retten konnte. Ihre Hilfe war also nicht zu unterschätzen, wobei ihre Gesellschaft obendrein auch nicht zu verachten war, obschon der gute Chuirch bald ein paar auf die Tatzen bekäme für die Scherze, die er sich erlaubte! Am frühen Morgen eine Riesenraupe aus einer Bromelie auf seinem Bauch zu finden, das war ein starkes Stück! Der Priester-Soldat kicherte insgeheim. Er hatte die angebliche Natter mit einem Angstschrei davongeschleudert, ohne sie überhaupt anzusehen. Buorch, den der Lärm geweckt hatte, wollte dem Bengel buchstäblich das Fell über die Ohren ziehen, aber statt dessen nahm Mrien ihn ins Gebet. Vor der Sprecherin in spe legte Chuirch, beschämt über seine Torheit, bald die Ohren flach, obwohl die Kätzin nicht viel älter als er war. Hiero begnügte sich seinerseits mit dem Hinweis, wie leichtsinnig es sei, jemanden zu erschrecken, der den Kopf voller echter Gefahren habe. Und damit war der Fall erledigt. Lustig wär's freilich trotzdem gewesen! Wo wir wohl, sind? meinte Buorch nach dem gemeinsamen Schweigen, währenddessen sie dem Ungetüm in seiner darunterliegenden Suhle gelauscht hatten, aus der es sich nun lärmend wieder zurückzog. Kann dieses große Wasser, das Meer, noch weit weg sein, was denkst du, Hiero? Ich hab's mir in deinen Gedanken angesehen, aber es fällt mir offengestanden trotzdem schwer, daran zu glauben. So viel Wasser auf einmal! Oh, es ist schon da, schickte der Mensch zurück. Wir müssen es irgendwie überqueren. Ich muß einfach zurück 201 an die echte Front, in den echten Krieg, um herauszufinden, was meine Leute machen, um von den Unreinen ganz zu schweigen. Ich weiß nicht, ob die Waffe, die ich gefunden habe, die Maschine, die für alle denkt das war die beste Umschreibung für das Computer-Ding, die ihm einfiel , überhaupt in meiner Heimat angekommen ist. Ich weiß nicht, ob mein Land sich noch lange verteidigen kann. Ich weiß nicht, ob Nachrichten aus dem Süden gekommen sind. Nachrichten von meinem Weibchen und ihrem Land. Das Einzige, was ich weiß, ist, daß es Monate dauern würde, um die Inlandsee herumzugehen, vorausgesetzt, wir kämen überhaupt herum. Wir müssen das Wasser überqueren, und das schnell. Wieder kam Schweigen auf, als die Katzen abermals all die wundersamen neuen Ideen überdachten. Allein das viele Wasser war eine unerhörte Neuheit für jemand, der nur die Rinnsale der Savanne gewohnt war. Und erst die Vorstellung, darauf zu schwimmen in einem Gefährt, das wie ein Stock auf einer Pfütze treibt! Diese Boote, diese Schiffe verstehe ich, glaub' ich, meinte Mrien. Aber wie sie bewegt werden! Ich kann verstehen, wenn man viele Stöcke ins Wasser taucht und schiebt, kann man das Boot-Ding bewegen. Aber daß der Wind selbst das Boot schieben soll, das kann ich nicht fassen! Zum vielleicht fünfzigsten Mal versuchte Hiero zu erklären, was ein Segel sei und wie es wirke. Der wirkliche Witz daran, an dem er freilich nicht teilhaben konnte, war, daß die Katzenmenschen beste Seeleute abgeben würden! Sie waren schwindelfrei und wendige Kletterer wie Katzen eben. Hiero wollte wetten, daß eine solche Besatzung jede andere bestgedrillte Mannschaft um Längen schlagen würde. Darüber hinaus müßte man sie gar nicht lange drillen, hätten sie erst die Prinzipien des Segeins verstanden. Natürlich käme
eventuell das Problem der Seekrankheit auf einen zu, aber Hiero bezweifelte, daß sich seine Freunde von einer solchen Kleinigkeit lange aufhalten ließen. Als sie erschöpft in Schlaf fielen, grinste er immer noch beim Gedanken an eine große Bark wie die Geraubte Braut mit einer Takelage voller flinker, tänzelnder, getüpfelter Wichte. Der nächste Tag bescherte ihnen eine jähe Pause. Bis zum Nachmittag waren sie in den dichtverwachsenen Laubkronen mit den breiten Ästen fast so gut wie auf einer Pflasterstraße vorangekommen. Da hob Hiero plötzlich die Hand über den Kopf, woraufhin die nachfolgenden Katzen, die sein Signal sofort verstanden hatten, wie festgewurzelt stehenblieben. Hiero hatte wie immer seine Gedanken vorausgeschickt, seine geistigen Fühler aber weiter als sonst ausgestreckt. Dies führte ihn zur Erkenntnis, daß sie bereits an der Inlandsee sein mußten. Eine andere Erklärung ließe sich für die Leere, das Fehlen jeglicher Lebensaura nicht finden. Die üppige Flora in diesem gewaltigen Wald war mit einemmal zu Ende. Ab einer gewissen, deutlich fühlbaren Grenze hatte alles Leben an der Oberfläche aufgehört. Das heißt, alles normale Leben. Nachdem er den anderen mit einer Geste zu schweigen bedeutet hatte, hockte er sich auf den Ast und lauschte mit ganzer Geisteskraft, denn er horchte über eine extreme Entfernung. Zum ersten Mal seit Monaten spürte er Menschen, »zivilisierte« Menschen, um genau zu sein. Allerdings von der falschen Sorte! Er hatte es mit der Besatzung eines unreinen Schiffes zu tun! Das war die einzige denkbare Möglichkeit. Sie befanden sich auf engem Raum; das konnte er mit Leichtigkeit feststellen. Und sie waren draußen in der großen Öde, die er von früher kannte, dem Meer also. Das Meer barg allerlei Lebensformen, die sich jedoch normalerweise nicht an der Oberfläche aufhielten und keinesfalls in Wellenlängen dachten, wie nur der Mensch sie benutzte. Darüber hinaus wäre wohl von den natürlichen Lebewesen des großen Süßwassermeers keines in der Lage, einen unreinen Gedankenschild zu errichten! Er hatte auf seiner Flucht aus dem Norden gelernt, ihn aufzuspüren, wenn er im Einsatz war. In geschlossenem, also abschirmendem Zustand verriet er einem nichts. Aber jetzt wurde damit gerade gesendet. Dadurch konnte der Metz ihn nicht nur aufspüren, sondern auch abhören, was gesendet wurde. Die Meldung war hochinteressant. Keins unsrer Schiffe wurde gesichtet. Nicht mal ein ganz gewöhnliches Handelsschiff. Die Küste westlich von Neeyana ist wie leergefegt. Bis auf deine kommen keine Meldungen. Schlage vor, einen Bruder in einem der Geheimschiffe zur Aufklärung hinzuschicken. Wir sind zwei Tage von Neeyana, haben aber widrige Winde. Bei den Offizieren und der Mannschaft herrscht der starke Verdacht, irgend etwas sei recht eigenartig. Wir hätten längst die ersten Schiffe des Frühlingsgeschäfts sichten müssen, aber bisher war nichts. Laufen jetzt den Hafen an, wenn keine anderen Befehle kommen. Ende der Mitteilung. Sulkas. Hiero lauschte mit jeder Faser seiner Sinne, konnte aber keine Antwort vernehmen. Falls eine Antwort gegeben wurde, war sie wegen der großen Entfernung für ihn nicht empfangbar. Eigentlich glaubte Hiero gar nicht an die Möglichkeit einer Antwort. Denn dieser Sulkas war keinesfalls ein Mitglied der Unreinen Bruderschaft. Er war zwar intelligent, hatte aber nicht das gleiche Kaliber, die gleiche Ausstrahlung. Eher handelte es sich um einen Handlanger, einen Diener vielleicht einen Piraten wie Rok die Glatze, dem Hiero und Gimp den Garaus gemacht hatten. Während die Katzen leise miteinander tuschelten, überdachte Hiero, was - er gehört hatte. Die Meldung war vermutlich zu einer festgelegten Zeit gesendet worden und bedurfte gar keiner Erwiderung. Fest stand, daß die Unreinen, die den Hafen von Neeyana an der Südküste der Inlandsee fest in ihrer Hand hatten, über irgend etwas beunruhigt waren. Dieses Schiff, dessen Besatzung aus höchstens zwölf Mann bestand, war zum Auskundschaften ausgeschickt worden. Die Männer hatten nichts gefunden, was wiederum sie beunruhigte, denn das Meer sollte um diese Jahreszeit stark befahren sein. Die 204 Meldung war an den Stützpunkt in Neeyana gegangen, damit weitere Maßnahmen eingeleitet würden. Als Vorschlag wurde empfohlen, einen der Brüder, einen robentragenden Zauberer der Unreinen, auf einem >Geheimschiff< auszusenden. Hiero erriet sofort, was gemeint war. Er war einmal Gefangener auf einem solchen
Geheimschiff gewesen, das von einer Kraft angetrieben wurde, die er nicht verstand, der gegenüber er aber sehr argwöhnisch war. Er rechnete wie Bruder Aldo von der Elften Bruderschaft fest damit, daß die Unreinen die Atomphysik beherrschten! Die gesichteten Metallschiffe wurden betrieben mit der Kraft der Atome, der gemiedenen, verabscheuten, gräßlichen! In ihren verborgenen Laboratorien brüteten die Unreinen allerlei Scheußlichkeiten aus. Sie züchteten aus mutierten Tieren Sklaven, wie sie es mit den Katzen versucht hatten. Dies aber war das größte aller Verbrechen, der wiederbelebte Schrecken des Heißen Todes grausig, daß ein normaler Mensch schon beim Gedanken daran schauderte. Hiero erinnerte sich an das gemeinsame Gefühl des Unwohlseins, das sie befiel, als Lucare, Aldo, der Bär Gorm und er die verschüttete Höhle fanden, wo die alten, plastikummantelten Maschinen der Vorzeit standen, welche die alten Boten des Grauens und der Zerstörung durch die ganze Welt gelenkt hatten. Aldo mit seiner Liebe zu allem Leben wäre beinahe in Ohnmacht gefallen. Während Hiero all dies überdachte, verfestigte sich sein Entschluß. Die Unreinen sollten untergehen, mitsamt den Wurzeln ausgerissen werden, bis zum letzten Keim im geringsten ihrer Sklaven erstickt werden. Dies war seine Mission, die er ausführen würde. Schließlich wandte er sich an seine Gefährten. Er wußte, was er tun wollte, obschon es ein bißchen schwierig wäre, es den andern zu erklären. Dennoch durfte er es nicht unversucht lassen. Wir müssen südlich der Hauptstraße sein, die vom Westen in eine Stadt führt, die der Feind beherrscht. Eine alte Straße 205 verläuft von Südosten nach Nordwesten und kommt aus dem tiefen Süden. Wir sind wohl parallel zu ihr gezogen, wenn auch ein gutes Stück von ihr entfernt. Das ist der einzige Weg aus dem Osten in den Hafen von Neeyana, zumindest der einzige durch den Wald. Westlich von Neeyana gibt es andere Straßen und mehr freies Gelände, hoffe ich zumindest, denn ich bin noch nie dortgewesen und habe auch noch keine genaueren Karten darüber studiert. Die Küsten sind sehr gefährlich. Der Verkehr wird hauptsächlich per Schiff abgewickelt. Weiterhin erklärte er, was er gerade aufgespürt hatte; ein feindliches Schiff sei auf dem Meer unterwegs, und sie müßten von jetzt an alle sehr, sehr vorsichtig sein. Wenn das unreine Schiff nicht weiter als zwei Tagesreisen vom feindlichen Hafen entfernt wäre, dann gäbe es bald Kontakt zu jemandem, dem sie wohl kaum unverhofft über den Weg laufen wollten. Wir müssen unsre Gedanken abschirmen, fuhr er fort. Benutzt untereinander die gesprochene Sprache und sprecht zu mir nur, wenn es unbedingt sein muß. Ihr verwendet einen ungebräuchlichen Wellenbereich, der kaum unter ständiger Beobachtung stehen wird. Das ist gut. Allerdings haben die Unreinen viele Diener, die keine Menschen sind und mit denen sie in Verbindung stehen, also seid auf der Hut, zumal die nichtmenschlichen Lebewesen Augen und Ohren aufmachen und sich aus eigenem Antrieb mitteilen. Wir müssen von jetzt an also wie Schatten schleichen. Unser Feind ist besorgt wegen einer seltsamen Entwicklung auf hoher See, wies scheint. Ich habe keine Ahnung, was da los sein könnte, aber jede Störung und Ablenkung kann für uns wohl nur von Vorteil sein. Die Katzen hatten keine Mühe, seine Gedanken zu verstehen, obgleich sie in höchste Aufregung gerieten bei der Vorstellung, nun mit den legendären Zaubermeistern, deren Greueltaten und Verbrechen ihnen von Kindheit an eingeprägt worden waren, in Berührung zu kommen. Als Hiero erklärte, daß sein Plan lediglich daraus bestehe, ein kleines 206 Schiff zu entwenden, um damit die Flucht anzutreten, hielten sie das allem Anschein nach für eine durchaus einfache Aufgabe, bei der es lediglich darauf ankomme, ein paar Leute zu überwältigen, die ihnen im Weg stünden. Ich werd' den Todeswind auf sie loslassen. Dann schneid' ich ihnen die Kehle durch! Mrien klopfte bei ihrer Drohung auf das Täschchen, das an ihrem Gürtel hing. Es dauerte eine Weile, bis Hiero sie beruhigt und ihnen erklärt hatte, wie viele Unreine es gebe, von ihren Handlangern ganz zu schweigen. Als er sie auch noch überzeugt hatte, sich nicht zu vorschnellen Handlungen hinreißen zu lassen, sondern sich an seine Weisungen halten, konnte er sicher sein, daß ihr flammender Zorn sie nicht zum Leichtsinn verleiten würde.
Mit doppelter Vorsicht setzten sie bis zum Ende des Tages ihren Weg fort, wobei die Katzen Handzeichen benutzten, wenn sie Hiero etwas sagen wollten, und sich untereinander mit ihrem schnurrenden Gebrumme verständigten. In der Nacht kampierten sie wieder auf einer natürlichen Plattform in einem der Baumriesen. Nachdem Hiero sein Fleisch gebraten hatte, löschten sie das Feuer, obschon die Gefahr, sich damit zu verraten, äußerst gering war. Wasser war bislang kein Problem gewesen; es fand sich nicht nur in den Baumgabelungen, sondern auch in den Blattrosetten vieler Scheinschmarotzer. Während die Katzen die dunklen Stunden verschliefen, schickte Hiero seine Gedanken aus, um die nächtliche Landschaft zu erkunden; dabei beschränkte er sich nicht auf die Richtung, in die sie zogen, sondern ergründete auch die anderen Seiten. Er spürte nun falls seine Sinne nicht trogen die Stadt Neeyana nordöstlich von ihrem gegenwärtigen Standort. Obgleich er keine einzelnen Gedanken lesen konnte, spürte er die diffuse Ausstrahlung einer Menschengemeinschaft, die sich in seinem Kopf fast wie ein Wärmegefühl bemerkbar machte. Dessen war Hiero sich ziemlich sicher. Es war ursprünglich nicht sein Vorhaben gewesen, diese 207 Stadt anzusteuern oder gar zu betreten. Die Gefahr, von den Unreinen entdeckt zu werden, wäre viel zu groß. Nun wußte er, daß dies der einzig vernünftige Weg wäre, insbesondere wenn sie ein Boot stehlen wollten. Des weiteren kannte er keine anderen Städte im Osten; wenigstens hatte Kapitän Gimp auf der letzten Reise nichts davon erwähnt, obschon die Küste sicherlich besiedelt war. Aber über diese Landstriche im Osten und Westen wußte er kaum Bescheid. Es gab zwar einen Hafen, den die Abteien gelegentlich benutzten, aber er lag an die tausend Meilen nordöstlich. Seine Vorgesetzten hatten ihn gewarnt, als er vor einem Jahr aufgebrochen war, diesen Hafen zu meiden, da es dort von Spitzeln nur so wimmele und von den Kaufleuten nur ein paar wenige verläßlich seien. Namcush hieß er. Es mündete dort ein Fluß aus den fernen Grenzgebieten der Republik, auf dem reger Handelsverkehr in beiden Richtungen herrschte, obschon die Wasserstraße unsicher war und oft von Überfällen heimgesucht wurde. Der Hafen nützte ihm im Moment sowieso nichts; höchstens im Notfall könnte er ihn ansteuern. Schließlich fiel er in Schlaf, freilich ohne dabei unachtsam zu werden. Sie hatten einen harten Tag vor sich, wie er sich denken konnte. Am nächsten Morgen waren sie noch nicht länger als ein paar Stunden unterwegs, als sie die Straße, nach der sie Ausschau gehalten hatten, weit unter sich erspähten. Auf Hieros Anweisung hin waren sie auf den unteren Ästen der Kronen gegangen, was aber immer noch beträchtlich hoch lag. Der Sumpf hatte am Vortag mit einemmal aufgehört, und nun befand sich unter den mächtigen Bäumen fester Boden. Mrien, die als Späherin an der Reihe und deshalb vorausgegangen war, entdeckte die Schneise zwischen dem Laub und gab den andern ein Zeichen. Sie eilten herbei und sahen sich an, was unter ihnen zum Vorschein gekommen war. Die Handelsstraße war ordentlich ausgetreten und breit, obschon sie in vielen Windungen verlief, da man es nie in Angriff genommen hatte, die mächtigen Urwaldriesen zu fällen, zumindest nicht in dieser Gegend. So schlängelte sich die Straße auf ihrem Weg von Osten nach Westen zwischen den einzelnen Stämmen hindurch. Hiero sah sie nun zum ersten Mal, denn auf seiner früheren Reise in den Süden hatte er sie schon viele Meilen rechts vom jetzigen Standort verlassen. Er wußte allerdings, daß sie nach Neeyana über ein Netz von anschließenden Wegen und Straßen ins ferne Dalwah führte und darauf Waren aller Art transportiert wurden, seien es nun Tuche und Pelze oder Trockenfrüchte und Gewürze oder gar Sklaven. Vermutlich war auf dieser Straße, an einem südlicheren Abschnitt allerdings, auch seine geliebte Lucare zur Sklavin gemacht und nach Neeyana verschleppt worden. Zumindest wäre das anhand ihrer Schilderung denkbar. Die stille Straße unter dem schattenspendenden Baldachin der Riesenbäume war leer. Hie und da lag in hellen Flecken das durchs Grün schlagende Sonnenlicht darauf ausgebreitet. Während die anderen sich in Geduld faßten, suchte der Metz mit seinem geistigen Auge die nächste Umgebung ab, wobei er äußerste Vorsicht walten ließ. Die Unreinen würden sicherlich nicht darauf verzichten, diese Hauptschlagader des Ost-West-Verkehrs zu
überwachen. Einem ihrer Vorposten oder Späher in die Arme zu laufen, wäre wohl das Schlechteste, was der kleinen Gruppe nun passieren könnte. Allerdings konnte Hiero in beiden Richtungen nichts Verdächtiges entdecken, was ihn verwunderte. Die ferne Ballung geistiger Energie, hinter der er Neeyana vermutete, war den ganzen Vormittag über immer stärker geworden, aber warum war näher nichts aufspürbar? Gewiß müßte sich innerhalb seiner geistigen Reichweite irgendein Reisender oder Posten der Unreinen befinden. Er überlegte. Die Gedankenschilde, die von den Unreinen verteilt worden waren, als er aus dem Norden aufbrach, könnten hinter der Stille stecken. Freilich wäre so etwas nicht ganz plausibel. Die Schirme waren eine Rarität, die einen großen Aufwand an Zeit und Handarbeit erforderten. Hiero war sich sicher, daß ein solches Gerät nur an Schlüsselpersonen wie Oberbefehlshaber, Mitglieder der Unreinen Bruderschaft und andere Führungsspitzen ausgegeben würden. Einfache Straßenposten wären wohl kaum damit ausgestattet. Hätte immerhin ihr Hauptmann einen, könnte Hiero zumindest die Gedanken der unterstellten Männer erfassen. Das Ganze war ihm schleierhaft. Indem er seine Gedanken auf der niedrigen Stufe der Katzen hielt, die nur aus nächster Nähe erfaßbar war, gab er seine Befehle aus. Sie würden beidseitig entlang der Straße in Richtung Osten schleichen, sehr langsam und äußerst vorsichtig. Hieros Gefährten sollten sich untereinander mit ihrem Gemauschel verständigen, was kaum von den unzähligen Waldesstimmen unterscheidbar sein dürfte, sollte es überhaupt Argwohn erregen und gemeldet werden. Er selbst wollte sie mit seinen Gedankennetzen allesamt abschirmen. Mrien bliebe zusammen mit Buorch dicht bei ihm auf der linken Straßenseite, während die beiden jungen Kater auf der rechten gingen. So wurde es beschlossen und bestimmt, woraufhin sie über Lianen und Luftwurzeln nach unten kletterten. Kaum waren sie auf den Erdboden gesprungen, trennten sie sich. Langsam aber sicher kamen sie voran. Das dichte Gewirr des ausladenden Wurzelwerks am Stamm mußte jeweils sorgsam inspiziert und nach dem Erkunden umrundet werden. Das hielt auf, denn die Urwaldriesen hatten oft einen Umfang, dem gegenüber die Rothölzer der Vergangenheit wie Schößlinge gewirkt hätten. Sie versuchten, stets die Straße im Auge zu behalten, während sie gleichzeitig darauf achteten, selbst nicht gesehen zu werden. Hiero hatte sie gewarnt, besonders auf Angriffe von oben zu achten, womit er bald recht bekam, obgleich sie nicht angegriffen wurden. Mit einem leisen Jaulen brachte Chuirch auf der anderen Straßenseite die Gruppe zum Stehen. Dem winkenden Buorch folgend, krochen die drei bis zum Straßenrand, wo 210 sie auf der anderen Seite die getüpfelten Gestalten der jungen Krieger sahen. Chuirch und Zariech deuteten nach oben zur überwucherten Gabelung eines großen Baumes. Bei genauerem Hinsehen konnte Hiero nun im dichten Laubgewirr etwas Fremdartiges ausmachen, das dunkler war und sich durch seine gleichmäßige Struktur unterschied. Eine ganze Weile hatten sie noch die nähere Umgebung erkundet, bevor sie über die herabhängenden, seildicken Lianen hinaufkletterten. Bald standen sie in einem geschickt getarnten Wachturm des Feindes. Es handelte sich dabei um eine überdachte Baumhütte aus Holzbalken, die man mit allerlei Pflanzen und Laubwerk bedeckt hatte, und die einen guten Überblick über die Straße in beiden Richtungen gewährte. Allerdings war das Wachhäuschen leer. Daß es noch nicht lange leer war, das war offenkundig. In einer Ek-ke lag reifes, aber noch nicht faules Obst; in einer anderen fanden sie in einem grobgezimmerten Schrank Dörrfleisch und mürbe Kekse. Ein solide verarbeiteter Ledergürtel mit Schnalle und Nieten aus Messing war in der Nähe des grünumrankten Eingangs zusammen mit einem halbvollen Weinschlauch liegengeblieben. Hiero befand den Wein, nachdem er daran gerochen hatte, als genießbar. Es war dieses Häuschen von einem säuerlichen Geruch erfüllt, den Hiero sofort richtig einzuordnen vermochte. Menschenratten, übermittelte er, wobei er den niedrigsten Wellenbereich benutzte. Mit diesem stinkenden Getier, das der Feind hierzulande züchtet, war dieser Wachturm besetzt. Wenigstens ein Mensch war bei ihnen, denn sie trinken nicht das Zeug in dem Lederschlauch. Sie wurden plötzlich abberufen. Der Grund dafür würde mich brennend interessieren. Er überlegte scharf und kam zu einem Schluß. Die anderen vier hockten auf den Hinterläufen, während Hiero sehr behutsam seine
geistigen Fühler in Richtung Inlandsee ausstreckte. Das Binnenmeer konnte nicht mehr als ein paar Meilen nördlich von ihrem jetzigen Standort liegen, und Hiero wollte wissen, was an ihrer Flanke vor sich gehe, bevor sie weiterzögen. Er machte bald eine interessante 211 Entdeckung, obgleich er nicht genau erkennen konnte, was er da gefunden hatte. Er stieß auf etwas, das unter einer Metallhülle verborgen war, so daß ihm verschlossen blieb, was sich dort versteckt hielt. Er registrierte lediglich eine Wolke geistiger Aktivität, die er nicht durchdringen konnte. Das Gebilde bewegte sich in seine Richtung, daran bestand nicht der geringste Zweifel, auch wenn es nur langsam näherkam. So etwas wir ihm zum letzten Mal im Jahr zuvor begegnet, als das Schiff der Unreinen mit der Blitzkanone sie in der untergegangenen Stadt an der Nordküste erwischt hatte. Nach einer Weile zog Hiero sich wieder aus dem Gebiet zurück; die unheimliche Energieballung war ihm einfach nicht zugänglich. Statt dessen lenkte er seine Aufmerksamkeit mit noch größerer Vorsicht, falls das überhaupt möglich war, zum vermeintlichen Standort der Stadt Neeyana. Welche Überraschung! In Neeyana ging es, was die Vielzahl aufgebrachter Gedanken verriet, die Hiero aufschnappte, so turbulent zu, als hätte man mit einem Stock in einen Ameisenhaufen gestochert. Sie waren der Stadt schon viel näher, als er geglaubt hatte; nur noch wenige Meilen trennten sie davon. Nun verstand er, was es mit der leeren Straße und den fehlenden Posten auf sich hatte. Von den verschiedenen Leuten, die er nacheinander anzapfte, brachte er bald in Erfahrung, daß die Stadt angegriffen wurde! Alle verfügbaren Leute wurden an den Küstenstraßen zusammengezogen, um die Verteidigungsanlagen im Hafengebiet zu besetzen. Der Angriff, der die Unreinen so auf Trab gebracht hatte, kam vom Wasser her, und es gehörte nicht viel Scharfsinn dazu, ihn mit den abgeschirmten Denkaktivitäten in Beziehung zu setzen, die er gerade aufgespürt hatte. Was in aller Welt mochte das alles zu bedeuten haben? Hiero schnappte sich schließlich einen Mann, einen von Grund auf bösen Charakter, der anscheinend ein Unteroffizier der Stadtgarnison war. Er befehligte nämlich eine Reihe von Soldaten, die auf einer Straße dicht an der Küste Barri212 kaden aus Balken und Sandsäcken errichteten und sich wie wild abschufteten. Dem Verstand dieses Mannes entnahm Hiero die Vorstellung einer großen Flotte aus gut dreißig Schiffen, die aus dem Norden angesegelt kam. Des weiteren erfuhr er, daß die Unreinen ebenfalls nicht in der Lage waren, die Besatzung dieser Flotte gedanklich zu erreichen oder zu durchdringen. Diese Nachricht hatte sich wie ein Lauffeuer ausgebreitet. Den gewöhnlichen Soldaten behagte dies ganz und gar nicht! Sie waren es gewohnt, daß unter dem Schutz und der Mithilfe ihrer Dunklen Meister und deren grausigen Mittel und Waffen auf physischem und geistigem Gebiet alles in ihrem Sinne lief, wobei jeder umgebracht wurde, der sich dagegen spreizte. Nun war irgend etwas falsch gelaufen, und die Unreinen Meister hatten zu schnell bekannt werden lassen, daß sie auf den Überraschungsangriff nicht gefaßt gewesen waren. Immer aufgeregter forschte Hiero weiter. Der Mann, dessen Denken er plünderte, hatte trotz dieser Sorgen nicht alle Zuversicht verloren. Zwei Geheimschiffe rückten gerade an. Die unverhoffte Flotte bekäme schon zu spüren, was es hieße, wenn die Blitzkanonen feuerten. Indem er sich zurücklehnte und sich vor allen äußeren Eindrücken verschloß, konnte er das Kopfweh, das ihm die anstrengende Gedankenleserei eingebracht hatte, lindern. Daraufhin überlegte er, was zu tun sei. Die Entscheidung war nicht einfach. Freilich bekämen sie wohl nie wieder eine bessere Gelegenheit zur unbemerkten Flucht in den Norden als während der Wirren dieses Angriffs, der gewiß von irgendwelchen Verbündeten seines Volkes unternommen wurde. Wenn er mit seinen Gefährten schon nicht zu der seltsamen Flotte vordringen könnte, dann ergäbe sich vielleicht die Gelegenheit, einen ordentlichen Kahn zu stehlen und während der tobenden Schlacht zu fliehen. Man mußte es einfach riskieren. Rasch setzte er seine Gefährten von den Vorgängen in Kenntnis. Wir müssen in die Stadt, in den Hafen, solange alle Augen aufs Wasser gerichtet sind. Haben einen ganz 213 schönen Schreck gekriegt, denn sonst hätten sie nicht alle Patrouillen und Posten zur
Verstärkung in die Stadt abgezogen. Vielleicht sind noch ein paar Soldaten auf dieser Seite übrig, aber viele können's nicht sein. Also tötet, wenn's sein muß aber leise! Weibchen und Junge laßt mir in Ruhe; notfalls nur betäuben oder zum Schweigen bringen. Sie zogen nun in einem viel schnelleren Tempo weiter, wobei Hiero auf der einen und Buorch auf der anderen Straßenseite die Führung übernahm. Während sie durch den Schatten der Bäume und das Licht der Schneisen eilten, konzentrierte sich Hiero auf den unmittelbar vor ihnen liegenden Straßenabschnitt. Er wollte niemandem begegnen und hatte panische Angst davor, jemandem in die Arme zu laufen, der geschützt war durch einen Gedankenschild jenes Medaillon der Unreinen aus stahlblauem Metall also, an das er sich nur zu gut erinnerte. Selbst in seinen besten Zeiten, als er die Macht gehabt hatte, jemandem seinen Willen aufzuzwingen und mit Gedanken gar zu töten, war er nicht in der Lage gewesen, diesen Mechanismus zu durchdringen; er war sich sicher, daß es ihm auch jetzt nicht gelänge. Gleichzeitig regte sich tief in seinem Innern irgend etwas anderes aus der Vergangenheit, das er vergessen hatte, das er jetzt aber gebraucht, dringend gebraucht hätte. Es fiel ihm nicht wieder ein, also müßte er wohl warten, bis es von selbst an die Oberfläche seines Bewußtseins käme. Sie hatten im Laufschritt etwa eine Meile zurückgelegt, als Buorch plötzlich den langen, gesprenkelten Arm hob und das Zeichen zum Halten gab. Der Kater huschte über die Straße und nahm Hiero nervös beim Arm, während er die andere Hand ans pelzige Ohr hielt. Sie blieben alle stehen, und Hiero lauschte nach dem Geräusch, das der Kater mit seinem schärferen Gehör ausgemacht hatte. Nun hörte er es ebenfalls, das ferne Rollen, zu dem sich in Abständen ein schrilles Kreischen gesellte. Wenn das nicht der Lärm einer tobenden Schlacht war, hatte Hiero noch keine erlebt! Hin und wieder war nun auch ein Bersten vernehmbar, wie wenn eine Mauer eingestürzt oder ein Baum gefallen wäre. Alle Tierstimmen waren verstummt, und der Wald, vom ungewohnten Tumult in der Feme erschreckt, hüllte sich in scheues Schweigen. Hiero gab das Zeichen zu schnellerem Tempo, und diesmal rannten sie aus Leibeskräften voran, wobei sie sich möglichst am Rande der Straße hielten. Das Risiko war gering, wie Hiero meinte. Jede geistige Aktivität ging im Kampfgetümmel vor ihnen unter, und Hiero konnte mit jedem Schritt einzelne Leute immer deutlicher erfassen. Die Gedanken geängstigter Frauen und Kinder drangen nun ebenso zu ihm durch wie die Hilflosigkeit gewisser Männer, die nicht am Kampfgeschehen teilnahmen und über die plötzliche Zuspitzung verdutzt waren. Die Unreinen Meister von Neeyana hatten sich in der Vergangenheit sehr im Hintergrund gehalten; der unverhoffte Anzug von Truppen und Lemuts war ein Schock für viele Kaufleute und Städter gewesen, die nicht gewußt hatten oder wahrhaben wollten, wer die eigentlichen Herrscher seien. Nun gerieten diese Unbeteiligten in Panik und sprengten verschreckt durch die Straßen, um aus dem Gefahrenbereich zu entkommen. Sie näherten sich immer mehr, und schon drang das Geschrei der unseligen Bevölkerung, deren Welt mit einemmal kopfstand, in Hieros Ohren. Was ihm immer noch verschlossen blieb, das waren die Gedanken der Unreinen Meister von Neeyana. Das war, wie er wußte, auf ihre mechanischen Schirme zurückzuführen. Jede Hoffnung, von ihnen etwas Neues in Erfahrung zu bringen, wäre vergeblich. Also versuchte er abermals, mit der angreifenden Flotte, deren Wesen und Herkunft ihm nach wie vor schleierhaft waren, Verbindung aufzunehmen, aber auch sie blieb durch ihren Schutzschild unerreichbar. Er spürte die Masse, die sich da heranwälzte, aber das war schon alles. Das Erkunden des eigenen Weges war anstrengend, und er könnte nicht die ganze Zeit alles im >Auge< behalten, ohne zu ermüden. Daß die Gedankensuche am Körper zehrte, war eine Tatsache. 214 215 Das Toben der Schlacht klang den Gefährten nun laut in den Ohren. Als der Wald vor ihnen sich endgültig lichtete, stieg beißender, schwerer Rauch in ihre Nasen. In dicken Schwaden quoll er durch die letzten Bäume; schließlich wurde er so dicht, daß er die Sonne verdunkelte und die Katzen sich die Lunge aus dem Leib husteten. Die Gruppe lief nun durch niedriges Gebüsch, angeführt von Hiero, der das blanke Schwert in der Hand und Speer und Schild
auf dem Rücken trug. Jedes Töten wäre nun Maßarbeit, aber er hoffte, ohne Zusammenstöße durchzukommen. Zum Geschrei und Gebrüll vor ihnen mengten sich tosende Feuersbrünste und die widerhallenden Donnerschläge, die er vorhin als dumpfes Rollen vernommen hatte. Bald kamen sie in rascher Folge, bald unregelmäßig. Zum Rauch brennenden Holzes gesellte sich ein seltsam bitterer Gestank, ein Brodem, wie er ihn noch nie gerochen hatte. Ehe sie sich versehen hatten, waren sie in der Stadt. Vor einem Augenblick sich noch durchs Buschwerk kämpfend, standen sie im nächsten auf einem schmalen Feldweg zwischen schäbigen Hütten; die im dichten Rauch nur umrißhaft zu erkennen waren. Der Gestank nach allerlei Unrat war stark genug, den Rauch des brennenden Holzes zu überdecken. Buorch fauchte, und die Gefährten spannten die Muskeln, als aus dem Dunkel vor ihnen Gestalten auftauchten. Ein jäher Windstoß fegte in diesem Augenblick von der See durch die Gasse und teilte den Nebel, so daß die beiden Gruppen auf einander aufmerksam wurden. Zwei große Menschenratten, die mit Waffen behangen waren und Säcke mit Kriegsbeute oder Vorräten trugen, starrten verdutzt blinzelnd auf die Klinge des Menschen und in die vier finsteren Gesichter der ersten Kinder des Windes, die sie je gesehen hatten und je sehen würden. Ehe sie auch nur mit den großen Ohren zucken oder die Säcke in den schmutzigen Pfoten loslassen konnten, waren sie erstochen worden und lagen mit aufgeschlitztem Hals in den letzten Zuckungen am Boden. Hiero konnte wieder einmal 216 nur staunen über die unglaubliche Wendigkeit seiner Gefährten, die kampfbereit schon wieder seinen Rücken deckten, als die grausigen Lemuts mit den langen, nackten Schwänzen noch nicht auf der Erde aufgeschlagen waren! Tötet alle Bewaffneten! übermittelte Hiero. Wir müssen weiter und was finden, von wo aus wir was sehen können. Sucht nach was Hohem! Wird hier zwar keine Bäume geben, aber dafür bauen diese Leute Häuser, die viel größer sind als wir. Bei diesem heillosen Durcheinander kann ich unmöglich mit meinen Gedanken horchen. Wir müssen also Augen und Ohren gebrauchen. Hiero versuchte, sich an das zu erinnern, was ihm einst von Gimp und Bruder Aldo über Neeyana berichtet worden war. Auch Lucare hatte hier als verschleppte Sklavin einen unfreiwilligen Zwischenaufenthalt eingelegt. Was wußte er über die Stadt? Sie war sehr alt, so alt, daß sie in irgendeiner Form wohl schon vor dem >Tod< bestanden hatte. Die Unreinen hatten die ganze Stadt durchsetzt, agierten aber für gewöhnlich im Untergrund. Des weiteren gab es hier ein paar alte Kirchen, die schon baufällig waren und lange keine Priester mehr gesehen hatten. Sie waren aus Stein erbaut und hatten einen Turm. Diese Türme waren vermutlich in der Hand der Unreinen schon aus Observierungsgründen. Dennoch mußte etwas geschehen. Eigentlich war ja alles gefährlich in diesem rauchenden, stinkenden Labyrinth mit seinen verstörten Bewohnern. Während er noch die Möglichkeiten abwägte, erdröhnte weit vorne abermals ein Donnerschlag. Etwas Wuchtiges schlug auf, so daß die Erde unter den Füßen bebte. Von weiter entfernt drang ein ähnliches Gepolter heran. Was mochte das nur sein? Er mußte eine Stelle finden, von wo aus er etwas sehen könnte! Hiero wandte sich zu den Katzen um. Mit angelegten Ohren und aufgestelltem Rückenhaar standen sie still hinter ihm. Es mußte, überlegte er beiläufig, für sie schrecklich sein, aus der reinen Waldluft in diesen stinkenden, qualmenden Hexenkessel versetzt zu werden, in dem schauerli217 cher Lärm herrschte und ungeahnte Gefahren lauerten. Aber sie schreckten nicht zurück und waren zum Kampf bereit. Ihr Zutrauen machte Hiero neuen Mut, obschon er sich nicht zum ersten Mal wünschte, nicht die Verantwortung für sie auf seinen Schultern tragen zu müssen. Nun fingen sie an, sich langsam und behutsam durch die grauen Rauchschwaden Vorwärtszutasten, wobei sie jede Ecke erkundeten, bevor sie sie umrundeten, und mit gespannten Sinnen nach möglichen Feinden Ausschau hielten, um selbst nicht zuerst entdeckt zu werden. Als eine besonders schwarze Wolke sie einhüllte, teilte Hiero ihnen mit, obschon er nur ungern die verräterische Telepathie benutzte: Nehmen wir uns bei der Hand und bleiben dicht zusammen. Buorch, du gibst uns Rückendeckung. Töte jeden, der nicht zu
uns gehört! Er bedauerte, seine Gefährten so bevormunden zu müssen, aber in diesem widrigen Qualm konnte er kein Risiko eingehen. Der Feind hatte Neeyana schon seit einer Ewigkeit in seiner Hand, und ihre einzige Hoffnung bestand darin, ungesehen und unauffällig zu bleiben. Hiero tapste nun entlang eines hölzernen Pfahlzauns, der das vielstimmige Geschrei sowohl aus seinem Verstand als auch seinen Ohren aussperrte. Hiero war darauf aus, ein solideres Bauwerk ausfindig zu machen. Er spürte das Zittern in der Hand, der feingliedrigen, als er versuchte, durch seinen Arm der Sprecherin in spe neue Kraft zufließen zu lassen. Mrien hätte sich all das oder irgend etwas davon nicht träumen lassen! Er hielt sofort inne, als seine ausgestreckte Hand etwas anderes fühlte. Er hatte einen glatten, speckigen Stein berührt, der abgegriffen und schlüpfrig war, was nur auf sein hohes Alter zurückzuführen war. Er blieb stehen und wußte, daß auch die anderen, die ihm folgten, es ihm gleichtun und innehalten würden, sobald sie seine Aufregung und sein Zaudern gespürt hätten. Das Geschrei und Gebrüll kam nicht aus nächster Nähe, obschon es in einem fort erklang. Die heiße Decke aus Rauch und trübem Brodem bedeckte ihn und seine Freunde, aber was mochte sie sonst noch verhüllen? Hiero versuchte, die Zeit zu schätzen, und kam zum Schluß, daß es wohl früher Nachmittag sein müsse. Wieviel Zeit bliebe ihnen also noch, und was sollten sie damit anfangen? Er schauderte unwillkürlich, als nur ein paar Straßen weiter, wie er vermutete, eine Explosion eine Bresche schlug. Das Echo der Schüsse, das während ihres Vorstoßes ziemlich konstant geblieben war, schien nun allmählich schwächer zu werden. Den nächsten Schuß hörte er schon aus viel größerer Entfernung, wahrscheinlich aus der Hafengegend. Er gab mit der Hand das Zeichen zum langsamen Vorrücken. Der Rauch brannte ihm in den zusammengekniffenen Augen, als er sich an der Steinmauer, die er gerade entdeckt hatte, weitertastete. Die nächsten fünf, sechs Schritte wies die Mauer, so weit wie er hinaufgreifen konnte, keinerlei Öffnungen oder besondere Strukturen auf von kleinen Rissen im alten Mörtel abgesehen. Die großen, unregelmäßigen Steine, die dieser Mörtel verband, waren anscheinend unbehauen und auch sonst in keiner Weise bearbeitet. Neue Rauchschwaden senkten sich auf sie herab, so daß es ihm schier die Kehle zuschnürte, als er der Mauer weiter folgte. Schließlich hielt er inne. Seine Hand glitt gerade über die Kante eines großen Pfostens aus schwerem, gewachsten Holz. Er bückte sich, um sich zu vergewissern. Es handelte sich nicht um ein Fenster, sondern tatsächlich um eine offene Tür. Im trüben Dunst blinzelnd, lauschte er sowohl mit seinen Ohren als auch seinem Geist. 218 Wechselvolle Winde, wirkungsvolle Winde Es war keine Menschenseele in der Nähe, wie Hiero mühelos feststellen konnte, es sei denn jemand hätte sich hinter einem Gedankenschirm verborgen. Er stand mit seinen Gefährten nun im Erdgeschoß eines höheren Bauwerks, bei dem es sich wahrscheinlich um eine der verlassenen Kirchen handelte, von denen Lucare einmal gesprochen hatte. Unter ihnen in den Kellergewölben und über ihnen im Turm hielten sich fremdartige, feindselige Wesen auf. Aber es schien sich um nicht mehr als jeweils vier oder fünf davon zu handeln. Kurzentschlossen tappte Hiero durch den finsteren, rauchigen Raum zu einer hellen Stelle, wo einfallendes Licht auf den schmalen Treppenaufgang hindeutete. Ihm folgten seine aufgeregt zitternden Gefährten. Ich muß was sehn, übermittelte er. Buorch, du stehst am Fuße dieses Turms Wache. Kommt jemand, töte ihn! Kommen mehr, schick uns eine Warnung und folge uns nach oben! Er war sich darüber im klaren, daß der starke Führer vermutlich nur ungern zurückbliebe, aber genügend Disziplin hätte und verstünde, warum der beste Krieger als Rückendeckung hinten bleiben sollte. Hiero machte sich mit vorgehaltenem Schwert daran, die Stufen der engen Wendeltreppe an der Spitze seiner Freunde zu erklimmen. Die ausgetretenen, uralten Stufen waren morsch und schlüpfrig. Im dichten, nach oben steigenden Rauch mußten sie mit jedem vorsichtigen Schritt stärker gegen verräterischen Husten ankämpfen. Sie gelangten zum ersten Treppenabsatz und schlichen leise weiter. Hiero konnte keinerlei Lebenszeichen in diesem
Stockwerk erkennen, obschon eine ramponierte Tür weit offenstand. Es wurde nun immer heller und der Rauch dünner. Sie ließen ein weiteres offenbar leeres Geschoß zurück, woraufhin Hiero 220 seine Freunde mit einem Handzeichen verständigte, sich bereit zu machen. Hinter einer letzten Tür, durch die grelles Tageslicht einfiel, lag das flache Dach des einstigen Kirchturms, nun zur Wehrplattform eines Wachturms umfunktioniert. Auf sein Nicken hin stürzten sie hinaus. Mochten die Posten darauf in diesen Ungewissen Stunden auch mit vielem gerechnet haben, auf einen Angriff vom Treppenschacht aus waren sie sicherlich nicht gefaßt. Insgesamt waren es ihrer vier, die an der Brüstung standen und nordwärts zur Küste der Inlandsee ausschauten, die von hier aus trotz Dunst und Rauch, die die Stadt darunter einhüllten, sichtbar war. Die zwei Menschenratten und der eine Mensch waren mit durchgeschnittenen Kehlen gestorben, ehe sie den Überfall überhaupt bemerkten. Der vierte Mensch sackte ohnmächtig zusammen, als die eiserne Kante von Hieros linker Hand unmittelbar unter dem Rand seines Eisenhelms auf seinen Nacken niedersauste. Binnen weniger Augenblicke war der Turm eingenommen. Nachdem er den beiden jungen Kriegern befohlen hatte, den Bewußtlosen zu bewachen, trat Hiero an die hölzerne Brüstung, die auf die erlauchten Steine eines noch älteren Mauerkranzes aufgesetzt war, und spähte hinaus. Was sich seinem Auge darbot, war einfach unglaublich! Er wußte bereits, daß große Teile der Stadt in Flammen standen. Die alten Holzbauten, die in der Stadt vorherrschten, brannten wie Zunder. Hie und da ragten noch Gebäude aus Stein, die dem Feuer standhielten, aus dem Wolkenmeer auf. Der Wind wechselte dauernd von Ost nach West und umgekehrt, war böig und wurde mitunter recht heftig. Über die schmalen Straßen rückten die Truppen der Unreinen an und versuchten, zu den Kais zu gelangen, wurden aber durch das Feuer und die Scharen fliehender Zivilisten, die in Panik ausgebrochen waren und in die entgegengesetzte Richtung zu entkommen suchten, immer wieder zurückgedrängt. Offenbar war man auf schwere Angriffe völlig unvorbereitet, da der Eigendünkel der Unreinen Meister die Erwägung bedrohlicher Attacken gar nicht erst zugelassen 221 hätte. Nun waren sie zum Improvisieren gezwungen und mußten sich mit den Folgen, die so etwas immer mit sich bringt, abfinden. Voller Abscheu verfolgte der Metz, wie sich eine Truppe von Zottelheulern mit dem Schwert einen Weg durch eine Schar zerlumpter Menschen schlug, die ihnen den Durchgang verwehrten, bis die blutverschmierten Überlebenden verängstigt in die Seitengassen flüchteten. Das alptraumhafte Gekreische und Geschrei drang aus allen Ecken und Enden der Stadt. Der Inlandsee aber galt Hieros Augenmerk, während er alles andere nur am Rande registrierte. Der Angriff hatte sich nämlich auf alle Kais ausgedehnt, und die alten Lagerhäuser und Landungsbrücken standen größtenteils in Flammen, während nur die gemauerten Wände und Mauertrümmer der Hitze standhielten. Was Hiero jedoch am meisten packte, spielte sich auf dem Wasser ab. Es lagen vor der Stadt fünf rechteckige Gefährte, durch den Dunstschleier deutlich sichtbar. An ihren abgeschrägten Seiten öffneten sich in einem fort Luken, aus denen regelmäßig Feuerstöße schössen. Sie hatten keine Segel, dafür aber gedrungene Doppelschornsteine und einen kurzen achteren Mast. Als Hiero diesen Mast und seine Beflaggung sah, machte er große Kinderaugen. Da draußen prunkte in Grün auf Schwarz Schwert und Kreuz der Abteien! Die Republik Metz hatte endlich zum Gegenschlag ausgeholt und die Front zum Feind getragen! Mit klopfendem Herzen bemerkte er die vielen ankernden Segelschiffe hinter den fünf seltsamen Zerstörern. Das war kein Strafstoß, sondern ein Vernichtungsschlag. Er verschwendete kaum einen Gedanken auf die schwarzen Mündungen, deren Geschosse in der Stadt detonierten. Das also war die Ursache für das dunkle Donnern, das er die ganze Zeit gehört hatte. Wie die Waffen funktionierten, war für ihn ohne Belang. Anscheinend handelte es sich um eine vergrößerte Form seines längst verlorenen Werfers, seines handlichen Raketenwerfers, den ihm Sduna droben im Norden abgeknöpft hatte.
222 Die Hände auf die Brüstung gestützt, versuchte er vergeblich, mit der Flotte in Verbindung zu treten. Es half alles nichts. Ein starker Gedankenschirm, der keinen Vergleich mit den Abwehrschirmen der Unreinen zu scheuen brauchte, riegelte alle Gedanken ab, so daß er nicht durchzudringen vermochte. Aber er wußte etwas, das die da draußen unbedingt erfahren müßten, etwas Wichtiges, wovor er sie in jedem Fall warnen müßte! Er hämmerte mit den Fäusten auf die Holzbrüstung, so verzweifelt war er. Eine pelzige Hand tippte ihm scheu auf die Schulter und holte ihn damit wieder in die Wirklichkeit zurück. Es war Mrien. Buorch ist raufgekommen. Sagt, 'ne Menge von den finstren Kerlen sind von drunten gekommen und davon. Haben ihn nicht gesehn. Wenn nicht noch mehr drunten sind, sind wir jetzt allein. Hinter ihr stand die bedrohliche Gestalt des Führers im dünnen Rauchschleier. Wie Hiero feststellte, kam ein starker ablandiger Wind auf. Was tun? Wieder richtete er den Blick auf die angreifende Flotte. Aus der Gedankenübertragung, die er am Vortag aufgeschnappt hatte, wußte er, daß wenigstens zwei unreine Kriegsschiffe in der Nähe waren, die zweifellos vom rasenden Atom angetrieben wurden und auf ihren eisernen Decks jene gefürchtete Waffe hatten, die elektrische Blitze schleuderte. Könnte die Flotte der Abteien diesen Blitzkanonen standhalten? Die neuen Schiffe, durchaus großartige Errungenschaften, wirkten freilich plump und träge wie watschelnde Schildkröten. Ihm fiel auf, daß sie Bug an Heck in einer Linie lagen, wohl um einigermaßen Stabilität zu gewinnen und somit zielsicher feuern zu können, obgleich kein Seegang herrschte. Er wandte sich um und besah sich den am Boden liegenden Gefangenen, der sich kräftig den Hals rieb, während er Hiero und die Kinder des Windes aus ängstlichen Augen anstarrte. Er war wahrlich nicht schön anzusehen, trug aber feine, saubere Kleider; des weiteren paßten Stiefel und 224 Helm wie nach Maß. Vom Hals baumelte ein metallenes Amulett, die gelbe Spirale der Unreinen Herren nämlich. Er war also ein Offizier, ein Mann von Rang in der feindlichen Hierarchie. Hiero erkundete seinen Verstand und stieß, was ihn nicht verwunderte, auf blanke Schwärze. Zieht ihn aus! übermittelte er im Wellenbereich der Katzen. Binnen eines Augenblicks hatten die scharfen Krallen den Mann bis zur Hüfte entblößt. Das verschlossene Medaillon an der stahlblauen Halskette barg den mechanischen Gedankenschild der Unreinen, der die Aufgabe hatte, ihre Diener und Verbündeten zu schützen. Binnen eines zweiten Augenblicks hatte Hiero ihn abgerissen und über die Brüstung geschleudert. In Batwah, der fast allgemein verständlichen Handelssprache, redete er den Mann dann an. »Sprich die Wahrheit, nichts als die Wahrheit, wenn dir dein Leben lieb ist! Wenn du lügst, übergeb ich dich meinen Freunden hier.« Ihm entging nicht das Schaudern, das über den Gefangenen kam, als er die gelben Schlitzaugen auf sich vereinigt wußte. »Wo sind die Geheimschiffe? Wie viele sind's? Wie viele Mann sind in der Stadt stationiert? Sind weitere unterwegs? Wenn ja, wie viele? Wo sind deine Meister und wie viele von ihnen sind hier?« Als er ihn in rascher Folge mit den Fragen beschoß und kaum auf eine Antwort wartete, beobachtete er den nun ungeschützten Verstand. In dieser Technik war er inzwischen so bewandert, daß das Ganze neuerdings schon automatisch ging. Er konnte seinen Gefangenen nicht zu irgend etwas zwingen; diese Fähigkeit war ihm verlorengegangen. Aber er konnte seine Gedanken lesen. Der Gefangene war kein Feigling und in der Tat ein Mann von Rang, den man in Metz einen Regimentskommandeur geheißen hätte. Sein Name war Ablom Gord, und er verfügte über allerlei interessantes Wissen. Er versuchte zu lügen, aber das spielte für Hiero keine Rolle, obschon er sich natürlich nicht anmerken ließ, daß die Antworten, die er bekam, nicht der Wahrheit entsprachen. Offenbar waren nicht mehr als zwei der tödlichen Zerstö225 rer in der Nähe, aber diese beiden waren angefordert worden und schon längst auf dem Weg. Die Garnison konnte die Stadt noch halten, aber die Verteidigung würde wohl
zusammenbrechen, wenn die Invasion nicht abgewendet werden könnte. In der Stadt selbst gab es keine Blitzkanonen; nur die Schiffe waren damit ausgerüstet. Die Unreinen verfügten über starke Truppen aus nah und fern, die jedoch nicht in Neeyana, sondern in einem geheimen Stützpunkt viele Meilen östlich vom Hafen zusammengezogen wurden. Weitere Truppen waren an der Nordküste der Inlandsee stationiert, denn es war ein großer Feldzug geplant gewesen. Dieser plötzliche Angriff auf Neeyana kam allerdings völlig überraschend. Da keine Zeit mehr war, um Verstärkung anzufordern, hoffte man, daß die Blitzkanonen rechtzeitig einträfen, um das Gleichgewicht der Truppen vorteilhaft zu verändern. Nachdem Hiero alles Nützliche in Erfahrung gebracht hatte, sah er den Offizier nachdenklich an. »Du hast auf jede Frage gelogen«, hielt er ihm vor. »Ich habe dich gewarnt.« Das Signal an Buorch hatte er so schnell übermittelt, daß dem Mann ein Messer in den Hals gefahren war, ehe er merkte, daß sein Todesurteil gesprochen war. Für Hiero war der Fall damit erledigt. Was er in der Vergangenheit des Mannes entdeckt hatte, hätte ausgereicht, ihn ein Dutzend Mal an den Galgen zu bringen; das Niederschlachten wehrloser Frauen war nur eins seiner Verbrechen gewesen. Hiero stieg über den zuckenden Leib hinweg, woraufhin er voller Abscheu merkte, daß seine Sandalen vom Blut schlüpfrig geworden waren, und blickte abermals hinüber zur Flotte der Abteien, die nach wie vor damit beschäftigt war, die Wasserfront durch systematischen Beschuß der Kais zu zerschlagen. Der weiter auffrischende Wind fuhr ihm von hinten ins Haar, daß es nur so flatterte. Er blies nun, von kleinen Schwankungen abgesehen, beständig nach Norden, vom Land zum Wasser. Der Wind, dachte er müßig, dieser Wind warum mußte er immerzu an den Wind denken? Der Feind rückte sicherlich rasch näher; die grausi226 gen, flinken Todesschiffe, von ihren leisen Maschinen im schlanken Metallrumpf angetrieben, müßten jetzt schon dicht bei der Stadt sein. Warum, in aller Welt, drehten sich seine Gedanken dauernd um den Wind? Endlich wurde es ihm klar. Das war die Antwort! Er wirbelte herum und gab flugs die Befehle aus, die er mit ein paar Erklärungen unterstrich. In weniger als einer Minute so rasch vollzog sich der Gedankenaustausch im Wellenbereich der Katzen war man sich einig. Die kleine Gruppe eilte über die enge Treppe hinunter. Die unteren Geschosse waren anscheinend noch leer. Rauchschwaden wirbelten durch die alte Tür herein. Das Gekreische und Geschrei, das Knistern der Flammen und das Getöse der Bomben und Granaten schlugen ihnen von weitem entgegen. Das Hauptgewicht des Angriffs hatte sich, wie Hiero meinte, ein Stück nach Westen verlagert, als ob die Flotte aus Metz sich in diese Richtung bewegte. Um so besser für ihn, dachte Hiero. Still und leise wie ein Spuk huschten die fünf Gestalten aus der alten Kirche und eilten durch eine schmale Gasse davon. Sie paßten auf wie Wachhunde; allerdings hatte Hiero vor Buorch die Führung übernommen, denn seine menschlichen Fähigkeiten wurden in diesem von Menschen geschaffenen Labyrinth mehr gebraucht als die feineren Sinne des Katzenvolkes. Bald gelangten sie zu einem freien Platz, aber mußten sich sofort unter stinkende Mauern ducken, als ein lauter Menschenhaufen vorüberrannte. Das waren offenbar solche Leute, die die Ereignisse völlig überrascht hatte. Die anscheinend ziellos umherirrende Gruppe verschwand schließlich in östlicher Richtung im Rauch. Hiero gab ein Zeichen, und die fünf Gefährten überquerten schnell den Platz und setzten durch die Trümmer eines niedergebrannten Gebäudes auf die gegenüberliegenden Seite. Sie hatten, sofern der Metz sich nicht täuschte, ein leicht abschüssiges Gelände vor sich. Wenn er anhand seines Blicks vom Kirchturm die Lage richtig einschätzte, wür227 den sie bald auf die Kais stoßen. Einmal tauchte eine laufende Gestalt als bloßer Schatten in den düsteren Schwaden vor ihnen auf; aber ein Blick auf die fünf Freunde, die sich im dämmrigen Licht als schauerliche Fratzen abzeichneten, genügte, um den erschreckten Läufer schleunigst in die Flucht zu schlagen. Wir müssen jetzt noch mehr aufpassen, übermittelte der Metz. Der Großteil ihrer Truppen steht wohl hier, in Wassernähe. Wir müssen uns durchmogeln und ein Boot finden. Mrien erwiderte: Das Wasser ist nicht weit. Ich riech's schon. Trotz des stinkenden Rauchs riecht es sauber.
Mit einemmal schneller als Hiero gedacht hätte waren sie da. Eine schmale Gasse mit brüchigem Ziegelsteinpflaster hatte sie zu diesem jähen Ende geführt. Vor ihnen breitete sich ein Gewirr uralter Landungsstege aus, wovor so mancher halb morsche trunken im Uferschlamm lag, während wieder andere, durch Granaten oder Funkenflug entzündet, schwelend vor sich hin brannten. Der Wind blies ihnen nach wie vor in den Rücken, und die Rauchschwaden zogen geradeaus ins offene Meer .hinaus. Hiero sah sich genau um; er suchte etwas Bestimmtes. Es waren keine Unreinen da, zumindest nicht in nächster Nähe. Er konnte sie auf beiden Seiten massenhaft spüren, aber in einigem Abstand. Falls den Katzen etwas auffiele, würde er sofort informiert werden, wie er wußte. Das Feuer von den Schiffen konzentrierte sich nach wie vor auf die linke, westliche Seite. Wo sie standen, war es aufgrund irgendeines akustischen Phänomens recht leise, so daß sogar das Plätschern der kleinen Wellen vernehmbar war, die an dem schmalen Strandstück unter der gemauerten Uferstraße leckten. Dann fiel sein suchender Blick auf ein kleines, spitz zulaufendes Gebilde, das halb versteckt unter einem der ramponierten Landungsstege lag und sanft auf dem bewegten Wasser schaukelte. Eben dieses Schaukeln hatte ihm ins Auge gestochen. Er sah noch genauer hin und erforschte gleichzeitig die nächste Umgebung nach anderen Bewegungen. Obschon er nichts entdeckte, meldete sich sein Instinkt mit einer ersten Warnung. Es war jemand in der Nähe; er wurde beobachtet. Spielt keine Rolle, sagte er sich. Die Zeit drängte viel zu sehr, um jetzt vagen Vermutungen nachzugehen. Er mußte handeln. Wartet hier und haltet nach allen Seiten die Augen offen! übermittelte er. Wenn das da draußen unter dem Holz im Wasser das ist, was wir brauchen, geb' ich euch ein Zeichen. Ohne auf Zustimmung zu warten, stürzte er hinaus auf den offenen Platz, rannte zum Strand hinunter und watete durch das schlammige, ölige Wasser. In kürzester Zeit stand er bei dem kleinen Boot und starrte auf seinen einzigen Insassen einen Fischer, wie der Metz vermutete. Der Mann hatte offenbar zu fliehen versucht, denn es befanden sich sowohl Ruder als auch ein Netz in seinem Boot. Bis auf das Messer am Bauchgurt war er unbewaffnet; bekleidet war er nur mit einer ledernen Weste und einem Lendentuch. Entweder während der Flucht oder später war er erschossen worden; es ragte mitten aus seinem Rücken die Fiederung eines Armbrustbolzens. Die Ruder lagen noch nebeneinander, so daß Hiero mutmaßte, er habe sie zum Boot getragen, als er als weiteres ungezähltes Opfer des Krieges plötzlich aus dem Leben geschieden sei. Hiero hauchte ein Stoßgebet, sollte der Mann ein rechtschaffener Mensch und kein Unreiner gewesen sein, und kippte den Leichnam dann über den Bootsrand ins seichte Wasser. Nachdem er sich umgedreht und den anderen auffordernd zugewinkt hatte, setzte er sich auf die Mittelbank und machte sich daran, die Lederleine, mit der das Boot an einer Klampe des ramponierten Landungsstegs festgemacht war, zu kappen. Sekunden später eilten die Katzen herbei und kletterten ins Boot, wo sie sich aufgeregt auf den Boden duckten. Im nächsten Augenblick hatte Hiero die Ruder eingelegt und bewegte das Gefährt unter den Pfählen hindurch ins offene Wasser hinaus. Hinter ihm spähte ein Augenpaar, in ohnmächtiger Wut funkelnd, aus einem schmalen Fensterspalt hoch in einer Ruinenmauer. Eine bleiche Hand spielte nervös an der stahlblauen Kette um den Hals. Kaum war ein Entschluß gefaßt, wurde die Hand gesenkt. Eine Gestalt in Kapuzenmantel wirbelte herum und hastete in eiliger Sache davon. Das kleine Boot war etwa dreimal so lang, wie Hiero groß war, hatte einen hochgezogenen Bug und ein spitzes Heck. Es machte ordentlich Fahrt, als der Metz sich in die Riemen legte. Von den Kindern des Windes, die nach außen hin unerschütterliche Ruhe zeigten, saßen mit klopfendem Herzen jeweils zwei im Bug und zwei hinter dem Menschen im Heck. Obwohl sie vor Aufregung zitterten, wären sie lieber gestorben, als ihre Furcht offenbar werden zu lassen. Als die Wellen höher schlugen, legten sie einfach die Ohren zurück und warteten darauf, daß ihr neuer Freund etwas sagen würde. Hiero prüfte bei der Bestimmung des Kurses ständig den Wind. Sein Plan wies so viele Lücken auf, daß er nur hoffen konnte, mit einer großen Portion Glück damit durchzukommen. Wenn nur der Wind, der von Süden blies, nicht drehen würde! Er blickte über die Schulter zurück, um zu sehen, was von der brennenden Stadt im dünner werdenden Rauch zu
erkennen war. Aha! Da war ja die Flotte aus Metz! Die fünf Kriegsschiffe, die nun mehr denn je wie Schildkröten oder gar schwimmende Scheunendächer aussahen, glitten langsam wieder ostwärts, in seine Richtung, ohne das Feuer einzustellen. Wenn der ablandige Wind ihre Ziele versteckte, so war davon jedenfalls nichts zu merken. Wahrscheinlich boten sich in den Lücken zwischen den Schwaden mehr als genug Zielpunkte an. Weiter draußen kreuzte die Armada aus Segelschiffen, die nur auf ein Zeichen zum Anrücken wartete. Der ablandige Wind über dem braunen Wasser hielt an. Hiero stützte sich auf die Riemen und blickte nach Osten, wobei er nicht nur die Augen, sondern auch seine Gedankenkräfte benutzte. War dort etwas? Am Rande seines geistigen Blickfelds tauchte dieses Etwas auf, um bald wieder 230 zu verschwinden, sich erneut zu zeigen und schließlich zu bleiben. In seinem Innern stellte es sich als ziehende Wolke, als wehender Schleier dar. Gedanken konnte er freilich keine feststellen, was aber gar nicht nötig war. Schon einmal damals auf der anderen Seite der Inlandsee hatte er etwas Ähnliches wahrgenommen. Schiffe kamen aus dem Osten, die schnellere Fahrt machten als alles andere, ob mit Segel oder den neuen Maschinen der Zerstörer aus Metz ausgestattet. Die Geheimschiffe des Feindes, von den verschlagenen Meistern der Unreinen herbeigerufen, eilten Neeyana zur Hilfe. Bald würden sich die Blitzkanonen mit den einfachen Waffen der Flotte aus Metz messen. Hiero hegte keine falschen Hoffnungen, wer als Sieger hervorgehen würde. Die Zerstörer aus Metz waren recht wirksam und hatten Neeyana völlig überrascht. Aber Hiero war überzeugt, daß sie es mit den unreinen Schiffen nicht aufnehmen könnten. Daß hinter der neuen Kriegsflotte Abt Demero und der Abteirat standen, daran zweifelte er keinen Augenblick. Angesichts der kurzen Zeit aber, die den Abteien zur Verfügung gestanden hatte, um die neuen Schiffe zu fertigen, war es allerdings unwahrscheinlich, daß sie den unreinen Schiffen an Stärke und Geschwindigkeit gleichkämen. Mochte die Kriegsflotte aus Metz ein auch noch so stattliches Bild abgeben, ihre plumpen Zerstörer wären bloße Nußschalen im Vergleich zu dem, was von Osten herbeieilte! Mrien, übermittelte er rasch, mach dich bereit! Los, fang an! Der Feind naht. Wir müssen uns alle hinlegen, damit dieses Fahrzeug leer erscheint. Wenn der Feind nur ein treibendes Boot sieht, wird er wohl vorbeifahren, um unsre Freunde anzugreifen. Es war Buorch, der zur Erwiderung gab: Sie ist schon dabei. Und ich kann jetzt auch den Feind sehen. Wie schnell sie kommen! Auch Hiero sah sie nun, die zwei Punkte, die mit hoher Geschwindigkeit entlang der Küste ostwärts sausten und von Minute zu Minute größer wurden. Er rang die Hände. 231 Wenn er doch nur den Gedankenschild seiner Freunde durchbrechen könnte, um sie vor der Gefahr zu warnen! Mit den andern duckte er sich unters Dollbord und zwang sich zur Ruhe. Als er mit einemmal die Furcht spürte, die ihn ergriff, atmete er erleichtert auf. Denn Mrien hatte ihr Ledersäckchen geöffnet und hantierte darin mit beiden Händen in kreisenden, rührenden Bewegungen. Die Woge der Angst, die auf die Katzen ohne Wirkung blieb, kam von ihrem Rücken und griff sofort in die Chemie seines menschlichen Körpers ein. Der Wind des Todes blies ins Meer hinaus. Die Rauchschleier aus der brennenden Stadt, die entsetzlich im Hals kratzten, waren nun mit einem todbringenden Brodem versetzt. Hiero spähte flugs nach Westen und duckte sich wieder ins Boot. Soweit war alles in Ordnung. Die Flotte der Abteien hatte in sicherer Entfernung eine Linie gebildet, um die Zerstörer zu empfangen. Das Feuer auf die Stadt war eingestellt, und die Segelschiffe waren noch weiter westwärts abgefallen, um hinter den Schlachtkreuzern Deckung zu suchen. Sie kommen, gab Buorch zu verstehen. Nun werden wir ja sehen. Hiero schloß die Augen und begann zu beten. Er hatte alles in seiner Macht Stehende getan; nun konnte nur noch Gott helfen. Vielleicht hatten die Zaubermeister der Unreinen damals, als das Katzenvolk seinem Joch der Sklaverei und Unterdrückung entfloh, bereits gelernt, wie ihre grausige Waffe aufzuheben sei. Während er noch Zwiesprache mit seinem Schöpfer hielt, vernahm er das Geräusch, das er erwartet und befürchtet hatte, das knatternde Zischen der feindlichen Waffe, die ihn schon
einmal niedergestreckt hatte. Die Blitzkanone! Ein Schuß konnte sie in Sekundenschnelle auslöschen. Er konnte sich nicht mehr zurückhalten und lugte über das Dollbord. Seine Gefährten folgten seinem Beispiel,, und so verfolgten sie alle fünf stumm und ergriffen den Beginn einer schrecklichen Seeschlacht. 232 Die schmalen, schnittigen Kreuzer der Unreinen hatten keine Taktik für eine Auseinandersetzung mit Gegnern, die ihnen annähernd gewachsen wären. Eine solche Strategie hatten sie bislang gar nicht-nötig gehabt, da ihr mysteriöses Gefährt noch nie auf einen ebenbürtigen Widersacher gestoßen war. Also hielten sie einfach auf die Flotte aus Metz zu und feuerten aus den Kanonen auf ihrem Vordeck in rascher Folge. Die beiden Zerstörer lagen dicht beieinander und schienen sich gar ein Wettrennen zu liefern, wer bei der erwarteten Schlacht der erste wäre. Offenbar fiel ihnen das kleine Boot gar nicht auf, das eine Viertelmeile südlich von ihrem Kurs auf dem öligen Wasser trieb. Schon konnten sie erste Treffer verzeichnen. Wie Hiero befürchtet hatte, übertrafen die wunderlichen Blitzkanonen, die eine Art von statischer Elektrizität verschleuderten, die plumpen Geschütze aus Metz an Reichweite. Schon rauchte einer der schwimmenden Kolosse aus einem großen Leck im abgeschrägten Rumpf, obwohl er zusammen mit den andern vier noch die Linie hielt. Alle Panzerschiffe aus Metz hatten das Feuer eingestellt, denn sie mußten zwangsläufig warten, bis die Zerstörer der Unreinen in Schußweite kämen. Abermals betete Hiero um das Wunder, das er erfleht hatte, während er sich die Augen ausrieb, in die nicht nur der brennende Rauch, sondern auch die eiserne Disziplin, mit der seine Landsleute die Stellung hielten, Tränen getrieben hatten. Und es passierte, wie Wunder manchmal geschehen, besonders wenn Mut und weise Voraussicht dahinterstecken. Die zwei schnittigen Zerstörer der Unreinen waren auf ihrem Weg zur gegnerischen Flotte längst an dem treibenden Boot vorbei, als sie plötzlich durchzudrehen schienen. Eins davon drehte nämlich scharf ab und hielt mit voller Fahrt mitten auf die ungeschützte Flanke des Schwesterschiffs zu. Gleichzeitig verstummte das Knistern der Blitzkanonen, und die Gefährten im Boot vernahmen kreischendes Geschrei, das übers nun stille Wasser hallte. Schwarze Punkte, die sich an der Reling sammelten und in die Fluten stürzten, 233 zeugten davon, wohin die Besatzung der verzauberten Schiffe in höchster Panik floh. Es folgte rasch der letzte Akt. Ohne Steuermann oder aber es stand ein Irrsinniger auf der Brücke fuhr dasjenige Schiff, das der Küste am nächsten war, dem anderen in die Seite, so daß sich der scharfe Bug bei voller Fahrt wie ein Riesenpflug tief in den anderen Rumpf bohrte. Zuerst stieg eine kleine Rauchwolke auf, als die zwei verkeilten Metallkörper zum Halten kamen, dann schlug eine grelle Lohe zum Himmel, vor der sie, die im Boot saßen, sich schützend die Augen bedecken mußten. Das gewaltige Getöse einer Explosion folgte dem Licht, und abermals steckten alle den Kopf unter das Dollbord. Als ein schriller Heulton durch die Luft kreischte, drückten sie sich ganz flach auf den Boden. Ein Wasserguß ging von allen Seiten auf die zitternden Gefährten nieder. Nachdem der Metz die Panik niedergerungen hatte, hob er den Kopf, wobei er gerade noch die hohe Welle herankommen sah. Nach einem Satz zur Mitte tauchte er die Ruder ein und drehte das Boot, so daß der Bug zum heranbrausenden Wasserberg ausgerichtet war. Sie wurden mit dem Wellenkamm hochgeworfen und sanken tief ins nachfolgende Tal, aber Hiero hatte im letzten Augenblick das Boot noch herumreißen können, so das kaum ein Wassertropfen hereinspritzte. Die zweite und dritte Welle waren schon beträchtlich schwächer und vermochten ihnen nichts mehr anzuhaben. Erst jetzt legte Hiero die Riemen wieder aus der Hand und gab den Katzen das Zeichen zum Aufstehen, damit sie sich besehen könnten, was sie vollbracht hatten. Wo die Schiffe der Unreinen zusammengestoßen waren, lag nun eine große Öllache auf dem Wasser, die sich schnell in den sanften Wellen des Südwinds ausbreitete. Hie und da trieben Holzteile und andere kleine Trümmer. Von Überlebenden fehlte jede Spur. Die grausigen Schiffe, die die Südküste der Inlandsee so lange unsicher gemacht hatten, waren nicht mehr. Mit ihnen untergegangen waren die Kommandeure der Dunklen Bruderschaft
und die Besatzung, die 234 aus schaurigen Mutanten und dem menschlichen Abschaum, der sich den Unreinen verschrieben hatte, bestand. Im Bug von Hieros kleinem Boot saß eine lächelnde Mrien mit einem Lederbeutel im Schoß. Sie hatte die pelzigen Ohren gespitzt und strahlte übers ganze Gesicht, daß die spitzen Zähne nur so blitzten. Der Wind des Todes hatte die Feinde ihrer Rasse vernichtend geschlagen, wie sie und ihre Leute es sich nie hätten träumen lassen. Von dieser Heldentat würden noch ihre Urenkel am Lagerfeuer singen! Ein triumphales Schnurren kam aus ihrem lippenlosen Mund, ein ungestümes Jubelgeschrei, als die Freiesten der Freien den Tod ihrer einstigen Herren feierten. Hiero lächelte, als er die geschwellten Halsmuskeln und die funkelnden Augen sah. Er hätte am liebsten in das Jauchzen eingestimmt, hätten seine Stimmbänder solche Laute hergegeben. Freilich hatte er nicht vergessen, seinem Schöpfer auf seine stillere, doch keinesfalls weniger herzliche Art zu danken. Daß sie großes Glück gehabt hatten, darüber machte er sich nichts vor. Denn Glück hatten sie großes gehabt! Zeitpunkt, Waffe und Wind waren exakt aufeinander abgestimmt gewesen. Mit so etwas konnte man nicht immer nicht noch einmal rechnen. Und es war noch viel zu tun. Dies war immerhin nur das erste Scharmützel eines gewaltigen Krieges, der sich weit in die Zukunft und über Abertausend Meilen erstrecken würde. Widerwillig rüttelte er die Katzen aus ihrem Freudentaumel und brachte sie in die Wirklichkeit zurück. Freunde, mahnte er, der Krieg ist nicht vorüber. Es gibt noch viel zu tun, und als erstes müssen wir zu meinen Kameraden vorstoßen. Deswegen bin ich den ganzen langen, beschwerlichen Weg aus dem Süden gegangen. Er deutete mit dem sonnengebräunten Arm zur Flotte aus Metz, die ob der unverhofften Wende im Verlauf der Schlacht einigermaßen durcheinandergeraten war. Bleibt ruhig! Ich rudere uns raus zu ihnen. Und betet zu euren Windgöttern, daß meine eigenen Leute ihre Donnerwaffen nicht auf uns losfeuern, bevor ich ihnen sagen kann, wer wir sind! 235 Eigentlich wär's recht einfach. Die Kriegsschiffe aus Metz fuhren langsam wieder ostwärts, und ein aufmerksamer Beobachtungsposten entdeckte das kleine Boot, das zu ihnen ruderte, recht bald. Das Schiff an der Spitze verlangsamte die Fahrt, als Hiero und seine Gefährten sich ihm näherten, wobei der Rauch aus seinem Doppelschornstein versiegte. Aus dem Ruderhaus kamen ein paar Leute und sahen zu ihnen herab. Hiero, dem nicht entging, daß ein paar der runden Mündungen am abgeschrägten Rumpf ebenfalls auf sie gerichtet waren, legte die Riemen ein und stand mit erhobenen Händen auf. Sodann bekreuzigte er sich langsam mit der Rechten an Stirn und Brust, so daß alle diese Handlung deutlich verfolgen konnten. Es herrschte eine Weile Stille, als er, in seinem Fischerboot stehend, näher trieb. Dann schallte eine donnernde Stimme herüber. »Schaut, schaut, was für ein Schwert! Was für ein dreckiges Gesicht! Was für ein saudummes Grinsen! Hab' ich nicht immer gesagt, er verdirbt nicht so schnell, der lausigste Priester von Metz, der allergrößte Taugenichts der ganzen Republik? Er lebt noch!« Hiero lachte erleichtert. »Was tust du auf diesem abgetakelten Koloß, du Riesentrottel? Dachte immer, dich läßt man gar nicht in die Nähe von Wasser. Hast in deinem ganzen Leben noch nicht gebadet, und zum Schwimmenlernen bist du zu blöd.« Der robuste Mann lächelte gutmütig zu ihm herab. Per Edard Maluin war einen Kopf größer als Hiero und doppelt so schwer. Er war bärenstark und hatte das pausbäckige Gesicht eines unschuldigen Kindes, natürlich in größerer Ausgabe. Er war Veteran des Grenzschutzes und notfalls ein grimmiger Krieger. Obendrein war er Hieros bester Freund; sie hatten sich in ihrer Jugend an der Abtei-Akademie ein Zimmer geteilt. »Was sind das für Gesellen, deine Freunde, Kurzer? Du hast vielleicht ein Glück! Hast du gesehn, was wir gerade versenkt haben? Dieses Schiff unter meinem Kommando, schau's dir an! Und die andern.« 236
Hiero nahm einen Riemen und ruderte an das Riesengefährt heran. Dann sah er mit ungläubiger Miene zu der kleinen Gruppe über sich auf. »Was ihr versenkt habt? Ihr würdet nun in Fetzen und Trümmern auf dem Grund des Meeres liegen, wenn ich und meine vier Kumpel nicht gewesen wären. Was, meinst du, hat den Unreinen den Verstand geraubt, so daß sie sich gegenseitig gerammt haben? Daß sie aus der Ferne dein häßliches Gesicht gesehn haben?« Per Edard kniff die Augen zusammen. Hinter seiner breiten Stirn, die sich nun nachdenklich in Falten legte, steckte ein reger Verstand. »Ihr wart das also? Hätt' ich mir denken können. Warst schon immer König der schäbigen Taschenspieler. Gott sei Dank, möcht' ich sagen. Aber jetzt an Bord, schnell! Wir haben eine Schlacht zu Ende zu führen und müssen dieses Rattennest ausrotten. Da wir neue Gedankenschilde haben, die vollkommen dicht sind, kann ich nicht mit deinen neuen Freunden reden Komm zu mir auf die Brücke hoch, damit wir wieder ans Werk können!« Die fünf Gefährten verließen ihr kleines Boot und kletterten durch eine schmale Einstiegluke in der Seite des abgeschrägten Rumpfes an Bord. Bald spähten sie durch schmale Schlitze zur rauchbedeckten Stadt, während Per Edard brüllend seine Befehle ausgab. Und bald ließ sie das Getöse der schweren Geschütze von unten und das Beben, das daraufhin durch den Schiffsrumpf lief, allesamt erschaudern. Zwischen den Kommandos für Steuermann, Kanonier, Signalgast und viele andere warf Per Edard seine Fragen ein und gab über die breiten Schultern knappe Erklärungen ab. Er trug die ledernen Kniehosen und das Hemd des Grenzschutzes, aber um die Stirn ein Lederband mit kleinen Visier daran. Über dem Visier war ein silbernes Zeichen eingeprägt, das Hiero noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Als er es genauer besah, erkannte er darin ein Segelschiff mit dem Bug nach vorn, als würde es auf den Betrachter zuhalten; den Hintergrund zur Bark bildete ein tauumwundener Anker. »Ach das? Tragen wir alle. Demero hat's, wie gewöhnlich, 237 in einem alten Buch entdeckt. Lauter Unsinn, aber den Männern gefällt's. Der Admiral ist Oberst Berain von der Beesee-Küste drüben. Seins ist Gold, mit Verlaub. Unteroffiziere und Mannschaften tragen's in Kupfer. Will versuchen, dir ein bleiernes zu besorgen. Wir sind jetzt 'ne richtige Flotte, Hiero!« So redete er drauflos, während die anderen beobachteten, wie die Granaten in der Stadt explodierten. Aus Neeyana wurde ihr Feuer in keiner Weise erwidert. »War verdammt schwer, das ganze Metall für die Geschütze aufzutreiben. Ist 'ne Bronzelegierung aus irgendeiner alten Stadtruine, schätz' ich. Nein, der Rumpf ist nicht aus Metall, nur Holz. Ist aber mit einem keramischen Material überzogen, dünnen Platten daraus. Gibt 'nen recht guten Schutz gegen das meiste, aber natürlich nicht gegen das verfluchte Stromzeug. Ich geb' ja zu, du warst unsre Rettung, Freund. Die Schiffe? Den Kurs halten, ihr kupfernen Dummköpfe! Meint ihr, das ist ein Kanu? Wie sollen die da unten zielen, wenn ihr den Kahn so rumschmeißt? Ach ja, die Schiffe. Nun, Demero hat aus dem Gebiet von Beesee Matrosen zu einem See nördlich von Namcush verlegen lassen. Der See ist recht groß, und das Dammvolk hat geholfen, 'nen Kanal zu graben. Arbeiten jetzt mit uns, mußt du wissen. Viel passiert, seitdem du dich im Süden rumtreibst.« Er versetzte Hiero einen freundschaftlichen Klaps auf den Kopf, der ihn ohnmächtig geschlagen hätte, wenn er getroffen hätte, und brüllte dann wieder die Leute an, die das große Doppelruder bedienten. Sodann wandte er sich wieder an Hiero. »Nichts von dem ganzen Zeug ist neu. Weiß Gott, wo sie das wieder ausgegraben haben. War recht komplett erhalten, das Ganze; brauchten nur Fragen zu stellen, zu denen sich bald Antworten fanden. Abteiarchive, schätz' ich. Haben uns alles gegeben. Wie die blöden Dinger zu bauen sind, wie die Maschinen zu bauen sind. Nennen sie >HochdruckDampfmaschinenFeldherrnhügels< errichten Männer und Ellks ein Gerüst aus drei langen Balken, an das sie eine Leiter stellten, um obenauf eine kleine Plattform zu befestigen. Das ganze Holz war vorgeschnitten und über den Sumpf herangeschafft worden. Bald bot sich Hiero und den beiden Obersten ein ganz neuer Ausblick auf das
Schlachtgeschehen, das sie durch ihre Fernrohre gespannt verfolgten. Sie konnten weit entlang des nördlichen Ufers und über den See der Tränen sehen und hatten das Gerüst gerade im rechten Moment erklettert, um einen weiteren Höhepunkt der Schlacht mitzuerleben. Die Truppen der Unreinen aus Menschen und anderen Kriegern strömten immer noch aus dem Wald. Mindestens tausend kleine und große, aber durchweg leichte Boote, die offenbar aus Tierhaut bestanden, hatten die Verfolgung der äbtlichen Nachhut aufgenommen. Die nur langsam vorankommenden Metz waren noch ein gutes Stück vom rettenden Südufer entfernt, obgleich schon viele nicht mehr weit zum Ziel hatten. Hiero fiel auf, daß diejenigen, die dicht 306 307 vorn waren, anscheinend die ganzen Verwundeten aufgeladen hatten, während die säumigen nur mit Kampffähigen besetzt waren. So weit, so gut, dachte er sich. Aber du meine Güte, wie viele kommen denn da noch aus dem Wald! Und immer noch mehr Boote! Die grausigen Riesenhunde schwammen in Rudeln ebenfalls hinaus. Auf den vorderen saßen Zottelheuler, die die anderen führten; die meisten Heuler fuhren jedoch in Booten. Auch der Strom der Menschenratten, der aus dem Waldrand ins Wasser glitt, hielt an. Hie und da tauchten die Otter auf, die sich an die Spitze des ganzen Zuges gesetzt hatten. Wann endlich käme das Signal? »Leg das an!« sagte Saclare. Er hielt den ledernen Harnisch der Ellkreiter, auf dem obenauf der bronzene Helm mit Visier lag. Der Oberst und alle anderen steckten schon in ihren Rüstungen. Hiero kämpfte sich geistesabwesend in den Küraß, die Arm- und Beinschienen und merkte nicht einmal, daß die beiden Obersten für ihn die Schnallen schlössen und auf seinem Helm der weiße Federbusch eines Generals prunkte. Sein Augenmerk galt nur dem See. Der Hauptteil des anscheinend endlosen Heers der Unreinen befand sich nun in Höhe der größeren Inseln, deren Bäume tief über dem Wasser hingen. Mit einemmal übertönte ein schmetternder Hornstoß das Geschrei und Gejohle der unreinen Horden. Äste fielen ins Wasser, ganze Bäume stürzten in den See. Aus ihrem versteckten Ankerplatz innerhalb der Inseln fuhr eine Flotte von Schiffen, angeführt von den äbtlichen Dampfern, heran. Schon stiegen die Rauchwolken auf, als ihre Geschütze das Feuer eröffneten. Justus Berain war kein Mensch, der sich drängeln ließ; er schlug erst zu, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen war. Die Geschützpforten an den Dampfern waren erweitert und tiefer angebracht worden, um größere Treffsicherheit und Beweglichkeit zu gewährleisten. Nun wurden die mächtigen Vorderlader nicht mit fester Munition bestückt, sondern mit einem Gemisch aus Keramikscherben, Steinen und Eisensplittern, das überhaus verheerend wirkte. Hinter den Dampfern folgte eine Flotte von schweren Ruderbarken, die zum Schutz der Bogenschützen und Ruderer mit hölzernen Sturmdächern und Schilden aus Weidengeflecht versehen waren. Salve um Salve, die nur auf Kommando abgeschossen wurden, prasselte zusätzlich zu dem Geschützfeuer auf den Feind nieder. Das Ganze blieb nicht lange so einseitig. Obschon ihm das böse Kartätschenfeuer der Dampfer und der niedergehende Pfeilhagel ordentlich zusetzten, griff der Feind an. Abermals ertönten seine silbernen Fanfaren aus dem Wald, woraufhin sich neue Scharen aus dem Wald in das Getümmel auf dem See stürzten. Hie und da erspähte Hiero in den schwärmenden Horden der Unreinen eine graugewandete Gestalt, die hektisch von einer Stelle zur anderen rannte. Unreine Adepten im offenen Kampf, das war etwas Neues; freilich lernten sie schnell hinzu und waren mit starken Truppen angerückt. Er riß den Blick von der tobenden Schlacht und sah von seinem Ausguck aus nach unten, wo sich ihm ein beruhigenderes Bild bot. Vom fernen Schlachtenlärm unberührt, standen dort knapp viertausend Reiter der äbtlichen Kavallerie neben ihren mächtigen Tieren bereit. Sie waren in vier durchbrochenen Reihen aufgestellt und hielten vor sich die schweren, in einer Linie aufgepflanzten Lanzen. Die Brüder Mantan, gleichmütig wie immer, warteten geduldig am Fuß der Leiter; an ihrer Seite standen die Kinder des Winds. Neben den beiden Tieren,
die für die Jäger herangeschafft worden waren, trat Klootz von einem Bein aufs andere. »Dauert nicht mehr lange«, sagte er zu den beiden Obersten. »Sieht gut aus von hier. Flußabwärts am andern See sieht's vielleicht anders aus. Dort haben wir nur einen Dampfer, den neuesten. Dafür haben wir andere Überraschungen parat. Wir werden's bald wissen.« Während Hiero sprach, verfolgten sie das Geschehen auf dem See weiter. So weit das Auge reichte, wütete die 308 309 Schlacht. Unter dem Rauchschleier mischte sich das Geschrei der Menschen und Tiere mit dem Donner der Geschütze. »Großer Gott, ich glaube, sie drehen ab«, rief Saclare. »Sie haben genug. Hätte nicht geglaubt, daß der Strom aus dem Wald je ein Ende nimmt. Seht doch!« Nun konnten sie es alle sehen, und Hiero schickte ein herzliches Stoßgebet zum Himmel. Das fürchterliche Gemetzel hatte die unreinen Boote und Schwimmer zurückgetrieben. Die leichten Gefährte, die sie von so weit herbeigeschleppt hatten, konnten den scharfen Pfeilen und schweren Geschützen nicht standhalten. Die gepanzerten Schiffe kreuzten hin und her und richteten ringsum große Verheerung an; kleinere Boote vor ihrer Schnauze wurden einfach unter dem abgeschrägten Bug zermalmt. Wiederholt versuchte der Feind, aufzurücken und zu entern, wurde aber jedesmal unter schweren Verlusten zurückgeschlagen. Die Barken mit den Bogenschützen folgten im Schutz der fünf Großen und der Wachboote, die so langsam zum anderen Ufer geflohen waren, dann gewendet hatten und wieder zurückgekehrt waren. Viele andere legten vom Südufer ab, um sich dem Gefecht anzuschließen. Hie und da sprang ein Otter an Bord der kleineren Boote oder versuchten Zottelheuler das Entern. Auch Menschenratten probierten diese Taktik, aber die Schutzwände aus Weidengeflecht und Planken hielten die meisten zurück; die anderen waren rasch niedergestreckt. Die Ruderfertigkeit der Infanterie der Unreinen hielt sich in Grenzen, und die Höllenhunde wußten sich im Wasser gar nicht zu helfen. Die vielen Wracks der angreifenden Schiffe trieben als Inselchen im Meer der Leichen. Hinten im Wald bliesen die Fanfaren der Unreinen nun in langen, schrillen Tönen zum Rückzug. Schwimmend und rudernd floh der Feind zum Nordufer. Freilich hatte ein Teil schon das Hasenpanier ergriffen, als das Signal dazu noch gar nicht gegeben war. Entmutigt und geschlagen paddelten die dezimierten, aber zahlenmäßig noch starken Krieger um 310 ihr Leben. Keiner hatte auch nur einen Fuß aufs Südufer gesetzt. Die Kriegsschiffe der Republik nahmen die Verfolgung auf. Ihre Geschütze forderten unablässig Tribut. Mit Feuergarben bestrichen sie das ganze Ufer, und unzählige Pfeile schwirrten durch den Rauch. Ein Blick auf die Sonne über den dunklen Schwaden verriet Hiero, daß es Mittag war und kaum eine Stunde seit dem Wassern der Boote der Unreinen vergangen war. Er fragte sich, wie die Schlacht im Osten verlaufen würde. Die Unreinen verfügten trotz allem noch über gewaltige Truppen und würden verbissen kämpfen, um sich den Landgang auf der anderen Seeseite zu erzwingen. Ob seine Einschätzung der kommenden Entwicklung korrekt war? »Auf den Posten, meine Herrn!« sagte er leise. »Der Ausguck muß sofort niedergerissen werden! Der Feind könnte ihn sehn, wenn er jetzt käme.« Flugs kletterten sie die lange Leiter hinab. In Sekundenschnelle war das Gerüst zerlegt, während die Stabsoffiziere langsam die Reihen abritten. Oberst Saclare begab sich an den rechten Flügel, Hiero übernahm die Mitte und Oberst Lejus die linke Flanke. Man konnte hören, daß das Geschützfeuer vom See nun nachließ. Dafür gäbe es nur einen Grund, schloß Hiero: fehlende Ziele. Nun drang das Donnern nur mehr vereinzelt von den Rauchschwaden im Südosten herüber. Er wandte sich den Katzen zu, die neben seinem Sattel bereitstanden. Ich habe eine Aufgabe für euch, die nicht ungefährlich ist, übermittelte er ihnen. Wir müssen wissen, ob der Feind kommt und wie schnell. Chuirch, geh du links! Du, Zariech, bleibst rechts! Versucht, mit euren Gedanken zu mir durchzudringen, aber kommt zurück, wenn's nicht klappt! Laßt euch nicht sehen, wenn irgend möglich! Tötet nur, wenn es sonst euer Leben kosten würde!
Ich brauche Informationen, keine Leichen. Wollt ihr gehn? Mrien, du hältst dich in der Mitte, gehst aber nicht so weit wie die andern. Du kannst mir vielleicht ihre Gedanken übermitteln. 311 Ohne jede Antwort flitzten sie davon und setzten über Schilf und Tümpel hinweg, als wären sie nicht vorhanden. Husch, waren sie weg. »In trockenem Gelände hätt' ich euch als Späher geschickt«, erklärte Hiero den Brüdern Mantan. »Aber ich will , nicht, daß der Feind einen einzigen Ellk zu Gesicht bekommt. Außerdem sind die Katzen in diesem Sumpf viel wendiger.« Sie nickten düster und setzten sich bequem in ihren Sätteln zurecht. Das Warten fiel ihnen allen nicht leicht. Es wirkte nahezu deprimierend auf Hiero, der deshalb versuchte, sich auf die Zukunft zu konzentrieren, sich allerdings auf die unmittelbare Zukunft beschränkte. Er stand vor zwei Aufgaben, die sich vielleicht mit einem Schlag erledigen ließen. Zum einen die feindliche Flanke zerschlagen. So kommt doch und beißt euch die Zähne aus, Teufelspack! Zum andern Sduna finden und töten. Du bist irgendwo da draußen, du Dreckskerl, das weiß ich genau. Einen solch gewaltigen Haufen deiner verräterischen Menschenbande und deiner lausigen Lemuts kannst nur du zusammenhalten. Du hast alles aufgeboten, was du hast, und hättest es auf deiner Insel Manoun nicht ausgehalten. Nein, diesmal bist du dabei und verpestest die Sonne mit deinem grausamen Treiben! Hinter seinem Rücken war in den langen Reihen das aufgeregte Hin und Her bei Reiter und Roß nicht zu übersehen. Alle waren aufgesessen und warteten gespannt auf das Zeichen. Wo bleiben bloß die Katzen? Mriens Gedanken fuhren ihm wie ein Blitz durch den Kopf, als er gerade nach einem hungrigen Mückenschwarm schlug. Wir kehren um! Meine Männchen haben sie gefunden! Sie kommen von den Bäumen viele, viele. Habt acht! Hiero gab das vereinbarte Handzeichen, und das letzte Zurechtrutschen im Sattel pflanzte sich wie eine Welle von ihm durch die ganzen Reihen fort. Die Kinder des Winds eilten in gewohntem Tempo gemeinsam herbei. Hakenschlagend und geduckt wichen sie den Geschossen aus, die ihnen um die Ohren schwirrten. Getroffen wurden sie nicht. Der General trug keine Lanze. Sein weißer Helmbusch aus Reiherfedern nickte eifrig, als er sein langes Schwert aus der Scheide an Klootz' Sattel zog. Die beiden Mantans, mit Streitäxten bewaffnet, rückten links und rechts von ihm auf. Nun kam die aus Lemuts und Menschen bestehende feindliche Front in Sicht. Hiero hob das Schwert in seiner behandschuhten Rechten und ließ es mit einemmal niedersausen, woraufhin sie zur Attacke ritten. Komm, Dicker, übermittelte er. Jetzt geht's um die Wurst! Neben den drei führenden Ellks preschten die Läufe der Katzen über die Segge. Hiero umklammerte das Heft im Korb seines Kavalleriesäbels, den er wie eine Lanze nach vorne richtete. Während Klootz größeres Tempo zulegte, wurde auch das Gespritze und Getrampel der angreifenden Reihen dahinter immer lauter. Hiero spähte rasch zu den Seiten. Gut! Man hielt sich an seinen Befehl! Der linke Flügel, die nördliche Linie der Ellkreiter, schwenkte langsam an ihm vorüber, ohne eine Lücke in die Reihen zu reißen. Der rechte Flügel hielt sich zurück, so daß ihre Front sich allmählich zu einem Bogen krümmte. Die linke Flanke würde zuerst zuschlagen, um die gegnerische Front dann aufzurollen und vom Rand des Sumpfes abzuschneiden und ins offene Gelände weg von jeder Deckung zu treiben. Nun blieb keine Zeit mehr zum Denken, und Hiero konzentrierte sich auf das, was vor ihnen lag. Die Tage und Wochen des Planens waren vorüber; nun war er nur noch eine Kampfmaschine. In seinem Schlachtfieber setzte Klootz zu einem donnernden Röhren an, und seine Artgenossen dahinter taten es ihm gleich, so daß sich das Gebrüll wie eine Woge durch alle Linien fortpflanzte. Die Unreinen hielten inne und liefen wirr umher. Es konnte der Sumpf den Menschenratten und übriggebliebenen Pesthunden nichts anhaben; sie kamen unbehindert vom Fleck. Nicht so die Männer. Mochten sie auf festem Boden auch disziplinierte und grimmige Kämpfer sein, so kamen sie auf der schwankenden Segge und in den schlüpfrigen
Tümpeln und Schlammlöchern doch ordentlich ins Stolpern und Rutschen. Viele der Zottelheuler waren nun zu Fuß; ihnen sagte der Matsch genauso wenig zu wie ihren menschlichen Waffenbrüdern. Als die Linie der mächtigen Schaufelgeweihe und blitzenden Lanzen und Rüstungen vor ihnen auftauchte, wandten sich viele zur Flucht. Andere, die von härterem Schlag waren oder bessere Offiziere hatten, versuchten, Reihen oder wenigstens eine Schildwand zu bilden. Das Ergebnis war Chaos! Anordnung, Gegenanordnung Unordnung! Von weit links bis weit rechts warf sich die schreckliche Kavallerie auf sie! Hiero spaltete einem ersten Zottelheuler den Schädel. Während Klootz vorandrängte, holte er zum neuen Schlag aus. Jede Lanze schien einen Feind aufzuspießen, ob von vorne oder hinten. Sogleich wurde der hochgehaltene Stiel zurückgezogen und wieder eingelegt, um erneut zuzustoßen. Es spielte keine Rolle, ob die gegnerischen Kämpfer flohen oder die Stellung hielten. Wenn die Reiter sie verfehlten, so vollbrachten die mächtigen Rosse das Werk mit ihren hackenden, stoßenden Hufen, mit denen sie die Leiber zertrampelten, ihren kräftigen Gebissen, mit denen sie sie erfaßten, um sie zu schütteln und zu zerreißen, woraufhin sie leblos zu Boden fielen. Ein Riesenhund schnappte mit aufgesperrten Fängen nach Hieros Zügelhand. Unwillkürlich ließ er die Zügel fallen und hob den unzerbrechlichen Schild, Gabe seines wunderlichsten Freundes, um das Ungetüm wegzustoßen. Die langstielige Streitaxt von Reyn Mantan fuhr an ihm vorbei, und schon sank das Tier mit klaffendem Schädel zusammen. Die Wucht des Angriffs ließ nach dem ersten Zusammenprall nur wenig nach. Die Reiter ließen nicht mehr vom Feind ab, so daß er sich nicht mehr formieren oder im Gelände verschanzen konnte, während sie allmählich nach rechts schwenkten, bis vor ihnen schon der finstre Wald aufragte. Es kam nun zu schwersten Gefechten, denn der Feind versuchte verzweifelt, sich zu den schützenden Bäumen durchzuschlagen. Armbrustschützen und Speerwerfer der Unreinen, teils Menschen, teils Tier, ließen vom Waldrand ihre Geschosse niederprasseln, was das Zeug hielt, um die Berittenen abzudrängen. Ihre Bolzen und Lanzen fegten gar manchen Reiter aus dem Sattel, aber die riesigen Ellks waren selbst reiterlos nicht scheu. Mit leerem Sattel kämpften sie weiter und hielten die Linien dicht, wie ihnen beigebracht worden war. Wenn eins der wackeren Tiere fiel, schlössen andere, ob mit Reiter oder nicht, die Lücken und führten den Angriff fort. Die äußerste linke Flanke mußte die schwersten Verluste hinnehmen, aber rückte rasch nach und trieb die kreischenden Lemuts und ihre versprengten Herren hinaus weg vom bergenden Wald. Hiero war bis jetzt unversehrt, aber seine Rechte erlahmte allmählich vor Anstrengung. Das geliebte Tier, das ihn trug, blutete aus unzähligen kleinen Wunden, denen es aber keine Beachtung schenkte. Klootz' Augen waren rot vom Blutrausch, und seine Raserei ließ ihn keinerlei Schmerz spüren. Reyn Mantan und Mrien mit ihrem langen, blutigen Dolch schützten Hieros linke Seite, während die beiden Kater und Geor Mantan die rechte deckten. Die Mantans hatten irgendeinem Gegner leichte, ovale Langschilde aus vielschichtiger Borke entrissen, womit sie geschickt die Geschosse abfingen, die ihrem General gefährlich werden könnten. Hiero bemerkte das nicht einmal, denn er war nur darauf versessen, alles kaltblütig niederzuhauen, was sich ihm entgegenstellte. Er stach und stieß, hieb und hackte wie ein Besessener auf den Gegner ein. Endlich hatte er den Feind vor sich in Reichweite! Endlich konnte er Rache üben für die Unbill der letzten Monate, die gewaltsame Trennung von seinem Eheweib, den Verrat und die Pein! Tod über sie! Bringt sie um, die Niederträchtigen, auf daß sie für immer vom Angesicht der Erde verbannt seien! 314 315 Es bedurfte eines kräftigen Rucks am Zügel, um seinen Renner zu parieren, und einer kräftigen Stimme, den Wahnsinn der Schlacht zu durchdringen. Sein erhobenes Schwert sank nieder, und schließlich gewahrte er den Freund, der ihn anbrüllen mußte, um ihn aus seiner Raserei zu reißen. Keuchend bemerkte er erst jetzt, daß Klootz, der vor Erregung noch am ganzen Leib bebte, stehengeblieben war. Hiero rang seine Tollheit nieder und hielt
inne, obwohl es schier weh tat, jetzt Ruhe zu geben. »Aufhören, General! Sieh, wir haben sie geschlagen. Ein Viertel ist in den Wald entkommen, mehr nicht. Sieh doch, was passiert!« Hiero mußte sich schier zwingen, den Kopf zu drehen. Es war Oberst Lejus, der ihn aufgehalten hatte. Mit ungläubigen Augen blickte Hiero, wohin der andere deutete. Die Unreinen, die auf dem See der Tränen eine empfindliche Niederlage erlitten hatten und in den Schutz des Waldes geflohen waren, hatten sich wieder gesammelt. Sie stellten nach wie vor ein mächtiges Heer dar, das ihre Führer in das anscheinend leere Sumpfland zu ihrer Rechten lenkten. Hier sollte es die Verteidigungslinien der Republik umgehen und den langen Arm des Sees umrunden, um dem verhaßten Feind in den Rücken zu fallen. Freilich war es etwas anders gekommen. Der weise, alte Generalabt und Hiero selbst hatten die Unreinen durch ihre Manöver nahezu verleitet, eine solche Taktik ins Auge zu fassen, und hatten mit der vielleicht einzigen Kavallerie in der ganzen Weltgeschichte, die in weichem Boden besser als auf festem kämpfen konnte, bereitgestanden! Das Ergebnis lag nun vor Hieros Augen und war für ihn kaum faßbar, obgleich es nicht zuletzt seiner Mitwirkung zu verdanken war. Von ihren Sammelplätzen im Wald abgeschnitten und durch die Lanzen der Ellkreiter auseinandergesprengt, wurde der klägliche Rest der Unreinen, die in den Sumpf vorgestoßen waren, in erbittertem Kampf zum Seeufer abgedrängt. Unnachgiebig wurde die stolpernde, taumelnde, kreischende Menge zum Wasser getrieben. Die Linie der Ellks wies keine Lücken auf. Die Äbtlichen hatten vielleicht ein Achtel ihrer Berittenen verloren, aber die Verbleibenden waren mehr als genug. Eine dünne Linie deckte ihren Rücken, sollten neue Ströme aus dem nun stillen Wald im Osten brechen. Draußen auf dem Wasser erwartete sie endgültig das Verderben. Still und wachsam lauerten dort die fünf Dampfer. In Verlängerung ihrer Linie lagen, vom Ufer aus außer Sicht, die Barken mit den Bogenschützen. Die späte Nachmittagssonne schien auf ein Bild der Verheerung herab. Hörner ertönten, woraufhin die Kavallerie innehielt und zu dichteren Reihen aufrückte. Sie bildeten nun einen Halbmond; innerhalb der Sichel wurden die widrigen Krieger unaufhaltsam vorwärtsgetrieben, wo anstelle des unsicheren Standes im Sumpf bald der Boden vollends unter ihnen schwand. Mit zusammengekniffenen Augen verfolgte Hiero zufrieden das Schauspiel. »Keine Gnade!« lautete der Befehl. Was der Feind an ihrer Stelle getan hätte, das konnte sich jeder nur zu gut ausmalen. Immerhin durften sie schnell sterben. Seit langen Jahren wurde das Streben der normalen, wiederaufblühenden Menschheit, ein Leben in Frieden und Glück zu führen, von dieser Ausgeburt des Bösen vereitelt. Das war ihr Lohn! Sie hatten sich dem Bösen verschrieben; nun widerfuhr ihnen das, dem sie ihre Seele geweiht hatten. Hinweg mit ihnen vom Angesicht der goldenen Sonne. Für immer! Zum letzten Mal bliesen die Hörner der Äbtlichen zur Attacke. Mit eingelegten Lanzen holte die Sichel zum letzten Schlag aus. Es war ein blutiges Gemetzel. Die Unreinen wurden durchbohrt oder niedergetrampelt oder starben im Wasser, wenn sie sich dem Blutbad entziehen wollten; sollte einer unter den Schiffen hinwegzutauchen versuchen, würden ihn dahinter die kleineren wachsamen Boote, die eine zweite und dritte Reihe bildeten, erwarten. Keiner überlebte. Genau das war die Absicht. Hiero hatte sich abgewandt, als das unausweichliche En316 317 de nahte. Er blickte sich um unter den Berittenen, die ihnen den Rücken deckten und den dunklen Wald abschirmten. Schließlich steckte er den langen Säbel in die Scheide am Sattel. Seine beiden Obersten befanden sich an seiner Seite und sahen ihn auf eine Weise an, die ihn verlegen machte. Was schauen sie mich nur so an? Sie sind meine Ausbilder gewesen, die beiden! Neben seinem Steigbügel verband Mrien mit einem Stoffetzen den Unterarm von Zariech, während Chuirch damit beschäftigt war, den Dreck aus seinem Pelz zu putzen. Auch sie sahen in der gleichen Weise zu ihm auf. Die Brüder Mantan, offenbar unverletzt, saßen in ihrer gewohnt unerschütterlichen Art hinter ihm in ihren Sätteln, aber auch ihre Augen glänzten!
Ich kann nichts dafür, sagte er sich. Hab' ein bißchen mitgedacht, aber es war vor allem Abt Demero. Hab' vielleicht ein bißchen dazugeholfen. Aber es steht mir nicht zu, das viele Lob! Den Blick in die Ferne gerichtet, trat er in Zwiesprache mit seinem Schöpfer. Vater, bewahre den geringsten Deiner Diener vor der Sünde des Stolzes! Zumal, fügte er kleinlaut hinzu, 's mir nicht zusteht! Gott oder ein Stellvertreter sorgte für eine höchst willkommene Überraschung. Ein schmutzstarrender Ellkreiter galoppierte heran und überreichte Saclare eine Depesche. Der Oberst zögerte nicht lange, sondern riß sie auf. »Ha! Was von diesem Abschaum übrig ist, kämpft im Wald ums Leben. Sie werden zu unsren Linien zurückgehetzt zurückgehetzt, wohlgemerkt! Deine Pläne, General, klappen wie am Schnürchen. Gratuliere. Wer sonst würde Truppen bereitstellen, von denen niemand weiß, um loszuschlagen, sobald der Feind in die Flucht gejagt wäre? Weißt du, General, daß wir überall gewonnen haben?« Er konnte seine Gefühlswallung nicht länger beherrschen. »Truppen, von denen niemand weiß«, wiederholte Hiero leise. »Wir hatten hier die massivsten Angriffe, wie aber steht's mit dem unteren See und den östlichen Flüssen bis runter nach Namcush? Wie steht's damit, Oberst?« 318 »Ich hab' Depeschen«, antwortete ein junger Mann, einer von Saclares Kurieren. Hiero bemerkte, daß der Jüngling einen Arm in der Schlinge trug. Er war an der Front gewesen. »Raus mit der Sprache, junge.« Der Priester betrachtete mit Mißfallen das Leuchten in den Augen des Jünglings. Wie viele Tote mochte dieser Morgen gefordert haben? »Jeder Landungsversuch drunten wurde zurückgeschlagen. Unsre Schiffe und das Dammvolk hielten allen Vorstößen stand. Wir hatten dort ein großes Kriegsschiff. Das war genug. Den Rest erledigte das Dammvolk. Der Feind hatte nur einen leichten Flügel in diese Richtung geschickt.« »Also ist keine Landung geglückt. Eine gute Nachricht.« War Hiero auch sehr erschöpft, so harrte seiner doch noch die zweite Aufgabe. Die unreinen Gedankenschilde mußten eigentlich beseitigt und niedergerissen worden sein. Wo also war Sduna? Er besann sich wieder auf das, was der Jüngling gemeldet hatte. Das Dammvolk! Wie viele der jungen Männchen und Weibchen mochten wohl gefallen sein? Der untere See und die Oberläufe der dortigen Flüsse haben vielen das Leben gekostet. Welches Junge möchte nicht, daß Vater oder Mutter zum Nest zurückkämen? Hiero weinte innerlich. Schließlich schob er seine Trauer beiseite. Er hatte den vollen Gehalt der Meldung gar nicht erfaßt. »Truppen, von denen niemand weiß.« Schon gar nicht er selbst! Aber er konnte es sich denken. »Oberst, die Truppen aufstellen!« schmetterte er, daß seine Leute zusammenzuckten. Er mußte sich zur Ruhe zwingen. »Ein großes neues Verbündetenheer rückt von Norden an. Es soll mit allen Ehren empfangen werden. Das unreine Pack ist ins Wasser gejagt worden. Alle verfügbaren Truppen sollen sich zur Parade aufstellen, um unsre Freunde willkommen zu heißen.« Seltsam, die unreinen Gedankenschilde waren weg, vollkommen weg. Hiero war überzeugt, daß Sduna sich abschirmen würde. Aber nein, es war nichts dergleichen zu 319 entdecken. Zu wissen, daß Gorm im Anmarsch war, erfüllte ihn freilich mit großer Freude. Noch froher stimmte ihn allerdings die große Leere im Hintergrund! Die Äbtlichen senkten salutierend die großteils noch blutigen Lanzen, als drei Gestalten aus dem Wald liefen und auf Hiero zuhielten. Mrien kniete sich mit ausgestreckten Armen nieder, und ihre Kater taten es ihr gleich. Für Hiero hatten die Kinder des Windes so etwas noch nicht getan, was er ihnen natürlich nicht verübelte. Gorm war hinter den beiden Gestalten vor ihm nahezu unsichtbar. Die fülligen, geruhsamen Abgesandten des Bärenvolks an der Spitze erreichten die beeindruckende Größe des einstigen Riesenbären. Nur durch die höhere Stirn und dem längeren, eierförmigen Hinterkopf hätten sie sich davon unterschieden. Die plumpen Gesellen konnten schnell laufen, wie sich zeigte, als sie behende den Sumpf überquerten. Der Führer sein hoher Rang war unverkennbar richtete sich neben Klootz auf den Hinterläufen auf. Am Rande registrierte Hiero, daß sein Ellk nicht die geringste Furcht vor
dem Titanen an seiner Seite zeigte. Der glänzende Pelz verströmte einen scharfen Duft. Ich habe keinen Namen übermittelte der Riese und bisher auch keinen gebraucht. Die Menschen, die ihr Elfer-Brüder nennt, haben uns friedliebende Geschöpfe in den Krieg geführt. Was ist Friede? Daß man in Ruhe gelassen wird. Dennoch sind wir in die Schlacht gezogen und nicht umsonst, wie wir meinen. Sein Gefährte hatte sich kurzerhand in eine Suhle gelegt, in der er sich nun wohlig wälzte. Hiero vermied geflissentlich jeden Blick auf den Jüngsten des Trios. Die Äbtlichen salutierten nach wie vor mit gehobenen Lanzen. Ich vermute, fuhr der gemächliche Bär fort, indem er sich zu ihm beugte, diese Mentalitäten stehen so da, um uns zu ehren. Das ist nicht notwendig. Du bist derjenige, der unsren jungen Vetter mit in den Süden genommen hat. Wir stehn in deiner Schuld. Es fällt dein Feldzug mit der großen 320 Wanderung zusammen. Was wir in den gemeinsamen Kampf einbringen können, das geben wir gern. Zeig ihm unser Geschenk, Kleiner! Gorm trottete nach vorne. Er trug einen Sack aus irgendeinem Rindenmaterial auf dem Rücken. Diesen leerte er nun aus. Die zwei glänzenden Häupter, die zwei Glatzköpfe, die zwei grausigen Fratzen rollten übers feuchte Gras vor Klootz' Füße. Das eine Gesicht war Hiero unbekannt, das andre aber würde er nie vergessen. Offenbar mit roher Gewalt vom Rumpf gerissen, lag vor ihm der Kopf von Sduna mit qualvoll verzogenem Mund. Der Führer des Bärenvolkes fuhr fort. Wir dachten, solches Geschmeiß sollte man vom Angesicht der Erde tilgen. Das sind die Führer, die ihr gesucht habt. Ihre Zirkel sind zerschlagen. Wir glauben, das ist nicht zuletzt dein Verdienst, was unser Kleiner eifrig bejaht. Eines Tages mag er wahre Weisheit erlangen. Es liegt nur an ihm und an dir. Wieder neigte sich der riesige Schädel, um ihn zu beäugen. Du bist nach unsren Begriffen ein famoser Kerl. Doch nichts für ungut. Du wirst vielleicht der erste deines Volkes sein, der Erleuchtung findet. Als Hiero seine Fassung wiedererlangt hatte, entschwanden die beiden Riesen schon in den Wald. Er sah vor sich nieder. Gorm war noch da. Sie sagten, ich könne bleiben, ließ ihn der junge Bär wissen. Die Sache ist noch nicht ausgestanden. Wo, Hiero, ist Lucare? Hiero stand wie vom Donner gerührt. Die unerwartete Frage riß alle Barrieren nieder, die er so mühsam in seinem Denken errichtet hatte. Seine Gedanken schienen sich zu sammeln und schössen explosionsartig in einem gewaltigen Impuls hinaus. Lucare! Epilog Unter sich spürte Lucare, wie der ermattete Hüpfer stolperte und schließlich stehenblieb, unfähig, einen weiteren Schritt zu tun. Sie blieb eine Weile benommen sitzen, raffte sich dann auf und stieg ab. Ihre Beine zitterten vor Erschöpfung, so daß sie sich an die keuchende Brust ihres Tiers lehnen mußte, um nicht zusammenzubrechen. Sie bemerkte kaum, daß einer der drei Männer ihrer Garde eine stützende Hand bot. Sie wehrte ihn ab, riß sich zusammen und blickte sich im Gelände um. Drei Männer nur noch drei! Wie lange wär's schon her, daß der Graf mit den übrigen umgekehrt war, um ihr den Rücken zu decken? Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren. Wie lange wär's her, daß die weiten Wälder sie aufgenommen hatten, worin sie die Verfolger abzuschütteln hofften? Wozu überhaupt das Ganze? Was hätten sie mit all den Wochen der endlosen Flucht gewonnen? Sie konzentrierte sich wieder auf die Umgebung. Vor ihr kam der schmale Pfad, dem sie gefolgt waren, zu seinem Ende. Die Baumriesen wichen einer moosbedeckten Lichtung. Der Tag neigte sich; die Sonne stand schon tief im Westen. Freilich wirkte die Lichtung nach dem tiefen Schatten des Waldes strahlend hell. Immer wieder blickte sie sich um, denn dieser Platz kam ihr merkwürdig vertraut vor. Ihr war, als wäre sie in einem anderen, glücklicheren Leben schon einmal hiergewesen. Sie beobachtete, daß die müden Männer ein Nachtlager aus Moos bereiteten und Holz zum Feuermachen sammelten. Zu Abend würden sie essen, was ihnen von der erlegten Beute des Vortags übriggeblieben war. Ein Mann machte sich mit Flint und Stahl daran, die
aufgeschichteten Zweige zu entzünden. Darunter lagen die verkohlten Reste eines früheren Lagerfeuers. Abermals meldete sich diese Vertrautheit. 323 Während sie so neben ihrem Hüpfer stand, beschlich sie ein Gefühl des Argwohns. Der Wald war sonderbar still geworden. Selbst die munter plaudernden Vögel waren verstummt. Sie lauschten angestrengt und fühlten sich mit gespannten Sinnen voran ... Lucare! Gerade noch vernahm sie den Ruf am äußersten Rand ihres Bewußtseins, der die Antwort forderte, die in ihr aufwallte. Dann wär's vorüber. Die Nacht hatte sich längst übers Land gesenkt. Fackeln erhellten das Getriebe auf dem Kai, an dem das Kriegsschiff angelegt hatte. In der Kapitänskabine leuchtete eine Kerze zwei weißbärtigen Männern, die an einem Tischchen saßen. Sie blickten gespannt auf, als die Tür sich öffnete, um den jungen Mann einzulassen. »Man sagte mir, daß ich dich hier finde, Vater Abt«, begann Hiero. Dann hielt er inne; ein überraschtes Lächeln trat in sein Gesicht, als Bruder Aldo sich erhob und die Hand zum Gruß reichte. »Hab' gehört, daß du die Schlacht gewonnen hast«, sagte der Elfer. »Schade nur, daß ich ein bißchen zu spät kam und es nicht miterleben konnte. Hiero, du siehst aus, als könntest du eine Woche Schlaf gebrauchen!« »Später. Keine Zeit«, versetzte Hiero. Demero deutete auf einen dritten Stuhl. »Setz dich, mein Sohn! Aldo bringt Neuigkeiten aus dem Süden böse Neuigkeiten. Aber ich habe versprochen, dir die Wahrheit zu sagen. Die Stadt Dalwah ist verloren, das Heer vernichtend geschlagen. Lucare und der König sind geflohen man weiß nicht, wohin. Man weiß nicht einmal, ob sie leben ...« »Sie lebt«, versicherte Hiero. »Und ich weiß schon, wo ungefähr.« »Ist sie denn so nah, daß du mit ihr in Verbindung treten kannst?« fragte Aldo ungläubig. Hiero schüttelte langsam den Kopf. »Nein, sie ist viel zu weit weg. Dennoch konnte ich, das weiß ich, kurz mit ihr in Verbindung treten. Deswegen bin ich hier, Vater Abt ich möchte um Erlaubnis bitten, in den Süden ziehn zu dürfen, um sie zu suchen. Klootz, Gorm und die Katzen begleiten mich. Noch ein paar Freiwillige haben sich gefunden. Sie lassen gleichfalls um Erlaubnis bitten.« »Wie weit südlich willst du?« hatte Bruder Aldo gefragt, ehe der Abt seine Antwort geben konnte. »Wenn du deine Lucare gefunden hast worum ich bete -, bist du dann bereit, weiter vorzustoßen, wohin nur ein Mann von deinem Kaliber ungestraft gehen kann? Willst du in den tiefen Urwald südlich von Dalwah ziehn, wohin die verfluchte Hexe ihren Sohn Amibale, den Verräter und Waffenbruder der Unreinen, geschafft hat, um ihn dem Bösen zu verschreiben? Denn dort steckt, den spärlichen Beweisen zufolge, die wir gewonnen haben, die Wurzel des Übels, die Quelle der Unreinen, wie wir von der Bruderschaft meinen.« Hiero überlegte und besann sich darauf, daß Solitär gleichfalls von einem bösen Geist im tiefen Süden gewarnt hatte. Freilich stand seine Entscheidung fest. »Wenn ich die Erlaubnis habe ja.« »Gut.« Der Abt erhob sich, als wäre die Unterredung beendet. »Du bekommst die Erlaubnis aber erst, wenn ich sehe, daß du in deinem Bett eingepackt bist und den Schlaf nachzuholen gedenkst, den du brauchst.« »Hab' keine Zeit!« wandte Hiero ein. »Der Weg um die Inlandsee dauert recht lange selbst wenn wir nur Glück haben, was unwahrscheinlich ist. Wir sollten sofort aufbrechen.« Aldo begann zu kichern, und der Abt lächelte gütig, als er den Arm um Hieros Schulter legte. »Mein Sohn«, meinte er, »hast du wirklich geglaubt, ich wüßte nicht, was los ist, als du unermüdlich deine Vorbereitungen getroffen hast? Oder hältst du es für eine törichte Laune von mir, daß ich für dich dieses Schiff neu bevorraten lasse?« Er schnaubte mit gespielter Entrüstung. »Hiero, ein Schiff kann auch besseren Zwecken als der bloßen Zerstö324 325 rung dienen. Nun nenn mir schon die Namen deiner Freiwilligen, sollte ich einen übersehen haben. Dann stecken wir dich hier in einer Kabine ins Bett. Wenn du aufwachst, bist du und dein unverbesserliches Pack deiner Prinzessin schon ein gutes Stück näher.«
Die Prinzessin ruhte auf ihrem Lager aus Moos tief im Südosten, fand aber keinen Schlaf. Zu viele Dinge gingen ihr durch den Kopf. Hiero lebte und war wohlauf und frei! Alle Zweifel, die sie geplagt hatten, waren wie weggefegt, abgelöst von neuer Gewißheit, die ihr der flüchtige Kontakt zu ihm vermittelt hatte. Er würde zu ihr kommen. Und sie würde hier auf ihn warten. Sie ließ den Blick über die Lichtung wandern, die im Schein des fast vollen Mondes lag. Sie hatte ihn wiedererkannt, den Platz; hier hatten sie auf ihrem Weg in den Süden Rast gemacht, unmittelbar bevor sie auf die seltsamen Frauen gestoßen waren, die in diesen Baumriesen lebten. Sie horchte in die Stille des Waldes in dem Wissen, daß damals die gleiche Stille das Kommen von Vilahri und ihren Damen angekündigt hatte. Die Baumfrauen würden sich an sie erinnern und ihr und ihren Männern besonders den Männern! einen Himmel der Geborgenheit in ihren Baumnestern bieten. Lächelnd drehte sie sich auf die Seite und fiel endlich in Schlaf.