U 104 Bert Horsley Der unsichtbare Planet
1. Kapitel „Damit ist klar bewiesen, daß die schon 1956 erstmalig ausgesproc...
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U 104 Bert Horsley Der unsichtbare Planet
1. Kapitel „Damit ist klar bewiesen, daß die schon 1956 erstmalig ausgesprochene Theorie, der Pluto sei kein echter Planet, sondern nur ein aus seiner Bahn geratener Mond des Neptun, stimmt. Mr. Crimwell, der 1930 auf Grund verschiedener Bahnabweichungen innerhalb unseres Sonnensystems den Pluto entdeckte, hatte also nur teilweise recht. Wir können jetzt mit Gewißheit sagen, daß Pluto nicht der gesuchte Störenfried sein kann, dazu ist seine Masse viel zu gering.“ Professor Degler machte eine eindrucksvolle Pause und blickte über seine auf die Nasenspitze gerutschte Brille in fünf erwartungsvolle Gesichter. „Meine Herren! Ich behaupte, daß der neunte und vermutlich größte Planet unseres Systems noch nicht entdeckt ist!“ Die vier Herren vom Internationalen Astronautischen Institut machten, gemessen an ihrer Stellung und ihrem Ansehen, recht geistlose Gesichter. Der fünfte, Dr. Spindler vom Berliner Ob3
servatorium, schüttelte nur den Kopf. Er antwortete etwas gereizt: „Ihre Theorie in allen Ehren, Herr Kollege! Wir haben seit Monaten mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln nach dem ,Großen Unbekannten’ gesucht, und ein gutes Dutzend anderer Sternwarten mit uns. Was haben wir gefunden? – Nichts! Absolut nichts! Sie können nicht behaupten, daß unseren hochentwickelten Geräten ein so bedeutender und dabei relativ naher Himmelskörper entgehen könnte, wenn wir ihn optisch, akustisch und elektronisch an einer genau vorherberechneten Stelle suchen. Es kann also nur so sein, daß Pluto doch eine größere Masse besitzt, als Sie annehmen, und daß seine unwahrscheinlich langsame Rotation – das Hauptargument Ihrer Mond-Theorie – auf eine fehlerhafte Auslegung der seit längerer Zeit beobachteten, wechselnden Lichteffekte beruht. Weiß Gott, worum es sich dabei handelt! – Übrigens, warum sind trotz unserer Erfolge in der Raumfahrt diese Fragen nicht schon längst an Ort und Stelle geklärt worden? Können Sie mir das erklären, Mr. Roberts?“ „Ja. Herr Dr. Spindler.“ Der massive, elegant gekleidete Amerikaner legte ruhig beide Hände mit den Flächen nach unten vor sich auf den Tisch. „Ja. das kann ich erklären. Die Raumfahrt ist noch sehr jung. Es sind noch keine dreißig Jahre vergangen, seit unsere erste, noch recht primitive Rakete auf dem Mond zerschellte. Seitdem haben wir wohl einige -zig Millionen Raumkilometer hinter uns gebracht, aber die Errichtung von Stationen auf unseren Nachbarplaneten und die Untersuchung des gefährlichen Planetoidenringes haben all unsere Kräfte verlangt. Es gab ja – das wissen Sie so gut wie ich – noch Hunderte von Dingen zu lernen, von denen wir zu Beginn der Raumfahrt einfach keine Ahnung hatten. Wir haben gelernt. Eine Fahrt nach der Venus ist heute nicht gefährlicher als ein Flug mit dem Ultraclipper von Berlin 4
nach Frisco. Zur Erkundung der äußeren Regionen unseres Systems hatten wir einfach noch keine Zeit, meine Herren!“ „Sind schon Versuche in dieser Richtung unternommen worden?“ „Ein einziger bisher. Die ‚S 403’ sollte vor etwas über einem Jahr in Richtung auf Alpha Centauri vorstoßen und Messungen vornehmen. Wir haben von dem Schiff seitdem nichts mehr gehört. Die …“ Degler unterbrach ihn: „Davon wußten selbst wir noch nichts, Mr. Roberts! Aus welchem Cubus stammten die letzten aufgefangenen Zeichen?“ Er lehnte sich gespannt über den grünbespannten Tisch vor. Der Vorsitzende des IAI (Internationales Astronautisches Institut) überlegte einen Augenblick. „Aus BL 790 c, glaube ich.“ „Und wann war das genau?“ Roberts schüttelte erstaunt seinen mächtigen Schädel mit der dicken Haartolle, die meist kerzengerade über der Stirn stand. „Was hat das schon mit unserer Diskussion zu tun?“ „Vielleicht mehr, als Sie annehmen. Können Sie sich noch an das genaue Datum der letzten Standortmeldung erinnern?“ „Ja, es war der 4. September 2064.“ Degler machte sich eine Notiz und bedankte sich bei Roberts. Er wollte später noch auf seine Vermutung zurückkommen, wenn er sie genügend überprüft hatte. Dr. Spindler schüttelte wieder mißbilligend den Kopf. „Ich möchte, daß wir noch auf unserer heutigen Sitzung zu einem greifbaren Ergebnis kommen. Die Taktik des Vertagens steht mehr den Politikern zu. Zusammenfassend ist also zu sagen, daß Sie, verehrter Herr Professor, an die Existenz eines noch unbekannten Planeten glauben, auf dessen Gravitation die schon seit langem bekannten Abweichungen der drei äußersten Planeten der Sonne zurückzuführen sind. Der Astronomie ist 5
ein solcher Himmelskörper nicht bekannt. Ich lehne diese Theorie ab und bin der Ansicht, daß die Störungen durch die Masse des Pluto hervorgerufen werden. Genaue Messungen sind von hier aus nicht möglich. Unsere beiden Observatorien auf dem Mond und dem Mars sind noch ungenügend ausgerüstet. Demnach bleibt uns eine ganz einfache Möglichkeit, die Irrtümer in der Deglerschen Theorie nachzuweisen: Wir fliegen mal hin!“ Für die anderen kam dieser Vorschlag nicht so überraschend, wie Spindler sich dies gedacht hatte. Er hatte keinen der Anwesenden damit überrumpelt. Roberts betrachtete lange die Fingernägel der vor ihm liegenden, etwas klobigen Hände. Das tat er immer, wenn er scharf überlegte. Dann bildete er auf. Diesmal waren alle Augen auf ihn gerichtet. „Okay“, sagte er ruhig. „In zwei Monaten können wir starten!“ 2. Kapitel Fred More lief aufgeregt in seinem für diese Übung viel zu kleinen Büro im Mt-Palomar-Observatorium auf und ab und konnte keine Ordnung in seine Gedanken bringen. Gerade kam er aus dem Kuppelsaal, wo er eine Routinebeobachtung eines interessanten Doppelsterns in einem weit entfernten System durchzuführen hatte. Vor seinen Augen war dieser Stern, der immerhin von achter Größenordnung war, verschwunden – einfach verschwunden! Fred versuchte sich klarzumachen, daß es so etwas nicht gibt. Aber die Optik wies keinen Fehler auf, die Einstellung war richtig, und zu allem Überfluß tauchte das Gestirn etwa vier Minuten später wieder langsam auf und stand da an seiner gewohnten Stelle, als ob nichts gewesen wäre. Wenn er das seinem Chef erzählte, schmiß ihn der raus. Um so mehr, als er in seiner Verblüffung unterlassen hatte, den Vorgang zu filmen, was eigentlich seine Pflicht gewesen wäre. 6
Um ganz sicher zu gehen, trug er unter seinen Aufzeichnungen den Satz nach: „PS: Das beobachtete Objekt ließ für die Dauer von etwa vier Minuten in seiner Strahlung etwas nach. Vielleicht hervorgerufen durch eine durchziehende atmosphärische Störung.“ Fred wußte genau, daß es in dieser selten klaren Nacht Störungen von solchen Ausmaßen einfach nicht geben konnte. Aber sicher ist sicher. Aber jetzt in seinem Bürokäfig ließ ihm seine Beobachtung keine Ruhe mehr. Hatte er sich etwa doch geirrt? – Nein, ganz klar war der Stern verschwunden. Ein vorbeifliegendes Flugzeug vielleicht? – Das erklärte nicht die lange Unterbrechung, so langsam flog keine Maschine. Sternschnuppe? Meteor? – Diese leuchten selbst. Außerdem hätte sie das Ultra-Radargerät darin angezeigt. Was konnte es also sein? Von den Planeten stand keiner im Feld BL, auch nicht die Asteroiden. Verdammt noch mal! Fred rauchte eine Zigarette nach der anderen und dachte nicht ans Nachhausegehen. Es gibt doch für alle Dinge eine Erklärung. Eine Doppelsonne von dieser Größe kann doch nicht minutenlang spurlos verschwinden und dann einfach wieder da sein, als sei nichts geschehen! Herrgott, bin ich denn am Verrücktwerden? fragte er sich. Im Kopf fängt es ja meist an. Als der Morgen langsam heraufgekrochen kam, waren alle drei Aschenbecher bis an den Rand gefüllt. Und Fred war fast bereit, an Halluzinationen zu glauben. Dann kam die Morgenzeitung mit einem Bericht der gestrigen Sitzung in Frankfurt. Er enthielt nichts von Plänen oder Verlautbarungen über die verlorene Schiffsbesatzung, sondern lediglich eine trockene Gegenüberstellung der beiden Thesen Degler und Spindler. Fred wollte sie schon beiseite legen, da fiel sein Auge auf eine Äußerung Deglers: „… daß der neunte und vermutlich größte Planet unseres Systems noch nicht entdeckt ist!“ 7
Er las den Satz immer wieder und klammerte sich daran, unbewußt zwar, aber irgendwie schien die Äußerung ihn anzugehen. Plötzlich schoß es ihm wie ein greller Strahl durch den Kopf – Himmel, wenn das möglich war? Sollte etwa …? Er meldete ein Ferngespräch nach Frankfurt an, sprach in kurzen, atemlosen Sätzen mit Professor Degler und befand sich schon zwei Stunden später in einem der schnellen Ultraclipper, der mit vierfacher Schallgeschwindigkeit durch die Stratosphäre schoß. Nachmittags um fünf Uhr saß er einem sehr nachdenklichen Degler gegenüber, der den jungen Astronomen, der seine Aufregung kaum meistern konnte, in ein sachliches Kreuzverhör nahm. Dennoch knisterte es förmlich vor Spannung, denn auch der nüchterne Wissenschaftler konnte sich nur mit Mühe in der Gewalt behalten. „Und in welchem Cubus stand das Gestirn, das Sie beobachteten?“ fragte er, nachdem Fred More zum sechstenmal genau über seine verrückte Beobachtung berichtet hatte. „Ich legte das in meinem Bericht genau fest. Es war RM 20 584 c, Herr Professor!“ Wortlos setzte sich der Deutsche an eine kleine Elektronenrechenmaschine und begann zu arbeiten. Er setzte verschiedene Bahnenwerte ein, die letzte bekannte Position des verschwundenen Schiffes, die Komponenten der vom ihm schon früher genau berechneten Abweichungen der äußeren Planeten, ihre Masse und schließlich noch die Konstanten für Lichtgeschwindigkeit und Raumkrümmung. Dann begann die Maschine zu summen und zu klicken. Verschiedene Relais liefen an und rasteten wieder ein. Endlich, nach etwa zehn Minuten atemloser Spannung – die bei Fred noch dadurch erhöht wurde, daß er den Sinn der Berechnung noch nicht einmal ganz erriet – spuckte der Apparat eine lange Formel aus. Professor Degler griff hastig danach und studierte das Papier minutenlang, verglich es mit anderen Aufzeichnun8
gen, die er aus der Schublade seines altmodischen Schreibtisches holte. Dann atmete er hörbar auf und drehte sich mit triumphierenden Lächeln zu dem noch immer ziemlich fassungslosen Fred herum. „Ich gratuliere Ihnen von ganzem Herzen, Mr. More! Sie sind der erste Mensch, der ihn gesehen hat.“ „Wen gesehen?“ „Junger Freund, Sie haben den unsichtbaren Planeten gesehen!“ 3. Kapitel Sechs Wochen später. Fred More saß in einem Cafe in Rocket Plane und rührte in einer Tasse. Er sah etwas blaß und abgespannt aus, was kein Wunder war, da er in dieser kurzen Zeit einen äußerst anstrengenden Schnellkursus bei Professor Degler absolviert hatte, der ihn mit seiner Aufgabe vertraut machen sollte. Fred More wurde nämlich vom Mt-Palomar-Observatorium freigestellt, um die Fahrt zum Pluto mitzumachen. Offiziell handelte es sich um Oberflächenbeobachtungen auf diesem Planeten, von dem eigentlichen Auftrag wußten nur wenige Männer, noch nicht einmal die Schiffsbesatzung. Rocket Plane sieht aus wie eine Goldgräberstadt der alten Zeiten, nur in etwas modernerer Form. Sie ist noch jung, erst vor knapp zwanzig Jahren entstanden, und liegt mitten in der trostlosen Wüste von Nevada. Hier hat die IAI ihren Hauptsitz, von hier starten fast alle Schiffe, die unsere Erde in Richtung auf einen der Himmelskörper verlassen. Diese Stadt mit nur wenig mehr als 100 000 Einwohnern ist ständig im Wachsen begriffen und hat zweitweise mehr Bedeutung als irgendeine der alten Millionenstädte. Fred saß an einem Ecktisch, und blickte gedankenverloren hinaus auf die Hauptgeschäftsstraße, die um diese frühe Stunde 9
noch verhältnismäßig leer war. Er bemerkte nicht, daß sich ein hochgewachsener, blonder Mann in einem grauen Flanellanzug an seinen Tisch setzte und ihn amüsiert anlächelte. „Na, so in Gedanken, Fred?“ Er fuhr herum, dann lächelte er, als er Steve Berger, den Kapitän seines Schiffes erkannte. „Ach, Sie sind es! – Ich versuche gerade, zwischen zwei Lektionen beim alten Degler etwas Luft zu schnappen. Der hält mich schlimmer in Druck als ein Pauker seine Abiturienten kurz vor der Prüfung. Ich habe nie gedacht, daß ich so vieles noch nicht weiß.“ Kapitän Berger mußte lachen. „Ja, Raumfahrt ist doch noch anders als eine Segelfahrt auf der Ostsee. Man hat dabei eine Dimension mehr im Auge zu behalten, vielleicht auch zwei. Aber nun ist es bald geschafft. Ich suche Sie schon seit heute morgen, um Ihnen zu sagen, daß wir morgen früh um 9.30 Uhr starten. Der Kahn ist fertig, die Mannschaft zusammengestellt. Heute wird noch Treibstoff aufgefüllt, dann kann es losgehen. Ist ja ein Jammer, daß wir für Start und Landung immer noch die Düsen benutzen müssen, aber der Strahlungsantrieb wäre hier unten zu gefährlich.“ „Wer fliegt eigentlich noch mit?“ „Ein junger Italiener, Salarni heißt er, wenn ich nicht irre. Dann Lorenz Ackermann als Fachmann für Gravitation, unsere Physikerin Inge Waller und noch so ein verrückter Reporter aus New York, der schon damals den ersten Flug nach der Venus mitmachte und seitdem seine Nase in alle Dinge steckt, die ihm nach astronautischem Neuland aussehen.“ „Bill Bones etwa?“ „Ja, so heißt er wohl. – Außerdem nur noch wir beide und vier Mann Besatzung. Sagen Sie mal, Fred“, unterbrach er sich plötzlich, „ist das Studium dar Plutooberfläche wirklich unsere einzige Aufgabe?“ 10
„Natürlich“, log Fred, „wir sollen Messungen in der Nähe der Oberfläche vornehmen, genaue Werte über Masse und Rotation mitbringen und uns nebenbei noch nach etwaigen kleinen Monden umsehen. In etwa drei Monaten sollten wir wieder zurück sein.“ „Wenn alles gut geht, ja. Der Anflug wird etwas mehr als fünf Wochen dauern, weil wir über eine Woche schon durch die geringe Anfangsgeschwindigkeit verlieren. Draußen geht es mit dem Strahlungsantrieb wesentlich schneller. Ist Degler eigentlich noch hier?“ „Soviel ich weiß, sitzt er gerade bei Roberts. Er wollte gleich noch nach hier kommen, um mir ein paar – hoffentlich letzte – Unterlagen zum Durcharbeiten zu geben.“ „Na denn – wir sehen uns ja morgen früh. Seien Sie bitte pünktlich, wir müssen um 9 Uhr das Schiff dicht machen. Wiedersehen, Fred!“ „So long, Steve!“ Sie schüttelten sich die Hände, dann ging der Kapitän rasch und grüßte im Hinausgehen die hübsche Serviererin, die sich gerade nach seinen Wünschen erkundigen wollte. „Heute leider keine Zeit, Lucy!“ Berger war kaum draußen, da trat Professor Degler ein und setzte sich zu Fred. Auch er sah ziemlich mitgenommen aus. „Wie geht es Ihnen, junger Raumfahrer? Haben Sie wenigstens gut geschlafen?“ „Sie haben gut reden, Professor. Geschlafen? – Ich habe heute nacht Ihre letzten ‚Hausaufgaben’ gemacht, damit mein Magister nicht unzufrieden mit mir ist! Aber ich glaube doch, daß ich mit dem Problem fertig werde. Ich kann jetzt erst erkennen, welche enorme Vorarbeit Sie in den paar Wochen geleistet haben.“ „Ist halb so schlimm, das meiste haben die Rechenmaschinen für mich getan. Roberts und ich überlegten gerade, ob ich nicht 11
doch mitfahren soll. Es ist aber doch besser, wenn ich von hier aus beobachte und in Funkverbindung mit Ihnen bleibe. Wir haben zu wenig Beobachtungen, um die Bahn des Unbekannten ganz präzise festlegen zu. kommen. Es besteht durchaus noch die Möglichkeit, daß sich ebenso große Abweichungen ergeben wie zum Beispiel bei unserem Freund Pluto. Ist aber nicht wahrscheinlich, weil wir es mit einer wesentlich größeren Masse zu tun haben. Trotzdem – wir wissen nichts genau. Auch ich kann mir immer noch nicht bündig erklären, warum man von dem Kerl überhaupt nichts sieht. Vielleicht hat doch Spindler recht, und es gibt diesen sagenhaften Weltkörper gar nicht. Da sollen Sie uns eben Gewißheit verschaffen.“ Er blickte Fred sehr ernst an. „Sie wissen hoffentlich, wie gefährlich Ihre Aufgabe ist. Kein Mensch kann sagen, welche Überraschungen auf Sie warten. Vielleicht werden Sie auf eine hochkomprimierte, radioaktive Dunstwolke stoßen, deren Zusammensetzung wir nicht kennen, vielleicht auf einen festen Körper, der Strahlen jeder Art absolut absorbiert – vielleicht aber auch – passen Sie jetzt genau auf: Vielleicht werden Sie auf einen künstlich erstellten Minusschirm stoßen!“ Fred begriff nicht. „Wie meinen Sie das?“ „Ich will damit sagen, daß es nicht ausgeschlossen ist, daß irgend jemand, keiner weiß, wer, einen dichten Strahlungsschirm vor den Weltkörper gelegt hat, den Sie suchen sollen.“ „Aber das ist doch unmöglich, Professor! Wer sollte denn …“ „Man soll nie von vornherein sagen, daß etwas unmöglich ist! Ich habe in meinem Leben schon die unmöglichsten Dinge möglich werden sehen. Wie gesagt: etwas Genaues weiß ich nicht. Ich muß es Ihnen überlassen, Klarheit zu schaffen. Die Mannschaft ahnt noch nichts. Kapitän Berger hat in einem versiegelten Umschlag die Anweisung bekommen, nach Passieren der Plutobahn Ihre Anweisungen zu befolgen. Den Umschlag 12
darf er erst nach zwei Wochen öffnen. Von den übrigen Beteiligten hat keiner eine Ahnung, daß der Flug einen anderen Zweck hat als den angegebenen. Salarni hat tatsächlich den Auftrag, Messungen auf dem Pluto durchzuführen. Dadurch bekommen Sie Werte, die Sie für Ihre Berechnungen der wahrscheinlichen X-Bahn brauchen, und die ich Ihnen von hier aus nur annähernd geben kann. Inge weiß in groben Zügen, worum es geht. Sie wird den Mund halten. Ich mußte sie natürlich auf die möglichen Probleme vorbereiten, die sie als Physikerin zu lösen haben wird. Außerdem ahnte sie schon etwas, als sie die Liste der Instrumente sah, die ich ihr einpackte. Sie können ihr voll vertrauen. Wissen Sie übrigens, daß sie meine Nichte ist?“ „Nein, keine Ahnung. Ich habe die junge Dame ja noch nie gesehen.“ „Sie ist heute noch einmal nach Los Angeles geflogen, um einige Geräte zu holen, die ich da anfertigen ließ. Morgen vor dem Start werden Sie sie kennenlernen. – So, mein Junge, nun ruhen Sie sich etwas aus; ich möchte nicht daß Sie mit diesen blauen Ringen unter den Augen ins Schiff steigen! Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen. Ohne Ihre Beobachtungen und Ihren Glauben an meine Annahme würden wir nur sehr viel langsamer vorankommen. Ich habe Sie gern, und ich hoffe, daß Sie ohne Schaden wiederkommen werden.“ Fred wollte etwas sagen, aber der Gelehrte winkte energisch ab. „Schluß jetzt mit der Debatte! Sie müssen schlafen. Auf Wiedersehen!“ Fred beschloß, dem Rat des Deutschen zu folgen und sich hinzulegen. Er schlief auch sofort fest ein und wurde ärgerlich, als der Wecker rasselte. Die Leuchtziffern zeigten 5 Uhr morgens. Mit einem Sprung stand er vor dem Bett. Nach den fast 20 Stunden Schlaf fühlte er sich wieder wie neugeboren. Als er sich reckte, daß die Knochen knackten, hatte er das Gefühl, 13
Bäume ausreißen zu können. Dann fiel ihm ein, daß er ja jetzt Inge Waller kennenlernen würde. Diese angenehme Aussicht spornte ihn noch mehr an, und als er sich kurz vor sechs Uhr nach ausgiebigem Frühstück auf den Weg zu Professor Degler machte, pfiff er fröhlich vor sich hin. Im Augenblick machte ihm die Zukunft überhaupt keine Sorgen. Er genoß das wunderbare Gefühl, einmal wieder richtig ausgeschlafen zu haben. Der Professor öffnete ihm selbst und begrüßte ihn herzlicher, als er es sonst gewohnt war. „Nun sehen Sie aber schon wieder wesentlich besser aus, Fred. Sie konnten doch nicht mit Ihrem gestrigen Käsegesicht am Mond vorbeischaukeln! Kommen Sie rein, ich möchte Sie gleich mit meiner Nichte bekannt machen.“ Inge Waller kam ihnen aus dem Wohnzimmer entgegen. Im gleichen Augenblick freute sich Fred darüber, daß er nicht mehr so übernächtig aussah wie gestern. Mit einem raschen, ihm selbst unbewußten Griff rückte er seinen Schlips gerade. Fred beeilte sich, zu Inge ein paar verbindliche Worte zu sagen, die aber um einiges plumper ausfielen, als er es an sich selbst gewohnt war. Sie half ihm über seine Verlegenheit, indem sie ihn zu einer Tasse Kaffee ins Wohnzimmer bat. Dabei stellte Fred bewundernd fest, wie klar und logisch dieses Mädchen dachte und sich ausdrückte. Er freute sich insgeheim sehr auf die kommenden drei Monate, die er mit ihr zusammen verbringen durfte. 4. Kapitel Der Start verlief vollkommen normal. Eine ganze Stunde lang wurde Fred von der Fliehkraft auf seinen Liegesitz gepreßt, dann ließ der Druck nach. Noch arbeiteten aber die Düsen der Raketen am Heck, denn innerhalb des Luftmantels durfte nicht mit Strahlenmotoren geflogen werden. Als er in der Lage war, 14
sich zu erheben, trat er an eine der dicken Bleiglasluken und betrachtete die unter ihnen sich immer mehr krümmende Erde. Es war sein erster Raumflug, deshalb wollte er den Anblick der kleiner werdenden Erde nicht versäumen. Wohl eine Stunde blickte er hinab, bis nur noch eine dunstige Kugel mit grünen, braunen, weißen und blauen Flecken im All hing. Dann suchte er den Mannschaftsraum auf. Die Mitreisenden und das Personal hatte er kurz vor denn Start kennengelernt. Berger und seine vier Mann hatten noch alle Hände voll zu tun, aber die anderen vier saßen in bequemen Sesseln und ließen sich den ersten „Raumcocktail“ schmecken. Fred wurde mit Hallo begrüßt, Inge blieb sitzen und nickte ihm nur freundlich zu. Der Reporter stürzte gleich auf ihn zu. „Sagen Sie, Mr. More, wie ist Ihr erster Eindruck von …“ „Stop, stop, guter Freund“, wehrte der lachend ab. „Sie haben noch drei Monate Zeit für eine Reportage, da wollen Sie mich doch nicht gleich in den ersten paar klaren Minuten damit überfallen! Warten Sie nur Sie bekommen noch genug zu berichten!“ Er merkte gleich, daß er einen Fehler begangen hatte und Bill Bornes leicht überrascht aufhorchte. Er war jedoch klug genug, keine weiteren Fragen zu stellen. Bei sich dachte er: Du Halunke weißt also doch mehr, als du sagen willst. Warte nur, ich kriege es schon noch raus! „Gebt mir lieber was Anständiges zu trinken, damit ich wenigstens mit euch anstoßen kann!“ Inge reichte ihm einen Martini, vermied dabei jedoch seinen Blick. Dann setzte Fred sich in einen freien Sessel und zündete eine Zigarette an. Es durfte ja wieder geraucht werden. Nach einer halben Stunde kam Steve Berger aus dem Kontrollraum. „So, das Schwierigste ist vorbei. Wir sind gut abgekommen und halten genau Kurs. Wenn alles gut geht, sind wir in einer knappen Stunde aus der Ionosphäre heraus und können den Strahlungsantrieb anstellen. Wenn es soweit ist, müssen wir uns 15
allerdings noch einmal für eine gute Stunde auf unsere Sitze schnallen, denn wir vervierfachen unsere Beschleunigung noch einmal. Von da an wird es sehr ruhig werden, falls wir keinen Weltenbummler rammen. – Meine Herren Wissenschaftler, wollen Sie uns arme Laien nicht in der Zwischenzeit über die Zusammenhänge unserer Reise aufklären?“ Fred wandte sich an Luigi Salarni. „Signor Salarni ist der Erfahrenere. Übernehmen Sie doch bitte diesen populärwissenschaftlichen Kurzvortrag!“ Salarnd räusperte sich sehr eindrucksvoll. „Nun gut! Also: Wir haben festgestellt, daß sich der Planet Pluto in mancher Hinsicht anders benimmt als unsere übrigen Nachbarn. Erstens ist seine Bahn erstaunlich unregelmäßig und aus den Komponenten der verschiedensten Gravitationseinflüsse zusammengesetzt. Zweitens ist er zu weit von der Erde entfernt, um irgendwelche Angaben über die Art der Oberfläche machen zu können. Selbst eine gültige Spektral-Analyse ist uns noch nicht gelungen. Drittens gibt es eine Theorie, nach der die Rotation des Pluto um die eigene Achse mehr als viermal länger dauert als die der anderen Planeten. Ob diese Beobachtung richtig ist, müssen wir prüfen. Viertens gehen die Meinungen über die Masse des Planeten weit auseinander. Und schließlich fünftens sind manche Astronomen der Ansicht, daß dort seltene Erze in größeren Mengen zu finden sein müßten.“ Bill Bones notierte eifrig. Noch heute abend wollte er seiner Zeitung einen ersten Bericht zutelegrafieren. Fred war gespannt darauf, ob Salarni Genaueres wußte, das schien aber nicht der Fall zu sein, denn er fuhr fort: „Ich will diese fünf Punkte zu erklären versuchen: Also, wenn ein Planet nicht die übliche Ellipse beschreibt, dann ist das auf die Einflüsse verschiedener Gravitationsfelder zurückzuführen. In unserem Falle –“ Da stand Berger auf und bat alle, sich in ihren Kammern hin16
zulegen, die Beschleunigung würde sofort beginnen. Diese Anweisung wurde sofort befolgt, denn einmal wußte jeder, wie unangenehm es war, von dem fürchterlichen Andruck unvorbereitet angetroffen zu werden, und zweitens genoß Berger als Kapitän des Schiffes großen Respekt. Fred schnallte sich auf seinem Sitz fest. Obwohl seine Kammer nur sehr klein war, enthielt sie doch unter raffiniertester Raumausnützung ein gut eingerichtetes Kleinobservatorium. Durch eine Sprechanlage war es mit allen anderen Räumen verbunden. Er rief Inge an und bat sie, zu ihm herüberzukommen. Nach kurzem Zögern sagte sie zu, dann legte sich aber schon die ungeheure Beschleunigung wie eine eiserne Hand auf seinen ganzen Körper und preßte ihn gegen seinen Sessel, daß sein Gehirn für einen Augenblick zu funktionieren aufhörte. Nach ein paar Minuten wurde der Druck erträglich, und nach etwas über einer Stunde war es ihm, als ob ganz plötzlich unsichtbare Gewichte von ihm genommen würden. Das Schliff hatte seine normale Reisegeschwindigkeit erreicht und raste jetzt schwerelos durch den Raum. Fred More stand etwas unbeholfen auf, denn seine Magnetschuhe ersetzten natürlich nur einen kleinen Teil der gewohnten Schwerkraft. Als es an seiner Tür klopfte, machte er einen zu schnellen Schritt, stieß mit dem Kopf heftig gegen den Türrahmen und hing dann einen Augenblick hilflos zappelnd mitten im Raum. In dieser mehr als komischen Situation traf ihn Inge Waller an, als sie eintrat. Zum erstenmal seit dem Start lachte sie herzlich und reichte Fred die Hand, um ihn wieder auf „festen Grund“ zu ziehen, was auch ohne die geringste Kraftanstrengung möglich war. „Fräulein Waller, wir hatten noch keine Gelegenheit, über unsere Aufgabe zu sprechen. Deshalb hatte ich Sie gebeten, mich hier zu besuchen. Hier auf dieser Raumkarte“ – er zog eine Mappe aus der Schublade und kämpfte gegen die einzelnen 17
Blätter, die sich in alle Richtungen zu zerstreuen drohten – „haben wir die annähernde Bahn des Planeten X, den wir suchen sollen, eingezeichnet. Wenn wir seine Bahn kreuzen, müßte er sich fast genau hinter dem Pluto befinden, der dadurch um einen meßbaren Wert aus seiner Ellipse gezogen wird. Aber wie wollen wir ihn finden?“ „Darüber habe ich mir auch schon Gedanken gemacht. Wahrscheinlich bleibt uns nichts anderes übrig, als nach unseren Messungen auf dem Pluto einfach weiterzufliegen und uns nur nach ständigen Messungen des Einflusses von Planet X auf unser Schiff zu richten. Hat er tatsächlich die von meinem Onkel angenommene Masse, müßte er uns, sobald wir in seinen Bereich kommen, anziehen.“ „Das ist richtig. Besteht aber nicht die Gefahr, daß wir daraufstürzen, wenn wir unsere Geschwindigkeit nicht vermindern?“ „Nun, Berger ist ein erfahrener Kapitän. Wir müssen ihn rechtzeitig einweihen.“ Fred machte ein nachdenkliches Gesicht. „Wie ich ihn beurteile, wird er uns auslachen. Er wird uns die Existenz eines Himmelskörpers, den man nicht sehen und nicht messen kann, nicht glauben.“ „Sie haben doch schriftliche Vollmacht von Roberte, nach Passieren der Plutobahn der Besatzung Anweisungen über den weiteren Kurs zu erteilen“, gab Inge zu bedenken. „Das ist richtig, Fräulein Waller. Aber Berger hat immerhin die Verantwortung für das Schiff und seine Besatzung, außerdem stehen Salarni, Ackermann und Bones gegen uns. – Nun, ich werde eben versuchen müssen, mit meinen Anweisungen durchzudringen. Vielleicht gelingt es uns doch, schon bald den Unbekannten Planet mittels Schwerkraftmessungen orten zu können. Da müßte uns doch Ackermann helfen können. Meinen Sie, wir sollten ihn ins Vertrauen ziehen?“ 18
„Nein, auf jeden Fall noch nicht jetzt. Er könnte sonst Dummheiten machen. Die beiden anderen dürfen auch noch nichts erfahren, erst wenn es soweit ist. Ackermann macht von sich aus täglich genaue Messungen der Schwerkraftsverhältnisse im Raum, vermutlich wird er von selbst draufkommen, daß etwas nicht stimmt, wenn ihm auch die komplizierten Rechenmaschinen hier nicht zur Verfügung stehen.“ Sie blickte auf ihre Hände die sie im Schoß liegen hatte, und sagte dann etwas leiser: „Sagen Sie doch einfach Inge zu mir. Ich glaube, daß unsere Situation uns den Verzicht auf gewisse Formalitäten schon erlaubt.“ „Ich danke Ihnen, Inge. Wissen Sie, ich …“ „Was mir am meisten zu schaffen macht, ist die Frage, warum unser Zielplanet noch nie beobachtet wurde. Haben Sie eine Erklärung dafür, Fred?“ Er war noch ein wenig verwirrt, faßte sieh aber schnell. „Ehrlich gesagt: Nein. Ihr Onkel teilte mir einige verschiedene Theorien mit, von denen aber keine belegbar ist. Wir stehen einfach vor einem Rätsel, um dessen Lösung wir uns bemühen müssen. Wissen Sie als Physikerin denn keine plausible Erklärung?“ „So leicht findet man sogenannte plausible Lösungen nicht, außerdem stimmen sie dann oft nicht. Ich selbst habe keine brauchbare Erklärung, die ich nicht genauso beweiskräftig auch widerlegen könnte. Die einzige Antwort, für die mir ein wissenschaftliches Gegenargument fehlt, wage ich jetzt noch nicht auszusprechen. Im Augenblick ist es wirklich noch zu früh.“ Er sah sie nachdenklich an. Für einen Augenblick bedauerte er es, daß er sich nach den ungeschriebenen Gesetzen des Schiffes richten mußte und sie nicht einfach in die Arme nehmen durfte. Es schoß ihm durch den Kopf, daß er dabei außerdem noch eine sehr komische Figur abgeben würde, weil er noch nicht genügend an die veränderten Schwereverhältnisse gewöhnt war. 19
„Warum lächeln Sie so hintergründig, Fred? Habe ich etwas Dummes gesagt?“ fragte Inge. „Nein nein. Das ist es nicht! Mir fiel nur wieder ein, wie ich Ihnen eben entgegengesegelt kam und Sie mich regelrecht aus der Luft angelten.“ Beide hatten das Gefühl, daß sie einer gespannten und gefährlichen Situation entgangen waren, und lachte befreit auf. Die weitere Unterhaltung drehte sich um harmlose Dinge. Dann ging Inge wieder in ihre Kammer, um die heutige Ablesung ihrer Instrumente einzutragen. Mit der gleichen Arbeit waren auch Salarni und Ackermann beschäftigt, während Bill Bones mit wirren Haaren an seiner Schreibmaschine saß und ein Stimmungsbild von den ersten Stunden der Fahrt entwarf, das er seiner Redaktion heute noch zufunken wollte. Bis zum Abend bestand sicher noch direkte Funkverbindung, von da ab mußte die Mondstation die Vermittlung übernehmen. Seine Aufgabe war nicht einfach: einen echten „Knüller“- zu schreiben, obgleich eigentlich bisher noch nichts Außergewöhnliches geschehen war. Trotzdem hatte er das Gefühl, daß er noch auf dieser Fahrt den Bericht des Jahres schreiben würde. Das sagte ihm sein journalistischer Instinkt. Bill bemühte sich nicht weiter, dieses Gefühl zu analysieren, denn im Augenblick half es ihm nicht weiter. Also warf er seine Zigarette in den Aschenbecher und balancierte hinüber zu Fred More, um vielleicht von dem etwas zu erfahren. Als er eine halbe Stunde später wieder in seine Kajüte zurücksegelte, war er innerlich wütend darüber, daß er von More aber auch gar nichts erfahren hatte. Er mußte sich eine kurzgefaßte Wiederholung des Vortrags von Kollege Salaxni anhören und allgemeine Bemerkungen, die aber auch keinen Anhaltspunkt für einen „Knüller“ abgaben. Sein Chef würde schön toben, wenn er statt einer Sensation 20
ein Feuilleton schickte, wie es ein Dutzend anderer Zeitungen ebenfalls schon abgedruckt hatte, aber rausschmeißen konnte er ihn im Augenblick ja nicht, dazu war er weit genug von New York weg – 5. Kapitel Die ersten vier Wochen des Fluges verstrichen ohne besonderes Ereignis. Man sah sich kaum, obgleich die Besatzung von 10 Mann auf so engem Raum zusammenlebte. Jeder war mehr als genug mit seiner Arbeit beschäftigt. Als Steve Berger am 14. Tage des Fluges seine versiegelte Anweisung las und erfuhr, daß noch eine weiter Aufgabe mit dem Flug verbunden war, hatten Inge und Ferd ihn ins Vertrauen gezogen. Der Kapitän versprach, den anderen gegenüber noch nichts zu sagen, fand aber die Suche nach einem unsichtbaren Planeten absurd. Für ihn als erfahrenen Raumfahrer gab es so etwas nicht; er hatte genug mit den Gefahren zu tun, die sichtbar waren. Ackermann schien von Tag zu Tag unruhiger zu werden und ließ sich immer weniger sehen. Tag und Nacht saß er über seinen Messungen und rechnete, rechnete, rechnete. Dann, etwa zwölf Tage vor Erreichung des Pluto, kam er zu Fred. „Hören Sie, Mr. More, die Einrichtung unseres Bootes mag sonst in Ordnung sein, aber ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß meine Geräte durch irgendwelche Einflüsse ungenau werden. Seit etwa acht Tagen mache ich laufend Messungen, die um kleine Werte von den vorher berechneten Zahlen abweichen. Ich weiß nicht, ob die Instrumente ungenau sind, oder ob die Abweichungen irgendwelchen Einflüssen zuzuzuschreiben sind, die hier oben herrschen – verzeihen Sie den laienhaften Ausdruck ‚oben’ – und uns unbekannt sind. Wir müssen endlich einmal unsere Ergebnisse abstimmen. Es muß Ihnen doch auch etwas aufgefallen sein.“ 21
„Nehmen Sie bitte Platz, Herr Ackermann“, sagte Fred ruhig, „ich rechne schon seit einer Woche damit, daß Sie mit dieser Frage kommen werden. Ich wollte nur nicht vorher die Katze aus dem Sack lassen.“ „Welche Katze?“ „Wir sind auf der Suche nach einem noch unbekannten Planeten unseres bis in die äußersten Ecken scheinbar erforschten Sonnensystems. Professor Degler hat zuerst festgestellt, daß der Pluto allein nicht die allgemein bekannten Störungen der anderen Planetenbahnen hervorrufen kann. Der Witz ist nur der, daß wir bisher noch nicht die Spur von diesem Planeten, der übrigens eine ganz anständige Größe haben müßte, finden konnten! Es gibt, glaube ich, nur die eine Möglichkeit, uns mit Hilfe der von Ihnen soeben kritisiertem Fehler an ihn heranzupeilen. Was dann geschieht, weiß nur Gott.“ „Wissen Sie eigentlich, Mr. More, was Sie damit sagen? Daß wir seit Jahrzehnten in Schulen und Universitäten, bei Vorträgen und auch unter Fachleuten auf Theorien herumgeritten sind, die alle zusammen falsch waren? Einfach unvorstellbar! Sie glauben also tatsächlich daran, daß dieser Planet existiert?“ „Ja, daran glaube ich allerdings. Mehr noch: Ich habe ihn selbst gesehen! Das heißt, seinen Schatten, als er mir bei einer Beobachtung …“ More erzählte dem älteren Kollegen, den die Sache immer mehr fesselte, von seinen Beobachtungen und der darauf folgenden Arbeit mit Professor Degler. Ackermann hörte erst ein wenig zweifelnd, dann aber mit mehr Aufmerksamkeit zu. So absurd die dargelegte Theorie auch scheinen mochte, sie hatte Hand und Fuß und war belegbar, was ihm als Wissenschaftler besonders imponierte. „Wenn wir die Plutobahn passiert haben“, schloß Fred, „werden Sie es sein, der unseren Kurs bestimmen muß. Sie 22
müssen den Planeten, von dessen Existenz ich jetzt fest überzeugt bin, regelrecht anpeilen.“ Ackermann machte ein sehr nachdenkliches Gesicht, als ob er sich einer Einsicht gern verschließen wollte, an der er nicht mehr vorbeigehen konnte. Dann brummte er etwas mürrisch: „Hätten Sie mir auch eher sagen können, dann brauchte ich mir nicht umsonst den Kopf zu zerbrechen. Nun muß ich von ganz vorn wieder anfangen – aber Sie haben recht, ich hätte Ihnen nichts geglaubt. War schon besser so. Gut, Mr. More, ich werde mich also als ‚Steuermann’ betätigen und sehen, daß wir an den Unbekannten herankommen. Jetzt muß ich aber wieder an die Arbeit.“ Drei Wochen später. Für alle war die eigentliche Aufgabe des Fluges nun kein Geheimnis mehr, es schadete auch nichts, die Wahrheit zu sagen. Auf der Erde schlugen die Berichte Bill Bones’ natürlich wie eine Bombe ein und entfesselten heftige Diskussionen in Fachund Laienkreisen. Der „Große Unbekannte“ war bei allen Gesprächen das Hauptthema und löste in dieser Hinsicht die bisher vorherrschenden Themen, Wetter und Finanzamt, ab. 6. Kapitel Die Messungen auf dem Pluto waren planmäßig verlaufen und hatten die Theorie Deglers – soweit sich das bisher sagen ließ – in vollem Umfang bestätigt. Und dann raste das Schiff weiter, auf ein Ziel zu, das keiner kannte, keiner sehen konnte und an das bis vor einigen Tagen keiner geglaubt hatte. Ackermann sah aus wie ein Gespenst, denn er saß praktisch Tag und Nacht an seinen Geräten und Berechnungen. Er war es, der das Schiff jetzt lenkte, und er nahm seine Aufgabe mehr als ernst. Den erfahrenen Raumfliegern und selbst Kapitän Berger wurde die Sache von Tag zu Tag unangenehmer und unheimlicher. 23
Er saß gerade bei Fred und verglich seine Flugkurve mit den Berechnungen des Amerikaners, als es geschah. Plötzlich, ganz unerwartet, brach es über das Schiff und seine Besatzung herein, keiner war darauf vorbereitet, keiner hatte Zeit, auch nur darüber nachzudenken. Es kam wie eine Naturkatastrophe – und war auch eine. Das Schiff tauchte ohne vorherige Warnung und ohne jeden Übergang in ein vollkommenes Nichts. Man konnte nicht sagen, daß es dunkel oder hell wurde, warm oder kalt, oder daß die Menschen das Bewußtsein verloren – alles wäre unzutreffend gewesen, denn es war einfach nichts mehr da, absolut nichts. Es ging alles viel zu schnell, als daß Fred und der Kapitän davon hätten überrascht werden können. Sie behielten ihr Bewußtsein, konnten aber weder sehen noch hören, noch einen ihrer anderen Sinne gebrauchen. Denn auch sie selbst waren nur ein Nichts. Ihr Geist wurde davon nicht berührt – um so überwältigender war der Schock und die würgende Angst vor dem Unbekannten. Fred konnte auch nicht sagen, wie lange dieser fürchterliche Zustand dauerte, ob eine Minute, einen Monat, ein Jahr. Es gab hier ja auch keine „Zeit“. Wenn sie ihren Uhren Glauben schenken sollten, waren sie niemals durch die unheimliche Zone des Schweigens gekommen. Und dann wurde es auf einmal hell, taghell! Nach den vielen Wochen einer Fahrt durch ewige Nacht, wo es nichts gab als gleißende Helle oder undurchdringliche Finsternis, starrten ihre Augen durch die Quarzfenster auf einen Himmel, der zweifellos blau war. Bergers erster Gedanke war: Atmosphäre! Er hatte diesen Gedanken anscheinend laut geäußert, denn Fred schüttelte den Kopf: „Unmöglich, dann wären wir im Bruchteil einer Sekunde spurlos verdampft. Überlegen Sie unsere Geschwindigkeit!“ 24
Wie auf Kommando wollten beide aus dem Raum stürzen und hielten im gleichen Augenblick erschrocken inne. Ihre Füße waren wie von Blei. Eine Anziehungskraft, die das Mehrfache der Erdanziehung ausmachen mußte, machte ihnen jeden Schritt zu einer anstrengenden Arbeit. Sie schleppten sich zu Inges Kabine. „Ja“, meinte Inge, „da wären wir also!“ – Sie deutete mit einer Handbewegung auf das Quarzfenster vor ihr: „Darf ich vorstellen: Der Große Unbekannte! – Aber sehen Sie doch einmal hier hinaus!“ Der Himmel, der sich draußen spannte, war inzwischen heller geworden, ein Zeichen dafür, daß das Raumschiff schnell an Höhe verlor. Unten – so etwas gab es wieder – beherrschte ein Globus das ganze Bild, auf dem die Farben blaßgrün und dunkelblau vorherrschten, mit weißen Flecken dazwischen. Bei genauem Hinsehen stockte Fred noch einmal der Atem. Die weißen Flecken sahen genauso aus, wie auf der Erde Großstädte aus 10 000 m Höhe gesehen! Inge schien seine Gedanken erraten zu haben; sie war sehr ernst geworden. „Sie sehen recht: Ich bin überzeugt, daß wir in kurzer Zeit auf einer bewohnten Welt landen werden. Den Schirm können nur Wesen von höchster Intelligenz geschaffen haben. Trotzdem ist mir manches noch nicht klar. Zum Beispiel die Helligkeit und die steigende Außentemperatur trotz unserer ungeheuren Entfernung von der Sonne. Schon der Pluto war in ewigem Eis erstarrt – und hier scheint es eine normale Vegetation zu geben. Die Temperatur draußen liegt jetzt schon ein ganzes Stück über dem Gefrierpunkt!“ Fred hatte sich wieder gefaßt. Es war ihm bewußt, daß er jetzt die Verantwortung für die Insassen des Schiffes trug und etwas unternehmen mußte. „Kommen Sie, wir wollen nach vorn gehen und die Lage auch mit den anderen besprechen.“ Er rief Berger an. „Steve, 25
können Sie die Landung noch etwas hinauszögern und zu uns nach dem Aufenthaltsraum kommen? Auch Ackermann und Bones möchten sich da einfinden. Wir müssen sehen, was wir jetzt noch machen können.“ „Gut, ich komme!“ Seine Stimme klang müde und resigniert. Kurz darauf saßen alle zusammen. Keiner sprach zunächst ein Wort. Dann blickte Berger auf und sagte ernst: „Meine Herrschaften, ich muß Ihnen leider sagen, daß ich nicht mehr Herr des Schiffes bin. Die Düsen haben ausgesetzt, als …“ er suchte nach einem passenden Ausdruck, „… als wir das seltsame Stadium der Neutralisation passierten. Seitdem arbeiten unsere Turbinen, ohne daß sie jemand eingeschaltet hat Ich kann das Schaff trotz aller Bemühungen nicht mehr beeinflussen. Wir werden seitdem ferngelenkt und, wenn unser langsames Sinken anhält, in etwa einer Stunde landen. Es tut mir leid, aber wir scheinen im Moment vollkommen machtlos zu sein.“ Bill Bones schluckte trocken. Hier war seine Sensation! Er wollte instinktiv aufspringen, aber Berger hielt ihn zurück. „Bleiben Sie ruhig sitzen, Bones, es gibt keine Verbindung mehr mit der Außenwelt. Unsere Funkgeräte sind ebenso wie alle anderen Apparate außer Betrieb. – Wir können nur abwarten, was weiter geschehen wird.“ Bedrücktes Schweigen senkte sich auf die Runde. Alle sahen ernst vor sich hin. Dann hob Berger noch einmal den Kopf und sah Fred voll ins Gesicht: „Sie sind jetzt der Boß, Fred! Was sollen wir tun? Wir werden uns nach Ihren Anweisungen richten. Was geschieht nach der Landung?“ Fred warf einen etwas verwirrten Blick auf Inge. Die nickte bestätigend. Das gab ihm einen Teil seines Selbstvertrauens wieder. „Wenn wir jetzt von einer unbekannten Kraft gesteuert und 26
langsam zur Landung gebracht werden, kann man daraus nur schließen, daß wir uns in der Gewalt intelligenter Wesen befinden, die zumindest im Augenblick nicht die Absicht haben, uns zu schaden. Sonst hätten sie uns vermutlich sofort in nichts auflösen können! Wegen unserer Existenz brauchen wir uns keine Sorgen zu machen: Inge hat die Außenluft untersucht und fand sie für uns atembar. Für einige Monate Verpflegung haben wir an Bord, außerdem ist anzunehmen, daß wir auf diesem Planeten Nahrung finden werden. Wir müssen also abwarten, wie sich die Dinge weiterentwickeln werden. Auf jeden Fall sind wir an das gesuchte Ziel gelangt – wenn auch auf andere Weise als wir uns das vorstellten. Wir werden nach der Landung versuchen, mit den Bewohnern dieses Planeten, von deren Existenz ich jetzt überzeugt bin, Verbindung aufzunehmen. Wie, weiß ich noch nicht. Und dann wollen wir unsere eigentliche Aufgabe nicht vergessen und uns bemühen, diese neue Welt kennenzulernen. Ob und wie wir sie wieder verlassen können, weiß jetzt noch keiner von uns. Das müssen wir der Zukunft überlassen. Ich bitte Sie, jetzt wieder an Ihre Aufgaben zu gehen. Sobald wir gelandet sind, wenden. Sie, Inge, noch einmal eine genaue Analyse der draußen herrschenden Verhältnisse vornehmen. Dann werden Mr. Bones und ich aussteigen und versuchen, mit den Bewohnern dieser reizenden Gegend in Verbindung zu kommen. Sind Sie damit einverstanden?“ „Ich möchte bei dieser Erkundung mit dabeisein!“ sagte Inge. „Ich natürlich auch!“ folgte ihr Ackermann. Fred schüttelte den Kopf. „Es ist für uns am wichtigsten, daß unsere Untersuchungen weiter durchgeführt werden, als ob wir übermorgen wieder nach Hause fliegen könnten. Bill Bones ist als Mann der öffentlichen Meinung am besten geeignet, diplomatischen Beziehungen anzuknüpfen. Außerdem –“ er wurde wieder ernst, „besteht die Möglichkeit, daß wir zurückgehalten 27
werden. Dann müssen die anderen versuchen, wieder aufzusteigen, wenn wir uns in zwei Tagen … ich meine, nach zweimal vierundzwanzig Stunden Bordzeit nicht wieder eingefunden haben.“ „Gut!“ nickte Steve Berger. „Ich bin einverstanden. Ihr Vorschlag scheint mir vernünftig zu sein. Aber bitte, gehen Sie jetzt wieder in Ihre Kabinen. Vielleicht ist die Landung doch nicht so sanft. Schnallen Sie sich auf Ihren Drucklagern gut an.“ Ohne weiteren Einwand befolgten alle seinen Rat. Fred bemühte sich, Inge nicht mehr anzusehen und zog die Tür zu seiner Kabine hinter sich zu. Er legte sich auf sein Spezialbett und schnallte die Riemen über Brust und Oberschenkel zusammen. Er ertappte sich immer wieder bei dem Gedanken: Hoffentlich geschieht Inge nichts! Darin kam ihm plötzlich zu Bewußtsein, daß die Maschinen ohne Übergang aufgehört hatten zu dröhnen. Durch die ungewohnte Stille klang fremdartig laut die Stimme Steve Bergers aus dem Lautsprecher: „Wir sind gelandet! Verdammt noch mal, die Burschen können was! Ich habe noch keine so glatte Landung zustande gebracht.“ „Danke!“ rief Fred zurück und machte sich von der Verschnürung frei. Dann kam auch schon Inges Stimme. Sie klang ruhig und sachlich. „Außentemperatur 15 Grad Celsius. Zusammensetzung der Atmosphäre fast normal, mit etwas erhöhtem Sauerstoffgehalt. Keine schädlichen Bestandteile. Luftdruck 963 mm. Außergewöhnliche Strahlungen irgendwelcher Art sind nicht festzustellen. Sie können beruhigt aussteigen. Und …“ Sie zögerte etwas und fuhr mit leiserer Stimme fort: „Paß gut auf dich auf, Fred!“ Nur jetzt nicht schwach werden! dachte Fred und gab ebenso leise zurück: „Vielen Dank, Inge! Wird schon alles gut gehen, mach dir keine Sorgen!“ 28
Ohne es zu merken, war er auch in das vertrauliche Du gefallen. Dann sprang er, so gut es bei seinem Gewicht ging, auf und steckte vorsichtshalber eine kleine Strahlenpistole ein. Auch für Bones nahm er einen Handstrahler mit, obgleich er sich sagte, daß die Wesen, die er besuchen wollte, vermutlich vor solchen Dingern keine Angst haben würden. Draußen an der Schleuse traf er Bill Bones, der vor Aufregung von einem Bein aufs andere trat. Zwei Matrosen standen an den Ventilen, und auch Berger wartete auf ihn. Alle anderen waren, wie er angeordnet hatte, auf ihren Posten, auch Inge. „So, dann wollen wir es versuchen! Sie können beruhigt öffnen, draußen ist die Luft besser als hier drin. Steve, machen Sie es gut und bleiben Sie bitte im Schiff, bis Sie wieder von mir hören. Es wird mir schon gelingen, Ihnen bis übermorgen eine Nachricht zukommen zu lassen. Wenn nicht, bitte ich Sie, auf jeden Fall einen Startversuch zu unternehmen. Ich hoffe aber nicht, daß es dazu kommen wird. Auf Wiedersehen!“ Das Schiff war auf einem ebenen Platz gelandet, dessen Boden mit einer harten Kunststoffschicht überzogen und vollkommen eben war. Ein Streifen desselben Materials, etwa 10 m breit, lief von dem quadratischen Platz weg. Man konnte nicht sehen, wo sie mündete, aber am Horizont erhob sich eine grauweiße, gezackte Linie. Links und rechts war, soweit das Auge blicken konnte, eine niedrige blaßgrüne Vegetation ausgebreitet, die man als Mittelding zwischen Gräsern und Sträuchern ansehen konnte. „Ein historischer Augenblick, Fred! Die ersten Menschen betreten diesen Boden! Wenn ich jetzt nur …“ Bones packte Fred am Arm. Er deutete in Richtung auf die Stadt. „Dort, More, sehen Sie? Etwas bewegt sich da, sieht aus wie ein dunkler Punkt, der schnell auf uns zukommt.“ „Tatsächlich! Hier, Bill, nehmen Sie vorsichtshalber die Ka29
none in die Hand, man kann nie wissen. Aber wenn’s geht, nicht schießen, vielleicht kommt man uns freundlich entgegen.“ Der Punkt wurde rasch größer und entpuppte sich wenige Minuten später als ein kleiner, räderloser Wagen der ein paar Zentimeter über dem Boden dahinbrauste und geräuschlos direkt vor den beiden hielt. Ein lebendes Wesen war nicht darin zu sehen. „Man scheint uns abholen zu wollen“, sagte Fred. „Ich glaube, es ist besser, wenn wir uns zunächst ihren Wünschen fügen. Anders lernen wir sie nie kennen. Kommen Sie, wir steigen ein! Vielleicht bleibt das Ding ohnehin ruhig liegen und wir müssen trotzdem wandern.“ Sie betraten vorsichtig den nach allen Seiten offenen Wagen, der für zwei Personen Platz bot. Die Sitze waren sehr eng, so daß Bill seine langen Beine eng an den Leib ziehen mußte. Kaum saßen sie, da fuhr der Wagen wie ein Blitz los und raste auf der Kunststoffstraße in Richtung Stadt. Die beiden fühlten, daß sie in dem Fahrzeug wieder ihr normales Gewicht, vielleicht sogar etwas weniger, hatten. Die Straße führte mitten zwischen weißen, viereckigen Häusern hindurch, die keinerlei Fenster besaßen. Kein Lebewesen war zu sehen. „Seltsam, …“ konnte Fred gerade noch sagen, dann blieb beiden für einen Augenblick die Luft weg. Der Wagen erhob sich plötzlich und landete sanft auf dem „Dach“ des Kastens, das durchsichtig wie Glas war. Dort blieb er bewegungslos liegen. „ Ich glaube, wir sollen aussteigen!“ meinte Bill und kletterte heraus. Fred folgte ihm. Durch das Dach hindurch blickten sie in das Innere einer seltsam eingerichteten Halle. Den Mittelpunkt bildete eine Anzahl von Ruhebetten – als solche konnte man die seltsamen Möbel wohl bezeichnen – die fast an sehr bequem ausgestattete Operationstische erinnerten. Am jedem „Sofa“ befand sich eine 30
Reihe von fremd aussehenden Instrumenten, Skalen, Schaltern und Hebeln. Und auf einem der Sofas lag … Fred mußte noch einmal hinsehen. Er traute seinen Augen nicht, denn da unten lag ein ganz normaler Mensch! Normal insofern, daß er genauso gebaut war wie Fred und Bill, nur um einiges kleiner und zarter. Der Kopf schien für den schlanken Körper zu groß zu sein und war vollkommen haarlos. Gekleidet war das Wesen in eine Art von Toga, die aus einem farbigen, durchsichtigen Kunststoff zu bestehen schien. Was die beiden am meisten erstaunte, war die Tatsache, daß an dem fremden Wesen nichts ausgesprochen Ungewöhnliches zu sehen war. Dies konnte ebensogut ein etwas schmächtiger, haarloser und ansonsten fehlerlos gebauter Einwohner von Berlin oder New York sein! Sie starrten immer noch durch das Glasdach hinab, als der Fremde seine Hand hob und einen Hebel berührte. Er lächelte tatsächlich dabei! Die beiden hatten das Gefühl des Sinkens und standen kurz darauf verblüfft unmittelbar vor dem Bewohner des Unsichtbaren Planeten. Das Dach bestand nicht aus Glas, sondern aus reiner Energie! durchfuhr es Fred. Da deutete der noch immer liegende Mann mit der Rechten auf zwei Ruhebetten. „Willkommen in Lat! Nehmt bitte Platz, ihr seid meine Gäste!“ sagte er in akzentfreiem Englisch und mit einer Stimme, die ruhig und angenehm klang. „Wie, Sie sprechen Englisch?“ platzte Bill heraus. Er konnte sich einfach nicht mehr beherrschen. „Natürlich, Mr. Bones! Warum denn nicht?“ Er lächelte immer noch. Zu Fred gewandt fuhr er fort: „Es freut mich, Mr. More, daß Sie meiner Einladung gleich gefolgt sind. Mein Diener hat Sie hierher gebracht, weil ich aus Ihren Gesprächen in Ihrem Raumschiff entnahm, daß Sie mit uns Verbindung aufnehmen wollen. Sie kamen also in friedlicher Absicht, deshalb 31
habe ich keinerlei Vorkehrungen zu meiner Sicherheit getroffen.“ Fred hatte immer noch nichts gesagt. Er fühlte sich durch den ruhigen Blick des anderen beschämt und legte ohne ein Wort seinen Strahler neben sich auf den Fußboden. Bill folgte ohne zu zögern seinem Beispiel. Die beiden Waffen waren im gleichen Augenblick verschwunden. „Seien Sie ohne Sorge“, fuhr der eigenartige Gastgeber fort, „ich habe diese Instrumente nur fortbringen und für Sie aufbewahren lassen. Sie können sie später wiederbekommen. Und wundern Sie sich über nichts, was Sie hier noch sehen und erleben werden; wir sind in der Technik ein wenig weiter, als die Bewohner der fernen Erde. Wenn Sie erst eine Zeitlang hier sind, werden Sie vieles besser verstehen. Ich möchte mich auch vorstellen: Einen Namen haben wir Einwohner von Lat nicht. Wohl aber kennen wir irdisches Zahlensystem und fanden es so gut, daß wir es übernahmen. Ich bin Nummer 28. Damit können Sie vorerst nichts anfangen. Ich will jetzt nur erklären, daß auf unserem Planeten das Zeitalter der Demokratie längst überwunden ist. Wir haben eine viel vollkommenere Form gefunden, die Ordnung aufrechtzuerhalten: das System der Zahlen. Jeder von uns ist grundsätzlich in allen seinen Entschlüssen frei. Mit zunehmenden Fähigkeiten und steigendem Wissen rückt er immer weiter auf. Nummer 1 ist der Vollkommenste von uns. Er weiß alles, was ein Later wissen kann. Deshalb beugen wir uns in gewissen Fällen seiner größeren Einsicht.“ „Gestatten Sie mir nur eine Frage“, unterbrach ihn Bill Bones, „wie kommt es, daß Sie unsere Namen kennen und Englisch sprechen?“ „Das ist sehr einfach“, erwiderte 28, „bei uns herrscht seit langen Zeiten der Geist über die Materie. Wir haben Wege gefunden, Ihre Erde laufend genau zu beobachten. Wie wir das machen, zeigen wir Ihnen später. Sie können sich denken, daß 32
wir dann auch imstande waren, alles zu überwachen, was in Ihrem Schiff gesprochen und getan wurde. Fragen Sie mich jetzt nicht nach Einzelheiten, das würde zu weit führen.“ Fred ergriff das Wort: „Ich bin der Verantwortliche unserer Expedition. Deshalb liegt mir das Wohl unserer Besatzung vor allen Dingen am Herzen. Sagen Sie mir bitte, ob ihr Leben oder ihre Gesundheit gefährdet sind.“ „Solange sie nichts gegen unsere ungeschriebenen Gesetze tun: Nein!“ „Noch eins: Wir kamen als friedliche Forscher. Auch Sie sind uns in sehr freundlicher Weise begegnet. Warum wurden wir gezwungen, zu landen, und wie kam es überhaupt, daß wir Lat ohne Schaden erreichten?“ „Ich wußte, daß Sie diese Frage stellen würden. Ich will Ihnen noch nichts über unsere Geschichte erzählen, aber eine Feststellung muß ich treffen: Unsere Vorfahren haben vor fast 8000 Jahren einen Energieschirm um Lat gelegt, der uns trotz der weiten Entfernung von der lebenspendenden Sonne, von der auch alles Leben auf der Erde abhängt, ein normales und sogar angenehmes Dasein ermöglicht. Dieser Schirm ist unser Leben und unsere Religion. Er läßt Strahlen und Materie herein, wenn diese uns nicht schädlich sind. Er läßt die Wärme und das Licht herein und speichert sie. Er läßt aber nichts, was einmal eingedrungen ist, wieder hinaus! Von dieser Regel gibt es keine Ausnahme.“ 7. Kapitel Inge Waller saß in Gedanken versunken vor ihren Geräten, ohne sie zu beachten, als Steve Berger eintrat. „Ach, Sie sind es! Ich dachte schon, Fred und Bill wären zurück!“ Sie sank wieder auf ihren Sitz zurück. „Ja, leider bin’s nur ich, Fräulein Waller! Ich kann mir vor33
stellen, daß Sie sich Sorgen machen, aber noch ist kein Grund zur Beunruhigung gegeben.“ „Sagen Sie, Herr Berger, werden Sie starten, wenn die beiden in vierundzwanzig Stunden nicht zurück sind?“ fragte Inge etwas angstvoll. In diesem Augenblick kam auf der Kunststoffstraße ein kleiner schwarzer Punkt herangerast, der schnell wuchs und zu dem Wagen wurde, der Fred und Bill vor zwei Tagen abgeholt hatte. Steve Berger ließ hastig die Luke öffnen um die beiden einzulassen, aber nur Fred stieg aus. Mühselig kletterte er im das Schiff. Die Besprechung dauerte drei Stunden. Dann rief Fred alle Mitglieder der Expedition im Aufenthaltsraum zusammen und sprach mit ruhiger, fester Stimme zu ihnen: „Liebe Freunde, ich muß euch eine traurige, aber unabänderliche Tatsache mitteilen: Wir werden hier auf diesem Planeten bleiben müssen! Es gibt für uns keine Rückkehr zur Erde. Ich sage euch dies so direkt, damit es kein Mißverständnis gibt. Wir haben eben noch einmal von der wissenschaftlichen Seite her alle Möglichkeiten erwogen und keine Lösung gefunden.“ Lastende Stille und Verzweiflung lag über dem kleinen Raum. Er fuhr fort: „Dieser Planet heißt Lat und ist bewohnt, bewohnt von Menschen, die wie wir es sind, nur mit dem Unterschied, daß uns die Later geistig und wissenschaftlich um Jahrtausende voraus sind. Wir werden uns in unser Geschick fügen müssen, denn eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Der Planet ist von einem Schirm umgeben, der nichts, was er eingefangen hat, wieder nach außen dringen läßt. Er ist der Schutz dieses hochentwickelten Planeten. Und wenn ich an die augenblickliche Entwicklung auf der Erde denke, muß ich sagen: Es ist gut so. Unsere Mitmenschen würden noch zehn Jahre lang Forscher und Wissenschaftler hierherschicken und dann als Eroberer kommen. 34
Ich habe mit den Latern gesprochen. Sie sind uns freundlich gesinnt und werden uns als Gäste aufnehmen, solange auch wir friedliche Absichten hegen. Die Einwohner dieses Planeten kennen unsere Erde sehr genau und haben mich beauftragt, euch alle einzuladen, euch hier niederzulassen. Sie werden uns das Leben so angenehm wie möglich machen. Ich habe diese Einladung für uns angenommen, weil wir so oder so hierbleiben müssen.“ Er blickte in die acht fassungslosen Gesichter, die Bestürzung und Unglauben ausdrückten. Überall las er dieselbe Antwort: Verzweiflung und aufkommende Wut gegen ihn, den Verantwortlichen dieses Unternehmens. Nur Ackermanns Gesicht blieb verschlossen und in Inges Augen konnte er fast etwas wie Freude lesen. Dann sagte der Kapitän: „Meine Besatzung und ich beugen sich im Moment der Gewalt. Zugleich möchte ich Ihnen aber sagen, daß wir alles in unseren Kräften Stehende tun werden, um unser Schiff wieder flugtüchtig zu machen. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, daß ich als Kapitän hier wohnen bleiben werde.“ Er wandte sich an die vier Mann seiner Besatzung: „Wer von euch wird hierbleiben?“ – „Ich – ich auch – ich – ich!“ Alle blieben. Fred zuckte nur die Achsel. „Es wird Ihnen niemand vorschreiben, wo Sie sich aufhalten und was Sie tun, solange es sich nicht gegen die Interessen von Lat wendet. Versprechen Sie mir wenigstens, keine Feindseligkeiten zu unternehmen!“ „Wir werden uns nur wehren, wenn wir angegriffen werden!“ erwiderte Steve. Er wandte sich mit finsterem Gesicht von Fred ab. Dieser fragte nun Ackermann und Salarni: „Und Sie beide?“ Ackermann brummte: „Ich gehe mit Ihnen!“ Salarni stand auf: „Ich gehe auch mit. Ich will die Möglichkeiten dieses Planeten kennenlernen. So schnell finde ich mich nicht damit ab, die Waffen zu strecken!“ 35
„Gut. Und Sie, Inge?“ „Ich bin einverstanden.“ Nach einer Stunde standen pünktlich die ferngelenkten Wagen an dem Landeplatz. Die vier „gestrandeten“ Wissenschaftler stiegen, jeder mit einem kleinen Paket persönlicher Dinge beladen, ein, dann ging es in schneller Fahrt nach der Stadt. Diesmal landeten die Wagen auf einem anderen Gebäude. Inge, Ackermann und Salarni, denen alles noch neu war, fielen von einem Staunen ins andere. Der gewaltige Eindruck, den das Neue auf sie machte, verwischte fast das Empfinden der Verzweiflung, die die Nachricht von der Unmöglichkeit einer Heimkehr bei ihnen hinterlassen hatte. 8. Kapitel Während der folgenden fünf Tage hielten sich alle Mitglieder der Expedition zu Hause auf. Sie machten eine Schulung durch, die gründlich war, ohne zu ermüden, und merkten dabei zu ihrer Verwunderung, daß ihr Geist in dem Maße aufnahmefähiger wurde, als immer mehr an Wissen hineingestopft wurde. Sie lernten die Bedienung der Geräte des täglichen Gebrauchs, wurden mit der Geschichte ihrer neuen Heimat vertraut, gewöhnten sich an neue Speisen und wurden auch in ihrer inneren Einstellung, ohne es zu bemerken durch eine geschickte psychologische Behandlung umgeformt. Als ihr „Hausarrest“ abgelaufen war, wurden sie zusammen mit ihren Betreuern zu 28 eingeladen. Dort sah Fred zum ersten Mal Inge wieder. Sie alle hatten inzwischen die Kleidung der Later angelegt und fanden diese wunderbar angenehm. Als Inge jedoch jetzt Freds Blick wieder auf sich ruhen fühlte, wünschte sie sich für einen Augenblick wieder in ihren alten Raumfahreranzug zurück. Sie überwand diese Hemmung jedoch schnell und sah ihm dann offen ins Ge36
sicht. Beide stellten im gleichen Augenblick fest, daß trotz der Veränderungen, die mit allen vorgegangen waren, ihre Gefühle füreinander noch dieselben waren. Inges Betreuerin war die erste Laterin, die Fred hier sah. Auch sie trug die gleiche Kleidung, ihr Kopf war haarlos. Ansonsten war er überrascht über ihre wunderbar ebenmäßig geformte Gestalt, wenn auch der Kopf im Verhältnis etwas zu groß geraten schien. Das Mädchen mochte nach seiner Schätzung 20 Jahre sein und war auch für irdische Begriffe sehr hübsch. Mit leichtem Grinsen stellte Fred fest, daß auch Bill sie sehr interessiert beobachtete. Die Laterin – es war 941, wie er später erfuhr – zeigte dabei keine Spur von Verlegenheit, sondern lächelte Bill freundlich an. Im gleichen Augenblick trat 28 ein. Er ließ sich, wie alle anderen auch, auf ein Sofa nieder, denn obgleich hier in den Gebäuden ein Teil der übermäßigen Schwerkraft neutralisiert war, wirkte sie immer noch stärker als auf der Erde, Die Later konnten sich mit ihren kleineren, leichteren Figuren unbeschwerter bewegen als die Menschen, von denen Ackermann außerdem noch ein kleines Bäuchlein mit sich herumschleppte. 28 ließ durch kleine, fahrbare Robotertische Speisen und Getränke hereinbringen, denn die Later hielten trotz weitgehender Technisierung viel von den Genüssen des Lebens. Ihre hohe Entwicklungsstufe hatte keineswegs zu einem Stadium der Pillenernährung geführt. „Liebe Freunde“, begann 28, „ich freue mich, daß Sie alle die Anpassung so gut bestanden haben. Ab heute betrachten wir Sie als zu uns gehörig, Sie haben alle Rechte, die wir auch haben, allerdings auch alle Pflichten, die Sie inzwischen kennengelernt haben. Sie sind in Ihren Entscheidungen und in Ihren Handlungen vollkommen frei. Nur eine Regel gibt es für Sie: Der Schirm ist heilig! Ihm verdanken wir alles. 37
Sie werden fragen, was nun mit Ihnen werden soll. Ich darf Ihnen sagen, daß es Ihnen freisteht, sich einer Beschäftigung zuzuwenden, die Ihnen Freude macht. Körperliche Arbeit verrichten unsere Roboter und Maschinen. Da Sie aber alle Wissenschaftler sind, werden Sie ein weites Betätigungsfeld vorfinden. Sie können auch Ihre Freunde im Schiff besuchen, aber die werden Ihnen jetzt fremd vorkommen. Nach materiellen Dingen brauchen wir Later schon seit Jahrtausenden nicht mehr zu streben, die sind im Überfluß vorhanden. Wir betrachten es aber als unsere Aufgabe, unser Leben reicher und wertvoller zu machen, dafür setzen wir unsere geistigen Fähigkeiten ein. Sie werden sehen, daß dies eine lohnende Aufgabe ist. Und jetzt kommen Sie bitte mit, der „Bewahrer des Schirms“ möchte Sie begrüßen. Dann kommen wir wieder hierher zurück, um den heutigen Abend zusammen zu verbringen.“ Auf dem Dach stand schon ein großer Gleiter, der sie schnell aus der Stadt hinaustrug und dann auf einem Hügel landete. Außer vier Antennenmasten, die nach Freds Schätzung mehrere hundert Meter hoch sein mußten, war kein Bauwerk zu sehen. Plötzlich stand vor ihnen jedoch ein Mann, dessen Erscheinung genügte, um sie alle in ihren Bann zu schlagen. Er war größer als die anderem Later und überragte selbst Bill Bones noch um ein Stück. Sein runder, glatter Kopf war noch etwas größer, als sie bei den Einwohnern von Lat zu sehen gewohnt waren und in der Kleidung unterschied er sich durch nichts von 28. Aber von seinen großen, wasserhellen Augen ging ein solcher Zwang aus, daß Inge unwillkürlich fühlte: Dieser Mann weiß alles und kann alles! Keiner hatte gesehen, woher er gekommen war. „28 und seine Helfer haben sich große Mühe gegeben“, begann er, „ich sehe, daß ihr hier schon zu Hause sein. Möge Lat euch eine angenehme Heimat werden.“ Er blickte sie der Reihe nach lange an. Fred fühlte, daß dabei 38
eine Veränderung mit ihm vorging, die er sich nicht erklären konnte, sie hing aber unmittelbar mit den Augen von 1 zusammen. Den anderen ging es genauso. „Ich habe euch jetzt das gegeben, was wir schon lange haben: ein Leben, das erst dann endet, wenn ihr es zu beenden wünscht – oder wenn ich mich gezwungen sehe, es zu beenden.“ Er sagte das ganz leidenschaftslos. Die fünf sahen sich betroffen an. „Wir werden uns von Zeit zu Zeit sehen, wenn ihr das wünscht oder wenn ich euch rufe. Wenn ihr jetzt wieder geht, wird euch die Aufgabe klar geworden sein, die ihr auf Lat zu erfüllen habt. Sie wird euren Fähigkeiten angemessen sein und euch befriedigen.“ Dann trat er einen Schritt zurück und war ebenso plötzlich nicht mehr da, wie er aufgetaucht war. Fred beobachtete, wie Salarni einen bezeichnenden Blick zu Ackermann warf. Der nickte nur und beeilte sich dann, den anderen zum Wagen zu folgen. Sie fuhren zu 28 zurück, alle tief in Gedanken versunken. Als Ackermann nachher in seine Wohnung zurückkam, wartete Salarni bereits auf ihn. Erstaunt musterte ihn Ackermann. „Was soll der Anzug?“ – Er deutete auf die Raumkombination, die der Italiener wieder trug. „Ich wollte mit Ihnen zusammen zu Berger hinausfahren. Dort kann ich doch nicht gut in einer durchsichtigen Kunststoffhülle erscheinen! Wir haben heute vieles erfahren, was ich gern einmal mit den anderen besprechen möchte. Kommen Sie mit?“ Ackermann zögerte. „Eine Verschwörung also?“ „Wieso Verschwörung? Wir sind in unseren Handlungen frei, und ich habe immer noch nicht die Absicht, die Unabänderlichkeit unserer Situation hinzunehmen. Ich glaube jetzt eine Möglichkeit zur Heimkehr zu sehen! Wenn nämlich …“ „Gut, erzählen Sie das später im Schiff. Ich fahre mit. Augenblick, ich ziehe mich nur um.“ 39
Bald darauf traten sie durch die offene Tür des Schiffes, an der ein Matrose als Wache stand. Er ließ sie ein und weckte Steve Berger. Der begrüßte die beiden sehr verwundert. „Wie, Sie kommen allein, und dann bei Nacht und Nebel? Wo sind die anderen? – Aber treten Sie erst einmal ein und setzen Sie sich!“ Die Schwerkraft, die hier nicht neutralisiert war, machte ihnen schwer zu schaffen. Sie setzten sich an den runden Tisch im Aufenthaltsraum, und Salarni berichtete erst einmal, was während der letzten Zeit geschehen war. Als er von dem Besuch beim „Bewahrer des Schirms“ berichtete, horchte Berger auf. „Diesen Mann haben Sie tatsächlich gesehen? Und Sie glauben, daß er imstande ist, Sie unsterblich zu machen? Unsinn!“ Ackermann schüttelte ruhig den Kopf. „Eine solche Möglichkeit besteht schon, wenn man daran glaubt. Diese Later haben Kenntnis van Naturgesetzen, die wir noch nicht einmal ahnen. – Aber nun zur eigentlichen Sache: Wir haben festgestellt, daß dieser verdammte Negativschirm uns daran hindert, wieder aufzusteigen. Die Later haben das Geheimnis des Ringes nicht mehr – nur der ‚Bewahrer des Schirms’ scheint es noch zu kennen. Der sitzt irgendwo und kontrolliert die Energie, die einerseits das Leben hier möglich macht – andererseits uns gefangensetzt. Herr Ackermann und ich werden versuchen, Nummer 1 zu besuchen. Wie wir hörten, ist das möglich. Vielleicht könnten wir dabei etwas Wichtiges erfahren, was uns weiterbringt. Ich schlage vor, daß Sie, Herr Berger, jetzt schon das Schiff laufend für einen plötzlichen Start bereithalten. Wir werden uns mit Ihnen in Verbindung setzen, sobald wir einen möglichen Weg sehen.“ Die anderen waren einverstanden. Ackermann und Salarni verabschiedeten sich und fuhren wieder zur Stadt zurück.
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9. Kapitel Fred warf sich auf ein Sofa und wollte eben nach einer Zigarette greifen, die er sich auch hier nicht abgewöhnen konnte, als er erschrocken wieder aufsprang. Vor ihm stand der „Bewahrer des Schirms“! „Ich habe hier auf Sie gewartet, Fred, weil ich Ihre Hilfe brauche“, begann er, „ich möchte Sie bitten, auf eine Stunde zu mir zu kommen!“ Er faßte den immer noch Wortlosen bei der Hand und blickte ihm in die Augen, bis Fred die Sinne schwanden. Als er wieder zu sich kam, stand er in einer großen Halle mit künstlichem Tageslicht, die wie die Zentrale einer großen, vollautomatischen Fabrik aussah. Die Wände ringsherum bestanden nur aus Schalttafeln, Kontrollschirmen, Instrumenten der verschiedensten Art und einer Mattglasscheibe, die eine ganze Schmalseite einnahm. Nummer 1 zeigte einladend auf einen Liegesitz. „Sie werden sich gefragt haben, wie diese Welt entstanden ist; ich will es Ihnen ganz kurz sagen. Vor über 8000 Jahren hat in diesem Teil unseres Sonnensystems eine große Katastrophe stattgefunden, bei der ein Riesenmeteor den Planeten Neptun streifte, ihm seine dichte Lufthülle entriß und seinen Mond Pluto aus der gewohnten Bahn warf. Der Neptun war damals bewohnt, von hochintelligenten Wesen bewohnt, die es verstanden hatten, sich trotz der seit Jahrmillionen fortschreitenden Abkühlung unserer Sonne dort ein erträgliches Leben zu schaffen. Da man das Unglück seit langer Zeit vorausgesehen hatte, konnte man Vorkehrungen treffen und einen Teil der Bevölkerung in großen Raumschiffen in Sicherheit bringen. Eines dieser Schiffe habe ich gesteuert.“ Fred starrte ihn an wie einen Geist. Dieser Mann war über 8000 Jahre alt! „Ja, Fred, ich bin das älteste Wesen auf Lat! Wir wählten uns 41
diesen Planeten als neue Heimat, obgleich er ohne Atmosphäre und im ewigen Eis erstarrt war. Wir taten es, weil wir für alle Zukunft in Frieden leben wollten und unsere Brüder auf Ihrer Erde damals schon in andauerndem Krieg lebten. Deshalb haben wir die inneren Planeten gemieden. So sah es damals hier aus.“ Auf der Mattglasscheibe leuchtete ein Bild auf, wie es Fred vom Pluto her kannte. Eine Landschaft, die in ewiger Nacht lag und unter einem suchenden Scheinwerfer eisig glitzerte. Ihn schauderte es. „Dann haben wir zu arbeiten begonnen. Alles, was wir brauchten, brachten wir mit. Zunächst bohrten wir uns einen Weg ins Herz dieses Planeten und befreiten die Energien, die in ihm schlummerten.“ – Auf dem Schirm konnte Fred alles verfolgen, was Nummer 1 berichtete. „Als nächstes errichteten wir die vier Türme, die Sie bereits gesehen haben. Sie strahlten die im innersten Kern von Lat gespeicherte Energie aus und bildeten so rings um uns einen Schirm, der uns vor den tödlichen Strahlen des Alls und der absoluten Kälte schützte. Im Schutze dieses Schirms, der keine Strahlen nach außen dringen läßt, speicherte sich die Wärme, die uns trotz der Entfernung der Sonne immer noch erreicht. Es bildete sich eine Atmosphäre, auf deren Zusammensetzung wir Einfluß hatten, und nach zehn Jahren war es möglich, die Schiffe zu verlassen, in denen wir bis dahin wohnen mußten. In den darauffolgenden dreihundert Jahren haben wir uns die Welt aufgebaut, die Sie hier angetroffen haben. Rohstoffe und Energie gab es in überreichem Maße, und ein Großteil der Auswanderergeneration lebte noch. Auch sie kannte schon das Geheimnis des ewigen Lebens, war aber nach der Aufbauarbeit zu erschöpft, um es noch zu wünschen. Nur ich bin übriggeblieben, obgleich ich mich auch sehr oft zu müde zum Leben fühlte. Ich hielt es aber für meine Pflicht, den Nachkommen meiner Freunde diese Welt erhalten zu helfen. 42
Der unbeschreibliche Luxus, in dem wir seitdem leben, hat dazu geführt, daß unsere Rasse immer träger wurde und die Arbeit fast ganz den Maschinen überließ. Man vergaß den Raumflug – was nützte er schon, wenn man den Schirm doch nicht durchdringen konnte? – und viele anderen Geheimnisse, die wir vom Neptun mitgebracht hatten. Die hohe Schwerkraft dieses Planeten, die wir nur zum Teil neutralisieren können, um der Energie des Latkerns nicht zu schaden, tat ein übriges. Es fehlte jeder Ansporn zu besonderen Leistungen, weil das Leben ohnehin alles bot, was man sich wünschen konnte.“ Die Bildscheibe erlosch, und der „Bewahrer des Schirms“ setzte sich neben Fred. Er sah jetzt erschreckend müde aus. Erschüttert fragte ihn Fred: „Und Sie haben die ganzen Jahrtausende über dafür gesorgt, daß die anderen ohne Sorge leben konnten? Sie haben von hier aus den Schirm überwacht, den Energiestrom verteilt, den Planeten regiert …“ „Ja, mein Freund! Und die anderen haben das alles als selbstverständlich hingenommen, weil sie es einfach nicht anders kannten. Sehen Sie, ich brauche nur diesen Hebel umzustellen, dann …“ Fred sprang erschrocken hinzu, aber 1 hatte das Schaltbrett nicht berührt. Trotzdem tanzten verschiedene Zeiger an den Instrumenten plötzlich wie wild geworden und eine Reihe roter Lampen leuchtete auf. „Um Gottes willen, was ist geschehen? Haben Sie …“ Der Alte antwortete nacht, sondern begann fieberhaft zu arbeiten. Er sprang von einer Tafel zur anderen, regulierte hier, schaltete da einen Energiekreis ein, dort einen anderen ab. Dabei drückte er auf einen Knopf und deutete auf die Fernsehscheibe: „Sehen Sie selbst, Fred, ich muß mich um die Zentrale kümmern. Ich habe es gefühlt, daß Sie mir heute helfen müssen!“ Auf dem Bild erschien der Hügel mit den vier Türmen. Einer 43
davon schwankte noch wie in einem starken Sturm und neigte sich zur Seite. In dieser Schräglage blieb er hängen. Am Fuß des Turms verzog sich eine gewaltige Explosionswolke, und ein Bündel wurde sichtbar, das am Boden lag. Fred sah genauer hin. „Steve!“ entfuhr es ihm. Das zerfetzte Bündel war der Kapitän, fast nur noch an seiner gelben Raumkombination zu erkennen. Was war nur geschehen? Fred konnte es sich nicht gleich erklären. Dann durchfuhr es Ihn wie ein Blitz: das geplante Attentat! Und der Bewahrer hatte davon nichts gewußt? „Doch, ich habe es gewußt!“ antwortete der auf die unausgesprochene Frage, und Fred kam sich vor, wie beim Schwindeln ertappt. „Ich wollte es aber nicht glauben, weil seit siebentausend Jahren etwas Ähnliches nicht mehr vorgekommen ist. Aber Sie sehen selbst, wie ein einziger Tor das größte Unheil anrichten kann.“ Er hatte die Instrumente immer noch nicht voll unter Kontrolle, obgleich er wie besessen arbeitete. Plötzlich sah Fred in ihm nichts als einen Menschen, einen Menschen allerdings, dessen Charakter über alle bekannten Begriffe hinausging. Ein Gefühl tiefster Verehrung für diesen Mann erfaßte ihn. Aus einem Blick, den der andere ihm zuwarf, erkannte er, daß er auch diesmal wieder seine Gedanken gelesen hatte. „Ich danke Ihnen, Fred“, sagte er einfach. Und nach einer Weile: „Den Latern durfte ich es nicht zeigen, weil ich ihren Glauben an den Schirm und seinen Bewahrer, ihre Religion erschüttert hätte. Aber ich habe Sie zu mir gerufen, weil ich meine Einsamkeit nicht mehr ertragen konnte!“ „Wie kann ich Ihnen helfen?“ fragte der junge Amerikaner einen Mann, der alles Wissen der Menschheit in sich trüg. Der wandte sich mit sehr ernstem Gesicht zu ihm um. „Ich will Ihnen sagen, was geschehen ist: Der beschädigte Mast ist nicht mehr voll leistungsfähig, und ich mußte die Energie erhöhen, um den Schirm im Gleichgewicht zu halten. 44
Wenn es uns nicht gelingt, innerhalb von drei Tagen den Turm wieder aufzurichten …“ 10. Kapitel Eine halbe Stunde später stand Fred im Schiff bei den vier Matrosen, die ihn wegen seines Kostüms belustigt betrachteten. Freds Gesicht war aber hart. „Ich will euch gleich sagen, was geschehen ist“, begann er. „Euer Kapitän hat versucht, den Schirm zu zerstören, der uns hier festhält, und der auf der anderen Seite die Grundlage alles Lebens auf diesem Planeten ist. Wenn es uns nicht gelingt, den Turm innerhalb von drei Tagen wieder zu reparieren, wird die alte Zivilisation dieser Welt untergehen – und wir alle mit. Wollt ihr mir helfen? Ihr seid erfahrene Techniker und könnt es vielleicht schaffen.“ Die vier sahen sich gegenseitig an. Dann nickten sie etwas widerstrebend und gingen auf Anweisung von Fred an ihre Plätze im Kontrollraum. Mit gleichmäßigem Brummen fingen die Maschinen zu arbeiten an, das Schiff hob sich und setzte kurze Zeit darauf sanft neben den vier Türmen auf, von denen einer um fast 45 Grad geneigt war. Keiner stellte die Frage, warum das Schiff wieder flog; sie blickten erstarrt auf die zerfetzte Gestalt ihres Kapitäns, die noch immer auf dem Hügel lag. Bevor sie etwas anderes taten, gaben sie ihrem früheren Chef ein würdiges Begräbnis. Kein Later ließ sich sehen. Als sich ein Hügel frischer Erde vor ihren Füßen erhob, standen sie eine Weile stumm, die Blicke zu Boden gewandt. Fred sagte: „Du warst nicht schlecht, Steve. Du wolltest nur deine Aufgabe bis zuletzt erfüllen und hast dabei die Grenzen des Möglichen nicht erkannt. Daran bist du gescheitert. Wir denken aber an dich als guten Kameraden und wollen deinen Fehler vergessen. Wir versprechen dir, daß wir uns bemühen werden, den 45
Schaden wieder in Ordnung zu bringen, den du ohne bösen Willen angerichtet hast. Leb wohl!“ Die rauhen Raumfahrer hatten Tränen in den Augen, als sich Fred wieder ihnen zuwandte. „Wir werden zunächst mit unserem Beiboot zur Spitze des Turms aufsteigen und einige schwere Trosse hinaufbringen. Die müssen wir an der Spitze befestigen und dann mit unserem Schiff den Mast vorsichtig wieder aufrichten. Dieses Unternehmen ist zwar verzweifelt, aber ich sehe keine andere Möglichkeit, das Manöver muß einfach klappen, ihr wißt, was sonst geschehen wird. Während wir den Turm geraderichten, müssen die anderen von uns ihn unten abstützen und die gebrochenen oder verbogenen Stahlstützen schweißen. Ich werde jetzt die anderen verständigen, damit sie uns helfen. Macht inzwischen die Trossen fertig.“ Inge, Bill Bones und Ackermann waren sofort zur Stelle, Salarni entschuldigte sich, er fühle sich nicht wohl. Fred drang nicht weiter in ihn, und auch Ackermann gegenüber erwähnte er mit keinem Wort die letzten Ereignisse. Nach zehn Stunden harter Arbeit konnte das Beiboot mit den schweren Trossen zur Spitze des Turms aufsteigen. Ackermann fuhr mit den vier Leuten der Besatzung nach oben, und in der schwindelnden Höhe ließen sie das Boot wie einen Hubschrauber schweben und begannen mit ihrer gefährlichen Arbeit Ein Fehltritt konnte hier noch verhängnisvoller sein als auf der Erde, weil die Schwerkraft mit ungewohnter Gewalt nach unten zog. Deshalb ging die Arbeit auch sehr langsam voran. Der „Bewahrer des Schirms“ schien den Latern eine Anweisung gegeben zu haben, denn keiner ließ sich blicken. Inge untersuchte inzwischen den Schaden, den die unglücklich angebrachte Sprengladung verursacht hatte. Sie rief Fred in ihre Kabine. Fred überlegte sich, daß er hier wohl nur den Alten um Rat fragen konnte. Wie sollte er aber mit ihm in Verbindung treten? 46
Kurz entschlossen rief er: „Nummer 1, wenn Sie mich hören können, kommen Sie bitte zu uns, wir brauchen Ihren Rat!“ „Ich bin gleich bei Ihnen“, ertönte die ruhige Stimme aus dem Bordmikrophon. Eine Viertelstunde später stand er plötzlich im Raum. Inge berichtete vom Ergebnis ihrer Untersuchung. Nr. 1 überlegte eine Weile. Dann sagte er: „Aus der Kolonisationszeit ist noch ein Lager von Ersatzteilen dieses Metalls vorhanden, das wir Durit nennen, weil es so hart ist, daß es allen Witterungseinflüssen widersteht. Auch Spezialschweißapparate müssen dabei sein. Ich lasse Ihnen alles durch einen Transportroboter zu dem Hügel hier bringen. Jetzt muß ich zur Zentrale zurück, weil ich den Schirm im Zustand der gegenwärtigen Überbeanspruchung nicht unbeobachtet lassen kann.“ Er verschwand, wie er gekommen war, aber die beiden waren zu sehr mit ihren Problemen beschäftigt, um sich darüber zu wundem. Als sie drei Stunden später wieder hinaustraten, landete gerade das Beiboot. Sechs doppelte Trossen waren an der Spitze des Turms befestigt. Erschöpft sanken die vier Männer auf den Boden, um erst mal eine Weile auszuruhen. Auch Bill sah ziemlich ermüdet aus; er hatte es sich nicht nehmen lassen, auf der höchsten Spitze des schiefen Mastes stehend den automatischen Flaschenzug zu dirigieren, der die zentnerschweren Stahlteile an ihre Lage brachten. Die Rastpause tat ihnen allen wohl. An der allgemeinen Ermüdung war zu erkennen, was Inge auch schon festgestellt hatte: Der Sauerstoffgehalt der Luft ging merklich zurück. Dieses bedrohliche Alarmzeichen veranlaßte sie, schnell wieder an die Arbeit zu gehen. Dann kam auch schon ein schwerer Transportwagen mit den Ersatzteilen und mit drei großen Stahlflaschen, die durch Leitungen mit revolverartigen Düsen verbunden waren. Der Alte selbst lenkte diesmal das Fahrzeug. Erschrocken wichen die vier Matrosen zurück, denn sie hatten ja noch keinen Later gesehen. 47
Fred stellte ihnen den „Bewahrer des Schirms“ vor und bat sie, ihre Neugierde für später aufzubewahren, bis die Rettungsarbeiten abgeschlossen waren. Der Alte erklärte die Handhabung der Geräte und kehrte schnell mit dem Wagen wieder zurück. „Ich steige mit zwei Mann der Besatzung auf und versuche den Turm zu heben. Bill, Ackermann und ihr beiden anderen schneidet inzwischen die beschädigten Stahlteile heraus und ersetzt sie durch neue“, befahl er. Er machte eine Pause und seufzte. „Gebe Gott, daß uns dieses verzweifelte Manöver gelingt, sonst gibt es für uns und diesen Planeten keine Rettung mehr.“ Die anderen blickten sich ernst an und begriffen, worum es ging. Es tat ihren überreizten Nerven gut, daß es etwas zu tun gab. Das Warten hatte sie alle zermürbt. Schon Minuten später stand Fred im Kontrollraum neben dem Zweiten Piloten und gab ihm Anweisungen. Die Männer. gehorchten ihm jetzt, da ihr Kapitän tot war, ohne jede Widerrede. Inge hatte den hinteren Ausguck besetzt, um ständig die Spannung der Trossen zu kontrollieren. Wenn die ungeheure Last nur um ein geringes ungleichmäßig verteilt war, mußten unweigerlich alle Seile brechen. „So, nun alle Düsen auf halbe Kraft und so langsam wie möglich aufsteigen!“ gab Fred an. Er war selbst gespannt. Der Pilot tat sein Bestes. Meter um Meter hob sich das Schiff, während Fred die Spitze des Turms näher kommen sah. Bei 430 Meter war Widerstand zu spüren. „Seile straffen sich!“ meldete Inge. Das Schiff bewegte sich nicht mehr weiter aufwärts. Mit fester Stimme gab Fred das Kommando: „Motorenleistung langsam verstärken!“ Die Düsen heulten lauter. Hoffentlich sind die Männer, die unten arbeiten, ausreichend gegen die Rückstrahlen geschützt! 48
ging es Fred durch den Kopf! Über der Baustelle war wohl ein provisorisches Bleidach errichtet worden, aber der ungeheure Druck aus nur 400 m Höhe konnte doch vielleicht durchdringen. Er sah, daß sich der Turm noch um keinen Millimeter bewegt hatte. Er bewunderte den Piloten, der jetzt eiskalt und ruhig an seinem Platz saß und mit dem Fingerspitzengefühl des erfahrenen Raumfliegers die Leistung der Maschinen um unmerkliche Werte steigerte. Inge meldete: „Druck auf den Trossen jetzt 50 000 Tonnen.“ Nach einer Pause setzte sie hinzu: „Die von uns errechnete Grenze liegt bei 84 000 Tonnen …“ Fred war sich darüber im klaren, was das bedeutete. Er nickte dem Piloten zu, der ihn fragend anblickte. „70 000 Tonnen – Lage der Turmspitze noch unverändert.“ „85 000 Tonnen“, kam es dann ruhig aus dem Lautsprecher. Die Leistungsfähigkeit der Trosse war bereits überschritten. Sie hielten aber noch, wenn auch das Schiff jetzt in allen Fugen knarrte und bebte. „90 000 Tonnen!“ „Noch keine Veränderung?“ fragte Fred zurück. „Nein – doch, die Spitze beginnt sich zu bewegen! Wir schaffen es!“ Ihre Stimme überschlug sich fast. Fred betete darum, daß die Verspannung halten sollte. Nur eine Viertelstunde noch … „Turm in der Senkrechten“, meldete Inge. Gott sei Dank! Die drei Männer im Kontrollraum atmeten erleichtert auf. Der Druck konnte jetzt auf ein erträgliches Maß verringert werden, weil der Turm nur noch in dieser Lage gehalten werden mußte, bis die Reparaturen unten beendet waren. Die beiden Raumfahrer lösten sich an den Instrumenten ab. „Gut, daß es hier keinen Wind gibt!“ brummte der eine von ihnen. Für dreißig lange Stunden konnten die vier im Schiff nichts 49
tun als warten und die Spannung der Trosse genau gleich halten. Dieses Warten zerrte mehr an ihren Nerven als die schwerste Arbeit. Diese Ungewißheit, ob die Aktion klappen würde, dieses ununterbrochene, gespannte Beobachten der Instrumente … Dann deutete Inge aufgeregt nach unten: „Hier, siehst du es? Sie winken uns!“ Ein Stein fiel Fred vom Herzen, als er unten eine Gestalt unter dem Dach hervortreten und mit einem weißen Tuch winken sah. Es war das Zeichen, daß der Turm wieder aus eigenen Kräften stand. Sie konnten landen. Die Landung ging glatt vonstatten. Fred öffnete so rasch wie möglich die Tür und prallte zurück. Die Luft war fühlbar dünner geworden, und das Atmen fiel ihm zuerst schwer. Er ging aber so schnell wie möglich hinüber zum Turm, gefolgt von Inge und den. anderen beiden. Blaß und mit dunklen Ringen unter den Augen arbeiteten hier Bill und die beiden anderen Besatzungsmitglieder verbissen mit Schweißgeräten und Hämmern. Der schwerste Teil der Arbeit war aber schon geleistet, denn blanke neue Stahlteile befanden sich da, wo vorher die durch Bergers Sprengung beschädigten gewesen waren. Inge warf einen Blick um sich. „Wo ist Ackermann?“ fragte sie dann. Bill blickte kaum von seiner Arbeit auf. „Im Schiff. Die Düsenstrahlung des Schiffes hat ihn erwischt. Ich erzähle es euch nachher, jetzt müssen wir noch dieses Zwischenstück hier einsetzen, dann sind wir fertig.“ Trotz ihrer Erschöpfung packten auch die vier Neuangekommenen mit an, und eine Stunde später war die Arbeit getan. Jetzt erst gingen sie zum Schiff hinüber, um sich auszuruhen. Im Aufenthaltsraum lag auf einem Sofa der verunglückte Lorenz Ackermann – und an seinem Lager saß ein Later, der sich erhob, als die anderen eintraten und verwundert stehenblieben. Es war Nr. 1. „Er wird durchkommen, ich habe ihm ein Serum gegeben 50
und seine Verletzungen behandelt“, sagte er. „Wir Later sind Ihnen zu großem Dank verpflichtet. Sie wissen, daß wir alle vom Energieschirm abhängig sind. Sind Sie jetzt bereit, hier zu bleiben? Die Heimkehr kann ich Ihnen leider immer noch nicht als Dank anbieten, so gern ich es möchte. Dieses eine steht außerhalb meiner Macht!“ Er blickte dabei die vier Raumfahrer an, die sich beim erstenmal für den Versuch einer Rückkehr entschieden hatten. In diesen vier Männern war während der letzten Stunden etwas Eigenartiges vorgegangen; die schwere Arbeit und das Bewußtsein, hier wirklich gebraucht zu werden, hatte ihnen fast etwas wie ein Gefühl der Verbundenheit mit dieser noch unbekannten Welt gegeben. Der zweite Pilot des Schiffes trat vor und sagte: „Ja, wenn Sie es uns immer noch gestatten, werden wir bleiben. Aber zu danken haben Sie uns nicht. Wir haben uns nur bemüht, einen Schaden wiedergutzumachen, den einer von uns angerichtet hat. Vielleicht können wir Ihnen hier weiterhin nützlich sein. Wir sehen jetzt ein, daß es ein verwerflicher Gedanke war, unserer Heimkehr nach der Erde eine ganze Zivilisation opfern zu wollen, die der unseren weit überlegen ist. Wir werden uns bemühen, diesen Fehler wieder durch unsere Arbeit auszugleichen.“ Er konnte nicht weitersprechen, weil ihn ein Würgen im Hals daran hinderte. Auch die anderen fühlten sich plötzlich seltsam mit diesem Planeten verbunden, den sie gerettet hatten und der nun ihre Heimat werden sollte. Als der Alte sie jetzt der Reihe nach fest ansah, fühlten sie die gleiche Veränderung in ihrem Inneren vor sich gehen wie Fred und die anderen vorher auf dem Hügel, als sie in die Gemeinschaft der Later aufgenommen worden waren. „Ich freue mich darüber“, sagte er. „Draußen stehen schon Wagen, die Sie in Ihr Heim bringen werden. Während der nächsten fünf Tage wird man Ihnen alles beibringen, was Sie 51
zum Leben bei uns brauchen. Dann sind Sie Later und können tun und lassen, was Ihnen beliebt. Auch Ihnen –“ er wandte sich zu den anderen, die sich kaum mehr auf den Beinen halten konnten – „würde ich raten, sich jetzt erst einmal nach der vergangenen Anstrengung auszuruhen.“ Mit diesen Worten war er wieder verschwunden. Draußen standen die versprochenen Fahrzeuge, die sie alle in ihre Wohnungen zurückbrachten. 11. Kapitel Zwei Tage später saßen die übrigen Mitglieder der Expedition in einem Gleiter und sahen gespannt einem Besuch entgegen, den sie seit Tagen immer wieder verschieben mußten. Auch Ackermann hatte sich wieder erholt und war dabei. Sie waren unterwegs, um die Besatzung des bereits vor einem Jahr gelandeten Schiffes zu besuchen. Ein Later steuerte diesmal das Fahrzeug. Nach einer Viertelstunde landeten sie in einer kleinen Stadt, die aber nicht aus den gewohnten flachen Kästen bestand, sondern aus einer riesigen Kuppel und verschiedenen, daneben verschwindend klein wirkenden Nebengebäuden. Auf einem kleinen Landeplatz neben dem Haupteingang zu dem Kuppelbau gingen sie nieder. Eine große Anzahl von Latern bewegte sich hier in kleinen Fahrzeugen hin und her, aber im Eingang standen vier vertraut wirkende Gestalten – drei Männer und eine Frau. Sie kamen den Besuchern mit ausgestreckten Händen entgegen. „Willkommen im Hauptobservatorium unserer neuen Heimat!“ rief ihnen ein grauhaariger, hochgewachsener Mann entgegen, der den anderen vorausgeeilt war. „Ich bin Captain Relling; dies hier sind Herbert Singer, Ray Butcher und Ilmar Jennings. Es wird höchste Zeit, daß Sie uns endlich besuchen kommen, unsere Freunde haben uns zwar schon verschiedenes über Sie berichtet, aber wir freuen uns doch, Sie jetzt direkt 52
kennenzulernen!“ Fred stellte seine Begleiter vor und setzte hinzu: „Wir hatten beim besten Willen noch keine Zeit, denn …“ „Ja, wir haben es beobachtet. Unser Chef hatte uns dazu aufgefordert, obgleich die Later aus irgendwelchen – ich nehme an, religiösen – Gründen nichts von Ihrer Rettungsaktion wissen durften. Wir haben atemlos jede Phase Ihrer Arbeit verfolgt. Es wäre lächerlich, wenn ich Ihnen jetzt ein Lob dafür aussprechen würde – aber es war eine großartige Leistung!“ Die beiden Frauen hatten sich herzlich umarmt und anscheinend sofort Kontakt gefunden. Auch die Männer schüttelten sich gegenseitig die Hand. Dann forderte Captain Relling die anderen auf, mit ihm einzutreten. Die Halle hatte unvorstellbare Ausmaße und war, wie Fred jetzt feststellte, aus einem durchsichtigen Plastikmaterial gebaut. Die Einrichtung bestand aus vier riesenhaften Teleskopen, die bis zur Kuppel reichten, und einer unübersehbaren Zahl von weiteren Geräten. Herbert Singer hatte sich zu Fred gesellt und sagte jetzt lächelnd, als er dessen funkelnde Augen bemerkte: „Nicht wahr, da lacht Ihr Astronomenherz? Mir und Ray Butcher ging es genauso, denn schließlich sind wir ja Kollegen. Wenn wir demnächst zusammenarbeiten, werden Sie sehen, daß es eine vollkommenere Ausstattung für eine Sternwarte nicht gibt.“ „Ja, damit mögen Sie recht haben“, bestätigte Fred und blies die vor Erstaunen angehaltene Luft durch die Lippen, „etwas Ähnliches habe ich wirklich noch nicht gesehen. Und Sie arbeiten bereits seit einem Jahr hier?“ „Seit unserer Landung, oder besser gesagt, seit wir Later geworden sind. Aber kommen Sie jetzt mit, unser Chef wartet bereits auf Sie!“ Sie fuhren mit zwei kleineren Wagen quer durch die Kuppelhalle auf einen anderen Ausgang zu und kamen durch das sich von selbst öffnende Tor wieder ins Freie. Auf der anderen 53
Seite eines weiten Platzes, der sicher einige Kilometer im Durchmesser hatte, hielten die Wagen auf dem Dach eines Kastens, der ähnlich wie ihre Wohnungen aussah. Eine Minute später standen sie in einem großen Wohnraum einem freundlich aussehenden Later gegenüber. Relling stellte ihn als Nummer 2 vor und nannte dann die Namen der Besucher. 2 gab allen die Hand und lud sie zum Sitzen ein. Roboter brachten Erfrischungen. „Ich will Sie nicht lange mit Erklärungen aufhalten“, begann er, „aber wie Sie sich sicher denken können, befindet sich hier das Beobachtungszentrum unseres Planeten. Von hier aus verfolgen wir Tag und Nacht die Vorgänge draußen im Universum und natürlich auch auf unserem Nachbarplaneten, der Erde. Ich bin überzeugt, daß ich zumindest die Fachleute unter Ihnen jetzt öfter hier sehen werde, denn der Bewahrer des Schirms wünscht, daß unsere Einrichtungen Ihnen zur Verfügungen stehen. Vielleicht wünschen Sie sogar, in unserem Stab mitzuarbeiten – Sie sind uns willkommen. Eins der vier Fernrohre wird von der Zentrale aus ferngesteuert und dient Nummer 1. Es überträgt alle Beobachtungen in seine Zentrale. Ein anderes ist ständig auf die Erde gerichtet, und die beiden anderen beobachten verschiedene andere bewohnte Welten draußen im All. Aber Sie werden alles noch selbst sehen.“ Er blickte sich prüfend um und fragte dann plötzlich erstaunt: „Ich vermisse noch Ihren Kapitän und Herrn Salarni, der bei der Landung doch ebenfalls im Schiff war. Sind die beiden nicht mit hierhergekommen?“ Relling warf Fred rasch einen warnenden Blick zu aber der antwortete schnell: „Salarni hat, vermutlich in einer Anwandlung der Verzweiflung, die Auflösung vorgezogen. Und Kapitän Berger ist leider durch einen unvorhergesehenen Unfall um das Leben gekommen. Wir konnten beide nicht mehr retten.“ Nachdenklich meinte 2: „Dann wird unser Herr einen Grund 54
gehabt haben, dies nicht zu verhindern. Wir wollen die beiden nicht wieder erwähnen, das ist auf Lat nicht üblich. Aber mit Ihnen möchte ich noch lange Zeit zusammenarbeiten, denn –“ er warf einen Blick auf Bill, „– denn einen Journalisten hat es auf Lat noch nicht gegeben!“ Der räusperte sich und warf sich in die Brust: „Dann bin ich hier also das erste Mitglied einer neuen Zunft. Fred, Sie haben es gehört! Allerdings leider einer Zunft, die bei dem Stand Ihrer Technik so ziemlich die Bedeutung haben dürfte, die einem Produzenten von Feuersteinmessern heute auf unserer alten Erde zukommen würde!“ Über das resignierte Gesicht, das er dabei machte, mußten alle lachen, auch der Later, obwohl der über die Steinzeit nicht viel wußte. Er erinnerte sich jedoch an Filme, die vor Jahrtausenden von Beobachtungen auf der Erde gedreht worden waren und verstand wenigstens den Sinn des Witzes. Anschließend waren die acht Freunde zu Gast bei den vier anderen „Neubürgern“ und hatten sich viel zu erzählen, obgleich das meiste keine Neuigkeit darstellte. Die Beobachtungen der Erde waren wirklich ziemlich genau, wie Fred feststellen mußte. Aber alle brachen doch in herzhaftes Lachen aus, als sie hörten, wie die beiden Frauen in ein Gespräch über Mode vertieft waren! Sie besprachen bereits neue Modelle, die sie aus dem Wunderstoff dieses Planeten schneidern wollten und stellten sich begeistert vor, welch herrliche Möglichkeiten das gab. „Ihr müßt unbedingt einen Modesalon eröffnen“, prustete Herbert Singer, „denn ich habe mir sagen lassen, daß auch die Laterinnen nicht ohne Eitelkeit sind.“ Ilmar nahm diesen Gedanken begeistert auf, und Captain Helling sagte dem Unternehmen einen Riesenerfolg voraus. „Ich mache dann ein Boulevardblättchen auf“, rief Bill Bones, „mit Sensationsmeldungen aus allen Teilen des bewohnten Universums, das täglich erscheinen soll und jede Konkurrenz 55
schlagen …“ Er besann sich einen Augenblick und lenkte dann betrübt ein: „Aber es gibt ja weder eine Konkurrenz noch Zeitungsjungen. Noch nicht einmal Papier wird vermutlich aufzutreiben sein! Schluß, Feierabend, Schwamm drüber! Vergeßt es!“ So saßen sie den Abend zusammen und schmiedeten große Pläne. Als Ray Butcher davon berichtete, wie genau man alle Vorgänge auf der Erde beobachten könne und daß die Reichweite der Teleskope so unvorstellbar sei, daß er neulich sogar die Schlagzeilen einer auf der Mainstreet in Chicago liegengebliebenen Times lesen konnte, wurde Fred nachdenklich. Als er nachher allein auf seinem Ruhebett lag, konnte er nicht einschlafen. Ein verwegener Gedanke war ihm gekommen. Er erinnerte sich nämlich daran, daß in dem Augenblick, als ihr Schiff in den Negativschirm getaucht war, alle Gegenstände, alle Begriffe, alle Strahlen absolut neutralisiert worden waren. Auch er selbst war nicht mehr vorhanden. Aber er konnte noch denken! Elektrisiert sprang er auf und setzte sich mit 2 in Verbindung. 12. Kapitel Zehn Minuten später saß Fred in einer geräumigen Kabine unter dem Rohr, das auf die Erde eingestellt war. 2 stand neben ihm und erklärte ihm, wie das Gerät arbeitete. Ein Mattglasschirm nahm die ganze Wand der halbverdunkelten Kabine ein. Ein Pult neben seinem bequemen Sitz enthielt verschiedene Skalen, Scheiben und Hebel für die Einstellung des Teleskops. Fred begriff sehr schnell und wunderte sich, wie einfach diese Mammutgeräte zu bedienen waren. Dann ließ ihn 2 verständnisvoll allein und Fred schaltete die Scheibe des Projektors ein. Mit einem Ausschnittsucher stellte er das Quadrat ein, in dem sich Rocket Plane befinden mußte. Eine gelbe Fläche er56
schien auf dem Gerät, eine ebene, ausgestorbene Wüste, an deren Rand einige Gebäude standen. Ungeduldig drehte Fred an einem Rädchen – aber zu hastig, denn im Augenblick war das Bild verändert und zeigte eine schwarzblaue, wogende See. Fred versuchte es noch einmal und bekam dann sofort die Stadt ins Bild. Die Wiedergabe war klar und sah aus wie eine Luftaufnahme aus 5000 Meter Höhe. Fred visierte das Wohnhaus von Professor Degler an und zitterte dabei vor innerer Spannung. Wenn das wirklich gelang, was er vorhatte …! Ganz vorsichtig rückte er das Bild näher heran, bis er das Dach des Hauses wie aus 20 m Entfernung vor sich hatte. Nach der Helligkeit zu urteilen, mußte es etwa Mittag sein. Millimeter um Millimeter legte Fred dann einen kleinen Hebel um, der einen komplizierten Neutralisator einschaltete, mit dessen Hilfe der Blick durch tote Materie dringen konnte. Das Dach verschwamm langsam und gab einen Blick in das obere Stockwerk des Hauses frei. Es war leer. Dann löste sich der Fußboden auf und Fred blickte mit angehaltenem Atem in das Wohnzimmer von Professor Degler. Ein Ausruf der Freude entfuhr ihm, als er den Gelehrten auf einem Sofa liegen sah! Die vertrauten Züge schienen ihm greifbar nahe zu sein, und doch trennten ihn Millionen von Kilometern von der Erde. Er war jedoch zu sehr in Anspruch genommen, um sich über die Vollkommenheit der Lauschen Technik Gedanken zu machen. Degler lag auf dem Rücken und hatte seine Augen sinnend zur Decke gerichtet. Er sah sehr müde aus. Fred konnte ihm die Sorgen der vergangenen Tage anmerken, da die Verbindung zwischen der Station und dem Schiff nicht mehr bestand. Fred blickte von dem Schirm weg und versuchte, seine Aufregung zu meistern. Das Experiment, das er vorhatte, erforderte höchste Konzentration aller Willenskräfte. Nach einigen Minuten hatte er sich gesammelt und richtete seine Blicke wieder auf den Schirm. Degler lag noch da wie vorher, er hatte sich nicht 57
bewegt. Fred stellte das Bild noch schärfer ein und suchte dann die Augen des Freundes, die direkt auf ihn gerichtet zu sein schienen. Das erleichterte sein wahnwitziges Vorhaben, das jeder vernünftige Mensch für kompletten Unsinn gehalten hätte. Er konzentrierte all seine Willenskraft auf einen Gedanken; der jetzt wahrscheinlich auch den Professor beschäftigte: Inge lebt – Inge lebt! Immer wieder dasselbe: Inge lebt – Inge lebt … Der Ältere wurde unruhig, Fred beobachtete, wie er sich suchend umblickte und dann den Kopf schüttelte. Dann drehte sich Degler auf die Seite und schloß die Augen. Aber gleich wälzte er sich wieder herum und zeigte in seinem Benehmen große Unruhe. Fred schaltete das Gerät ab. Er frohlockte innerlich und hätte laut jubeln können, denn das Unmögliche war gelungen: Es schien ihm möglich, eine Verbindung mit der Erde aufzunehmen! Der menschliche Wille kennt keine Schranken! Und es mußte möglich sein, sich auf diese Weise mindestens mit Degler in Verbindung zu setzen, wenn er noch größere Anstrengungen machte, sich zu konzentrieren. Fred kletterte eilig in seinen Wagen und wischte sich dabei den Schweiß fort, der ihm von der ungeheuren Willensanstrengung noch auf der Stirn stand. Er fuhr geradewegs zu Inges Wohnung und weckte sie. Inge fuhr erschrocken empor und sah das triumphierende Leuchten in Freds Augen. „Was ist geschehen?“ fragte sie verwirrt. „Ich habe deinen Onkel gesehen!“ – Mit einem Satz saß Inge aufrecht. Ihre Augen wurden weit. „Wo? Ist er hier gelandet?“ „Nein, das nicht.“ Fred strich ihr beruhigend über das Haar, als sie enttäuscht wieder zurücksank. „Aber mit den Ferngeräten konnte ich in seine Wohnung schauen und –“ Inge hatte sich in höchster Spannung wieder halb aufgerichtet und unterbrach ihn: „– und was?“ 58
„Und ich habe festgestellt, daß es eine Möglichkeit geben muß, auf dem Wege der Telepathie mit ihm in Verbindung zu treten!“ Inges Augen wurden unvermittelt naß. Sie lehnte sich an Freds Schulter und sagte lange Zeit nichts. Dann setzte sie sich gerade, und war mit einem Mal wieder die kühle, klar denkende Wissenschaftlerin, die dem Ergebnis eines Versuchs nachspürt. Sie stellte präzise Fragen und Fred gab nur genaue Auskunft über sein Experiment, verwundert darüber, wie schnell sich dieses Mädchen fassen konnte. „Ja, das stimmt“, meinte sie dann, „auch mir fällt jetzt ein, daß mein Denken in dem völligen Blackout des Eintauchens in den Schirm noch funktionierte. Du hast recht, irgendwie müßte das gehen! Aber wie sollen wir es fertigbekommen, bestimmte Gedanken oder sogar abstrakte Überlegungen zu übertragen?“ „Man müßte seinen Willen vervielfachen können.“ Überrascht sah ihn Inge an. „Du hast es gefunden!“ rief sie. „Ja das ist die Möglichkeit! Warte einen Augenblick!“ Sie griff nach ihrem Schaltpult, rief Bill Bones und Ackermann an, und bat sie, sofort nach hier zu kommen. Fred sah sie verständnislos an. Aber fröhlich nickte sie ihm zu: „Abwarten, lieber Fred, ich habe eine Idee!“ Als die beiden anderen, noch ein wenig verschlafen, aber auf Neuigkeiten gespannt, Platz genommen hatten, forderte Inge zunächst Fred zu einem genauen Bericht auf. Der wiederholte genau das, was er zuvor bereits Inge erzählt hatte. Dann sagte Inge einfach: „Wenn wir uns alle zusammen gemeinsam auf einen Gedanken konzentrieren und versuchen, ihm den zu übermitteln –“ Fred fiel ihr so unvermittelt um den Hals, daß die beiden anderen lachen mußten. „Goldmädel!“ rief er. „Du hast das Richtige getroffen!“ „Nun beruhige dich mal“, wehrte Inge, ebenfalls lachend, ab, 59
„ich weiß doch noch nicht, ob es klappen wird! Aber versuchen können wir es einmal. Wir sind alle zusammen keine Hypnotiseure und in diesen Dingen ohne jede Erfahrung. Aber vielleicht kommen wir mit einiger Übung doch dahin, nach und nach sogar genaue Angaben ‚senden’ zu können. Nur mache ich einen Vorschlag: Es ist leichter, einem Medium ein Bild zu vermitteln als einen Gedanken, der sich in Worten ausdrückt, besonders deshalb, weil mein Onkel ein starkes fotografisches Gedächtnis hat und mehr auf bildmäßige Eindrücke reagieren wird.“ Bill schlug vor: „Am meisten wird er wohl an Sie denken, Inge. Wir müssen also versuchen, ihm ein Bild von Ihnen zu übertragen, und zwar alle übereinstimmend dasselbe. Sie werden sich also als Modell zur Verfügung stellen müssen, am besten in der Kleidung, die Sie im Augenblick tragen. Wenn ihn der Gedanke wirklich mit einiger Klarheit erreichen sollte, wird er vielleicht daran sehen, daß wir erstens noch am Leben sind und zweitens, uns in einer Zivilisation befinden müssen, in der man andere Kleider trägt. Ob er allerdings seiner Phantasie trauen wird, ist eine andere Sache.“ „Einen Versuch müssen wir wagen“, sägte Ackermann, „obgleich die Möglichkeit besteht, daß der Professor dann meint, nur sein ständiges Denken an unser ungewisses Schicksal nette ihn halb verrückt gemacht, so daß seine überreizten Nerven ihm Phantasiegebilde vorgaukeln. Wenn wir die Übertragung aber genau in gleichmäßigem Rhythmus wiederholen, wird er vielleicht doch aufmerksam.“ Inge stimmte zu. „Wenn er einmal merkt, daß es sich um einen von außen kommenden Einfluß handelt, wird er vielleicht auf die richtige Idee kommen. Und sobald er sich über den Ursprung der Übermittlungen klargeworden ist, halte ich ihn für klug genug, sich so aufgeschlossen zu verhalten, daß uns weitere Mitteilungen leichter fallen werden.“ 60
Fred hatte noch ein Bedenken. „Müssen wir nicht den Bewahrer des Schirms davon unterrichten?“ „Ja“, sagte Inge sofort, „ich halte es für unanständig, etwas von so großer Tragweite zu unternehmen, ohne ihn um seine Einwilligung zu bitten. Er wird sie uns nicht verweigern.“ Erschrocken drehte sie sich um, als neben ihnen eine ruhige Stimme sagte: „Nein, das wird er nicht!“ Der Genannte war ungesehen hereingekommen. Er fuhr fort: „Als ich Sie alle hierhereilen sah, dachte ich mir, daß etwas Besonderes vorgefallen sein müßte und kam auch. Ich habe Ihr Gespräch gehört und bin damit einverstanden, daß Sie den Kontakt mit Professor Degler aufnehmen. Ich bewundere Sie dafür, daß Sie auf diese Idee kamen! Gedanken sind wirklich das einzige, was unseren Energieschirm nach außen hin durchdringen kann.“ „Warum sind Sie nicht schon längst mit uns in Verbindung getreten, wenn Sie diese Möglichkeit kannten?“ fragte Ackermann den Alten. Natürlich, fiel es Fred ein, warum üben die Later nicht schon längst ihren Einfluß auf die Erde aus? Der Alte schüttelte den Kopf. „Nein, das können wir leider nicht. Sie werden bemerkt haben, daß die höherstehenden Later sich durch Gedanken verständigen können und daß ich auch Ihre Gedanken lesen kann. Aber das Gehirn der Erdenmenschen ist so beschaffen, daß es uns nicht möglich ist, ihnen unsere Gedanken zu übermitteln oder ihnen sogar telepathische Befehle zu erteilen. Wenn ich das könnte, hätte ich manchen Krieg verhindert.“ Fred war darüber erstaunt, daß auch diesem Mann solche Schranken auferlegt waren. Erst schien es ihm, daß dieser alles können müßte. Und sie, gerade sie sollten es fertigbringen, über Millionen Kilometer Entfernung hinweg ihren im Vergleich zu diesem Wesen schwachen Willen wandern zu lassen? Jetzt kamen ihm doch Zweifel an der Durchführbarkeit seines Vorhabens. 61
Der Bewahrer des Schirms hatte seinen Gedanken erkannt. Er nickte ihm zu und sagte: „Ja, Sie können es! Wenn Sie Ihre Gedanken auf ein gemeinsames Ziel konzentrieren, werden Sie damit den Schirm und die Entfernungen überwinden und der Erde die Botschaft unserer Welt übermitteln, einer Welt, die keinen Krieg kennt, die aber auch zu schwach ist, um selbst noch entscheidend handeln zu können. Wir können uns nur mit den technischen Mitteln schützen, die uns unsere Vorfahren hinterlassen haben, aber schöpferisch wie die Erde ist Lat nicht mehr. Dies ist die große Aufgabe von der ich sprach, als wir uns zum erstenmal auf dem Hügel trafen: Ihr Wille wird eine Brücke schlagen zwischen Lat und der Erde und Ihren Brüdern drüben unsere Weisheit vermitteln, die eine Weisheit der Jahrtausende ist. Und einige wenige Männer von der Erde werden kommen und mit ihrer jungen Kraft unsere Rasse wieder stark machen. Denn nur für wenige Jahre noch reichen unsere Vorräte; dann müssen wir entweder untergehen oder mit neuer Kraft das Werk derer fortsetzen, die unser Leben aus der Katastrophe gerettet haben. Wir brauchen eure Hilfe, um am Leben zu bleiben, und ihr braucht unser Wissen, um euch nicht in einem neuen Weltkrieg selbst zu vernichten. Die Zusammenarbeit beider Welten aber wird ihren Fortbestand sichern!“ 13. Kapitel „Nein, mein lieber Professor, das Schiff müssen wir als verloren betrachten!“ Mr. Roberts, der Präsident des IAI (Internationales Astronautisches Institut) lehnte sich in seinem Klubsessel zurück und drehte ein wenig verlegen die schwarze Brasil zwischen seinen dicken Fingern, Gefühlsregungen lagen seiner Natur fern, aber der von Sorge gebeugte Mann, der da vor ihm saß, dauerte ihn doch. „Ich kann ja verstehen“, fuhr er fort und versuchte, seiner 62
nüchternen Stimme einen, persönlicheren Klang zu geben, „daß Sie der Verlust Ihrer Nichte hart trifft. Aber bei der Raumschiffahrt müssen wir eben immer mit Verlusten rechnen, besonders wenn es sich um so gewagte Unternehmen handelt wie das unsere. Ich habe schließlich …“ „Roberts, hören Sie: Ich weiß, daß Inge Waller noch lebt! Ich weiß es! Verlangen Sie keine wissenschaftlichen Belege von mir, ich könnte sie nicht beibringen. Zum erstenmal in meinem Leben glaube ich etwas ohne Beweis.“ Es blieb eine Weile still zwischen den beiden ungleichen Männern. Dann fragte Roberts: „Und was wollen Sie der nächsten Konferenz erzählen?“ „Das muß ich mir noch überlegen. Vielleicht dasselbe, was ich Ihnen heute sagte. Vielleicht kann ich dann auch schon mehr sagen. Bis dahin sind noch etwa zwei Wochen, es kann sich noch manches ereignen.“ Professor Degler fing einen verstohlenen Blick auf, den Roberts nach der Uhr warf. Sofort erhob er sich. „Ich will Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen, Mr. Roberts. Ich danke Ihnen dafür, daß Sie mich wenigstens angehört haben, und ich kann begreifen, daß Sie mir nicht glauben wollen oder können. Warten wir also ab. Ich werde Sie auf dem laufenden halten. Sagen Sie vorerst den Reportern noch nichts über meine Vermutung, bitte!“ „Nein, nein. Selbstverständlich nicht. Aber es wird schwierig sein …“ Er kam nicht weiter, weil das Telefon klingelte. Colonel Hamilton, der mächtige Verleger des New York Star, meldete sich und fragte nach Neuigkeiten. „Nichts, bisher noch gar nichts. Colonel!“ antwortete Roberts fest. „Wie bitte? – Ob wir Verbindung haben? – Nein, seit einigen Tagen leider nicht mehr, ich sagte es Ihnen schon. – Nein, aufgegeben haben wir das Schiff noch nicht! – Wie lan63
ge? – Kann ich Ihnen beim besten Willen noch nicht sagen. – Ja, natürlich, sofort, wenn ich Ihnen etwas Neues mitteilen kann! Wiedersehen!“ Er seufzte tief. „Sie sehen, Professor, es geht schon wieder los! Morgen oder übermorgen schon wird die Weltpresse in großer Aufmachung melden, daß wieder ein Raumschiff verlorengegangen ist. – Wir hätten das wahnsinnige Unternehmen sein lassen sollen. Jetzt bekommen wir viel Ärger damit. Zwei große Schiffe innerhalb von vierzehn Monaten – nein, es ist etwas mehr – aber das macht die Sache auch nicht besser. Gehen Sie jetzt nach Hause und warten Sie ab, vielleicht meldet sich Fred More noch. Es könnte auch die Funkanlage ausgefallen sein!“ „Und die Radarpeilungen? Würden die nicht wenigstens den Standort des Schiffes zeigen?“ fragte Degler. „Lassen wir das für heute, wir kommen so nicht weiter! Auf Wiedersehen, Professor, und nehmen Sie sich die Sache nicht zu sehr zu Herzen!“ setzte er etwas weicher hinzu. Die beiden Männer drückten sich die Hand, dann ging Degler müde zu seinem Flugwagen hinauf, der auf dem Dach des IAI-Verwaltungsgebäudes parkte. 14. Kapitel Inge Waller, Fred More, Lorenz Ackermann und Bill Bones blickten auf eine Uhr, die nach der Zeit von Rocket Plane gestellt war. „Noch zwei Minuten, dann ist es soweit!“ verkündete Fred More. „Wir wollen genau dieselbe Zeit einhalten, die ich gestern notierte. Wenn er meinen Anruf erkannt hat, wird er versuchen, zur selben Zeit ein weiteres Signal zu erhalten. Hoffentlich gelingt es uns!“ „Hoffentlich!“ preßte Inge heraus. „Es hängt viel davon ab, 64
ob er uns versteht. Wir verlangen aber auch sehr viel von ihm. Er muß den Wissenschaftler in seiner Brust zum Schweigen bringen, um …“ „So, jetzt die Feineinstellung, es ist gleich so weit!“ Fred setzte sich an die Geräte und begann mit der Arbeit. Wie gestern erschien auf der Sichtwand erst ein großer Ausschnitt Amerikas, den er durch immer weitergehende Vergrößerung einengte, bis das Haus des Professors im Rocket Plane fast die ganze Wandfläche einnahm. Dann legte er Millimeter um Millimeter den Hebel herum, der einen komplizierten Neutralisator in Tätigkeit setzte. Das Dach des Hauses wurde durchscheinend und verschwand dann ganz, langsam drang der Blick bis in das Wohnzimmer im Erdgeschoß. Inge stieß einen Freudenschrei aus. „Da liegt er, er ist es wirklich!“ „Ja“, bestätigte Fred, „er liegt in genau derselben Lage wie gestern. Ob das nur eine Gewohnheit von ihm ist? Oder hat er meinen Ruf gestern doch richtig gedeutet? Einerlei, wir müssen es noch einmal versuchen!“ Der Professor lag auf dem Rücken, die Augen angespannt zur Decke gerichtet, als ob er erwartete, dort etwas zu sehen. Es war offensichtlich, daß er sich nicht zufällig in dieser Lage befand. Degler machte eine unruhige Bewegung. „Er fühlt sich beobachtet!“ bemerkte Bill Bones. „Anscheinend ist er doch ein besseres Medium, als wir befürchtet hatten!“ „Ruhe jetzt! Und äußerste Konzentration!“ kommandierte Fred. Dann richteten sich sechs Augen auf Inge, um möglichst genau ihr Bild in sich aufnehmen. Die kleinsten Abweichungen untereinander konnten alles scheitern lassen. Inge bewegte sich nicht, obgleich sie in jeder anderen Situation die abschätzenden Blicke von sechs Männeraugen, die jede Einzelheit ihres Gesichtes, ihrer Kleidung, ihrer Haltung und ihrer Figur abtasteten, in höchste Verlegenheit versetzt hätten. Ganz besonders, weil sie doch die Kleidung der Later trug: nur eine Art Toga aus grün65
schimmerndem Kunststoff, die fast vollkommen durchsichtig war und jede Einzelheit ihres schlanken, mädchenhaften Körpers erkennen ließ. Sie war jedoch schon zu sehr Laterin, um auch nur mit der Wimper zu zucken oder den Versuch zu unternehmen, vor den Männeraugen etwas zu verbergen. Sie wußte genau, worum es ging, und sie wußte auch, daß diese scharf beobachtenden Augen objektiv waren wie das Objektiv einer Kamera. „Jetzt!“ flüsterte Fred. Zugleich wandten sie ihren Blick auf den Bildschirm und suchten Deglers weit geöffnete Augen. Mit äußerster Willensanstrengung dachten sie an Inge, wie sie vor ihnen stand, und blickten Degler dabei fest an. Bald standen ihnen der Schweiß auf der Stirn. Der Professor wischte sich verwundert über die Stirn, schloß die Augen für einen Moment, um dann wieder angespannt nach oben zu blicken. Langsam verwandelte sich sein Gesichtsausdruck und zeigte deutlich ungläubiges Staunen. Dann schien es fast, als ob er etwas verlegen würde. Die drei konnten einfach nicht mehr. „Wir haben es geschafft!“ jubelte Inge. „Er hat uns verstanden!“ Jetzt blickte auch sie auf den Schirm, der die ganze Wand des Raumes einnahm. Sie beobachteten nur noch, zum „Senden“ waren sie nicht mehr in der Lage. Es schien fast, als ob Degler auf weitere Nachrichten wartete, dann – nach etwa zehn Minuten – stand er entschlossen auf und verließ hastig den Raum. Fred schaltete das Gerät ab. Erschöpft schwiegen die vier eine ganze Weile, dann meinte Ackermann grübelnd: „Ich glaube, unser Versuch ist gelungen. Aber wie sollen wir ihm längere Nachrichten übermitteln? Wie sollen wir zum Beispiel abstrakte Begriffe durchgeben? Diese Anstrengung ist zu groß, um für mehr als ein paar Minuten ausgehalten zu werden. Und in diesen Minuten können wir höchstens Bilder von Dingen oder Personen senden.“ 66
„Ich hoffe“, sagte Inge aufatmend, „daß er jetzt jeden Tag zur gleichen Stunde auf unsere Nachrichten warten wird. Solange, bis er genau weiß, was wir zu sagen haben und was wir wollen. Vielleicht wird er uns sogar helfen.“ „Wir sind eben keine geübten Schlangenbändiger!“ rief Bill in komischer Verzweiflung aus und löste damit wieder einmal die Spannung, die über der Gesellschaft lag. „Wir müssen üben, üben und nochmals üben!“ „Sie haben es erfaßt!“ lachte Fred. „Wir werden uns also einem Schnellkursus der Fernhypnose unterziehen müssen! Oder hat jemand einen besseren Vorschlag?“ „Nein, noch nicht“, Inge sagte es ein wenig zögernd, „aber vielleicht fällt uns im Laufe der Zeit noch etwas ein. Jetzt wollen wir schlafen gehen und morgen weiter darüber reden.“ Der Vorschlag wurde als sehr vernünftig akzeptiert. Sehr nachdenklich fuhren die vier mit ihren Gleitwagen in ihre Wohnungen. Am nächsten Morgen meldete sich Fred More beim „Bewahrer des Schirms“ und berichtete vom Erfolg des Versuchs. Der Alte hörte ihm nachdenklich zu und meinte dann: „Ich weiß, ihr habt keine leichte Aufgabe vor euch. Aber Fred, Sie wissen auch, daß wir die Verbindung zur Erde einfach herstellen müssen! Dies ist für beide Planeten eine Lebensnotwendigkeit. Ich habe Ihnen die Situation ja bereits erklärt. Wir brauchen die Erde, und die Erde braucht uns, wenn sie sich ohne unsere jahrtausendealte Weisheit nicht selbst zerstören soll.“ 15. Kapitel Auf der Erde hatte sich inzwischen allerhand ereignet. Der Professor stürzte atemlos in Mr. Robert’s Büro und rief gleich an der Tür: 67
„Ich weiß es jetzt, Sie lebt noch! Und die anderen müssen auch noch leben!“ Über Robert’s Gesicht flog ein Schatten des Unmuts. Er bot jedoch dem Deutschen höflich einen Sessel und Zigaretten an und sah ihm dann erwartungsvoll ins Gesicht. „Ja, zur gleichen Stunde, zur selben Minute spürte ich den Kontakt wieder. Sie übermittelten mir ein Bild von Inge, wahrscheinlich weil sie dachten, ein deutliches Bild würde ich besser und leichter aufnehmen als eine Mitteilung, die aus Worten besteht. Ich habe sie ganz deutlich gesehen!“ Roberts zog an seiner Zigarre. Dann fragte er zweifelnd: „Und wie wollen Sie wissen, daß Ihnen das Bild von außerhalb übermittelt wurde? Ist es nicht viel wahrscheinlicher, daß sich Ihre Gedanken so viel mit dem tragischen Geschick Ihrer Nichte beschäftigen, daß Sie ganz einfach ihr Bild vor sich sehen und sich einreden, sie müsse einfach leben?“ Brüsk erhob sich Degler. „Ich sehe, daß Sie mich nicht ernst nehmen und mir kein Wort glauben. Entschuldigen Sie, daß ich Ihre kostbare Zeit in Anspruch nahm! Ich darf mich jetzt empfehlen!“ Ohne auf die höflichen Einwände des Gewaltigen zu achten, verließ er rasch den Raum und ließ einen sehr nachdenklichen Mr. Roberts zurück. Jetzt zum Schluß machte der Professor doch den Eindruck, als wüßte er ganz genau, was er wollte. – Sollte …? Nein! Der nüchterne Verstand des Amerikaners behielt die Oberhand. Er wischte den Gedanken an das kurze Gespräch mit Degler, das eigentlich nur ein Monolog war, mit einer energischen Handbewegung weg und ging wieder an seine Arbeit. Degler stürzte aus dem Gebäude des IAI, ohne nach links oder rechts zu sehen. Fast wäre er gegen einen hageren, mindestens 1,90 großen Mann gerannt, an dem das zu einer Bürste geschnittene blonde Haar besonders auffiel. Er murmelte eine 68
Entschuldigung und wollte weiter, aber der andere rief hinter ihm her: „Hallo, Herr Professor Degler, wenn ich mich nicht irre?“ Der Angeredete drehte sich unwillig um und blickte in ein freundlich grinsendes Gesicht. „Ich bin Gray Bust, vom New York Star“, stellte sich der Lange vor. „Eigentlich wollte ich eben Roberts interviewen, aber ich würde mich sehr freuen, wenn ich mich auch mit Ihnen ein paar Minuten unterhalten dürfte!“ „Gray Bust“, überlegte Degler laut, „der Chefredakteur vom Star?“ „Jawohl, derselbe! Haben Sie nicht einen Augenblick Zeit für mich? Vielleicht könnten wir irgendwo eine Tasse Kaffee zusammen trinken. Ich will Ihnen auch nicht lange lästig fallen, denn Sie haben sicher Sorgen genug!“ In Degler blitzte eine Idee auf. Ja, diese Gelegenheit wollte er beim Schopf ergreifen! Vielleicht gelang es ihm diesen zweitwichtigsten Mann der größten Zeitung des Kontinents zu überzeugen! Dann war alles gewonnen. „Ja, gut. Danke vielmals! Ich habe es nicht sehr eilig, kann doch nichts anderes tun als warten.“ Gray Bust horchte auf. Warten? Worauf wartete er noch? Das Schiff galt doch allgemein als verloren, wenn auch noch keine offizielle Bestätigung von seiten des IAI gegeben war. Sein Spürsinn begann zu arbeiten. Vielleicht ergatterte er hier einen Knüller, wie ihn sein bester Reporter, Bill Bones, nicht beibringen konnte! Sie setzten sich in das nächste Café. Degler war dort schon bekannt. „Guten Tag, Herr Professor – guten Tag!“ „Guten Tag, Lucy!“ sagte Degler. „Wir hätten gern einen starken Kaffee!“ Die Serviererin lief geschäftig weg. Dann brachte sie den Kaffee und hielt sich unauffällig in der Nähe auf. Sie wollte 69
doch hören, was es Neues gab! Schließlich war Steve Berger, der Kapitän des verschwundenen Raumschiffs, ein hübscher Kerl gewesen, der ihr gut gefallen hatte. Natürlich nicht so gut, daß er in ihrem Herzen ein Monopol innehatte, aber immerhin! Es war immer gut, informiert zu sein. Der andere mit dem Bürstenschnitt sah ganz so aus, als ob er von der Zeitung käme, also würde er Degler ausfragen. Gray Bust brauchte den Wissenschaftler nicht auszufragen. Zu seinem Erstaunen erzählte er ihm die ganze Story freiwillig. Bust wurde innerlich immer aufgeregter und schielte mit einem Auge nach der Telefonkabine. Dann hielt er es nicht mehr länger aus. „Entschuldigen Sie mich einen Augenblick, Herr Professor! Ich glaube, ich habe heute schon zuviel Kaffee getrunken!“ Rasch lief er zu den Toiletten, wo auch eine Telefonzelle stand. Er wählte die Nummer seiner Zeitung und ordnete an, die Maschinen zu stoppen, die gerade anfingen, die Mittagsausgabe zu drucken. Der Hauptartikel auf der ersten Seite, sollte herausgeworfen und weitere Anweisung von ihm abgewartet werden. Freundlich lächelnd setzte er sich wieder. „So, jetzt geht es mir bedeutend besser! – Also die Expedition sollte nicht nur Messungen und Aufnahmen vom Pluto holen? Das ist ja interessant! Erzählen Sie doch weiter!“ Degler berichtete alles, von Anfang an. Er machte auch keinen Hehl aus seiner festen Absicht, die Öffentlichkeit nunmehr über alle Einzelheiten des Geheimauftrages zu unterrichten. Er berichtete auch, daß Inge Waller bereits zweimal Kontakt mit ihm aufgenommen habe. Gray Bust unterdrückte seine Zweifel und sagte sich, daß diese Geschichte nun mal ein wirklicher Knüller war, auch wenn ein paar Einzelheiten nicht stimmen mochten. Er hörte aufmerksam bis zum Ende zu und verabschiedete sich dann schnell. Im Laufschritt eilte er nach dem hiesigen Redaktions70
büro des Star und gab über Fernschreiber seinen Bericht nach New York durch. Er rieb sich vergnügt die Hände. Eine tolle Sache war es doch für den New York Star, als erste Zeitung das Geheimnis der verschollenen Expedition lüften zu können! Degler mußte selbst sehen, wie er seine Geschwätzigkeit mit Roberts wieder in die Reihe brachte. Zwar hatte der Star schon früher in einer Reportage von Bill Bones den wahren Zweck der Expedition aufgedeckt und damit einiges Aufsehen erregt, aber es waren nur halbe Bestätigungen von offizieller Seite erfolgt und niemand glaubte die Geschichte so recht. Nun ein Sonderinterview mit Professor Degler selbst! Das mußte einfach hinhauen! Wutschnaubend hielt Roberts zwei Stunden später die Nachmittagsausgabe in der Hand. Jetzt war der alte Professor vollkommen verrückt geworden. Was der sich eigentlich einbildete, ohne Abstimmung mit ihm, dem Präsidenten der IAI, eine solche Veröffentlichung zu starten! Wie ein Elefant im Porzellanladen! Es war ihm schon schwergefallen, die Gemüter nach der gefunkten Reportage von Bill Bones zu beruhigen aber dies hier … Er schmiß die Zeitung schwungvoll in den Papierkorb, holte sie jedoch gleich darauf wieder heraus und glättete sie sorgfältig. Seine Gedanken formten einen ganz bestimmten Plan. Dann griff er zum Telefon. Wieder zwei Stunden später hielt ein geschlossener Wagen vor dem Haus des Professors. Zwei handfeste Männer holten ihn in den Wagen und schlossen hinter ihm ab. Im Eiltempo wurde er „zur Untersuchung“ ins Irrenhaus eingeliefert. Das war der Grund dafür, daß die vier Freunde an diesem Abend vergebens auf das Erscheinen Deglers warteten – das auf dem Fernsehschirm abgebildete Zimmer blieb leer. Nach zwei Stunden schaltete Fred resigniert den Apparat ab. 71
16. Kapitel Der Bedeutung des New York Star gemäß wurde diese Zeitung nicht nur in Amerika, sondern auch in Europa in allen größeren Städten gelesen. Fast zur selben Stunde erschien sie an allen wichtigen Plätzen, weil sie an verschiedenen Stellen gedruckt wurde. Die New Yorker Redaktion sandte die fertigen Seiten an die weitverzweigten Druckereien, wo diese mit Hilfe einer raffinierten Technik sofort in druckreifem Zustand ankamen. So war es möglich, daß nicht nur Roberts, sondern auch noch zwei andere Männer an ganz verschiedenen Stellen des Globus mit größtem Interesse den Hauptartikel studierten, der eigentlich nur als Knüller für die Massen gedacht war. Diese beiden waren René Fourge in Marseille und Igor Fascotzki in Moskau. Die Reaktion bei beiden war jedoch völlig unterschiedlich. Fourge fuhr zum nächsten Reisebüro und buchte eine Flugkarte nach Rocket Plane, während Fascotzki, der Chef des russischen Astronautischen Instituts, eine Konferenz einberief. Beide zeigten jedoch nur halb so viel Skeptizismus wie Roberts, ihr amerikanischer Kollege. Degler versuchte alles mögliche, um den Leiter des Irrenhauses von seiner ganz normalen geistigen Verfassung zu überzeugen. Der hatte es aber anscheinend in seinem Leben schon mit den verschiedensten Typen zu tun gehabt und ging zuvorkommend und freundlich auf jede Diskussion ein. Allerdings geschah nachher nichts, absolut nichts. Schließlich behauptet jeder zweite Irre von sich, daß er normal sei. Ins Auge fallende Symptome konnte er zwar noch nicht feststellen, aber vielleicht hatte sein junger französischer Kollege de Marseille, der heute morgen auf einer Studienreise die Anstalt besuchte, mehr Glück damit. Rixon hatte sich mit dem französischen Arzt lange über die 72
verschiedenen Insassen unterhalten, dann waren sie auch auf den seltsamen Fall des Professors zu sprechen gekommen. Interessiert hatte Dr. de Marseille aufgehorcht. „Ein sehr interessanter Fall! Ich bin gerade mit einer Spezialarbeit über Grenzfälle der Schizophrenie beschäftigt und würde mich außerordentlich glücklich schätzen, wenn Sie mir eine Gelegenheit zur Untersuchung dieses Patienten geben könnten!“ „Aber selbstverständlich, Herr Kollege!“ Rixon war beinahe etwas erleichtert, denn der seltsame Professor bedrückte ihn doch etwas. „Wenn Sie wünschen, können Sie gleich mit ihm sprechen!“ „Herzlichen Dank, das würde mich ungemein freuen!“ Rixon bemerkte nicht das kleine zufriedene Lächeln, das über das gut geschnittene Gesicht des Franzosen glitt. Sie machten sich auf den Weg und blieben dann vor einer Einzelzelle stehen. „Ich schlage vor“, meinte de Marseille, „daß wir uns den Fall erst mal zusammen ansehen und Sie mich dann für einige Minuten mit dem Mann allein lassen. Das gehört mit zu meiner Methode, an solche Menschen seelisch heranzukommen, denn gerade in dem Zwischenstadium, in dem sich der Professor zu befinden scheint, sind sie manchmal empfindlich wie Mimosen. Sind Sie einverstanden? Ich halte mich dann auch nur höchstens fünf Minuten bei ihm auf und möchte, wenn ich nur den geringsten Erfolg konstatiere, die Behandlung morgen fortsetzen, zugleich die Dauer dann auf zehn Minuten erhöhen. Es ist mir gelungen, mit dieser Methode schon außerordentliche Erfolge zu erringen. Sie haben doch sicher von dem Fall des Politikers Vriese gelesen, den ich vor vier Wochen behandelte?“ Er machte eine Pause und blickte den anderen scharf an. Rixon hatte natürlich nichts gelesen, wollte sich aber keine Blöße geben und nickte bejahend. „Natürlich“, fuhr der Franzose fort, „natürlich müssen Sie darüber gelesen haben. Ja, der Mann hat vorige 73
Woche seinen verantwortungsvollen Posten wieder übernommen. Aber nun wollen wir gehen!“ Rixon tat willig alles, was de Marseille verlangte. Sie traten ein und bemerkten den Professor erst nicht, weil der vollkommen bewegungslos auf seinem Bett lag und starr zur Decke blickte, als ob er von dort etwas erwartete. Erst durch das Geräusch der zufallenden Tür schreckte er auf und erhob sich dann langsam zur Begrüßung der beiden Herren, die einen bezeichnenden Blick wechselten. „Mein lieber Professor“, stellte Rixon vor, „dies ist ein Kollege von mir, Dr. de Marseille aus Paris, der sich gern ein wenig mit Ihnen unterhalten möchte.“ Degler murmelte seinen Namen und betrachtete dann mißtrauisch das glatte, undurchdringliche Gesicht des Franzosen. Was hatten sie denn nun schon wieder vor? Wieder so eine unangenehme Untersuchung, wie er sie seit zwei Tagen fast ununterbrochen über sich ergehen lassen mußte? Er nahm sich vor, erst einmal abzuwarten. De Marseille stellte ein paar allgemeine Fragen über Beruf, Alter, Lebenslauf, Krankheiten in der Familie und andere Dinge, die ein Arzt eben fragt, wenn ihm ein noch unbekannter Patient vorgestellt wird und er sich ein Bild von seiner Krankheitsgeschichte zu formen versucht. Dann gab er dem Leiter der Anstalt einen verstohlenen Wink und dieser zog sich ohne ein weiteres Wort zurück. De Marseille lehnte sich dann in einen Sessel zurück und bot Degler eine Zigarette an. Er nahm selbst auch eine, gab Feuer und begann dann völlig überraschend mit gedämpfter Stimme: „Herr Professor, ich will Ihnen gleich von vornherein reinen Wein einschenken: Ich bin natürlich kein Arzt und heiße auch nicht de Marseille, sondern René Fourge. Mein Name stimmt insofern, als ich tatsächlich aus Marseille komme. Nachdem ich in Rocket Plane gelandet war, erfuhr ich von Ihrer Einlieferung 74
in diesen Kasten hier und machte mich dann sofort auf, um Sie zu besuchen. Es schien mir am einfachsten, den Arzt zu markieren, der sich auf einer Studienreise befindet. Niemand hat sich die Mühe gemacht, meine Identität festzustellen, deshalb ging auch alles sehr einfach.“ Degler war natürlich mehr als überrascht, sagte aber noch nichts dazu, weil er ja einen neuen Trick seiner Peiniger erwarten mußte. Der Franzose fuhr fort: „Sie werden mir jetzt nicht sofort glauben. Das kann ich verstehen, denn ich kenne etwas von den Methoden, die man in solchen Anstalten anwendet. Ich spiele meine Rolle nicht zum ersten Mal. Wer und was ich wirklich bin, tut im Augenblick nichts zur Sache. Ich wollte Ihnen heute nur sagen, daß ich die Absicht habe, Sie innerhalb von zwei Tagen hier herauszuholen, mir ein Luftschiff zu besorgen und mit Ihnen zusammen zum Lat zu fliegen. Morgen um dieselbe Zeit komme ich wieder. Ich habe Rixon schon angekündigt, daß ich dann meine ‚Behandlung’ wiederholen möchte. Auf Wiedersehen!“ Degler mußte trotz seiner wenig beneidenswerten Lage schallend lachen. So etwas von Unverfrorenheit war ihm noch nicht vorgekommen! Kommt dieser Mann her, spielt den Irrenarzt, will ihn herausholen, „ein Flugschiff besorgen“ und zum Lat fliegen! Aber er faßte sich schnell und sagte sich, daß dies wirklich eine Chance darstellen könnte. Vor der Tür wartete Rixon und war gespannt, was der Lachanfall des Patienten zu bedeuten hatte. Dr. de Marseille machte ein bedeutungsvolles Gesicht. „Dies ist tatsächlich der eigenartigste Fall, der mir in meiner Praxis bisher vorgekommen ist. Einige Symptome sind auch mir noch nicht bekannt, ich möchte den Patienten gern ein paar Tage beobachten, wenn Sie gestatten. Zum Beispiel der plötzliche Heiterkeitsausbruch, als ich ihm eine völlig belanglose Frage stellte! Sehr interessant! Sehr interessant! Ich bin dem gütigen 75
Geschick, das mich ausgerechnet zu Ihnen führte, außerordentlich dankbar.“ 17. Kapitel Fred More und seine Freunde waren in der Zwischenzeit keinesfalls untätig gewesen. Jeden Tag saßen sie im Observatorium und suchten die Gegend um Rocket Plane herum nach dem Professor ab. Jedes Zimmer, jedes Büro des IAI, jedes Hotel hatten sie schon durchstöbert und verschiedene bekannte Gesichter gesehen, aber nicht den Professor. Natürlich kamen sie nicht auf die Idee, das Irrenhaus in der Nähe der Stadt nach ihm abzusuchen. Inge Waller war schon verzweifelt, als sie feststellten, daß Degler sich auch nicht in seinem Heim in Deutschland aufhielt. Resigniert saßen sie zusammen und berieten die Lage. „So kommen wir nicht weiter!“ rief Bill Bones. „Wir müssen jetzt eine andere Methode ausdenken, um mehr systematisch vorzugehen. Wenn wir den Professor nicht finden, müssen wir eben versuchen, uns ein anderes Medium zu suchen. Ich schlage vor, mal einen genauen Blick in die Räume meines Verlages zu werfen, vielleicht erfahren wir da etwas mehr, Außerdem“ – er verzog das Gesicht dabei „– habe ich wirklich Sehnsucht, meine Bude wiederzusehen, und sei es nur auf dem Schirm!“ „Vielleicht können wir den Apparat so scharf einstellen, daß wir aus der Zeitung einiges erfahren können“, schlug Inge vor. „Ja, die Überschriften werden wir mindestens lesen können.“ „Ich möchte außerdem vorschlagen“, fügte Ackermann hinzu, „daß wir uns bei den Beobachtungen ablösen, damit immer einer von uns am Gerät ist, wenn wirklich etwas gefunden wird. Wir müssen die Beobachtungen den ganzen Tag über fortsetzen und in Schichten arbeiten.“ Alle waren einverstanden. Fred More übernahm die ersten sechs Stunden. Er ging sofort hinüber ins Observatorium. Seit 76
sie mit ihren Versuchen hier begonnen hatten, waren sie nicht mehr „zu Hause“ gewesen, sondern wohnten in der Stadt nahe dem Observatorium. Seufzend setzte sich Fred an die Geräte und begann sofort damit, das Zeitungsgebäude in New York anzupeilen. Bill Bones hatte die Wache nach ihm, der würde sich freuen, wenn er dann gleich ein wenig in vertrauter Umgebung herumstöbern konnte. In New York herrschte der gewohnte Betrieb. Fred stellte den Neutralisator ein, sobald das richtige Gebäude auf dem Schirm erschien, und durchsuchte dann systematisch jeden Raum. Er war erstaunt darüber, daß das Bild noch so klar blieb, wenn es schon durch etwa 30 Fußböden dringen mußte, die mit dem Neutralisator durchsichtig gemacht waren. Um wieviel waren uns die Later voraus! Er hatte schon einige Übung und suchte vor allen Dingen nach einer irgendwo liegenden Zeitung, um etwas über die Neuigkeiten zu erfahren. Schließlich fand er im Packraum ein Blatt, das mit der Vorderseite nach oben auf dem Tisch lag. Er verfeinerte die Einstellung bis zur äußersten Grenze, konnte aber auch dann nur die Überschrift lesen. Die genügte allerdings, um seine äußerste Spannung wachzurufen, denn sie lautete: „Sonderinterview mit Professor Degler: Expedition zu unsichtbarem Planeten!“ Mehr konnte er nicht lesen. Hatte Degler das ganze Geheimnis preisgegeben? Vielleicht hatte er auch noch mehr erzählt – wenn nur der ganze Artikel zu lesen wäre! Blitzartig kam ihm da die rettende Idee. Hoffentlich kam keiner, und räumte die Zeitung zu früh weg! Er schloß fieberhaft eine Spezialkamera an der Optik an und machte eine Reihe von Aufnahmen. Dann ließ er seine Beobachtungen einfach im Stich und stürzte aus seinem Raum hinaus in die große Halle, um nach Nummer 2 zu suchen. Als ob er Gedanken gelesen hätte, stand er plötzlich vor ihm. 77
„Haben Sie etwas gefunden, Fred?“ fragte er freundlich. „Jawohl, etwas sehr Wichtiges’! Gibt es ein gutes Fotolabor hier im Observatorium? Ich müßte ganz schnell einige Vergrößerungen anfertigen.“ Zwei deutete auf seinen Gleitwagen und bat Fred, mit dem belichteten Film einzusteigen. Rasend schnell fuhren sie zum anderen Ende der Halle und traten in einen Raum ein, der nur matt erleuchtet war. Auch hier erklärte 2 Fred die Bedienung der verschiedenen Geräte und zog sich dann diskret zurück. Fred legte mit zitternden Fingern den Abschnitt der Aufnahme, der die Zeitung zeigte, in das Gerät und stellte auf die größtmögliche Vergrößerung ein. Die Belichtung, Entwicklung und Fixierung erfolgte automatisch in einem Arbeitsgang, und drei Minuten später hielt Fred zwei Vergrößerungen des Zeitungsblattes in der Hand. Da die Vergrößerung nur knapp hinter der Originalgröße der Zeitung zurückblieb, war alles ziemlich klar zu lesen! In höchster Eile bestieg er den nächsten Flugwagen und raste mit Höchstgeschwindigkeit zu seinem Quartier. Er landete nicht sofort, sondern ging zunächst einmal auf dem Nachbarhaus nieder, in dem Inge wohnte. Ohne weitere Formalitäten, die waren auf Lat nicht üblich, trat er bei Inge ein. Inge Waller schreckte aus tiefem Schlaf hoch, beruhigte sich aber, als sie Fred erkannte, der die beiden Vergrößerungen in der Rechten schwenkte. „Guten Morgen, Liebling“, rief er vergnügt, „ich habe dir eine Zeitung von der Erde mitgebracht!“ „Eine Zeitung von der Erde? Du bist nicht ganz gescheit!“ Inge wunderte sich über Freds übermütige Laune. Sie sah aber sofort, daß die Blätter in Freds Hand wirklich wie die Vorderseite des Star aussahen und sprang rasch von ihrer Liege herunter. Fred hatte die Blätter unterdessen auf ein Tischchen gebreitet. Gespannt beugten sie sich darüber. Fred hatte den Artikel auch noch nicht gelesen, weil er sofort hierher geeilt war. 78
Atemlos las Inge den Bericht ihres Onkels über die Expedition und jubelte dann auf, als sie zum vorletzten Absatz kam: „Professor Degler teilte unserem Berichterstatter mit, daß er bereits mit der verschollenen Expedition Kontakt aufgenommen habe. Natürlich nicht auf dem üblichen Wege, da wir wie weiter oben berichtet wurde, sowohl die Funkgeräte als auch Radar vollkommen versagten. Degler glaubt an eine Gedankenübermittlung auf telepathischem Wege und ist davon überzeugt, daß die Mitglieder der Expedition noch am Leben sind. Aus der seltsamen Kleidung, die seine Nichte angeblich auf dem übermittelten Gedankenbild trug, will er schließen, daß sie sich auf einem bewohnten Planeten befindet, der eine gewisse Zivilisation aufweist.“ Bei diesem Absatz stockte Inge unwillkürlich und blickte an sich herunter. Mit einem etwas verlegenen Lachen stellte sie fest, daß sie vor Aufregung vergessen hatte, etwas anzuziehen. Rasch streifte sie die „Toga“ über, die neben ihrem Bett lag. Die verhüllte zwar auch nicht viel mehr, gab ihr aber doch das Gefühl, bekleidet zu sein. Da die Garderobe auf Lat aber bei weitem nicht die Rolle spielte wie auf der Erde, hatte sich Fred nichts dabei gedacht. Dafür wohnten beide schon lange genug auf diesem Planeten. Sinnend las Inge zu Ende und sagte dann lange Zeit kein Wort. Dann meinte sie: „Fred, das hört sich so an, als ob man meinem Onkel einfach nicht glauben will.“ „Mir fällt dabei auf“, unterbrach sie Fred, „daß aus dem Artikel nicht zu ersehen ist, wo dein Onkel geblieben sein könnte. Wir vermissen ihn seit gestern, und wenn er wirklich daran glaubt, daß die übermittelten Nachrichten von uns kommen, würde er todsicher zur gewohnten Stunde in seinem Wohnzimmer sein – wenn ihn niemand daran hinderte!“ „Du meinst, daß man ihn festgenommen oder gar beiseite ge79
schafft haben könnte?“ Inge blickte ihn angstvoll an. „Aber warum denn? Er hat doch keinem etwas getan? Wer könnte denn ein Interesse daran haben?“ „Das weiß ich auch nicht! Aber du weißt doch, daß man ihn schon damals in Berlin für verrückt hielt, als er seine Theorie vom zehnten Planeten entwickelte. Vielleicht befürchtet auch Roberts, sich lächerlich zu machen, falls an den Angaben Deglers nichts Wahres ist, und hat ihn irgendwie zum Schweigen gebracht.“ „Aber dazu hatte er doch keinen Grund! Der Professor hat ihm doch nichts getan!“ wiederholte Inge. Fred zuckte die Schultern. „Ich weiß es nicht. Aber ich glaube, daß dieses Dokument wichtig genug ist, um sofort unsere Freunde zu einer Besprechung zu bitten.“ „Ja, du hast recht, ich will sie gleich rufen.“ Diesmal fanden sie sich vollzählig zusammen, das heißt, auch die vier Matrosen und die Besatzung des schon vor ihnen gelandeten Schiffes kamen. Alle zwölf Erdenmenschen, die auf Lat gestrandet waren, saßen nun zum erstenmal zusammen. Fred las ihnen den Zeitungsbericht vor und erklärte dann kurz ihre Bemühungen der letzten Tage, mit Degler Kontakt aufzunehmen. Der einzige, der nicht zuhörte, war Bill Bones. Er hielt die zweite Vergrößerung der Zeitungsseite in der Hand und starrte darauf, als ob er etwas ganz Wunderbares sähe. Zum erstenmal seit Monaten hielt er wieder ein Blatt seiner Zeitung in der Hand, ein richtiges Zeitungsblatt! Er konnte es nicht vermeiden, daß ihm eine halb zerquetschte Träne über die Backe lief. Dann raffte er sich zusammen. „Ich glaube, wir sind an dem Punkt angelangt, wo die Presse ihre Arbeit aufnehmen muß!“ sagte er mit fester Stimme. Fred war überrascht, denn er hatte ihm nicht so viel Energie zugetraut. Vor ihm saß jetzt plötzlich wieder der erfolgreiche Chefreporter der größten Zeitung der Erde, der genau wußte, was er wollte. 80
„Ich kenne die Leute beim Star am besten. Ich werde sofort hinübergehen und versuchen, mit Gray Bust Kontakt aufzunehmen. Er wird inzwischen aus Rocket Plane wieder zurück sein. Ich bin mit Bust zwar nicht direkt befreundet“, er verzog sein Gesicht beim Gedanken an die vielen Streitereien, wenn einer dem anderen einen dicken Fisch vor der Nase weggeschnappt hatte, „aber wir kennen uns gut genug, um einen gedanklichen Kontakt herzustellen. Ihr könnt inzwischen weiter beraten – ich gehe und rufe den Star an!“ Als ob dieses „Anrufen“ eine ganz übliche Sache wäre und er dazu nur zum nächsten Münzautomaten zu gehen brauchte, verließ er mit festen Schritten den Raum und nahm die eine Zeitungsseite mit. Alle sahen ihm erstaunt nach, dann bemerkte Fred: „Vielleicht hat er recht! Laßt ihn zumindest einen Versuch unternehmen. Wir wollen inzwischen gemeinsam überlegen, wie wir erstens Degler finden können und zweitens unsere Verbindung mit der Erde verbessern.“ Während sie die verschiedenen Vorschläge diskutierten, setzte sich Bill Bones an die Geräte und stellte die optische Verbindung mit dem New York Star her. Schon nach kurzer Zeit hatte er Gray Bust in seinem Büro gefunden. 18. Kapitel Gray Bust saß in seinem Raum, über dessen Tür ein Schild hing: „Chefredakteur – bitte nicht stören!“ und dachte über die Auswirkungen seiner Reportage nach. Was hatte sich inzwischen alles ereignet? Sein Verleger hatte ihm einen Riesentanz gemacht, ihn aber dann mit der freundlichen Drohung entlassen, er müsse alles auf seine eigene Kappe nehmen, was er schriebe, und wenn es nicht stimmte, dann – Er konnte sich unschwer ausrechnen, was dann kam. Aber Bust 81
war nicht der Mann, der einen einmal angesponnenen Faden so schnell wieder fallen ließ! Zweitens hatte Roberts wütend angerufen und ihm Vorwürfe gemacht, daß er eine solche Veröffentlichung ohne vorherige Abstimmung mit dem IAI herausbringen konnte. Mochte er! Noch richtete sich die Presse nicht nach ein paar Geldsäcken! Drittens mußte er feststellen, daß der Professor noch am gleichen Tage, an dem das Interview erschienen war, spurlos verschwand. Und dieser Punkt ging ihm am meisten an die Leber. Hatte sich der Alte in ein Versteck zurückgezogen? Oder hatte ihn jemand unschädlich gemacht? Wer konnte daran Interesse haben? Vielleicht Roberts? Wer sonst? – Tief in Gedanken versunken kaute er am Plastikgriff seines Schreibwerkzeugs und blickte dabei sinnend zur Decke empor. Er dachte dabei an die geheimnisvollen telepathischen Einflüsterungen, von denen ihm Degler erzählt hatte. Und mit einemmal zuckte er zusammen. War da nicht eine Stimme, die ihn anrief? Was war das? Er hörte deutlich die immer wieder in sein Gehirn dringenden Worte: „Hier ist Bill Bones! Hier ist Bill Bones! Hier …“ Ärgerlich schüttelte er den Kopf, dann kam ihm jedoch ein besserer Gedanke, er bemühte sich, alle eigenen Gedanken auszuschalten und seinen Willen ganz auf „passiv“ zu schalten. Dann hörte er die Rufe sofort viel deutlicher. Er bemühte sich weiter, alle eigenen Reaktionen abzuschalten, um möglichst viel zu erfahren. Etwa eine halbe Stunde saß er stumm und steif da, dann hörte der Gedankenfluß auf. Vermutlich war Bones, wenn er wirklich der „Sender“ sein sollte, jetzt erschöpft. Gray Bust kam wieder zu sich und überlegte blitzartig. Was hatte der Professor gesagt? „Die Expedition muß auf einem Planeten gelandet sein, der eine eigene Zivilisation trägt.“ Richtig! Und die Zivilisation mußte einen ungeahnt hohen Stand haben, wenn es Bill Bones fertigbrachte, sich mit ihm in Ver82
bindung zu setzen. Allmählich glaubte er selbst daran, daß der eben erlebte Kontakt „wirklich“ war. Die Klarheit der empfangenen Gedanken und ihre Vielfalt hatten nichts mit Spiritismus zu tun! Er überlegte weiter: Wenn ihm jemand auf telepathischem Wege Nachrichten übermittelte, mußte er wissen, wo er sich befand. Wie konnte Bill das wissen? Konnte er ihn vielleicht sogar sehen? Das wäre enorm! Bust blickte noch einmal angestrengt zur Decke und machte verschiedene Zeichen, daß er verstanden hatte. Ein Unbeteiligter hätte ihn jetzt für verrückt gehalten. Aber davor schützte ihn das Schild vor seiner Tür. Sofort spürte er die Stimme: „Dank, Dank! Ich hoffte es!“ Dann war es wieder still. Gray Bust war ein Mann der Tat. Er setzte sich sofort hin und entwarf einen neuen Leitartikel mit dicker Überschrift: „Erster Kontakt mit Bill Bones!“ Ein paar Stunden später saß Bill immer noch auf seinem Stuhl und beobachtete alles, was im New Yorker Verlagsgebäude vor sich ging. Hatte ihn Bust verstanden? Fast schien es so! Vielleicht war Bust das ideale Medium für eine Kontaktnahme! Wenn er verstanden hatte, mußte bald etwas Entscheidendes geschehen. Bill war zwar von der ungeheuren Anstrengung noch fürchterlich erschöpft, drehte aber mit der verbissenen Entschlossenheit an seinen Geräten, nicht ohne Ergebnis nach Hause zu gehen. Ein Packen Zeitungen wurde in den Raum der Expedition gebracht. Wieder blieb ein Exemplar offen liegen. So schnell wie möglich machte Bill davon eine Aufnahme und eilte hinüber ins Labor, wo er sofort fünf oder sechs Vergrößerungen herstellte. Jetzt war er in seinem Element! Als Bill Bones mit den Vergrößerungen in Freds Wohnung kam – es war die größte von allen – saßen die anderen immer noch mit rauchenden Köpfen zusammen. Bill warf triumphie83
rend die Blätter auf den Tisch, obgleich er noch nicht einmal nachgesehen hatte, ob etwas Wichtiges darin stand. Dann sank er erschöpft auf eine Liege und schlief sofort sehr geräuschvoll ein. Die anderen stürzten sich auf die Vergrößerungen, ohne den Schlafenden damit zu stören. Fred las vor: „Erster Kontakt mit Bill Bones!“ Überrascht sahen sie sich an. Das konnte die Entscheidung sein! Vielleicht hatte der Pressemann in den letzten Stunden allein mehr erreicht als sie alle zusammen. Als Fred weiter las, wurden die Augen immer größer. Hier stand ein ziemlich genauer Bericht von ihrer Landung, von den Städten der Later, dem Hügel mit den vier Sendetürmen, dem Unfall und Ihrer Rettungsaktion. Dann etwas über ihre Lebensgewohnheiten, über die Technik der Later. Dann endete der Bericht mit den Worten: „Unser Reporter konnte vermutlich wegen Erschöpfung nicht weiterberichten. Stellen Sie sich vor, welche Anstrengung es bedeutet, klare Nachrichten auf telepathischem Wege über solche Entfernungen hinweg zu übermitteln! Wir erwarten jedoch weitere Berichte von ihm.“ Unterzeichnet war die Reportage mit „Gray Bust“. 19. Kapitel René Fourge war inzwischen auch nicht untätig. Er telefonierte lange mit einem Teilnehmer in Chicago, einem gewissen Upton Ross, und spazierte dann stundenlang in der Nähe der Startplätze herum. Mit der selbstverständlichen Neugier eines Touristen betrachtete er alles, was sich hinter dem elektrischen Zaun befand. Nicht einmal die Posten an den Toren wurden mißtrauisch. Es gab ja schließlich auch nicht viel zu sehen. Gegen Abend ging er in sein Hotel zurück, wo Upton Ross schon auf ihn wartete. „Nun?“ – Das war dessen ganze Begrüßungsansprache. 84
„Tja, ziemlich mies! Was anliegt, habe ich dir am Telefon schon gesagt. Aber ich wüßte nicht, wie wir an den zweiten Vogel herankommen können. Es ist wohl der einzige, der sich dafür eignet.“ „Ein anderer tut’s nicht?“ „Nein, alles zu langsam! Haben uns sofort, wenn wir abhauen! Wir müssen den ‚Condor’ einfach haben. Wurde erst vor einer Woche fertig und ist außer der ‚United’, die mit der Expedition verlorenging, das einzige Schiff mit dem neuen Antrieb.“ Upton Roes dachte nach. Sein Gesicht erweckte sofort Vertrauen, wenn man es sah. Es paßte überhaupt nicht zu der etwas nachlässigen Redeweise, die von den beiden angewandt wurde, wenn sie sich allein wußten. Wie Fourge war auch er elegant, fast kostbar gekleidet und machte den Eindruck eines vornehmen jungen Mannes aus wohlhabendem Hause. „Hier, lies mal das!“ knurrte er dann und zog die neueste Ausgabe des New York Star aus der Tasche. Er deutete auf die Überschrift: „Erster Kontakt mit Bill Bones!“ René Fourge stieß einen leisen Pfiff aus. „Das erleichtert unsere Sache ungemein!“ sagte er dann zufrieden. „Eben!“ antwortete der andere nur. Nach einer Pause setzte er hinzu: „Ich fliege jetzt nach New York und versuche, Bust zu sprechen. Bin heute abend wieder zurück. Morgen müssen wir dann den Professor losbekommen, den brauchen wir für die Berechnungen. Mal sehen, was Bust zu dem Plan sagt!“ Ohne weiteren Abschied schlenderte er auf den Ausgang zu und war gleich darauf mit einer Taxe unterwegs zum Flugplatz. Dabei legte er sich seinen Plan zurecht. Bei der Konferenz, die Igor Fascotzki einberufen hatte, ging es stürmisch zu. „Nein“, rief ein weißhaariger General, „nein, das ist Unsinn! Alles nur Sensationsmache der Kapitalisten, die nicht einfach zugeben wollen, daß sie ein wertvolles Schiff und ein paar teuer 85
bezahlte Wissenschaftler verloren haben. Ich glaube nicht an die Märchen!“ „Und wenn wirklich etwas dran ist? Wir wissen, daß telepathische Kontakte auch über weite Entfernungen hinweg theoretisch möglich sind. Wie, wenn die Amerikaner uns zuvorkommen? Was wird dann der Kreml sagen?“ Betretenes Schweigen. Dann räusperte sich ein junger Flugkapitän, der wegen seiner technischen Kenntnisse hinzugezogen worden war: „In der Technik gibt es jedes Jahr etwas Neues, an das man kurz vorher niemals geglaubt hätte. Warum soll sich nicht die Technik auch an anderen Stellen entwickeln können? Da ich von Ihnen zu dieser Besprechung eingeladen wurde, bitte ich folgendes vorschlagen zu dürfen: Wir machen sofort unser neues Schiff, die ‚Lubia’, startbereit. Die Lubia ist mindestens ebenso schnell wie der neue amerikanische Typ. Zweitens versuchen wir, Verbindung mit diesem deutschen Professor aufzunehmen, der sich zweifellos noch in Rocket Plane befinden muß. Ohne ihn würden unsere Standortberechnungen zu viel Zeit in Anspruch nehmen. Vielleicht findet er sich bereit, uns zu unterstützen, wenn wir ihm sagen, wir wollten eine Bettungsaktion ausrüsten!“ Der General schüttelte den Kopf. „Nein, Genossen, das dürfen wir nicht! Denn im gleichen Augenblick wissen die Amerikaner, was wir vorhaben.“ „Gut, das gebe ich zu. Ich schlage vor, daß wir zumindest einen Beobachter nach Rocket Plane schicken, der mit dem Professor auf unauffällige Weise Kontakt aufnehmen soll, ohne sich zu erkennen zu geben, und ohne weiter von der Möglichkeit einer Expedition zu sprechen. Er soll ihn nur beobachten, vielleicht können wir die Angaben und Berechnungen auch auf anderem Wege bekommen!“ „Wir könnten es mit einer Haussuchung bei dem Alten versuchen!“ schlug der Chef vor. 86
Die Beratungen zogen sich noch eine Weile hin, dann wurde Wladimir Kolgodz, der junge Kapitän, mit dem Auftrag nach Amerika geschickt, sich irgendwie dem Deutschen zu nähern und nach Unterlagen zu suchen. Noch am gleichen Abend reiste er, mit falschen Papieren und einem kleinen Sendegerät versehen, in einer Sondermaschine ab. Das Flugzeug sollte ihn nach Tokio bringen, von wo aus er mit einem regulären Stratoclipper weiterreisen mußte, um kein Aufsehen zu erregen. Wenn Rixon, der Irrenhausarzt, gewußt hätte, wie viele verschiedene Leute sich bereits für seinen Pflegling interessierten, er hätte sich keine Minute schlafen können. Denn auch Gray Bust hatte sich vorgenommen, selbst noch einmal nach Rocket Plane zu fliegen, um den Verbleib des Professors zu klären. Am nächsten Tage landeten er und der inkognito reisende Russe zur gleichen Stunde auf dem Wüstenflugplatz der Raketenstadt. Unbewußt lenkte Gray seine Schritte zunächst zu dem Ort, an dem er Degler zuletzt gesehen hatte: Er setzte sich in das kleine Café in der Nähe des IAI-Gebäudes. Am Nebentisch saß, halb hinter einer Zeitung versteckt, ein schlanker, schwarzhaariger Mann, der seinem Aussehen nach hätte gut ein Franzose sein können. Als Lucy ihm seinen Kaffee brachte, winkte Gray Bust sie näher heran und fragte mit gedämpfter Stimme: „Wann haben Sie den Professor zum letztenmal gesehen?“ Das Mädchen kam sich plötzlich sehr wichtig vor und zog ihre Stirn in angestrengte Falten, was ihrem hübschen, aber ziemlich leeren Gesicht nicht gut stand. „Er war nicht mehr hier, seit Sie beide sich hier unterhielten!“ sagte sie dann. Keiner von beiden bemerkte, daß der Fremde am Nebentisch nicht mehr in seine Zeitung blickte, sondern gespannt versuchte, kein Wort der Unterhaltung zu verpassen. 87
„Wissen Sie, wo er wohnt?“ setzte Gray das leise Verhör fort. „Ja, Mr. Bust.“ Sie war stolz, daß sie sich den Namen des berühmten Pressemannes gemerkt hatte. „Ich schreibe Ihnen die Adresse auf. Es ist …“ Sie zog einen kleinen Block aus der Schürzentasche, wurde jedoch von einem neuen Gast unterbrochen, der sich mit einer höflichen Verbeugung erkundigte, ob er an Grays Tisch Platz nehmen dürfe. Es war gerade kein freier Tisch mehr vorhanden. Bust war davon nicht gerade begeistert, seine gute Erziehung verbot ihm jedoch, abzulehnen. Er wollte Lucy gerade noch einen versteckten Wink geben, sie schrieb jedoch schon die Adresse auf, wobei sie beim Schreiben jedes Wort halblaut mitsagte. Bust hätte sie ohrfeigen können! Es brauchte doch nicht jeder zu wissen, was er hier suchte! Der Fremde am Nebentisch – es war natürlich der falsche Dr. de Marseille1 – lächelte verstohlen. Also interessierten sich noch andere Leute für Degler! Und er könnte ihnen alles mit einem Wort erklären! Der Neuangekommene ließ sich nichts anmerken, aber die Anschrift haftete bereits fest in seinem Gedächtnis. Dabei machte er sich nur noch Gedanken darüber, wer sein Nachbar wohl sein könnte, oder warum auch er den deutschen Wissenschaftler sprechen wollte. Er bestellte in fehlerfreiem Englisch eine Tasse Tee, wobei dem feinhörigen Gray Bust aber ein leichter, ein wenig harter Akzent auffiel. Sofort war sein Interesse wach. Aber auch Presseleute können sich in der Gewalt haben, wenn es darauf ankam. So saßen die drei Hauptakteure der kommenden Ereignisse durch einen reinen Zufall beinahe an einem Tisch vereint, ohne voneinander zu wissen. Der dritte war nämlich Flugkapitän Wladimir Kolgodz, der im Augenblick allerdings auf den hübschen Namen „Henry Smith“ hörte. Eine gewisse Spannung lag unsichtbar in der sonst so alltäglichen Atmosphäre des kleinen Raums, denn der Franzose hatte den Chefredakteur sofort er88
kannt und nahm sich vor, jeden seiner Schritte zu beobachten. Er durfte auf keinen Fall die Spur des Professors finden! Bust seinerseits interessierte sich für den blonden Mr. Smith an seinem Tisch, den er auf Grund seiner Erfahrungen schnell als Osteuropäer identifizierte. Der leichte Akzent und die Tatsache, daß auch Kolgodz an Degler interessiert sein könnte, waren Fourge allerdings bisher verborgen geblieben. Kolgodz selbst freute sich über den Zufall, der ihn sofort auf die richtige Fährte setzte und ahnte, daß er nur dem Bürstenkopf seines Tischnachbarn zu folgen brauchte, um zu Degler zu gelangen. Und Lucy hatte mit weiblichem Spürsinn auch etwas von dem Braten gerochen. Sie fühlte sich im Augenblick absolut als die Hauptperson eines Schauspiels, das noch spannend zu werden versprach. Richtig, fiel ihr ein, wo konnte der Professor, der sonst zu ihren regelmäßigen Gästen zählte, während der letzten Tage nur stecken? Vielleicht … Sie stellte sich wieder in einem sicheren Versteck auf, um keine Bewegung der drei Männer zu übersehen. Vorerst wurde sie allerdings enttäuscht denn es ereignete sich nichts Besonderes! Kurz nacheinander zahlten alle drei und verließen in der gleichen Richtung das Lokal. Draußen senkte sich inzwischen die Abenddämmerung auf die schnell aus dem Boden geschossene Stadt. Überall da, wo bereits Lampen angebracht waren, flammte die Beleuchtung auf. Manche Straßen blieben jedoch noch dunkel, weil die Häuser so schnell aufgebaut worden waren, daß man gerade Zeit gehabt hatte, eine Betonfahrbahn zu gießen, nicht aber, Kanalisation und Straßenlampen aufzustellen. In der Gegend, wo sich die Wohnung Deglers befand, stand zwar eine Lampe, sie brannte aber nicht. Bust wunderte sich zwar einen Augenblick darüber, dachte dann aber, daß es sicher auch in Rocket Plane genug Lausbuben gab, die von Zeit zu Zeit die Lampen als Zielscheiben benutzten. Langsam schlenderte er die Straße entlang und stellte fest, daß an dem Haus alle 89
Fenster geschlossen und unbeleuchtet waren. Schon wollte er kehrtmachen, da schien es ihm, als huschte ein Schatten durch den Garten auf die Hinterfront des Hauses zu. Hastig überlegte er, was zu tun sei. Weitergehen? Anscheinend hatte ihn der andere noch nicht gesehen oder gehört. Vielleicht war es Degler selbst! Also erst einmal ganz eng an die Mauer gepreßt und abgewartet, was weiter geschah. Zehn Minuten verstrichen, und außer den üblichen nächtlichen Geräuschen war nichts Auffälliges zu hören. Dann huschte hinter einem Fenster im Erdgeschoß ein deutlicher Lichtschein vorbei. Gray duckte sich, wartete noch einen Moment und schwang sich dann über die Mauer. Dahinter verhielt er einige Minuten völlig bewegungslos, dann atmete er auf. Man hatte ihn noch nicht bemerkt! Leise schlich er um das Haus herum, bemüht, nicht das geringste Geräusch zu verursachen. Eins der zum Garten führenden Fenster war halb geöffnet! Er konnte sich eben noch hinter einen Strauch ducken, als eine schlanke Gestalt sich herausschwang, quer über den Rasen lief und über die hintere Mauer verschwand. Eben wollte sich Bust erheben, als er ein neues Geräusch hörte. Er ging in Deckung und sah erstaunt, wie sich eine zweite Gestalt vorsichtig aus dem Fenster schwang, dieses geschickt hinter sich zuzog und dann rasch ebenfalls über die hintere Mauer verschwand. Seltsam! Gleich zwei Einbrecher auf einmal! dachte Bust. Gehörten die nun zusammen? Was wollten sie hier? Warum stand nicht der eine draußen, während der andere nach Wertsachen oder … Da kam die Idee. Er mußte wissen, was die beiden gesucht hatten! Gray Bust war also der dritte Einbrecher, der in dieser Nacht das Arbeitszimmer des Professors aufsuchte. Er konnte nur feststellen, daß außer dem Schreibtisch und einem Wandschrank alles unberührt war. Wertvolle Schreibtischgeräte aus Gold und Kristall standen auf dem Schreibtisch – also waren es 90
keine Diebe gewesen! Danach blieb nur noch eins: Die beiden suchten Papiere! Eine rasche Durchsicht förderte nichts Wichtiges zutage. Bust zog sich also wieder zurück und atmete auf, als er wieder erleuchtete Straßen betrat. Abends im Hotel zermarterte er sich vergeblich den Kopf darüber, was das nächtliche Erlebnis wohl bedeuten könnte. Fast schien es ihm, daß die erste Figur, die aus dem Fenster sprang, den Umrissen nach mit dem Mr. Smith, den er kurz vorher kennengelernt hatte, eine gewisse Ähnlichkeit aufwies. Es war jedoch zu dunkel, um Genaueres zu unterscheiden. Mit einem Seufzer legte er sich ins Bett und beschloß, schnell einzuschlafen. 20. Kapitel Als René Fourge spätabends in sein Hotel zurückkehrte, erwartete ihn bereits seit zwei Stunden ein dringender Anruf aus New York. Er ließ sich das Gespräch auf sein Zimmer geben. „Pech gehabt!“ brummte Upton Ross, als Fourge sich meldete. „Weiß ich schon“, gab er zurück, „Bust ist hier in Rocket Plane!“ Ein leiser Pfiff ertönte. Beide sprachen Französisch und bedienten sich dabei außerdem einer Mundart, die ein Amerikaner nicht so leicht verstehen konnte, selbst wenn in der Zentrale des Hotels jemand mitgehört hätte. „Hast du ihn gesprochen?“ „Nein, noch nicht. Kam heute nachmittag hier an. Ich saß ihn nur im Kaffee sitzen. Er ließ sich die Privatanschrift Deglers von der Kellnerin geben.“ „Hm. Ich komme also mit der Nachtmaschine wieder. Was Neues mit Degler?“ „Ja“, berichtete Fourge, „habe heute nacht seine Wohnung durchsucht. Nichts von Bedeutung zu finden, scheint keine 91
Aufzeichnungen zu Hause zu haben. Allerdings war ich nicht allein im Haus.“ „Wieso nicht allein? Ist das Haus denn noch bewohnt? Ich dachte, außer dem Alten und seiner Nichte …“ „Nein, niemand, der hingehörte. Jemand anders scheint sich auch noch für seine Papiere zu interessieren.“ „Gray Bust?“ „Konnte nichts Genaues sehen, aber Bust war es nicht. Die gelbe Haarbürste hätte ich erkannt. Gerade als ich ins Arbeitszimmer wollte, verschwand der andere durch die zweite Tür. Schreibtisch und Schrank waren durchsucht. Den Kerl habe ich nicht mehr gesehen. Er mich vermutlich auch nicht.“ Upton Ross schwieg für eine gute Weile. Dann sagte er mißgelaunt: „Ziemlich dämlich, das Ganze! Gefällt mir gar nicht! Wir werden etwas schneller machen müssen, sonst kommt uns jemand zuvor. Weiß Bust, wo Degler ist?“ „Nein, er fragte nach seiner Adresse, wie ich sagte. Wird wohl morgen wieder ergebnislos abziehen und dann breittreten, daß der Alte verschwunden ist!“ Ein trockenes Lachen ertönte. „Unangenehm für Roberts!“ „Ja, aber für uns auch. Schluß jetzt. Erwarte dich gegen Morgen zurück!“ 21. Kapitel Als am nächsten Morgen Dr. Rixon gerade seine Visite beginnen wollte, betrat Fourge, alias Dr. de Marseille, sein Büro. Rixon war erfreut. „Kommen Sie, Herr Kollege, Sie können mich gleich begleiten! Ich hatte Sie zwar erst heute nachmittag erwartet, aber um so lieber sehe ich Sie jetzt schon hier!“ Fourge war die Liebenswürdigkeit selbst, wie man es nicht 92
anders bei ihm gewohnt war. „Gern, ich komme selbstverständlich mit. Wie geht es dem Professor?“ „Gut, denke ich. Kein neuer Anfall, ist ruhig und scheinbar gefaßt. Er hat auch aufgehört, zu protestieren, wenn ich ihm Fragen stellte. Anscheinend hat er sich mit der Behandlung abgefunden. – Gehen wir jetzt!“ Sie waren schon auf dem Flur, da wurde ein neuer Besucher gemeldet. Ein Mr. Gray Bust aus New York. Fourge zuckte nervös zusammen, aber der etwas naive Dr. Rixon sah es nicht. Freundlich begrüßte er den bekannten Redakteur. „Was verschafft unserem Haus die seltene Ehre, Mr. Bust?“ fragte er und merkte den eigenartigen Seitenblick, den Bust auf de Marseille warf. „Ach so, entschuldigen Sie! Das ist Dr. de Marseille aus Paris, ein Kollege, der studienhalber hier ist und sich gerade mit einem besonders schwierigen Fall beschäftigt!“ Die beiden Herren verbeugten sich, wobei Bust sagte: „Ich glaube, Herr Doktor, wir haben uns gestern schon im Café gesehen!“ „Ja, ich erinnere mich!“ gab Fourge reserviert zur Antwort und wünschte dabei den neugierigen Pressefritzen über alle Berge. Rixon, der anscheinend nie eine Zeitung las, führ unbekümmert fort, ohne sich um einen harten Rippenstoß seines Kollegen zu kümmern: „Dr. de Marseille hatte die Liebenswürdigkeit, mich bei einem seltenen Fall neuroser Schizophrenie zu unterstützen, der vor einigen Tagen eingeliefert wurde. Es handelt sich dabei um einen Professor, der unter seltsamen Illusionen leidet. Ich darf natürlich keinen Namen nennen, das werden Sie verstehen!“ Mr. Gray hatte Mühe, sich in der Gewalt zu behalten. Es konnte sich nur um Degler handeln! Aber wie kam der hierher? Da hatte ihm der Zufall wieder mal einen Haupttreffer in die Hand gespielt! Erst jetzt antwortete er auf Rixons erste Frage: 93
„Ja, ich hatte gerade hier in der Gegend zu tun, da dachte ich, ich könnte die Gelegenheit benutzen, mich einmal in Ihrer berühmten Anstalt umzusehen!“ Rixon lachte geschmeichelt. „Aber sicher, wenn Sie uns …“ Dr. de Marseille unterbrach ihn schroff: „Haben Sie eine Besuchserlaubnis von der Zentrale in New York?“ Gray verneinte erstaunt und fügte hinzu, er hätte nicht gewußt, daß eine solche Genehmigung notwendig sei. Er wollte nur Material für eine allgemeine Reportage sammeln. Noch ehe Rixon selbst etwas dazu sagen konnte, fuhr de Marseille im gleichen Ton fort: „Dann tut es uns leid, daß wir Sie nicht einlassen dürfen! Dieses Haus darf nur mit ausdrücklicher Erlaubnis betreten werden. Ich muß Sie bitten, sich jetzt zu verabschieden!“ Erst als Gray Bust, der allmählich einige Zusammenhange zu ahnen begann, sich empfohlen hatte, fand Rixon seine Sprache wieder; diesmal allerdings gründlich. „Ich muß Sie schon bitten, Herr Kollege! Ich bin über Ihr Benehmen mehr als erstaunt! Wie können Sie sich als mein Gast herausnehmen …“ „Aber lieber Rixon!“ Fourge ließ alle Register seines Talents spielen. „Wie können Sie in einem so schroffen Ton zu mir sprechen, wo ich Ihnen doch nur die größten Unannehmlichkeiten erspart habe! Wußten Sie denn noch nicht, daß Anstalten, die der staatlichen Kontrolle unterstehen, seit einiger Zeit nur noch mit einem gültigen Erlaubnisschein betreten dürfen? Das war erforderlich, da ausländische Agenten versuchten, den Insassen, die früher einmal wichtige Posten bekleideten, Geheimnisse zu entlocken! Daß Sie das nicht gewußt haben! Ich bin wirklich erstaunt!“ Er machte den Fehler zu fragen: „Lesen Sie denn nie eine Zeitung?“ Im gleichen Augenblick hätte er sich am liebsten die Zunge abgebissen. „Nein, dazu habe ich keine Zeit! Ich kümmere mich um meine 94
Patienten, zu anderen Dingen reicht es einfach nicht. Sie werden bemerkt haben, daß ich meine Aufgabe sehr ernst nehme!“ „Sicher, das habe ich gesehen. Ebendeshalb bin ich auch entzückt, meine Untersuchungen in einer so hervorragenden Anstalt durchführen zu dürfen, lieber Herr Kollege!“ Damit machte Fourge seinen zweiten groben Fehler innerhalb einiger Minuten. Rixon blickte ihn nämlich auf einmal prüfend an und fragte dann: „Aber – sagen Sie mal: Haben Sie denn einen Erlaubnisschein?“ Fourge hatte sich im selben Augenblick schon auf die gefährliche Situation eingestellt und entgegnete mit entwaffnender Liebenswürdigkeit: „Aber selbstverständlich! Ich zeigte ihn am ersten Tage unserer erfreulichen Bekanntschaft nur nicht vor, weil ich sah, daß Sie meinen Namen kannten und von sich aus auf diese Formalität verzichteten! Heute habe ich ihn natürlich nicht in der Tasche. Diese Regelung gilt doch auch nur für Unbekannte.“ Die widerstrebendsten Empfindungen kämpften in Rixons Brust. Sollte er sich nachträglich noch blamieren, indem er zugab, einen so prominenten Kollegen tatsächlich nicht gekannt zu haben? Sollte er sich einer Bestrafung aussetzen, indem er trotz Anweisung der Regierung – die er außerdem noch übersehen hatte – einen ihm Unbekannten hier einfach schalten und walten ließ, ihm sogar erlaubte, unter vier Augen mit Patienten zu sprechen? Plötzlich durchflutete ihn siedend heiß das Gefühl, einen verhängnisvollen Fehler begangen zu haben. Mit ungewohnter Festigkeit erklärte er: „Ich mißtraue Ihnen keinesfalls, Herr Kollege. Aber da Sie selbst mich auf die bewußte Vorschrift hingewiesen haben, muß ich Sie doch bitten, mir den Schein erst vorzuzeigen, bevor ich Ihnen weitere Untersuchungen in meiner Anstalt erlauben kann. Nehmen Sie mir dies bitte nicht übel, aber ich kann nicht wis95
sen, ob meine vorgesetzte Stelle Sie nicht beauftragt hat, hier die Befolgung ihrer Anordnungen zu kontrollieren.“ Aus das Spiel! dachte Fourge verbittert und sagte zynisch: „In diesem Falle ist es für Sie bereits zu spät, Herr Doktor!“ Er wiederholte unbewußt in einem anderen Zusammenhang seinen Gedanken. „Sie haben mir bereits Ihre Bereitwilligkeit bewiesen, völlig Fremde ohne Erlaubnis hereinzulassen, das würde als Belastung gegen Sie vollauf genügen! Außerdem erschweren Sie jetzt noch meine Arbeit hier durch unangebrachte, kleinliche Maßnahmen …“ Vielleicht ließ sich der unbedeutende Kurpfuscher einschüchtern, hoffte Fourge. Der bewies jedoch eine überraschende Sturheit. „Tut mir leid! Aber jetzt holen Sie mir bitte erst Ihre Erlaubnis!“ „Gut!“ sagte Fourge, jetzt alles andere als freundlich. „Sie hören wieder von mir!“ Damit verließ er grußlos den von Gewissensbissen geplagten Doktor. Der arme Rixon tat zunächst zweierlei: Erstens ließ er sich die Zeitungen der letzten Tage bringen, und zweitens meldete er ein Ferngespräch mit dem Gesundheitsministerium in New York an. Damit zog er sich in sein Büro zurück, ohne an die eigentlich fällige Morgenvisite zu denken. Ein Mann wie Fourge gibt kein Spiel so schnell auf. Schon nach einer halben Stunde wurde er wieder von einem freundlichen Wärter hereingelassen, der von der Auseinandersetzung zwischen Rixon und dem Fremden nichts wußte. Mit selbstverständlicher Bestimmtheit ordnete er an, daß ihm die Zelle des Professors geöffnet werden sollte. Der Wärter gehorchte ohne den geringsten Verdacht, denn schließlich war dieser Mann schon einmal bei Degler gewesen. Sicher hatte der Boß gerade keine Zeit, und de Marseille nahm ihm ein wenig Arbeit ab. Wie freundlich von dem französischen Herrn! 96
Der Besucher blieb nicht lang. Schon nach zehn Minuten sah ihn derselbe Wärter wieder auf den Eingang zugehen und das Haus rasch verlassen. Er trug jetzt eine dunkle Brille und – verflixt noch einmal, sah er nicht jetzt etwas kleiner und ein wenig vornübergebeugt aus? Daß doch der Kuckuck …! Während der Überraschte unentschlossen auf dem Flur stand und überlegte, ob er recht gesehen hatte oder alles eine Täuschung war, ertönte aus der Zelle des Professors lautes Schreien. Gott sei Dank! Es war also alles richtig! Er lief rasch hin und sah auch schon Dr. Rixon mit fliegenden Mantelschößen um die Ecke kommen. Hastig riß er die Tür auf – und blickte in das grimmig verzogene Gesicht de Marseilles! Der Franzose war gefesselt und anscheinend auch geknebelt, denn das Tuch vor dem Mund hatte sich nur etwas verschoben. Entschlossen trat Rixon auf ihn zu. „Dr. de Marseille, ich muß Sie bis zum Eintreffen der Polizei festnehmen! Ich habe eben mit New York gesprochen – es gibt keine offiziellen Einlaßscheine!! Sie haben mich belogen, um Mr. Bust von Degler fernzu…“ Das Wort blieb ihm im Munde stecken, denn erst jetzt kam ihm zum Bewußtsein, daß die Hauptperson der ganzen Auseinandersetzung nicht mehr vorhanden war! „Sie sind ein Idiot!“ zischte Fourge, der bisher richtig kalkuliert hatte. Auch die New Yorker Auskunft und die Verständigung der Polizei hatte er mit eingeplant. „Statt mich frei zu machen, damit wir schnell den entlaufenen Irren wieder einfangen können, halten Sie mir eine lächerliche Gardinenpredigt! Was meinen Sie wohl, was geschieht, wenn ein Beamter hier eintrifft, und ich ihm erzähle, Sie hätten mich gefesselt hier liegenlassen, statt sich um Degler zu kümmern?“ Rixon erlitt einen gelinden Nervenschock. Die Ereignisse dieses Tages waren einfach zu viel für ihn! Die Zeitungslektüre 97
hatte ihm die Augen darüber geöffnet, was für einen wichtigen Mann er in Degler zu bewachen hatte. Außerdem kannte er jetzt die Zusammenhänge, nur konnte er sich kein klares Bild über die Rolle machen, die de Marseille dabei spielen konnte. Sicher ist sicher! dachte er deshalb und fragte im Ton eines Inquisitors: „Was wollten Sie eigentlich noch hier? Doch nicht etwa mir den verlangten Ausweis bringen? Damit kommen Sie bei mir nicht durch, Sie Schwindler! Auch in New York ist Ihr Name nicht bekannt! Sie wollten nur …“ „Reden Sie jetzt nicht viel, sondern machen Sie mich los, Rixon!“ brüllte ihn der Franzose jetzt unbeherrscht und scheinbar am Ende seiner Geduld an. „Wenn Sie mir nicht glauben, dann sehen Sie gefälligst mal auf die Innenseite meines linken Rockaufschlags! Ich mußte Ihnen diese Komödie vorspielen, weil ich Kriminalbeamter bin und den Auftrag habe, mich hier um Deglers Sicherheit zu kümmern. Ihre Tüchtigkeit kennt man in New York, verehrter Herr Doktor! Sonst hätte man nicht auch mich mit der Bewachung beauftragt und gezwungen, einen Irrenhausdoktor zu markieren! Los, schnell jetzt, sonst wird es noch unangenehmer für Sie!“ Rixon war damit vollkommen eingeschüchtert. Zögernd drehte er wie befahlen den linken Rockaufschlag um und sah darunter die Marke der Kriminalpolizei. Er schrak erneut zusammen und beeilte sich dann, eigenhändig die Fesseln zu lösen. Dies ging überraschend schnell und Fourge war schon im Laufschritt aus dem Haus hinter dem „Flüchtenden“ hergerast, als mit kreischenden Bremsen ein Polizeikommando vor der Anstalt hielt. Diesmal verlor Rixon wirklich die Nerven! Er machte einen so geistlosen Eindruck, daß die meisten seiner Pfleglinge sicher intelligenter aussahen als er im Angesicht der vier finster blickenden Polizeibeamten. Stotternd bat er sie, einzutreten und in sein Büro zu kommen. Dann holte er erst einmal tief Luft und be98
gann umständlich, die Ereignisse der letzten Minuten zu berichten. Er endete: „Und dann sprang er davon, um nach dem verschwundenen Professor zu suchen. Hoffentlich findet er ihn noch! Wenn Sie einen Augenblick warten wollen … Er kann noch nicht sehr weit sein.“ „Wann verließ de Marseille das Haus?“ fragte einer der Beamten. „Im gleichen Augenblick, als Sie eintrafen. Sie hätten sich eigentlich begegnen müssen! Haben Sie ihn denn nicht gesehen?“ „Himmeldonnerwetter noch einmal!“ Dem Kommissar ging jetzt doch über so viel Beschränktheit der Hut hoch. „Wenn wir ihn gesehen hätten, würde er längst Handschellen tragen! Das sagen Sie uns jetzt erst, daß wir ihn hätten noch fangen können! Sie sind wirklich …“ Die vier sprangen auf und rannten mit langen Schritten hinaus. Dort verteilten sie sich ohne weitere Verabredung in verschiedene Richtungen und begannen mit einer erfolglosen Suche. Die beiden waren natürlich längst über alle Berge, der Vorsprung war groß genug. „Uff!“ stöhnte Dr. Rixon gequält und sank, unfähig zu irgendwelchen Gedanken, in einen Sessel. Auch im Hotel war „Dr. de Marseille“ natürlich nicht zu finden. Während sein Hotelzimmer und auch die umliegenden Räume genau untersucht wurden, saßen im nebenan liegenden Hotel Bravo die beiden Verschwundenen beim großen Kriegsrat mit Upton Ross in dessen Zimmer zusammen. Fourge kalkulierte wieder einmal genau richtig: Überall hätte man sie gesucht, nur nicht in so unmittelbarer Nähe! Degler trug immer noch die dunkle Brille und einen künstlichen Schnurrbart, der ihm das Aussehen eines ehemaligen österreichischen Gardeleutnants verlieh. „Das hat ja geklappt wie am Schnürchen!“ lobte Ross und 99
befleißigte sich in Gegenwart des Professors einer gepflegteren Sprechweise. „Sie sind doch ein Teufelskerl, Fourge! Dieses Husarenstückchen hätte ich nicht fertigbekommen! Großartig haben Sie das gemacht. Aber wie soll es jetzt weitergehen? Haben Sie Vorschläge?“ Degler verneinte. Er hatte sich nie Fluchtgedanken gemacht, also auch nicht überlegt, wie eine solche durchzuführen sei. Jetzt war für Ross der große Augenblick da. „Ich habe auch nicht geschlafen“, prahlte er, „mein Plan ist fertig. Wenn ihr genau das tut, was ich jetzt sage, können wir schon nach Anbruch der Dunkelheit zum Lat starten!“ Elektrisiert fuhr Degler hoch. „Wohin? Zum Lat?“ „Jawohl, zu Ihrer Nichte!“ grinste Ross breit. „Und nun hört mal her!“ Er erklärte ihnen einen bis in die kleinste Einzelheit vorbereiteten Fluchtplan, der zwar nur an einem dünnen Faden hing, aber immerhin doch eine Chance darstellte. Degler staunte nur über die Tatkraft der beiden Männer, deren Charakter oder Herkunft ihm immer noch völlig dunkel war. Ein eigenartiges, unangenehmes Gefühl konnte er nicht unterdrücken. Er sagte sich aber, daß alles keine Rolle spielte, solange sie ihm halfen, Lat zu erreichen. Deshalb erklärte er isch mit allem einverstanden. Da es noch nicht ganz Mittag war, konnten sie sich in Ruhe hinlegen und die Dämmerung abwarten. „Danach werden wir lange keinen Schlaf bekommen!“ bemerkte Ross nachdrücklich. Gray Bust machte sich nach dem Frühstück mißmutig auf den Weg und gelangte ohne es zu wollen auf seinem Spaziergang, der keinen bestimmten Zweck verfolgte, wieder an den Schauplatz seines gestrigen Hinauswurfs. Kurz entschlossen klingelte er und ließ sich noch einmal bei Dr. Rixon melden. Er traf auf einen übernächtigen, nervlich erledigten Mann, der ihm unsicher entgegenblickte. Mit einem plötzlichen Entschluß streckte Rixon ihm dann die Hand entgegen und sagte spontan: „Ich freue mich, daß Sie noch einmal gekommen sind. 100
Eigentlich darf ich Ihnen überhaupt nichts sagen. Aber da mir meine Entlassung ohnehin schon mitgeteilt wurde“ – Bust horchte bei diesen Worten gespannt auf – „kann ich Ihnen genausogut alles erzählen. Helfen wird mir keiner mehr, meine Karriere ist vorbei! Also hören Sie gut zu!“ Er erzählte mit müder Stimme und vollkommen teilnahmslos, als ob ihn das ganze Affentheater nichts mehr anginge, von den gestrigen Ereignissen. Von dem falschen Erlaubnisschein, der falschen Rettung des ebenso falschen Dr. de Marseille, und von der tatsächlich erfolgten Flucht der beiden. Sein Bericht war zwar unklar und verworren, aber Bust konnte doch aus den Bruchstücken das ganze, geniale Komplott des angeblichen Dr. de Marseille rekonstruieren. Sein gestriger Verdacht hatte ihn also doch nicht getrogen! Nur eins blieb ihm noch verborgen: das Motiv der Entführung – oder Flucht, was immer es war. Außerdem wußte er nicht, warum Degler überhaupt hierhergekommen war. Aber diesen Dingen würde er schon noch auf die Spur kommen! Eins stand fest: Die nächste Reportage würde wieder ein Knüller sein! Selbst einem so abgebrühten alten Hasen wie dem Verleger Hamilton stockte der Atem, als Bust telefonisch seinen Bericht durchgab. Alles wurde auf Tonband festgehalten, um gleich anschließend für die Zeitung verarbeitet zu werden. Bust selbst wollte noch in Rocket Plane bleiben, um der Sache weiter nachzugehen. „Menschenskind“, brüllte der Colonel begeistert, „Bust, Sie schreiben die Reportage Ihres Lebens! Zehntausend extra für Sie! – Oder, sagen wir lieber acht!“ setzte er gleich hinzu. „So etwas haben wir in den letzten Jahren noch nicht gehabt.“ Er überlegte einen Moment und fügte dann hinzu: „Ich muß mich entschuldigen, alter Junge, ich will Sie jetzt nicht vermiesen. Es bleibt bei zehn, verstanden? Und Sie machen weiter daran. 101
Wenn Sie einen ebenso dicken Fisch fangen wie diese heutige Reportage ist, drucken wir eine Extraausgabe! Wiedersehen!“ „Vielen Dank, Chef, ich bleibe auf der Spur, auf Wiedersehen!“ Er hängte ein. Leider hatte er nicht bemerkt, daß Lucy aus der Nebenzelle das Gespräch mit angehört hatte, sonst hätte er das nächstemal vielleicht doch lieber vom Hotel aus telefoniert, obgleich er gewohnheitsgemäß wichtige Telefonate immer von einem neutralen Ort aus führte. In einem Augenblick seltener Überlegung erkannte das Mädchen seine einmalige Chance. Sie rief sofort den örtlichen Reporter der Konkurrenzzeitung, der „Washington. Tribune“, an und erzählte ihm brühwarm das Gehörte. Der war auch nicht faul und brachte es fertig, daß seine Zeitung schon eine Stunde später eine Sonderausgabe druckte, die noch vor der Nachmittagsausgabe des Star herauskommen würde. Aber nun wieder der Reihenfolge nach: Gray Bust wartete, bis Lucy wieder auftauchte, zahlte und ging zunächst einmal hinüber ins IAI-Gebäude, um Roberts aufzusuchen. Er wurde schnell vorgelassen. „Na, mein lieber Chefredakteur, was gibt es Neues?“ fragte Roberts spöttisch. „Was haben Sie über den Geisterseher und seine verborgene, geheimnisvolle Welt oben in den Sternen sonst noch entdeckt?“ Gray Bust ging auf den Tonfall des Präsidenten nicht ein, sondern stellte ihm unbekümmert die direkte Frage: „Warum war Professor Degler in der Irrenanstalt, Mr. Roberts?“ Der wurde einen Schimmer bleicher und fragte viel zu hastig: „Was heißt hier war?“ Das Wort ließ sich nicht mehr zurücknehmen, es war gesprochen. Gray Bust lehnte sich zufrieden in seinem Sessel zurück. Er wußte genug. Dennoch fragte er mit verwundertem Gesicht: 102
„Wie, Sie wußten davon, Herr Präsident? Darüber bin ich sehr erstaunt! Wir sind doch sonst auch gut unterrichtet, und ich erfuhr seinen Aufenthalt erst gestern.“ „Was wollen Sie damit sagen, Bust?“ knurrte Roberts böse. Er hatte schon zu viel gesagt und wollte doch gern wissen, wie gut Bust unterrichtet war. Vor allem interessierte ihn brennend das „war“. „Ich hatte mir fast gedacht, daß der alte Professor sich in Behandlung begeben würde, nachdem ich ihm deutlich genug erklärte, daß ich seinen Geist für ein wenig verworren hielt. Sicher war er vernünftig genug, sich zu einer kurzen Kur zu melden. Ich bin nur erstaunt darüber, daß er es so schnell tat. Das ist alles!“ „So, das ist alles. Nun, ich kann Sie beruhigen, Mr. Roberts: Degler ist nicht mehr in der Anstalt.“ „Und wo hält er sich jetzt auf?“ fragte Roberts. „Ich weiß es nicht. Er wurde heute vormittag entführt. Die überwältigende Intelligenz des Anstaltsleiters ermöglichte es einem raffinierten Schwindler, ihn herauszuholen. Wo die beiden jetzt sind, versucht die Kriminalpolizei zur Zeit zu ermitteln.“ Er fügte noch hinzu, während er sich bereits erhob: „Wenn Sie Einzelheiten erfahren wollen, lesen Sie bitte die Nachmittagsausgabe des Star!“ Roberts hielt ihn mit festem Griff zurück. „Sie haben doch nicht etwa die ganze schmutzige Wäsche in aller Öffentlichkeit gewaschen?“ – „Warum nicht? Es ist doch schließlich unsere Aufgabe, das Publikum zu unterrichten. Wieso stören Sie sich daran überhaupt? Sie haben doch nichts damit zu tun?“ Roberts schluckte seine übermenschliche Wut hinunter. Am liebsten hätte er diesen Kerl mit dem lachenden, frechen Gesicht unter der Haarbürste erwürgt, er kam jedoch nicht dazu. Seine Sekretärin legte ihm wortlos eine Sondernummer der Washington Tribune auf den Tisch. Vier Augen verschlangen un103
gläubig die in fetten Buchstaben gesetzte Überschrift: „Professor Degler mit Hilfe eines Unbekannten aus dem Irrenhaus entwichen!“ Jetzt war die Reihe an Bust, zu erbleichen. Roberts stellte es mit Schadenfreude fest. Er hatte seinen Schock überwunden und war wieder Herr der Lage. „Hat ihr Blatt jetzt einen anderen Titel“, fragte er scheinheilig, „oder pflegen Sie, Herr Chefredakteur, immer für verschiedene Zeitungen gleichzeitig zu arbeiten? Dies ist doch nicht der New York Star, oder täusche ich mich?“ Gray Bust spürte nur zu deutlich den beißenden Hohn. Er war mit seinem Latein am Ende. Wie konnte ihm die Konkurrenz zuvorkommen? Arbeitete Degler jetzt mit den anderen zusammen? Seine Gedanken wirbelten durcheinander, deshalb hielt er es für das beste sich zu verabschieden, um erst einmal Klarheit in seine Gedanken zu bringen. Mit beißendem Spott entließ ihn Roberts, der sich über die Niederlage des anderen freute. Bust ging nicht gleich in sein Hotel, denn er wußte ganz genau, daß dort seit mindestens einer Viertelstunde ein Gespräch aus New York auf ihn warten würde. In Moskau wurde unterdessen fieberhaft gearbeitet. Igor Fascotzki, der Leiter der Astronautischen Abteilung, und der junge Kapitän Wladimir Kolgodz standen mit drei weiteren Fachleuten des Raumflugs um einen runden Tisch, der mit Plänen und Tabellen vollgepackt war. „Dies hier sind die Berechnungen von Professor Degler“, begann Kolgodz seinen Vortrag. „Es ist mir gelungen, sie ohne Schwierigkeiten aus dem Arbeitszimmer des verlassenen Hauses zu holen. Mit Degler selbst konnte ich keine Verbindung aufnehmen, weil er anscheinend seit Tagen verschwunden ist. Ich hielt es für wichtiger, erst einmal diese Papiere in Sicherheit zu bringen.“ „Daran haben Sie recht getan, Kapitän“, bestätigte sein Chef. 104
„Diese Unterlagen sind, wie unsere Spezialisten bestätigten, zur Bestimmung des genauen Standorts des fraglichen Planeten vollauf ausreichend. Ich spreche Ihnen meine Anerkennung aus, Kolgodz, Sie haben gut gearbeitet!“ Der junge Russe errötete vor Freude und Stolz über das Lob, das nur selten einer aus dem Mund des Chefs vernahm und bedankte sich mit einer militärischknappen Verbeugung. Dann fuhr er fort: „Als ich in Rocket Plane ankam, erkundigte sich gleichzeitig auch der Chefredakteur des New York Star nach der Anschrift des Professors. Vermutlich wollte er nach seinem Verbleib forschen. Solange er verschwunden ist, sind wir als die Besitzer dieser Unterlagen im Vorteil. Degler selbst ist jedoch zweifellos in der Lage, die Berechnungen zu wiederholen und ein amerikanisches Raumschiff zu dem Planeten zu lenken, den sie Lat nennen. Wenn es also Gray Bust gelingen sollte, Degler zu finden, wäre unser Vorsprung schnell eingeholt. Die Öffentlichkeit würde fordern, eine Suchexpedition auszurüsten, Dem müssen wir zuvorkommen!“ „Nach den bisherigen Zeitungsberichten scheint man den Angaben des Deutschen keinen Glauben zu schenken. Außerdem wurde noch nirgends erwähnt, daß er überhaupt verschwunden ist!“ gab einer der drei Fachleute zu bedenken. „Die amerikanische Presse arbeitet schnell und gründlich, Genossen!“ erwiderte Kolgodz. „Wenn ich das sagen darf: Wir haben keine Zeit zu verlieren! Ich würde heute noch mit den Vorbereitungen für die Expedition beginnen.“ Nachdenklich schritt der mächtige Chef der russischen Raumforschung ein paar Schritte auf und ab, dann blieb er vor Kolgodz stehen und blickte ihn fest an. Wladimir nahm Haltung an. „Gut!“ stieß Fascotzki hervor. „Gut, wir starten in fünf Tagen! Bis dahin müssen alle Vorbereitungen abgeschlossen sein. Sie, Kapitän, werden das Schiff steuern!“ 105
Der junge Mann ließ sich seine Freude über den ehrenvollen Auftrag nicht anmerken, sondern wiederholte nur mit eisernem Gesicht den Befehl. Damit war die Besprechung beendet. Für Wladimir Kolgodz und die Besatzung des Raumkreuzers, die aus zwei befähigten Astronautikern und drei weiteren Spezialisten nebst drei Matrosen bestand, begannen nun fünf harte, arbeitsreiche Tage. Der Auftrag wurde naturgemäß strengstens geheimgehalten, nur er selbst und die beiden Piloten kannten das Ziel des „Ausflugs“. Und sie wußten, daß ihnen ein paar schwere Wochen bevorstanden. Aber auch Igor Fascotzki hatte schwere Sorgen. In der „Washington Tribune“ las er zwei Stunden nach der entscheidenden Besprechung von der Entführung des Professors. Wer mit dem Deutschen zusammenarbeitete, war ebenfalls in der Lage, an kürzester Zeit zum Bat zu starten – sofern er ein geeignetes Schiff besaß. Die Amerikaner hatten es, das wußte er. Aber warum täuschten sie dann erst eine Entführung vor, nachdem sie Degler zuvor kaltgestellt hatten? Rätsel über Rätsel. Vielleicht war auch alles nur ein geschicktes Täuschungsmanöver von Seiten der amerikanischen Regierung, um die Russen, also ihn, in Sicherheit zu wiegen. Klar war nur, daß es mindestens noch eine zweite Gruppe von Menschen gab, die ihm mit dem Flug zum Lat zuvorkommen konnte. Ob das die amerikanische Regierung war oder eine dritte Partei, mit der Degler zusammenarbeitete, spielte nur eine untergeordnete Rolle. Der General verfluchte die langwierigen Vorbereitungen, die ihm fünf volle Tage Wartezeit bis zum Start aufzwangen. Er hoffte nur, daß die „Dubia“ schneller sein würde als das Schiff seiner Gegner. Gray Bust beschloß während seines zweistündigen Spaziergangs, vorerst nicht wieder in sein Hotel zurückzugehen. Er konnte es sich einfach nicht erklären, wie die Konkurrenz in 106
den Besitz seiner Informationen gekommen sein könnte. Er hatte zu niemandem etwas gesagt, sondern seinen Bericht unmittelbar nach New York weitergegeben. Ob jemand sein Telefongespräch belauscht hatte? Das spielte jetzt keine große Rolle für ihn. Colonel Hamilton würde sich bestimmt für keinerlei Entschuldigungen interessieren. Es gab nur eine Möglichkeit für Gray: jetzt auf eigene Faust zu handeln und dabei zu versuchen, die tiefe Scharte wieder auszuwetzen. Er verlangsamte seine stürmische Wanderung, die ihn bis an den Rand der Sperrzone geführt hatte, und bemühte sich, erst einmal Ordnung in seine Denkmaschinerie zu bringen. Dabei blieb er stehen und setzte sich schließlich außerhalb des geladenen Stacheldrahtzauns ins Gras. „Nun paß auf, alter Junge!“ sagte er zu sich selbst, „immer schön der Reihe nach! Was ist passiert? Degler wird beseitigt, vermutlich, weil er zuviel gesagt hat. Beseitigt durch Roberts – soviel stand für Gray fest. Die Reaktion des IAI-Präsidenten war deutlich genug. Weiter: Degler wird in eine Irrenanstalt eingeliefert, sein Aufenthalt geheimgehalten. Trotzdem verschwindet er spurlos, zusammen mit dem angeblichen Dr. de Marseille, der den Leiter der Anstalt auf raffinierte Weise übertölpelt. Das ganze Spiel war großartig eingefädelt, das ist zuzugeben.“ Präzise arbeitete Grays Gehirn jetzt weiter, nachdem es erst einmal zum Laufen gebracht war. Wer konnte ein Interesse daran haben, den Professor in seine Gewalt zu bekommen? – Natürlich nur jemand, der selbst die Absicht hatte, den verschwundenen Planetenforschern nachzufliegen. Die amerikanische Regierung war das nicht, sonst hätte Roberts anders reagiert. Waren es die Russen? Wie ließ sich der nächtliche Einbruch in Deglers Haus mit der ganzen Geschichte in Einklang bringen? Gray schüttelte den Kopf. Es waren zwei Einbrecher dage107
wesen, und zwar unabhängig voneinander! Also handelte es sich um eine dritte Gruppe! Elektrisiert sprang er auf. Eine dritte Gruppe! Und es gab seines Wissens nur zwei Raumschiffe, die für eine solche Exkursion geeignet waren: Ein russisches und ein amerikanisches. Wenn also ein Dritter zum Lat fliegen wollte, mußte er sich eine der beiden Maschinen aneignen! Eine tolle Idee! Er erinnerte sich an sein Gegenüber im Kaffee und kombinierte rasch weiter. Dieser blonde Kerl mit dem etwas harten Akzent konnte nur ein russischer Agent gewesen sein. Aber auch den Doktor de Marseille hatte er bereits im Café gesehen. Und es war diesem sichtlich unangenehm, als sie sich später zufällig in der Irrenanstalt wiedertrafen. Es gab also nur eine einzige Möglichkeit: de Marseille – oder wie er sonst heißen mochte – arbeitete für die dritte Gruppe! Während der letzten Gedankengänge eilte Bust bereits mit langen Schritten zur Stadt zurück, um irgendwo ein Telefon ausfindig zu machen. Er mußte wissen, wer dieser Franzose in Wirklichkeit war. Am Stadtrand betrat er eine Telefonzelle, die man aus übersichtlichen Gründen hierhergebaut hatte. Er wählte die Nummer der Kriminalpolizei von Rocket Plane. Ein Inspektor Raymonds meldete sich. Auf gut Glück verstellte Bust seine Stimme und versuchte Roberts nachzuahmen. „Hier IAI, Roberts am Apparat! Ich muß endlich wissen, wer dieser angebliche Doktor de Marseille ist. Haben Sie seine Identität schon festgestellt?“ Die Antwort des Beamten klang ziemlich verwundert. „Aber natürlich, Mr. Roberts! Wir haben es Ihnen doch bereits vor einer Stunde mitgeteilt, daß es sich dabei um einen international gesuchten Gentleman-Verbrecher namens René Fourge handelt. Haben Sie denn …“ 108
„Ja, ja, natürlich!“ Roch der andere den Braten? – „Natürlich, das meinte ich damit auch nicht, den Namen haben Sie mir natürlich gesagt. Ich wollte wissen, wer dieser Fourge ist, und mit wem er zusammenarbeitet. Er kann doch nicht allein wirken!“ „Bisher kennen wir nur einen Komplicen von ihm: Einen gewissen Upton Ross aus Chicago. Beide haben bereits einige größere Dinge zusammen gedreht, ohne daß wir ihnen bis heute etwas nachweisen können. Aber wenn wir erst einmal …“ Was die Kriminalpolizei mit den beiden machen würde, wenn sie erst einmal und so weiter, das interessierte Gray Bust nicht im geringsten. Er hängte schnell den Hörer ein, denn er wußte jetzt genug. Wenn es in den Vereinigten Staaten einen Mann gab, der imstande war, aus einem streng bewachten Gebiet ein ganzes Raumschiff zu stehlen, dann war es sicher Upton Ross! Vor fünf Jahren hate er schon einmal ein ganzes Panzerauto mit frisch gedruckten Banknoten spurlos verschwinden lassen – Bust wußte das ebenso genau wie die Kriminalpolizei, es war jedoch nicht möglich, dem gerissenen Gauner das Geringste nachzuweisen. Auch die Banknoten blieben verschwunden, dafür tauchten andere mit neuen Nummern auf, die bei keiner Bank bekannt waren. Mit diesen Leuten hatte er es also zu tun! Und Degler hatte sich anscheinend freiwillig in ihre Hände begeben. Mein Gott, dann mußte das nächste Ziel die „Condor“ sein – das Schwesterschiff der verschollenen „United“! Es begann bereits, dunkel zu werden. Mit langen Schritten rannte Bust wieder hinaus zum Startgelände. Wie würden es die Gauner wohl anstellen, das Schiff zu bekommen? Daß sie es versuchen wollten, stand für Bust fest. Und wenn Upton Ross in die Sperrzone hineinkam, mußte es für einen erfahrenen Pressemann auch möglich sein! Gray Bust rannte an dem Drahtverhau entlang. Durch die 109
doppelt bewachten Tore würde er natürlich nicht eindringen können. Den Gedanken an diesen Versuch verwarf er sofort. Selbst einem Upton Ross konnte dies nicht gelingen! Auch der Luftraum über dem Versuchsgelände war durch Radar gesperrt. Also gab es nur eins: Irgendwo im Zaun eine Lücke finden. Inzwischen senkte sich die Dunkelheit rasch über die Wüste herab, und Gray mußte sich immer mehr nach den roten Warnlichtern richten, die in regelmäßigen Abständen angebracht waren. Wie sollte ein Mensch hier durchkommen, ohne an den Hochspannungsdrähten zu verschmoren! Plötzlich entdeckte er kurz vor sich eine auffällige Unebenheit des Bodens. Er bückte sich danach und unterdrückte nur mühsam einen erstaunten Pfiff. Hier hatte jemand den weichen Sand aufgegraben. Sollten die Gangster versuchen, unter der Barriere in das Sperrgebiet zu gelangen? Fieberhaft wühlte Bust mit beiden Händen in dem Sand und stieß nach einem Meter schon auf den Rand eines runden Leichtmetallrohrs mit einem Durchmesser von rund einem Meter. Er räumte rasch noch mehr Sand zur Seite – mit den bloßen Händen ging das viel zu langsam – und ließ sich dann mit dem Kopf voran in das enge Rohr gleiten, das in leichter Neigung nach unten führte. So schnell es ging, zwängte er sich weiter durch und schob sich Meter um Meter vor, immer in Alarmbereitschaft, weil die Gangster sehr gut entweder kurz vor ihm oder kurz hinter ihm sein konnten. Es dauerte beinahe eine Stunde, bis das Rohr wieder nach oben führte. Im stillen bewunderte er Upton Ross. In zwei Nächten mußte er diesen Tunnel gebaut haben! Wie groß mochte wohl seine Organisation sein? Aber dann spürte er wieder Sand vor sich. Er schob ihn vorsichtig zur Seite und merkte bald darauf an der reiner werdenden Luft, daß er wieder an der Oberfläche war. Der Himmel war dicht verhangen, kein Stern, keim Licht zu sehen. Millimeter um Millimeter hob er den Kopf 110
aus der Röhre und blickte sich um. Viele Meter hinter eich sah er die roten Warnlichter schimmern. Vor sich nichts, nur Dunkelheit. Er wollte gerade aus seinem Versteck auftauchen – da wurde das Feld vor ihm mit einem Schlag lebendig. Zwei Schüsse ertönten, ein schriller Schrei, dann heulte eine Sirene los. Mit einem Schlag war das ganze Feld in gleißendes Scheinwerferlicht getaucht, so daß er seine Augen für Sekunden schließen mußte. Instinktiv ließ er sich in die Röhre zurückgleiten. Er war geistesgegenwärtig genug, um nach seiner Kamera zu angeln. Als er die Augen wieder öffnete, bot sich ihm ein unglaubliches Bild. Vierzig Meter vor ihm ragte der spitze Rumpf der „Condor“ drohend in den Nachthimmel, jetzt in helles Licht getaucht. Davor lagen zwei regungslose Gestalten – die Wachen. Eine Gestalt verschwand gerade in der Bordluke des Schiffes, eine zweite kletterte dicht dahinter die Leichtmetalleiter hoch. Auch sie drängte sich in das Schiff, und während sich die Außenluke schloß, ertönte bereits das helle Summen der anlaufenden Aggregate. Zugleich rannten aus den entfernt liegenden Hallen Uniformierte in Richtung auf das Schiff, und zwei gepanzerte Polizeiwagen rasten über das offene Feld. Die ersten Maschinengewehrsalven ratterten, aber die Kugeln prallten wirkungslos von der Speziallegierung des Schiffsrumpfes. Gray Bust brummte der Kopf. Zu spät, nicht in der Halle, sondern draußen auf dem Feld? Hatte Ross seine Verbündeten sogar in der Flugplatzleitung sitzen? Das Summen wurde heller und zugleich im Ton höher, blaue Flammen züngelten jetzt um das Heck des Schiffes. Würde es noch starten können? Bust zückte den Fotoapparat und schoß Bild auf Bild, Die ersten Verfolger erreichten gerade das Schiff, als die Metalleiter eingezogen wurde. Das Motorengeräusch schwoll zu einem fast unerträglichen Orkan an. Schon begann 111
der Boden unter dem Startgestell zu glühen, und die vordersten der Bodenmannschaft mußten sich vor der Glut zurückziehen. Warum wurden keine schweren Geschütze eingesetzt? Wollte man das wertvolle Schiff nicht beschädigen? Aber da ertönte auch schon der erste Abschuß, ein trockener, harter Knall. Fünf Meter neben dem Schiff schoß eine Sandfontäne hoch. Bevor jedoch ein zweiter Schuß, der sicher mitten ins Ziel gegangen wäre, gelöst werden konnte, erhob sich die „Condor“ ruckweise in die Höhe. Upton Ross hatte mit der ihm unbekannten Maschine einen Schnellstart gewagt! Und er gelang. Fünf Minuten später war am wolkenverhangenen Himmel noch nicht einmal mehr ein Feuerschein der Rückstoßgase zu sehen. Die überrumpelte Bewachungsmannschaft machte sich nun daran, den ganzen weiten Platz systematisch abzusuchen. Gray Bust zog sich hastig zurück – seine Filme stellten für ihn nicht nur ein Vermögen dar, sondern zugleich die Sicherung seiner ins Wanken geratenen Stellung beim „Herald“. Sie durften keinesfalls beschlagnahmt werden. Das Rohr würde man natürlich finden, aber was machte das schon! Am nächsten Morgen brachte der New York Herald – diesmal wirklich als einzige Zeitung der Welt – die sensationellste Reportage seit seinem Bestehen. Selbst wenn sich Bust jetzt zur Ruhe gesetzt hätte – ein sorgenfreier Lebensabend wäre gesichert gewesen. Denn kleinlich war Colonel Hamilton bestimmt nicht, schon gar nicht in solchen Fällen! Sorgenvoll las Igor Fascotzki den ausführlichen Bildbericht vom Start der „Condor“. Also waren ihm die Burschen doch zuvorgekommen! Eine Tatsache beruhigte ihn dabei allerdings: Es handelte sich nur um eine kleine Verbrecherclique und nicht um ein offizielles Unternehmen der amerikanischen Regierung. Im Gegenteil! Die waren nun ihres einzigen Schiffes beraubt, mit dem der Sprung zum Lat möglich war. „Das ändert natürlich vollkommen die gegenwärtige Lage, 112
Kapitän!“ sagte er zu Wladimir Kolgodz. „Die fünf Tage Vorbereitungszeit kann ich Ihnen jetzt nicht mehr einräumen. Sie müssen Ihre Instruktionen während des Flugs fortsetzen und heute nacht noch starten! Es gibt keine Bedenken, hören Sie? Es gibt nur eins: Das amerikanische Schiff einholen und zur Strecke bringen!“ „Jawohl, Genosse General!“. In Wladimirs Gesicht zuckte kein Muskel. Er hatte seinen Befehl verstanden und zeigte mit keiner Miene, wie er selbst darüber dachte. „Noch eins: Lassen Sie den Raumwerfer für A-Waffen an Bord bringen. Wir wissen nicht, ob das amerikanische Schiff bewaffnet ist. Wir wissen auch nicht, wie Ihnen die Eingeborenen von Lat entgegentreten werden.“ Er machte eine Pause. Darin setzte er bedeutungsvoll hinzu: „Betrachten Sie sich als offiziellen Vertreter des sowjetischen Volkes. Handeln Sie entsprechend. Für das Vorgehen auf Lat selbst erbaten Sie alle erforderlichen Vollmachten.“ „Danke, Genosse General!“ Damit war Kolgodz verabschiedet. Er machte mit seinen Leuten in fieberhafter Eile das Flugschiff fertig. Um 22.54 Uhr startete die Lubia, ohne daß irgend jemand davon Notiz nahm. Es gelang der russischen Abwehr, den Start vollkommen geheimzuhalten. Erst fünf Tage später ging eine aufsehenerregende Meldung durch die Weltpresse. Man hatte beobachtet, daß in Rußland ein Sternenschiff gestartet war, das gut hätte die „Lubia“ sein können – jeder glaubte, daß sie es auch wirklich war. Drei Stunden nach dem Start hatte der Antrieb versagt, und das Schiff war abgestürzt. Diese Meldung enthielt wenigstens insofern eine Beruhigung für Präsident Roberts, als er nun die Gewißheit hatte, weder die Amerikaner noch die Russen besaßen zur Zeit ein Schiff, das für den weiten Raumflug geeignet war. Das Spiel der Kräfte schien wieder unentschieden zu stehen – er wußte nicht, daß 113
alles nur ein Scheinmanöver war, sonst hätte er sicher noch einige graue Haare mehr bekommen. Fred More sah sehr ernst seine Freunde der Reihe nach an. Bill Bones hatte über Gray Bust erfahren, was sich während der letzten Tage abgespielt hatte. Das Observatorium beobachtete seitdem die beiden gestarteten Schiffe. Große Besorgnis um die Zukunft stand in allen Gesichtern zu lesen. „Wir sind zwar hinreichend durch den Schirm geschützt“, sagte Captain Relling zögernd, „aber wenn sie wirklich landen – wie sollen wir uns verhalten? Dürfen wir zulassen, daß sie als Angreifer – was sie ja wirklich sind – aufgelöst werden?“. „Nein, nein, nein!“ schrie Inge Waller auf. „Sie vergessen, daß sich mein Onkel in dem einen Schiff befindet! Er kann doch nicht wissen, wem er sich in die Hände gegeben hat!“ „Wenn man ihn wenigstens warnen könnte!“ seufzte Bill Bones. „Aber ich sehe im Augenblick keine Möglichkeit dazu. Das Schiff fliegt zu schnell, als, daß wir einen gedanklichen Kontakt herstellen könnten. Wir müssen damit schon bis zur Landung warten. Außerdem wird Degler doch sicher die beiden Gauner als seine Retter ansehen und ihnen voll vertrauen. Sie machen es ihm doch schließlich möglich, nach hier zu fliegen!“ „Und hier werden wir sie gebührend empfangen“, knurrte Ackermann wütend. „Vergeßt das russische Schiff nicht“, warnte Fred, „es wird sicher schwer bewaffnet sein. Wenn es den Condor unterwegs einholt, ist Degler verloren.“ Jeder wußte es. Schweigen lastete über den Menschen, die das Schicksal auf einen fremden Stern verschlagen hatte. Kaum war die Verbindung mit der Erde teilweise hergestellt, waren schon zwei feindliche Gruppen unterwegs, von denen sicher keine friedliche Absichten hegte. Wer die beiden Gangster waren, die das amerikanische Schiff gestohlen hatten, wußten sie aus dem „Herald“. Was die Russen wollten, war ihnen auch klar. 114
Und Amerika würde so schnell wie möglich ein neues Schiff bauen und hinter den Russen herschicken. Die Zukunft sah keineswegs rosig aus. Ganz bestimmt nicht. Welche Gefahren der Erde, dem Planeten Lat und insbesondere Professor Degler drohten, konnte noch niemand wissen. Jeder fühlte aber den Zwiespalt: Sollten sie die Aktionen der Erde unterstützen – oder mußten sie nicht auf der Seite von Lat stehen, dessen Herrscher ihnen bedingungslos vertraute? Wohin gehörten sie? Fred brach das bedrückte Schweigen. „Wir werden die Dinge auf uns zukommen lassen. Natürlich sitzen wir zwischen zwei Stühlen – aber das Problem darf eben nicht ‚Erde oder Lat’ heißen, sondern nur ‚Recht oder Unrecht’. Wir sind die Stärkeren. Wir kennen die Menschen besser als unsere Freunde hier. Deshalb wird es auf uns ankommen, ob uns die nächsten Wochen den Frieden bringen werden oder eine Katastrophe. Es mag übertrieben klingen, es ist aber so: In unseren Händen liegt jetzt das Schicksal zweier Planeten. Es muß unsere einzige Aufgabe sein, ihnen den Weg zueinander zu ebnen. Wenn uns das gelingt, wird alles gut werden, und jede der beiden Welten wird der anderen das geben, was ihren Weiterbestand garantieren wird: Die Erde wird die Kraft ihrer Jugend bringen, Lat die Weisheit seines Alters. Wenn es uns allerdings nicht gelingt –“ – Ende –
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UTOPIA-Zukunftsroman erscheint vierzehntäglich im Erich Pabel Verlag, Rastatt (Baden), Pabel-Haus. (Mitglied des Remagener Kreises e. V.) Einzelpreis! 0,50 DM. Anzeigenpreise laut Preisliste Nr., 5. Gesamtherstellung und Auslieferung: Druck- und Verlagshaus Erich Pabel. Rastatt (Bad.). Alleinauslieferung für Österreich: Eduard Verbik, Salzburg, Gaswerkgasse 7. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie gewerbsmäßige Weiterverbreitung in Lesezirkeln nur mit vorheriger Zustimmung des Verlegers gestattet. Gewerbsmäßiger Umtausch, Verleih oder Handel unter Ladenpreis vom Verleger untersagt. Zuwiderhandlungen verpflichten zu Schadenersatz. Für unverlangte Manuskriptsendungen wird keine Gewahr übernommen. Printed in Germany. – Scan by Brrazo 06/2011
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