Keith Laumer
Der Ultimax
Science Fiction-Roman
BASTEI-LÜBBE
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH
Science Fiction Action
Ba...
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Keith Laumer
Der Ultimax
Science Fiction-Roman
BASTEI-LÜBBE
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH
Science Fiction Action
Band 21 130
© Copyright 1978 by Keith Laumer
All rights reserved
Deutsche Lizenzausgabe 1980
Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe, Bergisch Gladbach
Originaltitel: The Ultimax
Ins Deutsche übertragen von Harro Christensen
Titelillustration: Agentur Thomas Schlück
Umschlaggestaltung: Bastei-Grafik (W)
Druck und Verarbeitung:
Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh
Printed in Western Germany
ISBN 3-404-21130-8
Damocles Montgomerie, ein kleiner Ganove, hat keine Chance mehr. Ein Berufskiller hat ihn gestellt und in die Enge getrieben. Der Finger des Mörders krümmt sich um den Abzug seines Revolvers. Die Kugel verläßt den Lauf – und bleibt mitten in der Luft stehen. Als Damocles endlich wieder einen klaren Gedanken fassen kann, findet er sich in einem Laboratorium tief im arktischen Eis wieder. Ob er darüber glücklich sein soll, erscheint ihm äußerst zweifelhaft, als er begreifen muß, daß er einer außerirdischen Rasse als Versuchskaninchen dient. Die Fremden „bauen“ ihn um zum Ultimax, einem Prototyp des neuen Menschen…
I
Ein Mann ging langsam die dunkle Straße entlang. Er war noch jung. Seine Kleidung war konservativ. Er trug einen dunkelblauen zweireihigen Blazer, graue ausgestellte Hosen und zum hellblauen Hemd eine breite Krawatte. Aber er bewegte sich wie ein Achtzigjähriger, die Ellbogen fest an den Körper gepreßt. Er hieß Damocles Montgomerie und hatte aus nächster Nähe eine Kugel eingefangen. Sie stammte aus einer automatischen Pistole, Beretta Kaliber 32. Das Geschoß hatte ihm zwei Rippen zerschmettert und ein Dutzend Splitter in die Leber gefetzt. Einen Zentimeter neben der Wirbelsäule war es steckengeblieben. Halb taumelnd erreichte er eine von zerbröckelndem Mauerwerk gesäumte Einfahrt. Der Deckel eines Abfallbehälters schepperte über das schmierige Pflaster. Er lehnte sich an die Mauer, stemmte sich mühselig hoch und stolperte weiter. Ein widerlicher Gestank von Unrat drang ihm in die Nase. Schließlich hatte er das Ende der Sackgasse erreicht. Er drehte sich um, den Rücken zur Wand. Vorsichtig betastete er die feuchte Stelle rechts unter den Rippen, fühlte das Loch im schweren Flanell seiner Jacke, im teuren Seidenhemd, im Unterhemd und in seinem eigenen Fleisch. Von der Straße hörte er leise Schritte. Der Strahl einer Taschenlampe huschte über das Kopfsteinpflaster der Einfahrt, die Mauer entlang, über Montgomeries Brust und leuchtete ihm dann direkt ins Gesicht. Zwei, drei Sekunden gleißendes Licht, dann war wieder Dunkelheit. »Wohin willst du’s haben, Scheißkerl?« krächzte eine leise rauhe Stimme. »Zwischen die Augen, okay?«
»Versuch lieber einen Bauchschuß, Chico.« Montgomeries Stimme klang dünn und scharf wie eine gestraffte Saite. »Richtig zielen kannst du ja doch nicht.« »Spar dir dein Geschwätz, Ratte. Du darfst noch fünf Sekunden beten. Eins…« Er hörte den anderen zählen. Es schien eine Ewigkeit. Bei ›fünf‹ blitzte das Mündungsfeuer auf und erhellte die Szene in leuchtendem Gelb. Die Flamme fuhr aus der Waffe. Schwerer Rauch kräuselte sich und hing plötzlich starr und unbewegt in der Luft. Leicht nach vorn geneigt und breitbeinig stand der Killer da. Den linken Arm hielt er vom Körper ab, die Finger gespreizt. In der ausgestreckten rechten Hand lag die Waffe. Die geöffneten Lippen gaben die Zähne frei. Mit halb geschlossenen Augen stand er reglos, aufs Äußerste angespannt. Hinter ihm, zur Straße hin, bewegte sich etwas. Ein schmächtiger Mann mit grauem Zylinder und in einem eleganten Cut ging bedächtig auf den wie angewurzelt dastehenden Schützen zu. Er war schon älter. Sein schmales, ernstes Gesicht mit dem gepflegten Schnurrbart schimmerte bleich aus der Dunkelheit. In der behandschuhten Rechten hielt er einen Stock mit silbernem Knauf. Neugierig betrachtete er die stumme Szene. Dann schob er sich an dem Mann vorbei und blieb vor dem Verwundeten stehen. Er sah ihn prüfend an und verzog den Mund mit dem Ausdruck leiser Mißbilligung. Deine Angelegenheiten scheinen nicht zum besten zu stehen, mein Junge. Klar und deutlich registrierte Montgomerie die Stimme des anderen. Er versuchte zu sprechen: Nichts geschah. Er wollte sich bewegen: Es ging nicht. Ach, nur keine Aufregung. Dir passiert nichts, was nicht zahllosen anderen Organismen in der kurzen Geschichte dieses Planeten auch passiert wäre.
»HILFE«, schrie Montgomerie stumm. »ICH WILL HIER RAUS.« Das kommt meiner Absicht entgegen, mein Junge. Aber… es wäre vielleicht besser, wenn du erstmal einschläfst. Müdigkeit hüllte ihn ein wie ein schwerer Vorhang. Jeder Gedanke erstarb. Verschwommen nahm er noch wahr, wie der alte Herr schnell herantrat, ihn am Arm packte und mit ihm einfach in die Luft schwebte. Mit schwindenden Sinnen sah er Teerdächer, Ventilatoren und Fernsehantennen weit unten versinken. Dann schien er ins Bodenlose zu stürzen. Tiefe Bewußtlosigkeit umfing ihn.
Das ist ein Leben, dachte Damocles zufrieden, ein Platz Erster Klasse an Bord einer Luxusmaschine Richtung Paris. Auf ins Nachtleben der Metropole, während draußen der Mond auf das Meer tief unten scheint. Aber vorher noch ein wenig schlafen und warten bis die Stewardeß kommt und sich erkundigt… »Möchten Sie ein Sandwich, mein Junge?« sagte eine knarrende Männerstimme. Montgomerie riß die Augen auf. Er befand sich in einem winzigen Raum und saß in einem bequemen Liegesitz vor einer gewölbten schwarzen Glasscheibe. Unter dem Glas sah er eine Anzahl hell erleuchteter Knöpfe. Auf einem dieser Knöpfe ruhte eine dünne, geäderte Hand, die aus einer gestärkten weißen Manschette ragte, die wiederum in einem gut gebügelten schwarzen Ärmel steckte. Der dazugehörige Arm führte zu einem mild lächelnden Greisengesicht mit einem kleinen Schnurrbart und schütterem weißen Haar. »Sie!« Dammy piepste wie ein junger Vogel. »Aber…« »Sie erwarteten wohl, Chico zu sehen?«
»Chico!« Sammy zuckte zusammen und spürte einen stechenden Schmerz an der Seite. Er tastete nach der Schußwunde und fühlte einen weichen, dicken Verband. »Ich dachte – wie – was – « »Sparen Sie sich die Mühe, Damocles. Ich habe die Wunde versorgt und Ihren Stoffwechsel vorläufig stabilisiert, um eine Verschlechterung Ihres Zustandes zu verhindern, bevor ich Sie in das Automed schaffen kann. Inzwischen sollten Sie eine Kleinigkeit essen. Dann fühlen Sie sich bestimmt sicherer.« »Sicherer? Wieso?« flüsterte Dammy und hielt erschöpft inne. »Ich dachte, ich hätte von Ihnen nur geträumt. Ich meine… als ich starb.« »Das stimmt nicht ganz. Sie haben mich mit einem Teil Ihres Großhirns wahrgenommen, das im Wachzustand normalerweise nicht aktiviert ist – aber hier handelt es sich zweifellos um eine Nebenwirkung des Stasis-Feldes.« »Sie sind also nicht der Erzengel Gabriel oder sowas Ähnliches?« »Ich gehöre zu einer völlig anderen Branche. Möchten Sie Pastrami, Corned Beef oder lieber Schweizer Käse?« »Moment mal«, wollte Dammy wissen, »nur einen Moment. Wer sind Sie? Wo bin ich? Und – « »Nennen Sie mich Xorialle. Sie befinden sich an Bord meines Raumschiffes. Ich habe Sie selbst hergebracht.« »Tut mir leid, Al, aber das ist nun wirklich kein Name. Ich nenn’ Sie einfach ›A1‹, einverstanden?« Dammy schloß ganz fest die Augen. »Ich wurde angeschossen. Das steht fest, Al. Es tut weh.« Er stieß sich in die Seite, wie um sich zu vergewissern. »Dann war ich in dieser Gasse… und Chico…« Er mußte schlucken. »Komisch, ich hätte nie gedacht, daß man auch noch den Blitz sieht, bevor einem das Gehirn weggepustet
wird. Aber… «, er griff sich an den Kopf, »wie konnte er mich bei der kurzen Entfernung verfehlen?« »Er hat Sie nicht verfehlt. Das heißt, das Geschoß beschrieb eine Bahn, die genau den Punkt schnitt, an dem sich eben noch Ihr linkes Auge befand, und ist anschließend mit Sicherheit in die Mauer geschlagen.« Unwillkürlich fuhr sich Dammy mit der Hand übers Auge. Es schien in Ordnung zu sein. »Nein, nein«, sagte er, »ich glaube nicht an ein Leben nach dem Tode, Al.« »Allerdings«, fuhr Xorialle fort, »als die Kugel den Lauf verließ, waren Sie schon nicht mehr da.« »Habe ich mich… vielleicht geduckt?« »Kein Stück, mein Lieber. Ich habe Sie aus der Schußlinie genommen. Wäre ich nicht eingeschritten, hätte Ihre Existenz als denkendes Wesen vor zwölf Minuten ein Ende gehabt.« »Ja, aber wie war das möglich? Ich sah Sie kommen und dann… ich schwebte plötzlich durch die Luft, und die Kanone…« »Ich nehme an, Sie meinen die anderen Nebenwirkungen des Stasis-Feldes. Es war notwendig, verstehen Sie? Ich habe keine Möglichkeit, ein Großhirn zu rekonstruieren. Ich brauche Sie intakt.« »Jetzt hören Sie mal zu«, unterbrach ihn Dammy, »wenn das ein Arbeitsangebot ist, können Sie es vergessen. Wenn Sie etwas mit dieser Sache zu tun haben, gut. Vielen Dank. Ich verstehe zwar überhaupt nichts mehr, aber auch das geht in Ordnung. Auf jeden Fall will ich jetzt abhauen und…« »Und in sechs Stunden tot sein«, sagte Xorialle beiläufig. »Ihre Leber steckt voller Splitter. Sie funktioniert nicht mehr sehr gut. Mit hiesiger Technik läßt sie sich nicht operieren. Ihre einzige Chance ist mein Automed.« »Sind Sie denn Arzt?« fragte Dammy kleinlaut.
»Sie können sich darauf verlassen, daß ich Ihren Fall im Griff habe.« »Und wenn Sie nun lügen?« »Nun, ich habe die Symptome Ihrer Verletzung nur unterdrückt. Möglicherweise ist Ihr Wohlbefinden nur eine Täuschung.« In Dammys Magen wurde ein Streichholz angerissen, flammte auf und steckte einen Haufen Holzwolle in Brand. Dammy riß den Mund auf zu einem Schrei, aber das Feuer verlosch, als wäre nichts gewesen. »So würden Sie sich fühlen, wenn ich, ääh, Ihren Fall nicht übernommen hätte«, sagte Xorialle fröhlich. »Soll ich weitermachen?« »Ich wollte noch fragen, wie Sie das überhaupt gemacht haben«, keuchte Dammy, »aber was soll’s, ich kapier’s ja doch nicht. Wir müssen schnell ins Hospital.« »Geschätzte Ankunftszeit in 45 Minuten«, sagte der Alte rasch. »Wie kommt man denn hier raus?« Dammy fummelte am Gurt, mit dem er angeschnallt war. »Ich würde Ihnen nicht raten, den Gurt zu lösen«, sagte Xorialle beiläufig. »Wir sind 30.000 Meter hoch und bewegen uns mit einer Geschwindigkeit von Mach 7.« Montgomerie hielt sich erschrocken fest. »Ich glaube Ihnen kein Wort«, sagte er und schluckte hörbar. »Wir bewegen uns überhaupt nicht. Ich habe Angst vor Flugzeugen. Ich habe auch noch nie eins bestiegen. Man weiß nicht, wie sich die Dinger überhaupt in der Luft halten. Ich habe keine Ahnung. Außerdem machen sie entsetzlichen Lärm und – « »In 30.000 Metern Höhe gibt es kaum noch Luft, also auch keine Luftwirbel. Da der Antrieb geräuschlos funktioniert, können Sie natürlich nichts hören.«
»Wo ist denn mein Fa… Fallschirm?« Dammys Stimme zeigte eine beängstigende Neigung, ins Falsett umzuschlagen. »Mein Junge, sollte die Sicherheitsverriegelung zufällig versagen und Sie sich aus dem Schiff katapultieren, wären Sie in Fetzen gerissen und geröstet, bevor Sie halb unten sind. Da hilft Ihnen kein Fallschirm.« »Das ist ja sehr beruhigend«, sagte Dammy. Er hatte seine Stimme wieder in der Gewalt. »Wenn das mit Chicos Kanone nicht gewesen wäre und vorhin der kleine Trick mit meinem Magen, würde ich sagen, Sie spinnen.« »Ganz im Gegenteil, mein Junge. Verstehen Sie doch endlich, daß Ihr Leben ganz einfach verlängert wurde, und verhalten Sie sich entsprechend.« »Wohin geht’s denn? Wir müßten schon halb am Nordpol sein.« »Genaue Ankunftszeit in 42 Minuten und 12,4 Sekunden. Wir sehen ihn bald. Was halten Sie inzwischen von einem Stück geräuchertem Schinken und einem kalten Pils?«
Steil hob sich der Felsen aus der arktischen See. Ein fast hundert Meter hoher Block, mitten in der endlosen Weite des eisigen tiefschwarzen, mit weißen Schaumkronen bedeckten Ozeans. Xorialle leitete das Landemanöver ein. Er betätigte einen Knopf, und ganze Lichtbündel blitzten auf dem Felsen auf. »Ziemlich einsam hier, was?« fragte Dammy, ohne eine Antwort zu erwarten. Er schaute auf die gegen den Fuß des Felsens anrollende Brandung hinab. »Meine Arbeit erfordert eine gewisse Exklusivität«, erklärte Xorialle plötzlich. »Es war besser, einen Ort zu wählen, der Störungen ausschließt. Dann hat man keinen Ärger mit der Beseitigung von Eindringlingen. Das führt dann oft zu
weiteren Eindringlingen auf der Suche nach den ersten, und die müssen schließlich auch beseitigt werden.« Dammy sah Xorialle prüfend an. »Beseitigt?…« »Natürlich völlig human – um das Wort in seinem theoretischen Sinn zu gebrauchen.« Xorialle lächelte Montgomerie freundlich an. »Ich wollte natürlich nicht Ihre Rasse beleidigen.« »Was hat denn meine Rasse damit zu tun? Ich seh’ genauso aus wie jeder andere.« »Sie hat sehr viel damit zu tun, mein Junge. Aber das erkläre ich Ihnen alles später. Erst muß ich mich um Ihre Verletzungen kümmern.« Sanft glitt das Fahrzeug auf eine kreisrunde Öffnung zu, die irisierend größer wurde, um sie aufzunehmen. An den Seiten erhoben sich riesige Wände, und das Schiff schwebte ein. Mit einem leisen Ruck setzte es auf und kam zum Stillstand. Xorialle bediente einen Knopf, und die Luke flog auf. Dammy hatte eisigen Wind erwartet, aber er spürte nur die weiche Zärtlichkeit einer Tropennacht, den schweren Duft von Frangipani und Magnolien. Aus der Ferne klangen leise Hawaii-Gitarren. Über ihm breitete sich ein Nachthimmel aus, wie er auf Tahiti nicht schöner hätte sein können. »Ist Ihnen diese Umgebung auch angenehm?« erkundigte sich Xorialle ein wenig besorgt. »Wenn Sie meinen, ob mir der Laden hier gefällt?… Das kann man wohl sagen.« »Ausgezeichnet; aber jetzt rasch ins Labor. Mit den Stoffwechselhilfen können Sie nicht ewig leben.« Dammy hatte eine Frage auf den Lippen, aber ein stechender Schmerz schnitt ihm das Wort ab. So mußte sich ein Vampir fühlen, dem man einen Pfahl durch den Leib rammt. Er unterdrückte ein Stöhnen und folgte dem Alten über den Innenhof durch einen breiten Torbogen einen grüngekachelten
Gang entlang. An seinem Ende sprang eine nußbaumgetäfelte Tür auf, und man blickte in einen Raum, der von Emaille und Chrom nur so blitzte. »Wirkt die Dekoration nicht beruhigend?« fragte Xorialle mit einem Anflug von Stolz. »Wir haben uns alle Mühe gegeben, eine wirklichkeitsgetreue Einrichtung zu schaffen, einschließlich aller sinnlichen Reizmittel.« »Es riecht wenigstens nicht nach Krankenhaus«, war Dammys Kommentar. »Tatsächlich nicht?« Xorialle wandte sich zur Seite und berührte einen Knopf. Sofort roch es scharf nach Äther und Karbolsäure, nach gekochten Eiern und Duftspray. »Ist das nicht wirklich beruhigend, mein Junge? Denken Sie dabei nur an die Tüchtigkeit Ihres eigenen Chirurgen, dann schwinden Ihre primitiven Ängste. Und nun passen Sie auf – « Dammys Gastgeber berührte einen weiteren Knopf, und ein seltsames Gerät senkte sich von der Decke herab. Es sah aus, als hätte eine Besteckfabrik ihre gesamte Wochenproduktion auf ein metallenes Gestell geschüttet. »Dies ist das Automed, ein geniales Meisterwerk. Man kann es für alle erdenklichen lebenden Arten verwenden, auch für Ihre. Der Apparat funktioniert auf rein physikalischer Basis. Er benötigt keine speziellen Eingaben, so daß glücklicherweise auch niedere Arten versorgt werden können. Legen Sie sich nur hin, bald werden Sie wieder vollkommen gesund sein.« »Wo ist denn die Krankenschwester?« fragte Dammy aus dem Hintergrund. »Ach ja, Sie benötigen natürlich eine junge Frau Ihrer Rasse, um männliche Gelassenheit zu demonstrieren.« »Lassen Sie das doch«, murmelte Dammy. Er fühlte sich schwach und elend. Das taube Gefühl in seiner Wunde begann zu weichen, und bohrend machte sich wieder der Schmerz bemerkbar.
Ihm schwanden die Sinne. Aus dem Nebel vor seinen Augen fuhr Xorialles Hand und griff nach seinem Arm. Er merkte noch, daß er sich hinlegte, spürte Metall unter sich – nicht kalt, sondern körperwarm. Dann breitete tiefe Dunkelheit ihre Schleier über ihn. Jeder Gedanke erlosch…
II
Diesmal war das Erwachen angenehmer. Ruhig lag er da und genoß das Gefühl frischer Bettwäsche und einer weichen Matratze. Er roch brutzelnden Speck und hörte das durchlaufende Wasser der Kaffeemaschine. Er fühlte sich unendlich wohl. Dann holte die Wirklichkeit ihn ein. Ja, ich liege auf dem Rücken in einer dreckigen Gasse mit einer Kugel im Kopf. Ich träume dies alles nur. Auch der kleine Kerl mit seinem seltsamen Flugapparat und der Nelke im Knopfloch war nur ein Traum. Aber nur nicht bewegen, sonst ist es aus mit dem Traum, und dann… »Ah, Sie sind schon wach«, sagte eine freundliche ältere Stimme dicht neben ihm. Xorialle stand neben dem Bett. Er trug eine zitronengelbe Jacke aus Frottee. An seinem dürren Handgelenk hing eine große Gene-Antrey-Uhr mit einem breiten gelben Armband. »Heh«, sagte Dammy schwach, »es gibt Sie also doch…« »Das hatten wir schon erledigt«, sagte der Alte streng, »und Sie wissen es. Aber es beruhigt Sie wohl, wenn Sie gelegentlich das Gefühl haben, nicht leichtgläubig zu sein.« »Wie ist… die Operation verlaufen?« »Natürlich wie programmiert. Warum fragen Sie? Fühlen Sie sich nicht wohl?« »Doch, ganz gut«, sagte Dammy leise. »Dann gehen wir schwimmen. Das erfrischt. Außerdem kann ich dann Ihre Ausdauer und Koordination testen, damit ich weiß, womit ich arbeite.« »Sie scherzen wohl«, sagte Dammy. Seine Stimme verlor sich. »Ich muß mindestens zwei Wochen flach liegen, mit
Radiomusik, künstlichen Blumen, Frühstück im Bett und einmal die Stunde Kissenaufschütteln.« »Solche Rituale mögen für Sie tröstlich sein, aber dummerweise drängt die Zeit. Sie sind gewiß so vernünftig, einige Ihrer gewohnten Zeremonien ausfallen zu lassen.« »Zeremonien, um Himmels willen! Ich werd’ zusammengeschossen, aufgeschlitzt und wieder zugenäht. Mich kriegen keine zehn Pferde aus diesem Bett raus! Wenigstens nicht in den nächsten zwei Wochen!« »Solche Vorurteile sind offenbar nicht totzukriegen. Schieben Sie Ihr Nachthemd hoch, und sehen Sie sich die Wunde an.« »Lieber nicht. Ich kann nicht mal hinsehen, wenn ich geimpft werde.« »Hören Sie mal gut zu, mein Junge. Sie müssen einfach die rein instinktiven Elemente Ihres Verhaltens unterdrücken. Tun Sie, was ich Ihnen sage.« »Sonst verpassen Sie mir am Ende ein Geschwür«, sagte Dammy mürrisch; aber er gehorchte. Die glatte Haut über seinen Rippen wies nicht einen Fleck auf. »Vielleicht war es die andere Seite«, sagte er und zog das Kleidungsstück weg. Auch hier nur makellose Haut. »Nun«, meinte Xorialle, der sich zur Geduld zwang, »sind Sie zufrieden?« Montgomerie rieb sich bekümmert das Kinn. »Der echteste Traum, den ich je hatte«, sagte er. »Ich könnte schwören: zuerst der Schuß zwischen die Rippen, und dann in der Einfahrt… Ich saß in der Falle – aber dann war alles ganz komisch.« Er brachte ein gezwungenes Lächeln zustande. »Vielleicht war ich überarbeitet. Das Ganze ist einfach albern.« Sein Lächeln verwandelte sich in Stirnrunzeln. »Entweder bin ich verrückt, oder das stimmt alles. Und wenn ich verrückt bin, merk’ ich das sowieso nicht. Ich tu’ einfach so, als ob alles so ist, wie es aussieht.«
»Aber Damocles, hören Sie doch auf zu glauben, ich sei nur Ihrer Fantasie entsprungen. Sehen Sie die Dinge, wie sie sind. Sie sollen die Probleme nicht bekämpfen, sondern sie lösen.« »Gut, aber wenn ich alles nur geträumt habe, weiß ich immer noch nicht, wer Sie sind. Wie bin ich hierher gekommen, und wo bin ich überhaupt – und wo sind meine Klamotten?« »Geeignete Kleidung ist bereitgestellt.« Xorialle öffnete einen Wandschrank, in dem verschiedene exotische Kleidungsstücke hingen. »Ich meine meine eigene Kleidung. Ich kann doch nicht in einem rosa Kimono von hier abhauen.« »Ich dachte mir schon, daß Sie an den Sachen hängen. Sie sind gereinigt und repariert in Ihr ständiges Quartier gebracht worden.« Dammy schlug die leichte Decke zurück, trat ans Fenster und sah nach draußen. Schwarzblaues Meer mit weißen Schaumkronen, so weit das Auge reichte. Sonst war nichts zu sehen. »Ich bin also tatsächlich am Nordpol, und Sie haben wirklich meine Schußwunde geheilt, daß noch nicht mal eine Narbe bleibt?« »Das ist mehr oder weniger der Fall, Damocles.« »Wie lange war ich denn bewußtlos? Ich muß monatelang unter Drogen gestanden haben, während Sie mich zusammenflickten.« »Seit der Reparatur Ihrer Leber sind etwa sieben Stunden und fünfundzwanzig Minuten vergangen.« »So schnell heilt das bei keinem Menschen«, sagte Dammy ohne rechte Überzeugung. »Aber bei Ihnen«, erklärte Xorialle. »Und während Sie im Koma lagen, habe ich Ihnen eine gründliche Blutreinigung verpaßt. Sie sind jetzt gesünder als je zuvor. Kommen Sie. Ich zeige Ihnen die Anlage. Es wird Sie interessieren.«
Sie betraten einen geräumigen Salon mit Eichentäfelung, von dem man eine herrliche Aussicht auf die arktische See hatte. An den Wänden standen Bücherregale. Es gab niedrige Tische und bequeme Sessel. Große Flügeltüren gaben den Blick ins Eßzimmer frei, das mit einem langen Mahagonitisch und kunstvoll geschnitzten Stühlen ausgestattet war. Von der Decke hingen kristallene Lüster, und silberne Kerzenhalter schmückten den Tisch. Weiter hinten lag die Küche, ein Traum aus Hochglanzstahl und mattgelber Täfelung. Hell schien die Sonne herein. Überall standen Vasen mit prächtigen Blumen. »Klasse«, sagte Dammy anerkennend. »Wo ist denn die Küchenhilfe?« »Es gibt kein Personal. Das wäre überflüssig. Alles funktioniert vollautomatisch.« »Wohnen Sie hier ganz allein?« »Einsamkeit oder Langeweile gehören Gottseidank nicht zu meinen Problemen.« Montgomeries Gastgeber zeigte ihm die Speisekammer. Auf gut gefüllten Regalen sah er die ihm vertrauten Dosen und Flaschen mit Lebensmitteln. Die Tiefkühltruhe enthielt Fleisch und Früchte jeder Art. »Der ganze Aufwand wäre unnötig«, sagte Xorialle trocken. »Man kann das Zeug außer Sicht lagern oder synthetisch herstellen, wenn es gebraucht wird. Aber es ist ganz amüsant, so primitiv wie Sie zu leben. Und – ich erwartete ja einen Gast.« »Gast? Merkwürdiger Gast, der nie eingeladen wurde.« »Dammy, sehen Sie die Sache bitte nicht so dramatisch. Was sollen diese üblen Hintergedanken? War ich nicht freundlich zu Ihnen? Habe ich Sie nicht geheilt? Wollen Sie das alles leugnen?«
»Okay, Doktor, hier ist meine Hand.« Xorialle ergriff Montgomeries ausgestreckte Rechte. Eine hübsche Wendeltreppe führte zum unteren Geschoß. Hier gab es Büros und Räume, die wie kleine Klassenzimmer aussahen. Alle waren mit seltsamen technischen Geräten ausgerüstet. »Lernhilfen«, erklärte Xorialle kurz. »Später mehr darüber.« Ein weiteres Stockwerk wies schallisolierte Räume auf. Es gab bequeme Sessel und Gestelle, die offenbar Bandkassetten und Filmrollen enthielten. Es gab auch einige Gegenstände, deren Zweck Dammy sich nicht erklären konnte. »Die Bibliothek und das Datenarchiv sind fast so komplett wie die Datenzentrale selbst«, sagte Xorialle stolz. »Sie werden ständig aus hiesigen und anderen Quellen auf dem neuesten Stand gehalten.« »Eine Bibliothek ohne Bücher?« staunte Dammy. »Hier der Schalter. Wozu ist der?« Er zeigte auf ein kleines Gerät, das in einer Nische stand. Daneben lagen vertikale Kanäle, in denen kleine hell glänzende Würfel geschichtet waren wie Kaugummi in einem Automaten. »Technische Daten über Fremdsprachen, die Sie nicht zu interessieren haben«, sagte Xorialle fast ärgerlich. Streng fügte er hinzu: »Es tut mir leid, mein Junge, aber Hände weg von diesem Gerät! Nichts anfassen! Ich warne Sie, Dammy! Wenn Sie lesen wollen… hier bitte.« Sein Ton wurde freundlicher. Er führte Dammy an eine Mattscheibe mit einer Reihe von Bedienungsknöpfen. »Alle Schätze Ihrer Literatur sind hier versammelt. Von ›Der Wind in den Weiden‹ bis zum Protokoll der heutigen amerikanischen Kongreßsitzung. Sie können nach Katalog wählen.« Er drückte auf einen Knopf, und auf dem Bildschirm erschien eine ganze Liste von Titeln. Er betätigte einen Hebel, und die Titel liefen immer schneller nach unten durch,
während oben neue erschienen. »Dieses Gerät projiziert jeden gewünschten Text auf den Schirm oder stellt sofort eine Kopie für Ihren persönlichen Gebrauch her.« Er betätigte weitere Hebel und Knöpfe. Die Maschine summte leise und warf eine hübsch gebundene Kopie von ›Forever Amber‹ aus. Dammy konnte nur noch dümmlich grinsen. Ein kleiner Fahrstuhl brachte sie ein Stockwerk tiefer. Hier gab es keine Fenster. Nur nüchterne Korridore mit kahlen Wänden und massiven Türen. »Dies ist der Versorgungsteil«, erklärte Xorialle. »Die Arbeitseinheiten sind versiegelt, reparieren sich selbst und brauchen keinerlei Überwachung.« »Wo ist denn das Stromaggregat?« wollte Dammy wissen. Xorialle sah Dammy nachdenklich an. »Unten«, sagte er. »Eine winzige Fusionszelle, die auf Meerwasserbasis arbeitet.« »Das will ich sehen.« »Geht nicht. Streng verboten wegen radioaktiver Strahlung. Das war’s mein Junge. Kommen Sie, wir gehen nach oben.« »Enorme Anlage, Doktor. Es muß ein Heidengeld gekostet haben, den Felsen auszuhöhlen und die Technik einzubauen.« »Das Projekt war nicht gerade billig«, gab Xorialle zu. »Und wozu der ganze Quatsch?« »Später, mein Junge, später.«
Sie waren wieder im Salon. Auf einer Scheibe stellte Xorialle die gewünschten Getränke ein, und wie von Geisterhand standen sie plötzlich auf der Bar. Wind war aufgekommen. Er rauschte gegen die riesige Glasfront. Obwohl die Raumtemperatur angenehm war, glaubte man die arktische Kälte zu spüren. »Und wenn es einen Schneesturm gibt?« fragte Dammy. »Dieses Ding steht hier wie ‘ne Kirsche auf einem Eisbecher.
Es gibt hier Windgeschwindigkeiten von über 200 Stundenkilometern, habe ich mal gelesen.« »Keine Angst, mein Junge. Dieser Bau hat mehr als dreihundert Jahre ausgehalten. Er wird so lange stehen, wie man ihn braucht.« »Samt Klimaanlage?« Dammy sah seinen Gastgeber von der Seite an. »Ganz schön fortschrittlich für’s siebzehnte Jahrhundert.« »Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf, mein Junge«, sagte Xorialle schnell. »Das werden Sie noch alles erfahren.« Dammy nippte an seinem Drink. »Dieser Laden ist wohl mehr als ‘ne Art Sommerfrische, stimmt’s?« »Genau«. »Sie sind schon komisch, Doktor. Sie sagen nie mehr, als Sie unbedingt müssen.« »Sie denn?« »Wenn’s geht, nicht.« Montgomerie schüttelte den Kopf. Stirnrunzelnd sah er Xorialle an. »Warum haben Sie mich hierhergebracht, Doktor?« »In erster Linie wollte ich Ihnen natürlich das Leben retten.« »Woher wußten Sie denn meinen Namen?« »Wir haben Recherchen angestellt.« »Warum denn ausgerechnet über mich?« Fast flehentlich hob Xorialle die Hände. »Ich bitte Sie, mein Junge, nehmen Sie das Ganze doch nicht so persönlich. Ich brauchte nun einmal einen jungen Mann von durchschnittlicher Begabung. Ich brauchte jemanden, dessen Verschwinden nicht weiter auffällt. Es gab mehrere Möglichkeiten, aber meine Wahl fiel auf Sie.« »Und wozu?« »Als Versuchsobjekt.« »Sind Sie von der Regierung?«
»Nicht direkt.« »Und um was für einen Versuch geht es?« »Zunächst natürlich um eine allgemeine Auswertung im Hinblick auf Ihre Entwicklungsmöglichkeiten. Vergessen Sie nicht, daß Sie noch kaum angefangen haben, die letzten Quantensprünge der Evolution Ihrer Rasse zu nutzen.« »Verdammt, das ist mir alles rätselhaft. Was verstehe ich davon?« »Ich rate dringend, Ihren Kopf zu schonen, mein Junge. Wenn Ihre Entwicklung fortschreitet…« »Was, zum Teufel, meinen Sie damit?« »Nun, es wäre doch sinnlos, die Auswertung vorzunehmen, solange Sie sich in Ihrem gegenwärtigen körperlichen und geistigen Zustand befinden. Ihre erbärmliche Kultur beweist doch schlagend die Unfähigkeit Ihrer Rasse, die einfachsten gesellschaftlichen Probleme zu lösen. Wir wollen wissen, welche Auswirkungen ihr bei eurem heutigen Reifegrad auf die gesamte Galaxis, insbesondere auf Consensus haben könntet.« »Tun Sie mir einen Gefallen, sprechen Sie so, daß man Sie versteht!« Xorialle hob beschwörend die Hände. »Ich weiß überhaupt nicht, warum Sie so begriffsstutzig sind. Es ist doch völlig klar, daß Consensus alle Entwicklungen innerhalb der Tessasphäre überwacht. Wenn eine neue Art im Psychostratum auftaucht, ist es doch unbedingt erforderlich, ihre Entwicklungsmöglichkeiten zu erkennen. Nur so können wir bestimmen, weicht Rolle sie in galaktischen Angelegenheiten spielen darf. Wir müssen ihre Entwicklung so lenken, daß Consensus seine eigenen Pläne vorantreiben kann.« »Das meinte ich ja gerade. Sie reden meine Sprache, aber ich kapier’ überhaupt nichts.«
Xorialle ließ sich nicht beirren. »Wir suchen uns also ein durchschnittliches Exemplar und stellen seine Fähigkeiten fest. Anhand der Daten extrapolieren wir unsere Berechnungen.« »Exemplar! Wenn ich das Wort höre. Man fühlt sich wie ein Schmetterling, der in einem Schaukasten aufgespießt ist.« »Ihre Sprache ist gewöhnlich und von Unnützem belastet«, sagte Xorialle böse. »In diesem Fall, mein Junge, sind Sie tatsächlich ein ›Exemplar‹. Wir bestimmen Ihre latenten Möglichkeiten.« Seine erhobene Hand schnitt Dammy jeden Einwand ab. »Und so ermitteln wir im Mikrokosmos das voraussichtliche Schicksal Ihrer Art.« »Was heißt hier Art?« fragte Dammy mißtrauisch. »Ist das schon wieder ein Witz?« »Ihre Art, mein Junge. Nennen Sie es wie Sie wollen: Rasse, Stamm, Gattung, Spezies…« »Meinen Sie Amerikaner?« »Ja. Aber auch Russen, Zulus und Botokuden. Alles Unterarten des Homo Sapiens, wie ihr euch so naiv nennt.« »Sie reden so«, sagte Dammy, wobei er jedes Wort überlegte, »als ob Sie nicht dazugehörten.« Vorsichtig sah er den anderen an. »Vielleicht hätte ich es Ihnen früher erklären sollen«, sagte der Alte seufzend. »Sie haben natürlich recht, Damocles, ich bin kein Mensch.« Dammy wich vor seinem Gastgeber zurück. »Okay, Sie sind also vom Mars«, sagte er. »Keine Aufregung. Nur ruhig bleiben – « »Ich bin vollkommen ruhig«, sagte Xorialle scharf. »Und ich komme auch nicht vom Mars. Meine Welt liegt einige hundert Parallaxensekunden von Ihrem unbedeutenden Sonnensystem entfernt.« »Das mag alles stimmen.« Dammy maß die Entfernung und verlagerte unauffällig sein Gewicht.
»Lassen Sie das«, sagte Xorialle müde. »Es fing so gut an. Wir wollen uns doch nicht wie Neandertaler benehmen.« Dammy atmete tief durch und schoß vorwärts – oder besser: er wollte es. Sein Gehirn hatte den Befehl gegeben, aber kein Muskelreflex erfolgte. Nichts geschah. Wie angenagelt stand er da. Dann sank er ganz langsam zu Boden und blieb auf der Seite liegen. »Bedaure«, sagte Xorialle. »Ich war vielleicht zu unsanft.« »Machen Sie sich nichts draus«, sagte Dammy und kam mühsam wieder auf die Beine. Er fühlte ein heftiges Kribbeln in allen Gliedern. »Ich bin wohl doch nicht so gesund wie ich dachte.« Er taumelte zum Stuhl zurück. Er spürte noch dieses grauenvolle Eindringen einer fremden Intelligenz in sein innerstes Ich. Es war wie eine leise tastende Sonde gewesen… dann plötzlich der harte Zugriff, der ihn zu Boden gehen ließ. Mürrisch starrte er seinen Gastgeber an. Er spürte, wie das Fremde in seinem Kopf den Griff lockerte, sich aus seinen Gedanken zurückzog… zurück blieb eine ganz neue Begriffswelt, neuartige, vielfach miteinander verwobene Verstandesstrukturen. Er grübelte… »Sehen Sie, Damocles«, sagte Xorialle freundlich, »wenn meine Arbeit Erfolg haben soll, müssen Sie die Situation klar erkennen. Ich kann geistige Vorgänge bei Ihnen nicht direkt beeinflussen. Das würde genau das schädigen, was ich an Ihrem Verstand entwickeln will. Aber Ihre geringen Intelligenzspuren sollten ausreichen, Sie zur Mitarbeit zu veranlassen.« »Hören Sie zu«, sagte Dammy erschöpft, »vielleicht bin ich dämlich, aber ich weiß, daß kleine grüne Männchen vom Mars kommen und nicht ältere Herren mit falschem Schnurrbart. Wenn Sie ein Weltraumungeheuer wären, hätten Sie Insektenaugen und Fühler. Sie würden nicht aussehen wie der reiche Onkel aus dem letzten Fernsehfilm.«
»Warum denn nicht?« fragte Xorialle mit hochgezogenen Brauen. Dammy sah ihn verschmitzt an. »Wenn Sie aus dem Weltraum kommen, wäre eine Auster näher mit mir verwandt als Sie.« »Das trifft nicht zu. Die Mollusken stammen aus einer ganz anderen ökologischen Ecke.« »Oder ein Hottentott«, sagte Dammy. »Warum sehen Sie nicht aus wie ein Buschmann oder ein Eskimo oder vielleicht wie einer von diesen Arabern mit langem Backenbart?« »Würde das Sie denn beruhigen?« »Wieso beruhigen?« Xorialle seufzte. »Ein gutes Verhältnis zwischen uns ist von größter Wichtigkeit. Darum habe ich eine Maske gewählt, die bei Ihnen möglichst wenig Feindseligkeit aufkommen läßt. Ich kam als wohlhabender älterer Herr Ihrer eigenen Spezies. Ich wollte etwaigen Vorurteilen wegen Hautfarbe, Haarbeschaffenheit usw. keine Nahrung geben. Außerdem sind so sexuelle Konkurrenz und männliches Herrschaftsstreben ausgeschaltet.« »Sie reden, als könnten Sie sich das aussuchen«, meinte Montgomerie. »Die meisten Leute müssen mit dem zufrieden sein, was die Natur ihnen gibt.« Xorialle schüttelte wütend den Kopf. »Sie wollen sich mit immer neuen Tricks an den Tatsachen vorbeimogeln. Ich wollte Sie ganz allmählich vorbereiten, aber nun muß ich den Schock für Ihr Nervensystem sofort riskieren.« »Welchen Schock für mein Nervensystem?« fragte Dammy argwöhnisch. »Seien Sie vorsichtig. Mein Musikantenknochen summt noch wie ‘ne Gitarre von Ihrer letzten Demonstration.« »Den Schock, mich so zu sehen, wie ich wirklich bin.« »Ich sehe Sie doch jetzt schon«, sagte Dammy. »Damocles, ich bin verkleidet«, sagte Xorialle sanft.
»So? Falsche Bärte sind mir nicht neu.« »Es geht nicht um irgendein struppiges Zubehör.« »Gut, dann ‘ne Nase aus Kitt und getönte Haftschalen – « Dammy verstummte, als Xorialle einen bestimmten Punkt hinter seinem Ohr berührte. Ein feiner Riß lief ihm plötzlich durchs Gesicht und teilte es von Stirn bis Kinn in zwei Hälften, um unten unter der Jacke zu verschwinden. Der Spalt wurde breiter. Sein Gesicht klappte auf wie die Schale einer Muschel, und man erkannte eine graue, schuppige Masse, die matt schimmerte. »Wissen Sie jetzt, was ich meine?« klang Xorialles Stimme aus der klaffenden Öffnung. Entsetzt schloß Dammy die Augen und schrie: »Um alles in der Welt, machen Sie’s wieder zu!« »Nun gut: Sie können wieder hersehen«, sagte Xorialle etwas freundlicher. Montgomerie öffnete ein Auge. Der alte Herr lächelte ihn liebenswürdig an. Er sah völlig normal aus. »Übrigens, Alter, wie sieht’s da draußen aus – ich meine die Sterne und so?« »Ich nehme an, Sie erkundigen sich nach den Verhältnissen in extraterrestrischen Regionen.« »Genau das. Ich meine, wie sieht’s denn auf dem Mars aus und den anderen Dingern?« »Damocles«, sagte das fremde Wesen streng, »ich warne Sie! Versuchen Sie nicht, Daten über Consensus zu ermitteln. Je weniger Sie darüber wissen umso besser für Sie.« »Verzeihung, Doktor. Ich wollte Ihnen nicht auf die Hühneraugen treten.« »Haben Sie, ääh… sonst noch Fragen?« erkundigte sich Xorialle leise. »Mmmh… im Augenblick nicht«, sagte Dammy wie betäubt. »Ausgezeichnet. Ich habe das Gefühl, daß Ihr Fall trotz allem eine interessante Auswertung ergibt«, sagte Xorialle im Ton
höchster Befriedigung. »Aber nun begeben wir uns zur Ruhe. Morgen beginnt der Test.« »Zeigen Sie mir mein Schlafzimmer, das genügt als Test«, sagte Dammy. »Ich brauche keine Lektionen.« Xorialle führte ihn zu einem hübsch ausgestatteten Raum. Warmes Licht ließ einen hellbraunen Teppich und blaßgoldene Tapeten erkennen. Auf dem Eichenbett lag eine schokoladenbraun und schwarz gemusterte Decke, und die Stühle und Vorhänge vor den (falschen?) Fenstern paßten dazu. »Schlafen Sie gut, mein Junge«, sagte Xorialle gütig. Mit einem freundlichen »Gute Nacht« ließ er ihn allein. Fünf Minuten blieb Dammy in der Dunkelheit ruhig liegen. Dann stand er leise auf und prüfte die Tür. Sie war verschlossen. Nachdenklich runzelte er die Stirn und ging zum Bett zurück. Ich weiß nicht recht, dachte Damocles. Alles schön und gut. Der alte Junge ist gar nicht so übel. Nur… wie er mir seine Finger ins Gehirn gebohrt hat… Ich wäre fast verrückt geworden. Nun, darüber denke ich morgen nach… Einem plötzlichen Impuls folgend, stand er auf und ging zum Schrank. Sauber und frisch gebügelt hing seine eigene Kleidung dort. Er sah noch ein anderes Kleidungsstück. Es war ein knielanger Rock aus grobem blauem Tuch mit breiten Aufschlägen und hochstehendem Kragen. Der letzte Kerl der hier war, muß rumgelaufen sein wie George Washington. Dammy dachte nach. Dabei hat Xorialle doch gesagt, ich bin der erste, der hier schläft. Warum lügt er ohne Grund? Irgend etwas stimmt mit dem Alten nicht… Dammy entnahm einer Geheimtasche des Blazers, den er am Abend seiner Ermordung – oder Nichtermordung – getragen hatte, die flache lederne Werkzeugtasche. Er öffnete sie. Alles komplett.
Entweder hatte Xorialle das Ding nicht gefunden oder gar nicht erst gesucht. Vielleicht war der Alte doch aufs Kreuz zu legen.
III
Es war fast Mitternacht acht Tage später. Dammy räkelte sich in einem großen, bequemen Sessel aus weichem Leder. Er ließ seine Blicke durch den wunderhübsch eingerichteten großen Salon schweifen. Durch die Scheiben sah er die Sonne am Horizont stehen. Ihre Strahlen färbten Himmel und Meer purpurrot. »Nun, es war eine ausgefüllte Woche«, meinte Xorialle. Er hockte auf einer violettfarbenen Ottomane. Im gekachelten Kamin knisterte ein hell flackerndes Feuer. »Und wir haben einige Ergebnisse erzielt – allerdings besteht bei Ihnen noch ein ausgeprägter Faulheitsfaktor, den ich in meinen Berechnungen kompensieren muß.« »Meine Faulheit ist nichts gegen Ihre verdammten Blitzlichter und die schreckliche summende Maschine. Ich weiß nicht, was mehr wehtut, mein Rücken oder mein Kopf.« Dammy stöhnte laut. »Drücken Sie sich bitte präziser aus«, sagte Xorialle. »Genauigkeit der Aussage ist für gegenseitiges Verstehen unentbehrlich. Ihre eingebildeten Schmerzen können Sie vergessen. Es handelt sich lediglich um Muskelverspannungen, die Sie selbst verursacht haben.« »Die kommen von Ihren verdammten Folterinstrumenten. Genau wie die Blasen und die Flecken vor den Augen. Und so behandeln Sie einen Kranken, der eine Woche aus dem Bett ist. Das ist schäbig.« »Ärgern Sie sich nicht, Damocles«, sagte Xorialle begütigend. »Wir konnten fast alle Ihre körperlichen und geistigen Fähigkeiten ausreichend trainieren, um brauchbare
Werte zu ermitteln.« Nachdenklich legte er die Stirn in Falten. »Ich bin erstaunt. Ihr Nervensystem ist ein hervorragendes Instrument. Natürlich wurde es bisher kaum genutzt. Auch Ihre körperliche Verfassung ist besser, als man es bei einem solchen Versuchsobjekt erwarten konnte. Immerhin ist die Entwicklung bei Ihnen ungesteuert und zufällig verlaufen. Das ideale Psychosom paßt sich der Umwelt an, so daß ein normales Tier entsteht. Durch Ihr ungeregeltes Leben haben Sie aber einer vorzeitigen Verschlechterung vorgebeugt, wie sie bei sitzender Lebensweise auftritt, oder bei hoher Spezialisierung.« »Bitte, mein Junge«, sagte Xorialle müde, »schlagen Sie sich nicht auf die Brust. Ich kenne Ihre Werte. Mir brauchen Sie keine Anekdoten zu erzählen.« Montgomeries Miene hellte sich auf. »Dann sind Sie also fertig. Dann fahren Sie mich also morgen zur Stadt zurück?« Er beschrieb mit der Hand einen Kreis. »Kein Mensch glaubt mir, wenn ich von diesem Laden hier erzähle.« Seine Stimme klang fast heiter. »Ein Luxus-Penthouse, nur noch einen Schlag besser, und das alles ein paar Tausend Meilen von allem weg. Das Labor, die Küche, die Möbel, das Stromaggregat… Das muß ein paar Millionen Dollar gekostet haben – « »Ach – Dammy«, Xorialle wollte etwas erwidern, aber Dammy plauderte weiter: »Und dann Chicos Gesicht, wenn er mich sieht. Aber andererseits«, er wurde sachlicher, »am besten sollte ich abhauen und mir ‘ne andere Stadt suchen. Das sagt Jeannie auch.« »Damocles«, warf Xorialle ein, »ich fürchte, Sie ziehen falsche Schlüsse. Ich werde Sie nicht morgen zurückbringen – « »Oh, heute schon? In Ordnung. Eigentlich wollte ich ja gern nochmal in diesem herrlichen Bett pennen. Ich gebe zu, Doktor
– die Matratzen sind große Klasse, und über das Essen kann man auch nicht meckern – « »Gut, daß Sie einverstanden sind. Sie werden beides noch eine Zeitlang genießen können.« Dammy fuhr hoch. Er blickte finster. »Hören Sie mal zu«, sagte er, »die ganze Woche muß ich mich quälen. Ich hänge am Seil, ich muß hürdenlaufen und den Atem anhalten. Ich muß Kreuze auf Papier malen und prüfen, ob was zusammenpaßt oder nicht. Ich muß Telefonnummern auswendig lernen, und ich hab’ die Schnauze voll. Keinen Tag halt’ ich das mehr aus – und wenn Sie mir wieder eine Fackel ins Duodenum rennen.« »Woher kennen Sie das Wort?« »Ich habe in Ihren Büchern gelesen«, sagte Dammy böse. »Sie versetzen mich immer wieder in Erstaunen.« Wie der Blitz war Dammy auf den Beinen. »Dies ist ein freies Land. Sie haben kein Recht, mich gefangen zu halten.« »Seltsam… ich hoffte schon, Sie hätten Ihre Stammes-Tabus vergessen. Aber wie dem immer sei, ich bin an hiesige Sitten nicht gebunden. Meine Pflichten gebieten, daß ich allein im Interesse von Consensus handele, egal was aus Ihnen wird. Das sehen Sie hoffentlich ein.« »Ich haue morgen früh ab, Doktor. Das ist mein letztes Wort.« »Wie denn?« »Nun…« Dammy schwieg. »Nun, verdammt nochmal, Sie müssen mich zurückschaffen. Entführung ist ein Kapitalverbrechen und Bundesdelikt!« »Ich habe Ihnen das Leben gerettet«, erklärte Xorialle geduldig. »Ich mache nur Gebrauch von einem kleinen Teil Ihrer Existenz, die ohne mich sowieso ausgelöscht wäre.« »Sie sagten doch, Sie sind fertig. Was wollen Sie denn noch von mir?«
»Mein lieber Junge, ich habe, was Ihren Körper und Ihren Geist betrifft, nur eine Grobabstimmung vorgenommen. Eine Art Inventur Ihrer vorhandenen Anlagen.« »Inventur?« »Morgen fängt die Arbeit erst richtig an.« »Welche Arbeit?« »Ihr Training, wie ich schon erklärte.« »Was für ein Training?« »Ein umfassendes Training.« »Als Buchprüfer oder Fernsehtechniker?« »Auch das, mein Junge, und noch viel, viel mehr.« »Ich versteh’ nicht, Doktor. Ich brauche keine Abendschule. Ich hab’ keinen Kursus belegt, und ich will mich auch nicht weiterbilden. Womöglich ein Hochschuldiplom? Daß ich nicht lache! Wer sagt, daß ich was lernen muß?« »Ich sage es, Damocles.« »Ach so, anschließend krieg’ ich ‘nen fetten Job im Fernsehen. Jetzt versteh ich, was Sie meinen.« »Was ich meine, ist dies«, sagte Xorialle langsam und deutlich. »Ich will alle Ihre angeborenen Fähigkeiten bis zur höchsten Stufe entwickeln. Ich will Ihre verborgensten Talente erforschen und jede Möglichkeit Ihres Psychosoms herausfinden.« Montgomerie sank im Sessel zusammen. »Jede Möglichkeit«, wiederholte Dammy zögernd. »Das heißt, Sie wollen wissen, was ich könnte, wenn ich wollte, obwohl ich es nie versucht hab’?« »So ungefähr.« »Vielleicht auch Judo und Karate?« Dammy war nachdenklich geworden. »Oder sowas Ähnliches.« »Zuerst lernen wir die rudimentären Techniken, die in Ihrer Embryonalkultur schon angelegt sind«, meinte Xorialle zustimmend. »Anschließend begeben wir uns auf weithin
unerforschtes Terrain.« Er lachte keckernd und rieb sich die Hände. Ein Gedanke durchzuckte Damocles: Waren es überhaupt richtige Hände – waren sie vielleicht eine Art Prothesen, in denen scheußliche Fangarme verborgen sein konnten? »Und dieses unerforschte Terrain fasziniert mich natürlich besonders«, fuhr Xorialle fort. »Manchmal findet man ungeahnte Fähigkeiten in den Genen der niedersten Organismen. Nur der Zufall fördert sie zutage. Ich denke dabei an den Yling von Krako 88, eine im Schlamm lebende Art, die Wahrnehmungsorgane eines sonaren Typs hat. Es stellte sich heraus, daß mittels ihrer sonaren Sensoren eine interstellare Nullzeitkommunikation möglich ist. Sie mußten vorher dressiert werden. Diese Möglichkeit wäre nie entdeckt worden, hätte nicht ein Forschungsteam von Consensus ein Exemplar gefangen.« »Soll ich denn ‘ne Art Fernschreiber bedienen?« Xorialle seufzte laut auf. »Bestimmt nicht, Damocles, das wissen Sie doch genau. Sie wollen einfach keine Tatsachen erkennen. Sie reden nur dummes Zeug. Wir wissen nicht, welche verborgenen Fähigkeiten Sie haben. Aber ich werde sie entdecken, darauf können Sie sich verlassen!« Dammy mußte überlegen. »Ich hab’ mal ‘nen Test gemacht«, sagte er dann. »Es ging um Berufswahl. Die stellten fest, daß ich für’s Hotelfach geeignet bin. Aber den Test machte eine Hotelfachschule.« »Meine Ermittlungen gehen wesentlich tiefer«, stellte Xorialle fest. Dabei legte er die (falschen?) Fingerspitzen aneinander. »Wir werden die Entwicklung Ihrer Spezies über fünf oder zehntausend Jahre auf wenige Tage verkürzen.« »Moment, Doktor, wenn Sie aus mir einen Menschen mit einem riesigen Wasserkopf und Spinnenarmen und -beinen machen wollen, dann sollten Sie es sich nochmal überlegen.«
»Unsinn, Damocles, meine Aufgabe ist die Erforschung Ihrer Art, nicht ihre beschleunigte Evolution. Ich will aus Ihnen kein Monstrum machen. Ich will Sie trainieren, nicht verändern. Ein Mädchen, das Steno und Tippen lernt, bleibt dasselbe Mädchen. Ein Mann, der ein Gedicht lernt oder Schachspielen, bleibt derselbe Mann.« »Sie sagten doch: ›zehntausend Jahre verkürzen‹.« Dammy wollte es genau wissen. Xorialle schüttelte den Kopf. »Wir wollen die Dinge nicht durcheinander bringen. Zuerst lernen Sie alle erdenklichen Fähigkeiten, die einzelne Angehörige Ihrer Rasse schon haben. Ich möchte sofort damit anfangen. Oder wollen Sie erst schlafen?« Er sah Dammy fragend an. Der gähnte nur.
Nach einer traumlosen Nacht trafen sie sich beim Frühstück. »Ein gutes Gedächtnis ist die Voraussetzung für alles Wissen«, sagte Xorialle. »Darum arbeiten wir heute an Ihrem Gedächtnis.« Es war ein strahlender Morgen, aber das Licht, das durch die Scheiben fiel, war künstlich. Lehrer und Schüler saßen in der Eßecke an einem kleinen Tisch mit karierter Decke und buntem Geschirr. Die zurückgezogenen Vorhänge gaben den Blick frei auf einen sonnenbeschienenen Garten unter einer fast unsichtbaren Kuppel. Dammy nahm einen Schluck aus seiner zweiten Tasse Kaffee und strich sich zufrieden den Bauch. »Mein Gedächtnis funktioniert, Doktor«, sagte er. »Nur keine Sorge.« »So? Und was haben Sie an Ihrem achthunderteinundzwanzigsten Lebenstag gegessen? Oder was, zum Beispiel, am neunten Oktober letzten Jahres?« »Wie soll ich das denn wissen?«
»Unter Hypnose wüßten Sie es. Die Daten sind vorhanden. Sie sind nur nicht zugänglich. Durch Übung registrieren wir besser und rufen uns alles leichter ins Gedächtnis zurück.« Xorialle bediente einen Knopf, und schnell und geräuschlos räumte sich der Frühstückstisch selbst ab. Mißtrauisch betrachtete Dammy seinen Gastgeber. »Das Gedächtnis ist ein kompliziertes Instrument«, sagte Xorialle sinnend. »Wir verzichten auf Einzelheiten und betrachten nur den Mechanismus. Impulse treffen auf Ihre Sinnesorgane und werden an das Gehirn weitergeleitet. Einige werden gespeichert, andere bereitgehalten, wieder andere ins Unbewußte verdrängt. Viele werden ausrangiert. Die jeweilige Unterscheidung wird von einem Faktor bestimmt, den wir ›Interesse‹ nennen. Wenn Sie sich jedes Ereignis merken wollten, wären Sie total überfordert. Sie ignorieren also den Großteil der Eindrücke, die Ihr Gehirn empfängt – natürlich nach vorangegangener Gewichtung. In der Regel läßt sich ein Schlafender vom Verkehrslärm unter seinem Fenster nicht stören. Das leise Knarren einer Tür, die er geschlossen wähnt, aber schreckt ihn auf. Wach übt Ihr Gehirn die gleiche Filterfunktion aus. Sie nehmen Notiz und speichern, was interessiert.« »Ja, aber – « »Fast alles, was ich jetzt sage, wird von Ihrem Gehirn gleich ausrangiert, weil es Sie nicht interessiert. Jedes Kind weiß, wie widerwillig das Gehirn auf Bewußtseinsebene gewisse Rechenoperationen macht, die das Unterscheidungszentrum für wertlos hält. Unglücklicherweise hat sich dieses Zentrum ursprünglich für ein Tier entwickelt, das keine Mathematik braucht. Sie können Ihr Gehirn vergewaltigen und ihm bessere Gedächtnisleistung abnötigen, wenn Sie ihm sagen, das nächste Examen sei wichtig für Ihre Karriere, aber das primitive Gehirn weiß davon nichts.
Andererseits werden Daten, die offensichtlich und unmittelbar von Interesse sind, sofort erinnert. Jeder BaseballFan, und sei er sonst noch so lernfaul, kennt den Tabellenstand seiner Mannschaft. Er kennt das Punkteverhältnis und das Ergebnis Dutzender von Spielen. Kinder erinnern sich an die verschiedensten Charaktere in Comic Strips und können auch nach 24 Stunden den Faden der Handlung sofort wieder aufgreifen – obwohl sie einen historischen Text vielleicht sofort vergessen.« »Kinder mögen Comics«, sagte Dammy. »Na und?« »Der Verstand errichtet Sperren, die Überflüssiges abweisen – uninteressante Daten. Nur ständige Wiederholung durchdringt die Sperre und hält die Daten zugänglich. Mit dem Katalyse-Gerät bringe ich Ihr Unterscheidungszentrum unter Ihre bewußte Kontrolle. Einfach, nicht wahr?« »Wie ‘ne chinesische Speisekarte. Tut es denn weh?« »Spielen Sie Karten?« fragte Xorialle. Wie von ungefähr hatte er plötzlich ein Spiel Karten in der Hand. Dammy war schon gar nicht mehr erstaunt. »Nein«, sagte er. »Jedenfalls nicht besonders gut.« Mit seinen geschickten, schlanken Händen mischte Xorialle das Spiel, deckte die erste Karte auf und legte sie auf den Tisch. »Nennen Sie den Wert«, befahl er. »Kreuz-Vier«. »Kreuz-Vier«, kam Xorialles Echo, und er deckte die nächste auf. Es war die Karo-Zehn. Dammy sagte es. Dann die dritte Karte. »Ich kenn’ den Unterschied zwischen Kreuz und Pik«, protestierte Dammy. »Und ich kann zählen wie ein Weltmeister. Sogar bis hundert – « »Nennen Sie den nächsten Wert«, sagte Xorialle geduldig.
»Pik-Dame.«
»Pik-Dame.« Xorialle deckte eine Karte nach der anderen auf, bis er das Spiel durchhatte. Dann nahm er den Haufen, drehte ihn um, legte den Finger auf die erste verdeckte Karte und sah Dammy auffordernd an. »Los jetzt, mein Junge«, sagte er scharf, als Montgomerie ihn nur angaffte. »Keine Rituale. Wir verlieren Zeit. Sie wissen genau, was Sie zu tun haben.« »Ich soll wohl die erste Karte nennen«, meinte Dammy gleichgültig. »Kreuz-Vier, wenn Sie nicht wieder gemischt haben.« Xorialle deckte die genannte Karte auf und wartete. »Mmmn, ääh, Zehn, ääh… die Karo-Zehn!« Xorialle warf die Zehn auf den Tisch. »Und dann die Pik-Dame«, fuhr Dammy fort. Er wußte zehn Karten, dann gab er auf. »Nicht schlecht für den ersten Versuch«, meinte Xorialle und schob die Karten zusammen. »Warten Sie, machen Sie weiter«, sagte Montgomerie. »Ich wußte gar nicht, wie gut ich bin. Ich kann – « »Wenn die Sequenz durchbrochen ist, wenn Sie die nächste Karte nicht mehr mit der vorigen assoziieren können, ist der Rest sinnloses Raten.« »Wollen wir weitermachen? Ich hab’ mich vorhin nicht richtig konzentriert.« Der alte Herr lächelte dünn. »Es ist aufregend, neue Fähigkeiten zu entdecken, nicht wahr? Nur dadurch wird das Leben interessant. Das gilt besonders für Kinder. Jeden Tag entdecken sie Neues. Sie springen ins Wasser und merken, daß sie schwimmen können. Sie springen vom Dach und wissen: Fliegen geht nicht. Sie messen ihre Kräfte, versuchen Geltung zu erlangen. Sie lernen sogar, auf zwei Fingern zu pfeifen. Im Laufe der Jahre werden diese Erlebnisse seltener. Dann weiß man, daß man nicht reiten oder einen Air-Liner fliegen kann.
Man kennt seinen Rang in der Hackordnung. Man weiß, wem man die Freundin ausspannen kann und wem nicht. Und doch hofft man immer auf sein Glück. Darum sind Preisausschreiben so beliebt. Darum rennen die Leute zu Handlesern und anderen Scharlatanen. Darum ist das Auspacken von Geburtstagsgeschenken ein so wichtiges Ritual. Man wünscht sich eine wunderbare Überraschung. Man hofft… Man wartet…« »Auf ein Kartenspiel?« Xorialle ignorierte die Frage. Er ließ einen Klapptisch aus der Wand hervorschießen, an dem Montgomerie und er Platz nahmen. Dann warf er ein Kartenspiel auf den Tisch. »Hat man Sie schon mal hypnotisiert, Damocles?« »Nein. Ich glaub’ auch nicht an den Quatsch.« »Sie irren. Hypnose ist etwas so Normales wie der tägliche Schlaf. Ein weiteres Beispiel von ungeahnten Fähigkeiten. Aber was sollen Theorien. Ich gehe jetzt zur Praxis über. Ich wende Hypnose an und spreche damit direkt den Teil Ihres Gehirns an, der dafür empfänglich ist. Entspannen Sie sich…« Er ging zum Schaltpult zurück und betätigte einige Knöpfe. Dammy spürte ein hohes, leises Summen im Kopf. Unmerklich schien der Raum sich zu verändern. Er nahm neue Konturen an, alles war lebendiger und eindringlicher. »Decken Sie die erste Karte auf, mein Junge.« Xorialles Stimme kam wie von weit her, aber sie klang gebieterisch. Montgomerie gehorchte. »Pik-Drei«, sagte er wie in Trance. »Weiter!« Eine nach der anderen ging er die zweiundfünfzig Karten durch. »Mischen!« befahl Xorialle. Dammy mischte das Spiel.
»Für jede im nächsten Durchgang korrekt angesagte Karte erwartet Sie ein wunderbarer Preis«, sagte der alte Herr feierlich. Dammy fühlte wie sein Herz schneller schlug. Sein Mund war wie ausgetrocknet. Nie gekannte Glücksvisionen zogen vorbei. Immer schneller deckte er die Karten auf. Die Bilder, Symbole und Zahlen sprangen ihm klar ins Auge. Sie erlangten neue Bedeutung. Er hatte es geschafft. »Das wär’s«, sagte Xorialle. »Kehren Sie auf normale Bewußtseinsebene zurück.« Es war, als legte sich ein kaum spürbar feines Gespinst über die Szene. Einen Augenblick lang hatte Dammy ein dumpfes und taubes Gefühl, das langsam nachließ. »Nun die erste Sequenz«, sagte Xorialle. Dammy griff nach den Karten. »Liegen lassen«, sagte Xorialle knapp. »Die Werte sind in Ihrer Vorstellung.« »Pik… Drei«, sagte Dammy. Er nannte zwei weitere Karten, dann versagte er. »Die zweite Sequenz«, befahl Xorialle. Sofort hatte er das Bild einer Karte vor seinem geistigen Auge. Er sagte alle Werte an, so schnell er sprechen konnte. »Fangen Sie mit der zwölften Karte an.« Dammy sprudelte die Werte nur so heraus. »Jetzt rückwärts.« Dammy gehorchte. »Nun jede dritte. Nun nur die Bilder rückwärts. Jetzt in der Reihenfolge Pik, Herz, Kreuz, Karo.« Dammy nannte alle Werte ohne jedes Zögern. »Das war Gedächtnistraining«, sagte Xorialle heiter. »Ihr Schlüsselsymbol ist Pik-Drei. Gleichzeitig habe ich Ihnen noch einen hypnotischen Auslöser eingegeben, den Sie jederzeit anwenden können. Das Schlüsselwort heißt Preis.« Dammy staunte ungläubig. »Wie haben Sie das nur gemacht?«
»Hätten Sie denn von sich aus die Werte im Kopf speichern können?« »Nun – ja – vielleicht wenn ich ein dutzendmal probiert hätte.« »Ich habe das gleiche Verfahren angewendet – nur besser geölt. Wie viele Volkslieder kennen Sie?« »Wer? Ich? Das interessiert mich keinen – « »Es ist Ihnen zu weibisch. Ich kenne das. Immerhin, fast jeder kennt den Text von ein paar Liedern auswendig. Nehmen wir an, ein Lied hat hundert Worte, jedes mit einem bestimmten Wert auf der Tonleiter. Außerdem hat jedes Wort durchschnittlich sechs Buchstaben. Eine in diesen verschlüsselte Botschaft kann eine Menge Information enthalten, wenn man Reihenfolge und Tonhöhe zusätzlich benutzt. Sie geben mir doch recht?« »Nun, ich…« »Auch die Wortstellung ist ein wichtiges Instrument. Bedenken Sie den Unterschied zwischen ›Reisezeit‹ und ›Zeitreise‹.« »Ja, aber…« »Ab sofort machen wir von diesen enormen Möglichkeiten Gebrauch. Doch zunächst verbessern wir Ihr Konzentrationsvermögen und Ihre Rechenfähigkeit. Wir schärfen Ihr deduktives Denken und Ihren Sinn für Formen. Je eher wir diese Vorbereitungen erledigen, umso schneller können wir das eigentliche Programm in Angriff nehmen.« Xorialle sah sein Versuchsobjekt nachdenklich an. »Damocles, was ist das schönste Gefühl, das es gibt?« »Bestimmt nicht, unter der Dusche singen und denken, es hört sich an wie Johnny Cash«, sagte Dammy grinsend. »Nun einmal ehrlich, Junge.« In Dammys Gesicht trat ein lüsterner Ausdruck. »Das ist wohl, wenn irgend ‘ne Mieze sich in einen verliebt.«
»Genau. Und warum?« Dammy spreizte die Hände. »Brauchen Sie ‘ne Zeichnung?« Xorialle schüttelte ablehnend den Kopf. »Es ist nicht nur die Aussicht auf sexuellen Kontakt, mein Junge; es ist vielmehr die erfreuliche, überraschende und beruhigende Feststellung, daß man für andere attraktiv ist.« »Quatsch, Doktor, wie das so mit ‘ner flotten Torte ist, kriegen Sie bestimmt nicht aus Ihren Testdingern raus.« »Wie dem auch sei. Wir haben Zeit genug, alle Ihre latenten Möglichkeiten ans Licht zu bringen. Zur Zeit haben wir es mit Grundsätzlichem zu tun. Kommen Sie.« Er stand auf. »Ich weiß nicht, ob ich Ihren verdammten Kursus weiter mitmachen soll«, brummte Dammy und blieb sitzen. »Was springt für mich heraus?« Xorialle seufzte. »Dammy, Sie ahnen ja nicht, wieviel Zeit wir verschwenden, indem wir uns Ritualen beugen, die zur unnötigen Dramatisierung der Situation beitragen. Es sind lediglich Zugeständnisse an die Konvention.« »Bitte, Doktor, reden Sie so, daß ich es verstehen kann«, sagte Dammy sarkastisch. »Sie sehen sich veranlaßt, mir Ihre Abneigung gegen weitere Mitarbeit vorzuspiegeln. Sie geben vor, ein unabhängiger Mann zu sein, der über sich selbst bestimmen kann. Das ist nur Fassade. Also zwingen Sie mir eine symbolische Unterhaltung auf, in der ich langsam Ihre Vorbehalte abbaue, und zwar durch Schmeichelei, durch Appelle an Ihre Neugierde oder Dankbarkeit und ähnliche Mätzchen. Und Sie wiederum sehen sich zur Skepsis genötigt, um nicht leichtgläubig zu erscheinen. So handelt ein Bauernlümmel. Fasziniert von den Chromleisten an einem Auto, versucht er seine Kauflust vor dem aalglatten Verkäufer zu verbergen. Selbst bei der Unterschrift heuchelt er noch Gleichgültigkeit. Dabei war er eine leichte Beute. Ähnlich weist eine Frau die Werbungen
eines Mannes zurück, obwohl sie entschlossen ist, ihn zu erhören. Sie will nur nicht allzu nachgiebig erscheinen.« »Sie sind aber vielseitig, Doktor«, sagte Dammy mit gespielter Bewunderung. »Von Kartenkunststücken zu glatten Katzen, die sich dumm anstellen. Was hat das mit Judo lernen zu tun oder mit dreitausend Jahre alt werden?« »Lernen Sie sich selbst kennen«, sagte Xorialle traurig. »Geben Sie doch zu, daß Sie in Wirklichkeit darauf brennen weiterzumachen. Sie versuchen nur, es hinter dreistem Zynismus zu verbergen.« »Das glauben Sie doch selbst nicht«, bellte Montgomerie. »Bringen Sie mich nach Chicago zurück. Und dann warten Sie mal ab, ob ich Ihnen nachlaufe.« »Nur um Ihre Rolle weiterzuspielen, drehen Sie der Zukunft den Rücken – wie ein Stoiker, der stolz seine Abstinenz herauskehrt und doch seine Begierden kaum zügeln kann.« »Sie glauben also, ich will in diesem Eispalast eingesperrt bleiben, zusammen mit einem frustrierten Universitätsprofessor, um auf Karten die Augen zu zählen?« schnaubte Montgomerie. »Da werden Sie sich aber wundern.« »Was für ein Leben haben Sie draußen geführt, Damocles? Sie haben von der Hand in den Mund gelebt – « Xorialle lächelte traurig. »Sie haben sich für einzigartig gehalten und auf ein Wunder gewartet, das Ihr Leben verändern sollte.« »Ich habe auf überhaupt nichts gewartet – « Xorialle hatte schon weitergesprochen. »Das Wunder ist da, Damocles. Sie waren einzigartig. Sie sind das Individuum, das ich unter Milliarden als Versuchsobjekt ausgewählt habe – durch Zufall, wie ich zugebe. Und nun wollen wir ohne weitere Rituale fortfahren.« Xorialle wandte sich ab und schritt davon. Ein wenig später stand Montgomerie vom Tisch auf und folgte ihm.
»Dies«, sagte Xorialle und zeigte auf einen Stuhl, an dessen Lehne ein Apparat angebracht war, der aussah wie ein Bienenkorb, »ist ein synaptisches Katalysegerät.« Er streichelte den Apparat fast zärtlich. »Leider nur aus hiesigem Material gefertigt und primitiv wie alles hier. Aber es funktioniert. Es beschleunigt Lernprozesse und wird unsere Arbeit unendlich erleichtern. Nehmen Sie Platz, mein Junge. Ich mache ein paar Probeläufe.« »Sieht aus wie ‘n Haartrockner im Schönheitssalon«, sagte Montgomerie mißbilligend. »Wenn mich jemand unter diesem Ding sitzen sieht – « »Ich dachte, wir wollten auf Rituale verzichten. Ich kenne doch Ihr Rollenspiel: Sie sind ein ganzer Kerl, dem alles Weibische ein Greuel ist. Setzen Sie sich.« Widerwillig ließ sich Dammy auf dem Stuhl nieder. »Stellen Sie wieder die Mattscheibe an, und ich soll die Antworten abrufen?« »Ich arbeite direkt mit dem Großhirn«, sagte Xorialle abwesend. Er studierte die Anzeigen auf einer kleinen Schaltvorrichtung, hinter der er sich niedergelassen hatte. »Zuerst feure ich eine Batterie von Impulsen durch die Großhirnrinde, notiere die Ergebnisse und stelle das Eingabeprofil entsprechend ein.« »Sie werden verdammt aus meinem Gehirn kein Rührei machen«, sagte Dammy und stand schnell auf. Xorialle sah ihn betrübt an. »Dammy, es ist durchaus nicht meine Absicht, Rührei aus Ihrem Gehirn zu machen. Ich hatte viel Mühe, ein normales, gesundes, untrainiertes Nervensystem wie Ihres zu finden. Beim geringsten Eingriff wäre es für mich nicht mehr zu gebrauchen.« »Wenn Stromschläge durch meinen Kopf zu jagen kein Eingriff ist, dann weiß ich nicht…«
»Korrekt. Sie wissen nicht. Die Strahlen des Katalysegerätes sind wie der Lichtstrahl, mit dem der Augenarzt Ihre Augen ausleuchtet. Er testet Ihre Sehstärke, jedoch zerstört er nicht Ihre Sicht. Unterdrücken Sie Ihre abergläubische Furcht und Ihre primitiven Ängste, damit ich weitermachen kann.« Dammy murmelte noch etwas, ließ sich dann aber das Gerät überstülpen. Xorialle ging an seine Schalter zurück. »Sitzen Sie bitte still. Die Einstellung dauert nur Minuten und ist völlig schmerzlos.« Dammy hörte leises Summen. Er nahm fast unhörbares Stimmengewirr auf. Sonst spürte er nichts. »Das sind doch nicht etwa Röntgenstrahlen?« erkundigte Dammy sich. Xorialle grunzte ungeduldig. »Es sind Neutronenschwingungen. Sie sind mit den in Ihrem eigenen Gehirn erzeugten identisch.« Er berührte einen Schalter, und das ferne Geräusch von Stimmen verschwand. Er drückte Knöpfe, drehte Schalter, stellte Anzeigegeräte ein. Er arbeitete mit äußerster Konzentration. »Nun«, meinte er, »der nächste Punkt auf der Tagesordnung ist Ihr grotesker Dialekt. Für jede Mitteilung sind Grammatik und Syntax von größter Bedeutung. Das scheint Ihnen entgangen zu sein.« Wieder fummelte er an seinen Schaltern. »Das gefällt mir überhaupt nicht«, protestierte Dammy. »Soll ich denn wie ein Universitätsprofessor reden, oder sowas?« »Oder sowas«, äffte Xorialle ihn nach. »Ein schlagendes Beispiel für den Wortballast, der Ihre Sprache überlagert. Still jetzt!« Angespannt saß Dammy da. Etwas kitzelte sein Gehirn. Er hörte leises Piepen wie Mäusegeplauder. Es setzte sich fort, während sich vor Dammys innerem Auge Ausblicke von ungeahnter Weite auftaten.
Xorialles Stimme riß ihn aus seinen Träumen. »Wir haben wahrscheinlich jetzt schon eine erhebliche Verbesserung zu verzeichnen. Sagen Sie etwas, mein Junge.« »Was sollte ich Ihnen denn mitteilen?« sagte Dammy prompt. »Ich mein’ natürlich, was is’ los, Doktor?« »Bekämpfen Sie doch nicht Ihre aufkeimende Neigung zu klarer Sprache, Damocles. Wie ist Ihr Eindruck vom bisherigen Training?« »Die Technik erscheint mir kompliziert. Ihre Wirksamkeit werde ich jedoch erst beurteilen können, wenn ich weitere Daten gesammelt habe – « Dammy brach ab und schüttelte den Kopf. »So’n blöder Mist, Doktor! Sie zwingen mir ein Sprachmuster auf, das bei meiner sozialen Schicht nur hämisches Lächeln hervorrufen kann – verdammt noch mal, ich red’ wie’n Buch. Was waren Ihre Absichten – ich mein’ worum geht das?« »Nur schön ruhig, mein Junge. Können wir fortfahren?« »Habe ich in dieser Angelegenheit denn eine Wahl? – Ich mein’, is’ doch egal, was ich davon halte. Sie machen ja sowieso weiter.« »Korrekt. Vielleicht werden Sie zur Klugheit gelangen.« »Klugheit hätte mich meilenweit von Ihnen ferngehalten«, sagte Dammy verbittert, »und zwar bevor Sie meine Sprache versaut haben.« »Ersparen Sie mir Ihren Zynismus, mein Junge«, sagte Xorialle mit vorgetäuschter Strenge. »Wir machen jetzt weiter.«
IV
Die fünf Stunden, die Montgomerie unter dem Katalysegerät verbracht hatte, hatten ihn ganz schön geschlaucht. Xorialle hatte Selbstgespräche geführt, Schalter bedient und seltsame Anweisungen gegeben. Er hatte regelrechte Vorträge gehalten. Anschließend nahmen sie eine Mahlzeit ein. Es gab vortrefflichen Fasan und französischen Wein von bester Provenienz. Das Ganze wurde natürlich automatisch serviert, und zwar auf einer scheinbaren Freiluftterrasse. Als sie fertig waren, gab Xorialle seinem Schüler eine dünne Broschüre. »Hoyle’s kompletter Spielekatalog«, las Dammy laut. »Ich dachte, wir wollten arbeiten. Wann haben wir denn Zeit für…« »Langweilen Sie mich nicht, Damocles. Spiele lernen Sie während des Trainings nebenbei.« »Nebenbei?« Dammy zog die Stirn kraus. »Und wann kommt Jiu-Jitsu?« »Dammy«, fiel ihm Xorialle scharf ins Wort, »in den nächsten paar Tagen lernen Sie die Regeln und Techniken jeder menschlichen Aktivität. Sie werden jede Sportart, jedes Wissen und jede erdenkliche Kunstfertigkeit beherrschen, die es je unter Menschen gab. Habe ich mich klar ausgedrückt! Sie können dann Flintsteine behauen und Baupläne zeichnen, Domino spielen und Körbe flechten, jonglieren und seiltanzen. Sie werden die Zahlen auf vorbeirasenden Güterwagen addieren wie der beste Fachidiot im Land. Haben Sie verstanden?« »Sie verarschen mich, Doktor.« »Ich bin Xorialle und kein Stammes-Schamane. Ich verabscheue die Anrede ›Doktor‹, und ich ›verarsche‹ Sie
nicht. Machen Sie gefälligst von Ihren Kenntnissen Gebrauch, und sprechen Sie Ihre eigene Sprache vernünftig. Oder ich vergesse meinen Auftrag hier und – « »Und was?« fragte Dammy herausfordernd, als sein Lehrer abrupt schwieg und fortging. Dammy folgte ihm. Xorialle seufzte. »Selbst Ihre primitive Sprache wäre zu ertragen, würden Sie sie nur korrekt sprechen. Sie kennen die komplette Grammatik, das gesamte Vokabular, und Sie beherrschen die Syntax. Warum gebrauchen Sie Ihr Wissen nicht?« »Wohl Gewohnheitssache«, sagte Dammy gleichgültig. »Vielleicht will ich auch nicht wie ein altes Weib reden.« »Ich weiß eine Lösung«, sagte Xorialle böse. »Sie lernen Consensual-Zwei, eine einfache Schnellsprache.« »Moment mal, Doktor«, sagte Dammy zögernd. »Sie sagten doch menschliche Fähigkeiten. Ich will mir keine verrückten fremden Sachen ins Hirn pumpen lassen.« »Unsinn. C-2 ist für Interspezies-Kommunikation gedacht und so nüchtern und sachlich, wie es der Begriff Sprache überhaupt zuläßt. Es verändert Ihre Persönlichkeit so wenig wie die Kenntnis eines Navajodialekts.« »Wie hört sich das an?« fragte Dammy besorgt, als sein Lehrer das Katalysegerät wieder in Position brachte. Xorialle fuhr sich kurz mit der Zunge über den Gaumen. Es gab ein schnarrendes Geräusch. »Das war Lincolns Rede von Gettysburg. Ich gebe zu, sie verliert durch die Übersetzung.« Wieder machte er sich am Steuerpult zu schaffen. »Jetzt ganz entspannen. Denken Sie an gar nichts«, befahl er kurz. Dammy lehnte sich im Stuhl zurück und schloß die Augen. Plötzlich vernahm er ein stummes Geräusch hinter den Ohren. Er fiel in Halbschlaf.
»…zählen Sie von eins bis zehn«, sagte Xorialle. Dammy atmete tief ein und stieß die Luft wieder aus. Mühsam unterdrückte er ein Zucken der Zunge. Er hielt den Mund fest geschlossen. »Was istsszzzrrchhh geschehenzzchhh?« fragte er. Xorialle summte. Die Laute schienen Sinn zu bekommen, aber Dammy verdrängte ihn. »Mir tut der Kopf wehsssdzzz«, sagte Dammy. »Wenn ich sprechen willkrrrxx…« Er machte eine Pause. »Meine Zunge fühltzzz sich xxrkomisch an. Ich meine komisch. Meine… Zunge… fühlt… sich… komisch… an.« Er sprach jetzt ganz deutlich. »Was haben Sie getan, Doktor, mein Sprachzentrum versaut?« »Xxxrrssszzzkk«, summte Xorialle. »Bbyrrppp?« »Entschuldigen Sie sich wenigstens«, murmelte Dammy. »Verstehen Sie mich nicht?« »Sie hören sich an wie eine Schmeißfliege in ‘ner Bierflasche.« »Seltsam, ich war überzeugt, Sie hätten die Fähigkeit. Nun, auch negative Daten sind Daten. Schade, daß ich keine besseren Geräte habe. Aber das gehört sowieso nicht zu meinem eigentlichen Programm. Wir machen in Ihrer Muttersprache weiter. Versuchen Sie bitte, präziser zu sprechen. Wo waren wir stehengeblieben?« »Sie sprachen über Jonglieren«, erinnerte Dammy ihn. »Und Querfeldeinrennen, Surfing, Fallschirmspringen.« Xorialle holte Luft. »Akrobatik, Stabhochsprung, Lassowerfen, Qualitative Analyse, Linsenschleifen, Reparaturen an Wankelmotoren, Tennis, Kegeln, Curling, Ballett – « »Ballett?« »Alles was es gibt, Dammy.«
»Das ist unmöglich.« Dammy schluckte. »Falls ich überhaupt weitermache.« Xorialles Gesicht straffte sich. »Falls?« Dammy fühlte ein scharfes Stechen in der Brust. Ein leiser glühender Schmerz. Aber er hielt an. »Falls?« wiederholte Xorialle. »Meinetwegen. Ich habe ja keine Wahl.« Der Schmerz war wie weggeblasen; Dammy atmete erleichtert auf. »Sie sagten ›unmöglich‹. Sie geben doch zu, daß es für jede menschliche Aktivität irgendwo einen Experten gibt.« Dammy brummte Zustimmung. »Was ein Mensch kann, kann auch ein anderer.« »Aber doch nicht alles auf einmal, verdammt!« »Und warum nicht?« »Man braucht Jahre, um irgendein Kartenspiel zu beherrschen. Die Wissenschaftler bleiben heute zwanzig Jahre an der Universität und können all das neue Zeug kaum verarbeiten.« »Aber Sie lernen schneller als andere, Damocles, öffnen Sie Ihr Buch.« Montgomerie durchblätterte die Seiten. Auf einer sah er die Überschrift REGELN DES JOKERSPIELS. »Schlüsselworte!« stieß Xorialle hervor. Dammy wollte sich erinnern, aber der Alte unterbrach ihn. »Nicht sprechen!« Dammy dachte, Pik-Drei .Preis. »Schauen Sie sich die Seite an.« Die Worte standen plastisch in der Luft. Dammy sah enggedruckte Buchstaben. »Schnell durchblättern.« Dammy gehorchte und sah das verschwommene Bild der durchgeblätterten Seiten. »Schließen Sie das Buch.«
Dammy klappte es zu. »Aufsagen!« Dammy wollte protestieren – »Wenn ein Spieler eine Farbe ansagt, die er schon gespielt hat, darf er nicht mehr ansagen. Korrigiert er sich und nennt eine andere Farbe, dürfen weder er noch seine Mitspieler auf diese Farbe Trumpf melden.« »Sie kennen nun die Regeln des Jokerspiels«, sagte Xorialle streng. »Ihnen fehlt nur noch die Strategie des eigentlichen Spiels.« »Na und? Ich hab’ ein paar Zeilen im Kopf. Was ist mit den restlichen vierhundert Seiten?« »Sie kennen sie«, sagte Xorialle selbstgefällig. »Und was soll das? Ich kann nun falschspielen. Ich hätte mir was anderes vorgestellt.« »Dabei bleibt es auch nicht. Sie werden den Inhalt aller Bücher der Welt in sich aufnehmen – das ganze Wissensgut Ihrer Rasse.« Dammy schnaubte verächtlich. »Und wenn ich so schnell blättere, wie ich Karten mische, mein ganzes Leben würde dazu nicht ausreichen.« »Oh, wir verwenden natürlich Bänder. Sie laufen mit Höchstgeschwindigkeit über die Mattscheibe. Vorher bringen wir Ihre Lesegeschwindigkeit auf ein vernünftiges Maß. Die Encyclopaedia Britannica können Sie in etwa acht Sekunden in sich aufnehmen.« »Ich bin doch kein Supergenie. Das faßt mein Kopf nicht.« »Wie viele Tage hat der August, Damocles?« »Mmmh, September hat dreißig«, murmelte Dammy, »April, Juni, November… einunddreißig«, verkündete er. »Sehen Sie? Das Datum war vorhanden, aber verschlüsselt. Wir werden noch sehr viel mehr Informationen verschlüsseln.«
»Wenn ich jedes Mal ein Gedicht aufsage, wenn ich mich an etwas erinnern will, sperrt man mich in die Klapsmühle.« »Unser Kode ist einfacher und der Zugriff wesentlich schneller«, beruhigte Xorialle ihn. »Und nun ins Bett, mein Junge. Morgen fängt das physische Training an. Dann brauche ich Sie frisch und ausgeruht.« »Ja«, sagte Dammy und gähnte. »Gute Idee.«
Im Bett streckte sich Dammy behaglich aus. Er kratzte die Stelle hinter seinem Ohr, die nicht aufhören wollte, zu jucken. Er versuchte sich zu erinnern… Pik-Drei. … Der Schmerz im Leib läßt langsam nach. Das Ziehen der Stiche. Die grauenhaften Schnitte des Skalpells, das leise Singen des Knochenbohrers, dann Xorialles behende Finger an den Kontrollen, um den halb lebenden organometallischen Faden auszulösen, der durch die Gehörnerven zur Großhirnrinde vordringt und die feinsten Nervenverästelungen des Großhirns erreicht. Neugierig prüfte er mit erweiterten Sinnen die Strukturen seines Hirns, inspizierte Nervenstränge, analysierte Schaltzentren und studierte Empfangsorgane. Er erkannte die phantastische Kompliziertheit des auf ihn einwirkenden Organs und die seines eigenen Verstandes. Welche phantastischen Werkzeuge lagen hier ungenutzt. Welche ungeahnten Möglichkeiten schlummerten hier. Dammy erkannte die ganze Dynamik und Symmetrie dieses wunderbaren Instruments, das sein Verstand war. Er blinzelte und widmete seine Gedanken weltlicheren Dingen. Der Alte hatte also auch hier wieder gelogen, überlegte Dammy. Er hat weit mehr als nur Hypnose angewandt, als er meinen Magen in Brand setzte und ich mich kaum rühren konnte. Was der Kerl wohl wirklich vorhat?…
Er stand auf und holte seine Werkzeugtasche aus dem Schrank. Dann ging er an die Tür, hockte sich hin und prüfte die winzige Öffnung unter dem Schloß. Er wählte ein dünnes Drahtinstrument und führte es ein. Während er es vorsichtig drehte, lauschte er an der Tür. Er hörte das leise Klicken des Mechanismus. Dann ein lauteres Geräusch, als die Sperre ausrastete. Er zog das Instrument heraus und probierte die Verriegelung. Glatt öffnete sich die Tür. Er trat auf den Flur, ging rasch zur Treppe und stieg zur Bibliothek hinunter. Das Licht im Bücherraum war gedämpft. Er eilte zu der Sektion, wo Xorialle seine außerirdischen Texte aufbewahrte, nahm ein halbes Dutzend von den kleinen Würfeln und legte sie in die Eingabevorrichtung des Abtastgerätes. Er schaltete ein, und der Bildschirm leuchtete auf. Zuerst schienen die Punktmuster auf der Scheibe sinnlos, aber plötzlich prasselten Informationen nur so auf ihn ein. Pik-Drei, dachte er und nahm auf dem Stuhl Platz. Gebannt schaute er auf den Schirm… Preis. Er blinzelte und richtete sich auf. Sein Nacken schmerzte, und seine Augen brannten. Zwei Stunden waren vergangen. Der Schirm war leer. Er schaltete aus, legte die Würfel an ihren Platz und ging in sein Zimmer zurück. Er schlief rasch ein. Schwere Träume quälten ihn.
Der kleine Raum, in den Xorialle Montgomerie am nächsten Morgen führte, war fensterlos. Die schmucklosen Wände und die Decke waren von fahlem Grau. Die ganze Einrichtung bestand aus einer Anordnung von Apparaturen, die fast den gesamten Raum einnahm. Dammy ging um die Anlage herum, während Xorialle in eine Ecke eilte, um einen seiner unvermeidlichen Knöpfe zu betätigen. Ein Schaltgerät mit weiteren Knöpfen fuhr aus.
Dammy staunte. »Das sieht aus wie ‘ne Kreuzung zwischen einem Streckbett und einem Zahnarztstuhl«, meinte er. »Der Responsor ist vielleicht nicht sehr eindrucksvoll«, gab Xorialle zu. In schneller Folge betätigte er Schalter und prüfte die Ergebnisse auf den bunt beleuchteten Anzeigegeräten. »Jedenfalls was sein Äußeres betrifft. Aber es ist ein technisch ausgereiftes Gerät, das die Reaktion des unmittelbaren Exokosmos auf jede Ihrer Bewegungen simulieren kann. Außerdem kann es Ihrer Muskulatur genau abgemessene Reize übermitteln.« »Bitte übersetzen Sie«, sagte Dammy automatisch. »Wenn Sie an das Gerät angeschlossen sind, kann der Responsor als Trapez, als Schwerefeld, als Fechtgegner oder als Zentrifuge dienen. Er bietet die gesamte Skala äußerer Bedingungen und Kräfte für die Disziplin, in der Sie trainiert werden sollen.« »Scheiße. Nun erklären Sie die Übersetzung. Und dann erklären Sie die Erklärung. Das spart Zeit.« »Wieder Ihre anti-intellektuelle Pose. Sie basiert auf der bei Ungebildeten so beliebten Vorstellung, daß Klugheit unmännlich sei.« Xorialle erledigte den Spott seines Schülers mit einer Handbewegung. »Nehmen wir an, Sie lernen fechten. Die entsprechende Einstellung wird vorgenommen. Sie machen einen Ausfall, stechen und parieren. Der Responsor fällt aus, pariert und sticht entsprechend, und zwar mit der Geschicklichkeit eines Meisters in Degen, Säbel oder Florett.« »Sie verkaufen ja heiße Ware. Und dabei soll ich uralt werden?« Xorialle winkte ab. »Zuerst verpassen wir Ihnen die Grundausstattung. Wir schärfen sozusagen Ihr Werkzeug. Und nun hinein in den Responsor, Dammy – seien Sie so freundlich.«
»Was, in das Ding soll ich reinklettern?« Während er sprach, öffnete sich das Gerät und teilte sich in zwei Hälften. Das Innere bestand aus einem verwirrenden System von Verstrebungen und Schlingen. Xorialle seufzte nur. Dammy kletterte hinein und schob sich vorsichtig zwischen die beiden Hälften. Der Rahmen umschloß ihn. Gepolsterte Arme, Fühler und Klammern glitten in Position, bis Arme, Beine, Rumpf und Kopf in einem Labyrinth von Verstrebungen, Hebeln, Gurten und Drähten steckten. Er unterdrückte einen Anfall von Platzangst. »Alles in Ordnung?« fragte Xorialle. »Spinnen Sie?« fragte Dammy mit erstickter Stimme. »Ich bin hier eingewickelt wie ‘ne Mumie!« »Können Sie sich nicht frei bewegen?« Xorialle klang besorgt. Montgomerie bewegte vorsichtig einen Finger. Die daran befestigte Apparatur vollzog geräuschlos jede Bewegung mit. Er spannte den Arm, dann ein Bein. Er bewegte die Schultern, drehte den Kopf. Keinerlei Widerstand! »Komisch«, sagte er, »das Zeug merkt man gar nicht.« »Stehen Sie bitte auf!« »Wie kann ich das?« sagte Dammy, aber als er aufstand, paßte sich der Apparat jeder seiner Bewegungen an. »Auf der Stelle laufen, Arme schwingen, auf- und abspringen.« Dammy gehorchte. Er empfand keine Behinderung. »Es funktioniert also«, sagte Xorialle erleichtert. »Nur schade, daß ich hier keine besseren Geräte habe. Wir müssen uns behelfen. Wir testen jetzt den Reflexmechanismus.« Eine Nadel stach in Montgomeries Fußsohle, während ein spitzer Metallstab auf sein Gesicht losfuhr. Sein Fuß zuckte hoch, und er riß das Gesicht zur Seite. »Sehr schön«, rief Xorialle. »Wunderbar. Wir verschlüsseln jetzt alles auf reflektive Reaktion.«
»Was soll das?« kreischte Dammy. »Wollen Sie mir die Augen ausstechen?« »Wohl kaum«, sagte Xorialle mitleidig. »Sie hätten mich wenigstens warnen können.« »Dammy, unterlassen Sie diese albernen Rücksichten auf Ihre retrospektiven Erfahrungsschablonen. Ängste können nur auf zu erwartende Gefahren gerichtet sein. Wenn überhaupt.« »Und wozu stechen Sie mir Eispickel ins Gesicht?« »Die Basis jedes fortgeschrittenen physischen Trainings heißt: Reflexe zurücklenken. So führt ein Karate-Experte nie einen reinen Verteidigungshieb aus. Der Hieb ist gleichzeitig Gegenangriff. Schlagen Sie einem solchen Mann auf die Schulter und Sie liegen mit zerschmettertem Kehlkopf am Boden, bevor er es verhindern kann.« »Was Sie nicht sagen.« »Da wir gerade bei Karate sind«, fuhr Xorialle fort. Durch den Wust von Bestückung sah Dammy Xorialle einen Hebel umlegen. Direkt unter ihm explodierte eine Bombe. Er wurde wild herumgeschleudert. Er zappelte und zitterte wie in Krämpfen. Die Apparatur spielte verrückt. Das Auge konnte ihren Bewegungen nicht folgen. Er wollte schreien. Er konnte nur krächzen. Dann hörte das wilde Geschleuder plötzlich auf. »Hilfe«, krächzte er. »Bitte, aufhören! Ich gestehe alles!« »Das war schon ganz gut«, sagte Xorialle zerstreut, die Augen auf die Instrumententafel geheftet. »Wollen wir zur Taschenspielerkunst übergehen?« »Das wäre Wiederkäuerei«, knurrte Dammy. »Ihr Vokabular ist umfangreicher, als Sie zugeben«, sagte Xorialle. »Wir werden es noch erweitern. Heute abend blättern Sie ein ungekürztes Wörterbuch aller terrestrischen Sprachen durch, das ich neulich zusammengestellt habe.« Er betätigte einen Schalter, und Klammern legten sich um Dammys Hände. Sie verdrehten und durchwalkten die Finger,
bearbeiteten Handflächen und Gelenke, und auch seine Arme wurden durchgerüttelt. Dann stand der Apparat still. Dammy riß seine mißhandelten Finger weg und verbarg sie unter den Armen. Sie brannten und klopften wie wild. Als hätten Bienen sie gestochen, wenn auch mit mildem Gift. »Ich fühl’ mich, als hätte ich den ganzen Tag ‘nen Preßlufthammer bedient«, keuchte er. »Was wollen Sie damit erreichen? Ich sagte doch schon, daß ich weitermache.« »Geschickte Hände sind für die meisten Fähigkeiten, die ich für Sie programmiert habe, unentbehrlich«, sagte Xorialle ruhig. »Wie soll ich geschickte Hände kriegen, wenn dieser Schrott sie mir zu Brei schlägt?« schrie Montgomerie. »Unsinn, Dammy. Ich habe Ihnen lediglich im manuellen Bereich gewisse Verhaltensmuster eingeprägt. Die Beschwerden verschwinden schnell. Geben Sie zu, die Arbeit in diesem Apparat kostet viel weniger Mühe als Hunderte von Übungsstunden. Von einem intensiven Programm isotonischer Übungen ganz zu schweigen. An einem Tag schaffen Sie so viel wie sonst in sechs harten Trainingsstunden täglich, und das über Jahre hinaus. Mit unserer Methode erlangen Sie an einem einzigen Tag optimale Hypertrophie der Skelettmuskulatur. Herkules und Atlas sind Schwächlinge gegen Sie.« »Schön und gut, Doktor, aber ich will nicht wie’n Ungeheuer aussehen. Bedenken Sie: W oc ps oc 13 x 1 = l4.« »Natürlich, aber ja.« »Beachten Sie besonders 13.« »Ihr Körperbau wird ungeteilte Bewunderung erregen. Sie brauchen Maßanzüge usw. Aber das sind Kleinigkeiten. Die Hauptsache ist, daß Sie Ihre Vorurteile über Bord werfen. Freuen Sie sich doch über Ihre neuerworbenen Fähigkeiten.«
Dammy betrachtete seine Hände, an denen wie Girlanden noch die schwerelosen Drähte und Klammern hingen. »Sie meinen also…?« »Genau.« »Und vorher?« »Sie beherrschen jetzt Karate.« »Heißt das, ich bin Träger des schwarzen Gürtels?« »Gewiß. Sie beherrschen die physischen Mittel dieser Disziplin. Sie müssen nur noch einen Text über ihre direkte Anwendung lesen. Aber Sie werden schon beim ersten Versuch keine Fehler machen. Genau wie ein Pianist, der ein neues Konzert vom Blatt spielt.« »Aber«, sagte Dammy mißtrauisch, »wie kann ich mit dem Schwert kämpfen, wenn ich nicht weiß, was bei einem Schwert oben oder unten ist?« »Wie ist es denn bei einem geübten Fechter? Glauben Sie im Ernst, er berechnet bewußt den Weg der gegnerischen Klinge oder überlegt sich, welche Muskeln er einsetzen muß, um seine eigene Klinge in entsprechende Position zu bringen? Nein, und abermals nein. Er reagiert nur. Wir müssen also Ihre Reaktionsfähigkeit verbessern.« »Mmmh, wenn Sie aber vom Mars sind, wie Sie sagen, wie wissen Sie denn überhaupt, wie ein Chinese Suppe aus Vogelnestern kocht, oder wie man ein Pferderennen gewinnt?« »Mein Bandarsenal enthält Aufzeichnungen der geistigen Strukturen von ausgesuchten Experten jeder Disziplin, einschließlich aller bewußt oder unbewußt gespeicherten Informationen über ihr Spezialgebiet.« »Ich versteh’, Sie sind zu Einstein gegangen und haben gesagt: ›Wie ist’s alter Junge, wollen Sie sich unter meine Trockenhaube setzen, während ich Ihr Gehirn durchlöchere?‹« »Nein, nicht so direkt, mein Junge. Meine Geräte ermöglichen die Auswahl des Erforderlichen und seine
selektive Aufzeichnung über riesige Entfernungen. Meine Sammlung enthält über zweihunderttausend verschiedene menschliche Gehirnmuster.« »Und wie lange haben Sie uns ausspioniert, Doktor?« »Mehrere hundert Jahre, und wir sind noch damit beschäftigt. In diesem Augenblick werden neue Daten aufgezeichnet. Hören Sie nicht das Klicken?« Dammy bewegte die Finger. »Sie fühlen sich nicht anders an als vorher«, sagte er. »Ich merke keinen Unterschied.« »Körperliche Fähigkeiten prägen sich dem Unbewußten ein«, erklärte Xorialle. »Wenn Ihnen etwa beim Gehen jede Bewegung bewußt wäre, könnten Sie auf nichts anderes achten und würden hinfallen. Der Pianist schaut aufs Notenblatt und seine Finger spielen. Spielt er eine Zeitlang nicht, kann er trotzdem später jede ihm bekannte Melodie spielen, denn seine Hände greifen unbewußt die richtigen Tasten.« »Das glaub’ ich erst, wenn ich es seh’.« Xorialle öffnete eine Schublade und entnahm ihr einen blauen Ball, so groß wie eine Billardkugel. Er warf ihn Dammy zu, der ihn mühelos fing. Ein hellroter Ball folgte. Schnell nahm er den blauen in die Linke, während seine Rechte den zweiten aufgriff. Xorialle sah nicht einmal hin, als er Dammy Bälle zuwarf, die dieser hochschleuderte, um die Hände für die nächsten frei zu haben. Orange, grün, purpur, schwarz, weiß, gold und silber. Alle fügten sich in den Kreislauf ein. Die Bälle stiegen auf und ab – links, rechts, wieder hoch, links… »Okay, Jonglieren ist gar nicht so schwer«, sagte er, den Blick auf die Bälle geheftet. In diesem Moment schleuderte Xorialle zwei auf einmal. Einer braun, der andere rosa. Auch sie konnten aufgefangen werden. Dammy ließ den nächsten Ball von der Handfläche abprallen, so daß er an Xorialles
Schulter vorbei wieder in die Schublade flog. Nacheinander geschah das Gleiche mit den übrigen Bällen. »Heiße Sache«, sagte Dammy träge. »Jetzt kann ich nicht mehr verhungern. Jonglieren wird gut bezahlt.« »Ach was, Damocles, Sie haben Hunderte von Fähigkeiten, die sich verkaufen lassen. Sie könnten in jedem Forschungslabor arbeiten, denn Sie sind Spezialist in jeder Wissenschaft.« »Das müßte man prüfen.« Dammy glaubte es immer noch nicht. »Jede Prüfung entfällt. Die Dinge sind wie ich sage. Fahren wir fort?« »Natürlich«, war Dammys Kommentar. »Aber wenn ich meine Fähigkeiten verkaufen will, darf man nicht vergessen:
»Oder anders«, sagte Xorialle. »Diese Gleichung läßt sich auch so ausdrücken:
»Wenn Sie glauben, ich versteh’ nichts von Algebra für Anfänger, spuck ich Ihnen in die Suppe«, schimpfte Dammy. »Sollten wir die Diskussion nicht auf höherer Ebene fortsetzen? Sie reagieren zu heftig. Ich hatte nicht beabsichtigt, Sie zu kränken«, sagte Xorialle freundlich. »Machen wir weiter.« Bevor Dammy meckern konnte, war er wieder an der Arbeit.
»Skilaufen«, sagte Xorialle sanft. Er drückte eine Reihe von Knöpfen. »Dann Zeichnen – Vogelrufe – Tischtennis – Yoga – Schwertschlucken…« Bei jedem Knopfdruck zuckte Dammy zusammen.
»Ich fühl’ mich wie durch den Wolf gedreht«, sagte Dammy drei Tage später. »Setzen Sie sich doch nicht so herab, mein Junge«, sagte Xorialle heiter und rührte in seinem Martini. Sie saßen in tiefen Ledersesseln im Bücherstudio. Die weichen, dicken Matten, die schweren Brokatvorhänge und das Kaminzubehör aus Messing verliehen dem Raum einen soliden, fast bürgerlichen Luxus. Dammy probierte sein Getränk. »Ich kann kaum das Glas heben«, stöhnte er. »Ja, wir waren fleißig«, pflichtete Xorialle ihm bei. »Und heute nachmittag werden wir noch fleißiger sein.« »Heute nicht, Xorialle. Ich kann nicht mehr.« »Nach dem Essen und einem kleinen Nickerchen werden Sie sich besser fühlen. Bedenken Sie doch, daß Sie jetzt Tiefseetaucher, Kernphysiker und Steinmetz sind. Sie können jodeln und Fenster putzen. Was wollen Sie mehr?« »Komisch, ich bin trotzdem müde.« »Ich bin gespannt, was sich bei der nächsten Sitzung ergibt«, sagte Xorialle. »Bisher haben wir nur mit der laufenden Entwicklung schrittgehalten. Als nächstes erforschen wir neues Terrain.« »Das gefällt mir ganz und gar nicht.« »Wir nehmen nur vorweg, was auf die Menschheit zukommt. In diesem Augenblick tut ein Individuum etwas, was noch nie getan wurde. Sicher nichts so Bedeutendes wie das erste Feuer, das gezündet wurde, oder das Einmaleins. Immerhin vielleicht weiterer Fortschritt. Ein Schritt auf dem Wege zur Erforschung
der letzten Wahrheit. Wer weiß, zu was in tausend, zehntausend oder hunderttausend Jahren die Menschheit fähig sein wird – wenn man sie gewähren läßt.« »Zu was sollte sie fähig sein?« »Dammy, sie kennen doch Kinderlieder?« »Welche?« »Zum Beispiel ›Mary hat ein kleines Lamm‹.« »Oh ja, ›und sein Fell war weiß wie Schnee‹. Was soll das?« Xorialle legte Schreibblock und Bleistift auf den Kaffeetisch. »Kennen Sie noch eins?« »Ja, ›Jack and Jill‹.« »Gut, sagen Sie das erste auf und schreiben Sie gleichzeitig das zweite hin.« »Ich kann nicht zwei Sachen auf einmal tun.« »Haben Sie es je versucht?« »Nein…« »Versuchen Sie es, Dammy. Zu Ihrem eigenen Vorteil. Ich sehe nicht einmal hin.« Xorialle stand auf und ging zu einem der Bücherschränke. Dammy ächzte leise, nahm aber den Bleistift. Er murmelte: »Mary hat ein kleines Lamm…« »Ich werd’ verrückt«, sagte er bald darauf. Jack and Jill went up the hill… stand ungelenk aber leserlich auf dem Papier. »Sehen Sie?« Xorialle strahlte. »Sie können mehr, als Sie ahnen. Ich habe zu tun. Gehen Sie schlafen. Kommen Sie in zwei Stunden ins Studio vier.«
»Die Methode«, erklärte Xorialle zwei Stunden später, als Dammy wieder ausgeruht am Analysegerät saß, »ist, Ihre spontanen körperlichen und geistigen Reaktionen auf verschiedene Reize zu prüfen, die Mechanismen aufzuzeichnen und sie voll zur Anwendung zu bringen. Zuerst
etwas Einfaches: die sogenannten Psychosomatischen Krankheiten.« »Halt! Nein! Soll ich Tripper oder Cholera kriegen, nur damit sie sehen, was ich dann tu’?« »Psychosomatische Krankheiten, Dammy, sind eingebildete Krankheiten mit echten Symptomen. Hypnose, bitte. Stufe eins.« Dammy wollte widersprechen, aber die Lider wurden ihm schwer. Er schloß die Augen. »Ich berühre Ihren Arm jetzt mit einem glühenden Feuerhaken«, sagte Xorialle, »aber der Arm ist örtlich betäubt. Sie spüren also nichts.« Dammy wollte etwas einwenden, aber er schwieg. Er nahm die leichte Berührung am Arm wahr und hörte es leise zischen. »Öffnen Sie die Augen.« Dammy betrachtete seinen Arm. An der Berührungsstelle sah er einen häßlichen roten Fleck, der merklich anschwoll und eine große Blase zog. »Nicht schlecht.« Xorialle studierte nachdenklich seine Instrumente. »Ausgezeichnete Blasenwirkung. Natürlich keine Oxydation.« »Womit haben Sie mich denn gebrannt?« »Nur mit dem Finger.« »War der so heiß?« »Die Hitze war eingebildet. Sie glaubten, ich berührte Sie mit einem heißen Feuerhaken, also stellten sich Blasen ein. Wie ich schon sagte, die Symptome psychosomatischer Leiden sind vollkommen echt. Und jetzt wenden wir die Apparatur auf Bewußtseinsebene an – « ein intensives Gefühl zuckte hinter Dammys Augen auf – »Jetzt sind Sie in der Lage, an jeder Stelle Ihrer Haut selbst Blasen zu erzeugen.« »Das ist ja prima – wenn Sie mir den Witz verzeihen«, sagte Dammy verächtlich. »Kann ich sie auch wieder wegmachen?«
»Interessante Frage. Konzentrieren Sie sich auf Remission.« »Was heißt denn das schon wieder?« »Ihr gestriges Lesematerial enthielt auch ein Wörterbuch. Das wissen wir beide.« Dammy konzentrierte sich. Nach zwei Minuten war die Blase verschwunden, die Haut normal. Xorialle betrachtete die Stelle. »Leichter Gewebeschaden aufgrund der Schwellung«, konstatierte er. »Sonst normal. Die häufigsten eingebildeten Krankheiten sind Kopfschmerzen, Verdauungsstörungen, Windpocken, Stirnhöhlenvereiterung, Herzflimmern – « »Wenn Sie glauben, ich lerne Herzinfarkt als Trick für eine Party, dann haben Sie sich aber geschnitten.« »Der Mechanismus, mein Junge. Wir sind nur am Mechanismus interessiert. Wenn Sie einen Herzanfall durch simple Einbildung herbeiführen können, ist es Ihnen auch möglich, Ihre Pulsfrequenz zu beeinflussen. Eine höchst nützliche Fähigkeit.« »Vorsicht, Opa – wenn Sie weiter mit meinem autonomen System herumspielen, bekomme ich einen Schock und einen Wutanfall, und der ist dann verdammt nicht psychosomatisch.« Xorialle seufzte. »Ich werde sehr vorsichtig sein. Nun sitzen Sie still und reagieren Sie nach Vorschrift.« Dammy spürte die federleichte Berührung der tastenden Sonde in seinem Verstand. Die fremde Intelligenz hatte er ständig in seinen Gedanken wahrgenommen, aber jetzt drang sie mit Macht in ihn ein. Er wehrte sich gegen diesen Einbruch in seine Gedankenwelt. Er konnte das Fremde von seinem eigentlichen Ziel ablenken und ins Unbewußte abdrängen. Hatte Xorialle das gemerkt? Er ließ es jedenfalls nicht erkennen. Eine Stunde lang feuerte Xorialle Reize auf Montgomerie ab. Manchmal lenkte er dabei dessen Reflexe, manchmal
registrierte er nur seine anscheinend spontane Reaktion. Im ganzen Körper spürte Dammy Zucken, Zittern und krampfartige Anfälle. Erleichtert sank er in sich zusammen, als sein Lehrer endlich das Ende der Sitzung verkündete. »Wie fühlen Sie sich, mein Junge? Sie sind gewiß höchst interessiert daran, in Zukunft besser mitzuarbeiten.« »Weiß nich’«, sagte Dammy. »Das is’ alles merkwürdig, oder so. Sie wissen ja…« »Oder so«, schnaubte Xorialle. »Weiß nich’, et cetera, ääh, hmm. Damocles! Ersparen Sie mir diese sprachliche Barbarei. Sie wissen es doch besser!« »Vielleicht«, meinte Dammy gleichgültig. »Sie enttäuschen mich, Damocles«, sagte Xorialle. »In mancher Hinsicht erfüllen Sie meine Erwartungen nicht.« »Ich bin zu Tränen gerührt«, sagte Dammy und gähnte. »Ihre Art scheint eine große Schwäche zu haben: geistige Trägheit. So werden Sie nie Ihr ganzes Potential ausschöpfen.« »Sicher, Doktor. Wir haben alle unsere kleinen Fehler.« »Nun ja, aber wir wollen fortfahren. Wir testen Ihre Fähigkeit zur Gedankenübertragung. Denken Sie an nichts! Hypnose. Stufe zwei.« »Gedankenlesen! Ich glaub’ nicht an den Unfug«, sagte Dammy, aber er schloß die Augen. Graue Nebel zogen durch sein Gehirn. Seltsame Bilder stiegen vor ihm auf. Ob er mich versteht? An etwas anderes denken. Schnelle Wagen. Spaghetti essen. Ein schöner Tag beim Pferderennen und auf den Sieger gesetzt… Wieder drang etwas Fremdes in ihn ein. Nicht die tastende Sonde, die er kannte. Es war anders. Es regte sich, veränderte die Gestalt, wurde zu Worten. Hören Sie mich, Dammy? »Heh!« rief Dammy. Nicht reden! Denken! Xorialle übermittelte einige Kinderreime, Dammy verstand ihn.
Damocles! Konzentrieren! Übermitteln Sie ‘Ich… höre… Sie’. »Quatsch, Doktor, ich – « Schweigen Sie! Vorsichtig mied Dammy den Kontakt mit dem Fremden in seinen Gedanken. Er schickte selbst eine Sonde aus. Er tastete sich durch Gedankenströme und erreichte die ungeheure pulsierende Glut, die Xorialles Gehirn war. Er verfolgte die Gehirnimpulse des fremden Intellekts zur Quelle zurück. Plötzlich schien sich eine gewaltige räumliche Erweiterung einzustellen. Er ertastete die ganze Komplexität und Kompliziertheit des hochentwickelten Systems von Leitungen und Verästelungen. Er spürte den Energiefluß und erkannte die Grundstrukturen in der Feldwirkung der fremden Geistigkeit. Dammy nahm die unvorstellbar große Datenmenge auf und speicherte sie verschlüsselt für späteren Zugriff. Dann zog er seine Sonde zurück. … sich bemühen mitzuarbeiten, sagte Xorialle. Sie können es besser, mein Junge! Einmal glaubte ich, von Ihnen ein leises, psionisches Murmeln zu vernehmen, als ob Ihnen der Durchbruch gelingen könnte… Aber was soll’s. Sie können nichts für Ihre genetischen Mängel. Allerdings, wenn Sie sich mehr Mühe geben… »Warum sollte ich?« sagte Dammy laut. »Ich kriege dann Jucken hinter den Augen.« Motivation, dachte Xorialle angewidert. Ihnen fehlt Motivation, Damocles. Sie wollen einfach nicht! »Wann lerne ich, wie man ewig lebt?« »Nichts leichter als das«, stieß Xorialle hervor. »Das hat lediglich mit Zellularpsychologie zu tun, zusammen mit Eidetik und gesteuerter Replikation. Die dauernde Beschäftigung mit solchen Albernheiten trägt Ihnen keine Ehre ein, mein Junge.«
»Wen ich wohl beeindrucken soll«, sagte Montgomerie unschuldig. »Ich habe nicht darum gebeten, unters Mikroskop gelegt zu werden.« »Genug, genug«, sagte Xorialle. »Vielleicht bin ich zu alt und müde. Manchmal kommt mir alles so sinnlos vor…« Er riß sich mit Gewalt zusammen. »Aber nun wieder an die Arbeit, Damocles. Die Vorschriften verlangen ein komplettes Profil. Wir müssen weitermachen.« Eine Stunde lang bemühte sich Xorialle vergebens, seinen Instrumenten auch nur die leiseste Andeutung zu entlocken, Montgomerie habe telekinetische Kräfte, die vielleicht ungenutzt in seinem Hirn schlummerten. Er untersuchte die visuelle Wahrnehmungsfähigkeit seines Probanden, auch auf große Entfernung. Er prüfte, ob Dammy die Zukunft voraussagen konnte. Er wollte seine Fähigkeit zur Kommunikation mit wechselnden Existenzebenen und seine multidimensionale Auffassungsgabe ermitteln. Endlich wollte er noch wissen, ob Dammy zu gesteuerter Zeitverschiebung oder zur Übertragung von Materie imstande war. »Nichts«, sagte er schließlich. »Es ist unglaublich! Sie sind ein psionischer Trottel, Damocles – ein psychischer Idiot, ein unsachlicher Schwachkopf.« »So?« gab Dammy zurück. »Genau wie Ihr Vater!« Xorialle seufzte. »Verzeihung, Dammy, es ist die Enttäuschung. Ich hatte gehofft – aber was nützt es. Persönliche Wünsche haben keinen Platz in galaktischer Politik. Für heute Schluß. Morgen sind noch einige Punkte zu klären und dann…« »Dann was?« »Dann ist meine Arbeit hier beendet«, sagte Xorialle kurz. Er lächelte. »Verzeihen Sie meinen Ausbruch. Ich hatte große Dinge von Ihnen erwartet. Es ist nicht Ihre Schuld, wenn nichts daraus geworden ist. Sie waren nicht schlecht. Sie haben eine
erstaunliche Datenmenge verarbeitet, ohne Ihre Persönlichkeit zu verändern. Sie kennen die gesamte Weltliteratur auswendig. Sie können über jedes der Menschheit bekannte Thema einen verständigen Vortrag halten. Sie können jeden Meisterathleten der Welt besiegen. Und dennoch sind Sie der einfache, natürliche junge Mann geblieben, der Sie waren, als ich Sie aus der Gosse holte.« »Vielleicht. Ich mach’ mir nur Sorgen, wie man mit all dem Quatsch noch normal leben soll.« »Wieder diese Sprachschlamperei«, ermahnte ihn Xorialle. »So redet man nun mal«, sagte Dammy trotzig. »Das weiß ich natürlich. Ich habe die Entwicklung Ihrer unlogischen Sprache mit Interesse verfolgt.« »Wann haben die Römer Britannien verlassen?« fragte Dammy. »Vor meiner Ankunft. Ich weiß es nur vom Hörensagen. Aber mein Vorgänger wußte interessante Anekdoten darüber.« »Und die Entdeckung Amerikas?« »Damals war ich nur technischer Assistent, dem zweiten Überwachungskommando zugeteilt.« »Und wann war das erste Kommando hier?« »Das ist sehr lange her, mein Junge. Die Berechnungen waren damals noch sehr ungenau.« »Wie war das mit Kolumbus, als er 1942 die Vereinigten Staaten entdeckte?« »Sie scherzen«, kommentierte Xorialle freundlich. »Aber davon abgesehen, selbst Ihre kurzsichtigen Forscher haben festgestellt, daß Amerika lange vor seiner offiziell datierten Entdeckung wiederholt von Eurasiern besucht wurde.« »Oh ja«, stimmte Dammy zu, »von Israeliten, Phöniziern, Römern und Wikingern. Die ganze Palette.« »Die und mehr. Zum Beispiel Polynesier.«
»Ja, aber Kolumbus war der erste moderne Entdecker, der mit voller Absicht hinfuhr.« »Ein Teil Ihrer Aussagen bedarf strenger Definition, Dammy. Sie bevorzugen die eigene ethnische Gruppe. Darum nennen Sie Kolumbus den Entdecker Amerikas. Das ist ganz natürlich. Es ist nicht verwerflich. Aber es stimmt nicht. Es ist borniert.« »Wer hat denn nun Amerika entdeckt? Wahrscheinlich die Indianer«, beantwortete Dammy seine eigene Frage. »Und was haben Sie damit angefangen? Nichts. Ich glaub’ nicht an die Legende vom ›edlen Indianer‹. Es handelt sich um die Gattung Homo sapiens – da gibt es üble Typen und vernünftige Leute.« »Wissen Sie überhaupt, warum man die Indianer ›rot‹ nennt? Immerhin sind sie mit der Bevölkerung Ostasiens verwandt, und kein Mensch nennt die Chinesen oder Eskimos rot – von Politik natürlich abgesehen.« »Weiß der Teufel.« »Die weiße Rasse hat ihren Ursprung im südlichen Zentralasien. Ihre Angehörigen fühlten den Drang, Besonderes zu leisten. Sie wollten ihre angeborene Überlegenheit beweisen. Wer das will, kann in der Tat Überdurchschnittliches vollbringen. Das zeigte die hellhäutige Gruppe besonders auf dem Gebiet der Forschung, der Entdeckungen. So kam es, daß sie sich über die ganze gemäßigte Zone Europas und Asiens ausbreiteten. Nach Afrika kamen sie nicht. Sie konzentrierten sich allmählich in Europa, während sie in Asien an Boden verloren. Die Aino und andere isolierte Restgruppen blieben übrig.« »Und was hat das mit den Indianern zu tun?« wollte Dammy wissen. »Ach ja, ich hatte den Faden verloren. Die Wanderung über die Behringstraße fand etwa dreißigtausend Jahre vor Christi Geburt statt. Die ersten Einwanderer waren hellhäutig. Sie drangen über das Felsengebirge und die weiten Ebenen nach
Osten vor, immer auf der Suche nach bewaldeten Gebieten, die sie dort auch fanden. Ihre Existenz war hier primitiver als in den Ursprungsländern. Sie trugen keine überflüssige Kleidung. Die Europäer zur Zeit der Entdeckungsreisen mieden die Sonne und hielten sich bedeckt. Darum blieb ihre Haut hell. Als sie auf die sonnengebräunten Einwohner Amerikas stießen, war es ganz natürlich, sie ›rot‹ zu nennen.« »Ich dachte, sie hätten sich die Gesichter rot angemalt.« »Eine kühne Theorie, aber unhaltbar. Die zeitgenössischen Bilder von Massasoit oder Pocahontas zeigen europäische Gesichter. Die nachdrängenden Asiaten haben sich dann allerdings mit den Ostküstenbewohnern vermischt. Aber noch heute sehen die Algonkin und Mohawks weit weniger orientalisch aus als etwa die Navajos.« »Und was soll das Ganze?« »Nur eine kleine Unterhaltung. Ich bin etwas nervös unter den Umständen.« Dammy krauste die Stirn. »Umstände? Sie haben wohl ein schlechtes Gewissen wegen meiner Entführung?« »Nicht im geringsten, mein Junge. Aber, wie ich sagte, ist meine Arbeit mit Ihnen so gut wie beendet.« »Dann bringen Sie mich also nach Chicago zurück, damit ich mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern kann?« Xorialle schürzte mißbilligend die Lippen. »Sie sehen wohl ein, Damocles, daß so etwas nicht durchführbar ist. Mit Ihrem jetzigen Wissen kann ich Sie unmöglich auf die Menschheit loslassen.« »Heh, Sie wollen mich doch hoffentlich nicht mit nach Hause nehmen, vielleicht dreihundert Lichtjahre entfernt?« »Keineswegs, mein Junge, Ihre Überreste werden auf Ihrem Heimatplaneten begraben.« »Überreste?« krächzte Dammy.
»Sie sind ein kluger Junge, Damocles«, sagte Xorialle begütigend, »aber Sie müssen einsehen, die einzig mögliche Lösung ist…« »Beseitigung?« Dammy konnte das Wort nur flüstern. »Beseitigung«, bestätigte Xorialle. »Wann?« ächzte Dammy. »Nicht vor morgen, mein Junge. Was halten Sie von einem guten Essen, ein paar Drinks, ein wenig Schlaf – und dann… die Ewigkeit.« »Was ich davon halte?« kam Dammys Echo. »Es stinkt! Lassen Sie mich hier raus, Sie Gauner. Sie haben mich mitgelockt, und nun reden Sie plötzlich von Beseitigung. Sie sind vielleicht ein Freund. Ein feiner Gastgeber. Aber das schaffen Sie nicht. Noch habe ich Freunde, und außerdem gibt es Gesetze. Entführung ist ein Bundesdelikt, Sie Schlaukopf!« »Gute Nacht, Dammy«, sagte Xorialle ruhig. »Wir sind beide müde.«
Dammy lag im Bett, den Kopf auf dem weichen Daunenkissen. Er dachte fieberhaft nach. Den ganzen Tag hatte er auf diesen Augenblick gewartet. Nun wollte er anwenden, was er in der vergangenen Nacht gelernt hatte. Er konzentrierte sich ganz auf das Wiedergabegerät und folgte dem logischen Muster, das er beim ersten aufgeregten Blick auf den Schirm in sich aufgenommen hatte. Fasziniert entdeckte er die phantastischen Möglichkeiten, die ungenutzt in seinem Gehirn schlummerten. Die Augen hielt er weit offen, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Die Decke war stuckverziert, wie er erst jetzt bemerkte. Von einer Rosette in der Mitte gingen verschlungene Ornamente aus. Auf den Impuls, das Muster näher zu betrachten, schwebte er plötzlich schwerelos im Raum. Von nahem erkannte er das
Gebilde in der Mitte als Analogie des Schwerkraftanstiegs im Zentrum eines typischen Schwarzen Lochs. Ganz genau sah er die für dieses Phänomen typischen Wirbelanomalien. Er ließ sich etwas sinken und schwebte einen Meter unter dem bemalten Putz. Dabei fiel ihm auf, daß er sich mit einer Geschwindigkeit von 0,073 Metern in der Sekunde der westlichen Wand des Raumes näherte. Das kam vom Luftzug der Ventilation. Impulsiv schoß er auf die Datentabellen los und hatte fast die Wand gerammt. »Vorsichtig«, ermahnte er sich. Plötzlich wurde ihm bewußt, daß er ohne Halt vier Meter über dem Boden hing. Er sank auf das Bett zurück und zog die Decke bis ans Kinn. »Teleportation!« murmelte er. »Kann das wahr sein oder träume ich? Ich kann wirklich…?« Er löste sich aus der Decke, hob ein paar Zentimeter ab und umkreiste auf dem Rücken den Raum. »Ja«, sagte er leise und konnte seine Erregung kaum zügeln. »Ja, ich kann wirklich, und ich wette…« Er glitt ins Bett zurück, schloß die Augen und erweiterte seine Bewußtseinsebene. Er schickte seine Gedanken den Flur entlang, den Fahrstuhlschacht hinab in den unteren Raum, wo Xorialle eifrig tätig war. Er zerstörte gerade die komplizierten Einzelteile eines Geräts, das Dammy als Kommunikationseinheit Tachonik, Mark IV Serie 2769 erkannte. Er ließ seine Gedanken durch die ganze Station schweifen, wobei ihm nicht die geringste Einzelheit entging. Er bemerkte einige überraschende Dinge, die er später genauer studieren wollte. Dann schaltete er auf Expansion, und seine Gedanken eilten über das eisige Meer, erreichten den Kontinent und peilten sich auf Chicago ein. Sie schwebten über den vertrauten Umrissen seines Stadtteils mit Scharfeinstellung auf Jeannies Straße. Er fand ihr Haus. Es war unbeleuchtet und leer. Er fand auch Jeannie. Sie saß zwischen zwei Männern im Fond eines Wagens. Chico saß am Steuer.
Der Wagen raste eine dunkle Straße entlang. Leicht erfaßte Dammy den Wust von Angst und Zwängen in Chicos Gehirn. Er schickte ihm einen Aktionsimpuls. Sofort bremste der Mann, steuerte den Wagen an den Bordstein und nahm die Zündung weg. »Heh, du Mistkerl, was soll das?« knurrte der Mann rechts neben dem Mädchen. Er hielt plötzlich eine Kanone in der Hand. »Hör mal zu, Frankie«, winselte Chico. »Ich hab’ nachgedacht. Warum hören wir nicht auf mit dem Blödsinn, ‘ne Entführung ist schließlich kein Witz, und wenn nun – « »Halt’s Maul!« schrie Frankie. Der andere Mann beugte sich über Jeannie hinweg. »Vielleicht sind Bullen in der Nähe«, sagte er leise. »Wir hau’n ab und lassen den Schrott mit der Schlampe einfach steh’n. Dann sind wir raus. Sonst – Big Jake kümmert sich ‘nen Dreck darum, wenn wir auffliegen.« »Ich hab’ gehört, was Chico sagte«, unterbrach ihn Frankie. »Wir haben unseren Auftrag ich hab’ keine Lust, einen Jake Obtulicz reinzulegen. Nur ruhig, Schwester«, sagte er zu dem Mädchen, als sie den anderen zurückstieß, der sie lüstern anglotzte. »Jake hat nur gesagt, wir sollen dich ein bißchen in der Gegend rumfahren, damit du merkst, daß es für ‘ne billige Nutte ungesund ist, sich in Männergeschäfte zu mischen. Montgomerie, dieser Dummkopf – Chico hat ihn bei dir gesehen. Das Ding ist noch nicht erledigt. Fahr endlich weiter, Chico«, bellte er zum Schluß. »Nein«, sagte das Mädchen, »ich denke nicht daran, Dammy in die Falle zu locken. Wo ist er überhaupt?« Direkt hier, Jeannie. Dammy übertrug seine Gedanken auf sie. Mir geht es gut. Mach dir keine Sorgen. Tu’ was sie sagen. Sie stieß einen spitzen Schrei aus und sank in die Polster zurück. »Dammy?… Wo… Was…?«
Ist schon gut Kleines. Versuch nicht, es rauszukriegen. Ein neuer Trick. Wie Telefonieren – nur besser. Frankies Hand griff unsanft nach dem Mädchen – aber blitzschnell riß er sie zurück und kratzte sich den Kopf. Er sah sie verstohlen an. »Du wirst doch nicht unverschämt?« sagte er. Es klang fast gleichgültig. »Ich tu’ was Sie sagen«, antwortete sie. »Aber ich hoffe, er kommt nicht.« »Er wird kommen. Okay, Mädchen. Weißt du überhaupt, wie gut du gebaut bist?« Er kicherte leise. Bye, Jeannie. Bis bald, Puppe. Dammy lag im Bett. Plötzlich wurde ihm bewußt, daß er unendlich erschöpft war. Er atmete tief durch und schlief ein.
V
»Möchten Sie noch einen Erdbeerbecher?« fragte Xorialle am Frühstückstisch freundlich. »Gern«, sagte Dammy und gähnte. »Ich freue mich, daß es Ihnen schmeckt«, sagte der alte Herr und bediente sich. »Aber Sie scheinen abgespannt. Sie dürfen sich über Ihre Beseitigung nicht aufregen. Ohne mich wären Sie schon seit Tagen tot. Seien Sie dankbar für die zusätzliche Zeit.« »Irgendwie«, sagte Dammy, »kann mich das kaum trösten.« »Hmm«, murmelte Xorialle. »Sie scheinen müde zu sein. Vielleicht war es keine gute Idee, Sie gestern noch ein letztes Mal so gut zu bewirten. Sie sind zu lange aufgeblieben. Ich habe für die niederen Lebensformen wohl nicht mehr das rechte Gefühl.« »Da wir von niederen Lebensformen reden«, sagte Dammy. »Wie sieht denn der Bericht über mich, über die menschliche Rasse aus, den Sie abgeben werden?« »Nichts Ungewöhnliches – eine durchschnittliche, plötzlich auftauchende Art mit den üblichen bescheidenen Fähigkeiten zu Routinefunktionen.« »Welches Consensus-Bürgerrecht würde das für uns bedeuten?« »Wahrscheinlich Klasse zehn – keine schlechte Kategorie, hauptsächlich kleine Beamte und Handwerker, Leute für einfache Routinearbeiten.« Xorialle schob den Stuhl zurück. »Ich denke, wir erledigen die Angelegenheit sofort. Sind Sie bereit, mein Junge?« Dammy blieb sitzen. »Ich bin nicht bereit«, sagte er.
»Sie werden doch keine Szene machen?« sagte Xorialle bedauernd. »Sie sollten das Unvermeidliche mit Anstand hinnehmen.« »Es läuft wohl auf die Definition des Wortes ›unvermeidlich‹ hinaus«, sagte Dammy gleichmütig. »Wie bitte?« Xorialle legte den Kopf schief. »Ihr neues Bewußtsein müßte Ihnen sagen, daß dies der logische Weg ist.« Dammy nickte. »Das habe ich schon am ersten Tag gewußt.« Xorialle hob die Brauen. »Und warum Ihr plötzliches Widerstreben?« »Dies ist der geeignete Zeitpunkt, Ihnen mitzuteilen, daß der Plan geändert wird.« »Und was wäre das für eine Änderung?« »Ich werde heute nicht abgeschlachtet.« »Hören Sie, Damocles, ein Aufschub bis morgen würde nur die seelischen Qualen verlängern, an denen Sie zu leiden scheinen.« »Ich schiebe die Sache bis in alle Ewigkeit auf.« Xorialle schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, das ist nicht möglich. Mein Zeitplan sieht vor, daß die Station geschlossen wird und ich nach Hause zurückkehre. Also, so leid es mir tut –« »Ich schlage vor, Sie warten mit der Zerstörung der Station.« »Und warum, wenn ich fragen darf?« »Weil Sie sie noch brauchen.« »Noch brauchen… hören Sie, Dammy«, sagte Xorialle böse, »diese Farce geht zu weit – « »Stimmt. Also vergessen Sie den Plan, mich zu töten, und fahren Sie mit meiner Ausbildung fort.« Xorialle sah Dammy bestürzt an. »Ich verstehe; die Angst vor dem Ende hat Sie wahnsinnig gemacht. Wie schade, mein Junge. Ich hatte gehofft, Sie würden heiter und ohne Groll
sterben und sich auf diese neue und letzte Erfahrung freuen. So aber muß ich leider Gewalt anwenden.« Dammy spürte, wie Xorialles Gehirnimpulse sich auf seine richteten. Er fegte sie beiseite und nutzte die Sonde, um selbst in das fremde Gehirn einzudringen. Das tut dir mehr weh als mir, sprach sein Verstand. Kein weiterer Eingriff in meinen Stoffwechsel. Xorialle stand wie vom Schlag gerührt. Er faßte sich aber wieder und schlug zurück. Seine psionischen Impulse bohrten sich in Dammys Verstand. Sie trafen auf eine undurchdringliche Barriere. Halb betäubt wich der fremde Verstand zurück. »Ich hatte Sie gewarnt«, sagte Dammy kalt. »Gehen wir jetzt?« »Sie machen einen großen Fehler«, sagte Xorialle mit gebrochener Stimme. »Das können Sie nicht tun. Sie ziehen sich den Zorn des galaktischen Consensus zu – « »Das ist halb so schlimm wie meine sofortige Ermordung«, fuhr ihm Dammy über den Mund. »Wollen Sie jetzt mitarbeiten?« Er gab dem zentralen Sinnesmodul des Fremden eine kurze Behandlung. Xorialle kreischte laut auf. »Was wollen Sie von mir?« fragte er zitternd. »Sie haben mir noch nicht alle unteren Etagen gezeigt. Sehen wir sie uns an.« »Hören Sie, Damocles«, sagte Xorialle streng, »es stimmt, Sie haben mir eins übergebraten, um Ihre rohe Sprache zu gebrauchen.« »Wenn Sie einen meiner Ausdrücke benutzen, ist es überflüssig, mir das auch noch zu sagen. Sie wollen mich hinhalten, Doktor. Xzzppt!« »Sehr klug, mein Junge«, sagte des fremde Wesen nachdenklich. »Sie haben also einen Satz in C-3 behalten. Kennen Sie aber auch seine Bedeutung? Sie haben eben
gesagt, sie wollten meine Eingeweide als Dekoration an die Wand klatschen.« »So ungefähr«, stimmte Dammy zu. »Jetzt verstehe ich, warum Sie manchmal die Geduld verloren haben. Sie müssen in jedem Fall gehorchen. Warum also nicht gleich ohne rituellen Widerstand? Szzxll!« Xorialle schrak zusammen. »Und alles im Dienste der Wissenschaft?…« »Nein, nur aus Spaß. So etwa…« Damocles runzelte die Stirn, und Xorialle stieß einen lauten Schrei aus. Dann platzte er in der Mitte auseinander. Die grauglänzende Masse in ihm zuckte heftig. Wieder legte Dammy die Stirn in Falten. »Kquizlmp«, summte er, und Xorialle schloß sich wieder und rückte seine Krawatte zurecht. »Tun Sie das nicht noch einmal«, sagte Dammy. »Sie haben also ein paar Kleinigkeiten gelernt«, sagte Xorialle. »Das dürfte genügen. Und nun? Mich zu quälen, bringt nichts ein. Haben Sie sich Ihre nächsten Schritte schon überlegt? Sie sind immer noch von meinem guten Willen abhängig, Dammy, aber zu Ihrem Glück bin ich ein geduldiges Wesen. Ich zürne Ihnen nicht wegen dieser unwürdigen Vorfälle. Knabenhafter Übermut, vermutlich weil Sie jetzt wissen, wie man Bienen züchtet, und weil Sie Buchhaltung und moderne Tänze beherrschen. Aber glauben Sie nicht, daß mich meine Gutmütigkeit dazu verleiten könnte, Verrat gegen Consensus zu begehen. Sie wollten die unteren Stockwerke besichtigen. Ich sage: Niemals!« »Was heißt niemals?« konterte Dammy freundlich. »Sxxzzpt.« »Niemals! Niedere Lebensformen oder besser Formen einer frühen Entwicklungsphase dürfen nicht – doch was soll dieser Euphemismus! Sie bekommen keinen Einblick in das klassifizierte Areal. Verstehen würden Sie ohnehin nichts.«
Montgomerie lenkte einen scharfen Impuls gegen das Bewegungszentrum des Alten, der daraufhin wilde Sprünge vollführte. »Warum wollen Sie im Keller herumschnüffeln? Er geht Sie nichts an. Sie werden nichts begreifen.« Darauf lasse ich es ankommen, übermittelte Dammy in Consensual Vier, einer äußerst komplizierten Sprache, die nur bei feierlichen Anlässen von höchster Wichtigkeit verwendet wird. »Sie haben mich betrogen«, keuchte Xorialle. »Sie haben Höchstgeschwindigkeitssprechen gelernt!« »Das stimmt.« »Sie haben gelogen!« »Auch das ist richtig.« »Sie haben sich verstellt!« wütete der Alte, dem die ganze schreckliche Wahrheit dämmerte. »Sie taten so, als seien Sie ein dümmlicher Trottel. In Wirklichkeit haben Sie Material gesichtet, die geheime Bibliothek durchgearbeitet! Sie haben mich zum besten gehalten!« »Genau, aber unvollständig.« »Warum nur? Warum?« »Ich war neugierig.« »Ich habe Sie falsch eingeschätzt«, krächzte Xorialle. »Ich habe nicht nur Ihren Intellekt unterschätzt sondern auch Ihre Doppelzüngigkeit und Ihre Hinterlist. Dabei hatten meine Untersuchungen ergeben, daß Sie Wahrheitsliebe und Offenheit genau so schätzen wie andere Angehörige Ihrer Kultur!« »Und Sie wollten meine vermeintliche Naivität dazu benutzen, mich wie eine Zahnpastatube auszuquetschen und dann wegzuwerfen.« »Sie sind zu hart, Dammy.«
»Schreiben Sie das in Ihren Bericht«, sagte Dammy. »Unsere Tugenden machen uns nicht hilflos.« »Dieser Zynismus!« »Korrekt. Das wäre erledigt. Wir gehen. Sie wissen wohin.« Widerwillig begleitete Xorialle Dammy nach unten in den Versorgungstrakt. Er blieb stehen und stieß Warnungen und Drohungen aus. Dammy schoß einen schnellen Impuls gegen Xorialles Schmerzzentrum ab, seine Antwort auf des anderen Argumente. Rasch schloß das fremde Wesen die Sicherheitstür auf, die mit dem Alpha-Rhythmus verschlüsselt war. Dammy folgte ihm eine schmale Treppe hinunter. »Es gibt hier Dinge, die mit der Sicherheit von Consensus zu tun haben, Damocles, die aber für Sie weder von Wert noch von Interesse sind. Warum wollen Sie unbedingt den gewaltigen Gegenspionageapparat von Consensus herausfordern? Das bringt Ihnen nichts ein. Sie sind wie ein kleiner Dieb, der wegen ein paar Dollars beim FBI einbricht.« »Zppttlt«, erwiderte Montgomerie. »Sie versuchen immer noch, mich hinzuhalten, Doktor. Wir beginnen bei Sektion Q 2786.« Wie von Sinnen starrte Xorialle ihn an. »Wa… wa… was? Wie können Sie Kategorie Q kennen?« »Egal. Ich kenne sie. Bewegen Sie sich! Nein, nach rechts!« »Dammy, hören Sie zu, ich flehe Sie an! Ihnen ist schon gelungen, was ich nicht für möglich gehalten hätte. Sie haben sich den Zugang zu Sektion M erzwungen. Wäre es nicht weise, sich damit zufrieden zu geben? Sie sind besser ausgestattet als jeder andere Mensch. Sie könnten sich auf Erden jeden Wunsch erfüllen. Ich verspreche Ihnen, Sie heil in Chicago abzuliefern – ich bin Ihnen nicht böse – und ich werde den Bericht ändern, damit das Hauptquartier nicht mißtrauisch wird. Mein Stolz ist tief getroffen, aber Sie sind für Consensus
keine Bedrohung. Mein Gewissen ist rein. Sie gehen nach Hause und ich auch.« »Und was soll ich da?« fragte Damocles hämisch. »Soll ich einen Gemüseladen aufmachen oder ‘ne Pfandleihe? Und mich langsam hocharbeiten?« »Vielleicht«, sagte Xorialle vage. »Sie haben grenzenlose Möglichkeiten. Wenden Sie doch nur Ihre Polokenntnisse an der Börse an. Aber das wissen Sie alles selbst.« »Natürlich weiß ich das selbst«, sagte Damocles. »Warum erwähnen Sie es denn noch? Übrigens wären topologische Techniken besser geeignet als Polostrategie, wenn man den Markt aufrollen will.« »Nun, wenn Sie die Disziplinen geschickt verbinden, können Sie in wenigen Wochen Multimilliardär sein.« »Geld ist nicht das einzig Erstrebenswerte«, sagte Dammy. »Es ist nur ein Schmiermittel für Besseres, mehr nicht.« »Sie setzen mich in Erstaunen, Damocles.« »Wenn ich mir widerspreche, dann widerspreche ich mir eben. Ich bin ein Riese. Eine Unmenge ist in mir enthalten. Whitman war ein seltsamer Mann.« Dammy dachte nach. »Hören Sie doch auf«, bat Xorialle. »Wenn ein Spieler am Ende schwächer wird, verliert er ein Spiel, das er hätte gewinnen müssen«, erklärte Dammy. »Hmmm, was hat Schach mit dem vorliegenden Fall zu tun?« fragte Xorialle gereizt. »Ich sehe schon, Sie betrachten es als eine Variation der Philidor-Verteidigung nach einer Wiener Eröffnung. Oder…« »So ist es – oder«, sagte Dammy, »lassen Sie mich ein paar Minuten hier allein, Doktor. Ich mache schon nichts kaputt.« Xorialle ließ seinen Blick die Wände entlang schweifen. Dort wölbten sich die prallgefüllten Aktenschränke. »Ich weiß nicht, was Sie hier verrichten wollen, Dammy«, sagte er resigniert.
»Stimmt«, sagte Montgomerie. »Sie wissen es nicht.« Xorialle sah ihn eindringlich an. »Sie haben gewonnen, Dammy – das übertrifft Ihre kühnsten Träume. Und nun wollen Sie natürlich nach Hause. Akzeptieren Sie die Gunst des Augenblicks mit Freudengeschrei und verschwinden Sie. Bei Ihren Kenntnissen in Rechtswissenschaft, Medizin und Psychologie usw. kann Ihnen überhaupt nichts mehr passieren. Und nun gehen Sie.« »Sie haben es zu eilig, mich loszuwerden!« »Hören Sie, mein Junge – ich habe nachgedacht«, stieß Xorialle hervor, »warum schenke ich Ihnen nicht einfach den Transmuter? Aus dem könnten Sie jede Menge Münzen herausholen. Dukaten, Doppeladler, Theresientaler, Cents und Fünfmarkstücke. Sogar Smaragde und Rubine, wenn Sie es wünschen.« »Gutes Angebot, Doktor, aber ich kaufe nicht.« »Sie sind gewarnt, Dammy. Jede weitere Einmischung wäre Ihr Todesurteil.« »Kommen Sie zu sich, Doktor. Die Beseitigung ist bei den Akten. Auf Sie verliert man jede Wette.« »Dammy, wenn Sie sich zuviel anmaßen, wird Sie der ganze Zorn des galaktischen Consensus treffen, und den können Sie bestimmt nicht so leicht neutralisieren wie einen einzigen Abgesandten, der weit von der Heimat entfernt und nicht mehr der Jüngste ist.« Das fremde Wesen unterdrückte ein Schluchzen. Xorialle empfand tiefes Selbstmitleid. »Ich bitte Sie inständig! Nehmen Sie, was Sie brauchen können, und gehen Sie. Aber schnell!« »Ich gehe«, sagte Dammy. »Aber bevor ich mich meinen Vergnügungen widme, muß ich noch einiges klären. Die Tür da! Beeilung!« »NEIN! Absolut nein, Damocles! Hier gibt es Grenzen – « »Falsch. Die Grenzen bestimme ich. Vorwärts, Doktor.«
Der Außerirdische zitterte. Er öffnete die Tür und schritt einen schwach beleuchteten Gang entlang. Dammy folgte ihm. Sie durcheilten gutsortierte Lagerräume und gingen durch Räume mit leise summenden Apparaten, deren bunte Anzeigegeräte munter blinkten. »Sie sollten lieber den infraordinalen Rückruf-Syntach überprüfen«, meinte Dammy. »Er läuft 0,0315 % über Optimaleinstellung.« »Stimmt«, murmelte Xorialle. »Ich habe Pflichten. Beenden Sie bitte diese Farce.« »Um von hier wegzukommen, brauche ich ein Fahrzeug«, erklärte Dammy und ging zu einer unmarkierten Tür. »Damocles! Nein!« Dammy ignorierte Xorialles Jammern, erkannte, um welchen Türentyp es sich, handelte, erinnerte sich an den entsprechenden Öffnungskode, drehte den Hebel rechts, links, links, rechts, rechts, rechts, links und betrat den Raum. Er war groß und aus dem nackten Felsen gehauen. Wände und Fußboden waren poliert. Den größten Teil des Raumes nahm ein abgeplattetes Sphäroid mit strahlenförmigen Segmenten ein. Sein Anstrich war von grell fluoreszierendem Tangerinblau. In einer Ecke dahinter sah Dammy eine durchsichtige Plastikblase mit Rädern und Rotoren, die er als das Schiff erkannte, in dem Xorialle ihn in sein Versteck geschafft hatte. »Na also.« Dammy atmete schwer. Langsam ging er um das etwa zehn Meter breite Sphäroid herum. Es war nichts Besonderes festzustellen. Nur eine etwa zwei Zentimeter breite farblose Scheibe fiel ihm in der Mitte eines der Segmente auf. Er hielt inne. Mit geschlossenen Augen konzentrierte er sich: Pik-Drei sagten seine Gedanken… Fahrzeug: Intergalaktisch Mark XXXVIII, Typ 4, Bauart zeeb; Kapazität: 25 Solid nits.; Marschgeschwindigkeit: 0.876
Lichtjahre; Bewaffnung keine; Rettungskode MB-5; Klassifizierung FOOB; Budgetschlüssel: Klasse 27 fleem, Yunt; Militärfahrzeug. Nur für offizielle Verwendung. Gültiger Strafenkatalog: V38. Wartungskode 12-u. »Sehr schön«, dachte Dammy laut. »Ich werde auch ein erstklassiges Fahrzeug brauchen.« »In diesem Fall, mein Junge, könnte ich Ihnen einen Rolls Royce direkt nach Chicago schicken«, schlug Xorialle hastig vor. »Handgearbeitet, innen Leder, Chinchilla-Matten, eingebaute Bar – oder besser noch ein kleiner Privatjet! Oder vielleicht eine hundert Meter lange Dieseljacht, oder sogar ein atomgetriebenes Unterwasserfahrzeug, das auch an Land gute zweihundert Kilometer, schafft und achtzig Kilometer hoch fliegen kann – ein sehr vielseitiges Allzweckfahrzeug – « »Sie hätten Gebrauchtwagenhändler werden sollen«, sagte Dammy. »Aber ich kaufe nicht, solange es Besseres gibt.« »Dammy! Sie werden doch nicht mein Raumschiff nehmen! Es ist Eigentum von Consensus!« »Genau wie ich.« »Dammy, jetzt sind Sie unfair. Es stimmt, ich habe Sie nicht korrekt behandelt, aber wie konnte ich wissen?« »Keine Angst. Ich schreibe Ihnen ein erstklassiges Zeugnis. Das können Sie dem Kriegsgericht vorlegen.« »Dammy! Ich hab’s! Sie bekommen einen Nachbau des Bugatti Royale – Nostalgie ist doch heute alles – eine perfekte Reproduktion des Originals von 1930, es wurden nur sechs gebaut und alle für Staatsoberhäupter. Ein Bugatti Royale, echt in allen Einzelheiten, natürlich mit der vollen Leistung der Klasse neun. Stellen Sie sich vor, wenn Sie damit die State Street in Chicago entlangfahren.« »Sie halten mich immer noch für einen Primitiven der Klasse zehn, den Sie mit solchen Seifenblasen ablenken können.«
Xorialle sah Montgomerie vorwurfsvoll an. »Ich gebe zu, eine falsche Bewertung – aber es ist das erste Mal, daß ein Proband absichtlich die Auswertungsergebnisse verfälscht hat, um seine wahren Fähigkeiten nicht erkennen zu lassen.« »Und wie würde diese Tatsache das Bild verändern?« »Klasse Zwei Spezial«, sagte Xorialle schnell. »Das heißt?« »Potentielle Bedrohung des galaktischen Consensus. Natürlich erst in Tausenden von Jahren«, fügte Xorialle hinzu, »aber die consensische Politik ist in die Zukunft gerichtet.« »Erforderliche Maßnahmen?« Xorialle machte ein ernstes Gesicht. »Es war ein schwerer Fehler, mir zu verraten, daß Sie mich über Ihre wahren Fähigkeiten getäuscht haben, Damocles. Ich würde Ihren Schachzug verstehen, sogar bewundern, wenn Sie mich nicht aufgeklärt hätten. In diesem Fall wäre Ihre Welt als wertvolle, wenn auch unbedeutende Quelle einfacher Arbeiter klassifiziert und entsprechend verwaltet worden. Natürlich hätte man den Fehler eines Tages bemerkt, aber Ihnen wären ein paar Jahrhunderte sorgloser Selbstbestimmung geblieben, bevor die Verwaltung Sie besetzt und Ihre Entwicklung unter Kontrolle genommen hätte. Sie selbst wären selbstverständlich beseitigt worden; wahrscheinlich ein zu großes Opfer für einen Angehörigen einer so jungen Rasse.« »Und nun?« »Die Einstufung in Klasse Zwei Spezial macht sofortige drastische Kontrollmaßnahmen nötig, einschließlich Bevölkerungsauslese, um unerwünschte Eigenschaften wie Aggressionen, Phantasie und Initiative auszuschalten. Außerdem erfolgt Trennung nach Rassen und Umsiedlung, damit spezialisierte Exemplare gezüchtet werden können. Auch totale planetarische Sterilisation kommt in Betracht.« »Das hört sich großartig an«, meinte Dammy.
»Wie Sie sehen, gibt es hier nichts, was Sie interessieren könnte«, sagte Xorialle schnell und näherte sich der Tür. »Ich schlage vor, wir gehen zum Transmutationsraum. Sie wollen doch gewiß ein paar Zentner Gold mitnehmen und ausreichend hochkarätige Brillanten und vielleicht – « »Nein danke, keine Handelsware«, sagte Dammy. »Ich bin eher an diesem Ding hier interessiert. Wie nennen Sie es, Zauberkürbis?« »Oh, eine literarische Anspielung. Sehr passend mein Junge. Aber ich fürchte, Sie werden alles langweilig finden, tödlich langweilig – « »Ich brauche eine Reichweite von mindestens hundert Parallaxesekunden in dieser Richtung«, erklärte Dammy und zeigte auf einen Papierkorb am anderen Ende des Raumes. »Aber… da liegt… Deneb – da liegt das consensische Bezirkshauptquartier auf Trisme!« »Richtig. Und ich starte sofort.« »Nein, Damocles! Sie kennen die Sicherheitseinrichtungen von Consensus nicht! Sobald Sie den von Consensus verwalteten Raum erreichen, werden Sie in Atome zerschmettert.« »Nicht, wenn Sie mir den Erkennungskode und die Einreisevorschriften mitteilen.« »Aber das kann ich nicht, mein Junge. Diese Dinge sind von der denkbar höchsten Klassifizierung! Solche Informationen preiszugeben, zieht zwangsläufig die Todesstrafe nach sich, und zwar rückwirkend auf den Zeitpunkt der Geburt!« »Und wer hat jetzt rituelle Einwände?« Xorialle sank in sich zusammen. »Sie haben ganz recht«, sagte er niedergeschlagen. »Der Tod ist ohne Bedeutung. Ich habe mich oft danach gesehnt. Aber Selbstmord wäre eine sinnlose Geste. Man würde mich sofort wiederbeleben und wegen Desertion vor Gericht stellen. Schmerzen sind etwas
anderes. Ich bin sehr schmerzempfindlich. Aber ich gebe Ihnen die gewünschte Information.« Er seufzte. »Sie machen einen Fehler, Damocles.« Xorialle sah seinem Schüler offen ins Gesicht. Er hob den Arm und machte eine Bewegung, die den Himmel jenseits der Steinwände einschloß. »Ich kann mir nicht vorstellen, was Sie da draußen zu schaffen haben. Sie können ganz sicher sein, jeden ungebetenen Gast erwartet dort sofortige Auslöschung.« »Betrachten Sie mich als äußerst besorgt.« »Gewiß, mein Junge, Sie beherrschen Kernphysik, primitive Flugtechnik, Gehirnchirurgie und andere seltsame Volkskünste. Aber leider haben Sie nicht die besonderen Fähigkeiten, die ich bei Ihnen erwartet hatte. Sie haben keine Ahnung von der Komplexität der Gesellschaft, in die unbemerkt einzudringen, Sie so naiv hoffen. Was würden Sie zum Beispiel tun, wenn Sie plötzlich mit einem Raptat des Triarch von Gree in dastanischem Modus konfrontiert wären?« »Ich würde einen Rictus der Kategorie Neun anwenden.« »Ganz schön frech«, meinte Xorialle. »Ein weiterer Fall: Ein Glamorph, Status acht, verläßt den transorbitalen Vektor bei Punkt 8076,31 b (minor). Erforderliche Maßnahmen?« »Sofortiger Rückruf von Dokumentation aus allen Vektoren Phase drei und mehr.« »Schon richtig. Aber ich dachte an Ihre persönliche Reaktion an Ort und Stelle.« »Die Anwendung des Modus Arfental dürfte genügen«, sagte Dammy lässig. »Mehr Sorgen würde die Phasenresonanz im Umkreis des Vektors machen – « »Damocles!« unterbrach Xorialle ihn. »Wie – wann – was können Sie davon wissen? Das ist Material der höchsten Kategorie! Es ist nur Funktionären des Zreeth zugänglich und wird nur in Fällen der Klasse Veeb angewendet!«
»In Paragraph 117 B 3972-H-144, Absatz 2 mit Nachtrag ist die ganze Angelegenheit geregelt«, erwiderte Dammy kalt. »Ja, aber das bedeutet – « »Genau.« »Dennoch, in den consensischen Raum einzudringen, wäre tödlich.« »Also soll ich in aller Ruhe abwarten, bis man uns als Arbeitssklaven für Dreckarbeit abrichtet oder sogar ausrottet?« »Das sind nun mal die Realitäten im galaktischen Consensus, mein Junge. Sie sind doch neu im Universum. Wie können Sie erwarten, daß man sich nach Ihnen richtet?« »Darum muß ich eben etwas unternehmen«, sagte Dammy. »Sie können nichts unternehmen«, sagte Xorialle und schüttelte betrübt den Kopf. »Begnügen Sie sich mit der Herrschaft über Ihren eigenen kleinen Planeten.« »Komisch«, sagte Montgomerie, »vor ein paar Wochen hätte mich das noch gereizt. Heute genügt mir das nicht mehr. Ich kann nicht herumspielen, während überall die Flut steigt.« »Sie ernten die ersten Früchte der Weisheit. Die Welt ist komplizierter geworden, und es gibt keine leichten Antworten mehr.« Xorialle seufzte laut und sah Dammy scharf an. »Dieser Stich ist Ihrer«, sagte er. »Aber ich kann immer noch verhandeln. Ich kann Ihnen helfen – oder Sie behindern.« »Vorsicht, Doktor. Sie könnten sich um Kopf und Kragen reden.« »Dammy, das können Sie doch nicht tun. Sie scherzen nur. Sie tun nur so, als ob Sie den Mark XXXVIII stehlen wollen.« »Wissen Sie, Doktor, ich habe nicht viel Lust, nach Chicago zurückzugehen, um meine Karriere als kleiner Ganove fortzusetzen.« »Damocles, alle Reichtümer Ihrer Welt gehören Ihnen! Bei Ihren Kenntnissen können Sie in Ihrer Gesellschaft ganz nach oben kommen. Sie wissen mehr als alle Professoren
zusammen. Sie beherrschen jede Kunst und jede Fertigkeit Ihrer Rasse seit der Erfindung der Steinaxt. Die Welt liegt Ihnen zu Füßen. Sie können zurückgehen und Ihre früheren Herren selbst beherrschen. Und das alles wollen Sie wegwerfen?« »Ich weiß nicht. Vielleicht habe ich keine Lust, mich von Marsbewohnern kommandieren zu lassen. Auf jeden Fall sollten Sie die Einstiegsverriegelung des VIM XXXVIII neu kodieren.« Er projizierte ein kompliziertes Symbol in Consensual Zwölf in das Bewußtsein seines früheren Lehrers. Xorialle keuchte. »Unglaublich«, sagte er. »Ich muß… ich muß Sie bitten zu wiederholen. Ich habe die Abwandlung vierter Ordnung nicht verstanden.« »Schadet nichts«, sagte Dammy. »Ich kodiere selbst.« »Aber – warum denn?« protestierte Xorialle. »Sie bereiten mir die größten Ungelegenheiten. Sie kennen nicht die technischen Feinheiten. Sie würden sich umbringen, wenn Sie versuchen – « »Dann hilft mir immer noch Spezialstufe A, das wissen Sie doch.« »Die kennen Sie auch? Dann…« »Gewiß, Doktor.« »Hören Sie, mein Junge, fast wünsche ich Ihnen Erfolg. Seit ältesten Zeiten war der Status quo höchstes Ziel consensischer Politik. Ich gestehe, daß ich von Zeit zu Zeit verbotene Träume hegte. Gedanken, die sich unwillkürlich einstellten – die Idee eines frischen Windes, der durch die muffigen Hallen galaktischer Zivilisation bläst. Türen, die von einem tatkräftigen neuen Geschlecht aufgestoßen werden. Als Sie ›versagten‹, war ich natürlich enttäuscht. Andererseits kann ich als consensischer Beamter nicht gut eine Rebellion fördern. Obwohl ich weiß, daß Ihr Plan zum Scheitern verurteilt ist, bin
ich aufgeregt. Dieses Gefühl hatte ich seit der Regierung König Xosers nicht mehr. Vielleicht – irgendwie – « Xorialle ließ resigniert die Arme sinken. »Ich bin verrückt. Sie werden nichts erreichen. Auf Sie wartet der Tod, Damocles, ein sinnloser einsamer Tod. Oder Sie überlegen es sich und bleiben hier. Genießen Sie alle irdischen Freuden im Dämmerlicht der verbleibenden Jahre der Jugend und Unschuld Ihrer Rasse.« »Eins wundert mich, Doktor. Sie haben doch ein Alarmsystem – eine Notrufanlage. Warum haben Sie denn nicht Signal gesendet, damit Ihre Polizei mich greift?« »Ein weiterer wunder Punkt, mein Junge. Ich bin ganz aufrichtig. Ich wage nicht, Hilfe herbeizurufen, denn meine Arbeit mit Ihnen war nicht offiziell genehmigt. Sie geschah auf meine eigene Initiative. Dabei habe ich gegen zwingende Vorschriften consensischer Politik verstoßen. Ich hielt diese Politik für kurzsichtig. Jetzt wird mir ihre Notwendigkeit schrecklich klar.« »Vielen Dank für den Tip«, sagte Dammy. »Aber wir verschwenden unsere Zeit.«
VI
Das Innere des kürbisförmigen Fahrzeugs war eine farblose, flache, weich gepolsterte Höhlung ohne jede Verzierung. »Dies ist die neutrale Ausstattung für den Ruhezustand«, erklärte Xorialle. »Sie können jederzeit eine Ihnen zusagende Umgebung hervorrufen.« Er übermittelte eine Serie von geistigen Symbolen, die Dammy automatisch auffing, deutete, verschlüsselte und für spätere Verwendung speicherte. »Dies sind meine persönlichen Symbole für den Einstieg«, sagte das fremde Wesen. »Sie wollen gewiß Ihre eigenen benutzen.« »Natürlich«, sagte Dammy abwesend. Er überflog in Gedanken die vielen technischen Anweisungen, die er gelesen hatte. Es war, als ob er sich an ein vor langer Zeit gelerntes Gedicht erinnerte. Jedes Wort und jeder Absatz fielen ihm mühelos wieder ein. Er besaß alle nötigen Informationen, um dieses technische Wunderwerk zu bedienen. Er brauchte nicht über jeden Handgriff nachzudenken. Er würde automatisch das Richtige tun, so wie der Fuß des Fahrers die Bremse tritt, wenn die Ampel auf Rot springt. Währenddessen redete Xorialle unausgesetzt. Er gab Tips und Ratschläge, die Dammy sämtlich auf Abruf speicherte. »Ich schwatze wie ein nervöser Bräutigam«, meinte Xorialle. »Ich bin selbst erstaunt über die Emotionen, die diese Entwicklung bei mir auslöst. Die Jahrhunderte, die ich bei Ihren Leuten verbrachte, haben wohl geistig und emotional ihre Spuren hinterlassen.« »Das verstehe ich nicht. Sie leben hier doch völlig isoliert«, war Montgomeries Kommentar.
»Ich bin oft unter den Menschen gewesen, Dammy, und habe ihre Entwicklung beobachtet. Ich studierte die Mühen der ersten Siedler in Nordamerika. Ich war bei den australischen Ureinwohnern, bevor die ersten Weißen kamen. Ihre raschen Fortschritte haben mich immer fasziniert, aber ich hätte nie gedacht, daß einer von Ihnen mich in meiner eigenen Höhle überlisten würde.« »Sie tragen ganz schön dick auf, Doktor«, sagte Dammy und sah seinen Lehrer von der Seite an. »Sie hätten tausend Möglichkeiten gehabt, mich zu stoppen, wenn Sie gewollt hätten. Sie können es immer noch.« »Unsinn«, stieß Xorialle hervor. »Und Sie starten jetzt am besten, wenn Sie wirklich Ihr verrücktes Vorhaben durchführen wollen.« »Sie haben recht. Vielen Dank für alles, Xorialle.« Damocles streckte die Hand aus, die Xorialle widerwillig ergriff. »Viel Glück, mein Junge«, sagte er weich und wandte sich ab. »Aber zitieren Sie mich nicht«, rief er über die Schulter zurück. Montgomerie zwängte sich durch die Einstiegsluke, die sich hinter ihm verriegelte. Er sah sich in dem gestaltlosen Raum um, rief sich einige geistige Symbole ins Bewußtsein und richtete sie auf die entsprechenden Sensoren im Rumpf des Fahrzeugs. Ein leichtes Druckgefühl stellte sich ein. Fast unmerklich schien sich ein gewaltiges Kraftfeld um ihn aufzubauen. Weite Hangartore öffneten sich, und rasch und geräuschlos hob das Schiff ab. Dammy bemerkte nicht den geringsten Trägheitseffekt – nur eine vage innere Unruhe war zu spüren. Er ließ sich auf dem gewölbten Boden nieder und lauschte auf das Ticken der Instrumente, die ihm Position und Geschwindigkeit des Fahrzeugs übermittelten.
Die Zeit im fremden Schiff floß rasch dahin. Dammy wurde die eintönige graue Zelle langweilig. Er bediente sich der komplizierten Schaltung des Fahrzeugs, um seine Verstandesfunktionen zu erweitern. Er stellte sich einen Raum vor, den er mal in einer Illustrierten gesehen hatte. Ein Hartholzfußboden mit kostbaren Teppichen erstand vor seinen Augen, Wände in sattem Blaugrün, die Decke weiß mit einer Zierleiste. Möbel aus dunkelglänzendem Mahagoni erschienen und Fenster mit Gardinen, die den Blick auf einen sonnenüberfluteten Rasen mit schönen, bunten Blumen freigaben. Es sah überzeugend aus. »Nicht schlecht!« freute sich Dammy. »Es funktioniert!« Bald war er die Szenerie leid. Er stellte sich eine rustikale Blockhütte vor mit flackerndem Kaminfeuer und einem groben Holztisch. Über der Tür hingen Gewehr und Pulverhorn. An die Stelle dieses Bildes trat bald das Interieur eines schummrig beleuchteten Nachtclubs. Das wieder wurde von einer gemütlichen Eckkneipe abgelöst. Dann verlor er das Interesse. Die Zeit verging. Dammy achtete nicht darauf. Kurze Zeit wandte er seine Aufmerksamkeit dem Relativitätseffekt zu. Dann dachte er nach. Er ließ die riesige Datenmenge, die Xorialles Apparate ihm eingetrichtert hatten, durch sein Bewußtsein laufen und staunte am meisten über die wunderbare Geschichte der Menschheit von den Uranfängen bis zur ersten Mondlandung. Dann kam er auf den Gedanken, seine Eckkneipe mit menschlichen Abbildern zu beleben, obwohl das den Visualisations-Schaltkreis des Schiffes fast bis an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit beanspruchte. Die Konversation mit seinen simulierten Gesprächspartnern zeichnete sich allerdings nicht gerade durch Witz aus. »Nun, Dammy«, fragte ein dicker, triefäugiger, alter Stammgast, »wo sind wir denn jetzt?«
»Vor ein paar Stunden haben wir die Bahn Plutos passiert«, antwortete Dammy. »Dann müssen wir wohl bald auf Trans-L-Antrieb umschalten, was?« »Erst in ein paar Stunden.« »Aha, damit wir nicht mit dem örtlichen Schwerefeld durcheinanderkommen, was?« »So ungefähr.« »Wie weißt du denn, wann du umschalten mußt, Dammy?« »Wie weiß ein Le-Mans-Fahrer, wie weit er das Steuer herumreißen muß?« »Ja, ich versteh! Guck dir das an, Junge.« Ein schlankes, dunkelhaariges Mädchen war gekommen. Sie trank hier gelegentlich einen Cocktail. Dammy hatte sie neben sich sitzen lassen wollen, aber sie hatte bescheiden an einem kleinen Tisch in der Nähe des Fensters Platz genommen. Er stand auf und ging hinüber. »Darf ich mich setzen?« »Warum nicht?« Er setzte sich. »Wohnen Sie in der Nähe?« Sie sah an ihm vorbei. Seltsamerweise konnten seine Blicke nie ganz die der Gäste seiner Phantasie-Bar treffen. »Komische Frage.« »Wieso?« »Sie wissen genau, daß ich nirgendwo wohne. Ich lebe nicht wirklich. Ich existiere in Ihrer Vorstellung.« Sie zitterte leise. »Seltsam. Man lebt und doch – man weiß, daß man nicht lebt. Es ist wie ein Traum.« »Ich kenne das Gefühl. Aber ich bin erstaunt, daß Sie es wissen. Ich habe Sie mir auch gar nicht vorgestellt. Ich habe nur die Parameter gesetzt und das Feld so verschlüsselt, daß es zusammenpassende Phänomene hervorbrachte. Ich war selbst überrascht, als Woody reinkam und dann die anderen.«
»Wie fühlt man sich, wenn man… Gott ist? Wenn man erschaffen kann und wieder zerstören?« »So habe ich es nicht gesehen. Ich wollte nicht – « »Sie haben Menschen hervorgerufen, denkende Menschen. Was haben Sie erwartet? Hohle Attrappen? Die sprechen und sich bewegen, aber nicht denken oder fühlen?« »Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.« »Vielleicht«, meinte das Mädchen nachdenklich, »denke ich in Wirklichkeit nicht. Aber wenn nicht, tue ich doch etwas sehr Ähnliches. Ich bin mir meiner selbst bewußt. Was immer ich bin… ich bin aus Fleisch und Blut. Obwohl ich weiß, daß ich nicht wirklich existiere.« »Ich wollte, Sie würden nicht so sprechen. Ich wollte Gesellschaft haben, aber nicht mich wie ein Ungeheuer fühlen.« »Was Sie fühlen, ist Ihre Sache, Dammy.« »Leben Sie gern?« »Ich weiß nicht, womit ich es vergleichen soll.« »Wieso wissen Sie, daß Sie nicht… wirklich sind?« »Woher wissen Sie, daß Sie es sind?« Dammy lachte, aber er war überhaupt nicht amüsiert. »Wann hat diese Art von Unterhaltung ein Ende?« »Nichts hat je ein Ende.« Sie lächelte an seinem linken Ohr vorbei. Es war ein sehr schönes Lächeln. Dammy wußte: Es war nichts als die instinktive Grimasse eines Tieres, entstanden aus dem Urinstinkt, drohend die Zähne zu blecken. Trotzdem war es ein reizendes Lächeln. »Über die Dinge zu wissen«, sagte er, »bedeutet nicht, sie ändern zu können.« »Das glaube ich aber doch.« »Ein Internist kennt jede Einzelheit der Herzgefäßblockierung, die ihn tötet, aber er stirbt trotzdem.«
»Aber Sie nicht, Dammy, Sie können auf Ihr Herz einwirken. An solchen Albernheiten werden Sie nie sterben. Auch nicht an Krebs oder Arterienverkalkung. Ihr Körper befindet sich ständig in seinem genetischen Optimalzustand. Sie könnten wahrscheinlich sogar Ihre Gene verändern, wenn Sie wollten. Vielleicht würden Sie dann größer oder bekämen dichtes blondes Haar. Vielleicht würden Ihre Muskeln wachsen und – « »Das ist es ja gerade. Man weiß, daß man es kann, und die Sache ist uninteressant.« »Was kann man tun?« »Ich weiß es nicht. Ich habe Kenntnisse erworben, nicht Weisheit.« Er sah einen kleinen Mann mit einem Rattengesicht. Er war gekleidet, als wollte er zur Rennbahn. Irgendwie erinnerte er Dammy an Xorialle. Vielleicht ein Resteinfluß des früheren Fahrzeugeigners. »Ganz netter Ausflug mit diesem Schiff«, sagte er. Seine Krawatte wackelte, als er seinen Drink schluckte. »Sie haben hoch gesetzt, Kleiner.« »Ich weiß.« »Sie werden sich ja einiges dabei gedacht haben. Im Geiste schreiten Sie vielleicht schon in die große Marmorhalle, wo die weisen alten galaktischen Räte eine Konferenz abhalten. Sie machen sich für die mutige kleine Erde stark. Natürlich werden die Galaktischen die Art bewundern, wie Sie ihnen ins Auge spucken, und Ihnen alles geben, was Sie wollen. Aber was wollen Sie denn eigentlich?« »Ich will, daß sie die Finger oder sonstigen Greiforgane von der Erde lassen.« »Und was ist mit dem übrigen Sonnensystem, Mars und den anderen Planeten?« »Sie sollen sie alle in Ruhe lassen.«
»Dann nehmen Sie doch noch ein paar Sonnensysteme. Die können wir dann in Ruhe erforschen, ohne über ihre alten Bierdosen zu stolpern.« »Ich meine den ganzen Weltraum«, sagte Dammy. »Vielleicht definieren wir ›Weltraum‹. Und warum sollten sie ihn in Ruhe lassen?« »Niemand hat das Recht, sich in unsere Angelegenheiten zu mischen.« Der kleine Kerl kniff die Augen zusammen. Er verzog seinen Mund, der wie ein Wasserspeier aussah. »Haben Sie denn – vielleicht sollte ich aus atmosphärischen Gründen ›wir‹ sagen – auch nur das geringste Recht, sich in die Angelegenheiten der Ameisen oder Delphine zu mischen?« »Wir haben Intelligenz«, sagte Dammy. »Das gibt uns gewisse Rechte.« »Ich will nicht mit Ihnen streiten, Kleiner, aber vielleicht haben die Jungs da draußen mehr Intelligenz als Sie. Welche Rechte hätten sie dann?« »Nicht das Recht, uns zu töten oder zu versklaven.« »Haben Sie das Recht, Ratten zu töten?« »Ich glaube schon.« »Ansichtssache.« »Ich will«, sagte Dammy langsam, »daß die Menschheit sich so entwickelt, wie es ihr möglich ist.« »Und warum?« »Weil es unser Schicksal ist. Wir haben eine stillschweigende Übereinkunft mit dem Universum: Wir dürfen nehmen, was wir kriegen können.« Der Kleine kicherte und wandte sich ab. »Vielleicht habe ich mich nicht gut ausgedrückt«, sagte Dammy. »Vielleicht haben wir überhaupt keine Rechte. Wir haben vielleicht nicht mehr als die ersten Lebewesen, die aus
dem Urschlamm krochen: Einen Trieb, dem wir folgen müssen, egal wohin.« »Ja – aber davon verschwindet der Rest der Galaxis nicht. Man hat bessere Raumschiffe als dieses gebaut, als auf der Erde die erste Zellteilung stattfand. Es gibt die Anderen. So ist das Weltall. Das sind Tatsachen. Auch sie haben ihre Pläne – Pläne, die verhindern sollen, daß freche, kleine, nackte Affen zu sehr auftrumpfen. Sie machen nicht Platz, bloß weil Ihr gestikuliert und schreit.« »Dann zwinge ich sie dazu, Platz zu machen – ob sie wollen oder nicht.« »Wie denn?« »Das weiß ich noch nicht.« »Dann viel Glück, Kleiner.« Es wurde Zeit, auf Strahlenantrieb umzuschalten. Dammy kannte diesen Antrieb genau. Er hätte eine komplette und klar verständliche Bedienungsanweisung dafür schreiben können. Er hätte beschreiben können, wie die entstehenden Kraftfelder mit der Substruktur ein Medium bilden, in dem Energien kanalisiert und gelenkt werden. Daß diese Substruktur das Bestreben hat, die materielle Substanz, nämlich das Schiff, als Fremdkörper abzuweisen. So muß es sich im Sinne der kanalisierten Energie fortbewegen. Es durcheilt den Raum mit weit höherer Geschwindigkeit als elektromagnetische Strahlung. Mit rasender Geschwindigkeit zog das kleine Schiff seine Bahn. Die erdnahen Sterne lagen schon weit hinten. Neue Sonnen wuchsen zu riesiger Größe und schrumpften wieder. Hin und wieder ließ Dammy das Schiff transparent werden für das Licht von draußen. Er schoß durch den Raum. Es war, als hinge er reglos in der Unendlichkeit – dem All ausgeliefert. Ein Teil seines Gehirns registrierte den Ablauf der Zeit, aber sein Bewußtsein hatte sich schon lange von allen
Zeitstrukturen gelöst, die nun ohne Bedeutung waren. Die Ereignisse fanden statt sie existierten in gewissen Beziehungen zueinander, und sie waren geistige Vorgänge. Sonst war nichts – Bis der Augenblick kam, da er auf fremde Intelligenz stieß.
Es war, als ob das ins Grenzenlose erweiterte kristallklare Bewußtseinsfeld Montgomeries plötzlich von einem gewaltigen Energiestoß getroffen wurde. Seine Abwehrmechanismen brachen zusammen. Sein Gedankenfeld schrumpfte zu immer größerer Dichte, während er automatisch versuchte, den eindringenden Stoß abzufangen, zu analysieren und aufzuhalten… Aber unerbittlich stürmte das Fremde auf ihn ein, fegte seinen Gegenschlag beiseite und konfrontierte ihn direkt. Es war lebender funkelnder Geist in seiner ganzen Fremdheit, der ihn festhielt und Informationen forderte. In einem Winkel seines Verstandes wußte Dammy, daß die Befragung nur Sekundenbruchteile dauern würde – obwohl der fragende Intellekt die Notwendigkeit, langsam und deutlich zu »sprechen« registriert hatte. Was sind Sie? Damocles Montgomerie, menschlich, Sonnensystem Drei. Wer sind sie? Sie sind nicht registriert. Haben Sie Genehmigung? Nein. Status? Keiner – außer dem einer freien Intelligenz. Besagt nichts. Vernünftige Erklärung für Anwesenheit in diesem Sektor? Ich will die Königin in London besuchen. Auch das besagt nichts. (Klassifizieren und prüfen.) Sondergenehmigung? Keine.
Rasche Verständigung zwischen dem fragenden Wesen und einem anderen. Dammy verstand nichts. Sie können Verwendung finden. Verfahren Sie nach normaler Routine ------- (Es folgte ein Symbol.) Während der Befragung hatte Dammy vorsichtig die Stimme des Fremden zu ihrer Quelle verfolgt. Er ertastete das Undurchdringliche, fand Zugang und sondierte sorgfältig. Lähmender Schmerz durchfuhr ihn. Ein wahres Bombardement von stummem Lärm drohte seine Rezeptoren zu überfordern. Er taumelte zurück, betäubt und verwirrt. Verhalten ändern! Benehmen Sie sich wie ein zivilisiertes Wesen, oder sie werden sofort beseitigt. Befolgen Sie die vorgeschriebene Übertragungsroutine. Dammy nahm alle Kraft zusammen und schlug plötzlich zu, genau an der Stelle, wo er Zugang zu der fremden Intelligenz gefunden hatte. Für kurze Zeit wich der unerträgliche Druck. Er schleuderte verschlüsselte Impulse gegen die Energiekerne im Rumpf seines Schiffes. Wieder spürte er den quälenden Druck. Zeit und Raum schienen nur so vorbeizurasen… …und warten Sie! Der Befehl der angreifenden Intelligenz brach wieder durch. Gewaltige Kräfte hielten ihn wie mit stählernen Klammern und erstickten jeden Gedanken. Tiefschwarze Dunkelheit senkte sich nieder.
Damocles Montgomerie kam langsam zu sich. Er tauchte durch verschiedene Bewußtseinsschichten auf und verspürte nun Schmerz, Kälte und Unbehagen. Die Erinnerung an die Unendlichkeit, die hinter ihm lag, verdämmerte. Er löste sich aus seinen Abstraktionen, streifte sie ganz ab. Er lag auf einer glatten, leicht gewölbten Fläche, die sich wie Plastik anfühlte. Verschwommen sah er Wände, eine hohe Decke und trübes Licht, dessen Quelle nicht zu erkennen war.
Zwei Meter weiter lag ein Etwas – er wußte instinktiv, daß es ein lebendes Wesen war – zusammengefaltet und träge da. Es stieß ein schwaches, unregelmäßiges Zischen aus, wie Dampf aus einem defekten Ventil. Seine Haut war von knotiger Beschaffenheit. Sie zitterte und zuckte fast unmerklich. Kopf oder Schwanz waren nicht zu erkennen. Dammy schnupperte. Der Geruch erinnerte an frische Kräuter. Er erhob sich. Sein Körper schien abnorm schwer und unbeweglich. Alles tat ihm weh. Sein Kopf kam ihm ganz hohl vor. Er hörte einen unangenehm hohen, singenden Ton. Er fühlte sich miserabel. Aber gebrochen war nichts. Er lebte, sein Herz schlug, er atmete. Einigermaßen erleichtert machte er sich an die Untersuchung der seltsamen Kammer, in der er eingesperrt zu sein schien. Er prüfte den Boden, die Wände und die Decke. Nirgends die Spur eines Ausgangs. Der Raum war völlig leer. Er war allein mit dem fremden Wesen. Was immer es sein mochte. Dammy setzte sich wieder und lehnte sich gegen die Wand. Er hatte ein seltsam dumpfes Gefühl im Kopf. Eine endlose Zeit schien verstrichen zu sein, seit er zuletzt die Notwendigkeit nachzudenken empfunden hatte. Die Erinnerung kehrte zurück: Xorialle, das kürbisförmige Schiff, das Mädchen mit dem hübschen, traurigen Lächeln. Dann der grauenhafte Anprall der fremden Intelligenz. Danach kam nichts mehr. Alles schien weit zurückzuliegen, theoretisch und ohne Bedeutung. Es gab nur noch die Gegenwart. »Ich bin Dammy Montgomerie«, sagte er laut. Seine Stimme klang erstickt, als spräche er durch eine Wolldecke. Er wollte den Satz wiederholen, aber es war zu mühsam. Es war auch witzlos. Warten war leichter. »Nein, verdammt!« sagte er noch lauter und versuchte, wieder auf die Füße zu kommen. Es fiel ihm schwer. Es war,
als sei sein Inneres mit nassen Handtüchern vollgestopft. So schlapp und schwer fühlte er sich. An der Wand Halt suchend, prüfte er die Beschaffenheit des Materials. Seine geistigen Impulse wurden wie von einem Spiegel zurückgeworfen. Die nahtlose Hülle um ihn herum wies nicht die Spur einer Ausstiegsöffnung auf. Er war total isoliert, wie im Inneren eines toten Planeten begraben. Das auf dem Boden zusammengefaltete Wesen stöhnte – ein langes seufzendes Stöhnen. Es bewegte sich zitternd und entfaltete sich langsam. Hauchdünne Flügel, in allen Farben des Regenbogens schimmernd, richteten sich zu einem Prunkzelt auf. Sie fächerten sie zu einer Spannweite von fast fünf Metern auseinander und ließen einen kleinen Körper erkennen, der teils gold, scharlachrot und blau lackiert, teils in schwarzen Samt gehüllt war. Das Gesicht einer Biene starrte ihn an. »Sie machen zuviel Lärm«, sagte eine leise, helle Stimme. Dammy hörte die Stimme und verstand die Worte. Gleichzeitig erkannte er, daß die Laute auf anderer Interpretationsebene einen einzigen weichen Ton darstellten. Fast wie von einer angestrichenen Cellosaite. Er erkannte den Dialekt Consensual Neun. »Tut mir leid«, murmelte Dammy. Unbeholfen formte sein Mund die Worte. Er versuchte es noch einmal und hörte nur einen scharfen, rauhen Laut. Das Wesen zitterte mit den Flügeln. »Nicht so laut, bitte.« Dammy starrte ihm ins Gesicht und versuchte zu erkennen, welche der vielen glänzenden, farbigen Perlen oder funkelnden Facetten die Augen waren. »Tut mir leid«, wiederholte Dammy und versuchte leise zu sprechen. Das Wesen duckte sich wie nach einem Schlag. »Ich habe einen Vorschlag. Wenn es Ihnen nichts ausmacht: Flüstern Sie.«
»Wo sind wir hier?« summte Dammy und merkte plötzlich, daß auch er Consensual Neun sprach. »Das ist schon viel besser. Ich bin Ihnen sehr dankbar. So viele Wesen, die man trifft, haben keinen Begriff vom polyordinalen Wertsystem. Ich denke, wir werden uns gut vertragen. Woher kommen Sie?« »Erde.« Dammy ergänzte seine Antwort durch gedankliche Vorstellung des Sonnensystems, dann des gesamten galaktischen Sektors. Er zeigte die Sonne in Relation zu Centaurus, Barnards Stern, Wolf 359, den Luyten-, Sirius- und Ross-Systemen, Ypsilon Eridani, Cygni und Procyon. »Aha. Ganz von dort draußen? Ziemlich entlegenes Gebiet. Ich wußte gar nicht, daß Consensus so weit vorgedrungen ist. Man zeichnet immer mehr Daten auf, nicht wahr?« So deutete Dammy die in Hochgeschwindigkeitssprache ausgestoßenen Laute des fremden Wesens. »Sie haben meine Frage von vorhin nicht beantwortet«, sagte Dammy. »Sie ist schwer zu beantworten. Die Vorstellung von der Identität des Raumes geht verloren, wenn man sich in diesem Raum schnell fortbewegt. Man könnte aber sagen, daß wir uns in einem mit lebenswichtiger Ausstattung versehenen Transportmittel befinden. Genügt Ihnen diese Abstraktion?« »Wo schafft man uns hin?« »Keine Daten vorhanden.« »Sind Sie Gefangener?« »Ich sehe, Sie müssen jeden Begriff in Worten ausdrücken, bevor Ihr Bewußtsein ihn aufnimmt. Sehr merkwürdig, aber jeder hat seine Schwächen.« »Wer hat uns gefangengenommen?« »Ein für die Handelsrouten zuständiger kleiner Beamter, wahrscheinlich ein Vocile Napt. Mein Kontakt mit ihm war kurz und unangenehm. Mir scheint, er benötigt billige
Arbeitskräfte. Es gibt viele Verluste durch Verschleiß. Diese Verluste müssen ersetzt werden.« »Um welche Arbeit handelt es sich?« »Die übliche. Assimilation, Kollation, Abstraktion und Unterscheidung. Außerdem sucht man Spezialisten für Wertbestimmung. Sie kennen ja den chronischen Mangel an rechnerischen Fähigkeiten in den unteren Kategorien.« »Ich kenne überhaupt nichts. Wie heißen Sie?« »Komisch«, war der Kommentar des geflügelten Fremden. »Sehr komisch. Ich bin ich selbst – wer sonst. Es ist überflüssig, einem einzigartigen Phänomen einen Namen anzuhängen. Da Sie aber darauf bestehen, können Sie mich für… Floss halten.« »Okay, Floss – wie können wir entkommen?« »Entkommen?« gab Floss zurück, wobei er Dammy entsetzt ansah. »Uns also durch einen Willensakt aus der. Gewalt der consensischen Behörde entfernen? Eine erstaunliche Vorstellung. Meinen Sie das ernst?« »Ich muß ein paar Dinge erledigen«, sagte Dammy. »Ich habe keine Zeit, Sklave zu spielen.« »Ich bin fassungslos über Ihre Direktheit. Haben Sie keine Ehrfurcht vor Tradition, keinen Respekt vor der Obrigkeit, keine Angst vor den Folgen?« »Kein Stück«, sagte Dammy. »Äußerst verwunderlich«, kommentierte Floss. »Absolut unmöglich. Total verrückt und zum Scheitern verurteilt – aber interessant und aufregend.« »Was wissen Sie über unser Gefängnis«, fragte Dammy. »Wie werden wir ernährt? Wieso sind wir hier? Wie sieht es draußen aus? Wie viele Wachen? Wann erreichen wir unseren Bestimmungsort? Sind Waffen an Bord? Was – «
»Halt!« rief Floss und setzte seine hauchdünnen Flügel auf halbmast. »Ein Begriff zur Zeit. Entkommen! Unmöglich!« »Alles ist möglich«, sagte Dammy. »Fragt sich nur, wie!«
Genau vier Stunden, neunzehn Minuten und zwölf Sekunden (irdischer Zeit) nachdem er in dem fremden Gefängnisschiff aufgewacht war – das sagte Dammys innere Uhr – erschien irisierend eine Öffnung in der Wand der Kapsel, und zwei silbrig glänzende Kugeln von etwa sieben Zentimeter Durchmesser hüpften herein. Sofort schickte Dammy Gedankenimpulse nach draußen. Er fand eine Kombination von Versorgungs-, Navigations- und Antriebssystemen, aber blitzartig schloß sich die Öffnung wieder und schnitt seinen Erkundungsversuch ab. »Nichts kann völlig undurchdringlich sein«, sagte Dammy und richtete mit aller Kraft gebündelte Impulse gegen die Wand. Ebensogut hätte er mit einer Taschenlampe dagegenleuchten können. »Sie sind ein erstaunliches Wesen«, sagte Floss. »Natürlich ist die Abschirmung nicht undurchdringlich, wie Sie feststellen; das wäre physikalisch unsinnig. Aber sie ist ein hochwirksamer Reflektor. Sie müssen eine Menge gelernt haben, bevor Sie herkamen. Sie sind nämlich schlau. Sie bewegen sich schnell, aber eigenartig. Erzählen Sie mir von Ihrer Welt, Damocles. Seit wann ist sie dem Consensus angeschlossen?« »Sie ist es nicht und wird es nie sein.« Auch diese Feststellung fand Floss höchst sonderbar. Er fragte weiter, und Dammy gab knappe Antworten. »Unglaublich«, sagte das fremde Wesen, als es keine Fragen mehr hatte. »Eine wildlebende Welt mit freien Organismen außerhalb der consensischen Organisation! Faszinierend!«
»Wenn ich richtig verstehe«, meinte Dammy, »wimmelt die Galaxis von unabhängigen Welten – bis Consensus sie findet, sie verschlingt, die Bewohner umformt und fortwirft, was nicht paßt. Wie eine Dampfwalze, die eine Ameisenkolonie überrollt.« »Die Entdeckung einer neuen Art – besonders einer denkenden Art – ist nicht alltäglich. Das normale Verfahren ist, diese Organismen zu klassifizieren und von ihnen Gebrauch zu machen. So vermeidet man Verschwendung. Der Gedanke aber, daß ein primitives Lebewesen ein consensisches Schiff entführt und damit auch noch in den consensischen Raum eindringt – Sie müssen schon entschuldigen, alter Junge; aber das sprengt alle Vorstellungskraft.« »Wehrt sich denn niemand?« »Man kann sich in dem von Ihnen gemeinten Sinn nicht wehren. Man hat keine Wahl – genausowenig wie ein Haustier. Es lebt und folgt seinen Instinkten, aber eines Tages wird es geschlachtet. Ähnlich verfährt Consensus mit primitiven Arten, die sein langer Arm erreicht.« »Sind Sie mit dem Programm zufrieden?« »Sie bringen mich in Verlegenheit mit Ihren Fragen. Zufrieden? Was heißt Zufriedenheit? Hätte ich uneingeschränkte Kontrolle über Materie, Zeit und Energie, würde ich die Dinge natürlich anders regeln. Aber wie? Nehmen wir an, ich hätte Hunger; ich würde ihn mit Nahrung befriedigen, nicht wahr? Warum aber nicht das Bedürfnis nach Nahrung abschaffen? Wenn ich Gesellschaft oder Anerkennung brauche, umgebe ich mich mit Freunden und sorge, daß sie meine Leistungen würdigen. Wenn man aber Anerkennung erzwingen kann, warum sich um Leistung bemühen?«
»Das ist mir zu kompliziert«, sagte Dammy. »Bleiben wir bei dem, was wir wissen: Wir sind eingeschlossen und wollen raus. Das ist das Problem. Dafür muß es eine Lösung geben.« »Wir wollen raus, sagen Sie. Meine Gedanken eilen voraus. Was wären die Folgen? Was erwartet einen Entflohenen? Gibt es für ihn einen sicheren Winkel im Zeitenfluß?« »Eins zur Zeit, Floss. Was wissen Sie über die Kapsel, in der wir stecken?« »Ziemlich wenig. Ich habe selbst schon ähnliche benutzt. Um ihre Beschaffenheit habe ich mich nie gekümmert.« »Woraus besteht sie?« »Auch diese Frage weist auf seltsame Vorurteile hin. Ich will aber versuchen, Ihren Gedankengängen zu folgen. ›Woraus besteht sie‹, haben Sie gefragt. Warum fragen Sie nicht nach der Energiestruktur, die ihr zugrunde liegt? Sie meinen wohl, was besteht, kann auch zerstört werden, und – vielleicht haben Sie recht, Dammy. Warum eigentlich nicht?« »Die Kugeln, die durch die Öffnung kamen«, bohrte Dammy weiter. »Was war das?« »Nahrung. Warum haben Sie Ihre denn nicht verzehrt?« Dammy sah am Ende des Raumes die Kugeln liegen. Er bemerkte, daß die eine ihren perlenartigen Glanz verloren hatte. »Ich dachte, ich hätte das Universum im Griff«, sagte Dammy traurig. »Ich kenne jedes Handwerk und weiß sogar schon, wozu man seinen Verstand hat. Und ich ende in einem Hundezwinger, wo die Wärter annehmen, daß ihre Haustiere aus einem versiegelten Behälter Nahrung in ihre Mägen befördern können.« Dammy machte eine Pause. »Hier erhebt sich die Frage: Warum haben sie das Zeug nicht gleich durch die Wand teleportiert? Wozu brauchten sie eine Öffnung?« »Ihre Frage beruht auf einer falschen Annahme, Dammy«, sagte Floss. »Es gibt keine Wärter. Das Schiff ist unbemannt.«
»Das ist doch schon etwas. Keine Mannschaft? Nur wir und die Wände. Was ist außerhalb dieses Raumes? Könnten wir dort überleben?« »Vakuum, verschiedene Strahlungen, das Raumfeld.« »Wie wird das Schiff gesteuert? Wohin bewegt es sich? Welchen Antrieb hat es?« »Die Kapsel wurde auf ihren Bestimmungsort programmiert. Natürlich bewegt es sich dorthin – « »Wieso?« »Was sollte sie sonst tun?« »Wir haben Verständigungsschwierigkeiten«, sagte Dammy. »Sie glauben und akzeptieren zuviel. Sie fragen zuwenig. Vielleicht mache ich den umgekehrten Fehler. Denken Sie doch nach: Wenn die Kapsel nun nicht funktioniert?« »Nicht funktioniert.« Floss grübelte. »Wieder eine Ihrer verrückten Ideen: Ein für eine bestimmte Funktion bestimmtes Gerät erfüllt diese Funktion nicht sondern vielleicht eine andere. Oder es funktioniert überhaupt nicht. Wunderbar! Dammy, Sie haben mir jetzt schon mehr Neues gezeigt, als ich für ein ganzes Leben erwartet hatte.« »Sie machen sich über meine Fragen lustig, aber sie beantworten sie nicht.« »Stellen Sie sich vor, ich würde Sie fragen, ›was ist, wenn der Himmel einstürzt? Wie weit ist oben? Warum kriegen Hühner keine jungen Katzen?‹« sagte Floss. »Ihre Fragen passen nicht zu meiner Denkweise. Ich kann Ihnen nur Daten mitteilen, die Sie dann auf Ihre Weise verarbeiten – wir werden sehen, was dabei herauskommt! Nun also zu Ihren Fragen…« Floss erklärte, das Fahrzeug werde von gelenkter Energie angetrieben. Die Kraft käme aus Spannungen im Raum/ZeitGefüge. Sein Bestimmungsort sei von vornherein in seine
Struktur einprogrammiert und Teil des Fahrzeugs, wie die genetischen Bausteine Teile einer lebenden Zelle sind. »Aber es gibt doch Mutationen«, führte Dammy den Vergleich weiter: »Gene kann man verändern.« »Dazu muß man an das Plasma gelangen. Hier gibt es keins.« »Wann öffnet sich das Ventil zur nächsten Fütterung?« Floss nannte einen Zeitbegriff, den Dammy als vierundzwanzig Stunden und vier Minuten deutete. »Und was geschieht mit dem Abfall?« Auch diese Frage erstaunte und erschreckte das fremde Wesen. Floss hielt die Notwendigkeit der Beseitigung von unbrauchbaren Molekülen für einen biologischen Mangel, der bei den ihm bekannten denkenden Arten nicht vorkam. »Gut«, sagte Dammy. »Dieser Käfig dürfte zu knacken sein. Vielleicht hat das System eine Lücke. Gibt es noch weitere Öffnungen in der Wand?« »Das Ventil, wie Sie es nennen, ist eigentlich keine Öffnung. Es handelt sich um eine moebiussche Unterbrechung im Kräftefeld.« »Uninteressant«, meinte Dammy. »Wenn es uns nicht hilft, das Schiff zu übernehmen. Ich werde es weiterhin als Öffnung betrachten.« »Es gibt keine andere Öffnung.« »Ich hatte einen kurzen Einblick in das Schaltsystem«, sagte Dammy. »Sehen Sie selbst.« Ganz leicht nur berührte Floss Dammys Verstand mit seiner Gedankensonde. Als ob leiser Wind über ein Kornfeld strich. Dammys eigene geistige Tastversuche waren dagegen grob und ungeschickt. Rasch las Floss Dammys Gedanken und erkannte die Zusammenhänge. »Zufällige Impulse könnten bei dem Schiff manches durcheinander bringen«, sagte er.
»Ach was«, sagte Dammy. »Wir brauchen gezielte Impulse. Vielleicht können wir die Kapsel umdirigieren.« »Vielleicht. Aber wir müßten gleichzeitig zuschlagen, mit genau dem richtigen Vektor – « »Den Impuls können wir bestimmen. Wir machen es gemeinsam. Gleichzeitig – « »Dammy, ich glaube fast, es könnte funktionieren. Eine leichte Abwandlung, eine Druckveränderung…« Floss erklärte Dammy die für die Umprogrammierung des Schiffes nötigen Impulse. »Falls wir die Kontrolle über das Fahrzeug erlangen«, sagte er, »ist das natürlich nur eine symbolische Handlung. Die Behörden werden uns nicht erlauben, als zufällige Faktoren im Status quo des Consensus zu existieren. Aber die Befriedigung über ein Gelingen wäre schon genug.« »Ich bin anderer Meinung«, sagte Dammy. »Aber darüber reden wir, wenn wir frei sind. Auf welchen Kurs bringen wir das Ding?« »Spielt das eine Rolle? Wir versauen erst das Programm und bringen dann das Schiff auf beliebigen Kurs.« »Woher stammen Sie eigentlich, Floss?« »Von einem unbedeutenden Planeten eines unbedeutenden Sonnensystems.« »Warum reisen wir nicht hin?« »Zurück nach Almione?« Dammy spürte die Welle von Heimweh, die Floss überkam, als er an seine Heimat dachte. Kaleidoskopartig sah er grünes Sonnenlicht über weiten, gelben Wiesen. Wälder aus malyenfarbenen Bäumen, große Schwingen, die sich in fahlgelbem Mondlicht entfalteten. »Zurück nach Almione?« wiederholte Floss. »Zurück an den Ort meines Anfangs? Vielleicht mein Schicksal neu zu gestalten, zu schönerer Erfüllung zu bringen – das sind Hirngespinste. Die Galaxis ist unendlich. Dammy – «
»Versuchen wir es.« »Sie entstammen einer wilden, von keiner Zivilisation gezähmten Rasse«, sagte Floss. »Sie lassen keine Begriffswelt erkennen, die ganze Sternenalter umfaßt. Ein Teil meines Verstandes läßt mich vor Ihrem Gedankenchaos zurückschaudern. Ein anderer Teil zwingt mich, eins mit Ihnen zu sein in Ihrem närrischen Versuch, die auferlegten Zwänge zu durchbrechen.« »Gut«, sagte Dammy, »treffen wir unsere Vorbereitungen.«
Die Zeit raste, während Dammy sich aufs Äußerste konzentrierte. Berechnungen, die früher Stunden in Anspruch genommen hätten, waren in Sekundenbruchteilen erledigt. Das Problem war verzwickt. Er kniete sich hinein. Er erkannte genau alle Schwierigkeiten, prüfte verschiedene Hypothesen auf mögliche Resultate, mußte immer wieder nachrechnen… und merkte nicht, wie die Zeit davonlief. Er und Floss hatten Dammys kurzen Einblick in das Schaltsystem der Kapsel genau analysiert. Nun bereiteten sie den Gegenschlag vor. Dammy merkte plötzlich, daß er völlig erschöpft war. Zwei Stunden blieben ihnen noch, so hatten sie errechnet. Er schaltete ab, wollte schlafen. Schon sank er zu Boden. Was tun Sie da? übermittelte Floss, und Dammy registrierte die Frage. Ich schlafe. Wahrscheinlich eine primitive Angewohnheit, die Sie vor langer Zeit aufgegeben haben. Das ist schade. Sie ahnen nicht was Sie versäumen. Warten Sie. Ich fühle wie Sie entgleiten – Ich komme zurück. Jetzt muß ich schlafen. Müde… »Dammy!« Der laute Schrei des fremden Wesens riß ihn in die Wirklichkeit zurück. Er richtete sich auf. Floss hing mit
ausgebreiteten Flügeln in der Luft. Er zitterte. Licht aus einer unbekannten Quelle ließ das dünne Gewebe schimmern. »Warum haben Sie Flügel?« erkundigte sich Dammy. »Sie sehen so zerbrechlich aus. Ich habe eine leichtere Methode.« Er brachte sich in Schwebezustand. Zuerst kostete es ihn Mühe, sich in der Luft zu halten, aber es wurde immer leichter. Er schoß durch den seltsam geformten Raum und fegte an Floss vorbei, der zurückschrak und ängstlich mit den Flügeln flatterte. Dammy bemerkte jetzt, daß die Wände komplizierter waren, als er gedacht hatte. Sie waren nicht einfach versiegelt sondern bestanden aus überlappenden Teilen, wie die Schiebewände einer Bühnendekoration. Die Abstände waren groß genug, um hindurchzuschlüpfen. Dammy schob sich durch und befand sich in einem gewundenen Gang. Frische Luft wehte ihm ins Gesicht. Er arbeitete sich weiter vor. Während er den vielen Windungen folgte, wurden Floss’ Rufe hinter ihm immer schwächer. Plötzlich wurde es vor ihm hell. Er schob einen Vorhang aus buntglänzenden Perlen zur Seite, und dann stand er auf einer erhöhten Terrasse unter freiem Himmel. Weit unten lag eine Lagune von unwirklicher Schönheit im Morgennebel. In der Ferne schienen, vom Nebel halb verborgen, Inseln zu schweben. Von irgendwoher hörte er die Klänge leiser Musik, wie aus verzauberten Wäldern. Die Marmorplatten unter Dammys Füßen waren noch kühl von der Morgenfrische. Er ging bis an den von einer Balustrade abgegrenzten Rand der Terrasse. Ein Felsen fiel steil ab, und tief unten brandete die weiße Gischt gegen den Stein. Dahinter tiefblaue See. Hochoben trieben weiße Wolken wie Teile einer unerreichbaren Landschaft, Inseln in einem Zaubermeer. Die riesige, lichtüberflutete Weite zog ihn magisch an. Er trat an das aus Stein gehauene Geländer, beugte sich vor und wartete, daß der Wind ihn hochtrug…
Er fiel wie ein Stein, halb gelähmt, unfähig sich zu bewegen. Er konnte nicht einmal schreien. Nur ein Stöhnen entrang sich seinen Lippen… Floss war neben ihm. Er hatte die Flügel angelegt. Mit zweigdünnen Armen packte er Dammy und breitete die Flügel aus gegen den rasenden Luftstrom. Dammy sah, wie die zarten, buntschimmernden Membranen sich strafften. Er spürte, daß der Fall sich verlangsamte. Dann bogen sich die Schwingen, die dünne Haut zerriß, vom Wind in Fetzen gepeitscht. In die vielfarbene Hülle eingewickelt stürzten sie zusammen in die Dunkelheit. Das Rauschen wurde stärker, zuletzt war es ein Brüllen wie das der Niagarafälle. Mit letzter Kraft riß sich Montgomerie aus der Verstrickung. Er drehte sich und wollte den Schwebezustand herbeiführen. Mit dem Gesicht nach unten und ausgebreiteten Armen und Beinen versuchte er mit äußerster Anstrengung, sich in der Luft zu halten… Der Aufprall ließ ihn hellwach werden. Er lag mit dem Gesicht nach unten, Arme und Beine immer noch ausgebreitet. Sein Rücken schmerzte. War dies das Ende? Er erwartete den letzten Schmerz endgültiger Vernichtung. Dann hörte er Floss seinen Namen rufen. Er krächzte eine Antwort, wälzte sich herum und setzte sich hoch. »Dammy, was ist passiert! Wie…?« »Muß ein Alptraum gewesen sein«, sagte Dammy. Die Traumvisionen waren zerstoben. »Ich war bei Ihnen«, sagte Floss, und aus seiner Stimme klang Ehrfurcht. »Ich war mit Ihnen in dem seltsamsten Land, das ich je sah. Ihr Geist hatte dieses Land erstehen lassen. Obwohl ich das wußte, war ich fasziniert…« »Tut mir leid«, sagte Dammy, »das wollte ich nicht.« »Sie machen mir Angst, Dammy«, sagte Floss. »Ich schaute in Ihren Geist und sah in unermeßliche Tiefen. Dort schweiften
Sie umher und schufen und zerstörten Welten wie ein wahnsinniger Gott.« »Es war nur ein Traum.« »Ich sollte mich von Ihnen abwenden«, sagte Floss. »Sie sind zügellos und ohne Disziplin. Sie bersten vor wilder Kraft, wie sie das Universum noch nicht gekannt hat. Sie erschrecken mich – und doch lassen Sie mich hoffen.« »Das ist mir zu mystisch«, meinte Dammy. »Ich bin nicht für mein Unterbewußtsein verantwortlich.« »Darin liegt ja die Gefahr, aber auch die Hoffnung. Zuerst haben Sie mich belustigt. Sie waren für mich eine völlig neue Erfahrung. Ich hielt Sie für eine interessante Möglichkeit, Abwechslung in mein Leben zu bringen, wo doch mein Schicksal vorbestimmt ist. Jetzt aber – bin ich überhaupt nicht mehr amüsiert. Gewaltige Kräfte regen sich im Kosmos, Dammy, und durch Ihren seltsam fremden Geist begann ich, sie zu erkennen. Ich werde abgestoßen und angezogen zugleich. Jetzt erst weiß ich, wie wenig ich die vielschichtige Realität im Griff hatte, welche geringe Rolle die Intelligenz gespielt hat. Als Sie zum ersten Mal die Flucht erwähnten, erschrak ich über den ungeheuerlichen Gedanken, die Ordnung der Dinge in Frage zu stellen. Doch nun erkenne ich es: Consensus ist nur Treibgut auf dem Fluß der Wirklichkeit, und jenseits liegt das große, offene Meer. Ich fürchte dieses Meer – aber ich will die Anker lichten, und segele ich auch in mein Verderben.« »Gut«, sagte Dammy. »Machen Sie sich bereit. Das Ventil öffnet sich in vier Sekunden.« Er löste das geistige Signal aus, das ihre Vorbereitungen in die Tat umsetzen sollte. Floss ließ seine behutsamen, doch mächtigen Gedankenimpulse mit denen Dammys zusammenfließen. Kräfte veränderten sich, Energien wurden umgelenkt. Mit aller Kraft mühten sie sich, die Hülle zu
durchstoßen, die sie gefangen hielt. Eine Öffnung erschien, weitete sich unter ihrem gemeinsamen Ansturm. Es gelang ihren vereinten Geisteskräften, Spannungen umzuwandeln, neue Koordinaten zu setzen und den Fluß der Feldenergie in eine andere Richtung zu zwingen. Die Wirklichkeit erlangte andere Gestalt. Kaum faßbar änderten verschiedene Ebenen ihre Beziehung zueinander. Irgendwie war… alles anders. Floss schlug aufgeregt mit den Flügeln. »Sie scheinen eine Ebene gefunden zu haben, auf der die Energielamellen sich durchbrechen lassen«, sagte er in höchster Verwunderung. »Warten Sie. Ich will die mathematische Basis schaffen.« »Langsam«, warnte Dammy. »Sie arbeiten zu schnell. Sie merken wohl, daß die Spannungsschranken überwunden sind. Exokosmos und Endokosmos sind in Übereinstimmung und – worauf warten wir noch? Raus hier!« »Begleiten Sie mich nach Almione? Oder sollte ich es besser nicht versuchen…? Was Sie vorhaben, scheint so vage und tastend, fremdes Wesen.« »Wenn es funktioniert, versuchen wir es«, schlug Dammy vor. »Dammy! Schon wieder versetzen Sie mich in Erstaunen. Ihre Logik ist von reinster Schönheit. Fangen wir an.« »Okay!« murmelte Dammy laut. Es war wie ein Gebrüll, das weithin widerhallte. Er verzog das Gesicht. Seine Zunge schien zu vibrieren. Floss duckte sich und legte die Flügel an. Dammy schloß die Augen. Seine Füße suchten festen Grund und fanden Morast. Er tastete sich weiter und traf endlich Widerstand. Er fand Halt an herabhängenden Dornenranken. Dann stand er auf einem kleinen Erdhügel. Er schaute sich nach seinem Begleiter um. Über dem Gifthauch dieser Sümpfe schien ewige Dunkelheit zu herrschen. Er konnte Floss kaum erkennen.
»Alles in Ordnung?« fragte Dammy besorgt. »Dammy, ich stecke fest«, flüsterte Floss zurück. Seine Stimme vibrierte vor Panik. Mit seinem Messer durchschnitt Dammy die Ranken, in denen Floss sich verfangen hatte. Dann war er an der Seite des fremden Wesens. Die feuchtheiße Luft war bedrückend. »Kommen Sie«, drängte er. »Wir haben es nicht mehr weit.« Er nahm Floss’ dünne Hand und führte ihn auf festeren Boden. In der Nähe war schrilles Geschrei zu hören, dann ein planschendes Geräusch. Floss umklammerte Dammys Arm. »Sollten wir nicht lieber umkehren?« jammerte er. »Das Universum ist nach allen Richtungen hin gleich groß«, erklärte Dammy. Sie arbeiteten sich weiter vor. Stunden vergingen. Plötzlich empfand Dammy überdeutlich seine Müdigkeit. Unzählige Dornen hatten ihn zerschunden. Der arme Floss war ihm tapfer gefolgt. Hin und wieder stieß er leise Schreie aus. Immer wieder mußte Dammy umkehren, um die zerbrechliche Kreatur aus dem Schlamm zu ziehen oder aus dem dornigen Rankenwerk zu befreien. Endlich erreichten sie einen leicht ansteigenden Hang. Im Licht eines kleinen fahlen Mondes zeichnete er sich nur in Umrissen ab. Dammy schaffte gerade noch die letzten paar Meter und sank dann erschöpft zu Boden. Plötzlich fiel ihm auf, wie ähnlich die Oberfläche der in der Kapsel war. Er schlug die Augen auf und sah ringsum die vertrauten Wände. Floss hockte in der Nähe und pflegte seine Flügel. »Was – « Dammy fuhr hoch: »Wie – nach all diesen Stunden oder vielleicht sogar Tagen?« Floss schien unbekümmert. »Unglaublich«, stieß Floss wenig später hervor, »wir haben es geschafft!«
Nach der Übernahme der Kapsel verlief das Leben in ihrem Gefängnis wie vorher. Es gab kein Gefühl irgendeiner Fortbewegung. Auch den Ablauf der Zeit erkannte man nur an der regelmäßigen Nahrungszufuhr und dem dabei erfolgenden Ausstoß der Abfälle. Dieses Problem hatte Dammy dadurch gelöst, daß er die leeren Verpflegungskapseln mittels Telekinese in den Raum hinausbeförderte. Die Beschaffenheit dieses Raumes außerhalb der Kapsel blieb weiterhin nach jeder irdischen Wissenschaft undefinierbar. Die Reise zum ursprünglichen Bestimmungsort hätte vielleicht einige Monate irdischer Zeit in Anspruch genommen; Floss konnte es nicht genau bestimmen, da er den einprogrammierten Kurs nicht kannte. Die Flugdauer nach Almione aber schätzte er auf einen Monat. Die Relativität von Zeit und Raum und das Fehlen weiterer Daten machten eine genaue Berechnung unmöglich. »Es kann natürlich auch passieren«, erinnerte Floss, »daß wir unser Ziel überhaupt nicht erreichen. Relativ gesehen«, erklärte er, »besteht die Gefahr, daß wir uns gar nicht fortbewegen. Vielleicht haben unsere Eingriffe die Umsetzung von Raum und Zeit außer Kraft gesetzt, und wir befinden uns auf einer räumlich-zeitlichen Nullschicht, auf der wir bis in alle Ewigkeit bleiben müssen.« Dammy schlug vor, ein bestimmtes Verfahren der Bewußtseinserweiterung anzuwenden, um die Position der Kapsel zum Exokosmos festzustellen, aber Floss riet ab. »Ein Versuch, unsere Fortbewegung zu überwachen, könnte genau das Phänomen stören, das wir untersuchen wollen.« Dammy mußte ihm recht geben. Die Zeit schlich dahin. Er nutzte sie, um in Gedanken neue Daten zu prüfen. Aber das wurde ihm langweilig. Ebensogut hätte er die Logarithmentafel aufsagen können. Zwar standen die Daten zur Verfügung, aber
die begrenzten Ergebnisse, zu denen irdische Wissenschaft gelangt war, halfen ihm in dieser Lage ohnehin nicht weiter. »Ich kann Draht ziehen, Leder gerben und Elektronenmikroskope reparieren«, dachte er laut. »Arbeit gesucht. Vernünftiger Lohn. Qualität garantiert.« »Seien Sie nicht traurig, daß Ihre Volkskünste nur beschränkt brauchbar sind«, tröstete Floss ihn. »Diese Lektion muß jeder lernen. Eines Tages werden Sie bestimmt die geistige Basis finden, sich auf neue Situationen einzustellen. Nur Geduld, Dammy. Wenn wir Almione erreichen, wird es Ihnen Spaß machen, die Technik zu beherrschen, unter fremden, wenn auch wohl nicht feindlichen Wesen zu leben.« Dammy versuchte mit wenig Erfolg, sich die Phantasiefiguren vor Augen zu rufen, die ihm in Xorialles Raumschiff Gesellschaft geleistet hatten. Zwar hatte er Halluzinationen von verblüffender Echtheit, aber sie schienen so leblos wie Zeichnungen. Dann gab er diese Beschäftigung auf. Floss verfiel zeitweise in eine Art Koma, aus dem man ihn aber leicht durch Gedankenübertragung wecken konnte. Er schien allerdings an einer Unterhaltung um ihrer selbst willen nicht interessiert zu sein und wies Montgomeries Vorschlag zurück, diesem von seiner Heimat zu erzählen. »Sie werden sie bald sehen, Dammy. Oder auch nicht. Im letzten Fall wäre dieses Wissen darüber wertlos. Im ersten Fall werden Ihre persönlichen Eindrücke genauer sein als jede Beschreibung.« Die Zeit verging. Dammy schlief. Einen Teil seines Verstandes hielt er von Träumen frei, um rechtzeitig aufzuwachen. Nichts Unvorhergesehenes durfte mehr geschehen. Er rief sich eine Unmenge gespeichertes Material ins Bewußtsein zurück, sichtete es und baute es in sein Weltbild ein. Er übte sich in seinen neuerworbenen Fähigkeiten und ließ seine eigene Vergangenheit in allen
Einzelheiten wie einen Film ablaufen. Dieses Experiment war äußerst deprimierend, und er gab es auf. »Auch wenn mir dieses alles nicht passiert wäre«, erklärte er Floss, »hätte ich in meinem Leben viel mehr erreichen können. Mein Leben ist eine Summe ungenutzter Gelegenheiten, verpaßter Chancen und vieler Herausforderungen, denen ich mich nicht gestellt habe. An jedem Tag meines Lebens hätte ich lohnende Erfahrungen machen können. Ich tat es nicht. Wenn mir etwas gelang, dann zufällig. Jeder meiner Instinkte setzte sich gegen etwa aufkeimende Wißbegierde zur Wehr. Zwar hatte ich Ehrgeiz – aber mein Ehrgeiz war auf Triviales gerichtet. Meine Vorstellung von Selbstbestätigung war ein schickerer Wagen, ob ich ihn nun kaufte oder stahl. Einen teuren Anzug hielt ich für Fortschritt. Ich war schön und gesund, und mein Verstand funktionierte. Alles hätte ich erreichen können in der Welt, die ich kannte. Ich hätte ein bedeutender Wissenschaftler werden können, ein berühmter Künstler, alles mögliche – oder alles zugleich.« »Ein Fisch könnte dem Netz entkommen. Aber er kennt nicht das Netz. Er kennt auch nicht seine eigenen Fähigkeiten. So war es auch bei Ihnen. Heute wissen Sie mehr. Nicht gerade viel – aber mehr. Vielleicht wissen Sie eines Tages genug, um die Zusammenhänge zu begreifen. Man kann nur hoffen…« »Ich hielt mich für ein Genie«, sagte Dammy. »Als ich Xorialles Schiff übernahm und mich entschloß herzukommen, dachte ich, das ganze Universum gehört mir.« »Sie werden noch viel lernen«, sagte Floss und sank in seinen traumlosen Schlaf zurück. Am vierundneunzigsten Tag nach ihrem Versuch war die Kapsel plötzlich ohne Vorwarnung verschwunden. Dammy und Floss räkelten sich in weichem, violetten Gras am Ufer eines scharlachroten Sees.
VII
»Es ist ganz anders, als ich dachte«, sagte Dammy. »Nichts ist so, wie ich es mir vorgestellt hatte.« Floss und er lagerten an einem erhöhten Ort auf schwammigem, weichem Moos unter einem Dach von breiten, blauen Blättern. Nicht weit entfernt lag ein eigenartig geformtes Gebäude. Floss versicherte seinem Gast, es sei eine Wohnstatt für jeden, der sie benutzen wollte. »Und zuhause, Dammy, entsprach denn dort immer alles Ihren Erwartungen?« »Nein, aber das war anders.« »So, so.« »Ich kann die Luft atmen«, sagte Dammy matt. »Die Schwerkraft stimmt. Sie ist vielleicht sechseinhalb Prozent geringer. Der Stern hat keine tödliche Strahlung, und es gibt keine Krankheiten, die mir unmittelbar gefährlich werden könnten. Ich glaube nicht an solche Zufälle.« »Es ist kein Zufall«, versicherte Floss. »Wer uns gefangennahm, konnte uns nicht in eine Umgebung bringen, die für einen von uns feindlich ist. Also können Sie in meiner Welt leben. Was Krankheiten betrifft, so erkenne ich den Begriff in Ihren Gedanken, aber solche parasitären Lebensformen hat es in einer zivilisierten Welt seit unzähligen Zeitaltern nicht mehr gegeben.« »Ich dachte immer, ein Raumschiff müßte eine Rakete sein, groß wie ein Zerstörer«, fuhr Dammy fort. »Mit Wänden ganz aus Metall, engen Quartieren und schlechter Luft, dazu mit Maschinen vollgestopft. Ich dachte, bei der Raumfahrt sitzt man im Cockpit und schaut sich die Sterne an. Ich dachte, bei der Landung gäbe es einen Höllenlärm und einen harten
Aufprall. Ich hatte ein Empfangskomitee erwartet oder eine Menge, die uns lynchen will. Ich dachte an Fragebogen und Paßkontrollen und Verhöre. Daß man wissen will, wer ich bin und was ich hier suche. Daß ich vielleicht gut argumentieren müßte, um nicht eingesperrt oder ausgewiesen zu werden. Und dann würde ich einen Verein ›Rettet die Erde‹ gründen, und – « »Eine sehr amüsante Abschweifung, Dammy. Natürlich haben Sie nichts dergleichen erwartet. Sie haben eine komische Art, Stereotypen zu ersinnen und sie dann in Worte zu kleiden, als wollten Sie sich der Wirklichkeit bewußt werden. Unter den Umständen ist das völlig überflüssig. Kommen Sie«, sagte er nun wieder freundlich, »ich zeige Ihnen meinen kleinen Unterschlupf.« Er führte ihn einen Pfad entlang, der zwischen hohen Farngewächsen verborgen lag. Die helle Lavendelfarbe der Pflanzen bildete einen hübschen Kontrast zu dem satten Violett des Rasens. Ein leiser Duft wie von fernen Zitronenblüten hing in der unbewegten Luft. Der Pfad führte in einer Biegung um ein purpurschwarzes Waldstück, und nun sah Dammy das Haus. Es war eine blasenartige Konstruktion mit fahlen, durchscheinenden Wänden und ruhte auf zerbrechlich wirkenden Stelzen, die man mit Floss’ eigenen dünnen Beinen vergleichen konnte. Das Wesen blieb stehen und streckte die Hand aus. »Das ist mein Nest«, sagte er heiter. »Unbegabt für Kunst und Wissenschaft und ohne wichtige Stellung in der Gesellschaft, habe ich meine ganzen Fähigkeiten, meine ganze Begeisterung darauf verwandt, diese Oase des Friedens und der Ordnung zu schaffen. Ich wünschte mir Perfektion – natürlich in einer eingeschränkten Deutung des Begriffs. Jede Existenz, ob lebendes Wesen oder tote Materie, hat ihr eigenes Potential: Dieses Potential voll zu nutzen, bedeutet Perfektion.
Also habe ich mich hier bemüht, die bestmögliche Verbindung von Schönheit und Nutzen herzustellen. Alle Funktionen, Farben, Beschaffenheiten oder Formen wurden gegen andere abgewogen, um eine Harmonie zu schaffen, die jene der Natur erreicht. Hier wurde nichts dem Zufall überlassen. Jede Einzelheit war geplant. Hier gab es keine billigen Kompromisse. Alles ist vom Besten und wird makellos instandgehalten. Irrtum und Schmutz haben hier keinen Platz. Im Rahmen meiner bescheidenen Möglichkeiten ist dies tatsächlich der materielle Ausdruck meiner Vorstellung von der Harmonie des Alls. Hier ist alles zusammengetragen, was mir lieb und teuer ist… Aber ich werde schon wieder geschwätzig. Kommen Sie. Prüfen wir, wie mir alles gelungen ist.« Floss schritt voran, den gewundenen Pfad entlang, der von herrlichen Blütenbeeten eingefaßt war. Sie überquerten einen kleinen, aber wunderbar gepflegten purpurroten Rasen und blieben wie angewurzelt stehen. Kreuz und quer hingeworfen lagen große herausgerissene Rasenstücke. Vier kleine Büsche mit weißen Blüten lagen entwurzelt da. »Ich wählte diesen Ort, der weit von den großen Zentren unserer Gesellschaft entfernt liegt, wegen seiner Abgeschiedenheit und wegen der reinen Luft.« Floss schwieg und kniff sich in eines seiner komplizierten Geruchsorgane. Gleichzeitig wurde der Blütenduft von einem ekelhaften Unratgestank überlagert. Dammy hörte gellende Schreie, die wie Schweinequieken klangen. Floss wandte sich in die Richtung. In diesem Augenblick zerriß eine dumpfe Detonation die Luft, und hinter dem blasenförmigen Gebäude sah man einen großen Baum heftig schwanken und dann langsam umsinken. Kurz darauf regneten Bruchstücke des Stammes und zersplitterte Äste herunter. Tangerinblaue Holzsplitter fielen neben den beiden Betrachtern zu Boden.
Floss wandte sich Dammy zu. Sein Bienengesicht zuckte heftig und zeigte einen Ausdruck, der nicht zu deuten war. »Hier ist etwas nicht in Ordnung, Dammy. Am besten suchen Sie Schutz – dort.« Er zeigte auf das Waldstück aus purpurnen Bäumen. »Was ist los?« fragte Dammy und starrte zum Haus hinüber. Er sah Figuren, die sich rasch bewegten. Sie trugen maulwurfgraue Arbeitskittel und watschelten auf kurzen Beinen. Groß und vornübergeneigt eilten sie geschäftig hin und her. Floss schrie laut auf. »Teest!« rief er aus. »Was ich immer befürchtet habe, ist über mich gekommen!« »Sie befinden sich weit außerhalb des Teest-Territoriums«, bemerkte Dammy. »Ich nehme an, sie haben keinerlei Berechtigung, sich hier aufzuhalten.« »Keine«, stöhnte Floss. »Mein großer Heo-Baum ist schon zerstört und – « Er zeigte auf das Haus, und Dammy sah, daß die Eindringlinge dort schon geschäftig hin- und herliefen. »Was wollen sie denn?« fragte er. »Was sie wollten, haben sie schon erreicht«, ächzte Floss: »Zerstörung! Es ist unmöglich, mit ihnen zu verhandeln. Sie leben nur, um zu zerstören. Warum haben sie sich ausgerechnet mich zum Ziel genommen!« »Was werden Sie unternehmen?« wollte Dammy wissen. »Retten, was ich kann«, jammerte Floss und setzte sich in Bewegung. »Eines Tages fange ich wieder von vorn an!« Auf einem buntgekachelten Pfad eilte er auf das Haus zu, vorbei an einem kleinen Springbrunnen, dessen glitzernde Wassersäule fünfzehn Meter hoch in die Luft stieg, um dann in glitzernden Perlen in ein flaches Becken zu fallen, in dem blaßrosa Blüten trieben. Neben dem Becken lagen die Trümmer einer schönen Skulptur auf dem Rasen. Die schulterlosen häßlichen Teest hatten sich in einer Gruppe vor dem Haus zusammengedrängt.
Die dickbrüstigen Wesen schienen Floss abfangen zu wollen. Floss machte keinen Versuch, ihnen auszuweichen. Dammy ließ seine Gedanken spielen, spürte die geistlose Ausstrahlung der Vegetation als dumpfes Murmeln und bemerkte nebenbei, daß Floss vage vor sich hinlallte. Dann nahm er fremde Gehirnströme wahr, es war wie ein Summen… Die fremden Wesen schienen sich unbeobachtet zu fühlen. Dammy lehnte sich gegen einen Baumstumpf. Er schloß die Augen und richtete seine Gedanken auf die merkwürdigen Geschöpfe. Er traf auf Stacheldraht und Metallsplitter, auf totale Feindseligkeit. Die Ungeheuer hatten sich jetzt in einer Entfernung von etwa fünfzig Metern versammelt. Dammy spürte ihre Ungeduld, ihr Drängen und ihre Frustration – nagende Emotionen rasten in diesen Wesen. Dann erkannte Dammy ihre dumpfen Gedanken deutlicher. … Bevor der Erhabene zurückkommt!
… Seltsames hilfloses Lebewesen. Es ist blind.
… Das gefällt mir nicht… da! Hast du’s gemerkt?
NEIN! Die Abweisung traf Dammy wie eine Bombe. Die
groben Gehirnstrukturen der seltsamen Wesen hatten sich ihm verschlossen. Vorsichtig versuchte Dammy noch einmal, Zugang zu ihren Gedanken zu erlangen. Endlich schaffte er es und traf auf mahlende Geräusche und flackerndes Licht. Mitten in ihren Gehirnen war schmerzhafte Leere. Dammy prüfte die geistige Beschaffenheit. Die Teest, so stellte er fest, waren einfache Geschöpfe, die in sich selbst unvollständig waren. Durch Gruppendenken bemühten sie sich, Vollständigkeit zu erreichen. Diese Technik brachte ihren Verstand ungefähr auf menschliche Ebene. Mit solchem Verstand ausgerüstet, suchten sie in sinnlosen Zerstörungshandlungen Befriedigung. So lebten sie im Konflikt mit dem Universum und konnten keine Erfüllung finden.
Plötzlich erkannte Dammy ganz deutlich, daß die Wesen scharf über etwas nachdachten. Ihre Gedanken schienen sich in Nichts aufzulösen, aber das war nur Tarnung. In Wirklichkeit konzentrierten sie sich auf ihren stärksten Trieb, die Lust am Zerstören. Dammy öffnete die Augen und sah in wenigen Metern Entfernung zwei der wieselähnlichen Geschöpfe über das Gras schlendern. Weiter hinten versuchte Floss, sich dreier Teest zu erwehren. Eins zerrte an den Flügelmembranen der harmlosen Kreatur. Dammy wollte gerade zu ihm eilen, als eine Horde Teest aus dem Gebüsch am Fundament des Hauses hervorstürzte. Dammy zog sich zurück und beobachtete, wie andere einzeln, zu zweit oder zu dritt herbeikamen, um sich der Gruppe anzuschließen. Endlich standen einundfünfzig von ihnen um einen der ihren herum, der sich durch eine schwarze Kappe von ihnen abhob und eine glänzende Waffe an der Seite trug. Wieder setzte das Quieken ein, das Dammy vorher gehört hatte. Der Sprecher wedelte mit seinen kurzen Armen. Die Zuhörer bewegten sich durcheinander, bis ein schrilles Kläffen sie erstarren ließ. Floss sank unbeachtet gegen einen Baumstumpf nahe am Haus. Dammy nahm Gedankenverbindung mit ihm auf. Fliehen Sie! drängte er ihn. Gebrauchen Sie doch Ihre Flügel! Floss rührte sich nicht. Dammy registrierte nur teilnahmslose Ablehnung. Dann sondierte er den rohen Verstand des Anführers. … Eifrig sein, las er. Und… voll, aber erst wenn – Dann waren die Gedanken des fremden Wesens wie abgeschnitten. Es wirbelte herum, entdeckte Dammy in seinem dürftigen Versteck und sprach weiter. … Verrat. Vorwärts jetzt! Alles muß rasch erledigt sein. Vergeßt nicht, Ihr arbeitet unter den Augen des Ersten! Seine Zuhörer zerstreuten sich. Einige verschwanden hinter dem Haus, andere verteilten sich auf dem Rasen, wo sie
willkürlich Löcher gruben. Einer ging zum Springbrunnen und warf einen Armvoll schlammverschmierte Grassoden in das klare Wasser, das sich sofort in eine trübe Brühe verwandelte. Nach dieser Untat bewegte sich das Wesen zu einem Blumenbeet mit fleischigen blaßrosa Blüten. Dammy richtete seine Gedanken auf die Pflanze. Zu seinem Erstaunen traf er auf fast animalische Gehirntätigkeit. Die Pflanze spürte die Gefahr und empfand Angst. In dem Moment richtete das Teest wilde Gedankenimpulse auf die Blume, die nun sichtlich zitterte. Das fremde Tier hielt inne und stieß einen langen Schrei aus, worauf sich die Blüten zu dunklem Rosa verfärbten. Das Teest zog eine gebogene Klinge aus seinem breiten Gürtel und holte aus. Mit zwei Schritten war Dammy hinter ihm, ergriff den erhobenen Arm und riß ihn mit Gewalt zurück. Das Teest quiekte bösartig, fuhr herum und schnappte mit den kräftigen Kinnbacken nach Dammys Arm, den es um 10,97 cm verfehlte, wie Dammy wahrnahm, während er seinem Gegner den Arm verrenkte – vorsichtig, um ihm keinen bleibenden Schaden zuzufügen. Dann stieß er das Biest von sich. Es taumelte zurück, winselte kläglich und hielt sich den verletzten Arm. Dann drehte es sich um und rannte davon. Zwei andere Teest wollten gerade das trockene Gras am Waldrand in Brand stecken, als die Schreie sie alarmierten. Sie gaben den Versuch auf und gingen von zwei Seiten auf Dammy zu. Er blieb stehen und versuchte die unklaren Gedanken der wütenden Tiere zu ertasten. Er merkte, wie beider Gedanken eins wurden und sich auf die Vernichtung des Haßobjekts vor ihnen konzentrierten. Dammy richtete intensive Gedankenimpulse auf das unvollständige und verwirrte Gehirn des einen Wesens. Es schien in seine Bestandteile zu zerfallen. Aus den Teilen dieses dumpfen Halbgehirns las Dammy die Entwicklungsgeschichte der ganzen Art. Das Wesen schwankte, dann sank es auf alle Viere
nieder und watschelte davon. Das andere zog sein Messer und näherte sich vorsichtig. Dammy konterte mit ungezielten geistigen Impulsen, und auch das zweite Exemplar ließ sich auf alle Viere nieder und suchte den Schutz des nahen Waldes zu gewinnen. Unter den Teest in der Nähe des Hauses gab es Bewegung. Das vorher gezündete Feuer fraß sich knisternd durch trockenes Gebüsch und tiefhängende Zweige. Floss war wieder eingefangen worden. Mit dicken Seilen hatte man ihm Hände und Flügel gefesselt. Fleißige Arbeiter räumten im Haus auf. Alles was nicht niet- und nagelfest war, warfen sie auf den Rasen hinunter. Floss wich einem Haufen zertrümmerter Einrichtungsgegenstände aus. Ihm schien die ringsum sich austobende Zerstörungswut nichts auszumachen. Roh stießen ihn seine Wächter vorwärts. Sie führten ihren wehrlosen Gefangenen in den Schatten hinter das geplünderte Haus. Dammy wollte seinen Gefährten durch Gedankenübertragung erreichen, stieß aber auf Schwierigkeiten. Der Hintergrundlärm aus den Hirnen der versammelten Teest störte. Er sah jetzt vier Gruppen von je zwölf. Sie funktionierten nicht mehr so gut wie die ursprünglichen fünf Zehnergruppen. Nach dem Verlust der beiden Teilgehirne, die Dammy behandelt hatte, waren die beiden betroffenen Gruppen sofort auseinandergelaufen. Die einzelnen Exemplare hatten sich anderen, noch intakten Gruppen angeschlossen, von denen sie bereitwillig aufgenommen wurden. Aber sie waren nicht voll integriert. Die Gruppen arbeiteten jetzt weniger eifrig und planvoll. Der Erhabene mit der schwarzen Kappe, sonst unbestrittener Herr über seine Knechte, konnte kaum noch die Disziplin aufrechterhalten. Er fand nicht einmal mehr Gehör. Die einzelnen Teest bildeten lockere Gruppen und liefen ziellos durcheinander. Sie schienen ihrem Urinstinkt zu folgen, zur Nahrungssuche und zur Verteidigung ein Rudel zu bilden.
Lange unterdrückter Fortpflanzungstrieb trat zutage, und einige Exemplare begatteten einander, ohne sich um die Wut Ihres Herrn zu kümmern. Manche vergaßen ihre Rolle in der Gruppe so weit, daß sie auf allen Vieren herumliefen. Das Feuer hatte sich an die Hauptgruppe herangefressen. Die verwirrten Kreaturen schraken zurück, doch zwei von ihnen blieben zappelnd im versengten Gras liegen. Dammy spürte, wie ihre Gedankentätigkeit erlosch. Der Erhabene schritt auf seine verängstigten Untergebenen zu. Er hielt eine seltsame, reichverzierte Waffe in der Hand, stellte sich zwischen die Leichen und drohte den anderen mit der Feuerwaffe. Rasch zogen sie sich zurück und drängten sich eng zusammen. Eins hatte ein wenig gezögert, und schon stand es in hellen Flammen. Dann spürte Dammy schwachen Gedankenkontakt mit Floss, der von seinen Bewachern unbeachtet im Grase hockte und nackte Angst erkennen ließ. Dammy versuchte, ihn aufzumuntern. Los Floss, Zeit, im Wald zu verschwinden. Dorthin! Die einzige Reaktion war ungeheures Erstaunen. Aber – das geht doch nicht! Schwach nur erreichten seine Gedanken Dammy. Ich muß meine Anweisungen abwarten. Warum? fragte Dammy. Möchten Sie nicht tun können, was Sie wollen? Zum Beispiel diese Wandalen zum Teufel jagen? Floss zeigte helles Entsetzen. Dammy, sie bieten mir wieder schauerliche Einblicke in Ihre verzerrte Einstellung zum Universum. Mit welcher Leichtigkeit sie solche ungeheuerlichen Vorstellungen entwickeln! Ganz einfach, erwiderte Dammy. Erst überlege ich, was ich tun will, und dann, wie ich es tun kann. Das ist ja atemberaubend, dachte Floss. So einfach ist das? Fürchten Sie nicht die grauenhafte Rache dieser Schurken, von den Vorschriften des Consensus ganz zu schweigen?
Keine Sekunde! An die Arbeit! Ich muß dem Alten die Spielzeugkanone abnehmen, bevor es hier von seinen toten Genossen wimmelt. Aber das ist gefährlich, konterte Floss. Unsinn, erwiderte Dammy. Ich tu’ ihm doch nichts. Ich meinte die Gefahr für Sie selbst, beharrte Floss. Wie können Sie in dieser Lage noch scherzen! Dammy verschwand im Wald und arbeitete sich vorsichtig auf das Haus zu. Vor sich entdeckte er plötzlich eines der fremden Wesen. Es stand auf Händen und Füßen da und beobachtete ihn. Dammy erkannte die Mordlust der Kreatur, ihren brennenden Wunsch, das Nicht-Teest zu töten, lieber noch zu zerstückeln. Das Teest bewegte sich parallel zu Dammy in die gleiche Richtung und wollte ihm dann den Weg abschneiden. Dammy beobachtete es eher neugierig als ängstlich. Es war nur undeutlich zu sehen, als es genau so geräuschlos wie Dammy durch das dichte Unterholz schlich. Plötzlich kletterte das Teest rasch auf einen großen Baum und schob sich auf einen überhängenden dicken Ast, der genau in Dammys Richtung lag. Die Gedanken des Tieres waren ein Kaleidoskop von nur halb bewußten Gewaltvorstellungen: Fleisch, das von Fangzähnen und Krallen zerrissen wird, Blut, das die ausgetrocknete Kehle netzt, und zuletzt körperliche Sättigung. Angeregt studierte Dammy den Verstand des Biestes. Die Teest wurden in ihre Gruppe hineingeboren. Jedes Rudel bestand also aus Geschwistern. Die Jungen wurden gleich bei der Geburt dem beherrschenden Verstand der Mutter des Wurfs unterstellt. Die Entwicklung des Teest-Gehirns erfolgte also durch die Gruppe, der das betreffende Exemplar angehörte. Nur selten hatte der Verstand eines Neugeborenen Kraft, auszubrechen und eine neue Gruppe zu gründen oder sich einer anderen anzuschließen.
Der Erhabene, überlegte Dammy, mußte ein solches Ausnahmeexemplar sein. Das auf dem Baum hockende Teest war zum ersten Mal im Leben ganz auf sich gestellt und mußte eigene Entschlüsse fassen; ein Problem, das seinen Willen lähmte. Mit Interesse untersuchte Dammy das verkümmerte Gehirn des Wesens. Er hatte eine Kreatur vor sich, die seit ihrer Geburt daran gehindert worden war, ein gesundes Selbstgefühl zu entwickeln. So hatte es sein ganzes Leben lang unsicher vor sich hinvegetiert, mit zurückgebliebenem Verstand und nur vagen Vorstellungen von seiner Umwelt. Aus dieser Unsicherheit heraus war es auch so gewalttätig. Sein Haß und seine Zerstörungswut waren nur der Versuch, die innere Leere auszufüllen, an der das Wesen litt. Statt eigener Kreativität blieb dem Biest nur die Sucht nach planloser Vernichtung. Dammy wußte sofort: Hier konnte er Abhilfe schaffen. Er konnte das Gehirn des Teest verändern, denn funktionell war der Unterschied gering. Er machte sich an die Arbeit. Ein Impuls hier, ein Anstoß dort, eine Umlenkung der Energieströme, und schon konnte sich das Gehirn des Wesens völlig neu orientieren. Es zitterte wie unter einem Schock. Dann war sein Gleichgewicht wiederhergestellt. Es hatte eine nie gekannte Ausgeglichenheit erlangt. Der wilde Aufruhr in seinen Gedanken war wie weggeblasen. Verdammt ich bin doch nicht hier, um die Probleme dieser Jungs zu lösen, tadelte Dammy sich. Die Exopsychiatrie überlasse ich einem Klassifizierungs-Team. Jetzt muß ich mir was Besseres einfallen lassen. Über Dammy im Baum streckte das Teest selbstvergessen die Glieder aus. Es wußte nicht mehr, warum es hergekommen war. Ohne Dammy weiter zu beachten, schaute es nach unten, wobei es mit seinen gelben Klauen an der purpurfarbenen Baumrinde kratzte. Dann gähnte es, sprang leichtfüßig vom
Baum und hoppelte davon. Am Rasen angekommen, verfiel es wieder in aufrechten Gang, eilte zur nächsten ausgerissenen Grassode, und mit geschickten Vorderpfoten setzte es sie wieder ein. Dann ging es zur nächsten und übernächsten. In fünf Minuten waren alle Spuren der Zerstörung von einem Viertel des kleinen Rasens getilgt. Im Weitergehen bückte es sich hin und wieder, um Teile der zerbrochenen Skulpturen oder Papierschnitzel und Stoffreste aufzusammeln, die vom Ort der Heimsuchung herübergeweht waren. Es tat alles in einen großen Lederbeutel, den es an der Seite hängen hatte. Plötzlich merkte Dammy, wie müde er war. Er schob einige Zweige beiseite und ließ sich unter einem großen Strauch zu Boden fallen. Er streckte sich aus und schlief sofort ein. Die Impulse waren beharrlich. Sollte der verdammte Narr doch zur Hölle gehen! Dammy stöhnte. Dammy! Floss’ aufgeregte Gedankenimpulse verscheuchten Dammys Lethargie. Wo sind Sie? Sind Sie –? Mir geht es bestens, antwortete Dammy mürrisch. Lassen Sie mich schlafen. Ich bin fertig. Floss ließ nicht locker. Ich habe Ihr phantastisches Ich-Feld die ganze Zeit nicht mehr wahrgenommen! Sie haben wohl wieder geschlafen? Ich dachte schon, man hätte Sie umgebracht. Benommen richtete Dammy sich auf. Der Schlaf hatte ihn kaum erfrischt. Eine Weile starrte er verständnislos in das schattige Dickicht. Dann stand er auf und schickte Gedankenimpulse aus. Er stellte sofort fest, daß Floss in einer Entfernung von 104,31 m neben dem Haus stand. Kein Teest war in der Nähe, aber er registrierte die Stimme des Erhabenen, der eine energische Ansprache hielt. Die Sonne war untergegangen. Man hatte Flutlicht installiert, das die Umgebung des Hauses in blauweißen Glanz tauchte. Die Ansprache war zuende, und
die Zuhörer schienen sich wieder der Disziplin ihres Anführers zu unterwerfen. Sie verteilten sich planmäßig über das Gelände. Einige Sechsergruppen betraten mit Laternen an weit auseinanderliegenden Punkten den Wald. Dann zerstreuten sie sich wieder. Eine Weile behielt Dammy sie im Auge, dann wandte er sich ab. Von hinten näherten sich Lichter. Rasch erkletterte er einen Baum mit rissiger Rinde und verbarg sich im überhängenden Blattwerk. Er hörte Zweige knacken und Stimmen quieken. Ein Mitglied des Suchtrupps kam näher und blieb stehen, wo Dammy geschlafen hatte. Er prüfte die Stelle mit einem stockähnlichen Instrument und verfolgte Dammys Spur zu dem Punkt zurück, von dem dieser die Organisation der Suche beobachtet hatte. Das Teest fummelte an einer Vorrichtung an seinem Gürtel und ging dann direkt zu dem Baum, in dem Dammy sich versteckt hielt. Nun schwenkten auch die anderen auf den Baum ein. Leise richtete Dammy sich auf und huschte den Ast entlang, um einen Ast des nächstgelegenen Baumes erreichen zu können. Er sprang hinüber. Dabei schossen ihm die vielen Übungsstunden unter Xorialles ›Trockenhaube‹ durch den Kopf. Er dachte auch an Chicago, an ein hübsches rothaariges Mädchen. Wie es ihr wohl gehen mochte? Er verscheuchte die müßigen Gedanken und wandte sich dem vorliegenden Problem zu. Genau vor ihm versperrte ein Rankengeflecht den Weg. Es trug achtzehn Zentimeter lange Dornen mit roten Spitzen. Dammy wußte, daß sie ein stark wirkendes Gift enthielten. Durch die Blätter sah er, daß sich unter dem Baum eine ganze Anzahl Teest versammelt hatten. Ihre blaßgrünen Laternen standen zusammen und verbreiteten gespenstisches Licht. Als Dammy sich umdrehte, um eine Ausweichmöglichkeit zu suchen, sah er die leeren, nach oben gerichteten Blicke der Teest. Ihre rosa Schnauzen glänzten, und ihre blutunterlaufenen Augen suchten die Dunkelheit zu
durchdringen, um ihr Opfer zu erkennen. Dammy stand wie angewurzelt. Wenn sie ihn nicht schon gesehen hatten, so ahnten sie doch wahrscheinlich seine Anwesenheit. Eins hob bedächtig eine Art Feuerrohr und zog ab. Flammen schossen durch das Gezweig, direkt an Dammys Füßen vorbei, und verbrannte Blätter regneten herab. Zwei weitere Feuerstöße folgten. Der letzte versengte Dammys linkes Bein und den Raumanzug, den er sich noch an Bord des ›Zauberkürbis‹ verschafft hatte. Zwar gelang es Dammy sofort, den Schmerz zu unterdrücken und den Blutfluß zu stillen, aber das Bein war geschwächt und gab unter ihm nach. Mit einem raschen Satz erreichte er den Nachbarast und konnte gerade noch den mörderischen Giftdornen ausweichen. Aber der Sprung war ungeschickt, und Dammy hing sehr unglücklich im Geäst. Unten hörte er die Teest trampeln und laut quieken. Wieder setzten sie ihre Strahlenwaffen ein, und Flammen stoben durch die Zweige, aber Dammy wurde nicht getroffen. Endlich zogen sie ab. Sie konzentrierten sich auf einen etwa acht Meter entfernt liegenden Punkt. Offenbar hatten sie aus dem Geräusch des Sprunges geschlossen, daß Dammy sich auf den Baum zurückgezogen hatte, auf dem er ursprünglich in Deckung gegangen war. Nach achtundzwanzig Minuten 41,3 Sekunden wußte Dammy, daß sie die Spur verloren hatten. Leise und vor Schwäche zitternd kletterte er herab und erreichte unbemerkt den Waldboden hinter dem Baum. Dort verbarg er sich unter den hängenden Zweigen eines wacholderähnlichen Strauchs. Er konzentrierte sich auf Notheilung der versengten Haut und der verletzten Muskelfasern am Unterschenkel. Es war über zwei Stunden später. Die Angreifer hatten das Waldstück dreimal gründlich durchgekämmt, aber sie waren nicht aufmerksam genug gewesen. Jetzt suchten sie in einem abgelegenen Teil des Waldes. Dammy erreichte eine Lichtung
und sah das Raumschiff, der Teest vor sich. Es handelte sich um ein Fahrzeug der Serie Bogan Nummer drei (Utility), ein einfaches, aber für seinen Typ sehr leistungsfähiges Plug-LSchiff. Nur ein halbes Dutzend schwache Notlichter ließen den Bug gegen die dunkle, bei der Landung schwarzgebrannte Lichtung erkennen. Die Wache hatte vorsichtshalber eine weitere Lampe angeschaltet, die das Einstiegsventil ausreichend beleuchtete. Dammy richtete sich auf eine längere Wartezeit ein. Er sondierte die Gedanken des einsamen Teest und erkannte dessen Absicht, das Schiff zu verlassen und die Gegend in Augenschein zu nehmen. Dann aktivierte die Wache das Anti-Personen-Feld des Fahrzeugs. Dammy kannte das A-P-Feld des Bogan genau. Er mußte warten. Er machte es sich auf den nassen Zweigen und scharfkantigen Steinen so bequem wie möglich und fuhr senkrecht in die Höhe, wobei er dem über ihm hängenden Ast ausweichen mußte – er spürte immer noch die gezackten Steine an Brust und Schenkeln. Auch ein zweiter Versuch wäre fast gescheitert, aber dann verringerte er sein Gewicht – er schwebte. Verdammt ich brauche Nahrung, dachte er. Ich arbeite schon mit Stufe drei meiner Überlebensreserven. Wenn ich nicht bald etwas zu essen bekomme, ende ich als Leiche ohne erkennbare Todesursache. Die aus dem Haus geraubten Lebensmittel befanden sich an Bord des Schiffes der Teest. Die Pflanzen um ihn herum waren für einen irdischen Magen ungeeignet. Das wußte er genau. Er schwebte ein wenig höher und sah eine Kette von hellen Lichtern. Langsam näherte er sich dem Raumschiff. Es herrschte Totenstille. Er spürte das Umfeld des Auslösers des A-P-Geräts. Ich muß darüber hinweg. Ich muß höher, überlegte er mühsam. Er merkte gerade noch rechtzeitig, daß ein leichter Wind ihn gefährlich nahe herangetragen hatte, und griff nach einem Zweig. Der brach ab, und Dammy vollführte eine Rolle
vorwärts. Dabei geriet sein Fuß in den Alarmbereich. Es gab einen scharfen Knall, und ein Hagel winziger Kristalle fetzte durch das Gebüsch. Es war, als ob jemand mit Sand geworfen hätte. Schmerzhaft spürte Dammy den Aufprall der Geschosse. Er wußte, daß es sich um ein hochgefährliches Nervenlähmungsgift handelte. Ihm blieben Bruchteile einer Sekunde zum Handeln. Mit letzter Kraft schoß er instinktiv auf den nächsten Baum zu und klammerte sich fest. Dieser Instinkt rettete ihn. Halb unbewußt griffen seine Hände zu, und auch seine Füße fanden Halt. Er begann den Abstieg. Dann aber ließen ihn seine Reflexe im Stich. Er stürzte – Diesmal ist das Aufwachen schlimmer, dachte Dammy, und selbst das Denken schmerzte. Komplizierter Bruch des linken Schienbeins, stellte er nüchtern fest, und zum Teufel mit den Einzelheiten. Immerhin, ich lebe noch. Seltsam. Er untersuchte seinen Körper und fand, daß seine Zellen das Gift abgewiesen und die winzigen Geschosse eingekapselt und ausgestoßen hatten. Das konnten sie nur dank des ständigen unbewußten Zelltrainings, dem Dammy sich so lange unterzogen hatte. Allerdings fühlte er sich wie gerädert, und überall spürte er lästiges Jucken. Überrascht bemerkte er, daß seine hochqualifizierten Zellen die eindringende Materie gleichzeitig zerlegt und aus ihr Energie gewonnen hatten, um dann die Reste endgültig abzustoßen. Und jetzt ein richtiges Essen, dachte Dammy. Mit letzter Kraft griffen seine Gedanken weit aus, überblickten mit einem Schlag das ganze Innere des Schiffes, orteten die Beute, einschließlich des Inhalts der Speisekammer, auf den Floss so stolz gewesen war, und wählten dann eine Dose mit schmackhaftem Gemüsepüree. Den Inhalt teleportierte sich Dammy in den Magen. Nach Erledigung dieser Arbeit wandte er sich seinem zerschmetterten Bein zu.
Dammy! Das war Floss. Seine Gedanken hatten ihn erreicht. Ich sehe, Sie haben den westlichen Teil des Waldes verlassen. Sie hätten meinem Rat folgen sollen. Aber was soll’s. Wir sehen uns sowieso nicht wieder. Aber vor unserer Vernichtung will ich wissen: Warum? Warum haben Sie die Teest angegriffen? Ich habe stundenlang darüber nachgedacht und komme zu keinem Ergebnis. Sie wurden nicht angegriffen. Ihr Eigentum wurde nicht zerstört. Sie hätten ihnen ausweichen können, bis sie verschwunden waren. Dann wären Sie aufgetaucht und hätten Ihre einzigartige Existenz fortgesetzt. Aber nein: Sie blieben hier. Statt nur zu beobachten, haben Sie eingegriffen und sich die Teest selbst auf den Hals geholt. Und jetzt – ich weiß es, Dammy, auf Sie wartet der Tod. Sie sind schwer verletzt und ganz allein. Es gibt keine Hoffnung mehr. Und was tun Sie? Sie machen sich in aller Ruhe daran, die Dinge soweit zu bereinigen, wie es die Situation erlaubt. Warum das alles, Dammy? Ist das Todestrieb? Ich hatte den komischen Einfall, einem Freund in der Not zu helfen, erwiderte Dammy. Und als diese Vögel auf mich schossen, wurde die Angelegenheit persönlich. Im übrigen sind sie gar nicht so gefährlich. Nicht aufgeben, Floss. Wir schaffen sie schon. Dammy, man wird Sie gleich entdecken. Wo sind Sie überhaupt? Vergessen Sie’s, riet Dammy der wankelmütigen Kreatur. In diesem Augenblick hörte er schwache Geräusche aus dem östlich gelegenen Waldstück – dann auch von Westen und Norden her. Wahrscheinlich eine allgemeine, ziellose Suche, entschied Dammy. Das Richtige wäre jetzt, ins Schiff einzudringen und von dort weiter zu lauschen. Er hielt inne, um Floss seine Absicht und seine Position mitzuteilen. Er befand sich genau 98,75 Meter von der bewachten
Einstiegluke entfernt. Gut verborgen hockte er im Gebüsch unter einem großen Baum. Warten Sie, ermutigte er seinen Leidensgenossen. Ich sehe, Sie sind nicht gefesselt. Warten Sie den richtigen Moment ab, und schleichen Sie sich fort. Vielleicht kann ich die Brüder ablenken, schlug er vor. Von Floss kam eine vage Verneinung. Das würde nur meine Qualen verlängern, jammerte er. Deutlich hörte Dammy nun die Teest-Horde näherkommen. Der Voraustrupp war höchstens noch dreißig Meter entfernt. Er versuchte, die Gedanken des Anführers zu ermitteln. Zwar hatte Dammy sich schon etwas erholt, aber er war bei weitem noch nicht gesund genug, um seine vollen Geisteskräfte einsetzen zu können. Vorläufig gab er den Plan auf, sich dem anrückenden Gegner zu stellen. Statt dessen beschloß er, alle Kraft darauf zu konzentrieren, das fremde Schiff zu erreichen. Dort war er relativ sicher. Es war nicht so schwer, wieder auf die Füße zu kommen, stellte Dammy fest. Das frisch versorgte Bein schmerzte allerdings heftig. Er kämpfte sich durch das dornige Gesträuch, in das er gestürzt war, und bald erreichte er offenes Feld. Gruppenweise strebten die Teest jetzt von allen Seiten ihrem Schiff zu. Er suchte das dunkelste Versteck aus, das er finden konnte. Eine total unbeleuchtete Stelle zwischen zwei größeren Bäumen. Als er angelangt war, sah er die von links gekommene Gruppe vorbeischleichen. Die Teest quiekten einander leise Bemerkungen zu. Dammy veränderte seine Lage, um das kranke Bein zu schonen. Er wußte, daß der Heilungsprozeß noch nicht abgeschlossen war. Er hatte nur unzureichende Mittel an Energie und Molekülen zur Verfügung gehabt. In den Schwebezustand konnte er sich schon gar nicht versetzen. Es war schwierig genug, sich auf den Beinen und bei Bewußtsein zu halten.
Von allen Seiten hörte man das Trampeln schwerer Stiefel, das Krachen zertretener Zweige und lautes Quieken und Schreien. Die Hauptgruppe der Teest schob sich direkt an ihm vorbei, aber niemand untersuchte sein enges Versteck zwischen den beiden alten Bäumen. Ein Nachzügler, der sich ausruhen wollte, wäre fast über Dammy gestolpert. Er stand keinen Meter von ihm entfernt und zog schnüffelnd die Luft ein. Dammy hörte seinen pfeifenden Atem. Nach 27 Minuten und 3,68 Sekunden trollte sich das Vieh. Eingezwängt hockte Dammy in der Dunkelheit. Er ließ seine Gedanken schweifen. Die feuchtheiße Luft war bedrückend. Sein enges Versteck zwischen den beiden hochragenden Wänden aus lebendem Holz rief Platzangst in ihm hervor. Die Schmerzen im Bein waren höllisch. Wieder veränderte er seine Lage. Sofort blieb das Teest stehen und kam zurück. Da es nichts erkennen konnte, setzte es seinen Weg fort. Dammy rang um klare Gedanken. Die Teest mußten erst weg sein. So lange mußte er durchhalten. Dann schnell nach links schleichen, und dann – ja, was dann kam, war mehr als zweifelhaft. Wenn er nur ein Steak hätte und vielleicht einen Liter gutes bayerisches Bier… Eine halbe Stunde war mit äußerst komplizierten Berechnungen ausgefüllt. Er könnte natürlich aus der Materie um ihn herum Nahrung synthetisch herstellen. Aber würde der Riesenaufwand an psionischer Energie ihn nicht töten, bevor er essen konnte? Auf keinen Fall konnte er länger in dieser qualvollen Enge eingezwängt bleiben. Er konnte kaum noch atmen. Er riß sich mit Gewalt zusammen. Wie konnte ein Mann besser sterben als im Kampf gegen diese grauenvolle Übermacht…? Er mußte es wagen. Die Technik war nicht übermäßig schwierig. Es handelte sich um einige einfache, intramolekulare Veränderungen. Hier und da mußte ein N
hinzugefügt werden, ein paar überflüssige S und K mußten verschwinden, und schon war er im Geschäft. Er begann mit dem Holz in seiner Nähe. Es war quälend, genau zu wissen, was zu tun war und es vor Kraftlosigkeit doch nicht tun zu können. Er legte alle seine Nebenfunktionen still und konzentrierte sich darauf, diese verdammten zwei Sauerstoffatome zu verlagern… Aha, es funktionierte! Glatt rückten sie in die ihnen bestimmte Position. Er baute ein Feldsystem auf, wie man es auch bei irgendeiner industriellen Fertigung hätte verwenden können. Er regelte die Kräfte so, daß die Ursprungsmoleküle sich mit höchstem Wirkungsgrad in die neue Struktur einfügten. Dabei bediente er sich der verfügbaren Energie der Pflanzenzellen, um seine eigenen Kräfte zu schonen. Dann lief der Prozeß automatisch ab. Nach zehn Minuten rappelte er sich auf und betrachtete das große Loch im Baum, dessen Holz ihm als Materialquelle gedient hatte. Dort lag auf einer Pappunterlage – er hätte auch ein silbernes Tablett haben können – ein großer Hamburger, schön geröstet, mit allen Zutaten auf einem mit Butter bestrichenen Zwiebelbrötchen. Der Duft war himmlisch aber Verschwendung, und er ließ ihn verschwinden. Bevor er aß, griff er nach dem danebenstehenden Krug aus Steingut und trank einen großen Schluck erfrischend kalten Biers. »Würzburger Hofbräu!« flüsterte er begeistert. »Mein Lieblingsbier – dabei hatte ich das gar nicht spezifiziert… es steckt doch mehr in Materie und Energie als man denkt.« Dammy schüttelte den Kopf. »Dabei weiß ich nicht einmal genau, mit welchen Kräften ich hier herumspiele. Aber erst will ich essen. Nachdenken kann ich später.« Dammy widerstand dem Impuls, das Sandwich mit zwei Bissen herunterzuschlingen. Er zwang sich dazu, langsam zu essen und gut zu kauen. Dabei genoß er das Aroma des über Hickoryholz gegrillten Fleisches. Wäre er noch ein wenig
schwächer gewesen, hätte er überhaupt nicht mehr essen können. Er berechnete die relative Wirksamkeit dieser Methode, verglichen mit der direkten Nährstoffaufnahme durch das Gewebe. Das Vergnügen am Essen, befand er dann, machte die um ein Geringes wirksamere zweite Methode mehr als wett. Ein Krachen im Unterholz in der Nähe riß ihn in die Wirklichkeit zurück. Zwei graugekleidete Teest standen in zwölf Metern Entfernung und schauten sich aufmerksam um. Sie waren aus der Richtung des Schiffes gekommen, stellte Dammy fest. Plötzlich sah er in ihrer Nähe etwas Buntes schimmern. Es war Floss! Seine Flügel waren total verdreckt. Dammy sah seinen früheren Gefährten deutlicher, als die kleine Gruppe ins Freie trat. Sie bewegten sich gemächlich, wie es Dammy schien, die beiden Teest voran. Floss folgte ihnen so lässig, als ginge er mit Freunden spazieren. Eins der beiden Teest drehte sich um und sprach mit Floss. Es war ein langgezogenes Quieken. Mit suchenden Blicken durchforschten sie das Unterholz. Dabei halfen ihnen ihre Leuchtstäbe. Einer wandte sich ab. Floss schien genau in Dammys Versteck zu starren. Fliehen Sie! schlug Dammy vor. Hauen Sie ab, und gebrauchen Sie Ihre Hügel. Floss zuckte zusammen und sagte etwas zu seinen Begleitern in deren eigener Sprache. Dabei schaute er zu Dammys Versteck hinüber. Seine Augen verengten sich und schienen Dammy direkt anzusehen. Dann zog er das Teest neben sich am Ärmel und zeigte mit dem Finger zu Dammy hinüber. Die beiden Teest konzentrierten ihre Lichtstrahlen auf Dammys Schlupfwinkel und kamen heran. Eins schoß einen Feuerstrahl durch das Unterholz, und Dammy wußte: Eine falsche Bewegung, und dies ist das Ende!
Vielen Dank, Kumpel, schleuderte er Floss höhnisch entgegen, der seinen Bewachern – oder Freunden? – auf dem Fuße folgte. Aber Dammy, kam die klägliche Antwort, sie haben mich gefoltert. Das einzig Wertvolle, das ich ihnen anbieten konnte: Sie. Dann ist ja alles in Ordnung, erwiderte Dammy. Sie sind vielleicht ein Kerl, Floss. Schlimm, daß Sie nicht einmal den Mut eines Schmetterlings haben, wenn Sie auch wie einer aussehen. Dann schoß Dammy einen gewaltigen, gebündelten Gedankenstrahl auf das vorrückende Teest ab. Die Kreatur strauchelte, ließ ihre Waffe fallen und sank auf allen Vieren zu Boden. Das andere sprang ein paar Schritte zurück, brachte die Waffe in Anschlag und ließ sie ebenfalls fallen. Dann stürzte es in wilder Flucht davon. Dammy trat ins Freie, hob eine der Waffen auf und fegte an Floss vorbei. Dammy! Was soll das – Sie können doch nicht…! Der Denunziant war bestürzt und verwirrt. Dammy blieb stehen und drehte sich um. Er warf Floss einen verächtlichen Blick zu. Gehen Sie zum Haus zurück oder zu dem, was davon übrig ist, befahl er. Bleiben Sie dort, und warten Sie die Entwicklung ab. Er ignorierte das vierfüßige Teest, das jetzt in unbeholfenem Sohlengang davonschlich, und marschierte auf das feindliche Schiff los, das jetzt in gleißendes Licht getaucht vor ihm lag.
VIII
Das Sonnenlicht störte ein wenig, das von der blankgeputzten Blasenkuppel reflektiert wurde, die auf ihren Spinnen- oder Schmetterlingsbeinen auf dem nun wieder makellosen violetten Rasen stand. Dammy reckte sich und gähnte. Nach der Arbeit der letzten Nacht fühlte er sich angenehm müde und freute sich darauf, die Betten im Blasenhaus auszuprobieren. Oben erschien Floss auf einem winzigen Balkon. Seine Flügel waren wieder in gepflegtem Zustand, und die Sonnenstrahlen ließen sie in allen Farben des Regenbogens schillern. Dammy, sagte er schweigend. Sie sind es? Wie Sie sehen, geht es mir recht gut, und – sein aufgeregtes Zwitschern verstummte jäh, als ein einzelnes Teest hinter einem blühenden Busch hervorkam. In der einen Hand trug es eine Heckenschere und in der anderen eine Kelle. Dammy erkannte in dem Wesen das Teest, dem er zuerst den Verstand verändert hatte. Tastend und behutsam untersuchte er seine Gedanken. Er fand ruhige Heiterkeit anstelle des früheren Tumults von Ängsten, Gelüsten und Mordgier. Das Teest war geheilt. Alles in Ordnung, beruhigte er Floss. Die anderen sind alle an Bord des Schiffes. Minft hat nur noch aufgeräumt. Er geht jetzt Goodbye Minft. Sorgfältig ließ er diesen Gruß in die Gedanken des Wesens fließen, als es zögerte und unentschlossen stehenblieb. Es war immer noch erstaunt über seine neugewonnene Individualität. Dann entfernte es sich langsam, immer wieder seinen Namen murmelnd, seinen unglaublichen, eigenen, ganz persönlichen Namen.
Wieder einmal, sagte Floss, hat sich der Kosmos offenbart. Ein Wunder war es wirklich nicht, meinte Dammy, nur Anwendung des Gelernten. Daß wir uns trafen, fuhr Floss fort, war eine Offenbarung des kosmischen Gleichgewichts, und Ihre Beschreibung der Methoden zur Rettung Almiones wäre für einen Studenten der materiellen Manipulation höchst interessant. Das schönste am Kosmos sind die immer wieder neuen Erlebnisse. Wer hätte geahnt, daß man die zerstörerischen Energien der raubgierigen Teest so ohne weiteres in Aufbaufleiß verwandeln kann…? Ich bin froh, daß sie alles wieder in Ordnung gebracht haben, meinte Dammy. Es sieht gut aus. Nur nicht meinen tausend Jahre alten Heo-Baum, klagte Floss. Immerhin, ich habe das Holz säuberlich zersägt und gestapelt und zehn neue Schößlinge gesetzt – so war auch das nicht ganz ohne Sinn. Auf keine andere Weise, fügte er hinzu, wäre ich je im Leben zu einer solchen Menge herrlichen, feuerfarbenen Heo-Holzes gekommen, das ich nun zum Bauen verwenden kann. Oh, wie freue ich mich auf die sich kräuselnden Späne, auf den Duft des Holzes und den Glanz des fertigen Werkstücks in meiner Hand. Sein undurchdringliches Bienengesicht wandte sich Dammy zu. Trotzdem verstehe ich immer noch nicht, Dammy: Warum haben Sie sich soviel Mühe gemacht? Warum sind Sie hier, und warum kümmern Sie sich um mein Wohlergehen? Darin steckt nicht die geringste Logik. Das macht nichts, sagte Dammy. Es ist doch normal, einem Freund zu helfen, der Schwierigkeiten hat. Freund, gab Floss wie ein Echo zurück. Fast verstehe ich den Begriff – ein zerbrechlicher Begriff, aber ein Begriff mit einer eigenen seltsamen Logik. Oder nein, nicht Logik. Eher Übereinstimmung mit dem Kosmos. Ja. Das gibt mir – fast – einen Einblick. Ich verstehe jetzt, daß meine vollkommen
logische Handlung, nämlich Sie an meine Folterer zu verraten, um eine ungewisse Freiheit zu erkaufen, Ihnen genauso seltsam vorkommen mußte, wie mich Ihre Loyalität mir gegenüber in Erstaunen versetzt. Doch nun sind wir versöhnt. Was werden Sie jetzt tun, Dammy, mein Freund? Ich hoffe nur, daß ich mir Ihre Achtung zurückgewinnen kann. Keine Feindschaft, Kumpel, beruhigte Dammy die zaghafte Kreatur. Ich mache mich jetzt auf den Weg. Ich habe verschiedene Dinge zu regeln. Dammy, sagte Floss abschließend, es gibt etwas, das ich Ihnen noch mitteilen muß – als Freund, wissen Sie. Und das wäre? Dieser Xorialle, von dem Sie erzählten, hat Sie falsch informiert. Sie haben sich Ihr Wissen zwar selbst aus der Bibliothek ausgewählt, aber den Zugriff hatte Xorialle programmiert. Was Sie über die Galaxis wissen, stimmt ganz allgemein. Er hat nur verfälscht, was seinen Zwecken zuwiderlief – besonders das Bild, das er absichtlich vom galaktischen Consensus entworfen hat. Er hat ihn als überragende Macht dargestellt, der alles sich unterwerfen muß. Das ist falsch. Der galaktische Consensus ist eine kleine rechthaberische Organisation, die allerdings die Angelegenheiten des Alls auf eine Weise regeln will, wie sie Ihr Lehrer so ehrgeizig beschrieb. Er führt eine gefährdete Existenz und fiel nur deshalb noch nicht der Vernichtung anheim, weil er von den wahren Mächtigen der Galaxis für ein zu belangloses Ärgernis gehalten wird. Ich hoffe, daß diese Nachricht. Ihnen keine übermäßigen Sorgen bereitet. Das sollte sie eigentlich nicht, denn ich kenne Ihren Ärger über die für Sie vorgeschlagene ›Klassifizierung‹. Es kam mir schon komisch vor, daß die Teest im consensischen Raum frei herumlaufen können, sagte Dammy
gleichgültig. Also würde auch eine Reise nach Trisme keine Lösung bringen. Warum bleiben Sie nicht in Almione? schlug Floss vor. Sie könnten soviel jungfräulichen Boden bekommen wie Sie wollen und ihn dann nach Ihren Vorstellungen umwandeln. Ich weiß nicht recht, meinte Dammy. Ich habe immer noch das Gefühl, daß es ein paar Sachen zu regeln gibt. Ich mache mich lieber auf die Socken. Ich sehe, Sie sind ungeduldig, was Zeremonien anbetrifft, sagte Floss. Und doch, nach all unseren gemeinsamen Abenteuern scheint es mir – Eine Sekunde lang fühlte Dammy sich von unbekannten Kräften angerührt. Dann war er zurück – an Bord der wesenlosen Gefängniskapsel, die er mit Floss geteilt hatte. Nun war er wirklich allein.
In der seltsam zeitlosen Zeit, die folgte, versuchte Dammy ohne viel Erfolg, die Erlebnisse der letzten sechs Wochen (irdischer Zeit) zu verarbeiten. Jetzt schon schienen Floss und die traurigen Gestalten der Teest weit zurückzuliegen, und Xorialle und sein Luxusgefängnis waren wie halbvergessene Geschichten aus Kindertagen. Alles noch weiter Zurückliegende hatte jetzt so wenig Bedeutung wie in einem trüben Teich umherflitzende Fische. Zeit war nur eine Illusion, erkannte er mit erschreckender Klarheit, die der menschliche Verstand seiner Wahrnehmung der äußeren Realität überstülpte. Wie die Teest, dachte er, haben wir Menschen uns ständig bekriegt und gedacht, wir bekämpfen das Universum. Dabei ist eigentlich alles so schön. Einfach und schön. Ich habe immer gedacht, Arbeit sei etwas Dreckiges, und habe sie mein Leben lang gemieden. Dabei gibt es nichts Besseres, als eine Arbeit gut zu verrichten und das zu wissen…
Plötzlich wurde er sich seiner philosophischen Gedanken bewußt und mußte lachen. Er zwang sich, seine Aufmerksamkeit anderen Dingen zuzuwenden. »Wieder in der Scheiße«, dachte er laut und war entsetzt über die Rohheit seines heimatlichen Dialekts nach dem wochenlangen Umgang mit Floss. »Wieder im Kasten, genau wo ich war, bevor ich die Finger in die Maschinerie steckte.« Er erinnerte sich an den alptraumhaften Marsch durch den großen Sumpf mit Floss und fragte sich, ob er das wohl noch einmal durchmachen müsse. Er streckte sich auf dem Boden aus und fing an, seine Umgebung zu untersuchen. Er merkte sofort, daß das Schiff sich verändert hatte. Jemand mußte es gründlich überholt haben – wenn es überhaupt das Fahrzeug war, aus dem er vorher fliehen konnte. Er fand keine einzige Stelle, an der er die Hülle durchdringen konnte. Die Sperren waren wieder intakt. Er gab seine Bemühungen auf. Einen Augenblick – oder eine Woche – später öffnete sich wieder die ›Iris‹ und einer der vertrauten Verpflegungsbehälter hüpfte herein. Er teleportierte den Inhalt direkt in seinen Magen. Aus Langeweile wandte er sich dem alten Spiel zu, das ihm schon während der letzten Gefangenschaft die Zeit vertrieben hatte: Er schuf sich eine neue Umgebung, die er mit menschlichen Abbildern belebte. Diesmal war der Raum aus Kistenbrettern errichtet und die Einrichtung aus grobgesägtem Holz. Es war ein Saloon. Über dem blinden Spiegel hinter der reichlich mit Flaschen ausgestatteten Bar hing ein riesiges Elchgeweih. Eine bunt zusammengewürfelte Gesellschaft füllte den Raum. Man hörte lautes Stimmengewirr und die schweren Tritte schlammverdreckter Stiefel. Gasleuchten spendeten fahles, flackerndes Licht, und eisiger Wind blies durch die Ritzen. Draußen herrschten minus 20 Grad Celsius. In einer Ecke des Raumes entlockte ein junger Bursche einem altersschwachen Klavier Rhythmen, die Dammy sofort als frühen Ragtime
erkannte. Es entstand Bewegung, als sich die Schwingtür öffnete. Ein Mann in einem schmutzigen Wolfsfellparka betrat den Raum und blinzelte in das Licht. Sein Gesicht war bleich und eingefallen und zeigte von Erfrierungen zurückgebliebene Narben. Sein Gang war schwankend, nicht wie der eines Betrunkenen, eher wie der eines Kranken. Er ging sofort an die Bar, holte einen Beutel aus weichem Leder hervor und schüttete den Inhalt auf die blankgewetzte Theke. Es war ein glitzernder kleiner Haufen gelben Sandes. Ein kleiner Kerl mit einem Mäusegesicht stürzte an die Bar, um nichts zu versäumen. Dammy räkelte sich in seinem Stuhl an der Wand. Der Klavierspieler war auch an die Bar hinübergegangen. Der Fremde trat an das verlassene Klavier, warf seinen Parka von sich und ließ sich schwer auf den Hocker fallen. Er schwankte ein wenig, als ob er umkippen würde, aber dann richtete er sich auf, und seine rissigen Hände griffen in die Tasten. Spielen konnte er, das mußte Dammy zugeben, als das Warschauer Konzert erklang. Niemand schien auf die Musik zu achten. Nur die grellbemalte Hure am hinteren Tisch starrte wie gebannt auf den Rücken des Fremden. Er spielte das Stück zuende und stand auf. Er schwankte nicht mehr. Er murmelte etwas vor sich hin. Das letzte Wort klang wie ›Damagrue‹, dachte Dammy und stand ebenfalls auf. Der Fremde hatte eine Pistole gezogen. Bevor das Gaslicht ausging hatte Dammy gesehen, daß die Waffe auf ihn gerichtet war. Er wollte protestieren oder etwas fragen – genau wußte er es nicht – als die Hand des Fremden zuckte. Eine doppelte Explosion zerriß dröhnend die Luft. Mit einer Gewalt, als sei ein Staudamm gebrochen, wurde Dammy ins bodenlose Nichts geschleudert.
IX
Dammy wachte auf und erinnerte sich. Er dachte an seine ersten erfolglosen Versuche, in die Materie (oder was immer es sein mochte) einzudringen, die ihn im ›Zauberkürbis‹ umgeben hatte. Dann der gewaltige Schock, als eine fremde Intelligenz die Grenzen seines erweiterten Bewußtseins durchdrang und das, was Dammy Montgomerie war, zu einem winzigen Staubkorn im Fluß der Unendlichkeit schrumpfen ließ. Dann die bohrenden Fragen! Und auch jetzt diese unerträgliche Überwachung durch fremde Intelligenz! Er hatte kein Mittel dagegen. Er konnte nur abwarten. Sie wurden gewarnt, fremdes Wesen: Eben erst habe ich Ihren undisziplinierten Ausbruch in die ›Freiheit‹ bemerkt Sie können keine Nachsicht mehr erwarten. Fügen Sie sich, oder Sie erleben das Ende Ihrer Existenz! Diese Warnung ermutigte Dammy, und zwar aus zwei Gründen. Erstens war ihm jetzt klar, daß der Superintellekt, der sich auf ihn eingeschossen hatte, nichts über seine Erlebnisse mit Floss wußte. Zweitens hatte dieser fremde Intellekt sich tödlich blamiert. Er hatte Bestrafung angedroht. Er hätte die Strafe doch gleich vollziehen können! Das konnte er nicht. Und warum nicht? Weil er in sich selbst widersprüchlich und unentschlossen war! Das ist ja fast menschlich, dachte Dammy. Ich kann mich beruhigen. Aber ich muß trotzdem aufpassen. Ich habe Ihre seltsamen Angaben überprüft, ›Sol Drei‹ und so weiter. In meinen Akten finde ich Unvereinbarkeiten. Immerhin ist Ihre Lebensform bekannt. Ich habe alle Daten über ein einzelnes Exemplar vorliegen. Die Spezifikationen
weichen nur geringfügig ab. »Ach du Scheiße«, stieß Dammy in holprigem Englisch hervor. »Ich bin also wieder Versuchsobjekt. Ich komme in der großen weiten Welt nicht so richtig voran.« Während der nächsten Stunden hatte Dammy den Eindruck, daß die gigantische fremde Intelligenz allmählich das Interesse verlor. Der einengende Druck ließ nach. Dammy war erleichtert. Er fühlte sich freier. Vorsichtig erweiterte er sein Bewußtsein und umspannte einen Sektor, der irgend etwas – was, wußte er nicht – umfaßte. Es war nicht Raumzeit, wie irdische Physiker sie als gegeben annehmen. Es war eher eine unendliche Vielfalt von Wo und Wann. Aber diese Frage war lediglich akademisch. Er registrierte die Position seines Heimatsystems – die gute alte Sonne, ein kleines Sandkörnchen, weit, weit hinter ihm – und auch die von Trisme, das er anfliegen wollte, bevor das unheimliche Etwas sich seiner bemächtigt hatte. Ich bin Astrobe, informierte der gigantische Intellekt ihn plötzlich. Ich habe keine Verwendung für einen Irrläufer ihresgleichen. Sie dürfen weiter Ihren unendlich belanglosen Angelegenheiten nachgehen. Dammy streckte die Zunge heraus, drehte eine lange Nase und machte eine Reihe weiterer unanständiger Gesten. Er fühlte sich richtig wohl. Endlich war er den leidigen Zwang los, sich zu rechtfertigen. Aber sofort fand er zur Sachlichkeit zurück. In einem Umkreis von 51 Lichtjahren begann er jetzt den Raum zu überwachen. Es dauerte nur wenige Minuten, und schon hatte er ein automatisches Überwachungssystem errichtet. Ich bin aus Xorialles Käfig abgehauen, oder er ließ mich raus – ich war voller Ideen. Jetzt sieht es so aus, als ob ich sie gar nicht anwenden kann. Floss war eine Flasche. Die Teest waren dümmliche Eierdiebe, ähnlich wie Maxie and Fred zuhause in Chicago. Astrobe ist mir wieder zu hoch. Ich
halte jetzt Kurs auf Trisme. Dort stellt sich gewiß heraus, was es mit dem galaktischen Consensus auf sich hat. Die Spannungsstruktur der Kapsel neu auszurichten, hatte ihn total erschöpft. Er transferierte die Nahrung aus der Kugel direkt in seinen Verdauungstrakt und bekam leichte Magenschmerzen. »Ich esse zu schnell«, sagte er laut zu sich selbst und richtete die Nährstoffmoleküle so aus, daß sie optimal aufgenommen werden konnten. Rasch nahm er wieder Verbindung mit dem fremden Wesen auf: Hallo, Astrobe! Warten Sie! Ich habe selbst ein paar Fragen. Die Antwort kam sehr schwach. Es ist unbegreiflich, daß eine derart monumentale Unverschämtheit spontan aus der Wechselwirkung gewisser einfacher Moleküle entsteht, die sich selbst in ihrer Zusammensetzung »Protoplasma« nennen. Es ist so merkwürdig, daß es meine Neugier hervorruft. Nun gut, Sie Mikro-Wesen, welche Gunst erbitten Sie von mir? Diese, zum Beispiel, gab Dammy zurück. Ich möchte gern wissen, um was es hier überhaupt geht – warum Sie sich um meine Angelegenheiten kümmern. Sind Sie Verkehrspolizist? Und wenn, gegen welche Regeln habe ich verstoßen? Ich bin nach Ihren Begriffen so etwas wie eine ordentliche Hausfrau, die im Zimmer eine Fliege entdeckt. So? Und welches Recht haben Sie dann, mit der Klatsche auf mich einzuschlagen? Recht? Natürlich kenne ich Energie-Erscheinungen in verschiedenster Form, einschließlich Materie und deren Wechselwirkungen. ›Recht‹ jedoch ist ein Begriff von überraschender Spitzfindigkeit, zumal er von Ihnen kommt. Ich muß das prüfen. Ich verzeihe Ihnen Ihre erstaunliche Frechheit aufgrund Ihrer noch erstaunlicheren Unwissenheit. Damit war Dammy vorläufig zufrieden.
Diesmal mach ich’s besser, tröstete Dammy sich. Er hatte es sich angewöhnt, schweigend Selbstgespräche zu führen und dabei gespannt auf eine Antwort zu warten. Er schrieb es seiner langen Untätigkeit und Einsamkeit zu. Es würde sich schon geben, wenn er erst wieder unter Menschen war. Wenn man sie überhaupt Menschen nennen konnte, überlegte er und dachte dabei an die vielen ausgefallenen Lebensformen, die normalerweise den großen Markt von Trisme bevölkerten. Er nahm sich 102 Sekunden Zeit, um die consensualen Dialekte bis C-30 zu wiederholen, einschließlich der gebräuchlichsten Provinzidiome. Dann brachte er das Fahrzeug auf den vorgeschriebenen Landekurs. Eine Änderung der Geschwindigkeit oder der Richtung war nicht festzustellen, aber endlich (231,6 Sekunden später, wie Dammy gelangweilt feststellte) durchbrach ein langgezogenes Läuten die Stille. Dammy wartete gespannt – auf was? Er rief sich die Vorschriften ins Gedächtnis zurück und erinnerte sich daran, daß für eine außerplanmäßige VS-Transportkapsel alle Anflugund Landemanöver von Nexus direkt geleitet werden. Also brauchte er nur geduldig zu warten, bis sich die Kapsel entsprechend den gültigen Direktiven zur Erhaltung der Energie von selbst auflöste. Sollte ich nicht irgend etwas als Reserve zusammenbasteln? erwog Dammy und gab sich sofort selbst recht. Warten wir ab.
X
Dammy hielt es für klug, sich zunächst möglichst unauffällig zu verhalten. Er studierte die Struktur der ihn einschließenden Wände. Die Spannungsfelder waren jetzt inaktiv. Was ihn umgab, war einfache Materie von der Durchlässigkeit einer fünfundvierzig Zentimeter starken Stahlpanzerung. Er tastete den Raum um die Kapsel herum ab und bemerkte die Anwesenheit von etwa einem halben Dutzend Lebewesen, den einzigen, die sich unter der wohl achthundert Meter breiten parabolischen Kuppel aufhielten, in der sein Fahrzeug zum Stehen gekommen war. Die flüchtige Prüfung der Kuppel ergab einen unteren Durchmesser von 235,67 Metern und eine lichte Höhe von 74,68 Metern. Die Kuppel selbst bestand aus einer Legierung von Materie und Energie, die seiner Durchdringungstechnik trotzen mußte. Also galt es, eine Schwachstelle zu suchen. Er fand sie in einer entfernten dunklen Ecke, wo Ballen gestapelt lagen, die offenbar zur Abholung bestimmt waren. Es war eine elliptische ›weiche‹ Stelle. Er hörte ein Geräusch wie das Knallen von Sektkorken, als die Kapsel, die ihn in vielen Wochen so weit getragen hatte (fünfzehneinhalb Lichtjahre), sich unter ihm dematerialisierte. Er hörte hinter sich Bewegung und drehte sich um. Die Sechsergruppe hatte ihn mit Sicherheit schon erwartet. Sein Empfangskomitee bestand aus hochgewachsenen, mageren Kreaturen mit Telleraugen. Sie trugen gefährliche Krummsäbel und waren in schmutzige gallegelbe und flohbraune Seide gekleidet. Sie bildeten einen Halbkreis um den Mann, der wie unter Schockeinwirkung an der Stelle hockte, wo eben noch der Fußboden der verschwundenen Kapsel gewesen war.
»Halt, Leute!« rief der Mann mit einer unbeschreiblich rauhen und primitiven Stimme, die Dammy aber merkwürdig vertraut vorkam. »Ich muß eine Entführung melden. Ein Vocile Napt, glaub’ ich, war das zuerst, und dann hat sich dieser andere Typ eingemischt – Astrobe nennt er sich – und im Vang-Sektor läuft ‘ne Horde Teest frei ‘rum. Scheint, die consensische Autorität geht in Stücke wie ein nasser Kuchen.« Ohne die drohenden Gebärden des Empfangskomitees zu beachten, stolzierte der Fremde vorwärts. Als einer ihm zu nahe kam, packte er lässig dessen gezogenen Säbel an der stumpfen Kante und entriß ihn seinem Besitzer, der sich erbost seinen Genossen zuwandte. Die sechs Trismaner berieten sich kurz. Dann trat einer vor und symbolisierte Waffenstillstand, indem er demonstrativ seinen Hirschfänger in die Scheide zurücksteckte. »Hör zu, Bursche«, sagte er in gelangweiltem Ton. »Wir haben zu tun. Wir sind auf Streifendienst und erfahren, daß heißes Zeug ankommen soll. Den Job haben wir jetzt am Hals. Nichts Persönliches, okay? Machen Sie keine Schwierigkeiten. Kommen Sie mit zur Wache und spucken Sie aus, dann gehts vielleicht glimpflich ab.« Dammy schlich die letzten paar Schritte zu den aufgeschichteten Ballen und verbarg sich zwischen ihnen. Dann beobachtete er seinen Doppelgänger, den er als Köder hatte entstehen lassen und der nun vor seinen Häschern stand. Er gab eine gute Figur ab, sagte sich Dammy stolz, wie er so dastand in seinem roten Zylinder, dem weißen Seidenhemd mit dekorativen Perlmuttknöpfen, der schwarzen Fliege und dem elegant gearbeiteten Jackett ohne Aufschläge. »Und was soll das alles?« fragte das Scheinbild unhöflich und schien gar nicht zu bemerken, daß sich von jeder Seite ein Trismaner näher schob.
»Ihr Vögel lernt es nie«, sagte der Wachtmeister. »Ihr denkt immer noch, Ihr könnt Konterbande nach Trisme Central schmuggeln und den Staat um seinen Anteil bringen. Sie sind verhaftet. Umdrehen, stehenbleiben. Hände nach vorn und abwarten!« »Ich habe immer noch gewisse Rechte«, konterte der falsche Dammy. »Verdammt wenige«, gab der Unteroffizier zu. »Nennen Sie eins.« »Ich verweise auf den Raptat-Kode, Teil IX, Paragraph 91, Absatz c: ›In allen Fällen, in denen ein Verstoß gegen den Kode lediglich aufgrund objektiver exokosmischer Umstände angenommen werden kann, ist dem Beschuldigten entweder zu gestatten, einen Rechtsbeistand eigener Wahl hinzuzuziehen oder im Ermittlungsverfahren die Aussage zu verweigern. Hier greift Nachtrag 44.‹« »Verdammt, der Kerl ist Anwalt«, stöhnte der Wachtmeister. »Macht aus einer netten kleinen Verhaftung einen interplanetarischen Zwischenfall.« Er schüttelte seinen tubenförmigen Kopf und trat einen Schritt vor, während zwei seiner Lakaien sich ihrem Gefangenen unauffällig von beiden Seiten näherten. Dieser schleuderte den Säbel, den er seinem ersten Angreifer abgenommen hatte, in die Luft, fing ihn am Knauf wieder auf und warf sich gerade noch rechtzeitig herum, um einen tückischen Hieb von links abzufangen. Mit einem Ruck entwaffnete er die Kreatur, die sich überstürzt davonmachte. Der Angreifer von rechts hob die Klinge, aber Dammys Double setzte ihm die Säbelspitze auf die ungeschützte Brust. Der andere ließ die Waffe fallen. Sie fiel scheppernd zu Boden, und Dammy II stieß sie mit dem Fuß weg. »Sie sollten sich neue Leute besorgen, Herr Obergefreiter«, sagte er zu dem Korporal. »Diese scheinen müde zu sein.« Er
wirbelte herum und bellte: »Verschwinde!« Ein weiterer Trismaner hatte sich heimtückisch hinter ihn geschlichen. Dieser hüpfte wie von einer Mistgabel in den Hintern gestochen und machte sich aus dem Staube. Der richtige Dammy grunzte zufrieden und bewegte sich auf die Tür zu, die er vor dem Verlassen der Kapsel bemerkt hatte. Als er sie erreichte, öffnete sie sich automatisch, und zwei Fremde von üblem Aussehen drängten herein. Es waren Sicherheitsbeamte des Glamorph. Dammy bemerkte die fein ziselierten, wenn auch stark verrosteten Rangabzeichen, die sie an ihrem Gurtzeug zehnter Klasse trugen. Der Anführer musterte Dammy und sagte dann: »Ein Neuer unterwegs, was? Warum hat Tanver uns keinen Tip gegeben?« »Vielleicht hatte er zu tun«, antwortete Dammy ungerührt, »was Wichtiges, wie Aschenbecher ausleeren.« »Wie wissen wir, daß Sie der Kerl sind?« beharrte der Wächter. »Ich bin doch hier, oder?« fragte Dammy zurück und schoß an den beiden vorbei nach draußen, in das kalte, graue Licht und den leichten Nebel, der sich in Nieselregen aufzulösen drohte. Ein dümmlicher Fettwanst glotzte ihn an. Er saß hinter dem Lenkrad eines Fahrzeugs, das eine unheimliche Ähnlichkeit mit einem Mack Commercial, Baujahr 1913 hatte, samt Speichenrädern und Vollgummireifen. Das trübe Dunkelgrün der Karosserie trug eine Aufschrift in PandexSchrift, die Dammy sofort übersetzte. Er las: »Städtischer Fuhrpark – Spezialeinsatz«, und darunter stand: »Zulässiges Ladegewicht 875 Einheiten (w).« Das war nicht sehr instruktiv. »Heh, du da«, brüllte der Fahrer, »mach’, daß du wegkommst!« »Sei vorsichtig mit deinen Redensarten«, gab Dammy ganz ruhig zurück und wandte sich ab. Er spürte eine seltsame
Bewegung… Dann explodierte die ganze Welt! Komisch – ein Erdbeben ohne warnendes Grollen? dachte er und stellte dabei fest, daß Sonnenstrahlen nicht fünfhundert Meter tief in Wasser eindringen können. Was er sah, waren die Glitzerlichter der eigenartigen Meereswesen, die ihn umkreisten, um den Eindringling zu begutachten, Tapfer machte Dammy Schwimmbewegungen, um die Oberfläche zu erreichen. Er merkte nicht, daß er das Meerwasser wie Luft atmen konnte. »… okay, Boss.« Eine ungebildete Stimme war ganz leise zu hören. »Ich hab’ dem Schafskopf eins auf die Birne gedonnert. War die weichste Stelle.« »Wer ist es?« fragte jemand in schlecht artikuliertem C-5. Dammy schaute nach oben. Das Wesen, das dort hockte und auf ihn herabblickte, sah aus wie eine Kreuzung zwischen Auster und Eichhörnchen. Seine dicke Schale leuchtete rotbraun und hellrosa, genau wie die verdreckten Schmuckbänder, die es in seinem buschigen Schwanz trug. »Das ist der Kerl, hinter dem wir her sind. Hast du doch gesagt.« Es war der Fahrer, der diese mürrische Antwort gab. Hinter ihm tauchte jemand aus der noch offenen Tür auf. Dammy erkannte seinen Doppelgänger, der stolz die sechs Polizisten anführte. »Ääh – oh, vielleicht hab’ ich Mist gemacht«, schnaufte der dicke Fahrer. »Das ist er doch. Steht sich auch noch gut mit den Bullen.« »Keine Ahnung«, sagte der Boss gleichgültig. »Man kann gar nicht zählen, wie viele Schwänze, Arme und Fühler und was sonst noch das Biest hat. Hoffentlich hast du ihn nicht totgeschlagen, Orf?« »Kann schon sein«, gab Orf zu. »Laßt uns ihn hier rausschaffen. Wenn es der falsche Vogel ist, schmeißen wir ihn einfach auf die städtische Müllkippe. Da liegt er gut.«
Als sie Dammy auf die Füße zerrten, wollte sein Double gerade in zwei Metern Entfernung vorbeigehen, aber er blieb stehen und kam näher. »Hör zu, Kerl«, sagte er in forschem Ton zu Orf. »Seid ihr Affen euch überhaupt darüber klar, daß ein Leutnant der Nationalgarde von Iowa vor euch steht?« »Wer, Sie, Sir?« fragte Orf diensteifrig, richtete sich zu seiner vollen Größe von zwei Metern fünfundvierzig auf und nahm Haltung an. »Keineswegs, Bursche. Ich bin ranghöchster Attaché des Triarchats von Gree. Diese Person« – er zeigte auf Dammy – »ist der Leutnant. Haut ab, bevor er euch bemerkt und euch auf der Stelle das Fell überzieht.« Orf und der Boss ließen Dammy sofort los, und dieser sank auf das Pflaster zurück, das aus feinsten yalkanischen Fliesen bestand, wie er sofort feststellte. »Schluß jetzt, ihr Schweine, weg mit euch!« bellte eine herrische Stimme. »Wachtmeister, das ist doch Orf, der berüchtigte Wegelagerer und Beutelschneider«, sagte ein anderer, » – und wenn ich mich nicht sehr irre, ist der andere Schurke der Große Aufrechte persönlich!« »Haut ab oder ich sperr’ euch ein«, sagte der Bulle mit den drei Streifen ein wenig unsicher; aber Orf und sein Arbeitgeber kletterten rasch auf den Müllwagen und rasten in einer Wolke unverbrannter Kohlenwasserstoffe davon. Eine Gruppe neugieriger Passanten hatte sich angesammelt. Dammy sah zu ihnen hinüber. Es war eine bunte Versammlung – Große und Kleine, Zottige und solche mit Schalen wie Muscheln, die in allen Farben des Spektrums schillerten. Andere glotzten aus Stielaugen, wieder andere wedelten mit vielgestaltigen Schnüffelorganen und plapperten in einem Dutzend Sprachen,
die Dammy nur mit Mühe auseinanderhalten und übersetzen konnte. »Ich wette, das war einer von diesen Flanchen! Ich habe gehört – « »… berüchtigter Rauschgiftring. Wie verkommen der Bursche aussieht.« »Gehen Sie doch zur Seite, damit man was sehen kann, verdammt nochmal!« Die Polizisten machten sich daran, die Gaffer auseinanderzuscheuchen, und wandten sich dann wieder Dammy zu, dessen Kopf die Tendenz hatte, sich bei jedem Pulsschlag mit der Meßzahl zehn auszudehnen und wieder zusammenzuziehen. Es war Dammy gerade noch gelungen, dieses Phänomen unter Kontrolle zu halten. »Heh, Wachtmeister, war das nicht Orf, der berüchtigte Wegelagerer, den Sie eben laufen ließen?« Noch ein wenig schwankend kam er wieder auf die Füße und lehnte sich gegen die Wand. Die Beamten waren froh, Routinearbeit machen zu können, die ihre beschränkten Geisteskräfte nicht allzusehr strapazierte. Finster blickten sie dem letzten davonziehenden Stielaugenwesen nach und erwarteten ein anerkennendes Nicken ihres Vorgesetzten. Der aber starrte verdrießlich Dammy an. »Das mit dem Leutnant war wohl ein Witz?« wollte er wissen. Er ging auf Dammy zu. In der Hand hielt er eine Vorrichtung, die unkompliziert genug war, um von Dammy sofort als eine Art Handschellen erkannt zu werden. »Hüten Sie Ihre Zunge, Mann«, antwortete Dammy kurz. »Sie können mir jetzt Meldung machen. Was genau waren Ihre Anweisungen für den heutigen Einsatz?« »Nun«, sagte der Unteroffizier, »wir wußten eigentlich nur, daß eine für den Transport von Lebewesen eingerichtete
Kapsel um genau zwei Glasen an Platz 12-137251A heimlich landen würde, und wir sollten den Kerl verhaften, denn er hat das Fahrzeug einem hohen Beamten geklaut. Unsere Personenbeschreibung trifft auf Sie zu.« »Ich verstehe«, meinte Dammy. »Mit anderen Worten, eine simple Personenverwechslung, auf übergroßen Eifer zurückzuführen, der sonst sehr lobenswert gewesen wäre.« »So war’s wohl«, meinte der gemaßregelte Polizist und hängte die Handschellen widerwillig an den Gürtel zurück. »Nun, Jungs«, sagte er zu seinen Leuten, »wir melden Fehlanzeige. Wir haben unser Bestes getan.« Als die Plattfüße verlegen über das Pflaster schlurften, um sich in Reih und Glied aufzustellen, schob sich Dammys Doppelgänger zwischen ihnen durch und baute sich vor dem Wachtmeister auf. »Paß auf, du dämlicher Bulle«, sagte er ungeduldig, »willst du dich nicht bei diesem Edelmann entschuldigen und ihm ein Transportmittel Klasse A an seinen Bestimmungsort anbieten – und das Ganze plötzlich!« »Andererseits«, sagte der Boss der Polizisten gedehnt, »ist irgendeine Verhaftung besser als gar keine. Also – « er drehte sich zu Dammy um und nestelte wieder an den Handschellen. Dammy wußte, daß sie die Nerven abklemmten, wodurch das gefesselte Glied auf Dauer halb bewegungsunfähig blieb. Er sprang zurück. »Heh!« sagte der Polizist. »Ihr beiden Penner seht ziemlich gleich aus. Für eine ungeübtes Auge, mein’ ich. Ihr habt beide rosa Zylinder auf, nur Ihrer hat ‘ne Beule – das kommt, weil Orf Sie bewußtlos geschlagen hat«, erläuterte er. »Und nun komm her, du Ganove!« »Aber Herr Wachtmeister«, sagte (der wirkliche) Dammy begütigend. »Hier liegt ein weiteres Mißverständnis vor. Sie wurden hergeschickt, um Schmuggelgut abzufangen, nicht um
Beamte einer befreundeten Macht zu tyrannisieren. Wie Sie wissen, haben Iowa und Trisme einander schon immer die Meistbegünstigungsklausel zugestanden.« »Ich hab’ mich noch nie für diesen diplomatischen Quatsch interessiert«, sagte der Beamte zögernd. »Polizist zu sein, ist auch so schon schlimm genug.« »Beeilung, Bulle«, riet Dammys Double ihm mit aller Schärfe. »Sammle deine Trottel ein und zieh Leine!« Er ignorierte Dammys Handbewegungen, mit denen dieser ihn zum Schweigen bringen wollte. »Sie schon wieder, was?« fragte der Wachtmeister und sah ihn von oben bis unten an. »Wer von euch ist nun eigentlich wer?« »Ich bin der gute«, sagte Dammy sofort. Hinter dem Rücken des Wachtmeisters vertauschte er rasch seinen Hut mit dem seiner Kopie. Der Polizist schüttelte traurig den Kopf. »Ich dachte, es wäre der mit der Beule im Zylinder«, meinte er gekränkt. »War es auch; ich meine ist es auch«, beruhigte Dammy den Ordnungshüter. »Greifen Sie ihn schnell.« Der Bulle nickte und ging dieses Mal auf den falschen Dammy zu. Dann blieb er stehen und fummelte an den Handschellen herum, wobei er alle Anzeichen von Enttäuschung erkennen ließ. »Verdammt schlechtes Modell«, war sein Kommentar. »Okay, Bursche, ich hab’s mir überlegt. Es geht auch ohne Handschellen. Kommen Sie freiwillig mit?« »Den Teufel werd’ ich«, antwortete sein Opfer. Dammy trat vor. »Kann ich vielleicht helfen, Herr Wachtmeister?« sagte er und ergriff die Handschellen, die nicht funktionierten. Mit einer geschickten Bewegung schien er sie von innen nach außen zu kehren. Er reichte sie zurück. »Nun wird’s gehen«, sagte er trocken.
»Heh, warum sagen Sie nicht gleich, daß Sie einer von uns sind?« erkundigte sich der Beamte freundlich. »War wohl alles ‘n kleiner Scherz, was?« Er kicherte Zustimmung heischend. »Gewiß doch, Freund«, sagte Dammy genauso freundlich. »Warten Sie, ich kümmere mich um diesen Klugscheißer. Der Kerl wollte sich für Sie ausgeben, der Schmutzfink…« Geschickt befestigte er die Fesseln Neuronic Mark IV, 1. N 76842 an den Handgelenken des Doppelgängers, der keinen Widerstand leistete. »Gute Arbeit, Captain«, sagte Dammy. »Passen Sie gut auf. Er könnte irgendeinen faulen Trick auf Lager haben.« »Keine Sorge, mein Junge, wer die gute alte Mark IV erst einmal an den Armen hat, der kommt nicht mehr los.« In diesem Augenblick gab es den leisen Knall einer Implosion, und der falsche Dammy war verschwunden. Die Fesseln fielen klirrend auf das Pflaster. Nur ganz kurz spürte Dammy eine seltsame Leere im Kopf. Ich muß essen, dachte er.
»Ich hatte die Handschellen schon fast einschnappen lassen«, sagte der Wachtmeister niedergeschlagen, »als der Kerl mir doch durch die Lappen geht. Er springt in einen Wagen, und dann natürlich nichts wie weg. Das war abgekartetes Spiel!« »Bestimmt, Korporal«, sagte Dammy mitleidig. »Er hat Ihre Gutmütigkeit ausgenutzt.« »Ich glaub’, meine Kupplung schleift.« Der Polizist sah sehr besorgt aus. »Aber nicht doch, Major. Entschuldigen Sie mich einen Augenblick. Ich muß überlegen und mir dabei ein wenig die Beine vertreten. Das ist gut für den Kreislauf«, sagte Dammy, und ging, ohne eine formelle Genehmigung abzuwarten, zu der Ecke zurück, wo er Orf mit seinem Müllwagen antraf.
»Gut, daß du nicht um die Ecke gefahren bist«, sagte Dammy. »Genau vor der Lagerkuppel liegt eine Abteilung Polizei auf der Lauer.« »Diese plattfüßigen Ratten!« Orf spuckte aus. »Jetzt kapier’ ich«, fügte er hinzu. »Du bist Slick Slunt, der berüchtigte Beutelschneider und Wegelagerer.« »Genau!« gab Dammy zurück. »Kannst du mir sagen, wo man in dieser Stadt ein Ding drehen kann?« »Und ob ich das kann! Du kennst mich, Slick – immer am Ball. Außerdem würde es dem Boss gefallen, wenn wir ‘ne Kleinigkeit unternehmen.« »Bestens. Wir gehen – oder sollten wir nicht lieber vorher mit den Jungs von der Revierwache ein bißchen Spaß treiben? Der Wachtmeister ist ein scharfer Hund. Er hat sechs Mann bei sich. Sie stecken im Gebüsch neben dem Personaleingang.« »In der Gegend gibt es gar kein Gebüsch.« »Umso besser. Dann sind sie gut zu sehen. Fahr ganz langsam ‘ran, als ob du anhalten willst – und dann mit der Kanone. Wir treffen uns dann später – sag’ nur wo.«
Der Korporal schüttelte bekümmert den Kopf, als Dammy auf ihn zukam. »Ich hab’ völlig versagt«, jammerte er. »Am hellichten Tag macht der Penner hier Kapriolen. Ich sollte meinen Stern zu rückgeben.« »Nur keine Selbstvorwürfe, Chef. Sie können doch nichts dafür, daß Sie Pech hatten. Ich werde beim Kommissar ein gutes Wort für Sie einlegen.« »Tatsächlich, Kumpel? Vielleicht war es doch gut, daß ich diese Streife geführt habe. Alles hat seinen Grund.« »Haben Sie schon mal von einem Laden gehört, der ›Grüne Leiche‹ genannt wird?« erkundigte Dammy sich, einem
plötzlichen Impuls folgend, über den er sich noch beim Sprechen wunderte. »Sie haben wohl für jeden Anlaß den passenden Scherz. Und ob ich den Laden kenne! Ich war zwar lange nicht an dem Ende der Stadt – zuletzt als wir Slunt verhafteten, und das war drei Zyklen vor meiner letzten Beförderung. Und was ist damit?« »Ich habe von dem Laden gehört und möchte gern mal hin, solange ich noch in der Stadt bin.« Dammy improvisierte ein wenig. »Da müssen Euer Hochwohlgeboren aber höllisch aufpassen. Das ist eine wahre Räuberhöhle. Wir wollten schon immer eine Razzia machen, aber andererseits – alles Verbrechen in der Stadt nimmt von dort seinen Ausgang. So haben wir es besser unter Kontrolle.« »Sehr klug gedacht, Captain. Können Sie mich da nicht absetzen?« »Klar, Kumpel, kein Problem – aber nicht bevor Sie beim Kommissar waren, okay?« »Sagen wir bei Sternenuntergang?« »Ich hole Sie hier ab – oder von Ihrem Hotel. Wie Sie wollen. Glauben Sie mir, Sir, Wachtmeister Bloot erkennt einen wahren Gentleman, wenn er ihn sieht – was nicht oft passiert. Übrigens, wenn Sie mit Ihrem Freund, dem Kommissar zusammenhocken, sagen Sie ihm nicht, daß der Schmutzfink abgehauen ist, den ich auf Verdacht verhaftet hatte!« »Kein Wort«, versprach Dammy. Komisch dachte er bei sich, trotz all der komplizierten Techniken von Machiavelli bis Einstein, die mir zur Verfügung stehen, läuft nichts so gut wie ein netter, normaler, altmodischer Betrug. Genau wie zuhause in Chicago.
Ohne Vorwarnung fegte es aus großer Entfernung heran: Eine Masse – nein, keine Masse, nicht einmal ein Gas, mußte Dammy sich korrigieren – eine Wand vibrierender Moleküle, und doch nicht die Moleküle selbst, sondern ihre Schwingungen in hörbarer Frequenz, aber mit Ober- und Unterschwingungen. Es waren Töne, die Zeit und Raum vollständig erfüll ten. Zu spät erkannte er es. Das muß der Urknall sein. So stimmt es also doch, konnte er gerade noch denken, bevor er ergriffen und in raumlose Grenzenlosigkeit fortgerissen wurde, wo er reglos hing, sich mit großer Geschwindigkeit um seine Längsachse drehte und dabei einen strahlenden Körper umkreiste, der ganz in der Nähe unendlich weit entfernt stand. Jetzt bin ich also ein Planet, sagte er sich schweigend, und seine Stimme dröhnte bis zu den Grenzen der Ewigkeit und kam als schwaches Quieken wieder zurück. Ich muß mich zusammenreißen, nahm er sich streng ins Gebet. Rauch stieg auf, dicht und schwarz, und er hätte Dammy erstickt, wenn er geatmet hätte. Er hatte das seltsame Gefühl, irgendwo dort draußen an einen dicken Anker gebunden zu sein. Er identifizierte das Gefühl als Schmerz. Ein eigenartiger Begriff. Warum nur betrachtete man Schmerz als etwas Unangenehmes? Und was war überhaupt angenehm? Aber es schien wichtig, den Dingen auf den Grund zu gehen. Er zerrte an dem monomolekularen Faden, der ihn mit diesem ›Etwas‹ verband, und schwebte durch schwindelerregende Explosionen ganzer Sonnensysteme, deren Trümmern er geschickt auswich. Dann ein betäubender Aufprall! Er hielt sich fest und griff in scharfkantiges Metall und zersplittertes Glas. Er glitt weiter und fiel auf etwas, das ihn wie ein Wasserbett mit einer Daunenauflage voll sanfter Träume auffing. Er blinzelte und schlug die Augen auf.
Bernsteinfarbene Dämmerung lag über der engen Gasse, aber das phosphoreszierende Schild über dem Eingang zur ›Grünen Leiche‹ war nicht zu verfehlen. Dieses Mal war »Sie finden es bestimmt« keine Übertreibung gewesen. Nur ein paar Fußgänger waren in der Straße des schlechten Geruchs zu sehen, vermutlich nicht nur wegen des Namens, sondern auch aus anderen Gründen. Dammy ging an zwei mageren und blassen evianischen Prostituierten vorbei, die in einer dunklen Einfahrt auf Kunden warteten. Dann mußte er einem trunkanischen Aristokraten ausweichen, der sich in Begleitung seiner Leibwächter befand. Es waren vier spinnenähnliche Theel. Ein einsamer Trismaner lungerte vor der geöffneten Tür der Spelunke herum, in der Dammy sich verabredet hatte. Nachdem er ihn am Ende der Straße abgesetzt hatte, war Wachtmeister Bloot schleunigst verschwunden. Er hatte noch angedeutet, daß er Protokolle schreiben müsse. Dammy erinnerte sich nur mühsam. Es schien Generationen zurückzuliegen. Als Dammy sich der Kneipe näherte, schoß er einen Gedanken auf den scheinbar unbeteiligt vor dem Eingang stehenden Trismaner ab. Durch die Tür quollen Gerüche nach draußen, und die Geräusche, die nach außen drangen, deuteten Fröhlichkeit, aber auch Gewalttätigkeit an. Die Wache verstellte Dammy den Weg. »Routine-Überprüfung«, summte der Portier in einer Gossenvariante des C-5. »Aus dem Weg, schmieriger Abschaum!« summte Dammy zurück. Der Bursche näherte sich in drohender Haltung, aber Dammy wich keinen Zoll. Der Wächter griff sich mit der Hand an die Hüfte. »Willst du dich mit mir anlegen, Arsch?« knurrte er. Dammy dachte an Brieftaschen-Harry zuhause in Chicago und bediente sich dessen ausgefeilter Technik. Blitzschnell
zupfte seine Hand die Kanone aus der Tasche des Ganoven und ließ das Magazin aus dem Griff der Waffe gleiten, feuerte die in der Kammer steckende Patrone in die Luft und schob dem Mann die Waffe in die Tasche zurück bevor das Magazin auf das ölige Pflaster knallte. Ein paar Schritte weiter hatten die Theel sich um ihren Herrn geschart und beobachteten die kleine Szene am Eingang. Der Wachmann wollte sein Gesicht wahren und hieß sie weitergehen. »Nur ein kleiner Gag, Jungs«, rief er und wandte sich wieder Dammy zu. »Hoffentlich haben die das nicht gesehen«, murmelte er. »Geh’ ‘rein und besorg’ mir den besten Tisch im Hause«, befahl Dammy kurz. »Und mach das beste Steak in Trisme heiß.« »Wen darf ich melden?« erkundigte sich der Trismaner ängstlich und war schon auf dem Weg ins Lokal. »Sag’ ihnen, Groucho schickt dich«, erwiderte Dammy. »Und das Ganze pronto!« Fünf Minuten später schnitt Dammys Messer durch die schwarzbraune Kruste tief in das rosa Innere eines fünf Zentimeter dicken, dampfenden Steaks allererster Qualität. Er bemerkte, daß seine Hände zitterten. Er hatte den Türsteher mit Absicht manuell entwaffnet, um Energie zu sparen. Sonst hätte er ihm die Kanone aus der Tasche teleportiert. Trotzdem war er am Ende seiner Kraft gewesen. Jeder weitere Widerstand der Wache hätte ihn erledigt. Das Steak war erstklassig. Sein Gewicht betrug genau 38,1 Unzen. Gerade richtig. Der Geschmack war von dem bester amerikanischer Porterhouse-Steaks nicht zu unterscheiden, nur, daß dieses weniger Knochen hatte. Müßig überlegte er, wie sich wohl eine Herde der hiesigen Blurb-Rinder auf einer Weide in Texas oder Florida machen würden. Jedes Tier
achthundert Pfund bestes Steak, und dann die herrlichen rosa und gelb gestreiften Häute zum Gerben… Dammy war zu sehr mit seiner dringend benötigten Mahlzeit beschäftigt, um die vielsprachige Menge weiter zu beachten, die den niedrigen, langgestreckten Speisesaal und die angrenzenden Spielzimmer bevölkerte. Er hatte sein Steak aufgegessen und genoß das Gefühl neugewonnener Vitalität. Er lehnte sich bequem in seinem Sessel zurück. Er hielt das dünnwandige Glas mit pechschwarzem Wein in der Hand und sah sich um. Es machte ihm Spaß, die verschiedenen Lebensformen zu beobachten, die er früher nur von Xorialles Informationsbändern kannte. Hier sah er sie leibhaftig, und die Vielfalt der Typen war erstaunlich. Dann aber dachte er an die Vielfalt der Lebewesen auf der kleinen Erde mit ihren Millionen Arten und war nicht mehr so sehr beeindruckt. Die Natur war offenbar unerschöpflich im Hervorbringen verschiedenster Arten zwischen Belebtem und Unbelebtem. Etwas schimmerte irgendwo wie ein Regenbogen. »Floss!« schrie er gegen den Lärm an. Sofort stand der aufmerksame anciloidische Ober besorgt neben ihm. Dammy beruhigte ihn. »Ich sah eben einen alten Freund. Da habe ich einfach losgebrüllt«, erklärte er und zeigte auf die zerbrechliche Gestalt mitten in einer Runde ziemlich eintönig gekleideter Trismaner. Der Ober nickte mit seinem karottenförmigen Kopf und verschwand lautlos. Als Dammy aufsah, bemerkte er die vertraute, dünne, prächtig-bunte, bienengesichtige, schmetterlingsflügelige Gestalt seines alten Zellen- und Schiffsgenossen Floss. »Nehmen Sie Platz, Floss«, bat er ihn. »Welche Überraschung, Sie hier zu treffen – wie man so sagt.« »Ich fürchte, hier liegt ein Irrtum vor, Sir«, mischte sich der besorgte Ober ein. »Dieses Wesen ist seine Exzellenz Generalfeldmarschall Baron Clace, der dieses bescheidene
Etablissement mit seinem Besuch beehrt, und zwar aus Anlaß der Übernahme seiner Würden und seiner Stellung im Komitee.« Dann stellte er Dammy als Lord Bong-bong vor, der in geschäftlichen Angelegenheiten gerade aus Zrade gekommen war. Endlich zog er sich zurück, und Dammy sah den farbigen Fremden spöttisch an. »Lord Boom-boom, das bin ich«, sagte Dammy. »Alias Slick Slunt.« »Ich dachte, der Bursche sagte Bong-bong, Euer Lordschaft«, säuselte das Schmetterlingswesen. »Kleiner Gedankenfehler, denke ich, Floss«, antwortete Dammy. »Setzen Sie sich doch und probieren Sie den Wein. Er ist nicht schlecht. Nicht gut, aber auch nicht schlecht.« »Wie der Diener Ihnen schon mitteilte, Euer Lordschaft, bin ich Baron Clace«, sagte Floss in einem einzigen langgezogenen Ton. »Bitte, entledigen Sie sich der Vorstellung, ich sei eine Art Freund Eurer Lordschaft. Ich fürchte, ich hatte bisher nicht die Ehre.« »Machen Sie Schluß damit, Floss«, sagte Dammy heiter und versuchte, das vertraute, wenn auch nur vage definierte Gedankenfeld der schwächlichen Kreatur zu sondieren, deren Leben und Eigentum er vor dem Zugriff der wilden TeestHorde geschützt hatte. Zu seinem Erstaunen traf er auf eine undurchdringliche Barriere, vergleichbar mit der Wand der Kapsel, in der er und sein Mitgefangener so lange eingesperrt gewesen waren. Er lachte, und der andere zuckte zusammen. »Das ist ja ganz nett«, summte er in Consensual Sieben. »Aber was soll der Unfug?« Die Kreatur mit den hauchdünnen Flügeln zog einen Stuhl heran und setzte sich. »Unterlassen Sie bitte jede Vertraulichkeit«, sagte er klingelnd. »Sie schweben in höchster Gefahr.«
»Tun wir das nicht alle?« sagte Dammy fröhlich. »Ich weiß wirklich nicht, worum es geht.« Er sah sich im Raum um. Er bemerkte keine feindseligen Blicke, und doch hatte er das Gefühl, daß aller Augen das kleine Zwischenspiel an seinem Tisch beobachteten. Drei ungewöhnlich hochgewachsene Trismaner lösten sich aus der Menge und näherten sich ihnen. Sie trugen schmucklose aber elegant geschnittene Kleidung. Sie nahmen direkt hinter Floss – oder Baron Clace – Aufstellung. »Wieder eine Verhaftung, was?« sagte Dammy, ohne sich aufzuregen. »Wieder ein Ausverkauf. Ich verstehe nur nicht, woher die Jungs immer wissen, wo ich mich gerade aufhalte.« »Es fügt sich, Euer Lordschaft, daß ich hoher Offizier des consensischen Geheimdienstes bin«, stellte der bienengesichtige Aristokrat kühl fest. »Ich tue nur meine Pflicht. Mehr noch, ich habe Sie soeben vor der Vernichtung bewahrt. Hätte ich ein anderes Zeichen gegeben, wären Sie auf der Stelle verbrannt worden. Das war in der Tat die Möglichkeit A. Aber ich gewähre Ihnen Aufschub – für eine gewisse Zeit. Soweit die – an sich überflüssigen – Erklärungen. Und nun: wer sind Sie?« »Schluß mit dem Blödsinn«, sagte Dammy liebenswürdig. »Sie wissen genau, daß ich Dammy Montgomerie bin. Was also soll das Spiel?« »Ich habe Ihnen doch ehrlich gesagt, daß ich Geheimdienstoffizier bin, Dammy. Muß ich denn auf Ihre bloße Anfrage hin meine sämtlichen Berufsgeheimnisse preisgeben?« »Sie sollen mich nur nicht verarschen«, sagte Dammy. »Sie können doch zugeben, daß Sie Floss sind. Damit verlieren Sie nichts, zumal ich es schon weiß.« »Nun, Dammy, wenn Sie darauf bestehen. Ich habe in der Tat einmal die Identität der genannten Person angenommen. Sie
sehen, ich verheimliche nichts – oder fast nichts.« In seinem Bienengesicht spiegelte sich freudige Erwartung. Er hoffte, Dammy mit seiner Erklärung zufriedengestellt zu haben. »Sie sind also der große G-man mit einer kleinen Gruppe begeisterter Anhänger. Stimmt das Bild?« sagte Dammy höhnisch. »Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz«, erwiderte Baron Clace. »Sie haben mir doch erzählt – erinnern Sie sich? – von Freund zu Freund –, daß der galaktische Consensus ein total verrückter Haufen ist, der die gesamte Galaxis übernehmen will, und zwar mit nichts als heißer Luft und Größenwahn.« »Im Verlauf seiner Karriere muß man sich natürlich gelegentlich verstellen«, sagte Floss (oder Baron Clace) ärgerlich. »Vielen Dank, Alter. Und was war Ihre Absicht? Ich sollte in die Falle tappen und erledigt werden, bevor ich das Maul aufreißen konnte! Gleichzeitig haben Sie den Behörden einen Wink gegeben – für alle Fälle.« »Es ist irrational, Dammy, zu versuchen, meiner Verhaltensweise Motive zuzuordnen, die Ihren eigenen verzerrten Ansichten entsprechen.« »Das geht in Ordnung, Flossie. Sie haben mir sogar einen Gefallen getan. Sie haben sich verraten. Hätten Sie sich nicht soviel Mühe gemacht, hätte ich erst viel später gemerkt, wie wichtig ich für euch Affen bin.« »Ich vermag Ihnen nicht zu folgen«, sagte Baron Clace mit Eiseskälte. Es hörte sich an, als sauste ein Vorschlaghammer auf einen tiefgefrorenen Amboß nieder. Dammy winkte dem ancijoidischen Ober, der in Hörweite herumlungerte. »Nochmal das Gleiche«, sagte Dammy. »Das ganze Menü – als Nachtisch. Nach einem großen Blurb-Steak muß man ein
noch größeres essen, damit der Magen wieder in Ordnung kommt.« Floss mißbilligte die zweite Bestellung. »Sie scheinen mit einem übertriebenen Appetit ausgestattet zu sein, wenn Sie mir erlauben, es zu erwähnen«, flötete er. »Ich halte mich strikt an eine Diät der Tinc-Schule, hauptsächlich Blütennektar.« »Dann kriegen Sie nie zu viele Proteine«, meinte Dammy. »Kein Wunder, daß Sie so mager sind – wenn Sie mir erlauben, es zu erwähnen.« Er machte sich daran, sein zweites Menü mit ausgezeichnetem Appetit zu verzehren. Floss schaute unbewegt zu. »Es gibt drei Arten von Hunger«, erklärte Dammy. »Typ A ist sozial: Sie gehen mit ein paar alten Freunden in ein gutes Restaurant und bestellen sich etwas Besonderes. Dann Typ B – Ihr Magen knurrt und will gefüllt sein. Typ C ist, wenn Ihre Körperzellen ausgehungert sind und dringend der Nahrungszufuhr bedürfen. Das ist wie bei einer Abmagerungskur mit Nulldiät. Wenn man nicht irgendwann ißt, stirbt man. Ich kenne alle drei.« Er strich sich wohlig den Bauch. »Ehrlich, Dammy, ich war außerordentlich erstaunt darüber, daß Sie Generalleutnant Lord Bloot entwischt sind und daß auch die Gruppe des Hohen Kommissars Orf Sie nicht schnappen konnte.« Dammy war begeistert. Das war Information aus erster Hand. Floss fuhr fort: »Sie zeigten eine ganze Serie von Verhaltensweisen, die ich nicht erwarten konnte. Sie sind gerissen, Damocles. Jetzt erst erkenne ich, daß Ihre Art, die ›Teest-Horde‹, sie können sicher sein, daß es sich um eine handverlesene Mannschaft handelte, zu behandeln, nur eine List war, mit der Sie mich über Ihre wahren Kenntnisse der hohen Politik täuschen wollten.«
»Das stimmt nicht ganz. Es gefiel mir wirklich nicht, wie die Jungs Ihr Grundstück zurichteten, und ich habe gern geholfen.« »Das glaube ich Ihnen. Immerhin stammte das damalige Projekt aus Ihren eigenen Phantasien der dritten Ebene.« »Sie nennen mich gerissen, Floss, und sind doch selbst ein ganz schön hinterlistiger Hund. Ich war gespannt auf Ihren nächsten Trick – ich kenne ihn schon.« »Tatsächlich?« murmelte Baron Glace gleichgültig. »Erstens«, sagte Dammy, »wurde es hier plötzlich ganz ruhig im Saal, als Sie an meinen Tisch kamen. Zweitens, die Skelette, die da hinten in der Ecke stehen, beobachten nicht mich. Wer hier unter Beobachtung steht, sind Sie!« »Sie täuschen sich, Damocles«, klingelte Floss. »Meine Knechte kennen natürlich meine Strategie.« »Einen Teufel kennen sie!« war Dammys Kommentar. »Sie, Floss, werden überwacht, nicht ich. Und noch eins, der ganze Wirbel mit Wachtmeister Bloot am Landeplatz, die Sache mit Orf – alles war nur dazu bestimmt, mich weich zu machen. Ich sollte mich an Ihrer Schulter ausweinen und Ihnen meine ganze Geschichte erzählen. Warum sperren Sie mich nicht einfach ein und verpassen mir den zweiten Grad? Weil Sie es nicht können! Sie wollen mir einreden, ich sei von Ihnen abhängig, und anschließend darf ich alles ausspucken, was ich weiß. Tut mir leid, Freundchen.« Der bienengesichtige Fremde beugte sich vor und setzte eine ernste Miene auf. »Die Galaxis, Damocles, ist unendlich größer und komplizierter, als Sie es sich vorstellen. Hier sind Kräfte am Werk, die für ewige Zeiten die Entwicklung des Kosmos bestimmen. Warum beruhigen Sie sich nicht einfach und freuen sich über meine schier endlose Nachsicht?«
»Können Sie sich nicht deutlicher ausdrücken, Sie doppelzüngiger Betrüger?« fragte Dammy höflich. »Übrigens, Sie sind ein Waschlappen, Baron. Sie sind weich wie Butter.« »Butter, Damocles?« Floss zuckte mit den Flügeln, die im gedämpften Licht fast grau wirkten. »Sie wissen doch genau, daß ich alles andere als brutal bin. Ich bin äußerst sensibel und orientiere mich an ästhetischen Kategorien.« »Das ist wo der Bauer reintrat«, sagte Dammy gleichgültig. »Ich verstehe sowieso nicht, wie man unter allen Ganoven der Stadt ausgerechnet Sie aussuchen konnte. Ausgerechnet Sie sollen mich stellen, Mann gegen Mann – sozusagen zwölf Uhr mittags? Daß ich nicht lache.« Als das fremde Wesen nicht antwortete, schob Dammy seinen Stuhl zurück und stand auf. »Werden Sie doch Friseur, großer Meister. Die Freundschaftsarie zieht nicht mehr.« Er langte über den Tisch, legte seine Hand an das muschelharte, struppige Bienengesicht und stieß zu. Floss ging mitsamt seinem Stuhl rückwärts zu Boden. Dammy trat über die ausgestreckt daliegende Kreatur hinweg und ging ohne sich umzusehen zur Tür. Er war sehr nachdenklich. Beim Berühren des struppigen Bienengesichts hatte er eine merkwürdige Entdeckung gemacht.
XI
Draußen mußte Dammy einen Augenblick stehenbleiben. Er fühlte sich schwindelig. Aber der Anfall war bald vorüber, und rasch hatte er eine Einfahrt neben der ›Grünen Leiche‹ erreicht. Er trat in den Schatten und wartete. Dann sah er eine Abteilung Sicherheitsbeamte aus der Tür auftauchen, die er eben verlassen hatte. Sie näherten sich der eleganten Figur mit dem zerbeulten Zylinder, die sich mit gespielter Höflichkeit vor ihnen verbeugte. Dann führten sie sein Double zu einer am Straßenrand parkenden Grünen Minna. Mit kreischenden Reifen schoß der Wagen davon und verschwand um die nächste Ecke. Ein paar Sekunden später hörte man einen gewaltigen Knall, eine weiße Stichflamme fuhr hoch und erleuchtete die stockdunkle Nacht. Ein einzelner Beamter kam zurückgerannt, verschwand in der ›Leiche‹ und kam sofort wieder zum Vorschein. Jetzt rannte er noch schneller. Dann erschien Floss im Eingang. Zögernd sah er sich um, als wollte er prüfen, ob es regnete. »Schluß mit der Komödie, Floss!« rief Dammy. »Sie sind genau im Bilde. Warum versuchen Sie immer noch, mich hereinzulegen?« »Was Sie nicht sagen«, platzte Floss heraus. Einen Augenblick schien er verwirrt; leichtfüßig eilte er dann zu Dammy hinüber. »Ich sehe meinen Irrtum ein, Damocles«, sagte er fast geschäftsmäßig. »Ich stelle fest, daß ein so anomales Phänomen wie Sie nur mit einer besonderen Taktik in den Griff zu bekommen ist.« »Großartig«, grunzte Dammy. »Was sind Ihre nächsten Pläne? Übrigens kriegen Sie die volle Punktzahl für
Stehvermögen. In die Fresse geschlagen und auf die Rübe geklopft zu werden, hätte jeden anderen aus der Fassung gebracht. Ihnen ist kein Schachzug entgangen – wie dumm er auch war. Das Spiel ist aus, aber wollen Sie nicht wissen, warum ich es tat?« »Ich nehme an, es war Ihre brutale Wut, weil es Ihnen nicht gelungen war, mich einzuschüchtern. Außerdem haben meine Beamten übereilt und ohne meine Genehmigung gehandelt. Das war nicht nur ein klarer Verstoß gegen die Vorschriften, sondern es lief auch meinen eigenen Plänen zuwider.« »Na und?« »Damocles, Sie sehen doch gewiß ein, daß wir zu einer Regelung kommen müssen, der eine realistische Einschätzung der Tatsachen zugrunde liegt.« »Sie sollten Ihren Kopf einweichen«, schlug Dammy vor. »Zu welchem Zweck?« fragte Floss ganz ernsthaft. »Ah, ich verstehe«, fügte er hinzu, »wieder eine Ihrer unbegreiflichen verbalen Entgleisungen.« »Okay, es steht also fest, daß ich aus einem Grunde, über den Sie sich ausschweigen, zu wichtig bin, um frei herumzulaufen. Ich war ziemlich naiv. Ich hielt Sie für ein völlig harmloses, kleines Wesen. Na ja, nun wissen wir beide mehr. Aber ich wundere mich immer noch darüber, daß Sie mir eine Falle stellen wollten, und wieso wußten Sie wann und wo ich zu schnappen war? Den Tip kann Ihnen nur Xorialle gegeben haben. Damals war ich ziemlich leichtgläubig. Wenn er sein Radio mit der Brechstange bearbeitete, nahm ich das sozusagen für bare Münze. Also, wo stehen wir jetzt? Ich bin jedenfalls müde, und morgen ist noch ein Tag. Was wollen Sie von mir?« »Was ich von Ihnen will?« wiederholte Floss und tat erstaunt. »Was könnte ich von einem wie Ihnen denn wollen?«
»Lassen wir das. Ich kenne die Antwort. Sie wollten mir mit Hilfe dieser Polizeistreife etwas anhängen. Warum aber nur? Es ist auch gleichgültig«, fuhr er fort. »Ich bin heute abend etwas begriffsstutzig, aber eines habe ich gemerkt: Sie ziehen hier nicht die Drähte. Sie tappen genauso im Dunkeln wie ich.« »Unsinn. Ich habe die Situation unter Kontrolle.« »Wir sollten uns zusammentun. Vielleicht erreichen wir dann etwas.« Clace-Floss stieß ein verächtliches Ping! hervor und fuhr dann fort: »Ich versichere Ihnen, mein Junge – « »Sie haben mir schon alles Mögliche versichert«, unterbrach Dammy ihn. »Und ganz bestimmt bin ich nicht Ihr Junge.« »Sie stellen meine Geduld auf eine harte Probe«, sagte das geflügelte Wesen streng. »Okay, nichts für ungut. Ich weiß, wann ich verloren habe«, sagte Dammy, und sofort versuchte er, die Gedanken des anderen zu lesen – er traf auf stahlharte Abwehr und taumelte benommen zurück. Wieder setzte er die Sonde an, und dieses Mal schien sie von einer unwiderstehlichen Kraft gepackt und in sein eigenes Hirn zurückgestoßen zu werden. Seine eigenen Gedanken waren fast vollständig blockiert. Vergebens versuchte Dammy, alle Kraft zusammenzunehmen. »Verdammt!« zischte er. »Man sollte dem alten Xorialle die Lehrbefugnis entziehen. Das erste Mal habe ich ein echtes Problem, und schon falle ich zusammen wie nasses Weihnachtspapier.« »Machen Sie sich keine Vorwürfe, Damocles. Sie sind nicht Sie selbst – und das meine ich ganz wörtlich.« »Soll das was Bestimmtes bedeuten?« fragte Dammy undeutlich. »Denken Sie doch nach«, drängte Floss ihn. »Sie haben bedenkenlos gewaltige Kräfte angewendet, Kräfte, die man nun einmal nicht unüberlegt hervorrufen darf. Sie hätten ahnen
oder sogar schließen müssen, daß solche Fähigkeiten ihren Preis haben.« »Aber natürlich, ich habe immer fürchterlichen Appetit auf einen Hamburger, nachdem ich eine große Schau abzogen habe.« »Nicht nur das. Die Anwendung von Psi-Kräften bringt natürlich einen ungeheuren Verschleiß an physischer Vitalität des Organismus mit sich. Unvorsichtigkeit kann den plötzlichen Tod zur Folge haben.« »Und das sagen Sie mir erst jetzt?« »Schade. Xorialle hätte Sie warnen müssen – allerdings kannte er das Ausmaß des Erfolges nicht, das er bei Ihnen erreicht hatte. Trotzdem war es unverantwortlich.« »Gut, aber was war das mit dem Nervenzusammenbruch, den ich gehabt haben soll?« »Ich sagte ›Sie sind nicht Sie selbst‹, eine Redensart – normalerweise.« »Kommen Sie zur Sache.« »Sie erinnern sich zweifellos, früher am Tage einen Moment der Desorientierung erlebt zu haben«, gab Floss zu bedenken. »Einen Moment? Was das betrifft, habe ich mich überhaupt nicht mehr orientieren können, seit ich am Nordpol die Luke des Zauberkürbis schloß.« »Bevor Sie die Transportkapsel verließen, hatten Sie für den Fall eines feindseligen Empfangs durchaus vernünftige Gegenmaßnahmen ergriffen – so könnte es scheinen. Sie hatten ein Scheinbild vierter Ebene entstehen lassen, mit dem Sie etwaige Feinde ablenken wollten.« »Richtig – und es funktionierte wie durch einen Zauberspruch.« »Ein solches Phantombild, Damocles, ist die vielleicht gefährlichste Form der Psi-Kraft. Das wußte Feldmarschall
Bloot. Darum konnte er sich nicht vorstellen, daß Sie eine derart drastische Taktik anwenden würden.« »Und ich dachte, der alte Bloot sei sogar für einen Korporal zu dämlich. Immerhin habe ich ihn ganz schön hereingelegt.« »Das stimmt. Aber versuchen Sie sich zu erinnern, Damocles: Haben Sie nicht Augenblicke geistiger Leere erlebt, Augenblicke, in denen Sie nicht recht wußten, was Sie taten?« »Nun, tatsächlich habe ich kaum etwas wahrgenommen, als Bloot mich in seinem Wagen hierherbrachte. Erst als er mich auf der Straße vor der ›Leiche‹ absetzte, war alles wieder klar.« »Diese Periode stellt die Zeit dar, während der Sie als Damocles Montgomerie überhaupt nicht existierten.« »Hatten Sie denn gar keine bösen Ahnungen, als ihr Doppelgänger sich ohne jede Gegenwehr zu seiner Hinrichtung führen ließ? Haben Sie erst jetzt ein unangenehmes Gefühl? Wenn wir um die Ecke gingen, würden wir die noch an den Sitz gekettete, verkohlte Leiche in den Trümmern des Polizeiwagens liegen sehen.« »Wir wollen uns die Überreste ansehen«, schlug Dammy vor. »Die Jungs packten mich in die Grüne Minna und fuhren mich um die Ecke direkt in eine Steinwand. Nicht jeder kriegt seine eigene Leiche zu sehen, und das will ich mir nicht entgehen lassen. Kommen Sie.« Floss hinter sich, schlug er den Weg zur Ecke ein.
Dammy starrte auf die verkohlten und ausgebrannten Trümmer des noch rauchenden, gepanzerten Polizeiwagens. »Merkwürdig, hier sind gar keine toten Polizisten«, sagte er. »Aber ich denke, das wäre für den weichherzigen alten Floss Clace-Astrobe wohl ein wenig zuviel gewesen.«
»Es war ein närrischer Plan – und wie Sie sehen, ist er ins Auge gegangen«, räumte Floss ein. »All meine Berechnungen, ergaben nicht den geringsten Hinweis, daß es Ihnen möglich sein könnte, Ihr eigenes Ich auf den Doppelgänger zu übertragen, auch nicht im Augenblick der Auflösung.« »Warum mich überhaupt in die Luft sprengen? Bin ich denn eine Zeitbombe?« »Das sind Sie, Damocles, und Sie haben schon sehr lange getickt. Es war nötig, sofort zu handeln. Selbst eine falsche Handlung ist besser als nichts zu tun.« »Ich werde versuchen, Ihre Ansichten darüber zu ändern«, sagte Dammy grimmig. »Ich muß wohl gröberes Geschütz auffahren. Wir wollen die Leiche betrachten.« Er trat an das Hitze ausstrahlende Wrack heran, ein Metallgewirr aus durch die Hitze deformierten Rädern. An der einen Seite lag ein verkohltes Bündel in der vollkommenen Erschlaffung, die nur der Tod mit sich bringt. Dammy sah das rußgeschwärzte Gesicht, die qualmenden Reste der vorher so eleganten Kleidung, die an dem zerschmetterten Leib klebten. Er hob den zerknautschten Zylinderhut auf und unterzog ihn einer eingehenden Prüfung. »Sie nehmen das Ganze zu ernst«, meinte Dammy. »Vergessen Sie nicht, es war nur ein Trugbild. Nicht etwa der liebenswerte alte Dammy persönlich – und auch sonst niemand.« »Was würde dieses Trugbild wohl antworten, wenn man es – oder ihn fragen könnte?« »Weiß ich das? Wahrscheinlich nicht viel. Es war eine Art Gespenst; oder ein 3D-Foto.« »Wirklich? Wie fühlen Sie sich denn, Dammy? Fühlen Sie sich am Leben? Sind Sie sich Ihrer Identität als Damocles Montgomerie bewußt?«
»Sicher, warum denn nicht?« »Weil Sie selbst das Trugbild sind, Damocles!«
Stunden später saßen sie in einem Büro, dessen breite Fenster eine herrliche Aussicht über die sich bis zum Horizont erstreckende Metropole boten. Clace sah Dammy mitfühlend an. »Denken Sie doch nach, Damocles«, summte er. »Der Consensus könnte doch nicht überleben, wollte er jedem heimatlosen Wesen, dem es gerade einfällt, gestatten, seine Gesetze straflos zu verhöhnen. Sie werden keineswegs ungerechtfertigt verfolgt, denn die consensischen Gerichte sind das Ideal höchster Gerechtigkeit.« »Hervorragend«, sagte Dammy gelangweilt, »und wann kann ich meinen Anwalt benachrichtigen?« »Das ist völlig unnötig, Damocles. Das Gericht vertritt Ihre Interessen weit besser als jede andere, weniger informierte Instanz es je könnte.« »Auch gut. Wann findet der Prozeß statt?« »Tsk«, sagte Floss-Clace. »Zerbrechen Sie sich darüber nicht den Kopf, mein Junge.« »Sie haben gewiß einen Rückstand von sechs Monaten aufzuarbeiten«, war Dammys Kommentar. »Durchaus nicht. Consensische Gerichte sind genauso leistungsfähig wie gerecht. Ihr Fall wurde schon verhandelt.« »Und wie lautet das Urteil?« »Natürlich schuldig. Was sonst? Sie wissen recht gut, Damocles, daß Sie von dem Augenblick an consensisches Recht mit Füßen getreten haben, als Sie sich in Xorialles Laboratorium zum ersten Mal auf verbotenes Gebiet vorwagten.« »Wie lautet denn das Urteil?«
»Ich verspreche Ihnen, es wird keine langweilige Haftstrafe sein. Der galaktische Consensus ist eine uralte Zivilisation, Dammy. Er verlangt nach Neuheiten, nach Schauspielen mit ungewissem Ausgang. Sie haben sich als sehr erfinderisch erwiesen. Wie erfinderisch genau, soll offenbar werden zur Strafe für Sie, den Übeltäter, und zur Warnung der friedliebenden consensischen Öffentlichkeit.« »Ja, aber was soll das alles heißen?« Dammy wollte weiter darüber nachdenken, wenn er nicht mehr so müde war. Gerade jetzt fühlte er sich besonders schläfrig.
XII
»Arenen sind doch alle gleich«, überlegte Dammy, »vom Circus Maximus bis zum Yankee-Stadion.« Er betrachtete die hochaufragende Architektur. Die Zuschauer machten einen Heidenlärm mit ihren Rasseln, Klappern und Sirenen. Fahnen bewegten sich im Wind. Zwei Eisengatter auf der gegenüberliegenden Seite öffneten sich. Zwei Trismaner standen mit langen Stangen bereit, und aus dem schwarzen Tunnel unter der Haupttribüne tauchte ein vierbeiniges Wesen auf und lief in ungelenkem Sohlengang auf den Rasen. Zuerst hielt Dammy es für einen Bären. »Nein«, meinte er dann. »Es ist zu mager, und – « Das Wesen blieb stehen. Es kauerte nieder und reckte sich. Sein dunkles, zottiges Fell war staubbedeckt. Vorsichtig ging Dammy bis auf drei Meter an das Tier heran. Es bewegte sich, und Dammy sah seine langen Arme und krummen Beine, die zu seiner Bestürzung in fast menschlichen Händen endeten. Nun hob es einen Fuß und kratzte sich mit den schwarzen Nägeln die etwas weniger behaarte Brust. Schließlich rollte es sich auf den Rücken, und am Kopf öffnete sich ein erstaunlich großes Maul und gab breite, zitronengelbe Zähne frei. Aus der rosafarbenen Mundhöhle streckte es eine dicke, graue Zunge hervor. Über dem Maul zwischen Windungen knorpeligen, schwarzen Fleisches wölbten sich riesige runde Nüstern, und aus dem Fell darüber starrten ihn rotgeränderte, blutunterlaufene braune Augen an. »Aha«, sagte Dammy, »es handelt sich um eine Art großen Affen. Allerdings hat er ein hominides 5-Y-Gebiß…«
Erstaunlich, vernahm Dammy eine leise schweigende Stimme zwischen den Ohren. Dieses Monstrum hält mich in meiner Schönheit für eine Art großer Meerkatze. Dem Geruch nach scheint es zu unserer Rasse zu gehören. Aber es ist sehr krank. Es hat sein Fell verloren, und die Glieder wirken geschwächt. Es hat sich in seltsame Häute gehüllt, um seine ekelhafte Krankheit zu verbergen. Aber egal – schlechte Gesellschaft ist besser als gar keine. Vielen Dank, Freundchen, dachte Dammy höhnisch. Ist das nichts? Dieses übergroße Rhesusäffchen akzeptiert mich als seinesgleichen. Genauer: dieser Australopithecus robustus. »He«, sagte er laut. Der Affenmann fuhr zurück und rollte mit den Augen als suche er einen Fluchtweg. Er hat mich angebellt, Dammy registrierte deutlich die Gedanken des Tieres, hoffentlich greift er nicht an… Die Kreatur streckte Dammy nacheinander probeweise vier leere Hände entgegen. Dammy schüttelte eine nach der anderen. Die schwieligen Flächen fühlten sich heiß, trocken und hart an wie Hundepfoten. Der Affenmann nahm diese Geste gut auf und wirkte erleichtert. »Keine Angst, Sport«, sagte Dammy besänftigend. »Ich beiß bestimmt nicht zuerst.« Komisch – Dammy nahm Sports Reaktion nicht als schweigende Worte auf, sondern eher als wortlose Begriffe – Er bellt, wenn er spricht. Warum nur? Warum bellst du, Bursche? »Das will ich dir sagen, Sport«, sagte Dammy sanft. »Das sind wir zuhause so gewohnt. Wie alt bist du eigentlich?« Auf der Basis der Restprozente an Nucliden 1521 in meinem Gewebe schätze ich… jetzt brauche ich die richtige Maßeinheit. Der gespenstische Kontakt mit den Gedanken des Affenmannes ließ Dammy zusammenzucken. Aha, jetzt hab’ ich’s… 1.742. 904.5 Jahre.
»Fast zwei Millionen Jahre?« Dammy schnappte nach Luft. »Und dann bist du noch nicht tot?« Ich bin wohl ein philosophischer Typ, erwiderte Sport. Ich lebe von einem Schlaf zum anderen, von einer Mahlzeit zur anderen und versuche, mich einigermaßen zu vergnügen – irgendwie schien es mir noch nicht notwendig zu sterben. »Du redest, als ob du es selbst bestimmen könntest«, sagte Dammy schwach. Ich verstehe dich kaum, weil du so bellst, sagte Sport. Hör’ auf zu bellen, und sprich vernünftig zu mir. Und natürlich kann ich es selbst bestimmen – was sonst? »Wo ich herkomme leben die Menschen so lange wie möglich, und dann geht das große Heulen und Zähneklappern los.« Das ist ja entsetzlich, war Sports Kommentar. Und woher kommst du? »Bist du gut in Astronomie?« fragte Dammy unverblümt. Nicht besonders. Ich bezweifle, ob ich die Spektraleigenschaften von mehr als der Hälfte aller Sterne dieser Galaxis nennen könnte. »Hier haben wir es.« Dammy vergegenwärtigte sich und seinem Gesprächspartner den Ort der Sonne im Verhältnis zu 61 Cygni, Alpha Centauri, Vega, Capella und Sirius. Bemerkenswert! meinte Sport. Tatsächlich… aber nein, das ist unwahrscheinlich. Der Stern der kalten Braut, und das Doppelgestirn selbst! Komm in meine Arme, Bruder – krank oder nicht – wir sind vom selben Planeten. Dammy ertrug die Umarmung des Affenmannes ohne rechte Begeisterung. Du bist sehr zurückhaltend, bemerkte Sport. Du brauchst dich aber wegen deiner Krankheit nicht zu schämen. Warte, es ist mir ein Leichtes, deinen Fellwuchs neu zu stimulieren. Im Handumdrehen siehst du dann wieder so schön aus wie ich.
»Bemüh’ dich nicht, Sport«, wehrte Dammy ab. »Deine Freundlichkeit ehrt mich, aber ich schone meine Kräfte für die große Krise.« Erwartest du denn Schwierigkeiten! erkündigte sich Sport. »Ich habe schon Schwierigkeiten«, erklärte Dammy. »Und was ist mit dir? Möchtest du vielleicht gerne zwei Millionen Jahre eingesperrt bleiben?« Du übertreibst, wandte Sport ein, ich habe viel mehr von der Galaxis gesehen, als wenn ich zuhause unter verrotteten Baumstämmen nach fetten Würmern gesucht hätte. »Du bist wahrscheinlich einer von diesen Optimisten«, meinte Dammy. Seltsamer Gedanke: Wie kann einer ›die gute Seite sehen‹, wenn jede Seite gut ist. »Ich versuche zu ermitteln, zu welcher Spezies du gehörst«, vertraute Dammy Sport an. »Du bist ohne Zweifel ein Tier, ein Wirbeltier, sogar ein Säugetier. Du gehörst zu den Primaten und bist Anthropoide. Dann wird es schwierig. Sei nicht böse, aber bisher wurde noch kein Hominide ausgegraben, der an den Beinen Hände hatte.« Nun, antwortete Sport, man hat die entsprechenden Fossilien eben noch nicht gefunden. »Zwei Millionen Jahre«, überlegte Dammy. »Das wäre die Zeit des Australopithecus.« Er vergegenwärtigte sich diesen als Rekonstruktion. Ach, diese kleinen Burschen. Ich kannte mal einen, der hatte ein junges Weibchen gefangen und behauptete, es als Haustier zu halten – aber eines Tages wurde die Kleine schwanger. Es muß also eine nahverwandte Art sein, obwohl ich das sehr ungern zugebe. »Darf ich?« fragte Dammy und tastete sich gedanklich an Sports Großhirn heran.
Bitte sehr. Ich habe dein Gehirn auch schon untersucht, als du gerade an andere Dinge dachtest. Das muß ich zugeben. Dammy nickte schweigend und fuhr fort, Sports Großhirnrinde zu untersuchen. »Das ist wirklich seltsam«, sagte er. »Einige Bereiche sind übermäßig vergrößert, aber der angulare Gyrus ist deutlich verkleinert. Wahrscheinlich hängt es damit zusammen, daß du Telepath bist…« Er prüfte weiter, und zu seinem Erstaunen stellte er eine nach vorn gerichtete Ausdehnung des Faszikulum fest, die sich bis in die Großhirnrinde fortsetzte, über deren Funktion aber nichts bekannt war. »Wir sind unterschiedlich verdrahtet«, teilte er seinem Zellengenossen mit. »Aber wahrscheinlich verstehst du nicht viel von Anatomie.« Nicht mehr als von Astronomie. Allerdings habe ich dein sonderbar degeneriertes Sprachzentrum bemerkt, insbesondere das eigenartig abgestumpfte Faszikulum. Das ist, wie ich annehme, dafür verantwortlich, daß du beim Sprechen bellst. »Komischer Gedanke«, erwiderte Dammy. »Die frühen Menschen waren Telepathen, sie konnten also Gedanken lesen. Dann haben sie sich davon fortentwickelt. Warum eigentlich?« Vielleicht kann ich das erklären, bot Sport an. Wir hatten große Schwierigkeiten mit Menschenfressern und Trollen. Es waren große, häßliche Ungeheuer, die unseren Leuten gerade ähnlich genug waren, um desto abstoßender zu wirken. Sie sprangen uns unerwartet an, töteten, was ihnen in den Weg kam, und fraßen die Gehirne der Leichen. So entwickelten wir eine Bellsprache, die sie natürlich nicht verstehen konnten. Im Laufe der Zeit wurde diese Sprache allgemeines Verständigungsmittel. So schlimm ist dein Gebell übrigens gar nicht. »Ich bin ein ungewöhnlicher Fall«, sagte Dammy. »Ich habe ein Spezialtraining absolviert.«
Bei dir sind Kehlkopf und Zungenaufhängung nach unten versetzt. Ich nehme an, das erleichtert das Bellen. »Die Menschenfresser und Trolle konnten nicht schweigend sprechen, wenn ich recht verstehe«, sagte Dammy. Genau. Sie konnten allenfalls grunzen – ziemlich langweilige Burschen. »Aber trotzdem haben sie gewonnen«, sagte Dammy. »Wenn ihr nicht tatsächlich unsere Vorfahren seid. Aber das bezweifle ich. Ich wette, daß ihr keine richtigen Hominiden seid.« Merkwürdige Idee, sagte Sport traurig. Wie kann man gegen Trolle und Menschenfresser verlieren? Aber du wirkst ziemlich menschlich, Dammy. Wir wollen uns als verwandt betrachten, wenn auch nur durch eine Seitenlinie. Wieder schüttelte Dammy ihm alle vier Hände. Wie sieht es denn jetzt zuhause aus, fragte Sport aufgeräumt. Die Drachen sind wohl inzwischen vollständig ausgestorben. Hin und wieder sahen wir ein vereinzeltes Exemplar – offenbar nur noch wenige Pärchen in abgelegenen Landstrichen – von Jahr zu Jahr weniger. Ich erinnere mich noch an den letzten, den ich sah. Er stellte das Tier in Gedanken grafisch dar, und Dammy erkannte es als ein Iguanadon, das mit zahnlosen Gaumen Blattwerk kaute. »Wir dachten immer, der letzte Dinosaurier hätte sich zur Kreidezeit verabschiedet«, meinte Dammy. »Das sagen jedenfalls die Fossilienfunde aus.« Kann schon sein. Die Tiere waren sehr scheu. Zum Sterben zogen sie sich in die Einsamkeit zurück. Wir haben nie ein totes Exemplar gefunden. Es gab aber Erzählungen über Drachenfriedhöfe. Manche glaubten auch, daß die Tiere aufs Meer hinaus schwimmen, um ihre alten Laichgründe zu erreichen; aber zwischen diesen und den sterbenden Drachen hatte die Kontinentalverschiebung mittlerweile einen ganzen Ozean entstehen lassen.
»Wie bei den Lemmingen«, sagte Dammy. »Die Erklärung ist so gut wie jede andere. Und denk’ an die Aale.« Zu meiner Zeit gab es keine Lemminge, was immer das sein mag. Aber Aale kenne ich. Es sind lange, schlanke Fische. Wir fingen sie aus den Flüssen. Was ist mit Ihnen? »Sowohl amerikanische als auch europäische Aale laichen in einem Teil des Atlantik, den man Sargassomeer nennt. Dann schwimmen sie zu ihren Heimatflüssen zurück. Den Weg dorthin finden sie instinktiv. Die Theorie besagt, daß sie anfingen im Atlantik zu laichen, als er noch ein langer, schmaler Fluß war, und daß sie die Gewohnheit beibehielten, als er breiter wurde. Meeresschildkröten tun dasselbe im Pazifik. Ist es nicht erstaunlich, daß all diese Tiere sich nach einer Geographie richten, die es seit Millionen von Jahren nicht mehr gibt?« Es hat gewiß Veränderungen gegeben, sagte Sport. Aber dies wird es immer geben: Endlose Wälder mit unerschöpflichem Wildreichtum, Flüsse und Seen mit klarem Wasser und so vielen Fischen, wie wir nur essen können. Das wird nie anders sein, wie sehr sich die Stammessitten auch ändern. Wenn ich heute nach Hause käme, würde ich wohl nur noch Gebell hören – aber dann laufe ich eben in den Wald und habe meine Ruhe. »Die Stämme haben sich stark vermehrt. Leute und Menschenfresser, wie du sie nennst, oder auch Mischlinge, haben sich immer weiter verbreitet. Sie kamen bis an das Ende des ›endlosen Waldes‹ und trafen auch dort wieder auf Artgenossen, die aus der anderen Richtung gekommen waren.« Die Welt ist heute gewiß ein Paradies, vermutete Sport. Wir haben bestimmt die großen Beißtiere und die großen Lärmtiere und die riesengroßen Zetteltiere überwunden, so daß wir die gestreiften Schnell-wie-der-Teufel-lauf-Tiere in Ruhe jagen können.
»Telepathie ist die primitive Form der Verständigung«, bemerkte Dammy. »Vögel, Fische und Insekten scheinen ohne Gebell auszukommen, und obwohl beim Homo erectus die entsprechenden Gehirnbereiche gut ausgebildet sind und seine organisierte Art zu jagen darauf schließen läßt, daß er sprechen konnte, waren bei ihm doch Rachen und Zunge zu exakt artikulierter Sprache außerstande…« Ich bin entzückt, sagte Sport begeistert. Hat man denn auch das Problem der zugigen Höhlen und der Unratbeseitigung gelöst? Und wie steht es mit Läusen und Zahnschmerzen, mit zu-verdammt-kalt und zu-verdammt-heiß? Das muß man sich vorstellen, eine Welt, in der wir keine Tiere mehr zu fürchten brauchen… »Außer den Menschen«, sagte Dammy. »Wir rotteten die Riesenhyäne aus, den Höhlenbär und den Säbelzahntiger. Dann bekämpften wir uns untereinander, und zwar aus einem guten Grund: Um Charakter zu entwickeln. Der erste wirkliche Held war nicht der Mann, der zum ersten Mal eine Holzlanze in einen Mammutbullen rannte, sondern der als erster den Mut hatte, einem herrschenden Tyrannen die Stirn zu bieten.« Wir haben viel zu besprechen, sagte Sport nach einer Weile. Später, an einem friedlichen und gemütlichen weichen Ort. »Zum Beispiel, wieso wir hier herumhängen und auf das warten, was der alte Floss oder Glace oder Astrobe als Nächstes ausgeheckt hat.« Astrobe ist ein interessanter Bursche, finden Sie nicht? sagte Sport und bohrte sich mit einem Hinterfinger im Ohr. Dann bot er Dammy höflich an, ihm das Fell zu pflegen, was dieser ablehnte. »Welch ein Zufall, daß wir, als ehemalige Erdenbewohner uns hier treffen«, sagte Dammy. Das ist durchaus kein Zufall, war die Antwort. Du wurdest auf meinen ausdrücklichen Wunsch hergeschickt.
»Wieso wußtest du denn vor mir?« Selbst wußte ich gar nichts. Aber weil ich mich immer so einsam fühlte, habe ich veranlaßt, daß, falls irgendeiner von unseren Leuten auftaucht, er sofort zu mir gebracht wird. »Wie bist du denn hergekommen?« fragte Dammy. Das ist eine komische Geschichte. Ich sammelte gerade langgelb-süße Nahrung und ging durch einen Felsenspalt als plötzlich ein großes Beißtier vor mir auftauchte. Ich wollte weglaufen, da sah ich ein fremdes Wesen. Wenig später wachte ich an einem Ort-der-weich-war auf. Es war der erste von vielen, die ich kennenlernen sollte. »Also entführt, genau wie ich«, war Dammys Kommentar. »Und was hast du seitdem getrieben?« Hauptsächlich gegessen, meine Bedürfnisse verrichtet und geschlafen. Hin und wieder kamen die verstorbenen Geister die-nicht-in-die-Unterwelt-fahren-können und führten mich in diese Arena, damit ich ein wenig Spaß habe. Das letzte Mal war es ein hungriges Übeltier; ziemlich langweilig. Die armen Tiere sind leicht abzulenken. Dann fressen sie die Veranstalter auf. »In der Arena gegen wilde Tiere kämpfen?« Dammy grübelte. »Und das nennst du Spaß? Wie oft passiert das denn?« Ziemlich oft. Ungefähr alle fünftausend Jahre, möchte ich meinen. »Ach so. Ich wollte mir schon gerade Sorgen machen«, sagte Dammy müde. »Ich denke, ich schlafe ein wenig. Wann war denn das letzte Mal?« Leg’ dich doch hin, schlug Sport vor. Ungefähr fünftausend Jahre. Ich will nicht um eine oder zwei Dekaden streiten. »Dann kann ich mich ja beruhigen.« Dammy streckte sich auf dem weichen, körperwarmen Boden aus.
Wie ich deine Gelassenheit bewundere, meinte Sport. Ich zweifle, ob ich unter diesen Umständen einschlafen könnte. »Unter welchen Umständen?« fragte Dammy vage. »Du sagtest doch, daß es nicht so schlimm ist. Schlaf doch selbst ein wenig.« Der Umstand, unterbrach eine eiskalte Gedankenstimme, daß Sie schwerer Verbrechen gegen den Staat schuldig sind und keine Milde erwarten können. »Moment mal«, stotterte Dammy. »Ich habe das Recht auf einen Anwalt. Außerdem müssen Sie mich erst haben.« Er stand auf. Er nahm all seine inneren Reserven zusammen, die bedenklich zurückgegangen waren, wie Dammy feststellte, und brachte sich in Schwebezustand. Erst hing er senkrecht eben über dem Boden der Arena, aber als er sich mit dem Gesicht nach unten in horizontaler Lage befand, schoß er mit einer derartigen Geschwindigkeit in die Höhe, daß die Arena unter ihm in Sekundenschnelle zur Größe einer Briefmarke zusammenschrumpfte. Schließlich war sie im Gewirr der riesigen Stadt ganz verschwunden. In weiter Ferne bildeten grau-grüne Höhenzüge einen verschwommenen Horizont. Ohne bewußte Anstrengung schoß er hin und her und genoß das Gefühl, so hoch zu schweben. Er vernahm leises Summen, das langsam anschwoll. Dann sah er sie: Es war ein Schwarm Mücken, die ziellos durcheinanderwirbelten. Dann aber bildeten sie eine geordnete Formation und zogen auf ihn zu. Als die führende Mücke näherkam, bemerkte Dammy erstaunt, daß sie für ein Insekt sehr groß war – ja sie erreichte fast die Größe einer F-115 und sah ähnlich gefährlich aus. Mit donnernder Druckwelle raste sie an ihm vorbei, und ein Hagel von Geschossen verriet ihre feindselige Absicht. Dammys Bewußtsein schaltete sofort. Es erkannte die Projektile als Flugabwehrgranaten, Kaliber 100 mm, lenkte sie ab und ließ
sie von seiner hastig errichteten Verteidigungs-Aura abprallen, worauf sie wirkungslos im Raum detonierten. Die zweite Maschine und dann drei nebeneinanderfliegende gaben ähnlich nutzlose Feuerstöße auf ihn ab. Aber dann tauchte ein weit gefährlicheres Waffensystem vor ihm auf. Die Maschine zog hoch und warf über ihm einen kleinen Atomsprengkopf ab. Die Bombe sauste genau auf ihn zu. Halt! Halt! dachte Dammy wie von Sinnen. Dieses schwere Geschütz schaffe ich nicht! Hilfe!
»Ich möchte nicht stören.« Diesmal war Sports sanfte Stimme als Sprechstimme zu hören. »Aber vielleicht kann ich behilflich sein.« Verwirrt schaute Dammy sich um und sah die zottelige, langgliedrige Gestalt seines Freundes. Ein wenig zurückgelehnt schwebte er mit der gleichen Leichtigkeit wie Dammy. »Willkommen in unserer kleinen Gruppe«, sagte Dammy, »die sich leider gleich auflösen wird.« Seine letzte Gedankenkraft richtete er gegen die scharfe Bombe, die jeden Augenblick zünden mußte. Sie schoß mit dreihundert Metern in der Sekunde auf ihn zu und war noch 3,08 Meter entfernt. Ihm blieb also genau eine Hundertstelsekunde. Mit äußerster Konzentration stieß Dammy zu. Das Unglaubliche geschah: Die Bombe lief außer Kurs und torkelte durch den Raum, wo sie genauso schnell verschwand wie die Formation der Angreifer. »Wir müssen hier weg«, riet Dammy, der mit Entsetzen registrierte, wie frei und ungeschützt sie für jeden sichtbar in 2406,3 Metern Höhe über der Hauptstadt hingen.
Sport saß ihm gegenüber am Tisch. Im gelb flackernden Licht der Kerze war Sports sonst meist heitere Miene einem mürrischen Ausdruck gewichen. Er füllte ihre schmierigen Geleegläser aus einer fast leeren, mundgeblasenen Flasche wieder auf. Dammy griff nach seinem Glas und leerte es auf einen Zug. Es war minderwertiger Branntwein auf Mimbelfruchtbasis von Osvo 3, dazu mit fünfzig Prozent reinem Holzalkohol verschnitten. Gleichgültig stellte Dammy das fest. »Sport!« rief er. »Wie? Was?… ich hätte hundert Fragen.« Er schluckte und sprach stumm weiter. Ich hatte den verrücktesten Traum. Ich flog, und plötzlich wurde es gefährlich, und dann warst du da – und jetzt sitzen wir hier. Das stimmt, sagte Sport schweigend. Du bist ein abenteuerlustiger Bursche, Dammy, meinte er vorwurfsvoll. Seltsam, daß du immer so unerwartete Dinge tust. Warum hast du mir denn diese dringende Botschaft geschickt, dich hier in dieser verlassenen Gruft zu treffen? »Ich habe keine Botschaft geschickt«, sagte Dammy laut. Er fürchtete, daß seine Sprechwerkzeuge bleibenden Schaden davongetragen hätten. Aber es schien ganz unmißverständlich deine Stimme zu sein, begehrte Sport auf. Es war kurz nachdem du in die Herrentoilette gegangen warst. Ich wartete, aber du kamst nicht wieder heraus. Da wollte ich selbst nach dem rechten sehen. Dann erhielt ich die Botschaft mitsamt der genauen Wegbeschreibung. Sport machte eine Pause und schüttelte sich. »Ich habe natürlich volles Vertrauen in deine Klugheit, Dammy, aber ich sehe nicht, wie wir hier wieder herauskommen sollen, nachdem wir das Schloß zugeschweißt haben, um Verfolger abzuhalten.« Sport sprach wieder laut,
wie Dammy bemerkte. Vielleicht hatte er das Gefühl, daß sein unbehaarter Freund Gebell doch besser verstand. »Wir waren in der Arena und versuchten, uns zu orientieren«, sagte Dammy langsam. »Ja, das weiß ich noch gut«, antwortete Sport. »Es ist ja nur zweihundert ›Jahre‹ her, das ist wie gestern.« »Es ist keine halbe Stunde vergangen«, sagte Dammy verzweifelt. Sport machte ein bekümmertes Gesicht. Zu seiner Überraschung bemerkte Dammy, daß Sport seine Gedanken sondierte, ohne vorher um Erlaubnis gefragt zu haben. Das hatte er noch nie getan. »Meine Güte«, sagte Sport ganz unglücklich. »Das ist ja entsetzlich! Wie konnten sie nur? Und – warum? Es ist ganz allein meine Schuld. Ich habe einfach zuviel erwartet. Aber was hilft das? – Es ist leider nicht mehr zu ändern. Damit mußt du selbst fertig werden, Dammy. Ich würde dir ja gern helfen, aber du weißt besser als ich, daß – « »Was weiß ich besser?« fragte Dammy stirnrunzelnd. »Worum geht es, Sport? Habe ich etwas falsch gemacht?« »Nicht falsch im moralischen Sinne, Dammy, aber vielleicht taktisch falsch. Wahrscheinlich war es aber die einzige Möglichkeit, den ersten Fehler gutzumachen.« »Ohne Umschweife, Sport!« bat Dammy. »Was ist los?« Sport sah ihn mit seinen großen braunen Affenaugen feierlich an. »Dammy, alter Junge, du bist gestorben. So schrecklich es ist, aber du bist tot.« »Wie unvorsichtig von mir«, sagte Dammy lakonisch. »Aber so hätte ich mir das nicht vorgestellt: keine Engel, keine Harfen und auch nicht diese kleinen Bengel mit Hörnern und Schwänzen und Mistgabeln. Vielleicht haue ich besser ab, solange ich noch einen Vorsprung habe.« »Willst du das wirklich tun?« fragte Sport ängstlich.
»Aber klar«, sagte Dammy mit Nachdruck. »Wer ist schon gern eine Leiche?« »Versuch dich zu erinnern«, schlug Sport vor. »Entsinnst du dich noch jener längst vergangenen Zeit in der Arena von Trisme? Gut. Dann halte diese Erinnerung fest.« »Da war doch weiter nichts«, sagte Dammy. »Aber danach…« »Ganz gleich, was danach geschah«, ermahnte Sport ihn feierlich. »Ich weiß nicht genau, was sich hier ereignet hat, aber ich habe das Gefühl, daß es wichtig ist, sich an die Vorgänge in der Arena zu erinnern. Halte dich daran, und betrachte den Rest als Traum. Du mußt es versuchen, Dammy; vielleicht schaffst du es. Du bist zu weit fort, um auf Hilfe von außen zu hoffen. Versuch es.« Dammy versuchte ...
Du meine Güte. Sports leise Gedankenstimme drang in Dammys unruhige Träume. Da sind sie… große gehörnte Ungetüme, wie ich gehofft hatte: endlich wieder eine richtige Herausforderung. Dammy blinzelte in die stechende Sonne. Aus demselben dunklen Eingang, durch den vor ein paar Minuten Sport zum Vorschein gekommen war, kam laut schnaubend ein riesiges Wesen hervorgedonnert. Sport ließ sich auf alle Viere fallen und galoppierte los, als wollte er das mächtige Tier abfangen. Das Biest, dem Sport entgegeneilte, war nicht größer, als eine TD-18 Planierraupe und ungefähr so zierlich. Sein massiver Rumpf ruhte auf vier Beinen, und hinter dem dreifach gehörnten Kopf trug es einen leuchtenden Panzerschild. Der Boden erzitterte unter seinem Ansturm. Es war ein ausgewachsener Triceratops, wie Dammy erkannte, gesund und voller Tatendrang, wenn auch offenbar in äußerst
schlechter Stimmung. Sport änderte die Richtung, indem er kurz vor dem Ungetüm einen Haken schlug – wurde aber von der blind vorwärts stürmenden Kreatur völlig ignoriert. Sport blieb stehen, richtete sich auf, winkte Dammy gutgelaunt zu und rannte hinter dem Dinosaurier her, der sich in langsamem Trab entfernte. Sport hatte ihn rasch eingeholt, lief neben dem Tier her, ergriff eines der Hörner und schwang sich auf seinen Rücken. Der Saurier schien ihn nicht einmal zu bemerken, und ein Raunen der Unzufriedenheit lief durch die Menge. Ich muß ihn ein bißchen aufmuntern – Sports Gedanken kamen ganz deutlich bei Dammy an – oder sie erschießen den freundlichen alten Bengel und schicken was Häßlicheres. Mach dir meinetwegen nur keine Umstände, antwortete Dammy. Nun erhob sich erwartungsvolle Erregung unter den Zuschauern, und die stangenschwingenden Wärter gerieten in Bewegung. Ein zweiter Triceratops war aus dem Tunnel hervorgebrochen und kam in einer Staubwolke zum Stehen. Mit allen vier Beinen fest gegen den Boden gestemmt stand er da. Es sind nur harmlose Pflanzenfresser, beruhigte Sport Dammy, der zuschaute, wie der Hominide auf dem einen Horn seines erstaunten Reittieres einen zweihändigen, Handstand vollführte. Dann verlagerte Sport sein Gewicht, ergriff das meterlange linke Horn mit allen vier Händen und schwang sich auf und nieder, worauf das Reptil ärgerlich den Kopf schüttelte. Eine Sekunde lang verlor er den Halt und hielt sich nur noch mit zwei Händen fest, packte aber sofort wieder mit vier Händen zu und begann, mit dem nadelspitzen Horn auf- und abzuwippen. Dammy sah, daß das große Biest seinen Kopf jetzt mehr gesenkt hielt und nach links ausbrach. Es setzte aber seinen wütenden Lauf fort. Bei jedem Niederwippen fegte
Sport mit seinem Rückenfell über den Boden. Endlich zog er sich hoch und klammerte sich von oben an dem Horn fest. Er nahm sein rhythmisches Wippen wieder auf. Das Horn senkte sich im Rhythmus und schrammte gelegentlich über das Pflaster. Prima, lobte Dammy, wenn es funktioniert. Ich habe das früher oft mit Auerochsen gemacht, erwiderte Sport zuversichtlich. Der Trick ist, rechtzeitig abzuspringen. Dammy hörte das harte Reiben des belasteten Horns, wie es immer wieder über den Boden streifte. Die Berührungen wurden heftiger, und Splitter von Plastik und Horn stoben durch die Luft. Sport löste seine Armgriffe, stellte sich auf das Horn und sprang geschickt balancierend auf und ab. Dammy schaute zu. Er zitterte vor Aufregung. Plötzlich schrammte das Horn besonders hart über den Boden und grub sich ein. Zuerst sah es aus, als hätte der riesige Triceratops den Kopf gesenkt, um am Boden zu schnüffeln. Dann aber, als Sport mit einem gewaltigen Satz zur Seite sprang, stand der Dinosaurier plötzlich Kopf. Ein erstaunlicher Anblick. Mit den Hinterbeinen strampelte er in der Luft. Tief hatte sich das Horn eingegraben. Einen Augenblick lang hielt sich der Körper in der Schwebe, dann neigte er sich zur Seite. Mit einem fast metallischen Knacken brach das Horn ab! Dammy spürte den Aufprall in den Füßen, als das tonnenschwere Panzertier auf dem Boden aufschlug. Es rutschte ein Stück, mühte sich wieder auf die Füße und blieb schwankend stehen. Hoffentlich war das nicht der zweite Wurf von dreien, seufzte Dammy. Er war froh, daß sein neuer Freund offenbar völlig unbeschädigt wieder auf den Beinen stand. Technik bezwingt Tonnage, sagte Sport. Das war zu beweisen. Mag sein, murmelte Dammy. Aber wenn er nun auf dir gelandet wäre?
Das vermeide ich sorgfältig, erwiderte Sport. Vorsicht! Dammy wirbelte herum und sah in 21,04 m Entfernung seinen eigenen Sparring-Partner vor sich stehen, den Kopf gesenkt, die furchterregenden Hörner drohend vorgereckt. Als Dammy sich dem Tier zuwandte, schnaubte es und griff an. Bevor das mittlere Horn ihn durchbohren konnte, ergriff Dammy es und schwang sich auf den Rücken der Bestie. Sie stürmte weiter, änderte aber den Kurs, als das andere Exemplar träge den Kopf schüttelte. Durch diese Bewegung aufmerksam geworden, stürzte sich der Triceratops mit gesenkten Hörnern auf seinen Artgenossen. Dieser drehte sich unbeholfen, um dem Ansturm zu begegnen. Auch er senkte den Kopf und hielt dem Angreifer seine Panzerung hin. Dann stießen die beiden Urweltungeheuer mit den Köpfen zusammen. Es gab ein Krachen, als hätte ein Lastzug einen Brückenpfeiler aus Beton gerammt. Im letzten Moment war Dammy mit einem mächtigen Satz zur Seite gesprungen. Nach dem Zusammenprall trotteten die Saurier einträchtig nebeneinander davon. Heh, sieh mal, übermittelte Sport, und seine Stimme klang überrascht. Dammy blickte hoch und sah einen kleinen Segler mit bunten Tragflächen und schmalem, schwarzen Rumpf über die Arena hinschweben, der offensichtlich von den oberen Rängen gestaltet war. »Es sieht so aus, als ob der alte Floss tatsächlich fliegen kann«, sagte Dammy laut, wie es seine Gewohnheit war, wenn Sport sich außer Hörweite befand. Die vielfarbige Kreatur änderte den Kurs und nahm Richtung auf Dammy, sie drehte eine elegante Steilkurve und ließ diese direkt in eine federleichte Landung übergehen. Floss ging so gelassen auf Dammy zu, als sei er eben aus einem Taxi gestiegen. »Damocles«, sagte er fröhlich, »ich denke, wir treiben diese Farce nicht auf die Spitze. Möchten Sie nicht mitkommen, ein
vernünftiges Essen zu sich nehmen und anschließend in einem richtigen Bett schlafen?« »Und Sport? Er kommt doch auch mit?« »Oh, ist das wichtig? Meine Pläne – « »Sport ist mein Freund. Wo er hingeht, da gehe ich auch hin.« »Sie und Ihre Freunde. Nun, meinetwegen. Darf ich…?« Dammy empfand eine tastende gedankliche Berührung; das Licht der Sonne erlosch, der Lärm der Menge in der Arena wandelte sich in Stimmengewirr, und Dammy saß an einem Tisch in der ›Grünen Leiche‹. Sport saß ihm gegenüber und grinste breit. Floss hatte sich ihm zur Rechten niedergelassen. »Blurb-Steak für alle?« fragte er beiläufig. »Nicht durchgebraten«, sagte Dammy. »Wunderbar«, freute sich Sport. Sofort unterließ Dammy jede Gedankenübertragung, denn Sport unterhielt sich angeregt mit ihrem Gastgeber. »Aber Damocles, Sie schmollen doch nicht?« fragte Floss nach einer Weile. »Als was treten Sie denn jetzt gerade auf?« fragte Dammy gereizt. »Sind Sie Floss, der harmlose Ästhet, Clace, der ungekrönte König der Stadt, oder Astrobe, der große Meister der Galaxis?« »Ich war Ihnen gegenüber doch stets völlig aufrichtig, Damocles«, erwiderte Floss. »Ich sehe schon, über Ihre seltsame Lebensform weiß ich noch längst nicht alles.« »Was sollte der Unfug mit den Dinosauriern?« wollte Dammy wissen. »Das war eine harmlose Illusion, die Ihrem Unterbewußtsein bestimmte Reaktionen entlocken sollte«, sagte Floss heiter. »Ihre Methoden«, sagte Dammy streng, »sind primitiv wie Ihre Lügen. Komisch, Floss, ich merke es sofort, wenn Sie die Unwahrheit sagen.«
»Das mag sein«, antwortete Floss kalt. »Aber Sie geben doch selbst zu, daß die Situation Aspekte hat, die über Ihre Begriffe gehen. Sie dürfen mir glauben: Alles was ich tat, seit wir uns trafen, hatte seinen Sinn. Ich verschwende doch keine Zeit an unwichtige Angelegenheiten.« »Was kann denn daran wichtig sein, daß Sport und ich mit hirnlosen, ausgestorbenen Viechern herumalbern müssen?« fragte Dammy. »Eines Tages werden Sie meine Methoden besser verstehen, Damocles. Hätte ich Ihnen eine eindrucksvolle Serie von Tests vorgelegt, hätte ich Anzeigegeräte mit Blinklichtern verwendet, die geheimnisvolle Daten ausgedruckt hätten, wären Sie wohl zufrieden gewesen. So aber habe ich mehr erfahren, und das auf einfachere Weise. Sie sind noch jung, Damocles, haben Sie Geduld und glauben Sie mir, daß alles nur zu Ihrem Besten geschieht und zu dem der Mitbewohner Ihres Planeten. Ich habe nichts Böses im Sinn.« »Sie reden, als führten Sie hier die Regie«, erklärte Dammy. »Was sagt denn die Regierung dazu?« »Sie haben sich einmal über die ›weisen galaktischen Räte‹ lustig gemacht, Damocles. Es ist, wie Sie dachten: Diese Räte gibt es nicht. Ich selbst bin die Regierung. Als oberster Intellekt der Galaxis lenke ich natürlich deren Angelegenheiten.« »Wenigstens sind Sie nicht übermäßig bescheiden«, meinte Dammy dazu. »Ich ahnte, daß alles hier draußen in der ›großen weiten Welt‹ anders sein würde, aber so wie es ist, hätte ich es mir nicht vorgestellt.« »Sie haben Neugier hinsichtlich meines persönlichen Interesses an Ihnen geäußert«, bemerkte Floss. »Was das betrifft, hat man schon vor Zeiten erkannt, daß Ihre seltsame Rasse Begriffe entwickelt, die woanders unbekannt sind. Wenn Sie die gewaltige Größe der Galaxis wirklich erfaßt hätten,
wäre Ihnen klar, wie interessant – und wichtig – die Entdeckung völlig einzigartiger Ansichten über eben diese Galaxis ist.« »Sie sprachen doch von Essen und Schlafen«, sagte Dammy und gähnte. In diesem Augenblick erschien der kohlrübenähnliche Ober und servierte die saftigen Steaks. »Sehr richtig«, sagte Astrobe. »Essen und schlafen Sie, Damocles. Dann reden wir weiter.«
XIII
»Das Problem ist«, sagte Dammy, »herauszufinden, wer mit wem was macht und womit – oder umgekehrt.« »Es ist wirklich ganz einfach«, sagte Floss. »Das Merkwürdige an Dingen, die man nicht versteht, ist eben, daß man sie nicht versteht. Was man nicht versteht, erscheint willkürlich und sinnlos. Bedenken Sie doch: Wenn Ihnen, der Sie vorher von der bloßen Existenz der Galaxis keine Ahnung hatten, hier alles klar wäre, müßte man sich doch sehr wundern.« »Aber Logik bleibt Logik«, sagte Dammy, »und eins und eins sind zwei, egal wo man ist. Also muß das ganze Getue um mich, seit ich Xorialles Raumschiff klaute, einen Grund haben.« »Warum haben Sie die Sicherheit Ihrer kleinen Welt verlassen, Damocles? Was suchten Sie? Was wollen Sie hier?« »Abgesehen davon, daß ich verhindern wollte, daß man die Erde als Spezialwelt zweiter Klasse einstuft und die Menschheit als billige Arbeitskräfte mißbraucht, weiß ich das eigentlich gar nicht. Ich suchte etwas anderes – Besseres. Ich fühlte, es gibt irgend etwas Wunderbares, nach dem wir uns alle sehnen. Es ist da, aber wir sehen es nicht, wenigstens meistens nicht – nur hin und wieder erfahren wir eine Andeutung. Es ist wohl das, was Drogensüchtige suchen – sie sind nur auf dem falschen Weg. Vielleicht ist es das Gefühl, etwas zu tun, das der Mühe Wert ist. Ich hoffte auf – was? Ich kann es nicht erklären. Vielleicht eine neue Chance für die Menschheit?«
»Leider gibt es nichts ›Neues‹, Damocles, und der Begriff ›Chance‹ spielt keine Rolle in der Wirklichkeit.« »Und was sollen wir tun?« »Kommen Sie, Dammy, ich will Ihnen etwas zeigen«, sagte Floss und stand auf. Dammy ging mit. Sie benutzten einen Fahrstuhl und fuhren aufwärts. Die Länge der Fahrzeit ließ auf ein dreihundert Stockwerke hohes Gebäude schließen. Nach einem plötzlichen Halt verließen sie den Fahrstuhl. »Dies«, sagte Floss und zeigte auf eine nichtssagende Tür in der weißverputzten Wand, »ist ein kleines Privatmuseum, das ich vor einiger Zeit zu meiner Zerstreuung einrichtete.« Als er an die Tür herantrat, öffnete diese sich lautlos und gab den Blick in das Innere eines dunkel verhangenen Raumes frei. In Glasvitrinen funkelten Juwelen, und die präparierten Köpfe seltsamer Tiere starrten finster von den Wänden. Floss winkte Dammy weiter. »Mein Hobby, Damocles«, sagte er höflich. »Es ist natürlich die Sammlung eines Amateurs. Allerdings sollte man sie auch nicht unterschätzen. Erlauben Sie mir, Sie auf meine Bronzearbeiten hinzuweisen.« Er zeigte auf einen Seitenflügel. »Hören Sie auf, mich hinzuhalten«, sagte Dammy ohne Umschweife. »Es stehen noch ein paar Fragen im Raum, die gestellt werden wollen.« »Darf ich aus diesen sonderbaren Worten schließen, daß Sie auf etwas neugierig sind, was schon abgehandelt wurde?« Floss wirkte unendlich gelangweilt. »Ihnen sind ein halbes Dutzend Schnitzer unterlaufen, Doktor«, sagte Dammy müde. »Dieselbe alte Methode. Früher nannten wir sowas Taubendreck. Ich bin begriffsstutzig, aber nach einiger Zeit kapier’ ich. Sie selbst lockten mich in diesen ›Zauberkürbis‹, und ich fiel darauf rein wie jeder Bauerntölpel. Und warum das alles, Doktor? Sie hatten mich doch fest im Griff in Ihrem ›Sanatorium‹ am Nordpol. Was soll denn jetzt
geschehen? Im übrigen können Sie ruhig die falschen Flügel und die sonstigen Attrappen ablegen.« Das Wesen, das Dammy als Astrobe, Baron Clace und Floss gekannt hatte, machte eine abrupte Bewegung, und der falsche Insektenkopf und der Brustschild rissen in der Mitte auf. Aus der graunaß glitzernden Kreatur im Inneren entfalteten sich Arme ohne Gelenke, die den Insektenkörper endgültig abstreiften. Ein schneckenähnliches Wesen stand auf kurzen Beinen mit breiten Füßen vor ihm. Das Gesicht schien nur aus einer Vielfalt von Sinnesorganen zu bestehen. »Nun, mein Junge«, summte Xorialles klare Stimme in Consensual Acht. »Sie haben meine kleine Maskerade aufgedeckt. Und was gedenken Sie nun zu tun?« »Vielleicht sollte ich Ihnen mal wieder in den Nerv kneifen«, sagte Dammy beiläufig und tat es. »Nur eine sentimentale Geste zur Erinnerung an alte Zeiten, als Sie das Kneifen erledigten«, fügte er hinzu, als Xorialle zusammenzuckte. »Ich dachte, ich hätte das Jahrhundertding gedreht, als ich die Station in der Arktis übernahm und in ›Ihrer einzigen Verbindung mit der Außenwelt‹ abhaute. Sie sind ein guter Schauspieler, Doktor, sogar ohne den Affenanzug – He! Da wir gerade von Affenanzügen sprechen – wo ist denn mein neuer Freund Sport? In der ›Leiche‹ war er noch bei uns, ich hab’ aber nicht gesehen, daß er wegging. Oder sollte er eine weitere Facette Ihrer faszinierenden Persönlichkeit sein, Doktor?« »Auf keinen Fall, mein Junge«, sagte Xorialle steif. »Bitte ersparen Sie mir den Hohn. Im Augenblick des Triumphes sollte man großzügig sein, denn wer weiß, wann er sich zu einem Augenblick der Niederlage wandelt?« »Das war die höflichste Drohung, die ich je erhielt, Doktor. Aber gut, vergessen Sie es. Wir können zu anderen Dingen
übergehen. Zum Beispiel wäre da die Spezialeinstufung in die zweite Klasse, Sie bösartiger alter Lügner, Sie.« »Ich habe nur meine Pflicht getan«, erklärte Xorialle. »Und es war ein schwerer Schlag für mich, daß Sie meine feinsten Täuschungsmanöver eines nach dem anderen durchschauten. Sie, ein ungebildeter Primitiver – bevor Sie in meine Lehre gingen – und ich, ein Großmeister aller Künste. Sehr demütigend.« »Eine kleine Demütigung brauchten Sie auch dringend«, sagte Dammy mit gespielter Freundlichkeit. »Sie sind immer noch ein ganz schön arroganter alter Halunke.« »Wie meinen Sie das, Damocles? Ich habe gestanden, meine Seele liegt sozusagen nackt vor Ihnen, und dennoch – « »Und dennoch lasse ich mich nicht gern betrügen. Verstehen Sie doch endlich, Doktor: All Ihre Ängste haben sich bewahrheitet; Sie sind arbeitslos, der galaktische Consensus ist erledigt.« Xorialle stieß ein Wimmern aus und wandte sich blindlings zur Fahrstuhltür, die noch offen stand. Dammy stellte ihm lässig ein Bein und ging an die nächstgelegene Vitrine. Er betrachtete den barbarischen Schmuck, der in ihr zur Schau gestellt war. Er sah ein massives Armband aus mattglänzendem Gold, besetzt mit roh geschnittenen Smaragden und walnußgroßen Diamanten, ein mit feinster Filigranarbeit verziertes Platindiadem; und ganz hinten lag ein aus weichem Holz geschnitzter, klobiger Fingerring, der mit etwas verziert war, das wie ein Klumpen rosa Bubble-Gum aussah. »Das ist schon eine Sammlung«, meinte Dammy. »Welches Stück gefällt Ihnen am besten?« »Ich bevorzuge kein einzelnes Stück«, sagte Xorialle. »Ich präsentiere lediglich eine Sammlung dessen, was ist.«
Die nächste Vitrine enthielt einen abgenagten Knochen, einen aus schwarzem Stein gearbeiteten Zwerg mit überdimensionalem Phallus und eine hübsche schlanke Statuette aus Silber. »Übrigens«, fiel es Dammy wieder ein, »was haben Sie mit Sport gemacht? Sie haben ihn hoffentlich nicht umgebracht. Er war mein Freund.« »Keine Angst, Dammy, ich kenne ja Ihre merkwürdige Einstellung Ihren ›Freunden‹ gegenüber. Sport oder, wie man ihn zuhause nannte, Liebe-Kleine-Blume-Die-Viel-Schreit, befindet sich in Sicherheit. Er schläft bequem zusammengerollt an seinem vertrauten Ort. Sie können sicher sein, daß wir ihn nicht siebzehntausend Jahrhunderte lang bei bester Gesundheit gehalten haben, um ihn aus einer Laune heraus zu beseitigen.« »Wenn das gelogen war, nehme ich Sie ganz langsam auseinander«, sagte Dammy. Sie brauchen keine Angst zu haben, Planetengenosse, ertönte Astrobes bekannte schweigende Stimme in Dammys Großhirn. Ich bin sehr zufrieden. Alles verläuft nach Plan. »Wieso«, fragte Dammy Xorialle, »schalten Sie plötzlich wieder auf Gedankensprache um? Und wieso bin ich Ihr Planetengenosse?« Xorialle sah so entsetzt aus, wie es seine ungeordneten Gesichtszüge erlaubten. »Damocles«, summte er in C-3, seinem Lieblingsidiom, »ich muß Sie um Nachsicht bitten. Eine Kleinigkeit ist meiner Aufmerksamkeit entgangen.« Er wollte wieder an den Fahrstuhl gehen. »Stehenbleiben!« befahl Dammy barsch. »Sie haben meine Frage nicht beantwortet.« »Ich nannte Sie aus Versehen meinen Planetengenossen«, erklärte er. »Ich wollte es eigentlich nicht preisgeben, aber ich bin menschlich, genau wie Sie. Allerdings repräsentiere ich einen anderen Entwicklungszweig. Meine Wurzeln reichen
zum Ramapithecus zurück, der vor ein paar Millionen Jahren lebte. Mein jüngster Besuch in meiner Heimatwelt geschah aus Neugier, wenn Sie das verstehen. Ich wollte selbst sehen, wie sich seit meiner Zeit alles entwickelt hat. Ich war natürlich sehr bestürzt, als ich feststellen mußte, daß mein eigener Primatenzweig ausgestorben ist. Sie wurden von Ihren wilden Vorfahren ausgerottet.« »Schöner Vortrag«, sagte Dammy spöttisch. »Wenn ich nicht wüßte, daß Lügen Ihre Lieblingsbeschäftigung ist, wäre es vielleicht eine interessante Geschichte.« »Dammy! Sie tun mir bitter unrecht – genau wie Ihre Vorfahren den Angehörigen unseres Entwicklungszweiges Unrecht zufügten.« »Quatsch!« sagte Dammy kurz. »Weg von der Tür! Gehen Sie dort hinüber. Und hören Sie auf mit den Klageliedern über Ihre armen, ausgerotteten Ahnen. Ich will endlich wissen, was ich hier oben soll!« »Was das betrifft – « begann Xorialle. »Vergessen Sie es«, sagte Dammy und sondierte ganz plötzlich Xorialles Erinnerungszentrum für laufende Vorgänge – er traf auf undurchdringliche Leere, hinter der rastlose Energien flackerten. Lassen Sie nur, Dammy, sagte Astrobe plötzlich, lassen Sie ihn in Ruhe. Die arme Kreatur ist nur Werkzeug; er weiß kaum etwas, das für Sie von Wert sein könnte. Machen Sie einfach weiter, und haben Sie Vertrauen. Dammy ging zu dem am Boden hockenden Xorialle. Bevor er ihn erreichte, sprach Astrobe wieder. Betrachten Sie die Ausstellungsstücke. Und seien Sie freundlich zu dem armen Xorialle. Er weiß so wenig wie Sie. »Eine Sekunde«, sagte Dammy fast knurrend. »Sie reden so, als ob Sie und Xorialle nicht derselbe sind.«
Natürlich nicht, Dammy. Sie müssen jetzt Ihren Beitrag leisten. Dies ist die Stunde der großen Krise. Ich bitte Sie dringend, bereitwillig zu tun, was ich ihnen sage. »Warum sollte ich?« »Weil wir Freunde sind.« »Unsinn! Wie kann ein Sprechsystem mein Freund sein, das ich höchstens zwischen den Ohren höre? Haben Sie denn keinen Körper? Wie sehen Sie aus? Ach, vielleicht will ich das gar nicht wissen.«
XIV
Eine halbe Stunde später, er hatte sich gerade durch alle Seitenflügel des Ausstellungsraumes hindurchgearbeitet, fand sich Dammy vor einem durch Seile abgetrennten Raum wieder, über dessen gewölbtem Eingang in Pandex-Schrift die Worte standen: HALLE DER SELTSAMKEITEN. Er trat über das purpurne Seil hinweg. Hinter ihm stieß Xorialle einen spitzen Schrei aus. »Nicht dort, mein Junge«, protestierte er. »Nach rechts: die HALLE DER ERRUNGENSCHAFTEN.« »Ich werde sie mir beide ansehen«, erwiderte Dammy. »Deshalb haben Sie mich doch hergebracht, oder nicht? Wollten Sie mich mit Ihrem Geschrei abhalten, hineinzugehen, oder sollte ich es erst recht tun? Einerlei. Ich gehe erstmal hinein.« Xorialle stieß einen gequälten Laut hervor, protestierte aber nicht länger. Im ersten Glaskasten sah Dammy einige Steinwerkzeuge – ein paar davon grob behauene Kiesel, andere etwas feiner gearbeitete Geräte aus Flintstein. Der letzte Gegenstand war eine sorgfältig geschliffene und polierte Basaltscheibe mit einem Durchmesser von 20,07 cm und einer Stärke von 2,00 cm, die in der Mitte ein sauber gebohrtes Loch aufwies. Dammy ermittelte durch kurze Argon-Analyse ein Alter von 10.200 Jahren. »Aha«, sagte Dammy in spöttischer Bewunderung. »Die Originalerfindung des Rades. Schade, daß sie den Ford Modell T nicht auch gleich erfunden haben.« Mitten in dem großen, vollgestopften Raum stand auf einem Gerüst ein plumpes Handwerkstück von der Größe einer
Rangierlok. Die Maschine hatte über vier Meter hohe Räder aus poliertem Messing, die im Stil der Geräte in mittelalterlichen Planetarien handgearbeitet waren. Solche Geräte hatte Dammy früher in Museen betrachtet. »Das könnte von Leonardo sein, wenn der sich nicht auf Zeichnungen beschränkt hätte«, sagte Dammy und ging zu einem Gestell aus Bambus, das straff mit lackiertem Papier bespannt war und offenbar einen Flugapparat darstellte. Oben war ein Sattel angebracht, und unten hing eine von Hitze angelaufene Metallröhre. »Eine F-115 ist es nicht gerade«, bemerkte Dammy, »aber das Ding sieht aus als könnte es funktionieren – mit einer vernünftigen Ladung Schießpulver. Chinesisch, nicht wahr?« fragte er. Xorialle antwortete nicht. »Aber was sollte eine primitive chinesische Flugrakete auch in diesem kleinen privaten Kuriositätenkabinett?« Er beantwortete seine eigene Frage mit einer zweiten. »Wie alt ist das Gerät?« Ohne eine Antwort abzuwarten, sondierte Dammy im Geiste die trockenen Bambuszellen und stellte das C7C14-% Verhältnis fest. »Ungefähr neunhundertfünfzig Jahre«, schätzte er, »plus/minus das Alter einer guten Flasche Cognac.« Xorialle saß zusammengesunken in einem Sessel vor einem großen Fenster, durch das Pepsi-Cola-farbenes Zwielicht matt in den Raum fiel. Dammy stand gerade vor einem Schaukasten mit Elektromotoren verschiedener Größen. Sie schienen aus Walzblech gebastelt zu sein, und in spinnenartiger arabischer Schrift war an jedem Motor die Leistung in Kamelstärken abzulesen. Die Maschinen, die von den Motoren angetrieben werden konnten, standen in einem weiteren Schaukasten. Es waren hauptsächlich Werkzeuge zur Edelsteinbearbeitung. Im Weitergehen bemerkte Dammy eine Anzahl handgezeichneter Landkarten, auf denen deutlich die Umrisse
von Florida, Cape Cod, Feuerland und die der Antarktis zu sehen waren. Die letztere schien Dammy falsch gezeichnet zu sein, bis er entdeckte, daß es sich um einen eisfreien Kontinent handelte. Eine mit zittriger Hand gezeichnete Karte der Großen Seen trug die Aufschrift »Allhie seind Tyger«.
»Komischer Laden«, sagte Dammy, »aber es muß ein Sinn darin liegen. Wir werden hier so lange arbeiten, bis wir den Sinn kennen – Sie, ich und der Mann, den Sie umgebracht haben. Das kann Ihnen kaum gefallen.« »So, Damocles«, sagte Xorialle finster, »Sie haben Ihren Spaß gehabt – und jetzt laufen Sie um Ihr Leben!« »Ihre ganzen Inszenierungen waren nur für mich gedacht, Doktor. So und nicht anders war es. Ich sollte alles sehen. Zum Beispiel das ausgebrannte Wrack und die Leiche. Ich nehme an, die Abteilung Polizisten wurde außer Sicht gepustet. Und was sollte ich tun? Sollte ich etwa um Gnade winseln, als ich den großartigen, unersetzlichen alten Dammy tot und verbrannt sah? Geben Sie doch zu, daß Sie Mist gemacht haben.« Alles in Ordnung, Dammy. Sports vertraute Gedankenstimme klang heiter. Dammy hörte ein Geräusch und drehte sich um und sah seinen alten Freund aus dem Fahrstuhl steigen. Er grinste breit und zeigte dabei seine gelben Schneidezähne. Impulsiv schloß Dammy ihn in die Arme. »Du hast dich weggeschlichen«, schimpfte er. »Ich war so damit beschäftigt, mir den Wanst vollzuschlagen, daß ich es gar nicht bemerkte. Ich hab’ mir schreckliche Sorgen um dich gemacht, alter Junge.« »Das glaube ich«, sagte Sport in holprigem Litauisch. »Dammy, es ist Zeit, den armen Kerl in Ruhe zu lassen und weiterzumachen.«
»Womit weitermachen? Ich versuche gerade rauszukriegen, was hinter all diesen Albereien steckt.« »Aber Dammy, du hast doch sämtliche Daten«, sagte Sport ein wenig vorwurfsvoll. »Jetzt wird es Zeit, sie auszuwerten.« »Mit Daten hatte ich eben erst zu tun«, gab Dammy zurück. Warten Sie, Dammy. Ein stummer Vorschlag (oder Befehl?) unterbrach Dammys Protest. Überlegen Sie: Haben Sie sich nicht während Ihres kurzen Aufenthalts hier in Trisme recht ungeschickt verhalten? Denken Sie an den Augenblick Ihrer Ankunft zurück. »Nun«, murmelte Dammy, »immerhin brachte ich die Polizisten in Verwirrung, aber bevor ich mich verkrümeln konnte, liefen mir Orf und seine Jungs über den Weg. Trotzdem konnte ich Bloot dazu überreden, mich hierher zu bringen.« Dammy, bei jedem Schritt handelten Sie genau wie man es sich wünschte. »Quatsch!« bellte Dammy. »Diese Narren wußten zu keiner Sekunde woran sie waren.« Ihr schlimmster Fehler war, sich dazu verleiten zu lassen, einen Doppelgänger Ihrer selbst hervorzurufen. Das war insofern sehr gefährlich, als es Sie zwang, Ihre Kräfte zu zersplittern. Sie mußten einen Teil Ihrer Energie an Ihr falsches Ich abgeben – daher die Unklugheit und Ziellosigkeit Ihres Vorgehens, ausgerechnet zur Stunde der Krise, ausgerechnet als der Sieg greifbar nahe lag. »Was meinen Sie damit, ›verleiten‹?« fragte Dammy wütend. »Es war meine eigene Idee und eine gute dazu!« »Denk’ zurück, Damocles. Erinnere dich«, schlug Sport vor. »Mit wem rede ich jetzt eigentlich, Sport, mit dir oder Astrobe?« fragte Dammy ungeduldig. Eine Unterscheidung ohne Unterschied, sagte Astrobe sanft.
»Soll das heißen – du bist Astrobe?« ächzte Dammy und starrte ungläubig in das Affengesicht seines Freundes. »Ganz richtig«, sagte Sport auf Zulu. »Aber darüber reden wir später. Jetzt haben wir es mit wichtigeren Dingen zu tun. Erinnere dich an den Augenblick deiner Ankunft. Versuch es, Dammy. Es ist wichtig, daß du alles genau verstehst.« Preis, dachte Dammy. Pik-Drei… Als das Läuten(!) ertönte, war Dammy hellwach… schnell aktivierte er Teile seiner für späteren Zugriff gespeicherten Kenntnisse und erinnerte sich, daß für eine außerplanmäßige VS-Transportkapsel alle Anflug- und Landemanöver von Nexus direkt geleitet werden. Also brauchte er nur geduldig zu warten, bis sich die Kapsel entsprechend den gültigen Direktiven zur Erhaltung der Energie von selbst auflöste. ACHTUNG! eine schweigende Stimme traf ihn wie ein Hammerschlag. SIE, FREMDES WESEN, WÜRDEN JETZT FOLGENDE SCHRITTE UNTERNEHMEN! (Es folgte eine Reihe von komplizierten Anweisungen.) Aber, wandte Dammy ein, das ist verdammt riskant – und ich brauche meine ganze Kraft, um mit diesen Superwesen, wer immer sie sind, fertigzuwerden! BEFOLGEN SIE SOFORT DIE ANWEISUNGEN! kam unerbittlich die Antwort. Widerwillig gehorchte Dammy. Sofort riß ein Schwächeanfall ihn zu Boden. Er nahm kaum das leise Knallen wahr, mit dem die Gefängniskapsel sich um ihn herum dematerialisierte. Er blinzelte in die plötzliche Dunkelheit. Dann wurde seine Sicht wieder klar. Ein halbes Dutzend Trismaner der Klasse zehn standen im Halbkreis um ihn herum und hatten die Hände an ihren gefährlichen Krummsäbeln. »Moment mal, Jungs«, rief er. »Ich muß eine Entführung melden. Ein Vocile Napt war das zuerst, glaub’ ich und dann
hat sich dieser andere Typ eingemischt – Astrobe nennt er sich – und im Vang-Sektor läuft ‘ne Horde Teest frei ‘rum…« »Einen Moment«, sagte Dammy wie benommen. »Das war ich nicht, das war er.« Das stimmt, Dammy, beruhigte ihn Astrobes ruhige Stimme. Dammy blinzelte wieder und schaute sich um. Er sah die bizarren Ausstellungsstücke in Xorialles Museum, den schneckenartigen Xorialle selbst und auch Sport, der ihn erwartungsvoll anblickte. »Verdammt«, rief Dammy. »Jetzt komme ich wirklich durcheinander. Ich erinnere mich daran, daß ich es war, aber gleichzeitig weiß ich, daß ich an der Tür stand und sah, daß er es war. Wie soll ich wissen, was wirklich passierte?« Wirklichkeit, sagte Astrobe, ist das, was (einem normalen Verstand) als Wirklichkeit erscheint. »Gut und schön«, meinte Dammy, »aber wer war der Vogel, der mich veranlaßte, einen Doppelgänger der Klasse vier abzuspalten?« »Das war unser alter Xorialle, der mit einigen anderen hiesigen Beamten in Gedankenverbindung stand«, sagte Sport darauf. Xorialle näherte sich der Tür. »Komisch«, sagte Dammy. »Ich erinnere mich an die Komödie mit meinem hübschen rosa Zylinder, und dann – heh? Ich weiß auch noch, daß Bloot mich in den Wagen zerrte – allerdings fuhr er mich gleichzeitig in der Stadt herum. Dann – zack! – erwischten sie mich, als ich aus der ›Grünen Leiche‹ kam – nur war ich schon draußen. Dann – « Dammy mußte schlucken, »dann wurde einer von mir durch eine Bombe getötet.« »Erinnerst du dich an den Augenblick der Explosion?« fragte Sport auf Skonsk. »Nein, danke, ich war ja nicht dabei. Ich stand hinter der Ecke, und von daher hörte ich den Knall.«
»Dammy, etwas sehr Seltsames ist passiert – ein wahrer Glücksfall. Im Augenblick der Explosion kehrte dein Ich offenbar zu seinem ursprünglichen Nervensystem zurück.« Sport sprach jetzt etruskisch. »Das sagte Xorialle schon«, war Dammys Stellungnahme. »Und was besagt das?« »Darum bin ich so schnell hergekommen«, sagte Sport auf Gullah. »Dammy«, fuhr er fort, »ich muß dich bitten, etwas zu tun, das mit Sicherheit unangenehm ist, sich sogar als tödlich erweisen kann.« »Prima. Darauf habe ich mich schon immer gefreut. Aber vorher solltest du mir noch einiges erzählen.« »Selbstverständlich.« Sports Französisch war das des Quartier Latin in Paris um ungefähr 1620, stellte Dammy sofort fest. »Vor etwa siebzehnhunderttausend Jahren entdeckte ein consensisches Überwachungsteam auf einem Routineflug im Vang-Sektor das Sonnensystem Sol mit seinen elf Planeten. Es wählte den Doppelplaneten auf der dritten Umlaufbahn als Muster aus. Man fing mich ein und überführte mich in die derzeitige consensische Hauptstadt. Eine Routineauswertung meines Potentials ergab einige anomale Daten. Ich wurde also in die Kategorie Yunt eingestuft und einige hunderttausend Jahre lang streng überwacht. Nach Ablauf dieser Zeitspanne war man dumm genug, mich in Klasse zwei (Routine) einzustufen und mir den Status der Kategorie Bist (mit Privilegien) zu gewähren. Das gab mir natürlich die Möglichkeit, lesen zu lernen, und ich konnte damit beginnen, den Exokosmos zu untersuchen.« Sport hielt inne und seufzte. Dammy wandte bei einem Geräusch den Kopf und sah Xorialle zum Fahrstuhl eilen und durch die offene Tür springen. Dammy ging hinterher und schaute in den Schacht. Vier Meter weiter unten sah er einen
mit Teppichen ausgelegten Fußboden. Dammy erkannte das Büro, in dem Floss Clace ihn interviewt hatte. Xorialle stand an der Schranktür und hatte gerade einen Bügel mit Kleidern herausgenommen. Es war das Kostüm, das der Fremde bei seiner ersten Begegnung mit Dammy getragen hatte. Rasch legte er es an, sah nach oben und winkte Dammy zu. »Auf Wiedersehen, mein Junge«, rief er. »Vielleicht sehen wir uns eines Tages wieder.« Rasch war er verschwunden. »Warum eigentlich nicht«, sagte Sport. »Er war nicht der Schlechteste.« »Okay, wir waren bei der Untersuchung des Exokosmos stehengeblieben.« »Ganz richtig. Es dauerte einige Millionen Jahre, bis die consensischen Behörden merkten, daß ihnen ein Fehler unterlaufen war, und noch länger, bis sie wußten, daß ich, der primitive Zoobewohner, das Problem darstellte – ich hatte Unrecht und Ungereimtheiten in der consensischen Gesellschaft bemerkt und geschickt die erforderlichen Maßnahmen ergriffen. Durch subjektive Einflußnahme gelang es mir, die Angelegenheiten zu steuern. Erst vor zweihunderttausend Jahren dämmerte den Consensischen die ganze Dramatik des Problems.« »Sie dämmert mir noch nicht, Sport«, sagte Dammy. »Wie wäre es, wenn du ein paar Erdzeitalter überspringst und endlich zur Sache kommst.« »Ein menschliches Wesen, das eineinhalb Millionen Jahre alt wird, ist natürlich in der Lage, alle in ihm angelegten Möglichkeiten voll auszuschöpfen. Bis jetzt bin ich der einzige, dem das gelungen ist.« »Der alte Doktor Xorialle nannte mich einmal den UltimaxMann«, sagte Dammy nachdenklich. »Er irrte: Du bist der Ultimax-Mann!«
»Der arme Xorialle, ein Beamter von hohem Rang, glaubte, einen Ausweg zu sehen. Er sah sich der Situation gegenüber, daß der große und mächtige galaktische Consensus in Wirklichkeit von einem einsamen, dazu noch eingesperrten Superwesen regiert wurde. Er entschloß sich, einen ebenbürtigen Rivalen heranzuzüchten und ihn auf der anderen Seite der Gleichung einzusetzen. Sehr spät erst erkannte er die Untauglichkeit dieser völlig illegalen Methode. Denn jetzt sind wir natürlich zwei. Zwei in einer Welt, deren Milliarden Bewohner potentiell ebenso in der Lage wären, die gesamte Galaxis zu beherrschen.« »Das beeindruckt mich außerordentlich«, sagte Dammy. »Aber was ist jetzt das Unangenehme, von dem du gesprochen hast…?« »Zum ersten und einzigen Mal seit der Mensch über seine menschenähnlichen Vorfahren hinausgewachsen ist«, sagte Sport, »hatte ein menschlicher Intellekt die Chance, über die normale Tausendjahrspanne hinaus weiterzuleben. Das ist keine Frage der Erziehung oder Bildung, das ist ganz einfach eine Frage der Erfüllung. Es ist wie bei einem Schmetterling, der in seiner Larve heranreift. In der Entwicklung des einzelnen Lebewesens wiederholt sich die ganze Stammesentwicklung: von der Empfängnis bis zum Alter von drei Jahren durchläuft der Mensch eine organische Entwicklungsgeschichte von siebenhundert Millionen Jahren – von der einzelnen Zelle bis zum Erlernen der Sprache nach etwa fünfundvierzig Monaten. Anschließend erforscht er das riesige Potential seines Nervensystems – und kaum hat der Prozeß richtig eingesetzt, wird er schon durch den Tod beendet. In meinem Fall, der ich schon im Alter von drei Jahren von den Gefahren der Umwelt abgeschirmt war und sorgfältig ernährt und gepflegt wurde, konnte ich in fast zwei Millionen Jahren zur Vollendung gelangen. Xorialle gelang es,
einen Großteil deiner Entwicklungsmöglichkeiten zu verwirklichen, indem er dich zum Lernen zwang. Allerdings, Dammy, wurde notwendigerweise ein wichtiger Teil deines Ich abgespalten, um deinem Doppelgänger Leben zu verleihen, den hervorzurufen man dich unglücklicherweise zwang. Wie du also vor mir stehst, bist du nicht komplett. Du bist nicht im Besitz deiner gesamten Kraft.« »Quatsch«, sagte Dammy, »ich kann doch immer noch – « Er brach ab und konzentrierte sich. »Ich weiß schon was du meinst«, schloß er. »Ich war schon besser. Aber für einen ganz gewöhnlichen Idioten aus Chicago bin ich doch große Klasse.« »Es gibt einen Ausweg, Dammy. Dein anderes Ich ist nicht ganz tot. Es hat sich nur in eine Art Überlebenszustand zurückgezogen. Du könntest vielleicht…«
Der Druck quetschte ihn so dünn wie die Schnittebene eines Diamanten und so breit wie die gesamte Galaxis. Er steckte einen Finger unter den Rand und ließ das Ganze sich aufrollen. Mit Hammerschlägen preßte er es zu einer Scheibe zusammen, rollte es zu einer Kugel von einem Zoll Durchmesser. Der Schmerz übertraf den der schlimmsten Folter. Er nahm alle Kraft zusammen und schlug mit Gewalt zurück – ein Schlag ins Leere. Die Kugel dehnte sich aus, wurde immer größer, umfaßte zuletzt den ganzen Weltraum. Vielleicht war das der Urknall, sagte er, oder dachte es in riesigen gußeisernen Lettern. Er richtete seinen Intellekt auf das Wesentliche, fand den Mittelpunkt aller Dinge und schauderte zurück. Was er sah, erfüllte ihn mit Schrecken. Er versuchte zu gehen; er ging. Er wußte, daß er die ganze Galaxis durchschritt. Er hatte es gewagt. Ihn störte nur der Gestank. Er kümmerte sich nicht um die grauenhaften Knäuel verbrannten Gewebes. Er beachtete nicht die verkohlten
Fetzen, die von bleichenden Knochen hingen. Er ging seinen Weg…
»Dammy!« Sports Ausruf war eine Bitte. Dammy riß die Augen auf und sah das Gesicht seines Freundes wie einen riesigen Mond über sich hängen. »Versuch’ es nicht länger. Ruh’ dich aus. Einen Augenblick dachte ich – aber nein. Du lebst. Ruh’ dich aus.« »Ja, aber«, brachte Dammy gerade noch hervor, als sich hinter ihm zischend die Fahrstuhltür öffnete. Eine schwarze Gestalt taumelte hervor, eine grauenhafte Vogelscheuche. Mühsam hielt sich das scheußliche Gespenst auf den Beinen, trat einen Schritt auf Dammy zu und warf die Arme hoch, an denen häßliche schwarze Hände hingen, die nun zerbröckelten und sich auflösten. »Geschafft!« krächzte das ekelhafte Monstrum und sank zu Boden. Dammy ging der Aufprall des Körpers durch Mark und Bein. Für kurze Zeit waren seine Gedanken ein einziger Wirbel bruchstückhafter Eindrücke; dann riß er sich zusammen. »Ja, wir haben es geschafft, Sport«, sagte Dammy. »Wir sind wieder aufgetaucht. Ich bin wieder ich selbst.« Zehn Minuten später hatte Dammy die zweite Runde durch die HALLE DER SELTSAMKEITEN gemacht. »Ich habe es zuerst nicht verstanden«, gab er zu. »Jetzt verstehe ich. Jedesmal wenn im Laufe vieler Jahrhunderte ein Mensch eine wichtige Entdeckung machte, kam Xorialle, um alles zu zerstören.« »Nicht jedes Mal, Dammy«, sagte Sport. »Du hast es geschafft, wenn auch Consensus sich immer wieder eingemischt hat, um die Spezies in ihrer Entwicklung zu hemmen. Als zu meiner Zeit die biologische Evolution
abgeschlossen war, stellte sich die weitere Entwicklung als unvermeidbar heraus. Als Xorialle seinen verzweifelten Schachzug führte, war es schon zu spät. Die Menschheit hatte ihre Krise überwunden. Nun gibt es nur noch die Zukunft.« »So wird es sein«, sagte Dammy und versuchte, gleichgültig zu erscheinen. Aber seine Gedanken eilten weit voraus. Er dachte an Milliarden von Menschen, die, gebildet und aufgeklärt, bereit sind, ihr Erbe an Zeit und Raum anzutreten. »Komm, Sport«, sagte er. »Wir gehen nach Hause.«
ENDE