Manfred Weinland
Der träumende Tod Bad Earth Band 22
ZAUBERMOND VERLAG
Unheimliches treibt sein Unwesen auf der RUB...
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Manfred Weinland
Der träumende Tod Bad Earth Band 22
ZAUBERMOND VERLAG
Unheimliches treibt sein Unwesen auf der RUBIKON. Es kommt zu Zwischenfällen. Yael und Jiim sind betroffen, das Schiff selbst … und Cy. Der Aurige blüht auf – doch das könnte in seinem Fall tödlich sein. Charly gibt den entscheidenden Tipp, der die RUBIKON schließlich ins Sternsystem 08576F/16 führt. Die dortige Sauerstoffwelt ist von Fabelwesen bewohnt und birgt ein tödliches Geheimnis. Was ist der Mahnstein? Und was verändert mit seinen Träumen selbst die Realität?
Was bisher geschah ... Auf der Suche nach Saskana, der Heimatwelt des verstorbenen Boreguir, wird die RUBIKON-Crew im Zentrumsgebiet der heimatlichen Milchstraße Zeuge eines Raumgefechts. Eine goldene Kugel wird von fremden Raumschiffen angegriffen und vernichtet. Der Gloride Fontarayn wird als einziger Überlebender geborgen. Er stammt aus Andromeda und führt die RUBIKON hinter den Ereignishorizont des zentralen Milchstraßen-Black-Holes, wo sich eine sogenannte CHARDHIN-Perle befindet, die zu einem universellen Netz von Stationen gehört, welche zu jeder Zeit existieren. Mit Mühe kann die RUBIKON-Crew den Gefahren der Station trotzen. Wieder heil zurück im Normalraum, begegnen sie einem weiteren Gloriden namens Ovayran. Zum ersten Mal erfahren sie etwas über die Treymor, die Fontarayns Schiff vernichteten. Um der TreymorGefahr Herr zu werden, beschließt man den Aufbruch zur Andromeda-Perle. Bei einer Transition dorthin wird die RUBIKON jedoch zweihundert Jahre weit in die Zukunft geschleudert … und findet Andromeda völlig anders vor, als von Fontarayn beschrieben. Es häufen sich die Anzeichen, dass die Satoga, die vor zwei Jahrhunderten nach Andromeda aufbrachen, um sich dort friedlich anzusiedeln, verheerende Kriege gegen die hier beheimateten Völker geführt haben. Aber es kommt noch schlimmer: Die Andro-Perle steht kurz vor der Aufgabe durch die Gloriden und ihren Perlenweisesten. Als letzten Gefallen will er die RUBIKON in die Vergangenheit versetzen und ihr so die Möglichkeit geben, die Hintergründe des rasanten Verfalls des universellen Netzwerks aufzudecken. Scobee will diesen Transfer jedoch nicht mitmachen, sondern bricht stattdessen mit Ovayran in dessen Schiff Richtung Milchstraße auf. John Cloud und die RUBIKON passieren indes die Portalschleuse
der Andromeda-Perle und erreichen ihrerseits die Milchstraße, jedoch in einer anderen Zeit. Nicht identifizierbare Objekte umschwärmen die Milchstraßen-Perle. Cloud und Jarvis begegnen schließlich einem der legendären ERBAUER. Er nennt sich Kargor und übernimmt die volle Befehlsgewalt über die RUBIKON, die zu einer Mission in die Milchstraße aufbricht, von der laut Kargor der Fortbestand des ganzen Universums abhängen könnte. Im System Butterfly-M2 wird man schließlich fündig. Dort residiert der »Zeitverbrecher« Darnok, ganz in seinem Streben nach Rache aufgehend. Die Besatzung der RUBIKON überwältigt ihn, doch es sind Jahrzehntausende in der Milchstraße vergangen, als das Entartungsfeld endlich erlischt. Jahrzehntausende, in denen sich die Menschen auf der Erde und sämtliche anderen bekannten Hochzivilisationen, vom Rest der Galaxie abgeschnitten, fortentwickelt haben. Auch die Erde ist nicht mehr wiederzuerkennen. Ihr Besuch endet in einem Beinahe-Desaster, denn sie und der Mond sind zu einem von der sogenannten »Oortschale« umschlossenen Hohlweltkonstrukt geworden, in dessen Vakuumzone eine ganz neue Menschenspezies aktiv ist: die Vaku-Farmer. Bei ihrem Vorstoß zerstört die RUBIKON unbeabsichtigt »Weiden« der Farmer, worauf John Cloud vor ein Tribunal gestellt wird. Oberster Richter ist der mit einem Residenz-Gigahirn verwobene Reuben Cronenberg, der eine bizarre Unsterblichkeit erlangt hat. Der RUBIKON mit John Cloud gelingt die Flucht aus Cronenbergs Machtbereich, als eine Flotte von Treymor-Schiffen über der Erde auftaucht. Kurz darauf steht ein sehr viel angenehmeres Wiedersehen auf dem Programm: Kargor führt die Crew wieder mit Scobee zusammen und offenbart das Angksystem mit all seinen Geheimnissen. Als es dort auf dem Planeten Portas – wohin es zeitweise auch Jiims Sprössling Yael verschlägt – Anzeichen gibt, die darauf schließen lassen, dass die ERBAUER, die sich selbst Bractonen nennen und als Schöpfer unseres Universums zu erkennen geben, endlich wieder den Weg zurück in ihr angestammtes Kontinuum finden könnten, verabschiedet sich Kargor von der RUBIKON-Mannschaft, die enormen Zuwachs von den Angkwelten erhalten hat.
In der Anomalie eines Milchstraßenplaneten trifft sie ausgerechnet auf Sobek. Der bringt die RUBIKON in seinen Besitz und steuert gemeinsam mit seiner Gefährtin Siroona die alte Heimat der Foronen, Samragh, an. Dort kommt es zum Duell mit Mecchit, der das wieder erblühende Foronenreich mit harter Hand regiert. Sobek siegt, Mecchit stirbt … aber dann kommt alles anders als erwartet. Ein in den Randgebieten Samraghs auftauchendes Phänomen – Tausende Sterne verschwinden ohne erkennbaren Grund – lockt Sobek an, und die Fremdtechnik aus der Anomalie, mit der er die RUBIKON unter seine Kontrolle bringen konnte, wird im Einflussbereich des Unfassbaren zerstört. Sobek stirbt. Und Siroona erhält von John Cloud die Chance, ihr Volk auf einen friedlichen Weg zu führen. Die RUBIKON aber kehrt in die Milchstraße, ins Angksystem zurück und informiert die Bractonen über ihre besorgniserregende Entdeckung. Eine Expedition ins galaktische Zentrum bringt es dann an den Tag: Der kosmische Bereich, in dem die Menschen siedeln, steht vor dem Kollaps, vielleicht das ganze bekannte Universum. Den verwaisten Platz der von Kargor mobil gemachten CHARDHIN-Station hinter dem Ereignishorizont des Super Black Holes hat eine Negaperle eingenommen. Im Heimatkontinuum der ERBAUER scheint man beschlossen zu haben, das EXPERIMENT (unser Universum!) rigoros zu beenden. Nur unter Einsatz fast aller vorrätigen Tridentischen Kugeln gelingt es schließlich, die Negaperle zu eliminieren und eine neue »gesunde« CHARDHIN-Station im Milchstraßen-Black-Hole zu installieren. Die Gefahr scheint gebannt, doch wieder einmal machen die Treymor von sich reden. Der Aquakubus, die vielleicht größte technische Leistung der Foronen, befindet sich in ihrer Gewalt. Nur noch Taurt und ein paar Getreue leisten Widerstand. Die RUBIKON kann dem dortigen Terror mit knapper Not entkommen. Tovah'Zara transitiert mit unbekanntem Ziel. Niemand ahnt, dass
der Kubus im irdischen Sonnensystem auf Höhe der einstigen Jupiterbahn rematerialisiert. Und dass Reuben Cronenberg, der uralte Herrscher auf Terras Thron, kurz darauf Besuch von einem Wesen hält, das die Treymor gerufen haben. Es gehört einer Spezies an, die von den Käferartigen als VÄTER verehrt wird. Und es scheint aus einer über 13 Milliarden Lichtjahre entfernten Galaxie zukommen … Indes verweilt die RUBIKON immer noch bei den Koordinaten, wo der Aquakubus den Ortungssystemen entwischte. Und einmal mehr rückt das Angkdorf in den Brennpunkt des Interesses. Assur, Winoa und Yael entdecken eine bislang unbekannte Seite des Schiffes. Dort herrschen seltsame Zustände. Und irgendetwas haust dort, von dem noch niemand weiß, ob es Freund oder Feind ist …
1. Einst Ferencs Körper sank so langsam und bedächtig in den kochenden Schlamm, als würde er es genießen. Das erwartungsvolle Lächeln erstarb den Zuschauern auf den Lippen, denn statt zu schreien, wie alle es bislang getan hatten, die sich dieser Prüfung stellten, stimmte Ferenc sogar ein Lied an – die Ode des Aufbruchs, die ihn sein Vater gelehrt hatte und die den Legenden nach auf den Gründer Erron zurückging. Vielleicht hatte Erron nie gelebt und war nur ein Produkt aus Tagen, als Salmonen noch Werte wie Neugier gepflegt und … Ferenc seufzte innerlich, ohne sich damit auf die Schmerzen zu beziehen, die unermüdlich an den Schilden nagte, die Ferenc wenigstens um seinen Geist errichtet hatte. Anders wäre das alles nicht zu ertragen gewesen. Er war kein Überwesen, keine Figur, die sich irgendein Denker an irgendeinem Feuer ausgedacht hatte, wie es sich vielleicht mit Erron verhielt. Aber die, die ihn gerade betrachteten und zusahen, wie sein athletischer Körper von den Hufen aufwärts immer tiefer im kochenden Brei der Schmiede verschwand, schienen genau das zu glauben. Und vielleicht war es klug, ihnen die Illusion zu lassen. Wenigstens diese. Die Welt war arm genug. Arm an Träumen und Visionen. Erstickend und lähmend war der Druck, der schon auf Kindern lastete – im Grunde ging es tagein, tagaus nur noch ums nackte Überleben. Überall herrschte bitteres Elend. Es schien, als habe sich die Sonne am Himmel mehr als verdoppelt, was ihre Größe und Strahlkraft anging – verdoppelt gegenüber den Zeiten, die als der Glückliche
Morgen Salmos bezeichnet wurde. Ferenc selbst erinnerte sich nicht mehr an die Zeit der Beben. Damals war er noch nicht einmal geboren gewesen. Aber die Alten wussten es von ihren Vätern und Müttern, und die … so hieß es … hatten es am eigenen Leib erfahren. Die Zeitenwende. Das Jahr, in dem der Glückliche Morgen zum Roten Zenit abgelöst worden war. Und der Rote Zenit war das, was Salmos Antlitz seither prägte. Zuerst waren die Ernten auf den Feldern verdorrt. Dann folgte der Großteil der wildwachsenden Pflanzen, von denen sich Salmonen ernährt hatten, seit es sie gab. Die vorausgegangenen Beben hatten Land und Meer schon unermesslichen Schaden zugefügt. Es wurde erzählt, dass die Küsten des Kontinents, der Ferencs Volk beheimatete, von Riesenwellen überschwemmt worden seien und dass, als die Wasser sich wieder zurückzogen, mannshoch Fische und anderes Meeresgetier die Strände bedeckt habe. Der vermeintliche Segen – Nahrung im Überfluss – war schnell zum Albtraum der Salmonen geworden. Die Überlebenden der Beben und Überschwemmungen hatten gar nicht schnell genug aufräumen, gar nicht schnell genug die Kadaver verarbeiten können, wie sie zu stinken und zu verwesen begonnen hatten. In jenen Tagen, so erzählte man, sei der Gestank so schrecklich gewesen, dass Salmonen schon daran gestorben waren, dass sich ihre Körper irgendwann einfach weigerten, weiterzuatmen – weil die Gerüche ein Maß angenommen hatten, das nicht mehr zu ertragen war. Die Luft hatte sie so sehr geekelt, dass sie ihr nicht mehr gestatteten, ihre Körper auch noch von innen zu besudeln. Lieber waren sie gestorben. Auch was das anging, wusste Ferenc nicht, ob es Wahrheit oder der Fantasie der Älteren geschuldet war. Er wusste nur: Geschichten wie diese hatten ihn von klein auf geprägt – und wahrscheinlich großen Anteil daran, dass aus ihm geworden war, was er heute darstellte. Ein Anführer. Der erste Anführer überdies seit Langem, dem es gelungen war,
das Feuer der Neugier, das in den meisten Salmonen längst erloschen schien, noch einmal zu entfachen. Er hatte an ihren Stolz appelliert und an ihre Verantwortung, die sie, wie er selbst vorlebte, für die Gemeinschaft trugen. Charismatisch wie er war, hatten seine Reden gefruchtet. Es war ihm immer leicht gefallen, andere zu überzeugen – erst im Kleinen, später dann in den ernsteren und wichtigeren Belangen eines Stammes. Und dass er jetzt ohne den leisesten Klagelaut, ohne Zögern, aber auch ohne übertriebene Eile in das Bad der Stählung tauchte, bescherte ihm die Bewunderung und den Respekt auch noch des letzten Zweiflers und Widersachers in den eigenen Reihen. So hatte es Ferenc geplant. Aber selbst er hatte nicht zu träumen gewagt, dass sich sein Wille zur Veränderung als stark genug erweisen würde, um den Qualen des Stahlbads tatsächlich in der Weise zu begegnen, wie er es gerade tat.
Ora beobachtete durch tränenverschleierte Augen, wie ihr Gemahl bereits bis zur Brust im brodelnden Schlamm stand und der kochenden Hitze dennoch weiter die Stirn bot. Es machte sie unendlich stolz. Seht hin! Ja, seht nur – besonders ihr, die ihr so oft gegen ihn gehetzt und eure Intrigen gesponnen habt! Seht hin und leistet ihm Abbitte! Einen besseren Führer und Anführer kann sich unser Volk nicht wünschen. Keiner von euch wäre dazu in der Lage! Wimmernd und schreiend würdet ihr die höchste aller Prüfungen über euch ergehen lassen – nicht halb so stolz und souverän wie er es euch vormacht … Die Wärme in ihrer Brust war tausendfach milder als das, was Ferenc gerade an Hitze zu ertragen hatte, aber sie hoffte, dass er mit einem winzigen Teil seines Selbst auch kurz an Ora und die Liebe dachte, die er für sie empfand. Ora, die ihm bereits zwei Töchter geschenkt hatte und gerade wieder ein Leben in sich trug, von dem nicht nur sie gehofft hätte, dass es endlich der ersehnte Sohn sein
würde. Auch das rechnete sie Ferenc hoch an: dass er sie nie hatte spüren lassen, in den Augen der anderen Salmonen, die alles an und um ihn herum kritisch betrachteten, eine Halbfrau zu sein. Und sie würde es bleiben, wenn auch diesmal ein Mädchen zur Welt kam, ganz egal, wie hübsch, wie klug, wie wundervoll es auch sein mochte … »Fer!« Sie konnte nicht verhindern, dass der Ruf ihren Lippen entschlüpfte. Vor Morgengrauen hatten sie sich noch einmal im Gatter ausgelebt, dem intimsten und privatesten Ort ihres Hauses. Sie waren sich viele Male nahe gekommen, ganz nah, und Ferenc war so behutsam wie stets gewesen, seit die Wölbung ihres Bauches unübersehbare Formen angenommen hatte. Aber außer sich zu lieben und Schwüre zuzuraunen, er mit seiner dunklen männlichen, sie mit ihrer zarten weiblichen Stimme, hatten sie auch viel über das bevorstehende Unternehmen gesprochen, das sie auf lange Zeit – und so die Götter wollten, gar für immer – voneinander trennen würde. Die Möglichkeit, sich auf eine Reise ohne Wiederkehr zu begeben, hatte Ferenc weit von sich gewiesen, und zwar mit so viel Leidenschaft und Überzeugung, dass Ora ihm schließlich dankbar geglaubt hatte. Seither war sie von einer fast unheimlichen Ruhe erfüllt. Und das Stahlbad – wie Ferenc sich ihm stellte –, bestärkte sie, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte, nicht um diesen Mann, den andere fürchten mussten, der sich aber selbst jeder Prüfung, die ihn unterwegs erwartete, gewachsen zeigen würde. Ora dachte wie eine liebende Frau. Sie war eine liebende Frau, die sich nicht nur von Ferencs starken Armen, sondern auch von seiner Vision mitreißen ließ. Er würde es schaffen. Er würde seinem Volk die Tür zu einem besseren Leben aufstoßen! Falls es noch irgendeinen Zweifel daran gab, erstickte sie ihn unter ihrer Bewunderung und Liebe. »Oh, Fer …«
Obwohl sie nicht laut rief und der Lärm der anderen Zuschauer sie eigentlich hätte übertönen müssen, hörte Ferenc, wie Ora ihn beim Namen nannte. Trotz der nun doch kaum noch zu beherrschenden Schmerzen nahm er sich die Zeit, nach ihr in der Menge zu suchen. Und dann sah er sie – etwas abseits stehend und nicht mehr an derselben Stelle, wo sie ihn zum Abschied noch einmal ermutigend umarmt hatte. Sie begegnete seinem Blick, und ein Ruck ging durch ihren zarten Körper. Sie hob den Arm, winkte. Aber schöner als alles, war der Ausdruck ihres Gesichts, der Ferenc sagte: Du hast alles richtig gemacht – und wirst auch weiter alles richtig machen! Versprich mir nur eins: Komm zurück! Er hatte es ihr allein in der vergangenen Nacht, die sie noch einmal bis zur Neige ausgekostet hatten, Dutzende Male versprochen. Spätestens jetzt, im Bad der Stählung, spürte er, dass er die wichtigste Entscheidung nicht erst mit der Mission getroffen hatte, zu der er seine besten Krieger aufgerufen hatte – sondern schon viel früher, an dem Tag, als er um Ora warb … und sie zu seiner Frau erwählt hatte. Sie war seine Kraftquelle. Sie machte ihn glücklich und stark, selbst wenn er eine Niederlage hatte einstecken müssen – und die Götter wussten, dass sein Weg zum Anführer ein steiniger gewesen war, bei dem manches Hindernis hatte überwunden, mancher Widersacher hatte besiegt werden müssen. Ora war in dieser wichtigen Phase die Konstante an seiner Seite gewesen, und er hoffte, dass sie ihn bis zum Ende aller Tage – ihrer beider Tage – begleiten, auch kritisch, wenn es sein musste, denn sie war stets ehrlich zu ihm, begleiten würde. Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, was die – wenn auch nur vorübergehende – Trennung von ihr bedeutete. Auch sein bester Kamerad würde hier zurückbleiben, nicht nur die Frau, die das Feuer von Liebe und Leidenschaft in ihm zu entfachen wusste …
»Oh, Ora …« Er wusste nicht, dass im selben Moment ein »oh, Fer …« über ihre Lippen kam. Unhörbar diesmal. Aber das änderte nichts an dem tiefen Gefühl, das die Bande zwischen ihnen durch den Blasen werfenden Schlamm des Stahlbads hindurch festigte. Es war, als würde auch dieses Band eine Rüstung erhalten – eine Panzerung, die kein Feind der Welt jemals zu zerstören im Stande sein würde … … so wie Ferencs ganzer Körper diese Weihe erfuhr. Ein letzter Blick … dann tauchte er bis über die Augen, bis über das stolze Gehörn in den sengenden Sud, der sich um jeden Zoll seines Körpers schmiegte. Die staunende Menge verstummte ehrfürchtig, als Ferenc komplett im Bad verschwunden war und sich die gerade noch einmal aufgerührte Oberfläche der bronzefarbenen Flüssigkeit schlagartig beruhigte. Wie erstarrt lag sie da. In manch einem Betrachter mochte der Gedanke aufblitzen, den Anführer nie mehr wieder zu sehen. Nicht so in Ora. Ruhig wartete sie, bis Ferenc es für ausreichend erachtete, was er seinem Körper zumuten wollte. Und dann war es so weit: Mit einem Schrei, der bar jeden Schmerzes, aber voller Triumph war, brach Ferenc aus der Tiefe hervor, schüttelte sich so vehement, dass allzu nahe Beobachter erschrocken zurückwichen, um von keinem der heißen Spritzer getroffen zu werden … … und entstieg dann dem Stahlbad, um sich der nächsten Phase des Rituals zu widmen.
Stunde um Stunde galoppierte Ferenc entlang der staubigen Kämme seiner Küstenheimat. Nirgends sonst war der Kontrast zwischen Meer und Land unmittelbarer und stärker zu erleben als hier. Das Meer, seine scheinbar unendliche Weite, war, auch wenn es von draußen betrachtet nicht so aussah, nach wie vor ein ebenso le-
bensarmer Ort wie die Wüsten, die das Gesicht des Festlands prägten. Die Geschehnisse, die dem Glücklichen Morgen des Planeten ein jähes Ende bereitet hatten, mussten seinerzeit wahrhaftig fast alles Getier in den Wassern ermordet haben, und wenn überhaupt jemals, dann erholte sich Salmo nur sehr, sehr langsam von dem brutalen Eingriff in seine Natur. Fischerei als Beruf, wie sie früher gang und gäbe gewesen sein sollte, existierte gar nicht mehr. Aber ab und zu kam ein Salmone mit einer selbst gefertigten Angelrute aus dem seichten Küstenstreifen zurück und präsentierte den Neugierigen, die sich stets rasch um einen solchen Ankömmling scharten, seinen Fang – der niemanden mehr zu überraschen schien als den Angler selbst. Neben kleinen Fischen wurden hin und wieder auch Krustentiere gesichtet. Eine einigermaßen beachtliche Größe wurde im Allgemeinen mit einem Fest gefeiert, in dessen Verlauf die Teilnehmer zumindest von der Suppe kosten durften, die damit hergestellt wurde. Auch das Fleisch, das ein solcher Fang abwarf, wurde gemeinschaftlich verzehrt – der Anführer, in diesem Falle Ferenc, genoss keine Sonderrechte. Auch er musste viel, viel Glück haben, um auf seinem Teller nicht nur Brühe, sondern auch einen noch so bescheidenen »Fleischanteil« zu finden. Trotzdem waren solche Feste mit die frohesten Ereignisse für die Salmonen, die freundschaftliche Beziehungen mit vielen anderen Siedlungen unterhielten. Ihr Kontinent war groß – aber es gab kein Gebiet darauf, das sich durch eine wirklich herausragende Fruchtbarkeit auszeichnete. Dem Boden Nahrung abzutrotzen, war steter Kampf, und viele nannten dies sogar unverhohlen Krieg. Krieg, den sie gegen die Welt selbst führten, gegen die Natur, die sie so stiefmütterlich behandelte, seit der Rote Zenit angebrochen war. Erschöpft und dennoch mit einem Gefühl, als wäre er neugeboren worden, blieb Ferenc nach langen Stunden schließlich in Sichtweite der erwartungsvollen Schar von Dorfbewohnern auf einer Anhöhe stehen. Er winkte den Wartenden ausgelassen zu, wusste er doch, dass sich Ora und seine beiden Töchter irgendwo dort unten befanden
und seine Rückkehr wahrscheinlich gar nicht mehr erwarten konnten. Aber bevor er zu ihnen trabte, blickte er im Schein der Sonne, die von einem fast wolkenlosen Himmel brannte, an sich herab. Er wollte der Erste sein, der sich so sah – gewappnet für die Herausforderung, der er sich im Dienste aller Salmonen, nicht nur der seines Heimatortes, stellen wollte. Die Rüstung war abgekühlt und gehärtet – in einer Weise gehärtet, wie nur das Bad der Stählung es zu erreichen vermochte, verbunden mit der unablässigen Bewegung des Trägers über die Stunden, bis die Rüstung ihre endgültige Beschaffenheit erlangt hatte. Wer die Eigenschaften des Stahlbads entdeckt hatte … auch dazu gab es mannigfache Legenden. Und auch hier tauchte wieder Erron als Name und Pionier auf. Aber im Grunde interessierte das heutzutage niemanden mehr. Es interessierte nur, was der spezielle Brei, der eine bronzefarbene Legierung ergab, zu tun im Stande war … mit jedem, der sich den Qualen der Schmiede, wie das Becken auch genannt wurde, auszusetzen bereit war. Die Schmiede war kein Privileg für Salmonen, die sich besondere Verdienste erworben hatten. Dennoch gab es in einem Jahr oft nicht mehr als einen, der sich den kaum erträglichen Schmerzen zu unterwerfen bereit war, in manchen Jahren auch gar keinen. Wozu auch? Wirklich von Nutzen konnte die Rüstung, die sich so um einen Körper formte, nur für jemanden sein, der in einen wahrhaftigen Krieg ziehen wollte – oder in ein Abenteuer, wie es noch kein Salmone vor ihm bestritten hatte. Nein, die meisten Tapferen legten ihre Rüstungen irgendwann wieder ab und verstauten sie in einem besonderen Bereich ihres Hauses – allein, um sich daran zu erinnern, zu welcher Großtat ihr Träger einmal im Stande gewesen war. Für Ferenc und die Mannschaft, die im Verlaufe der kommenden Tage zu ihm stoßen sollte, hatte das Bad hingegen eine ganz neue, immense Bedeutung. Sie waren die Ersten seit Salmonengedenken, die sich den Schrecken und Dämonen des Unbekannten stellen wollten – des Unbe-
kannten, das dort draußen … Ferenc blickte aufs offene Meer … quasi vor ihrer Haustür begann. Der weite Ozean war Schrecken und Verheißung in einem. Ferenc hoffte, ihn besiegen zu können – wobei die Rüstung, die sich um ihn gelegt hatte, mehr symbolischen Charakter hatte –, hoffte, ihm den Schatz entreißen zu können, von dem Salmonen träumten und erzählten, seit dereinst der Glückliche Morgen zerbrochen und das Zeitalter der Entbehrungen angebrochen war. Aber dort draußen, irgendwo, mochte das Paradies auf den Wagemutigen warten, die Schatzkammer, die den Bewohnern der Welt endlich wieder einen Grund liefern würde, sich tagein, tagaus allen Widrigkeiten des Lebens zu stellen. Ferenc wünschte sich nichts mehr, als ein bescheidenes Paradies hier, auf dem Grund und Boden, wo er geboren worden war. Aber den Schlüssel dazu, das wusste er seit frühester Kindheit, würde er nur fernab der Heimat finden können … und nur mit dem, was die Gemeinschaft in schweißtreibender Arbeit dem kargen Boden abgetrotzt hatte … … dem stolzen Schiff, das dort unten in der Bucht vor Anker lag, dem wahrscheinlich einzigen und schönsten Schiff des Planeten …!
Bevor Ora die Rampe verließ, die von der SUCHER hinab zum seichten Wasser führte, wo sich schon andere Familienangehörige der Mannschaft versammelt hatten, drehte sie noch einmal den schmalen Oberkörper und warf einen Blick den Weg zurück, den sie gerade gekommen war. Dort stand Ferenc und schenkte ihr ein maskenhaftes Lächeln, das ihr den Abschied versüßen sollte – aber das genaue Gegenteil bewirkte. War die Haut eines Salmonen normalerweise alabasterfarben, so glänzten Ferenc und seine Mannen, die ihm Treue geschworen hatten, jetzt wie aus Bronze gegossene Statuen aus … mit dem entscheidenden Unterschied, dass sie sich bewegten, ebenso geschmeidig wie vor dem Stahlbad. Denn das war die Besonderheit dieser Art Rüstung: Wenn man sich nur lange genug in Bewegung hielt, bis sie
vollständig abgekühlt war, erlangte sie am Ende zwei Attribute, deren Zusammenspiel sie unvergleichlich machte: Ihr Träger konnte sich darin wie in der bequemsten Stoffkleidung bewegen … und dennoch schützte sie ihn vor jeder bekannten Gewalt. Vor Schlägen und Schüssen zumindest, dachte Ora, nicht aber … Sie versuchte, sich dem Gedanken zu verschließen, was ihr aber nicht gelang … vor so etwas Simplem wie dem Ertrinken – und das auf einem Schiff, das sich wahrscheinlich den schwersten Stürmen ausgesetzt sehen wird, die ein Salmone sich nur vorstellen kann … Trotz dieser Schwermut, die sie nun, da die Trennung unmittelbar bevorstand, befiel, trotzte sie ihren Zügen ein Lächeln ab, dem – hoffentlich – nicht anzumerken war, wie es wirklich in ihr aussah. Zwei Stimmen, die zeitgleich erklangen, lenkten sie schließlich ab. Eni und Loy eilten wasserspritzend auf sie zu. Ihre schlanken Gestalten waren ein erfreulicher Anblick, mehr als das. Ora hielt sich daran fest und machte ihren Frieden mit sich; allein, sie konnte es sowieso nicht ändern, dass nun eine ferencfreie Zeit anbrach, über deren Dauer nicht einmal der Geliebte Prognosen hatte abgeben wollen. »Ich komme so schnell wie möglich wieder«, hatte er ihr erst vorhin noch ins Ohr geflüstert. »Nichts und niemand wird mich davon abhalten können, die Liebsten, die ich habe, wieder in die Arme zu schließen. Pass mir …« Zärtlich hatte er ihren Unterbauch gestreichelt. »… pass mir gut auf ihn auf.« »Und wenn es eine Sie wird?«, hatte sie besorgt erwidert. Ganz der Ferenc, ganz der charmante und verständnisvolle Gefährte, den sie einst erwählte, hatte er erwidert, den Blick ehern in ihre Augen – nein, ihr Herz! – gesenkt: »Dann werde ich mich des Glücks, bald von vier Frauen umsorgt zu werden, kaum zu erwehren wissen.« »Ich liebe dich.« »Ich liebe dich auch.« Leichter hatte er ihr den Abschied nicht machen können. »Kommt …« Sie führte ihre Töchter sanft, aber bestimmt von der Rampe weg, die jetzt eingezogen wurde. Gleichzeitig verkündete das Rasseln schwerer Ketten, dass der Anker gelichtet wurde.
Ora wusste nicht, wie es hatte geschehen können, aber in diesem Moment, in angemessener Entfernung innehaltend, betrachtete sie die SUCHER zum ersten Mal vom Bug bis zum Heck, von der Wasserlinie bis hinauf zum höchsten Punkt der Takelage. »Wer hat sich so etwas Prachtvolles nur ausgedacht …?« Sie merkte erst, dass sie laut gesprochen hatte, als Loy, die ältere der beiden Töchter, glühend vor stolz herausplatzte: »Vater! Vater hat sich das ausgedacht!« »Zusammen mit vielen anderen talentierten Helfern«, war Eni wie stets bemüht, der Gerechtigkeit Genüge zu tun. Ora lächelte, als sie sich vorzustellen versuchte, welcher Charakter ihrem Bauch wohl nach diesen beiden Prachtstücken entschlüpfen würde … aber dann verfinsterte sich ihre Miene, weil ihr klar wurde, dass die Wahrscheinlichkeit, Ferenc bis dahin wieder in die Arme schließen zu können, rechtzeitig vor der Geburt, verschwindend gering und eigentlich gar nicht vorhanden war. »Was ist, Mutter? Was schaust du so? Ist es wegen … Vater?«, fragte Eni und legte ihr den Arm um die schmale Taille. »Es ist, weil ich mich freue.« »Freue?«, echote Loy. Verwirrt versuchte sie, im Gesicht der Mutter zu lesen. »Ich freue mich, dass die Welt jemanden hat wie ihn.« Sie zeigte hinauf zum Schiff, wo der Kapitän zwischen seinen Leuten an der Reling stand und lächelnd und ruhig zu denen hinabschaute, die er nun verlassen würde. Vielleicht für lange. Vielleicht für immer. »Seht ihn euch noch einmal an – den Mann, der keinen Laut über die Lippen brachte, als das Stahlbad ihn verschlang.« Ihre Töchter schienen sich des Moments voll bewusst. Ihre Wangen glühten. Ihr Atem ging hörbar wie nach einem langen Galopp. »Er wird uns alle stolz machen«, sagte Loy, »noch viel stolzer als wir es jetzt schon sind – wenn er mit vollen Händen zurückkehrt. Mit –« »Du meinst, er wird die Schätze finden, die er sucht?«, fragte Eni verhaltener.
»Wenn du eine blühende Zukunft meinst … ja, Schwester, ja, ja, und tausendmal ja!« Ora winkte Ferenc zu, und sie weinte vor Glück, solche Kinder zu haben. Aber irgendwo tief in sich spürte sie schon jetzt, dass es nicht so einfach werden würde, wie Loy es sich vorstellte. Und selbst wenn die SUCHER all das finden würde, was Ferenc sich erhoffte, war noch lange nicht sicher, dass sich die Welt damit für alle Salmonen zum Guten verändern ließ. Sie hatte auch schon in der Vergangenheit, wenn auch bei weniger bedeutsamen Dingen, oft hellsichtiges Talent bewiesen …
In den ersten lägen und Wochen verlief die Reise fast wie ein Ausflug. Weder die Mannschaft noch ihr Kapitän, der zugleich Leiter der Expedition war, wurden sonderlich gefordert. Niemand war darüber traurig, denn echte Erfahrung in seefahrerischen Belangen besaß niemand von ihnen. Sie alle verließen sich auf das natürliche Gespür eines Salmonen, sich auf jede Situation einzuspielen, wenn nur genug Zeit blieb, sich an Widrigkeiten und neue Herausforderungen einzulassen. Ferenc befehligte eine Mannschaft, für die Seefahrt ein so wenig vertrautes Metier war wie für ihn selbst. Aber wie schon beim eigentlichen Schiffsbau, als sie auf alte Aufzeichnungen zurückgriffen, zeigte sich auch jetzt, dass viel genetisch verwurzeltes Wissen von einst ganz allmählich wieder an die Oberfläche trat. Salmonen hatten einst die Weltmeere befahren. Ihr Erbe schlummerte in einem jeden heute lebenden Nachkommen. Es musste nur … herausgekitzelt werden. Ferenc lächelte oft in diesen Anfangstagen, was sich unter der Maske, die zu seiner Rüstung gehörte, abzeichnete, als wäre sie zur zweiten Haut geworden. Er hatte Fabeldinge über diese Panzerung, die nur im Stahlbad zu erwerben war, gehört – bevor er selbst eine besaß –, und er musste zugeben, dass nichts von alledem übertrieben gewesen war, im Gegenteil, ihm kam es eher so vor, als entde-
cke er selbst immer neue Vorzüge. Die Rüstung war »dicht« und doch wieder nicht völlig geschlossen. Für Salmonen wie jedes andere Lebewesen mit komplexerem Organismus gab es unabdingbare Bedürfnisse, die von einer rundum geschlossenen Panzerung eigentlich hätten vereitelt werden müssen – doch das Material, aus dem sie bestand, schien »intelligent« zu sein. Es reagierte unverzüglich auf die leiseste Regung seines Trägers, die in Richtung Notdurft-Verrichtung oder dergleichen ging. Aber das war bei weitem nicht alles. Fast beeindruckender wirkte auf Ferenc und die, mit denen er sich unterhielt, dass die Rüstungsinnenseite sich offenbar um ihren Träger kümmerte. Kein Einziger, der eine trug, klagte über Juckreiz oder etwas anderes, das auf mangelnde Hygiene hingedeutet hätte, die eigentlich zwangsläufig Folgen hätte haben müssen, denn seit dem Erwerb der Rüstung hatte niemand sie wieder abgelegt, um sich zu waschen. Übernahm die Panzerung dies auf ungeklärte Weise? Hielt sie den Körper unter ihrer Schale … sauber? Sogar sauberer als die betroffenen Salmonen dies vor dem Erwerb auf konventionelle Weise vermocht hatten? Ferenc konnte darüber nur spekulieren. An eines aber erinnerte er sich deutlich: an seine letzte Zusammenkunft mit Ora. Im Gatter, bevor er mit der SUCHER in See gestochen war. Lustvoller war der Verkehr mit seiner Gemahlin nie vonstattengegangen, als in jener Abschiedsnacht, denn … auch da war die Rüstung zugegen gewesen. Und mehr als einmal war es Ferenc vorgekommen, als verstärke sie nicht nur seine Libido, sondern auch seine Ausdauer. Ora hatte später nicht darüber sprechen wollen, aber währenddessen hatte er sie wollüstig stöhnen und seufzen hören, wie noch niemals zuvor in all den Jahren. Das Lächeln wollte nicht von seinen Zügen verschwinden, wann immer er an seine Gemahlin und die Liebe dachte, die er für sie empfand. Beinahe ebenso oft dachte er an seine Töchter und das Ungeborene in Oras Leib.
Wenn überhaupt etwas existierte, das ihn von dieser Reise hätte abhalten können, dann die Niederkunft des Kindes, die er nun nicht erleben würde. Doch sie hätten ein ganzes Jahr verloren, um wieder eine Zeit der günstigen Winde wie jetzt zu erreichen, wären sie beherzt aufgebrochen … Nein, es war richtig gewesen. Richtig in Hinblick auf das, was es zu erreichen galt für ein ganzes Volk. Salmo war kein völlig unbekanntes Terrain für seine dominierende Spezies, auch nicht jenseits der Gestade des Festlands. Es gab alte Schriften, vor vielen Generationen festgehaltenes Wissen, das ein ziemlich genaues Bild der Welt zeichnete, dort, wohin das Auge nicht reichte. Aber niemand war seit einer kleinen Ewigkeit mehr da draußen gewesen, wo neben dem Hauptkontinent, den die Salmonen besiedelten, noch eine weitere Landfläche existieren sollte, die aus dem Heer kleiner Inselchen herausstach: Abadon hieß jener Ort in den alten Schriften. Abadon war nur etwa ein Zehntel so groß wie die Landmasse, auf der Ora und die anderen zurückgeblieben waren, aber einst sollte Abadon ein blühender Ort gewesen sein, viel fruchtbarer und exotischer als die Welt, in der die Salmonen heute lebten, es jemals gewesen war. »Fer?« Nicht nur Ora rief ihn vorzugsweise bei der Kurzfassung seines Namens, auch seine engsten Vertrauten taten dies. Für Ferenc kein Problem. Er war kein Verfechter von Rängen oder Standesdünkel, das war er nie gewesen. »Jax – was gibt es? Probleme?« »Nein.« Sein Freund trat näher. Auch er war durch das Stahlbad gegangen, und es war erstaunlich, wie schnell Ferenc sich an das neue Aussehen eines Mannes gewöhnt hatte, den er seit frühester Kindheit kannte. »Und genau das ist es – Fer, ich mache mir Sorgen. Ich bin kein Angstfloh, das weißt du. Aber die Ruhe des Meeres, der fast perfekte Wind, der die Segel gerade so weit aufbläht, wie es für eine ruhige Fahrt optimal ist … das alles scheint mir nicht normal. Wäre Seefahrt so einfach, hätten andere vor uns schon vor langer Zeit einen Versuch wagen müssen! Sie taten es nicht, und eine Stim-
me in mir, die ich lieber zum Schweigen brächte, sagt mir: Das geschah aus gutem Grund!« »Du siehst zu schwarz, Jax. Vielleicht ist das dein Problem. Ich bin auch sicher, dass es nicht so einfach bleiben wird. Wir richten uns nach Karten, die älter sind als jedes Gebäude unseres Dorfes … Aber im Gegensatz zu dir genieße ich jede friedliche Stunde, die uns vergönnt ist. Sobald der erste Sturm aufzieht, wird es mit Ruhe vorbei sein, und ich kann nicht glauben, dass du dir das ersehnst …« »Du weißt genau, wie ich es meine.« Ein Grinsen huschte über Ferencs Gesicht – beziehungsweise den Stahlfilm, der es verhüllte, nur Mund, Nasenlöcher, Augen und Ohröffnungen frei ließ. »Du hast geschrien, als du badetest, mein lieber Freund. Ich habe dich gehört. Es tat weh, wie?« Grollend erwiderte Jax: »Seit wann bist du zum Angeber geworden? Reicht es dir nicht, dass alle Welt ob deiner eigenen Leistung zu dir aufschaut?« »Seit wann«, konterte Ferenc ungerührt, »verstehst du keinen Spaß mehr, mein Freund? Ich wollte dich nicht beleidigen, vielleicht bin ich übers Ziel hinausgeschossen, entschuldige. Ich bin froh, dass du mich begleitest. Wir ergänzen uns blind.« Jax gab sich versöhnlich. Auch er lächelte jetzt. »Genau das glaubte ich im Stahlbad zu werden: blind. Glücklicherweise war das nicht der Fall. Hat eigentlich schon mal jemand versucht, die Augen beim Untertauchen offen zu halten?« »Nicht dass ich wüsste. Und wenn doch, sollte er am besten gleich den Mund mit aufmachen und tief einatmen …« Sie ließen die Vorstellung sacken. Schließlich fragte Jax: »Was sagen die Karten? Wie lange werden wir unter den herrschenden Bedingungen noch brauchen, bis Land in Sicht kommt – Abadon …?« »Drei Wochen.« »Ob unser Glück so lange noch anhält?« »Ich hoffe es.« Jax nickte grimmig. Plötzlich trat er ganz dich zu Ferenc heran. »Eigentlich wollte ich nicht darüber sprechen. Es … kommt mir ver-
rückt vor. Vielleicht halluziniere ich ja und bilde es mir ein.« »Was? Worum geht es?« »Wann hast du das letzte Mal geschlafen?« »Ich schlafe jede …«, setzte Ferenc an. Dann verstummte er, als hätten unsichtbare Klingen seine Stimmbänder gekappt. »Ich … muss überlegen, warte. Es … nun ja, richtig geschlafen, nicht nur gedöst …« »Vor oder nach unserer Abreise?« Schon die Frage war verrückt – normalerweise. »Vorher«, räumte Ferenc schließlich wiederstrebend ein – widerstrebend deshalb, weil es ihm erst in diesem Moment bewusst wurde, im Gegensatz zu Jax, der offenbar schon länger darüber gestolpert war. »Das ist unmöglich, oder?«, fragte der Freund vorsichtig. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass es wahr ist.« »Du meinst, ich … wir bilden es uns nur ein und schlafen in Wahrheit doch? Aber warum kann ich mich nur daran erinnern, jede Nacht wach an Deck zu liegen und mir die Sterne anzusehen?«
Auch lange, nachdem Jax gegangen war, dachte Ferenc noch über das nach, worauf der Freund ihn gestoßen hatte. Sie waren zu keinem Ergebnis gelangt, außer dem vielleicht, dass Ferenc angekündigt hatte, eine Befragung der gesamten Mannschaft durchführen, ob sie ähnliche Erfahrungen gemacht hatten – zugleich schreckte er aber auch davor zurück, weil er keine vermeidbare Unruhe verschulden wollte. Falls niemand schlief, dies aber nicht zu äußern wagte, würde das offene darüber Spekulieren möglicherweise für aufkommende Ängste sorgen. Er war hin und her gerissen und überlegte, ob ihm je etwas über diesen »Nebeneffekt« des Stahlbads zu Ohren gekommen war. Nein, lautete die Antwort. Vielleicht ein … neuer Effekt? Hatte sich die Quelle verändert? Es war nicht auszuschließen, auch wenn dadurch nicht beantwortet wurde, warum sie sich verändert haben sollte. Aber da auch über
ihre Herkunft nur Geschichten kursierten … In dieser Nacht brachte Ferenc viele Stunden nicht über dem Kartentisch zu, sondern damit, seine Rüstung zu befühlen und in sich hineinzulauschen, welche Wirkung sie hatte. Eines wurde sonnenklar, und umso verwunderlicher war, dass erst Jax ihn hatte darauf stoßen müssen: Seit er sie trug, überkam ihn keinerlei Müdigkeit mehr. Sie waren seit vielen Tagen unterwegs, und ein Salmone hätte die lange Zeit niemals ohne Schlafpausen überstehen können – bei ihm schien das kein Problem zu sein. Hellwach und mit kristallklarem Verstand fühlte er sich. Das war unheimlich. Wenn mein Verstand so klar und scharf wäre, wie ich mir einbilde, müsste ich auch in der Lage sein, hinter das Geheimnis der Rüstung zu kommen – wie sie das mit mir zu tun vermag. Aber offenbar reichte es dafür nicht. Nur ein einziger nachvollziehbarer Grund fiel ihm ein, warum er nicht selbst über seine Schlaffreiheit gestolpert war: Die Rüstung hatte nicht gewollt, dass er sich dessen bewusst wurde. Woran sich aber sofort das nächste Rätsel anschloss: Warum sollte sie es bei ihm nicht gewollt haben, während Jax' Rüstung die Erkenntnis bei ihm gestattet hatte? Wie auch immer er es drehte oder wendete, zu einem befriedigenden Resultat kam er nicht. Er ging an Deck, um frische Luft zu schnappen. Einer der beiden Monde Salmos stand am Himmel, so tief, dass es aussah, als wäre er gerade dem Wasser entstiegen. »Ich wollte dich gerade rufen«, sagte Jax, der ihm entgegentorkelte, als hätte er zu viel die Sinne berauschenden Xonsaft genossen. Ferenc eilte auf ihn zu. »Was ist los mit dir?« »Dasselbe – wie mit allen anderen. Ich … bin plötzlich so … müde … Und die anderen … auch. Vergiss, was ich … sagte … So müde …« Vor seinen Hufen brach der Freund zusammen. Ferenc überwand seine Überraschung und beugte sich zu Jax hinunter. Gleichzeitig hielt er Ausschau nach einem anderen Mann-
schaftsmitglied und rief: »Hilfe! Ich brauche Hilfe! Kommt her!« Niemand antwortete oder reagierte. Und Jax lag laut atmend vor ihm. Er sah aus, als sei nicht mehr und nicht weniger mit ihm passiert, als dass er begonnen hatte, all den Schlaf nachholen zu wollen, der ihm seit Tagen vorenthalten worden war. Ferenc richtete sich wieder auf. In seinen Schläfen pochte es alarmiert. Wo blieben die anderen? Laut, mehr als das, hatte seine Stimme losgedröhnt. Er ließ Jax, wo er war, und schritt langsam über die Schiffsplanken. Wie ein dunkler Spiegel lag das Meer da. Glitzernde Sterne am Himmel, ein langsam aufsteigender Mond … alles wirkte so friedlich … und so bedrohlich zugleich. Ferenc rief nacheinander jeden Namen der insgesamt achtzehn Salmonen, die ihn begleiteten. Die Antwort, die er schließlich erhielt, entsprach nicht dem, was er sich erhofft hatte, sie zeigte nur, dass Jax sich als Letzter, zumindest als einer der Letzten, aufrecht gehalten hatte. Unter Deck fand er sie in verschiedenen Bereichen, später auch oben, jedoch den Blicken hinter Taurollen oder dergleichen entzogen. Sie alle lagen einfach da, verstrickt in einen Schlaf, so tief wie die tiefste Ohnmacht. Als wäre auch über sie die Ruhe, um die sie lange betrogen worden waren, wie eine unwiderstehliche Kraft hereingebrochen. Ihre Rüstungen zeichneten die schlaff gewordenen Züge nach. Es sah nicht aus, als schwebten sie in einer Gefahr, die größer war als die, nun zu keinem Handeln mehr fähig zu sein. Ihr Leben schien nicht direkt und unmittelbar bedroht zu sein. Aber warum?, dachte Ferenc. Warum ich nicht? Und warum … ausgerechnet jetzt, da Jax mir die Augen für das Mysterium geöffnet hatte, das ich selbst nicht bemerkte? Und warum, schloss er die dritte und vielleicht wichtigste damit in Zusammenhang stehende Frage an, sind sie alle davon betroffen – nur ich nicht?
2. Gegenwart Es waren seine Wunschklänge, die Cy an diesem »Morgen« weckten. An Bord der RUBIKON gab es einen Tag- und Nachtwechsel, und der Organismus gewöhnte sich rasch an einen Rhythmus, der so konsequent von Technik und Crew eingehalten wurde. Auch für den Aurigen stellte dies längst kein Problem mehr dar, obwohl seine Heimatspore diesbezüglich völlig andere Orientierungen vorgegeben hatte. Die Spore Auri … Es war lange her, aber nichts war vergessen. Jede Zelle von Cys Körper speicherte Erinnerungen, aus jedem noch so winzigen Teil waren sie reproduzierbar … behauptete Sesha, die diesbezüglich Untersuchungen angestellt hatte. Die Bord-KI untersuchte permanent irgendetwas. Nein, korrigierte sich Cy, nicht irgendetwas, sondern Dutzende, vielleicht Tausende Dinge gleichzeitig. Er hatte einmal versucht, sich ein Dasein als KI vorzustellen, es aber schnell wieder aufgegeben, weil ihm brechend übel davon geworden war. Aurigen waren den einfacheren Strukturen verbunden. Seit dem unfreiwilligen Verlassen der Spore hatte sich Cy aber komplett von dieser angenehmen Versimplizierung verabschieden müssen. Aufregung und Hektik bestimmten seither sein Leben. Und jetzt kam auch noch, wie aus heiterem Himmel, ein neuer Aspekt dazu. Angst. Die Angst packte ihn kurz nach dem Erwachen an diesem sogenannten Morgen. Und sie sollte ihn nicht mehr loslassen. Weder an diesem noch an einem der folgenden Tage. Das Ereignis, das sie auslöste, traf den Aurigen völlig unvorberei-
tet, weil unerwartet. Über dem Nest aus welken Blättern, das er sich in seiner Kabine als zentralen Punkt des Wohlbehagens hergerichtet hatte, prangte als Decke ein riesiger Spiegel. Der Spiegel ging auch auf sämtliche Wände über, nur der Boden war aus anderem Material, das stark variierte: hier ein Flecken, der aussah, als wäre er mit Holzdielen belegt, da einer aus miteinander verschnürten Bambusrohren, es gab eine Sandaufschüttung, die bereits erwähnte Zone mit einem Polster aus Blättern, von denen einige einmal zu Cys Körper gehört hatten, und es gab auch Stellen, wo blankes Metall durchschimmerte, wie es auf der RUBIKON vorherrschte. Aber die Spiegel waren für den Aurigen ebenso wichtig wie das patchworkartige Muster, das er sich am Boden geschaffen hatte. Die Spiegel erzeugten auf fast schon primitive Weise ein Gefühl von Freiheit und Weite. Cy brauchte es wie die Luft zum Atmen. Und seit er sich sein kleines privates Reich auf diese Weise hergerichtet hatte, blühte er regelrecht auf – bildlich gesprochen. Er erstarrte, als sich seine Sehknospen aus dem Schlummermodus zurückmeldeten. Denn in diesem Augenblick begann die Angst, die sich wie Millionen mikroskopisch kleiner Zähne in seine Zweige biss. Und Cy tat etwas, was er, wenn überhaupt, nur in höchster Not tat. Er schrie auf. So schrill und anhaltend, dass die Spiegel seiner Kabine zu zerspringen drohten.
Commander John Cloud blickle in jenen Bereich der Holosäule, der ihm eine Vergrößerung seines Gegenübers hinter der Säule zeigte. Ihre Physiognomie. Nicht jede Frau hätte sich das erlauben können, zumindest nicht in den »archaischen Zeiten« – wie Jarvis es zu nennen pflegte –, aus denen sich Cloud als Relikt in die Gegenwart herüber gerettet hatte. Scobee hatte damit kein Problem. Obwohl die Jahre und manche
Odyssee durchs All Spuren auf ihrem ehemals völlig glatten Gesicht hinterlassen hatten, betrachtete sie es offenbar als Auszeichnung, dass sich hier und da erste Ansätze von Fältchen zeigten – zumindest in dieser Zoomeinstellung. Cloud überlegte kurz, wie sich seine Züge wohl ihr darstellten. Über erste Ansätze war seine Fältchenbildung bereits hinaus. Er grinste. »Warum grinst du so unverschämt?«, fragte die GenTec auch prompt. Sie waren immer noch damit beschäftigt, eine Möglichkeit zu finden, den neuen Aufenthaltsort – beziehungsweise den Rematerialisierungspunkt – des transitierten Aquakubus zu ermitteln. Tovah'Zara war zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt verschwunden. Die Treymor hatten die künstliche Wasserwelt schon vor Längerem annektiert. Sämtliche kubusinternen Verteidigungsstellungen waren von den käferartigen Intelligenzen überrannt worden. Die ehemals dominierende Spezies Tovah'Zaras war in einer Weise dezimiert und zurückgedrängt worden, die einem Aussterben gleichkam. Im Prinzip leistete nur noch eine Institution Widerstand: Taurt, das Kunstgeschöpf aus Protomaterie, das einst schon den Bau des Kubus überwacht und im Sinne seiner Herren, der Foronen, geleitet hatte. Doch Taurts Geheimorganisation musste als zerschlagen betrachtet werden. Ob und wo Taurt ein Überleben gelungen war, nachdem die Treymor damit begonnen hatten, sämtliche Weltenkugeln innerhalb des Kubus zu zerstören, war zum gegenwärtigen Zeitpunkt ebensolche Spekulation wie der neue Standort des Giganten, der eine Kantenlänge von einer Lichtstunde hatte. Die RUBIKON hatte mit knapper Not aus Tovah'Zara entkommen können, denn beinahe wäre dort für immer Endstation gewesen. Cloud dachte mit Schaudern an seine Gefangenschaft in der Silberstadt zurück, und er wusste, dass Scobee und die restliche Besatzung auch nicht die schönsten Tage in der Wassersphäre verbracht hatten. Nur Taurt und seinen Bemühungen war ihrer aller Überleben zu verdanken. Und damit standen sie in seiner Schuld …
… was wiederum gleichbedeutend damit war, dass sie in der Schuld aller geknechteten Wesen standen, die im Kubus von den Treymor terrorisiert und verfolgt wurden. Doch wie sollten sie ihnen helfen und beistehen, wenn sie nicht einmal wussten, wo sie neuerdings zu finden waren? Die Treymor hatten den Kubus hochgerüstet und mit einer Technologie ausgestattet, die alles übertraf, was die Instrumente der RUBIKON zu meistern vermochten. Keine Ortung in einem Umkreis von Tausenden Lichtjahren bedeutete, dass die neue Bastion der Treymor offenbar nachhaltig durch die Maschen der Beobachtungssysteme geschlüpft war. Es war zum Haare raufen. Und deshalb konnte sich Scobee auch nicht erklären, warum der Mann ihr gegenüber plötzlich grinste. Auf etwas so Profanes wie Falten im Gesicht wäre sie wohl nicht von selbst gekommen – und Cloud war klug genug, dieses Thema gar nicht erst zur Sprache zu bringen. »Ich grinse nicht, ich betreibe Gesichtsgymnastik. Seit wie vielen Stunden beratschlagen wir hier schon? Andere haben in der Zeit geschlafen. Laut Internzeit dürfte Assur beispielsweise gerade vom Servo geweckt werden …« »Was lieber du übernommen hättest, habe ich recht?«, fragte Scobee und grinste jetzt ebenfalls. Süffisant. Cloud versuchte es gar nicht erst zu bestreiten. »Du solltest es auch tun«, sagte er nach einem kurzen Nicken. »Was?« »Dir einen Kerl aussuchen. Wir haben doch einige nette Typen zur Auswahl.« Sie hatten es vor einer halben Ewigkeit auch schon einmal miteinander versucht, Scobee und er. Doch es hatte nicht funktioniert. Es war okay gewesen, so lange es dauerte, aber irgendwann hatten sie beide einhellig festgestellt, dass zu einer wirklichen Beziehung und Liebe mehr gehörte, als sich ein bisschen zu mögen. Seither waren sie Freunde. Und es funktionierte wider Erwarten gut. Obwohl die erste Zeit, nachdem Assur in sein Leben getreten
war, nicht ganz so einfach für Scobee zu verdauen gewesen zu sein schien. Das jedenfalls hatte eine Fülle von Indizien nahegelegt. Doch das war ausgestanden. Inzwischen, davon war Cloud felsenfest überzeugt, »gönnte« sie ihm sein Glück. Und sie reagierte auch höchstens ein wenig angesäuert, als er ihr jetzt seinen höchst privaten Vorschlag um die Ohren haute. »Idiot«, sagte sie. Und fügte nach einer kleinen Kunstpause hinzu: »Wer sagt, dass ich mir einen netten Kerl wünsche? Das ist doch langweilig auf Dauer.« Er nickte, als ginge ihm gerade ein Licht auf. »Verstehe. Entschuldige, hätte ich wissen müssen, mein Fehler. Sonst hätte es ja auch mit uns klappen müssen. Aber ich bin einfach zu nett …« »Träum weiter …« Vielleicht wollte sie noch etwas hinzufügen. Aber eine Stimme mischte sich in ihr Geplänkel. Die Stimme jenes Parts, der auch ihre Diskussionen über Stunden hinweg begleitet und mal mit mehr, mal mit weniger konstruktiven Vorschlägen bereichert hatte. Sesha sagte: »Es gibt Probleme.« »Welcher Art?« Die Frage schlüpfte Cloud fast mechanisch über die Lippen. »Ein Mitglied der Kernbesatzung ist betroffen. Es scheint, als ginge es ihm nicht gut …« »Wer?«, drängte Scobee, die ebenso alarmiert war wie Cloud. »Cy.«
»Öffne!«, befahl Cloud wenig später, als er mit Scobee und Jarvis, der sich ihnen unterwegs angeschlossen hatte, vor Cys Kabine ankam. Clouds Weisungen hatten Alphapriorität an Bord. Immer. Auch bei diesem Gedanken schlich sich ein Lächeln um seine Mundwinkel, aber es war grimmiger Art, denn nur zu gut war ihm in Erinnerung, wie häufig es schon Autoritätsprobleme gegeben hatte – insbesondere als ein gewisser Sobek noch für Unheil hatte sor-
gen können. Die Kabinentür glitt zur Seite. Cloud übernahm die Vorhut, obwohl Jarvis unterwegs darum gebeten hatte, zuerst nach dem Rechten sehen zu dürfen. Cloud hatte abgelehnt, zumal Seshas Angaben nicht darauf schließen ließen, dass Gefahr in Verzug war. Zumindest keine Gefahr für andere Personen als Cy selbst. Cloud wusste nicht, was er erwartet hatte, aber er fand weder einen schreienden Aurigen vor, wie ihn die KI geschildert hatte, noch einen, der in irgendeiner Weise kränklich wirkte. Es war das genaue Gegenteil. Und nicht nur Scobee rutschte ein »Unglaublich!« heraus. Auch Cloud blieb zwei Schritte im Raum einfach stehen, um staunend dorthin zu blicken, wo sich ihnen ein Cy präsentierte, wie sie ihn noch niemals zuvor gesehen hatten. »Wer hätte das gedacht«, lästerte Jarvis. Doch selbst er schien beeindruckt. Obwohl er hinterher schob. »Darf ich mir eine davon pflücken?« Cloud ersparte sich eine Ermahnung. Jarvis war, was sein Schandmaul anging, unbelehrbar. »Er ist wunderschön«, hauchte Scobee, als sie weiter vortrat, auf den Gefährten zu, der noch kein Wort gesprochen hatte, dessen über den ganzen Körper verteilte Blüten aber einen unvergleichlichen, die Sinne betörenden Duft verströmten. »Cy! Geht es dir gut?«, fragte Cloud. »Antworte bitte, wir machen uns Sorgen. Sesha hat uns informiert, dass –« »Commander …« Cloud war erleichtert, dass der Aurige auf ihn reagierte. Aber schon die nächsten Worte des Freundes relativierten die Erleichterung. »Offen gestanden geht es mir furchtbar – ich sterbe …« Zuerst hielt Cloud es für einen makabren Scherz. Allerdings war Cy nicht unbedingt für makabre Scherze bekannt. »Jetzt hör aber auf«, schnarrte Jarvis, und selten war Cloud dem GenTec so dankbar gewesen, dass er den Mund nicht halten konnte.
Schon gar nicht in Situationen, die Fingerspitzengefühl verlangten. Doch hier und jetzt verschaffte seine direkte Art Cloud eine winzige Frist, die er nutzte, um sich die weitere Vorgehensweise zu überlegen. War es besser, Cy mit Samthandschuhen anzufassen – oder so derb direkt auf seine Aussage zu reagieren, wie Jarvis es vormachte? »Wie kommst du denn auf die Schnapsidee?«, fragte er schließlich, während er sich wunderte, dass Scobee die Worte des Aurigen noch gar nicht kommentiert hatte. »Mir ist es ernst.« Cys Stimme klang wie ein Rascheln von Blättern in einer sanften Brise. Traurigkeit haftete ihr an. Cloud begriff endgültig, dass es dem Aurigen ernst war. Aber was war passiert? »Was ist passiert? Bist du krank?« »Oder altersschwach?«, warf Jarvis respektlos ein. Zweifellos hielt er das Ganze immer noch für einen Jux. »Ich weiß nur«, erwiderte Cy, »ich werde sterben. In spätestens ein paar Tagen.« »Wie um alles in der Welt kommst du auf so einen Quatsch«, platzte es aus Scobee heraus. Sie streckte die Hand aus und fuhr sacht durch das Gestrüpp, das Cys Körper war. »Du siehst besser aus denn je!« »Das ist es ja«, erwiderte Cy in kläglichem Ton. »Aurigen blühen nur einmal im Leben – kurz vor ihrem Tod. Das hat die Natur so eingerichtet.«
Es war eine der denkwürdigsten Zusammenkünfte überhaupt. Sie fand in privatem Rahmen statt. Assur hatte in ihr Haus im Angkdorf geladen. Nachdem Cloud sie über Cys Befürchtungen eingeweiht hatte, war sie nicht davon abzubringen gewesen, sich mit dem Aurigen zu treffen. Und nicht nur mit ihm, sondern auch mit denjenigen, die schon zu früheren Zeiten durch dick und dünn gegangen waren, allen voran Algorian. Mit Algorian hatte Cys »Sternenkarriere« überhaupt erst angefan-
gen. Über diese Anfänge war Assur wie jeder Angk bestens informiert; sie hatte fast unbeschränkten Zugriff auf die Datenbanken. Doch heute ging es nicht um die Anfänge, sondern um das Ende eines Lebenswegs, und Cy hätte es drastischer nicht formulieren können. Entsprechend gedrückt war die Stimmung, und das obwohl Assur alles getan hatte, um eine Wohlfühlatmosphäre zu schaffen. Gemeinsam mit Cloud hatte sie alle Gäste des Abends in Empfang genommen, nun saßen sie bei einem Getränk oder anderen Genüssen über die Couchlandschaft verteilt – oder, wie in Cys Fall, einfach an einer Stelle niedergelassen, die ihnen behagte. »Ihr wisst, worum es geht, auch Sesha ist zugeschaltet«, erhob Cloud das Wort, nachdem die betretene Stille nicht mehr zu leugnen war. Er sah Nicken oder einfach nur niedergeschlagene Mienen. Cy bildete nicht nur den emotionalen, sondern auch den visuellen Mittelpunkt des Abends. Seine kleinen Blüten waren von einer solchen Farbenpracht und Duftfülle, dass er in den Fokus der Aufmerksamkeit selbst dann gerückt wäre, wenn nicht das Damoklesschwert seines angekündigten Todes im Raum geschwebt hätte. »Sesha hat auf meine Bitte hin sofort einen vollständigen Diagnose-Querschnitt von Cys aktueller Befindlichkeit erstellt. Ich kenne das Ergebnis selbst noch nicht. Aber ich möchte es erfahren – zusammen mit dem Betroffenen, der dazu sein Einverständnis gegeben hat, und mit seinen ältesten Freunden. – Seid auch ihr …« Sein Blick schweifte durch die Runde, über Jelto und Jarvis, Scobee und Aylea – das Mädchen hatte Tränen in den Augen – bis hin zu Jiim, Jarvis und Algorian, der unmittelbar neben Cy Platz in einem hochlehnigen Sessel genommen hatte. Niemand legte sein Veto ein, was Cloud auch nicht anders erwartet hatte, wenngleich er lange mit Assur diskutiert hatte, ob es Aylea zuzumuten war, an dieser Versammlung teilzunehmen. Assurs Argument, dass Aylea längst kein Kind mehr war, das in Watte gepackt werden musste, hatte schließlich den Ausschlag gegeben, schlicht und einfach, weil es stimmte. Was hatte dieses Mädchen nicht schon alles gesehen und durchgemacht – und dennoch …
»Lea – alles in Ordnung?«, fragte er. Sie schüttelte mit verkniffenem Gesicht den Kopf. Natürlich war nichts in Ordnung. Sesha blickte zur Decke; ein Reflex. »Sesha? Du kannst beginnen.« Und die KI legte los. Die medizinischen Begriffe sprudelten nur so aus ihr hervor – bis Cloud ihr ungeduldig Einhalt gebot. »Dass du es immer wieder versuchst … Für Laien verständlich, bitte!« »Cy weist deutliche Spuren einer Schwächung auf – deren Ursache ich jedoch nicht ermitteln konnte.« »Soll das heißen: Ja, er ist sterbenskrank?«, blaffte Jarvis ins Off. »Oder: Kein Grund zur Beunruhigung. Die erkannte Schwäche ist in den Griff zu bekommen und wird von mir effizient behandelt?« Alle warteten auf eine Reaktion des Aurigen, die aber ausblieb. Wer ihn nicht kannte, nicht um seine Herkunft wusste, hätte ihn in diesem Moment für nichts anderes halten können als einen Teil der Einrichtung. »Es heißt«, antwortete Sesha, »dass ich ihn weiter – am besten permanent – beobachten muss. Und dass er jede unnötige Anstrengung vermeiden sollte, bis Klarheit besteht.« »Cy?«, wandte sich Cloud nun direkt an den Aurigen. »Ich bin euch dankbar für eure Anteilnahme«, raschelte das Pflanzengeschöpf matt. »Aber wie ich bereits sagte: Aurigen blühen nur einmal während ihrer gesamten Existenz – unmittelbar vor ihrem Tod. Was immer Sesha anstellen mag, um das zu verhindern«, fügte er fatalistisch hinzu, »es muss scheitern. Aber ich habe keine Angst vor dem Tod. Ich bin bereit.« »Cy!« Es war Jelto, den die Worte des Freundes aus der Ruhe brachten. »Damit bin ich nicht einverstanden – und ich biete hiermit ausdrücklich meine Hilfe an. Wenn sie gewünscht ist. Und darum bitte ich dich – lass es mich versuchen. Ich habe andere Möglichkeiten, in dich zu schauen. Ich bin sicher, ich kann ergründen, was passiert ist. Soviel ich weiß, hast du gegenüber unserem Commander bereits angemerkt, dass du eigentlich noch nicht in dem Alter bist, in dem Aurigen normalerweise sterben …« »Jeder Aurige ist anders. Es gab immer Ausnahmen von der Regel,
und nun werde ich auch eine. Ich danke dir für dein Angebot, aber ich muss es –« Jelto stemmte sich aus seinem Sitz und trat zu Cy. »Stopp! Bevor du bereust, vorschnell entschieden zu haben. Überlege es dir gut. Du musst jetzt nichts übers Knie brechen …« Cy verstand, was er damit meinte. Er schwieg. »Ich halte Jeltos Angebot auf jeden Fall für bedenkenswert«, sagte Cloud. Auch er trat jetzt zu Cy. »Und falls du es immer noch nicht kapiert hast, alter Freund: Wir lassen es nicht zu, dass du dich einfach so davonstiehlst! Du kämpfst gefälligst, selbst wenn sich im Weiteren herausstellen sollte, dass du schwerkrank bist – das ist das Mindeste, was du uns schuldest.« Eine Art Seufzer kam aus dem innersten Kern des »Busches«. »Versprich es!«, drängte jetzt auch Jarvis. »Ja, bitte, Cy, gib nicht auf – arbeite mit Sesha und Jelto zusammen. Es wird sich ein Weg finden. Es muss.« Das war Aylea. Sie zwängte sich zwischen Cloud und Jelto durch und umarmte das kugelförmige, vor Blüten nur so strotzende Gestrüpp, wie nur sie es konnte. »Brich mir nicht alle Zweige!«, jammerte Cy. »Nur wenn du es endlich versprichst!« »Ich … verspreche … es …!« Cloud spürte einen Anflug von Erleichterung. Da ahnte er auch noch nicht, dass Cy nicht ihr Haupt- und schon gar nicht ihr einziges Problem bleiben sollte.
3. Einst Und plötzlich herrschte Flaute. Kein Lüftchen regte sich mehr. Es kam Ferenc so vor, als wäre nicht nur jedes einzelne Mitglied der Expedition – er selbst ausgenommen – eingeschlafen, sondern … die Natur selbst. Er hatte immer geglaubt, nichts und niemand könne ihn das Fürchten lehren, weil er bereit war, mit jedem Gegner zu kämpfen. Aber wie sollte er gegen etwas angehen, das sich allein dadurch auszeichnete, dass es sich als lähmende Ruhe über beinahe alles legte? War das überhaupt ein Gegner … oder einfach nur Schicksal, höhere Gewalt? Er wusste keine Antwort darauf. Aber wusste, dass die Rüstung aus dem Stahlbad der Schmiede ihn als Einzigen offenbar davor bewahrte, Bestandteil dieser allumfassenden Lähmung zu werden. Er wünschte, sie hätte ihn nicht geschützt oder verschont. Auch ohne direkt von den Symptomen betroffen zu sein, fühlte er sich besiegt … mehr noch: verhöhnt. Wer trieb dieses böse Spiel mit ihnen? Wer? Oder sollte die korrekte Frage lauten: Was? Er erinnerte sich, warum sie mit der SUCHER, dem ersten Schiff seit Äonen, aufgebrochen waren. Sein Volk drohte dort, wo es dahinvegetierte, zu verhungern. Der Boden des riesigen Kontinents war überall wie ausgelaugt und ausgemergelt. Nichts, was angebaut wurde, wuchs in zufriedenstellendem Maße. Aber vielleicht, so der Traum, den er hatte, der Traum, mit dem er andere hatte infizieren können, gab es anderswo ein Land, das nicht von dieser »Krankheit« und Müdigkeit betroffen war. Der ferne Inselkontinent
Abadon vielleicht, von dem die Schriften berichteten, ohne auch nur ansatzweise zu verraten, wie es heute dort aussehen mochte. Früher jedenfalls musste er eine saft- und kraftstrotzende Vegetation beherbergt haben, und damit war er schon zu Zeiten ein Paradies gewesen, als der Hauptkontinent der Salmonen nie Vergleichbares hervorgebracht hatte. Abadon … ein Name wie ein Versprechen. Aber jetzt schien auch Abadon nur ein weiterer Meilenstein zu sein, der Ferencs Volk mit Riesenschritten dem Untergang entgegentrieb. Die Hungersnot würde alle umbringen, Jung und Alt, Mann und Frau. Und ich werde nicht bei den Meinen sein, wenn sie die letzten Vorräte aufbrauchen. Sie werden jeden Tag zur Küste gehen und Ausschau halten, ob die SUCHER nicht endlich heimkehrt. Aber es wird kein Schiff kommen. Und so viele Angehörige werden in Ungewissheit sterben, während wir hier … ich … Was? Während sie hier was taten? Würde der sonderbare Schlaf ihn doch noch übermannen, würde die SUCHER zu einem Geisterschiff werden, das über die Meere trieb, bis eines Tages das Holz, aus dem sie gebaut worden war, verrotten, die Planken leckschlagen würden …? Etwas traf Ferenc wie ein Blitz. Vor seinen Augen loderten Feuer, die in Wirklichkeit nicht existierten. Schwarze Flammen züngelten empor. Und darin … mitten in dem Feuer … Bilder. Ferenc war wie elektrisiert. Plötzlich erinnerte er sich an Begebenheiten seines Lebens, die bis zu diesem Moment verschüttet gewesen waren. Er erinnerte sich, Bilder wie diese schon früher gesehen zu haben, meist während er schlief. Mit anderen Worten: Träume. Nein, schalt er sich sogleich, mehr als einfache Träume. Bilder, die die Saat in ihn gelegt hatten. Die Saat, die irgendwann im Erwachsenenalter endlich aufgegangen war und ihn all das hatte tun und erreichen lassen, was ihn hierher geführt hatte. Er spürte die Haut, die sich rüstungsgleich um ihn schmiegte, jetzt kaum noch. Aber das war ein gutes Zeichen. Es bedeutete: Er hatte
sie angenommen. Sie hatte ihn angenommen. Sie waren nun eins, wie zwei zuvor verschiedene Dinge nur eins werden konnten … Bei Erron, was denke ich da? Er merkte, wie ihm die gerade noch sicher geglaubte Realität wieder entschlüpfte. – Wo bin ich? Auf der SUCHER! – Warum bin ich hier? Weil unsere einzige Hoffnung darin besteht, einen Ort zu finden, der mein Volk, meine Familie und unsere Freunde, Bekannten, jeden Fremden irgendwo auf dem Kontinent, ernähren kann, gab er sich selbst die Antwort. Wir sterben aus. Die Welt hat aufgehört, uns zu lieben. – Die Welt, oder ihr selbst? Er führte Selbstgespräche, als wäre er schizophren geworden. Um nicht völlig den Verstand zu verlieren, widmete er sich den Flammen und den Dingen, die er darin sah. Und er sah … … Landschaften, wie er sie sich immer ersehnt und für sein Volk erhofft hatte. … Gärten mit Bäumen, deren Äste unter der Last der Früchte schier zusammenbrachen. … Büsche voller verlockender Beeren. … Wurzeln, die zur Hälfte oberirdisch wuchsen und absonderliche Figuren formten. … Pilze, die selbst im Dunkeln leuchteten, bunt und freundlich, als würde ihnen das Leben, die Gesundheit selbst, innewohnen. … So ging es unablässig weiter. Bild um Bild. Szene um Szene. Aber da war mehr als bloß Erträumtes. Da war echtes Versprechen. So wie er den Seinen versprochen hatte, alles in seinen Kräften Stehende zu tun, um dem Elend der Welt ein Ende zu bereiten, so ver-
sprach etwas Namenloses ihm, für ihn da zu sein. Für ihn und für sein Volk, für alle Salmonen. Ferenc wusste weniger denn je, was er von alldem halten sollte. Auf der einen Seite fühlte er sich betrogen, weil entscheidende Erinnerungen für eine lange Zeit offenbar gezielt in ihm unterdrückt worden waren. Aber auf der anderen Seite verknüpfte er auch so viel Hoffnung mit dem, was ihn gemahnte, dass nichts, was er in der Vergangenheit getan hatte, nicht einmal sein alle überrennender und verblüffender Ehrgeiz, dem puren Zufall geschuldet war. Etwas hatte ihn von Kindesbeinen an gefördert … Wirklich? Wenn er dieses Etwas zu fassen versuchte, ihm Gestalt und Eigenschaften zuweisen wollte, scheiterte er auf ganzer Linie. Es ließ sich nicht greifen oder benennen. Es fühlte sich an wie eine Wesenheit von ungeheuerlicher Macht – aber selbst das war Vermutung. Reine Vermutung. Er seufzte. Er glaubte, es zu tun, obwohl er kaum noch seinen Körper spürte. Der war ihm so leicht geworden wie die Rüstung aus dem Stahlbad. Er lächelte – glaubte zu lächeln – und erwachte.
Er war immer noch auf der SUCHER, wo auch sonst? »Es ist so weit«, sagte Jax. »Wann bist du erwacht?«, wollte Ferenc verwundert wissen. Er stand neben dem Steuermann, der sich eifrig bemühte, das Schiff auf Kurs zu halten. Eine frische Brise war aufgezogen. Die prallen Segel trieben die SUCHER mit hoher Geschwindigkeit auf eine Landmasse zu, die sich bislang noch dunkel vor ihnen abzeichnete. Aber der Mann im Ausguck meldete gerade: »Grün! Ich sehe überall Grün!« Jubel brandete auf. Ferenc stand seltsam deplatziert neben Jax, dessen Freude so groß schien wie die jedes anderen. »Was ist … passiert?«, fragte Ferenc mit hohl klingender Stimme. »Wieso seid ihr plötzlich alle wieder wach?«
»Wach?« Jax sah ihn belustigt an, gleichzeitig aber auch so, als könnte er nicht ganz entscheiden, ob Ferenc sich nur einen Spaß erlaubte oder seine Frage tatsächlich ernst meinte. Ferenc fühlte sich von einem Albdruck befreit. In diesem Moment glaubte er, alles Vorherige nur geträumt zu haben. Sie waren niemals dem Schlaf entzogen gewesen. Was für eine absurde Vorstellung auch. Trotzdem – irgendetwas stimmte nicht. Mit ihm. Woher kamen die Halluzinationen, wie gelangte er hierher neben den Steuermann, ohne sich an die vergangenen Stunden – oder Tage – erinnern zu können? »Schon gut. Wir sind da. Wir waren lange unterwegs, aber wir haben … Abadon gefunden …« »Du klingst, als hättest du es gar nicht für möglich gehalten, dass wir Erfolg haben könnten. He, mach mir keine Angst. Du bist der Kapitän. Du bist mehr als das – lass die anderen bloß nicht hören –« Ferenc brachte ihn mit einer brüsken Bewegung zum Schweigen. Dann zeigte er geradeaus. »Was ist das?« Während Jax hinschaute, hob Ferenc seine Stimme an. »Ausguck! Sichtung! Worum handelt es sich bei den dunklen Gebilden, die auf unserem Kurs liegen? Riffe?« Der Ausguck schwieg. Etwas Seltsames geschah. Ferenc sträubten sich die Haare seines Unterkörpers. Für eine nicht näher bestimmbare Zeitspanne schien alles in rasende Geschwindigkeit zu verfallen. Nur er selbst war wie erstarrt. Als der Eindruck schließlich von ihm abfiel, lagen sie nah bei einem Strand vor Anker. Und rings um das Schiff schaukelten seltsame Bauten auf den Meereswellen, keine Schiffe, regelrechte … Städte. Es war gigantisch. Es war vollkommen fremd und bestürzend in seiner monumentalen Kraft. Ferenc stieß einen Schrei aus. Jax eilte herbei. »Was ist?«
Ferenc zeigte auf die Erscheinungen auf dem Wasser … und auch hin zum Land. »Wann sind wir … angekommen? Und was sind das für Ungetüme?« »Darüber sprachen wir doch schon lang und breit«, behauptete Jax. »Wir wissen nicht, was es ist. Jemand muss es gebaut haben. Du wolltest gerade ein Prisenkommando zusammenstellen. Ich hatte darum gebeten, dich begleiten zu dürfen, und du hast eingewilligt. Hast du es dir etwa anders überlegt?«
Ferenc war benommener als jemals zuvor in seinem Leben. Litt er unter Fieber, hatte er sich eine Krankheit zugezogen? »Jax … Wie sehe ich aus?« »Du machst mir Spaß. Wie sehe ich denn aus? Wir tragen beide unsere Rüstungen. Darin sieht man aus, wie man eben aussieht. Ich war früher hübscher, wenn du mich fragst …« Früher. Ja. Früher hätte Ferenc über eine solche Bemerkung des Freundes gelacht. Glaubte er zumindest. Doch jetzt … »Irgendetwas stimmt hier nicht …« Sein Blick schweifte über Deck, hielt Ausschau nach dem Rest der Mannschaft. »Wo sind die anderen?« »Dort!« Jax zeigte nach links. Ferenc sah eine Gruppe von vier Gerüsteten. Vorhin hatte er sie nicht gesehen. »Und da …« Jax' Arm ging nach rechts. Wieder mehrere Zusammenstehende. Ferenc war fast sicher, sie eben nicht nur nicht bemerkt zu haben, sie waren nicht da gewesen! Etwas Schwerwiegendes ging mit ihm vor. Er durfte seinen eigenen Sinnen, dem eigenen Verstand nicht mehr vorbehaltlos trauen. Und auch Jax nicht. »Was ist?«, fragte der vermeintliche Freund. »Wir sollten die hel-
len Stunden nutzen. Nach Einbruch der Dunkelheit könnte es riskant werden, sich in einem der Gebilde herumzutreiben …« Ferenc betrachtete das nächstliegende Konstrukt erstmals genauer. Wenn Salmonen es erbaut hatten, mussten es Genies und begnadete Handwerker in einem gewesen sein. Zwanzigmal größer als die SUCHER war ein jedes der Objekte. Sie schwammen in Küstennähe auf dem Meer, als wären es vorgelagerte Festungen, dazu gedacht, Abadon gegen ungebetene Besucher zu verteidigen. Wie sie das machten, entzog sich Ferencs Wissen, aber irgendwie setzte sich die Vorstellung, es mit Verteidigungsbastionen zu tun zu haben, in ihm fest. »In Ordnung«, sagte er schließlich, als stünde er neben sich und höre sich selbst zu, wie er seine Entscheidung fällte, »setzen wir über. Wurde das Beiboot …« Wuuuusch! Wieder diese aberwitzige Beschleunigung der Verhältnisse. Den Rest des begonnenen Satzes vollendete Ferenc bereits auf der Schaluppe. »… schon zu Wasser gelassen?« Jax' mitleidiger Blick traf ihn bis ins Mark. »Soll ich das Kommando übernehmen? Fühlst du dich nicht gut? Du zitterst ja … Schon seit unserer Ankunft benimmst du dich seltsam …« »Danke, sehr selbstlos von dir, aber das schaffe ich schon.« Ferenc wusste nicht, woher der Sarkasmus auf seine Zunge drängte. Jax war sein Freund. Wenn nicht auf ihn, auf wen konnte er sich dann überhaupt noch verlassen. »Wie du willst.« Das Beiboot durchpflügte das Wasser. Ferenc scheute sich nicht, sich mit seinen Begleitern in die Riemen zu legen. Im Stehen, wie sie es gewohnt waren, ruderten sie an den kaiartigen Rand der »Stadt«, die nur eine von vielen war, die sich vor Abadons Küste drängten. Klar erkennbar liefen serpentinenartige Wege von der Anlegestelle in die höheren Regionen des komplett aus Holz gebauten Giganten.
Allein die schiere Menge des Rohstoffs, der hier verbaut worden war, nötige Ferenc bereits Respekt ab. Voller Bitterkeit erinnerte er sich, wie viel Aufwand nötig gewesen war, in ihrer Heimat auch nur genügend Holz für dieses eine Schiffe zusammenzubekommen. Im Grunde war die Beschaffung der Bretter sogar die größte Herausforderung beim Bau der SUCHER gewesen. Alles andere war vergleichsweise leicht gefallen, zumal sie auf alte Aufzeichnungen und Baupläne hatten zurückgreifen können. Sehr alte. Wieder einmal – wenn auch zu einem wenig passenden Zeitpunkt – wurde ihm bewusst, wie limitiert die Welt der Salmonen geworden war. Ob sich der einmal eingeschlagene Weg wirklich je wieder in eine hoffnungsvollere Richtung »korrigieren« lassen würde? Er wünschte, er hätte die Zweifel daran nicht gehabt. Und noch mehr wünschte er, sie nicht gerade jetzt verspüren zu müssen. Das Boot ging längsseits. Jax sprang heraus und vertäute es an einem Pfosten, der offenbar genau dafür vorgesehen war. Zu sechst schritten sie kurz darauf über die Bohlen, Ferenc an der Spitze. Ihre Rüstungen mussten sie für fremde Betrachter wie Abnormitäten erscheinen lassen, Dingen ähnlicher denn Geschöpfen aus Fleisch und Blut. Ferenc war dennoch froh, sich für das Stahlbad als Vorbereitung auf die Fahrt ins Unbekannte entschieden zu haben; und froh, dass sich so viele dieser Prüfung mit ihm gestellt hatten. Sie waren eine einzigartige Mannschaft. Wer sollte sich ihn in dieser Ausrüstung in den Weg stellen können? Andererseits … er hatte nicht erwartet, hier überhaupt auf Zeugnisse einer Kultur zu treffen. Welche Salmonen mochten dafür verantwortlich sein, und warum hatte man auf dem Hauptkontinent nie von ihnen gehört?
»Verlassen. Das alles scheint seit einer Ewigkeit verlassen zu sein.« »Natürlich«, erwiderte Ferenc auf Jax' Äußerung. »Sonst hätte man
uns doch wohl auch längst einen Empfang bereitet – wie genau dieser ausgefallen wäre, will ich gar nicht wissen.« »So klingt nicht der Ferenc, den ich kenne.« »Ich hatte auch schon einen anderen Jax zum Freund …« Jax quittierte die Bemerkung mit einem Blick, der Ferenc das Blut in den Adern erstarren ließ – zumindest fühlte es sich einen Herzschlag lang so an. »Ich habe Vergleichbares noch nie gesehen«, ergriff Ferenc schließlich wieder das Wort. Ihre sonstigen Begleiter waren mehr als wortkarg, er konnte sich nicht erinnern, sie überhaupt einmal reden gehört zu haben. Fast war es, als gehörten sie diesem Szenario nur als Staffage an. Schon wieder. Es geht schon wieder los. Diese Gedanken … Das ist nicht normal. Nichts hier ist normal. Ich will – mein Leben zurück! Mitunter kam es ihm wirklich so vor, als wäre er immer noch in einer Halluzination, einem Trugbild gefangen. Und vielleicht war es tatsächlich so. Krank. Bin krank. Fiebere. Brauche … Hilfe. Schwitzte er unter der Rüstung? Konnte es sein, dass er unter Fieber litt, ohne es feststellen zu können? Seine Hand, die über die Kunsthaut strich, spürte nichts als kühles, weiches Metall. Doch plötzlich änderte sich alles. Die Delegation kam ihnen entgegen. Seltsame Wesen, die es auf Salmo gar nicht hätte geben dürfen. Keine Legende sprach von ihnen. Und doch schienen sie das einzige Reale zu sein, das Ferenc seit Langem geschaut hatte …
»Woher habt ihr diese wundervollen … Kleider?« Das Wesen, das zu Ferenc trat, sprach seine Sprache. »Es sind keine normalen Kleider.« »Sondern?« »Sie bieten Schutz, es sind Rüstungen.« »Ihr kommt als Eroberer?« »Nein! Wir sind … Entdecker. Wir kamen, weil wir etwas neu
oder wieder entdecken wollten, was unsere Vorfahren schon kannten, aber wieder aus dem Blick verloren hatten. Damals, als die Katastrophe die Welt veränderte …« »Welche Katastrophe? Wir wissen von keiner.« Ferenc fasste das Wesen scharf ins Auge. Meinte es das ernst? Irritiert stellte er fest, dass die Gestalt, die er ansah, wie ein Fels in der Brandung wirkte. Alles andere war in Bewegung, war der Veränderung unterworfen, selbst die Stadt als solche schien Vergänglichkeit auszustrahlen, dieses Wesen hingegen, das er noch so scharf ins Auge fassen konnte … war anders. War unbeschreiblich. Etwas in Ferencs Gehirn weigerte sich, ihm Attribute zuzuordnen, mit denen sein spezielles Aussehen und Charisma für andere, die es nicht so sahen, ihm nicht so nahe waren wie Ferenc, vorstellbar geworden wäre. Doch da waren Schranken, Sperren … Er konnte sich nicht einmal wirklich darauf konzentrieren, Worte für diese Geschöpfe, sechs an der Zahl, zu finden. »Als der Glückliche Morgen endete …«, setzte Ferenc zu einer Antwort an. »Der Glückliche Morgen …« Das Wesen schien amüsiert. »… und der Rote Zenit das Zeitalter der Missernten und Not einläutete«, fuhr Ferenc fort, entschlossen, sich nicht verspotten zu lassen. »Du meinst«, sagte das Wesen, das offenbar Sprecher der Delegation war, »als diese Welt ihre Bahn um die Sonne veränderte, näher an sie heranrückte …« »Wovon sprichst du?« »Das sagte ich gerade. Auch wenn wir es nicht Katastrophe, sondern Notwendigkeit nennen.« »Die Überlieferungen sagen, dass Salmo damals von schweren Beben erschüttert wurde und fast verbrannt wäre – mit allem, was darauf war … Was weißt du darüber? Woher kennst du überhaupt unsere Sprache? Du sprichst sie wie einer aus meinem Stamm …« »Das sind viele Fragen auf einmal. Ich weiß nicht, ob es nötig ist, sie dir zu beantworten. Deshalb bist du nicht hier.«
»Du kennst meine Mission?« Das Wesen schien zu lachen – aber es lag auch Falschheit darin. Ferenc spürte, wie sein die ganze Zeit schon schwelendes Unbehagen sich von einem Moment zum anderen in Argwohn und Alarmbereitschaft verwandelte. Er trat einen Schritt zurück. Zwei Schritte. So geriet er nun hinter Jax, der ihm zuvor den Vortritt gelassen hatte. Auf Jax' Maskengesicht erschien ein Spiegelbild des Wesens, mit dem sich Ferenc gerade unterhalten hatte. Dann wurde es zur Grimasse. Jax hob den Arm, drehte sich um … und schlug Ferenc ansatzlos nieder. Die eigene Rüstung schützte Ferenc nicht. Nicht gegen eine Gewalt wie diese …
4. Gegenwart »Ihr müsst kommen, sofort! Bitte.« Ebenso knapp wie eindringlich war die Nachricht formuliert gewesen, die Jiim aus der holografischen Kalserwelt geschickt hatte. Konkreter hatte er nicht werden wollen. Dennoch war es für Cloud, Scobee und Jarvis Ehrensache, dem »Notruf« zu folgen, und zwar unverzüglich. Erst wenige Tage war es her, dass sie sich in Assurs Heim zur »konzertierten Aktion« getroffen hatte, um in Sachen Cy zu beratschlagen – und nun bahnten sich, ohne dass Jelto oder Sesha bisher einen Durchbruch bei Cys Untersuchung hatten erzielen können, offenbar bereits neue und anders geartete Probleme an. Via Türtransmitter verließen sie die Zentrale der RUBIKON und traten ohne messbaren Zeitverlust im nächsten Moment ganz in der Nähe des Zugangs in die Kunstwelt wieder aus der Gegenstation heraus. Ohne den Schritt zu unterbrechen, wandten sie sich dem stählernen Schott zu, hinter dem Jiim wartete. »Er hat es sehr dramatisch gemacht – vielleicht sollten wir Sesha fragen, was passiert ist, bevor wir –« Clouds Abwinken brachte Scobee zum Verstummen. »Wir erfahren es bestimmt gleich. Dafür müssen wir keine KI konsultieren.« Scobee zuckte mit den Schultern. Wortlos traten sie durch das Trennschott, das sich vor ihnen auftat. Dahinter erstreckte sich die scheinbare Weite eines ganzen Planeten. Ein laues Lüftchen fuhr durch Scobees schulterlanges Haar. Auch Clouds Frisur geriet in leichte Bewegung. Nur Jarvis fingerlanges, scheinbar mit Gel gefestigtes und steil aufgerichtetes Haar ließ sich davon nicht beeindrucken; vollkommen starr trotzte es dem Wind.
Was nicht allein an dem vermeintlichen Gel-Einsatz liegen mochte, eher schon an der Tatsache, dass es gar nicht existierte und ebenso wie jedes andere Detail von Jarvis' Erscheinung von bractonischer Hightech generiert wurde. Sobald der ehemalige GenTec den Kristall deaktivierte, den er von Kargor geschenkt bekommen hatte, vermochte ihn seine Umgebung zu sehen, wie er wirklich war – kaum weniger künstlich als das Korsett der Welt, in der sie jetzt standen. Die Nanohülle, die seinen Geist aufgenommen und auf diese Weise davor bewahrt hatte, mit dem Originalkörper in den Tod gerissen zu werden, hatte einmal einem Vertreter des foronischen FührungsSeptemvirats als Rüstung gedient. Seit der Aufnahme des menschlichen Bewusstseins hatte sie nach und nach rudimentäre Ähnlichkeit mit dem Jarvis erlangt, den die Crew der RUBIKON kannte. Doch niemals wäre es ihm gelungen, ein so lebensechtes Äußeres nachzubilden, wie der bractonische Kristall es ermöglichte. Für den Betrachter bot sich das Bild eines Jarvis, der vor Vitalität nur so strotzte und nach rein optischen Kriterien aus Fleisch und Blut bestehen musste. Nur die Angks durchschauten den Betrug der Sinne. Sie ließen sich von der Maske nicht täuschen, sahen sie nicht einmal, wie inzwischen bekannt war. Für sie präsentierte sich Jarvis mit oder ohne Hightechschminke als das Nanokonstrukt, das er geworden war. Woran genau das lag, vermochten nicht einmal die Angks selbst zu beantworten. »Da seid ihr ja … Danke, dass ihr so schnell gekommen seid!« Die Stimme kam von oben, und sie gehörte unverkennbar Jiim, der Augenblicke später vor ihnen landete. Fast im Sturzflug war er aus dem Geäst eines der Bäume herabgestoßen, in deren Kronen die Nargen ihre Hütten zu errichten pflegten. Jiim flatterte hektisch, um die Balance zu wahren. Staub wirbelte unter seinem Flügelschlag auf; Staub, von dem nicht anzunehmen war, dass er mehr Realität in sich barg als der atemberaubende Ausblick auf die Landschaft am Schrund, jenem Abgrund, der sich wie eine tiefe Wunde in die Planetenkruste hinab senkte. Tief genug, um das heiße Herz der Welt bloßzulegen und die aufsteigende Wärme
zum Garanten für eine winzige Lebensinsel inmitten einer ansonsten lebensfeindlichen planetenumspannenden Eiswüste zu machen. Dutzende Hausbäume erhoben sich am Rand des Schrunds, und am Boden herrschte das übliche Treiben. Pseudonargen erweckten die Illusion, sich tatsächlich auf Kalser aufzuhalten. Jiim hatte die gesamte Kulisse aus seinen Erinnerungen heraus entstehen lassen, und als Kulissenbauer hatte Sesha ihr Bestes gegeben. Die KI hatte Grandioses geleistet, anerkannte Cloud nicht zum ersten Mal. »Hier sind wir, ja«, wandte er sich ohne Umschweife an den Gefährten, der mit ihm durch dick und dünn gegangen war. »Erzähl, was passiert ist. Warum hast du uns so dringend sehen wollen? Geht es um …« Cloud zögerte, den Verdacht auszusprechen, den er hegte, seit Jiims Ruf ihn erreicht hatte. Jiims Blick senkte sich sekundenlang tief in Clouds Augen. Die Verzweiflung und Sorge, die den Nargen bewegte, innerlich fast zerriss, war körperlich greifbar. »Um Yael … wenn du das vermutest, hast du recht, Guma Tschonk – leider. Ich will, dass ihr ihn euch anseht. Und mir ratet, was ich tun soll.« »Was ist mit ihm?«, fragte Scobee, die seit jeher eine innige Bindung an Jiims Sprössling hatte. Auch Jarvis machte einen Schritt auf den Nargen zu. »Und wo ist er?«, fragte er rau. Er nickte nach oben. »In eurer Hütte?« Jiim machte eine Geste der Verneinung. Er zeigte zum Dorfplatz, wo sich andere Nargen bewegten. Nargen, die in Wirklichkeit nicht existierten, sich aber so verhielten, als wüssten sie das nicht. Es war ein absonderlicher Ort. Und er wartete mit einem noch viel absonderlicheren Problem auf, wie sich wenig später zeigte, als Jiim sie aufgeregt zum Dorfplatz geleitet hatte. Er liegt da, als wäre er tot, dachte Cloud betroffen, als sie die Stelle erreichten, wo eine Illusion namens Chex sich aufopferungsvoll um einen Nargen kümmerte, dessen Gefieder im Gegensatz zu den ockerfarbenen Artgenossen golden schimmerte. Er ruhte in einer Art Geschirr, das an einem hölzernen Gestell befestigt war. In solchen
Konstruktionen pflegten Nargen zu schlafen. Aber Yael sah tatsächlich so aus, als hätte er dieses Stadium für immer hinter sich gelassen, als wäre er tot …
»Ist er …?« Scobee musste sich offensichtlich beherrschen, um nicht vorzustürmen. Jiim schüttelte den Kopf. »Tot? Maron sei Dank, nein!« »Aber …«, setzte Cloud an, »… so schläft auch niemand. Ich meine am helllichten Tag und hier unten zwischen all den anderen Schrundbewohnern …« Während er sprach, merkte er, dass er die Pseudonargen mit echten gleichstellte. Er räusperte sich. »Normalerweise nicht«, sagte Jiim mit belegter Stimme. »Und was bedeutet es? Geht es ihm nicht gut? Ist er erschöpft?«, mischte sich erstmals Jarvis in das Gespräch ein. »Vielleicht. Wir … wissen es nicht.« »Wir?«, fragte Cloud. »Sesha und ich«, erwiderte Jiim, der neben Yael Aufstellung bezog, aber seinen Sprössling nicht berührte. Kaum merklich schaukelte der Jungnarge in seinem Geschirr hin und her; die Tragegurte knarrten leise. Die Bewegung als solche erzeugte der Wind, der von irgendwo nach nirgendwo blies. »Sesha hat inzwischen genügend Vergleichswerte, um den Gesundheitszustand eines Nargen ebenso gut diagnostizieren zu können wie den eines Menschen«, sagte Scobee. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie wirklich im Dunkeln tappt, wenn es Yael schlecht geht. Aber … geht es ihm überhaupt schlecht? Er schläft – so sieht es aus, und das sagst du ja auch, Jiim. Du hättest uns nicht gerufen, wenn es ein normaler Schlaf wäre. Deshalb die wichtigste Frage: Woran machst du das fest und wie lange dauert dieser Zustand schon an?« »Drei Tage«, sagte Jiim. Seine Antwort rief allgemeinen Unglauben hervor. »Drei Tage«, echote Jarvis. Sein vorgetäuschtes Gesicht verzog sich, als fühle er sich auf den Arm genommen.
»Vor drei Tagen«, sagte Cloud, »ist er zusammen mit Assur und Winoa von seinem … nennen wir es ›Ausflug‹ zurückgekehrt – ihr wisst schon. Und seither schläft er? Das hättest du uns mitteilen müssen – früher mitteilen müssen, Jiim. Was ist los mit dir? Wenn er wirklich schon so lange …« »Aber darum geht es ja«, rechtfertigte sich Jiim. »Er war erschöpft, das waren alle Rückkehrer, niemand weiß das besser als du. Ich dachte mir nichts dabei, als er sich matt fühlte. Aber zuerst wollte er nicht schlafen. Er wirkte so glücklich, wieder hier zu sein und genoss die vertraute Umgebung hier …« Jiim machte eine ausholende Geste. »Ich überredete ihn, sich hier …« Er zeigte auf das Geschirr. »… etwas auszuruhen, zu dösen, sich die Sonne aufs Gefieder scheinen zu lassen. Einfach zu relaxen. Er willigte schließlich ein. Doch seither …« »… ist er nicht mehr aufgewacht?«, fragte Scobee zunehmend alarmiert. Jiim bejahte. »Noch mal«, seufzte Cloud, »warum hast du uns nicht früher Bescheid gegeben? Drei Tage? Das kann nicht normal sein! Der Vorwurf geht auch an dich, Sesha. Du hörst mich. Was hast du zu deiner Rechtfertigung zu sagen?« Die KI gab nicht zu erkennen, ob sie sich von Clouds Worten angegriffen fühlte. In neutralem Tonfall erwiderte sie aus dem Off: »Yaels Vitalwerte liegen auf ganzer Bandbreite im Normalbereich. Auch jetzt. Sie sind typisch für die Schlafphase eines Nargen. Es gab keinen Grund –« Cloud schnitt ihr das Wort ab, richtete seine Frage aber an Jiim. »Du hast sicher versucht, ihn zu wecken. Reagiert er darauf?« Jiim schüttelte den Kopf. »Ich versuchte es mehrfach. Ohne Erfolg.« »Und das gab dir nicht zu denken? Schon früher, meine ich.« »Natürlich. Aber Sesha beschwichtigte mich. Und ich dachte wirklich, es hinge mit seinem Aufenthalt an diesem unbekannten Ort zusammen, an den es ihn zeitweilig verschlug. Sein Bericht, auch Charly betreffend … wie er ihn benutzte, um eine räumliche Verset-
zung vorzunehmen … das alles war Neuland für ihn und forderte möglicherweise mehr Kraftressourcen als er selbst es in dem Moment bemerkte …« Cloud nickte. »Das mag alles sein. Aber Yael war schon häufiger unser Sorgenkind. Eigentlich dachte ich, dass auch ohne viele Worte klar zwischen uns ist, dass jede Unregelmäßigkeit, die ihn betrifft, sofort an mich gemeldet werden sollte.« Jiim wirkte zerknirscht. »Ich war hin- und hergerissen. Ich wusste nicht, wo mir der Kopf stand. Vorhin aber …« Er räusperte sich. »… hielt ich es nicht mehr aus. Ich mache mir Sorgen. Du weißt sicher Rat, Guma Tschonk. Hilf mir, hilf dem Jungen. Er darf nicht …« Seine Stimme versagte. Erst jetzt wurde Cloud in vollem Umfang bewusst, wie verzweifelt und ratlos Jiim war. Sofort erlangte sein Mitleid die Oberhand über alle Gefühle. Er trat neben den alten Freund und versuchte, seinen Blick festzuhalten. »Keine Sorge. Wir kümmern uns jetzt darum, mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln. Wäre doch gelacht, wenn …« Er sprach den Satz nicht zu Ende. »Sesha? Sofort Medbots in die Sphäre! Ich will, dass Yael geweckt wird. Behutsam, aber dennoch mit Nachdruck. Die Zusammenstellung der Wachmacher-Medizin überlasse ich dir. Aber ich verlasse mich darauf, dass sie nargenverträglich ist. Bestätige!« »Verstanden. Bots sind unterwegs. Yael wird geweckt.« Jiim legte unfroh den Kopf schief. »Das wird nicht klappen, Guma Tschonk. Ich spür, dass es nicht klappen wird.« »Warum?« Cloud schüttelte den Kopf. »Reiß dich zusammen, mein Freund. Alles wird gut, vielleicht war es wirklich nur Erschöpfung …« Er fing einen Blick Scobees auf, den er lieber nicht gedeutet hätte. Die Skepsis, das wurde ihm schmerzlich bewusst, beherrschte nicht nur Jiims Meinung. In diesem Moment huschten mehrere der Metallspinnen, die Sesha als ausführende Organe dienten, heran. »Das ging schnell«, entfuhr es Jarvis. »Es darf ja auch mal eine positive Überraschung sein«, meinte Sco-
bee. Ihr Gesicht war in den letzten Monaten gealtert, fiel Cloud nicht zum ersten Mal auf. Es war kein Alter, das sich in einer – gerade aus Frauensicht – unangenehmen Weise auf ihren Zügen niederschlug; vielmehr unterstrich es die Festigung ihres Charakters, der, wenn auch in anderer Weise, ähnliche Prüfungen hatte bestehen müssen wie Cloud. Fast wären sie für immer getrennt worden, als sich Scobee seinerseits entschloss, zusammen mit den Gloriden von Andromeda aus zur Milchstraße zurückzukehren, während Cloud und die übrige RUBIKON-Crew sich zum einstweiligen Verbleib in der Nachbargalaxie entschieden hatten. Dort gab es Rätsel zuhauf zu lösen, nicht zuletzt das Wirken der Satoga, die die Bewohner Andromedas in einen schrecklichen Krieg verwickelt hatten … Lang lang ist's her, dachte Cloud – und schloss das Thema wieder ab. Die Bots drängten Jiim und Scobee, die Yael am nächsten standen, sanft aber bestimmt ab. Dann platzierten sie sich selbst rund um den Schläfer. Aus ihren Metallkörpern lösten sich chromglitzernde, fragile fingerdicke Schläuche, die sich hörbar an Yaels Körper festsogen. »Was geschieht?«, wandte sich Cloud an die regieführende KI. »Sesha? Kommentiere. Ich will über jeden Schritt im Detail informiert sein. Es wird nichts getan, was Yael in Gefahr bringen könnte. Beim geringsten Anzeichen einer Zustandsverschlechterung wird die Therapie sofort abgebrochen – ist das klar?« »Selbstredend«, erwiderte die KI, als hätte sie nie eine andere Vorgehensweise in Betracht gezogen. »Dem Nargen wird jetzt eine Stimulans injiziert, die dafür konzipiert ist, ins künstliche Koma Versetzte behutsam ins Bewusstsein zurückzuholen, abgestimmt auf den Metabolismus eines Nargen, der keine Geheimnisse mehr aufweist, seit umfangreiche Tests zur Prävention durchgeführt wurden …« Cloud erinnerte sich vage, solchen Tests zugestimmt zu haben – sie bildeten den Grundstock für eine spezielle Medo-Datei, wie sie mittlerweile zu jedem Crewmitglied existierte. Ebenso gespannt wie Jiim wartete er auf eine Reaktion Yaels. Die
parallel stattfindenden Kommentare der KI registrierte er, ohne ihnen das Augenmerk zu widmen, das er auf Yael selbst richtete. Eine Reaktion, wie auch immer geartet, würde erfolgen – alles andere hätte die KI in Erklärungsnot gebracht. Aber so weit kam es nicht. Schon Minuten nach der intravenösen Verabreichung des Medikaments flatterten Yaels Lider. Jiims Sprössling erwachte.
»Orham …«, rann es matt aus Yaels Mund. Sein Gold, das ihn sonst so jugendlich und strahlend erscheinen ließ, wirkte stumpf und matt. »Orham …« Die Worte kamen einem Röcheln gleich. Hilfesuchend. Desorientiert. Aber am schlimmsten von allem: hoffnungslos. Was ist nur los mit ihm? Unwillkürlich, fast unbewusst, formte sich der Gedanke in Cloud. Was nagt und zerrt an ihm? So sah es wahrhaftig aus – als würden unsichtbare Mäuler an ihm zehren. »Yael …« Jiim wollte vortreten, sich zwischen die Spinnenbots drängen, aber Scobee hielt ihn zurück. Wortlos drückte ihre Miene aus: Bedränge ihn nicht. Lass die Bots ihren Job tun! Jiim befolgte den unausgesprochenen Ratschlag mit sichtlichem Widerstreben. »Rede mit ihm«, drängte Cloud. »Wichtiger als du ist jetzt keiner für ihn. Vielleicht weiß er, was ihn so mitnimmt. Vielleicht hat er sogar eine Ahnung, wie es zu stoppen ist.« Jiim schien die Worte wie ein trockener Schwamm Wassertropfen in sich aufzunehmen. »Yael – wenn du weißt, was dir zusetzt … rede, Kind! Sind es die Nachwirkungen deines Aufenthalts in –« Jiim brach ab. Yaels Augen schlossen sich auf eine Art und Weise, die kaum Hoffnung ließ, dass er sie in absehbarer Zeit wieder öffnen würde. Sein Gesicht schien zusammenzusinken, zu verfallen. Nicht wirklich, aber von seiner Ausdruckskraft her.
Jiim stöhnte gequält auf. Sesha meldete: »Er ist wieder eingeschlafen. Eine wiederholte Verabreichung der Stimulans ist nicht ratsam. Sein Metabolismus spricht auf unerwartete Weise darauf an. Eigentlich müsste er von der erhaltenen Dosis über Stunden hellwach gehalten werden. Stattdessen hat sich ihre Wirkung rasant abgebaut.« Wenn eine KI schon ein Wort wie »eigentlich« benutzte … Kopfschüttelnd richtete Cloud seine Aufmerksamkeit auf Jiim, der mitten im Satz verstummt war. Und dies, noch bevor Seshas Stimme erklungen war. Und erst als Jarvis hinter ihm entsagungsvoll »O nein, nicht auch das noch« hauchte, bemerkte er, dass Jiim längst nicht mehr auf seinen Sprössling blickte, sondern zu einer Stelle neben einem der mächtigen Stämme der Siedlungsbäume. Dort lehnte eine Gestalt gegen die raue Borke, die bis auf die beinahe verrottet aussehenden Flügel kaum noch Ähnlichkeit mit demjenigen hatte, den sie offenbar darstellen sollte. Dennoch war es unverkennbar Charly, der dort stand, auch wenn er sich – nicht zum ersten Mal – verändert hatte. Angefangen hatte er als »Mensch«. Zwischenzeitlich war er als »Narge« aufgetreten. Nun aber hatte er nur noch rudimentäre Ähnlichkeit mit einem solchen. Und trotzdem erkannte ihn Cloud … erkannten ihn Jiim, Scobee und Jarvis, wie ihre Blicke verrieten … auch in dieser neuen Erscheinungsform auf Anhieb. »Den kauf ich mir!«, kündigte Jarvis an und setzte sich bereits in Bewegung. »Und wenn ich ihn hab, mach ich ihn zur Schnecke! Ich wette, dass er etwas damit zu tun hat – seht euch seine selbstgerechte Visage an!« Warum Jarvis meinte, das Wort »Schnecke« so extrem betonen zu müssen, hatte seinen Grund. Denn genau wie ein solches Weichtier, allerdings mannsgroß, sah Charly in diesem Moment aus. Er hatte die Flügel und jedes andere Körperattribut eines Nargen verloren … eingetauscht gegen anthrazitfarben strukturierte, ölig glänzende Haut und … pure Fremdheit. »Ein Ganf«, ächzte Jiim in diesem Moment. »Er sieht aus wie ein
… Ganf!« Obwohl Charly kein »Gesicht« im eigentlichen Sinn mehr hatte, nichts, was an Erfahrungsmuster heranreichte, auf die Cloud zurückblicken konnte, schien seine Physiognomie doch eines auszudrücken: Herablassung. Aber wie war das möglich, und vor allem: Was machte das für einen Sinn? Charly war ein Produkt Yaels. Ein »Ding«, das zunächst als unbewusste Schöpfung des Jungnargen begonnen hatte. Später hatte er dann gelernt, ihn willentlich erscheinen oder verschwinden zu lassen. Es war ihm sogar gelungen, Charly als Boten ins Angksystem zu entsenden … zumindest bis in die Nonzone, die das Erste Reich der ERBAUER wie ein unsichtbarer Schutzwall umgab. Von dort war er irgendwann, als schon keiner mehr damit rechnete, zurückgekehrt. Aber von Jiim – und dieser wiederum von Yael – wusste Cloud, dass Yael diesen Charly, den Heimkehrer, nur mehr mit Argwohn betrachtet hatte. Es schien, als habe er sich während seines Aufenthalts in der Nonzone verändert. Zeitweise war er nicht mehr zu kontrollieren gewesen, hatte ein Eigenleben und eine besorgniserregende Eigeninitiative entwickelt. Dann aber schien sich alles wieder zu normalisieren. Yael selbst hatte Entwarnung gegeben und gemeint, seinen »Aktionskörper«, wie er es bisweilen nannte, wieder voll im Griff zu haben. Offenbar hatte er sich geirrt. Mit katastrophalen Folgen für ihn selbst? Bevor irgendjemand es verhindern konnte, stürmte Jiim auf Charly zu. Erstaunlicherweise machte Charly keinerlei Anstalten, sich abzusetzen, obwohl ihm das wahrscheinlich ein Leichtes gewesen wäre. Vielleicht ist das aber auch gar nicht so, dachte Cloud, der sich sofort an Jiims Fersen heftete, gleichzeitig Scobee und Jarvis signalisierte, es ihm gleich zu tun. Vielleicht ist er durch Yaels Zustand gehandicapt … »Jiim!«, rief er. »Nicht! Lass ihn. Keine überstürzten Aktionen. Wir müssen mit ihm reden!« »Ich will ja mit ihm reden!«, keuchte Jiim, der auf den Einsatz sei-
ner Flügel verzichtet hatte, und jetzt abrupt, wenige Meter vor Charly, stehen blieb. Der schnelle Lauf hatte ihn außer Atem gebracht. »Ich meine zivilisiert«, mahnte ihn Cloud, obwohl Charly ihn selbst schon etliche Male an den Rand eines Nervenzusammenbruchs gebracht hatte. Dieses »Wesen« war unberechenbar. Im Grunde war es eine tickende Zeitbombe – aber niemand, nicht einmal Yael, als es ihm noch gut ging, wusste offenbar, wie sie zu entschärfen war. Sie wurde von Yaels Unterbewusstsein gesteuert und einer Art Parafähigkeit des Nargen überhaupt erst stofflich projiziert. Wie genau die Abläufe waren, die zu Charlys »Geburt« führten, war bis heute ungeklärt. Aber aus vielen Gesprächen mit Jiim und Yael selbst hatte Cloud entnehmen können, dass Yael sein »Kind« liebend gern wieder losgeworden wäre. Doch Charly war hartnäckig. Offenbar hing er an dem empfangenen »Leben«. Und ebenso offenbar schien er eine Mutation oder Transformation durchzumachen, seit er aus der Nonzone zurückgeholt worden war – wobei … geholt?. Es gab Hinweise darauf, dass es gar nicht Yael selbst gelungen war, den Projektionskörper zurückzuholen, sondern dass er eher … geschickt worden war. Die Ganf spielten dabei eine Rolle. Eine absonderliche Spezies, die Cloud nie persönlich kennengelernt hatte, die aber die zweite intelligente Art auf Kalser gewesen war – vermutlich sogar ein um ein Vielfaches höher entwickeltes Volk als die Nargen. Von ihnen stammten die Pyramidenstädte, die nach Marons Fall in Eis erstarrt und dem allmählichen Verfall preisgegeben worden waren. Die Ganf selbst hatten sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, komplett von Kalser zurückgezogen. Anfangs hatte es ausgesehen, als wären sie einfach ausgestorben. Doch inzwischen gab es Hinweise, dass sie, simpel ausgedrückt, einfach nur ausgewandert waren und in irgendeiner Verbindung zur Nonzone um das Angksystem stammten. Es war unglaublich kompliziert, und Cloud war sicher, wenn überhaupt, höchstens einen Zipfel der ganzen Wahrheit zu verstehen, die hinter all dem steckte.
Danke!, signalisierte er Jiim, als er neben ihm ankam. Danke, dass du die Nerven behältst! Er wusste, mit welcher Löwenmentalität Jiim sein »Junges« jederzeit zu verteidigen bereit war. Und jetzt schien Yael in Gefahr zu sein. Hatte Charly seine Finger im Spiel – oder war er selbst ein Opfer des Geschehens? Darf ich?, fragte Clouds Blick, mit dem er sich zwischen Jiim und Charly schob, dabei den Nargen eindringlich anschaute. Widerwillig gab Jiim sein Zeichen des Einverständnisses. Cloud kehrte ihm den Rücken zu und ging näher an Charly heran, der jetzt komplett hinter dem Baumstamm hervorgetreten war. »Alles in Ordnung?« Cloud wusste selbst, wie hohl und abgedroschen er gerade klang, aber vor ihm stand ein Ding, mit dem er eines mit Sicherheit nicht tun musste: geschwollen daherreden. »Lass mich!«, schnarrte Charly. Seine Stimme klang so brüchig wie die an manchen Stellen wie abgestorben wirkenden Schwingen, die aus dem Rücken seines absonderlichen Körpers ragten. »Er …« Er hob die ölig glänzende, wie verkümmert aus einem schneckenartigen, aufrecht stehenden Körper tretenden Arme und zeigte hinter Cloud. Alles an Charly schien zu triefen, die nackte Haut schimmerte im Gegensatz zu den Flügeln, die wie aufgeklebte falsche Anhängsel wirkten, wie bei einem Neugeborenen, der gerade dem Mutterschoß entschlüpft war. Die Augen dieses Dings, das Cloud bis zu den Schultern reichte, verschmolzen fast unsichtbar mit der Maserung der Haut. Einen klar definierbaren Übergang von Rumpf zu Kopf schien es nicht zu geben. Alles an diesem Wesen war fließend wie die ölige Substanz, die seine Poren ausschieden. »Ihn … ihn brauche ich!«, röchelte das Ding. Cloud glaubte, er meine Yael, der irgendwo hinter ihm in diesem Geschirr schlief, aber als er sich halb umwandte, sah er, dass Charly auf Jiim zeigte. »Was soll er tun?«, fragte Cloud. »Was könnte er für dich tun?« Aus Charlys verändertem Mund brach ein halb verächtliches, halb
verzweifeltes Gelächter. Dann keuchte er: »Das!« Mit einer Vehemenz und Kraft, die Cloud ihm der äußeren Erscheinung nach nicht zugetraut hätte, hob Charlie mit energischem Schwingenschlag ab, stieg über Cloud hinweg und … … warf sich Jiim förmlich entgegen. Aus den Augenwinkeln sah Cloud, dass Jarvis dazwischen gehen wollte – aber selbst er kam zu spät. Charly und der Narge prallten zusammen. In seiner Vorstellung sah Cloud sie beide zu Boden gehen, aber erneut wurde er überrascht, denn … … Jiim blieb so eisern stehen, als wäre er das Ding, eine aus Erz gegossene Statue, die der Wucht des Zusammenstoßes mühelos standhielt, während Charly … … seine Festigkeit jäh einzubüßen schien und wie etwas Nebulöses in Jiims Körper eindrang. Cloud fühlte sich unwillkürlich an alte Märchen von Flaschengeistern erinnert. Genauso stellte er es sich vor, wenn ein Geist zurück in die Flasche strömte. Sekundenlang stand Cloud ebenso überrumpelt da wie Scobee und Jarvis. Dann eilten alle fast gleichzeitig zu Jiim, der sich gerade wieder zu regen begann, sich schüttelte, als wäre er mit etwas begossen worden, das er aus seinem Gefieder entfernen wollte. Leicht benommen und verwirrt blickte er auf die Freunde. »Wo ist er hin?«, fragte Jiim. Irgendetwas ließ Cloud zögern, ihm zu sagen, was er glaubte, dass geschehen war. Jarvis war weniger feinfühlig. »Er ist in dich reingefahren, alter Junge! Wie fühlte sich das an?« »In mich …?« Jiims Verwirrung wuchs. Er sah an sich herab. Sein Gefieder war an einigen Stellen golden, aber das war nicht seine echte Farbe. Sie war entstanden, als sein Körper vor Monaten begonnen hatte, das Nabiss zu absorbieren, zu assimilieren … oder wie immer man es mangels echter Kenntnis der Sachlage nennen wollte. Das Nabiss als Rüstung hatte Jiim von einem Ganf erhalten. Niemand wusste besser, wie diese Wesen aussahen. Und deshalb
zweifelte auch niemand an Jiims Worten, als er betroffen murmelte: »Verrückt, oder? Er sah fast aus wie ein Ganf ohne Gehäuse. Nur die Flügel … die Flügel passten nicht dazu, aber sonst …« »Du musst dich sofort untersuchen lassen. Ich traue diesem Biest nicht!« Scobee rückte besorgt näher heran. »Dafür bin ich auch. Tu das, Jiim. Wahrscheinlich hat der Eindruck getäuscht. Wahrscheinlich ist Charly nicht wirklich in dich gefahren, sondern hat sich im Moment des bevorstehenden Zusammenpralls nur verflüchtigt. Aber wir wollen kein Risiko eingehen.« Jiim sah ihn skeptisch an. »Glaubst du denn, Sesha könnte irgendetwas entdecken, wenn es da wäre, Guma Tschonk?« Sein Vertrauen in die KI schien am Nullpunkt angelangt zu sein, und wenn Cloud ehrlich war, konnte er es ihm nicht einmal verübeln. Schon mit Cy tat sich Sesha schwer, nun war noch Yael dazu gekommen und – ganz aktuell – Jiim. »Vielleicht sollten wir darüber nachdenken, uns für medizinische Belange einen echten Doc zuzulegen«, sagte Jarvis, der wie immer kein Blatt vor den Mund nahm. »Sesha macht auf mich nicht den kompetentesten Eindruck.« Die KI reagierte prompt aus dem Off. »Ein sogenannter Doc, von dem ich davon ausgehe, dass es sich um einen medizinischen Experten auf Basis eines organischen Lebewesens, beispielsweise Mensch, handeln würde, könnte niemals das Fachwissen in sich vereinen, das ich zu bieten habe – und zwar längst nicht mehr auf nur eine Spezies bezogen, sondern auf sämtliche an Bord befindliche Arten.« »Sie ist eine Blenderin«, kommentierte Jarvis die Ausführung ungerührt. »Lass sie in Ruhe. Sie tut ihr Bestes. Sesha?« »Commander?« »Falls wir wirklich eines Tages jemanden finden, der sich um die Gesundheit der Besatzung kümmern kann und gleichzeitig Bestandteil der Mannschaft ist, wirst du ihm mit deinem reichen Wissensschatz unbezahlbare Dienste erweisen.« »Ich wäre dann sozusagen seine … Assistentin?« »Wir finden noch einen Titel, mit dem du ›leben‹ kannst«, ätzte
Jarvis ungebremst weiter. All das aber täuschte nicht darüber hinweg, dass sie alle sich Sorgen machten. Nun nicht mehr allein um Yael, sondern auch um seinen Elter. Eine glockenhelle Stimme lenkte ihre Aufmerksamkeit ab. Eine Stimme, die aus dem Gesumme der Stimmen herausstach, das die Kulisse der holografischen Nargen erzeugte. Es war ein Lachen, das aber nur kurz erschallte, dann abbrach … Cloud und die anderen drehten sich in die Richtung, wo sie Yael zurückgelassen hatten und wo jetzt eine schlanke Mädchengestalt bei ihm stand. Winoa …
»Was ist denn hier los?«, wunderte sich Assurs Tochter, als sie erkannte, welch illustre Gruppe sich auf sie zubewegte. »Yael! Was wird das hier? Du hängst hier rum, lässt seit lagen nichts mehr von dir hören und –« Cloud traute seinen Augen nicht, als Yael sich mit geübten Griffen aus der Umschlingung des Tragegeschirrs befreite und drei Schritte auf Winoa zuging. Aber am stärksten entlud sich Jiim Erleichterung, als er geradezu außer sich vor Freude schrie: »Yael! Ich dachte schon …« Er führte nicht aus, was er befürchtet hatte. Fliegend legte er die Distanz zu seinem Sprössling zurück. Die Landung fiel nicht gewohnt elegant aus, sondern eher dilettantisch. Aber das machte ihm gewiss niemand zum Vorwurf. Wenig später umstanden alle Freunde die beiden Nargen. Yael zeigte sich mitgenommen, aber offenbar ansprechbar. »Klärt mich mal jemand auf?«, seufzte Winoa, die noch immer nicht verstand, was hier eigentlich vor sich ging – und warum Jiim seine elterliche Fürsorge so übertrieben zum Ausdruck brachte. Scobee übernahm die »Aufklärungsarbeit«. Sie nahm sie beiseite und redete leise auf sie ein, während Cloud sich zu Yael und Jiim gesellte.
»Du hast drei Tage geschlafen – ist dir das bewusst?«, wandte er sich an Yael. »Und erinnerst du dich an dein kurzes Erwachen vorhin?« Der Jungnarge schüttelte den Kopf, wirkte aber erschrocken. »Ich war so müde … Aber drei Tage … Und vorhin? Nein. Ich bin jetzt erst wieder bei mir …« Scobee trat neben Cloud. »Winoa sagt, er sei schon wach gewesen, als sie ihn unter dem Baum entdeckte. Sie musste lachen, weil sie dachte, er will sie mit dem Geschirr veralbern. Hm. Er muss ungefähr in dem Moment erwacht sein, als …« Sie blickte zu Jiim. »… als Charly in dich rein krachte.« »Charly?«, fragte Yael sofort. Jiim übernahm es, ihm das Geschehen zu schildern. »Seither ist er verschwunden«, schloss er. Yaels Mienenspiel wechselte zwischen Besorgnis und Zorn hin und her. »Er war also aktiv, während ich … bewusstlos war. Seltsam, oder? Das dürfte nicht funktionieren, es sei denn mein Unterbewusstsein lenkte ihn, während ich selbst zu keiner bewussten Wahrnehmung fähig war …« »Wie war dein Zustand?«, fragte Cloud. »Wie ein Schlaf, in dem man träumt, oder eher wie eine tiefe traumlose Ohnmacht?« Yael rang mit sich. Offenbar überlegte er angestrengt, ohne zu einem Resultat zu gelangen, von dem er selbst überzeugt war. »Es tut mir leid, aber ich weiß es nicht. Ich glaube, da war etwas … aber ich habe keine Erinnerung mehr. Wenn es ein Traum war, dann hat er keinen bleibenden Eindruck hinterlassen.« »Dann war es vielleicht wirklich so, dass Charly mehr schlecht als recht von dir projiziert wurde, während du selbst handlungsunfähig warst. Man sah ihm jedenfalls an, dass er auch nicht auf der Höhe war …« Yael stutzte bei dieser Aussage erneut, bat um eine Erklärung. Als er hörte, wie verändert sich Charly präsentiert hatte, schien ein Schatten über sein Gesicht zu fallen. »Als Ganf trat er vor euch?« »Mit Flügeln«, präzisierte Jarvis. »Sie sahen wie verrottet aus. Als stünde er kurz davor, auch dieses letzte Überbleibsel seiner Nargen-
gestalt abzuschütteln.« Yael schien zunächst keine Erklärung dafür zu haben, bis er leise murmelte: »Hat vielleicht mit dem Aufenthalt bei den Pyramiden zu tun …« Cloud wusste sofort, was er meinte. Neben Yael hatte es auch Assur und Winoa zeitweise durch ein Angkhaus an einen Ort verschlagen, der immer noch die RUBIKON zu sein schien, aber eklatante Unterschiede zu den Gegebenheiten an Bord aufwies. Dort waren sie auf Pyramiden gestoßen, und Yael hatte berichtet, dass er das Gefühl hatte, von etwas im Boden einer der Pyramiden gerufen worden zu sein. Bevor es zu einem Kontakt hatte kommen können, waren er, Assur und Winoa wieder auf diese Seite des Schiffes versetzt worden. Ja, vielleicht musste man es sich genauso vorstellen: Die RUBIKON hatte neben der bekannten auch noch eine unbekannte Seite, ein unbekanntes Gesicht. Aber wieso? Wenn, dann ging dieser Effekt gewiss nicht auf die Foronen zurück, sondern auf die Bractonen. Sie hatten an einigem hier gedreht. Wenn man es weniger freundlich ausdrücken will, könnte man auch sagen: herumgepfuscht, dachte Cloud. Aber er wollte nicht undankbar sein. Der überwiegende Teil der Veränderungen, die an der RUBIKON im Angksystem vorgenommen worden waren, bedeutete einen klaren Gewinn. Nicht zuletzt verdankte das Schiff den ERBAUERN auch eine zahlenmäßig starke Besatzung, die noch den positiven Nebeneffekt hatte, dass sie die RUBIKON aktiv stärkte. Angks und RUBIKON bildeten eine Einheit, konnten jederzeit miteinander fusionieren und sich gegenseitig aufwerten. Und ich verdanke den ERBAUERN eine Frau, wie ich sie mir immer gewünscht habe, dachte Cloud. Weiter verfolgte er den Gedanken nicht. »Wir können momentan nichts ausschließen, aber es gäbe einen Weg, schnell Gewissheit wenigstens in dieser Sache zu erlangen.« Die Blicke aller hingen erwartungsvoll an seinen Lippen. »Wie?«, fragte Yael, der bereit schien alles in seinen Kräften Ste-
hende beizusteuern, um das Rätsel um Charly zu lösen. »Du müsstest ihn … falls du dich dazu in der Lage fühlst … einfach nur rufen. Sodass wir ihn selbst befragen könnten.« Jiim lächelte gequält. »Ich hätte nichts dagegen. Dann wüsste ich wenigstens sicher, dass er nicht vielleicht doch in mir steckt … Ihr wisst nicht, was die bloße Vorstellung in einem auslöst …« Cloud lächelte verständnisvoll. Yael schwieg immer noch. »Wir wollen nichts überstürzen«, versuchte Cloud, Druck von dem gerade erst Erwachten zu nehmen. »Wir können auch später noch …« »Schon gut«, sagte Yael. »Ich versuche es. Ich fühle mich … fit genug.« Sein Aussehen strafte die Worte Lügen. Cloud war dementsprechend unsicher, ob es wirklich ratsam war, ein gesundheitliches Risiko einzugehen. »Nein«, wollte auch Jiim sein Veto einlegen, nachdem ihm aufgefallen war, wie mühsam sich Yael auf den Beinen hielt. Aber an Sturheit war ihm Yael mindestens ebenbürtig. Cloud sah, wie er die Augen schloss und die Stirn in Falten legte, so angestrengt schien er sich auf sein Vorhaben zu konzentrieren. Doch nach einer Minute, in der er keinen Erfolg hatte erzielen können, gab er auf. »Ich schaff's nicht, aber …« »Aber?«, fragte Cloud. »Das wäre nicht so schlimm, wenn da nicht … naja, es war anders als sonst, ganz anders. Ich hatte nie das Gefühl, dass da etwas ist, das ich rufen könnte, weil es eng mit mir verbunden ist …« »Du meinst, Charly existiert gar nicht mehr?« Yael wirkte ratlos. »Ihr könntet sein letztes Aufbäumen beobachtet haben … Vielleicht löste er sich auf, weil ich zu lange nicht genug Kraft in ihn leiten konnte …« »Aber sein verändertes Aussehen«, gab Winoa zu bedenken. Sie wirkte längst ebenso besorgt um Yaels Gesundheit wie alle anderen Anwesenden.
»Es gibt noch einigen Klärungsbedarf, aber das vertagen wir – fürs Erste soll es das gewesen sein. Jiim, kümmere dich bitte um deinen Spross. Du hast Seshas Unterstützung, wann immer es nötig wird – das ist klar, oder, Sesha?« »Verstanden, Commander.« »Hauptsache, er ist wieder bei sich«, übte sich Scobee in Optimismus. »Ich glaube, ich statte Cy mal einen Besuch ab – unser anderes ›Sorgenkind‹. Er dürfte sich bei Jelto aufhalten, und Jelto …« »… ist bestimmt in seinem Garten«, sagte Jarvis. »Oder dem, was davon noch übrig ist …« So gingen sie auseinander.
5. Einst Ferenc öffnete die Augen. Allein. Er war allein. Wo waren die anderen? Sein Verräterfreund Jax oder die fremden Wesen, deren Aussehen sich in seiner Erinnerung nicht weiter niedergeschlagen hatte, nur als verschwommene Schemen. Vor allem aber: Wo war er? Er erinnerte sich, eine der schwimmenden Städte aus Holz betreten zu haben. Befand er sich hier immer noch? Aber das, worauf er lag, war kein Holz. Es fühlte sich ganz anders an, wie Schiefer … »Hallo? Hört mich jemand? Zeigt euch!« Er trug nach wie vor seine Rüstung, der gegen Jax' feigen Verrat nicht geholfen hatte. Ferenc bereute, so viele Strapazen auf sich genommen zu haben, um sie zu gewinnen. Wenn sie ihn nicht einmal vor etwas so Banalem wie einem Hieb bewahrte … Ein Röcheln lenkte seinen Blick in die Richtung, in die er noch nicht geblickt hatte. Der Raum war ziemlich groß, und ein Zwielicht, dessen Herkunft ungewiss blieb, weil es weder Türen noch Fenster oder andere Öffnungen zu geben schien, lag wie ein Schleier über allem. Jax! Ferenc schnellte wie von einer Stahlfeder getrieben vom Boden hoch in den Stand. Ihm wurde kurz schwarz vor Augen, dann hatte er sich gefasst. »Elender Schuft!« Er wollte sich auf Jax stürzen. Der lag halb zusammengerollt am Boden und wimmerte leise. Offenbar war er auch gerade erst er-
wacht, und als er Ferenc nun mit geballter Wut auf sich zustürmen sah, machte er sich noch kleiner … Ferenc stoppte. Das war kein Gegner, das war ein Häuflein Elend, an dem er sich nicht vergreifen, sondern es einfach nur mit Verachtung strafen wollte. Abrupt stoppte er und wandte sich demonstrativ ab. Nach einer Weile hörte er hinter sich Bewegung. Jax erhob sich. »Fer …« Pause. »Es tut mir so leid, ich verstehe, wenn du erbost über mich bist, aber glaub mir: Das war nicht ich, der dich niederschlug. Sie … sie zwangen mich dazu, ich weiß selbst nicht, wie! Mein Körper gehorchte mir nicht mehr, nachdem ich in ihr Antlitz geschaut hatte. Sie waren so … ich weiß nicht einmal mehr, wie sie aussahen! Das ist Wahnsinn. Ich beschwöre dich – vergib mir. Ich würde dir nie etwas antun wollen. Und nachdem du vor mir lagst – glaub es oder glaub es nicht –, richtete sich meine Faust gegen mich selbst. Ich verlor auf der Stelle das Bewusstsein und kam gerade erst wieder zu mir … Fer! Dreh dich um, und sieh mich wenigstens an!« Ferenc musste sich eingestehen, dass Jax' Beteuerungen nicht völlig unglaubwürdig für ihn klangen. Sie unterstrichen die seltsamen Halluzinationen, unter denen er schon seit geraumer Zeit litt, und sie reihten sich nahtlos ein in all die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit, für die es bei genauerer Betrachtung keine logische Erklärung zu geben schien. Entschlossen wandte er sich dem Freund zu, den er nun wieder in Jax bereit war zu sehen. »Ich glaube dir.« »Wirklich?« Jax wankte, immer noch sichtlich angeschlagen, auf ihn zu. Dann fielen sie sich in die Arme und waren beide froh, das Missverständnis so schnell wieder ausgeräumt zu haben. »Wo sind die anderen?«, fragte Ferenc schließlich, als erinnere er sich erst jetzt wieder, dass sie mit mehr Personen als nur ihm selbst und Jax an der schwimmenden Stadt angelegt hatten. Jax zuckte mit den Achseln. »Ich hatte sie ganz vergessen … Sicher sind sie auch in der Gewalt der Fremden. Aber offenbar in einem anderen Gefängnis.« »Warum hat man uns beide dann zusammen eingesperrt?«
Jax wiederholte sein Schulterzucken. »Vielleicht um …« Er verstummte. »Rede weiter.« »Vielleicht um zuzusehen, wie wir uns aufeinander stürzen und kämpfen. Sie sind böse – wer immer sie sind und was auch sonst ihre Motive sein mögen. Aber böse … boshaft bis ins Mark … sind sie auf jeden Fall. Nie habe ich etwas Perfideres erlebt als … als die Art und Weise, wie ich erst dich und dann mich selbst ausschaltete …« Er hatte es immer noch nicht ganz verdaut, die Faust gegen den Freund erhoben zu haben. Ferenc machte eine beschwichtigende Geste. »Dann haben sie sich aber ganz klar verrechnet, würde ich sagen. Und das wiederum …« Er sah sich um, ohne einen Hinweis auf eine Stelle zu finden, von der aus sie heimlich beobachtet werden konnten. »… wird eine Reaktion hervorrufen, dessen bin ich mir sicher.« »Vielleicht …« Jax erzitterte. »… töten sie uns jetzt.« »Das kann ich nicht ausschließen. Aber ich neige eher zu der Ansicht, dass sie noch einiges an Informationen aus uns heraus bekommen wollen. Tot nützen wir ihnen nichts mehr.« »Sie hätten noch die anderen, die vielleicht … ohne sie herabwürdigen zu wollen … gefügiger sind …« »Das ist reine Hypothese. Ich bleibe dabei. Sie wären Narren, sich ohne wirklich triftigen Grund unserer zu entledigen. Sicher erhoffen sie sich konkrete Informationen über den Ort, von dem wir kommen. Sie müssen fürchten, dass nach uns andere hier auftauchen, um erstens nach uns zu suchen und zweitens Vergeltung zu üben, sobald sie auch nur ahnen können, was uns widerfuhr. Darauf werden sie vorbereitet sein wollen …« Jax schien immer noch zu zweifeln. Offenbar rechnete er mit einem schnellen Ende. »Sie haben uns besiegt – es kam nicht einmal zu einem Kampf oder Blutvergießen in althergebrachter Form –, sie werden auch jeden anderen, der vielleicht nach uns kommt, besiegen.« »Ich hoffe nicht, dass sie uns hören können und deine Lobprei-
sung ihrer Überlegenheit zum Anlass nehmen, uns tatsächlich auf der Stelle umzubringen …« Jax erschrak. Damit hatte Ferenc erreicht, was er wollte – dass der Freund sein Mundwerk etwas im Zaume hielt. Für eine Weile trat Schweigen ein. Plötzlich klangen Geräusche auf. War das … Hufschlag? Ferenc und Jax blickten in die Richtung, aus der die Laute kamen, der eine neugierig, der andere zu Tode erschrocken …
Eine behufte Gestalt drängte in den Raum. Dort, wo sie eintrat, war zuvor nur massive Wand zu sehen gewesen, und auch hinter dem Salmonen schloss sie sich wieder, ohne den geringsten Hinweis auf eine Tür zu hinterlassen. Hatte Ferenc zunächst damit gerechnet, dass die anderen Mannschaftsmitglieder der SUCHER zu ihnen in die Zelle gebracht würden, so sah er sich nun einem ihm völlig unbekannten Jüngling gegenüber, der überdies … noch grausam zugerichtet wirkte. Er trug keine Rüstung wie die Expeditionsteilnehmer, aber überall über seinen Leib verteilt, waren schwärende Wunde selbst im Zwielicht zu erkennen. Er sah aus, als wäre er gefoltert worden, und obwohl Ferenc ihn nicht kannte, flammte eine heillose Wut gegen die Wesen in ihm auf, die dafür verantwortlich waren. Schnell trat er ihm entgegen – konnte eine unsichtbare Grenze aber nicht übertreten. Der Jüngling, der stellenweise wie … gehäutet wirkte, hob die Hand, und Ferenc hatte das Gefühl, gegen eine unsichtbare Mauer zu laufen. Schmerzvoll zuckte er zurück. »Was ist?«, raunte Jax ihm zu, der hinter ihm geblieben war. Ferenc gab keine Antwort. Statt dessen wandte er sich an den jungen Salmonen. »Warst du das?« »Haltet Abstand.« »Ich fragte: Warst du das?« »Wenn ihr euch an die Regeln haltet, wird euch nichts geschehen.«
Endlich ließ Ferenc die Erkenntnis zu, die ihn beschlichen hatte. »Du stehst auf ihrer Seite, habe ich recht? Du bist einer ihrer … Sklaven.« »Ich wurde von ihnen geschickt, das ist wahr. Aber ich bin kein Sklave. Und ihre Regeln dienen nur der Aufrechterhaltung der Sicherheit.« »Wessen Sicherheit? Deiner? Ihrer?« »Beruhige dich.« Genau das aber fiel Ferenc unter den Blicken eines Artgenossen noch viel schwerer, als hätte er einem absolut fremden Wesen gegenübergestanden. »Wie heißt du?«, fragte er gepresst. »Mog.« »Mog … hm. Wie kommst du hierher, Mog? Du warst nicht auf unserem Schiff, und ich wusste nicht, dass vor uns schon einmal … zumindest nicht in greifbarer Vergangenheit … Salmonen nach Abadon aufbrachen.« Offenbar überforderte die Frage den Jungen, und Ferenc versuchte es mit Mitgefühl. »Sie haben dich gequält, das kann man deutlich sehen. Wie kannst du unter diesen Umständen zu ihnen halten? Wer dir das angetan hat, der –« »Ich tat es selbst«, fiel Mog ihm ins Wort. Sofort blitzte in Ferenc die Erinnerung daran auf, dass Jax behauptete, die Faust ebenfalls gegen sich selbst erhoben zu haben. »Ich glaube, ich verstehe, was du meinst – aber wenn es so war, dann geschah es, weil sie dich dazu zwangen!« Mog blieb ihm auch darauf die Antwort schuldig. Aber obwohl Ferenc sicher war, ihn noch nie zuvor getroffen zu haben, wirkte etwas an ihm … vertraut. Er konnte es nicht näher benennen. »Folgt mir jetzt«, sagte der junge Salmone, dessen Anblick Mitleid erregte und – immer noch – Wut gegen die, die ihm das angetan hatten. »Wohin?«, fragte Jax. Er klang verstört, hatte offenbar ebenfalls alles erwartet, aber keinen Artgenossen, der zu ihnen trat. »Euch wird Ehre zuteil«, erwiderte Mog diffus.
»Hoffentlich nicht dieselbe, die sie dir zuteilwerden ließen«, knurrte Jax mit Blick auf die Stellen, wo das rohe Fleisch des Jungen zu sehen war. Mog wandte sich bereits um und näherte sich der Wandstelle, durch die er getreten war. Wieder bildete sich ein Durchlass. »Hütet euch, die Flucht ergreifen zu wollen«, sagte er. »Es wäre euer Verderben.«
Über Gänge und Rampen gelangten sie immer tiefer abwärts, sodass sich Ferenc mehr und mehr fragte, wo sie sich eigentlich befanden. Bei ihrer Ankunft hatten sie keine Steingebäude gesehen, und das hier wirkte wie das labyrinthartige Gewölbe eines solchen. Wohin waren sie verschleppt worden? »Wie geht es unseren Begleitern?«, fragte er unterwegs. »Sind sie wohlauf, oder wurden sie …?« »Alle leben – alle werden noch gebraucht.« »Wie ich es sagte«, wandte sich Ferenc an Jax, der fast nur noch schwieg und düster dreinblickte. Offenbar hatte er sich in sein Schicksal ergeben. »Sie brauchen uns. Wahrscheinlich werden wir jetzt befragt …« »Du irrst dich«, schnappte Mog seine Worte auf. »Euch wird Ehre zuteil, sagte ich das nicht? Niemand will euch verhören. Ihr sollt schauen – und begreifen.« »Was begreifen?« Er erwartete keine erschöpfende Antwort, aber dass Mog einmal mehr überhaupt nicht auf eine gestellte Frage einging, schürte seinen ohnehin schon beachtlichen Zorn. Nach unbestimmbarer Zeit erreichten sie ihr Ziel. Es war wärmer geworden, so als hätten sie sich tief ins Erdreich vorgearbeitet. Vor ihnen tat sich ein höhlenartiger Raum auf. Mog blieb am Eingang stehen und bedeutete Ferenc und Jax, an ihm vorbei einzutreten. Sie gehorchten, zumal es hell und freundlich in dem Raum aussah.
Als Ferenc den Kopf drehte und zurückblickte, fand er keine Spur mehr von Mog. Er fluchte. »Er ist weg«, zischte er Jax zu. Aber Jax schien sich nur noch für die Mitte des Raumes zu interessieren, wo eine Art Becken zu sehen war. Es schien mit glasklarem Wasser gefüllt zu sein, wenn der Eindruck nicht trog, und wurde eingerahmt von spiegelglatten Steinfliesen, mit denen es eine besondere Bewandtnis hatte. Ferenc blieb abrupt stehen, als es ihm auffiel. Jede Fliese zeigte nicht einfach nur ein Muster, sondern eine detailgetreue Draufsicht dieses Raumes. Aber das Verblüffendste war, dass jedes der quadratischen, ellenlangen Elemente auch die beiden Männer zeigte, die sich nun darin aufhielten: Jax und Ferenc! Ferenc wollte den Freund darauf hinweisen, doch in der Fliese sah er, dass Jax sich bereits zur Mitte des Raumes weiter bewegt hatte. Am Rand des kreisrunden Beckens war er stehen geblieben und schaute hinein. Ferenc überwand seine erwachte Scheu und folgte dem Freund. Dann stand er neben ihm, und auch sein Blick tauchte ein in das unglaublich klare Wasser … … an dessen Grund das Wesen schlief.
Ferenc wusste nicht, woher er die Überzeugung nahm, es nicht mit einem toten, sondern lediglich schlafenden Geschöpf zu tun zu haben. Eigentlich hätte ein Leichnam mehr Sinn gemacht, denn unter Wasser konnten nur Fische atmen, und wie ein Fisch sah diese Kreatur nicht aus. Noch während er hinabschaute, strömte neues Wissen in ihn. Er verstand, dass er auf den Grund für alles starrte. Aber diese Erkenntnis war nicht in der Lage, weitere Schlüsse nach sich zu ziehen. Ferenc war einfach nur gelähmt. Als würden die Jahre gelebten
Lebens wie ein Gewicht auf ihn drücken, so fühlte es sich an, als er in die Tiefe blickte. Dort unten …
Ferenc watete durch den trockenen Sand des Strandes wie durch knöcheltiefen Schlamm. Ein wenig wurde er an die Schmiede erinnert und an das Stahlbad, das er darin genommen hatte. Tatsächlich schien das Weiß der Körner, je länger er darauf starrte, einen Bronzeton anzunehmen. Unwillig schüttelte er den Kopf. Die störenden Gedanken verstummten. »Ein Paradies«, hörte er Jax hinter sich begeistert rufen. Er drehte sich nicht um, obwohl der Freund fortfuhr: »Nein, nicht irgendein Paradies … das Paradies, das du uns versprochen hast! Ich bete dich an, Ferenc! Kein anderer hat so viel Weitsicht, eine Vorstellungskraft, die alle Ketten sprengt … und sich am Ende gar als Wahrheit entpuppt …« Das klang nicht, als hätte er Ferenc zu allen Zeiten bedingungslos vertraut. Doch war ihm das zu verübeln? Ferenc selbst hatte während der wochenlangen Reise mehr als einmal mit sich und seiner Überzeugung gehadert. Dass sich nun wahrhaftig das ersehnte Paradies vor ihnen ausbreitete … nein, sicher hatte er sich dessen nicht sein dürfen, trotz der alten Aufzeichnungen, die ihm den Weg gewiesen und die Scheu vor dem Meer genommen hatten. (Und meiner Träume. Wie oft träumte ich hiervon, wie oft …) Der Ort schlug ihn voll in seinen Bann. Sie waren vor Anker gegangen, und Ferenc hatte es seiner Mannschaft vorgemacht. In Steinwurfweite vom Strand entfernt war er ins Wasser gesprungen, und wo andere gefürchtet hätten, von der Rüstung in die Tiefe gezogen zu werden, wusste er ganz genau, dass das Gegenteil geschehen würde. Und so war es gekommen. Die Rüstung hatte ihn regelrecht an Land getragen. Ferenc konnte wie alle Salmonen der Küstenregionen von klein auf schwimmen. So weit ging die Scheu vor dem großen Ozean
dann doch nicht, dass man seinen Kindern nicht alles beibrachte, was für ein Überleben wichtig war. Und es hatte schon Kinder gegeben, die ertrunken waren, obwohl sie die Grundtechniken des Schwimmens beherrschten. Eine große Welle hatte sie überrascht, oder sie waren auf rutschigem Untergrund hingefallen, hatten sich nicht mehr aus dem Griff des Wassers befreien können … Nein, Ferenc konnte schwimmen. Wie jeder seiner Begleiter an Bord. Aber so wie er zum Strand hin schoss, war noch kein Salmone vor ihm geschwommen, dessen war er sich absolut sicher. Und auch die, die ihm zusahen, waren es. Rasch warfen sie erst ihre Bedenken, dann sich selbst über Bord … und folgten Ferenc an Land. Dort stellten sie fest, dass sie die SUCHER mutterseelenallein und ohne einen einzigen Wächter hinter sich gelassen hatten. Aber der Übermut in Gestalt Ferencs tat dies als verzeihliche Nachlässigkeit ab. »Hier ist mit keinem Feind zu rechnen«, sagte er – und wunderte sich über die Unbedarftheit, die er an den Tag legte. Da aber kein Widerspruch erfolgte, auch nicht seitens des sonst durchaus kritischen Jax, fuhr er fort: »Aber vielleicht gibt es wilde Tiere … Gebt also Acht. Die Rüstungen werden euch schützen, seid trotzdem nicht zu draufgängerisch. Lasst es uns langsam angehen. Lasst uns eintreten ins … Paradies …!« Das waren die rechten Worte zur rechten Zeit, wie er sogleich mit Zufriedenheit bemerkte. Jax trat neben ihn und schlug ihm übermütig auf die Schulter. Rüstungsmaterial traf auf Rüstungsmaterial. Wären da nicht die unbedeckten Augen gewesen … Für einen Moment schauderte Ferenc unter der metallischen Haut. Es schien ihm plötzlich nicht mehr richtig, so gewappnet herumzulaufen. Ständig so herumzulaufen. Waren sie es überhaupt noch selbst, die all dies leisteten … oder hatten längst die Rüstungen die Initiative ergriffen? Er schüttelte sich. Jax legte ihm die Hand nun fest und kaum bezähmbarer Kraft auf
die Schulter. Es sah aus, als würden beide Materialien miteinander verschmelzen. »Freund … Das ist ein großer Tag. Lass uns den Dschungel erkunden. Wir beide zusammen. Die anderen können sich auch in Zweierteams aufteilen. Wir verabreden einen Zeitpunkt, an dem wir uns wieder hier sammeln und unsere Entdeckungen austauschen … Was hältst du davon?« Es war genau das, was Ferenc selbst hatte vorschlagen wollen – nur dass ihm Jax um einen Atemzug zuvorgekommen war. Sie teilten sich auf und bewegten sich Richtung Landesinneres. Nach einer Weile, in der sie an zahllosen leuchtenden, unbekannten Früchten vorbeigekommen waren, sagte Jax: »Ich kann mich nicht länger beherrschen – selbst wenn sie giftig sind, ich muss eine davon kosten. Mindestens eine!« Verblüfft drehte er sich um, als er ein schmatzendes Geräusch hörte. Ferenc grinste ihn an. Er erkannte sich selbst nicht wieder, aber er hatte sich eine faustgroße, gelbe Frucht vom nächsten Zweig gepflückt und ohne Zögern herzhaft hineingebissen, sodass ihm –
– der Saft aus den Mundwinkeln lief und vom Kinn tropfte. Er achtete nicht darauf. Die Frucht war köstlich. »Wie weit sind wir?«, fragte er Jax, der das Beladen der Schiffe mit überwachte und koordinierte. »In einer Stunde dürfte alles abgeschlossen sein. Wir können stolz sein.« »Sie werden Augen machen.« Ferenc legte dem Freund den Arm um die Schulter und schaute mit ihm hinüber zu den Schiffen, die die Bucht füllten. Die Rodung hatte das Gesicht des anschließenden Küstenstreifens verändert. Man konnte jetzt weit ins Landesinnere hinein sehen. Erkundungsvorstöße hatten ergeben, dass es sich fraglos um Abadon handeln musste. Eine andere Landmasse, die der Größe nach gepasst hätte, war auf keiner Karte verzeichnet. Nein, sie konnten ihre Expedition als restlos gelungen betrachten, mehr
noch: Alle Erwartungen waren weit übertroffen worden. Unermessliche Nahrungsreichtümer existierten auf dem Inselkontinent, es bedurfte nur noch einer Logistik, die sie für die Bewohner ihrer Heimat verfügbar machte, nicht nur kurzfristig – die Laderäume barsten fast vor gehorteten Vorräten –, sondern auch mittel- und langfristig. »Das werden sie«, stimmte Jax ihm zu. »Die Augen werden ihnen übergehen!« Für eine Weile schwieg er, dann fragte er: »Vermisst du Ora und die Kinder?« »Was denkst du denn? Ich kann es kaum erwarten, sie wiederzusehen. Bei meiner Rückkehr wird mein drittes Kind bereits zur Welt gekommen sein – was denkst du, wird es diesmal ein Junge sein?« »Ich hoffe nicht – wenn er dann auch noch deinen Dickschädel vererbt bekäme …« Ferenc drohte Jax mit der Faust. Sie lachten beide so laut, dass ihre Gefährten aufmerksam wurden. Ein jeder hatte sich eines der Schiffe vorgenommen und belud es ganz allein. Ihre Kraft und Ausdauer war im Grunde unfassbar – doch Ferenc hatte aufgehört, sich darüber zu wundern. Oder gar zu grübeln. Es war ein Geschenk der Götter. Der gleichen Götter, die ihm einst den Mut eingeflößt hatten, ins Stahlbad zu steigen und als Träger einer der seltenen Rüstungen wieder hervorzutreten. »Da magst du recht haben – vielleicht«, lenkte er ein. »Aber stell dir vor, es ist auch wieder ein Mädchen geworden und hat meinen Dickkopf geerbt … ob das besser ist?« »Das wäre die absolute Katastrophe – vor allem für Ora, die sich mit den Plagen ja die meiste Zeit herumschlagen muss, während der Herr Erzeuger durch die Weltgeschichte reist …« Ferencs Lachen erstarb. Ohne es zu beabsichtigen, hatte Jax den Finger in die Wunde gelegt, die Ferenc seit Langem quälte. Nein, sie waren lange genug weg gewesen von zuhause. Ein volles Jahr würde verstrichen sein, bis sie endlich wieder in heimatliche Gefilde kamen … oder waren es schon zwei? Er überlegte, versuchte sich zu erinnern, wollte sich schon an den Freund wenden, als …
… auch dieses Geschehen mit einem unheilkündenden Brausen … … zerrann …
6. Gegenwart »Oh, du warst seither noch nicht hier – das hatte ich vergessen. Verzeih. Wir können auch anderswo hin. Aber hier hätten wir Ruhe, könnten uns auf das Wesentliche konzentrieren.« Cys Augenknospen, von einem Blütenmeer umrahmt, wirkten schockiert, als er seinen Blick über den Hydroponischen Garten schweifen ließ. Ein Garten war es nun nicht mehr, nur noch Wüste. »Diese Schufte!« Er meinte die Treymor, wen auch sonst? Dann fing er sich wieder. »Was ist das Wesentliche?«, wandte er sich an Jelto. »Du bist das Wesentliche«, sagte der Mensch, mit dem ihn eine tiefe Freundschaft verband. Neben Algorian war Jelto Cys wichtigste Bezugsperson geworden. Im Allgemeinen verstanden sie sich blind und ohne viele Worte. Doch um Cys von den Blüten angekündigtem Tod auf die Spur zu kommen, bedurfte es aller Voraussicht nach mehr als die Wellenlänge, die sie verband. Jelto würde tief in Cy eintauchen und sich auf ihn einlassen müssen. Darin war er geübt, und – wie es aussah – wurde er momentan auch nicht allzu sehr anderweitig beansprucht. »Es muss dir sehr nahe gehen«, sagte Cy einfühlsam. »Du musst einen in der Summe ungeheuren Verlust erlitten haben – all die wunderbaren Pflanzen, die hier einmal wuchsen. Jetzt ist nur noch das Erdreich übrig. Willst du nicht allmählich wieder mit einer Neubepflanzung beginnen?« »Ich weiß es nicht.« Jelto klang, als wollte er darüber nicht sprechen.
»Sie waren wie deine Kinder – das hast du oft betont.« »Willst du den Finger in die Wunde legen?«, fragte Jelto. Es klang nicht einmal vorwurfsvoll, nur unendlich traurig. »Nein. Ich will dir nur mein Mitgefühl versichern. Du sagst, du willst mir helfen – aber umgekehrt würde ich das gerne und jederzeit auch tun. Falls mir noch so viel Zeit bleibt.« »Du wirkst bislang nicht annähernd lebensbedroht.« »Das täuscht. Aurigen sterben, wenn sie erst einmal erblüht sind, schnell.« »Macht es dir Angst?« »Natürlich.« »Warum?« »Wer will schon gerne gehen?« »Hast du einen Glauben?«, fragte Jelto nach kurzem Zögern. »Du weißt, was ich meine. Etwas, das dir hilft, das alles hinter dir zu lassen.« »Nein«, sagte Cy wahrheitsgemäß. »Ich erwarte nichts jenseits des Moments, wenn mein Leben erlischt. Aber eigentlich ist das etwas, worauf ich mich freue. Bedenke: Du und ich, wir waren nicht immer da. Als wir noch nicht existierten, bedeutete das Schmerz für uns, Qualen?« Jelto musste nicht überlegen. »Nein. Nicht dass ich mich erinnern könnte.« »Siehst du. Und so stelle ich mir mein Gehen vor. Kein Schmerz, keine Möglichkeit, sich über den Verlust des Lebens zu grämen. Ich höre auf zu sein. Alles ist Stille. Weder Hitze noch Kälte. Weder Licht noch Dunkelheit. Soll ich mich davor fürchten?« »Aber du sagtest doch gerade, dass es dir Angst macht.« »Vielleicht war es der falsche Ausdruck. Und wenn, dann meine ich damit, dass es mir jetzt noch Furcht einflößt. Ich bin kein Held, war nie einer und werde nie einer sein. Ich finde es schrecklich, euch zu verlieren. Ich würde gern noch mit euch die Weiten des Alls erkunden. Aber wenn ich sterbe, werde ich aufhören, euch zu vermissen, aufhören, mich zu sorgen. Der Weg ist das Ziel, sagt ihr Menschen. Aber der Weg hin zum Sterben, bis der tatsächliche Tod dich
ereilt, ist auch das, was so viel Kummer bereitet, so viel Ängste vor dem Ungewissen schürt und vor den Abschieden, die man hinter sich zu bringen hat. Vielleicht werde ich dich, um es abzukürzen, um etwas bitten.« Jelto zuckte förmlich vor Cy zurück. »Nein! Niemals! Das darfst du nicht verlangen. Ich könnte nie –« »Schon gut, beruhige dich. Vielleicht geschieht ja ein Wunder, und deine Aura findet einen Weg, mir einen Aufschub zu verschaffen. Niemand wäre darüber froher als ich, glaub das ruhig.« Cy drehte sich plötzlich um seine eigene Achse. »Was ist?«, fragte Jelto. »Ich weiß nicht. Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass mich etwas berührt.« »Berührt? Außer dir und mir ist hier niemand.« »Ich weiß. Das ist es ja.« »Wo meintest du die Berührung zu spüren?« »Sie kam von unten. Vom Boden. Als streife mich ein Halm … oder etwas in der Art.« »Du musst dich getäuscht haben.« »Wahrscheinlich.« Cy hörte auf, sich zu drehen. Seine Augenknospen richteten sich wieder auf Jelto. »Wo willst du es tun?«, fragte er. »Hast du einen besonderen Platz?« »Eine Stelle ist so gut wie die andere«, verneinte Jelto indirekt. »Ich suchte nur Ruhe.« »Friedhofsruhe«, spottete Cy. Jelto lächelte. Er freundete sich mehr und mehr mit der Art an, wie Cy seinem drohenden Ende ins Auge sah. »Dann werde ich jetzt beginnen.« »In Ordnung. Was muss ich tun?« »Gar nichts. Nur … sein …«
Wann immer er seine Aura »zündete«, entstanden vor Jeltos geistigem Auge Bilder von der grünen Erde. Er sprach nie mit jemandem darüber, aber in diesen Momenten
gab er sich ganz dem kostbarsten Gefühl des Universums hin – Heimweh. Obwohl es ihn schmerzte, an eine Vergangenheit erinnert zu werden, die nie wieder aufstehen würde, barg es doch auch unendlich viel Reichtum in sich. Wenn er wollte, wandelte er wenigstens in seiner Vorstellung noch einmal durch die Wälder um das Getto. Heute wusste er, dass das Getto auf dem Boden einer gigantischen zerstörten Stadt errichtet worden war – Beijing. John hatte ihm alles darüber erzählt, alles, was er selbst über die einstige »chinesische« Stadt wusste. Und Scobee und Jarvis, ebensolche Relikte einer versunkenen Epoche wie der Commander, hatten weitere Details hinzugefügt. Jelto beneidete sie um ihr Wissen über die Zeit vor der Entstehung der Metrops. Aber er beneidete sie nicht um die Natur, in der sie aufgewachsen waren oder gelebt hatten. Seine war um ein Vielfaches reicher gewesen. Exotischer. Anregender. Irdische Vegetation hatte sich den Raum mit außerirdischer geteilt, Pflanzen, die Raumschiffe von fernen Planeten zur Erde gebracht hatten und die ein Florenhüter wie Jelto dann dazu gebracht hatte in einer für sie fremden und untypischen Umgebung zu gedeihen. Woran er nicht so gerne zurückdachte, war, dass die Mehrzahl dieser außerirdischen Gewächse in der Manier von Waffen gehandhabt worden waren. Sie hatten einen für normale Menschen, die Jeltos Gabe nicht besaßen, undurchdringlichen Gürtel gebildet, der eine Flucht aus dem Getto mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit tödlich enden ließ. So gesehen und in den Augen absoluter Moralisten, hatte sich Jelto schuldig gemacht. Er musste damit leben, und rückblickend – mit seinem jetzigen Wissensstand – verabscheute er auch die Intention der Master, die die Wälder um das zerstörte Beijing mit seinen Zeitanomalien in Auftrag gegeben hatten. Aber wenn, dann war er selbst mehr Opfer
denn Täter, denn er hatte bis zuletzt nicht gewusst, welchem Zweck seine Züchtungen dienten. Nein, an den Zweck erinnerte er sich ungern, wenn, dann konzentrierte er sich auf die Glücksgefühle, die die Pflanzen ihm beschert hatten. Es war der Kick schlechthin. Sein Rausch, seine Droge. Selbst durch die geschlossenen Lider sah er, wie sich die Aura, die seine Körperzellen erzeugten, als würden sich darin mikroskopisch kleine Dynamos verbergen, entflammte. Wie sie sich ausdehnte und auf das Pflanzenwesen Cy übergriff. Und wie er in die Seele des Aurigen eintauchte …
Jelto war kein Telepath, sein Psi-Talent basierte auf anderen Prinzipien. John hatte es einmal mit Versuchen verglichen, die Wissenschaftler seines Herkunftszeitalters, als die Erde noch in Nationalstaaten untergliedert war, während einer Phase, die Kalter Krieg genannt worden war, mit Pflanzen betrieben hatten. Damals hatte die sogenannte Kirlianfotografie für Aufsehen gesorgt. Damit waren Koronaentladungen sichtbar gemacht worden, die nicht nur Gegenstände, sondern auch Lebewesen durchdrangen und umgaben. Die Kirlianfotografie galt als eines der wichtigsten Gebiete der damaligen PSI-Forschung, und man glaubte, Ströme in Körpern entdeckt zu haben, die weder auf Blut noch auf Elektrizität basierten. Verfechter der Kirlianfotografie waren der Überzeugung, den Beweis für die Existenz eines feinstofflichen oder Bioplasmakörpers gefunden zu haben, der die Grundlage für Phänomene wie Telepathie oder Telekinese schuf. Aber sie hatten es nie hieb- und stichfest beweisen können, wie John weiter ausgeführt hatte. Inzwischen war viel Zeit vergangen, und Jelto wusste aus ureigener Erfahrung, dass es das, was die Menschen damals bestaunt, aber nur mittels spezieller Geräte hatten sichtbar machen können, tatsächlich gab.
Er war der lebende Beweis für PSI-Kraft. Und dafür, dass er mit den Auren anderer Lebewesen, die mit dem bloßen Auge unsichtbar blieben, in Kontakt treten konnte. Der Kontakt bedeutete nicht, dass er in die Gedanken eines pflanzlichen Wesens eindrang, so es zu Gedanken überhaupt fähig war; nein, vieles spielte sich auf reiner Empfindungsebene ab, das meiste eigentlich. Aber der empathische Zugang zu Pflanzen genügte Jelto in aller Regel, sie zu beeinflussen. Dazu kam, dass seine Aura offenbar reine Energie zu übertragen vermochte, die von den kontaktierten Zielen in Vitalität umgesetzt wurde. Gleichzeitig vermochte er, Krankheitsherde in so berührten Gewächsen zu lokalisieren … und heilend auf sie einzuwirken. Jelto verfolgte keine egoistischen Ziele, wenn er seine Aura aktivierte. Er stellte sich stets in den Dienst dessen, der Hilfe nötig hatte. Und nun also galt seine Fürsorge Cy. Einem seiner wertvollsten Freunde. Er tauchte in ihn ein und erweiterte seine Aura, um auch ja die komplette Physis des Aurigen zu durchleuchten. Er rechnete mit dem Schlimmsten. Aber er rechnete nicht damit, dass sich das Schlimmste außerhalb von Cys Körper eingenistet hatte. Es traf ihn wie ein Schock. Seine Aura berührte auch den Boden, auf dem Cy stand. Und das, was sich bislang vor aller Augen – auch den seinen – verborgen gehalten hatte. Etwas so Absonderliches, dass es keinen Platz in diesem Garten, in diesem Raumschiff hätte finden dürfen. Jelto schrak davor zurück. Seine Aura fiel in sich zusammen, als würde sie implodieren. Cy sah sich mit einem völlig hysterischen Jelto konfrontiert, der den Aurigen grob packte und mit sich fort riss. Aus dem Garten hinaus. Jelto beruhigte sich erst wieder ein wenig, als sich das Trennschott zwischen Gang und Garten geschlossen hatte. Dann keuchte er: »Wir müssen John verständigen. Er muss wissen, was da drinnen vorgeht …«
Cy machte nicht den Eindruck, als würde er auch nur ansatzweise verstehen, was Jelto so aufgewühlt hatte. Im ersten Moment hatte er befürchtet, es könnte etwas in ihm gewesen sein. Doch die Worte des Florenhüters lenkten den Verdacht in eine andere Richtung. Wohin genau … musste Jelto erst noch erklären.
»Es ist mit bloßem Auge nicht zu erkennen – und auch nicht zu ertasten«, sagte Jelto, als der Commander und Algorian sich bei ihm eingefunden hatten. Nach Cloud hatte Jelto ausdrücklich verlangt – Algorian mitzubringen, war einer Spontaneingebung des Commanders zu verdanken. Der Florenhüter wirkte unglücklich; selten hatte Cloud ihn in einem derart desolaten Zustand gesehen. Dabei war der bei ihnen stehende Cy eigentlich der Patient, der hingegen protzte mit einer Blütenpracht, die es schwer machte, überhaupt Sorge um ihn zu empfinden. »Sonst wäre ich schon früher darauf gestoßen.« Cloud musterte ihn aufmerksam. »Und es gibt keinen Zweifel? Es kann nicht einfach nur … Einbildung sein? Irgendwelche Erinnerungsbilder, die sich während deiner Sitzung mit Cy einschlichen …?« Jelto schüttelte energisch den Kopf. »Ich weiß ja, es klingt bizarr. Aber da ist etwas – etwas, das nicht in den Garten gehört. Und wir sollten zusehen, dass es schnellstens wieder daraus verschwindet!« »Du glaubst also, davon geht eine Gefahr aus.« »Es ist fremd, es ist unfühlbar und nur unter bestimmten Bedingungen – in meinem Aurenlicht – sichtbar. Sollten wir es also nicht schon aus reinen Sicherheitserwägungen heraus zuerst einmal als genau das bewerten: als Gefahr?« Jelto sprach mit großer Eindringlichkeit. Seine Panikattacke, von der Cy berichtet hatte, schien verflogen. Er hatte sich wieder gefangen – und seine Worte waren ernst zu nehmen. Cloud nickte. »Wahrscheinlich hast du recht – und es ist auch nicht das einzige Vorkommnis in letzter Zeit, das Anlass zur Beun-
ruhigung gibt … Kannst du es mir zeigen?« »Das weiß ich nicht. Cy scheint es nicht gesehen zu haben, obwohl er auch ins Aurenlicht getaucht war.« »Wir versuchen es.« »Willst du das Risiko wirklich eingehen?« Cloud nickte. »Algorian wird uns begleiten. Vielleicht kann er mit seinen telepathischen Fähigkeiten mehr herausfinden.« Jelto zögerte immer noch. Cloud erkannte plötzlich, dass es nicht nur die Sorge um andere war, die ihn davor zurückschrecken ließ, in den Gartenbereich zurückzukehren, sondern offenbar auch der tief verwurzelte Widerwille, den das einschneidende Erlebnis in ihm hinterlassen hatte. Er selbst wollte nicht mehr dem ausgesetzt werden, was ihn so aus der Bahn geworfen hatte. »Wenn du willst, versuchen Algorian und ich es erst einmal alleine, ohne dich. Du kannst immer noch –« »Nein, nein«, wiegelte Jelto ab. »Ich komme mit. Natürlich begleite ich euch!« Sie entriegelten das Schott, das Jelto vorsorglich mit einem Code gesichert hatte. Als es aufglitt, beeilten Cloud und seine beiden Begleiter sich, hindurchzuschlüpfen. Cy blieb auf dem Gang zurück. Das Schott schloss sich wieder. Cloud wusste, wie die Treymor den Hydroponischen Garten hinterlassen hatten. Nichts wuchs hier mehr, auch jetzt noch nicht. Die nackte Erde präsentierte sich dem Betrachter, sie war nicht nachhaltig verstrahlt, aber von Strahlung bis in den mikrobiologischen Bereich abgetötet worden, das hatten Untersuchungen ergeben. Wenn Jelto hier neues Leben entstehen lassen und den Garten zu alter Pracht zurückführen wollte, würde er den Boden entweder komplett austauschen oder aufwändig mit Nährstoffen und Mikroorganismen anreichern müssen. Nach beidem schien ihm weniger denn je der Sinn zu stehen – doch das, wovor er warnte, war auch nicht einmal in Ansätzen zu sehen. »Da scheint nichts zu sein … Wie hattest du es beschrieben? Nicht
wie Gewächse, wie Vegetation, sondern wie seltsam verdrehte, handgroße Muscheln …?« Jelto nickte. Er sah Algorian an, als erhoffe er sich Unterstützung von ihm. »Spürst du etwas? Etwas Unbekanntes, vielleicht nur unterschwellig?« Algorian ließ sich Zeit mit der Antwort. Schließlich verneinte er. »Tut mir leid …« Der Florenhüter ließ sich nicht demotivieren. »Dann aktiviere ich jetzt mein Aurenlicht.« Cloud nickte. Er sah, wie sich um Jelto eine leuchtende Aura aufbaute, die seinen Körper fast aufzulösen schien. Das intensive Leuchten umgab ihn bis zu einem Abstand von etwa drei Metern. Zunächst hielt sich Cloud bewusst außerhalb dieser Sphäre auf und betrachtete den Gartenboden. Außer dass es dort heller geworden war, erkannte er jedoch keine Veränderung. Nach einer Weile signalisierte er Algorian, mit ihm näherzutreten, in das Licht hinein. Jeltos Aura galt als absolut unschädlich. Deshalb sah er keinen Grund, es nicht zu tun. Allerdings geriet seine Zuversicht ins Wanken, als er Algorian aufstöhnen hörte. Der Aorii strauchelte und drohte zu stürzen. Cloud schaffte es, ihn am Arm zu packen und aus dem Licht herauszuführen. Hinter sich hörte er Jelto triumphieren: »Da ist es! Habe ich es nicht gesagt? Ihr seht es auch, oder?« Das Licht erlosch. Cloud musste Algorian immer noch stützen. »Wir gehen besser hier raus«, sagte der Commander. »Sprechen wir draußen.« Kurz darauf standen sie wieder bei Cy. Cloud ordnete an, dass Sesha den Garten hermetisch versiegelte. »Reine Vorsichtsmaßnahme«, erklärte er den Versammelten. »Jetzt zu dir, Algorian. Was war los? Konntest du sehen, was Jelto beschreibt?« »Du nicht?«, fragte Jelto, an Cloud gewandt. »Nein. Ich habe nichts gesehen, gar nichts.« Jelto ließ sich seine Enttäuschung nicht anmerken. Nicht sehr zumindest. All seine Hoffnung schien jetzt aber auf Algorian zu ruhen.
»Gesehen nicht«, ächzte der Telepath. »Aber da war etwas, von dem ich bestätigen kann, dass es fremd … und fordernd klang.« »Klang?« »Auf mentaler Ebene.« »Du meinst, etwas da drin … denkt?« »Ich konnte es erst wahrnehmen, als ich innerhalb der Aura war.« »Könnte es nicht auch aus … ich hoffe, du verstehst es nicht falsch, Jelto, mir liegt nicht an falschen Unterstellungen, aber ich muss alles in Betracht ziehen … könnte es also nicht auch sein, dass das, was du gespürt hast, auf Jelto zurückgeht?« Algorian überlegte nur kurz. »Nein. Es bestand von meiner Seite aus keine Verbindung zu Jelto. Die Impulse kamen eindeutig aus dem Boden. Aber sie waren nur innerhalb der Aura feststellbar.« Cloud nickte grimmig. »Damit scheint zumindest sicher, dass da etwas ist. Um seine Herkunft und Natur ermitteln zu können, werden wir uns etwas einfallen lassen müssen. Vielleicht handelt es sich tatsächlich um ein Danaergeschenk der Treymor, die den Garten mit etwas infizierten – mit welcher genauen Absicht auch immer.« »Lass mich etwas probieren, John«, sagte Jelto. »Steht es in Zusammenhang mit dem, was wir gerade besprechen?« »Ja.« »Worum handelt es sich.« »Ich will etwas … ausschließen. Ist nur eine Idee, aber … sie beunruhigt mich, deshalb will ich mir lieber auf der Stelle Gewissheit verschaffen.« »Was müssen wir tun?« »Ihr? Gar nichts. Nur beobachten.« Vor Cy und Cloud aktivierte Jelto aufs Neue seine Aura. Das Licht überstrahlte mühelos die normale Gangbeleuchtung. Plötzlich sah es aus, als würde der Schemen, zu dem Jelto innerhalb der Sphäre verblasst war, winken. Ihre Gesten waren offenbar für Algorian gemünzt, der zusammen mit Cloud außerhalb der Aura stand. »Er will offenbar, dass du zu ihm trittst. In das Licht«, sagte Cloud,
den ein unguter Verdacht beschlich. Er nickte dem Aorii zu. »Tu es.« Algorian trat in die Aura. Cloud hörte einen erschrockenen Ausruf – offenbar von dem Telepathen. Dann erlosch das Aurenlicht. Cloud musste nur in die Gesichter der Gefährten sehen, um mehr als nur zu erahnen, was sie ihm gleich mitteilen würden. »Ich hatte es befürchtet – aber ich wollte nicht, dass es sich bestätigt«, setzte Jelto auch schon an. »Algorian hat es offenbar auch geespert …« Der Aorii nickte düster. »Es ist nicht auf den Garten beschränkt. Es braucht offenbar auch kein Erdreich. Es ist überall hier auf dem Gang – das Ausmaß seiner Ausbreitung könnte bereits das ganze Schiff umfassen …«
7. Einst Wuuusschh! »Da stehen sie!«, rief Jax ausgelassen vom Nachbarschiff herüber, wo er Kapitän und Mannschaft in Personalunion war. Ferencs Hände krampften sich um das Steuerrad, das er vorhin nur kurz losgelassen hatte, um eigenhändig das Hauptsegel zu reffen. Seither glitt die SUCHER an der Spitze der kleinen Flotte dem Heimathafen mit stark gedrosselter Geschwindigkeit entgegen. Ferenc hatte alles hier ein bisschen anders in Erinnerung, aber sein Gedächtnis mochte trügen. Wichtig war nur, dass sich dort drüben, an Land, in Windeseile eine Menschenmenge eingefunden hatte, die sie johlend und winkend begrüßte. Er versuchte Ora oder ein anderes vertrautes Gesicht auszumachen, aber dazu waren sie noch zu weit entfernt. Ungeduldig wartete er, bis die anderen Schiffe ebenfalls ihre Anker geworfen hatten, jeder Gefährte auch dort Kapitän und Matrose in einem. Es war leicht gefallen, dies alles zu koordinieren. Sie waren voller Enthusiasmus. Alles, was sie in die Hand nahmen, gelang, seit sie das Paradies geschaut hatten … Wehmut wollte in ihm aufwallen. Verwundert hielt er sie zurück. Es wäre verrückt gewesen, sich jetzt nach dort zu sehnen, während er dort immer nur hatte hier sein wollen … Obwohl sie zu Spektakulärerem fähig gewesen wären, ließ Ferenc die Schaluppe der SUCHER zu Wasser und ruderte damit von Schiff zu Schiff, nahm überall einen der Gefährten auf und steuerte erst, als alle an Bord waren, das Festland an, wo sie am Kai beidrehten. Die Stimmen der Versammelten wurden zu einem Murmeln und
Raunen, und kein Gesicht, zu dem Ferenc aufsah, das nicht bei aller Freude auch eine seltsame Scheu gezeigt hätte. Als Letzter verließ er das kleine Boot, ließ seinen wackeren Getreuen den Vortritt. Doch als er dann oben am Ende der Leiter ankam und immer noch keine Spur von Ora sah, wandte er sich besorgt an den Nächstbesten des Begrüßungskomitees. »Sag, Alter, wo ist meine Frau. Wo stecken meine Kinder …« Der Angesprochene wich einen Schritt zurück, ob aus Furcht oder Ehrfurcht ließ sich nicht genau unterscheiden. »Herr …« »Ich tu dir schon nichts zuleide. Ich will nur wissen –« »Sie wurde lange nicht gesehen, deine Frau – Herr. Ihr seid es doch … Ferenc …?« »Wer sonst?« Barscher als beabsichtigt fuhr er den alten Mann an. Mit feurigem Blick wandte er sich an die anderen Versammelten, sah dabei, wie sich Personen um seine Gefährten scharten … offenbar deren Freunde und Familienangehörigen . Wo aber sind meine? Hatte ich keine Freunde? Sie können nicht alle verschwunden sein … Endlich trat einer auf ihn zu. Ein vertrautes Gesicht, aber … »Du bist alt geworden, Marv. Was ist dir zugestoßen? Du siehst aus, als wärst du –« »Fer?« Der Mann duckte sich, als erwartete er Schläge für eine Missetat, dabei stand er doch nur da und starrte den Heimkehrer aus weit ausgerissenen Augen an. »Du trägst sie immer noch … ihr alle tragt sie … Ich hätte nicht gedacht, euch jemals wiederzusehen, keinen von euch. Und woher habt ihr nur die vielen Schiffe?« »Es war absehbar, dass wir ein Jahr bleiben würden, nun wurden fast zwei daraus. Aber es hat sich ge-« Marv schnitt ihm das Wort ab. »Was redest du? Ein Jahr? Zwei Jahre?« Er schüttelte nun in offenem Ärger den Kopf. Sein wirres Haar flog nach allen Seiten. »Siebzehn Jahre ist es her, seit ihr in See gestochen seid! Siebzehn lange Jahre, in denen eure Frau und die Kinder vor Gram …« Seine Stimme stockte. Jax schob sich plötzlich neben Ferenc, packte ihn am Arm und riss
ihn von Marv weg. »Du wirst es nicht glauben, was ich gerade erfahren habe!« Der Freund war außer sich, wie von Sinnen. In seinen Augen glitzerte etwas, das haarscharf am Wahnsinn vorbeischrammte. »Die Leute hier behaupten … und ihre Gesichter, die alt geworden sind, bestätigen es … dass –« »Ich weiß.« Ferenc winkte müde ab. »Ich habe es auch gerade erfahren.« »Aber – siebzehn Jahre? Wie kann das sein? Wir waren doch nicht siebzehn Jahre fort …« Sein Blick ging hinaus zu den Schiffen. Plötzlich stutzte er. Er hob die Hände, ballte sie zu Fäusten und presste sie sich unterhalb des Gehörns gegen die Schläfen. »Wir haben so viel … geschaffen … Hätten wir das in nur zwei Jahren überhaupt vermocht?« Er schüttelte den Kopf. »Siebzehn … es könnte wahr sein. Nur … warum wussten wir es nicht?« Ferenc bedauerte, darauf selbst keine Antwort zu haben. An die Menge gewandt sagte er: »Wir sind zurück. Es dauerte etwas länger. Aber wir sind zurück. Nur das zählt. Alles, was sich auf den Schiffen befindet, kommt euch zugute. Jedem Einzelnen von euch. Die Laderäume bersten vor Nahrung. Ihr werdet nie wieder hungern müssen, das schwöre ich. Nie – wieder!« Er gestikulierte und sprach wie ein Messias. Aber die dunkle Seite seiner Schwüre holte ihn schneller ein, als ihm lieb war …
Es war ein einfaches Haus. Kein Salmone versank in Tand und Protz, das hatte es zu keinen Zeiten gegeben – zu keinen jedenfalls, an die sich heute noch irgendjemand erinnerte. Das Häuschen, das Ferencs Vater mit eigenen Händen und der Hilfe von Nachbarn gebaut hatte, stand an einen monolithartigen Felsgiganten geschmiegt, von dessen Spitze aus man das Meer sehen konnte, ohne den Hügelkamm erklimmen zu müssen, der zwischen Dorf und Küste lag. Der Steinklotz war zehnmal so hoch wie ein ausgewachsener Mann, und Dörfler hatten Stufen an einer Seite
hineingehauen, die es erleichterte, ihn zu erklimmen. Lange bevor Ferenc sein Zuhause sah, sah er den Fels, der ihn wie eine Kompassnadel zwischen den wie hingewürfelt wirkenden übrigen Häusern hindurch lotste. Die beinahe zwei Jahrzehnte seiner Abwesenheit hatten den Ort verändert. Etliche neue Bauten waren entstanden, neue Plätze zum Verweilen … oder zur Heldenverehrung angelegt worden. Nicht ohne ein gewisses Unbehagen entdeckte Ferenc ein Denkmal, das zweifellos ihn und seine Getreuen zeigte, wie sie mit dem Schiff zu fernen Gestaden aufgebrochen waren. Die Faust seines steinernen Doppelgängers war wild entschlossen zum Himmel gereckt. Sie alle trugen keine gewöhnliche Kleidung, sondern waren in ihren Rüstungen dargestellt, die sie im Stahlbad erworben hatten. Das Stahlbad – ob es noch existierte? Ferenc hatte bislang keinen einzigen neuen Rüstungsträger unter der Begrüßungsschar entdeckt. Er schüttelte die Gedanken ab, die jetzt keine Bedeutung mehr hatten. Alles, was zählte, war Ora, waren die Kinder … Die letzte Strecke zum Haus galoppierte er. Die Rüstung beflügelte seinen Lauf. Dann stand er vor der Tür. Das Haus war still. Es strahlte eine sonderbare Kälte aus, als wäre es schon seit Langem unbewohnt. Das aber wollte, das konnte Ferenc nicht glauben, auch wenn ihm gesagt worden war, man sähe Ora kaum noch. Früher war die Tür unverschlossen gewesen, jetzt aber musste drinnen ein Riegel vorgeschoben worden sein. Ferenc hämmerte ungehalten gegen das Holz. Dazu rief er: »Ora! Loy … Eni … Macht auf! Ich bin es, euer Gemahl und Vater, ich bin zurück! Öffnet endlich!« Schritte. Die Tür wurde entriegelt und schwang auf. Ferenc wollte vorstürmen, erkannte aber gerade noch rechtzeitig, dass eine fremde Person vor ihm stand. »Wo ist meine Frau?« Die Unbekannte war mittleren Alters und musste noch ein junges
Mädchen gewesen sein, als Ferenc fortging. »Ich kenne euch nicht, Herr. Unterlasst bitte die Scherze – habt Respekt vor der Trauer …« »Wer trauert um mich?« Er schob sie brüsk beiseite und trat ins Haus. »Ich lebe! Ich wusste nicht, wie lange ich fort war … aber jetzt bin ich wieder da, und alles wird gut! Wo ist Ora?« Ruckartig drehte er den Kopf mal nach rechts, mal nach links. Das Haus war still wie eine Gruft. »Ich kenne euch nicht, Herr. Bitte geht, sonst –« Verwundert begriff Ferenc, dass die fremde Bedienstete im Begriff stand, handgreiflich zu werden. Offenbar fürchtete sie sich nicht, ihn nötigenfalls in die Schranken zu weisen. Trotz ihrer Jugend wirkte sie überaus resolut, und plötzlich hielt sie einen eisernen Schürhaken in der Hand, mit dem sie Ferenc drohend den Weiterweg verstellte. »Ihr könnt die Trauergemeinde nicht mit eurem Gepolter stören, und wenn ihr nicht unverzüglich wieder geht, lernt ihr mich richtig kennen!« »Niemand führt ungestraft solche Reden gegen mich.« Ferenc hob die Hand und wollte vorpreschen, sie über den Haufen rennen. »Es ist gut, Rai. Es ist gut.« Die Stimme änderte alles. Die Frau, die aus den Schatten eines dämmrigen Korridors trat, änderte alles. »Ich kümmere mich um den …« Sie stockte. »Fer? Fer, das kann nicht sein … Bist du es wirklich …?« Er eilte ihr entgegen, sie fielen sich in die Arme, Ora und er, aber nur kurz, dann drängte sie ihn zurück. »Verzeih Rai, sie konnte nicht wissen … Sie stammt nicht von hier, wir stellten sie erst vor zwei Jahren ein …« Ein Wink gab Rai zu verstehen, dass sie sich zurückziehen sollte. Die junge Salmonin gehorchte. Dann war Ferenc mit Ora allein, auch wenn er von irgendwoher leise Stimmen hörte, die ihm zuvor nicht aufgefallen waren. Vielleicht hatte sich eine Tür geöffnet … »Wo sind Loy und Eni, was wurde aus unserem dritten Kind … Wo sind sie? Geht es ihnen gut? Ich will, dass alle kommen!« »Loy und Eni, ja«, sagte Ora. »Aber Mog … das wird nicht gehen,
leider. Dafür kamst du zu spät. Ein wenig zu spät …« Er verstand nicht auf Anhieb, obwohl der Name … etwas in ihm weckte. Aber sie nahm sich die Zeit, es ihm zu erklären. Sie fasste seine Hand und zog ihn in die Nische, in der sie schon zusammen gestanden hatten, als noch keines der Kinder auf der Welt gewesen war. Gestanden und liebkost hatten sie sich hier … Nun aber war Distanz zwischen ihnen. Eine Kluft, die mit jedem Satz von Ora breiter wurde. Und tiefer. »Er war ein so guter Junge«, sagte sie. War, echote es in Ferenc, als stünde er zwischen hohen Bergen in einem engen Tal, das nie die Sonne sah, immer beschattet wurde … Seine Alabasterhaut begann unter der Rüstung zu brennen. »Du warst immer sein Vorbild. Sein Idol. Auch wenn er dich nie persönlich kennenlernte. Aber natürlich erzählte ich ihm von dir. Alles, was er wissen wollte. Und alles, was ich wollte, dass er wissen sollte. Also war es mein Fehler, also ist es meine Schuld. Vielleicht wäre es nie so weit gekommen, hätte ich dich nicht immer in den höchsten Tönen gelobt, in den Himmel gehoben … Vielleicht wäre er dann heute noch bei uns …« Es schnürte Ferenc die Kehle zu. Die Frau, die bei ihm stand, war siebzehn Jahre älter geworden, aber schöner denn je. Vielleicht lag es daran, dass sie so zerbrechlich wirkte, wie sie es früher nie ausgestrahlt hatte. Anmut war ihr immer schon zu eigen gewesen, doch nun gesellte sich ein Ausdruck von Verlorenheit dazu, der Ferenc fast das Herz aus der Brust springen ließ. »Mog … war sein Name?« Er wusste nicht, was es war, aber irgendetwas stimmte hier nicht. Mog … Er hatte den Namen in anderem Zusammenhang im Ohr. Aber wo … und wann … sollte das gewesen sein? Sie nickte, als könnte sie abschütteln, was an unsichtbarer Bürde auf ihr lastete. »Was ist passiert? Und wann … warum?« Er fand die rechten Worte nicht. Wahrscheinlich weil es sie nicht gab, in solcher Situation nicht geben konnte.
»Er hatte fast das Mannesalter erreicht und wollte dir nacheifern.« »Was heißt das?« Sie mied seinen Blick, als fürchte sie Vorwurf darin. »Freunde sagten mir, was geschah, Freunde von ihm. Ich selbst war nicht dabei.« »Als was geschah? So rede endlich!« Er hatte sich das Wiedersehen mit Ora anders vorgestellt, ganz anders. In keiner seiner Fantasien, die er während seiner Rückreise gehabt hatte, war ein solch grausames und entfremdendes Szenario vorgekommen. »Er entschied sich wohl, es aushalten zu können – wie du es damals aushieltest. Er ging zur Schmiede. Nahm das Stahlbad …« Ihre Stimme versagte. Er hörte sie schluchzen, sah aber keine einzige Träne auf ihrem Gesicht. Vielleicht – war das möglich? – hatte sie keine mehr. »Das Stahlbad? Aber dann wäre er jetzt gerüstet – wie ich … Mein braver Sohn … Ich wusste immer, dass es ein Junge geworden ist. Wusste es immer. Konnte es spüren. Selbst über die Weite hinweg …« Ora drehte sich plötzlich zu ihm um und fasste ihn an den Schultern. »Du verstehst es nicht«, sagte sie tonlos. »Er hat es nicht geschafft. Er war nicht so stark wie du … oder andere …« »Was heißt das? Wurde er verletzt?« Irgendwie gelang es ihm nicht, sich der Wahrheit, die sie längst ausgesprochen hatte, zu stellen. Immer wieder rutschte er in die Rolle eines wider jede Logik Hoffenden. »Er ist tot, Fer. Tot!« Eine Weile war er wie erstarrt. Schließlich keuchte er: »Wo ist er?« »Er konnte nicht geborgen werden. Es war kein Gepanzerter im Ort, als es geschah. Er ging, wie seine Freunde berichteten, schreiend unter und blieb verschwunden, tauchte nicht wieder auf …« »Er liegt im Stahlbad?« »Wenn noch etwas von ihm übrig ist, dann befindet es sich dort – ja. Nachdem es bekannt wurde, wurde die Schmiede geschlossen. Niemand soll je wieder –« Er stieß Ora von sich fort. Es ging nicht darum, ob sie eine Schuld an Mogs Tod trug. Es ging
einfach darum …zu ihm zu gelangen. Wie von Sinnen stürmte er aus dem Haus. Ora rief ihm hinterher, er verstand nicht, was sie wollte. In rasendem Galopp erreichte er die Schmiede. Wie von Ora angekündigt, hatte man den unmittelbaren Bereich um das Stahlbad abgesperrt. Aber der lächerliche Zaun konnte ihn nicht stoppen. Ohne langsamer zu werden, brach Ferenc durch ihn hindurch. Er hielt auch am Ufer des Beckens aus kochendem Erz nicht an, sondern stürmte hinein, wie noch keiner vor ihm es getan hatte. Er tauchte unter, wühlte sich durch das zähe schlammige Grau … wühlte und suchte mit geschlossenen Augen, ohne ein einziges Mal Atem zu holen. Von oben betrachtet sah es aus, als rühre etwas den gesamten Beckeninhalt wieder und wieder um. Oder als kämpften dort unter der Oberfläche zwei gleich starke Giganten miteinander, ohne dass für einen von ihnen ein Sieg herbeizuführen war. Schließlich sah es aus, als seien beide dem Stahlbad erlegen. Ruhe kehrte ein.
Als Ora schließlich bei der Schmiede anlangte, bot sich ihr ein anderes Bild. Ihr und ihren Begleitern, ihren Töchtern und allen, die mit ihr im Haus gewesen und getrauert waren, als Ferenc erschien. »Was … ist das, Mutter?« Loy starrte fassungslos durch das Loch im Zaun auf das, was die Sicht zum Stahlbad verstellte. Schnell war die Masse abgekühlt, von der Vater und Sohn ummantelt wurden. Aber überall hingen stalaktitenartig wie in einer Tropfsteinhöhle Auswüchse an der »Figur« herab. Es musste Ferenc gelungen sein, den Sohn im Stahlbad zu finden und herauszuschaffen. Dann hatte er sich hier am Rand niedergelassen und war in Trauer versunken … erstarrt. Diesmal hatte er sich nicht in Bewegung gehalten, wie es nötig war, um die Geschmeidigkeit einer Rüstung zu gewährleisten. »Nein!«, schrie Ora, die in diesem Moment glaubte, nun beide für
immer verloren zu haben, Gemahl und Sohn. Einen vollen Tag lang ließ Ferenc alle in dem Glauben. Niemand wusste oder erfuhr je, wie es ihm gelungen war, so lange ohne Sauerstoff auszukommen, denn die Schicht, die auch ihn vollständig umkrustete, hatte, anders als die Rüstung, keine Aussparungen an Mund, Nase, Ohren oder Augen. Doch einen vollen Tag später, nach Stunden, in denen niemand es gewagt hatte, das »Standbild« anzurühren, gab es plötzlich einen ohrenbetäubenden Knall wie von einer Explosion. Ora, Loy und Eni, die die Schmiede als Andachtsstätte zweckentfremdet hatten und sich fast pausenlos hier aufhielten, wurden Zeugen, wie der vermeintlich Tote – Ferenc – den Panzer, unter dem er begraben gewesen war, sprengte. Die Rüstung, die er immer noch trug, ermöglichte ihm diesen Kraftakt. Aber er war nicht ansprechbar, viele Tage und Wochen lang nicht. Mog war und blieb indes tot, für ihn war jede Rettung zu spät gekommen. Doch die Zeit heilte auch diese Wunde. Und wenn sie sie nicht heilte, dann ließ sie sie doch wenigstens vernarben. Ferenc kehrte ins Leben zurück. Er und Ora schienen wieder zueinander zu finden. Und es gab auch so vieles nachzuholen, zu berichten … und in die Bahnen zu lenken. Die kleine Flotte, mit der Ferenc und die anderen Gestählten zurückgekehrt waren, wurde zum Grundstock für eine neue Expedition mit neuen Teilnehmern. Die Schmiede wurde bald nach den tragischen Ereignissen um Mog wieder eröffnet, gebar viele neue Abenteurer, die vor Tatendrang nur so strotzten. Ferenc und die anderen Heimkehrer gründeten einen Orden, der es sich zur Aufgabe machte, jede der folgenden Expeditionen ins Gelobte Land zu begleiten und zu beschützen. Keine Fahrt dauerte mehr so lange wie die erste. Trotzdem wuchs die Flotte von Jahr zu Jahr, und bald schon war sie in der Lage, die wichtigsten Lebenszentren des Heimatkontinents mit Nahrung zu versorgen.
Die wahre Blütezeit aber setzte ein, als man herausfand, dass Pflanzen, die aus Abadon stammten, in der ausgelaugten, kargen Erde von Ferenc Heimat bestens gediehen. Fortan war man nicht mehr ausschließlich auf die Vorräte angewiesen, die die Schiffe herbeischafften, sondern konnte erfolgreich eigenen Anbau betreiben. Das war die Wende. Die Salmonen ließen endgültig ihre Schreckensvergangenheit hinter sich. Ferenc und sein Orden aber verschwanden von der Bildfläche – so plötzlich und ohne jede Erklärung, wenngleich auch nicht spurlos, dass ihnen der Legendenstatus gewiss war …
8. Gegenwart »Wo ist Jelto?« »Unterwegs – er leuchtet dem Unsichtbaren heim.« »Sehr witzig.« »Mir ist nicht nach Scherzen, Assur, wirklich nicht.« »Okay, da hast du wohl recht. Aber es gibt auch keinen Grund, allzu schwarz zu sehen, oder? Ich meine: Beim aktuellen Stand der Dinge ist längst nicht gesagt, dass das, was Jelto aufgespürt hat, eine tatsächliche Bedrohung für das Schiff und uns als seine Besatzung darstellt.« »Ach?« Er sah sie wenig optimistisch an. »Sind das Durchhalteparolen, oder glaubst du wirklich, dass sich alles als harmlos auflöst?« »Ich plädiere einfach nur dafür, nicht in Panik zu verfallen und nichts zu überstürzen. Vielleicht …« »Vielleicht was?« »… geht das, was Jelto eher zufällig entdeckt hat, ja noch auf die Modifikationen zurück, die die Bractonen an der RUBIKON vorgenommen haben.« »Du meinst die Aufwertungen des Schiffes, die die ERBAUER im Angksystem ohne mein Wissen oder meine Erlaubnis durchführten?« »Wir gehören dazu.« Sie meinte die Angks. »Ich gehöre dazu.« »Ja, du bist die biologische Komponente.« Er versuchte ein Lächeln. Sie blickte grimmig. »Das finde jetzt wiederum ich nicht zum Lachen.« »Entschuldige.« De facto war es aber genauso, wie Cloud es etwas ungalant formu-
liert hatte: Assur und die anderen Angks waren von den Bractonen dafür ausgebildet und präpariert worden, die RUBIKON künftig bei Bedarf mit ihrer Mentalkraft zu stärken. Dazu waren neue Waffensysteme eingebaut worden, von denen eines an den Ghost-Effekt der Satoga-Magnetschiffe erinnerte. »Ich weiß nicht, ich kann es mir irgendwie nicht vorstellen. Dafür geschieht aktuell zu viel auf einmal an Bord. Fast könnte man meinen, es habe ein Prozess eingesetzt, der nach und nach alle Mannschaftsmitglieder befällt. Vielleicht sind wir beiden die Nächsten, die betroffen werden …« Assur schüttelte entschieden den Kopf. »Ich war schon an der Reihe. Mich hatte es irgendwohin verschlagen. Wenn einer fällig ist, dann du. Apropos fällig …« Er sah sie aus großen Augen an. »Du denkst doch in einer solchen Situation nicht an …?« Ihr Kuss verschloss ihm den Mund. »Auch Helden wie du haben ein Anrecht auf Privatleben«, säuselte sie, nachdem sich ihre Lippen wieder von seinen lösten. »Ich bin kein Held.« Er strich zärtlich durch ihr Haar. Niemand außer ihnen beiden wurde Zeuge davon. Sie hielten sich in Assurs Haus auf. Cloud hatte ihr einen Besuch abgestattet und sie über die neuesten Entwicklungen informiert. Im Dorf selbst schien alles seinen normalen Gang zu gehen. Das Einzige, was Cloud immer noch störte, war der Lebensbaum auf dem großen Platz, den Jelto von Rog mitgebracht hatte – als Schössling. Er war durch die Zuwendung des Florenhüters in kürzester Zeit so groß geworden, als lägen dreißig Jahre Wachstum hinter ihm. Aber natürlich störte nicht der Baum als solcher Cloud – das Souvenir von Rog war wundervoll anzuschauen mit seiner ausladenden Krone und dem kräftigen Stamm –, sondern der Umstand, dass er aus unbekannten Gründen die Säuberungswelle der Treymor überstanden hatte – als einziges Gewächs an Bord. Alles andere war der unerbittlichen Strahlung zum Opfer gefallen. Nicht einmal Jelto hatte bislang auch nur den Ansatz einer Erklä-
rung dafür gefunden. Vom Fenster des Wohnraums aus konnte Cloud genau auf den Baum blicken. Er wirkte völlig unversehrt, seine Zweige zeichneten sich durch dichtes Blattwerk aus. »Für mich schon«, sagte Assur und wollte ihn wieder an sich ziehen. Er wand sich aus ihrem Griff. Sein Kopf barst fast vor ungelösten Rätseln, die sich erstaunlicherweise nicht irgendwo außerhalb des Schiffes formiert hatten, sondern in ihm. Der Aquakubus war nach wie vor spurlos verschwunden, und nun taten sich plötzlich Baustellen an Bord der RUBIKON auf, mit denen so niemand hatte rechnen können. Was mochte indes in Tovah'Zara passieren oder passiert sein? Man hatte einen ultrastarken Funkspruch registriert, der von den Eckstationen des Würfels auf ein unsagbar fernes Ziel abgestrahlt worden war – eine Galaxie namens Eleyson, die fast so weit an Lichtjahren entfernt lag, wie das Universum an Jahren alt war. Cloud war sicher, dass dieses Signal etwas in Bewegung setzen würde – vielleicht schon hatte. Wann würden sie erstmals mit den unmittelbaren Folgen konfrontiert werden? Er wollte sich gerade vom Fenster abwenden, als er sah, wie mehrere Angks in eine bestimmte Richtung starrten. Er folgte ihren Blicken und entdeckte Jelto, der in Begleitung Algorians die Straße zwischen den Angkhäusern herauf kam. Seine Aura war aktiviert. Wie viele Bereiche des Schiffes er inzwischen schon abgeschritten hatte, konnte Cloud nur schätzen; genaue Angaben lagen ihm noch nicht vor. Er hatte Jelto lediglich gebeten, sich zuerst den Sektoren zu widmen, die am stärksten von der Besatzung frequentiert wurden. Dazu gehörten neben der Bordzentrale, den konventionellen Quartieren und Pseudokalser auch das Angkdorf mit seinem Kunsthimmel, der ein Idyll vorgaukelte, das erste Kratzer bekommen hatte. Das Dorf mit seinen von Bractonen initiierten Bauten hatte sich als unberechenbarer erwiesen, als es Cloud als Commander des Schiffes recht sein konnte. Fast bildete es eine Insel innerhalb der RUBIKON. Eine Nische, in der eigene Gesetzmäßigkeiten herrschten.
Dennoch zog es ihn immer wieder hierher. Weil Assur hier zuhause war, seit sie das Schiff betreten hatte? Er hatte keine unumstößliche Antwort darauf. Und er wusste auch, dass es sinnlos gewesen wäre, den Angks zu befehlen, sich andere Quartiere zu suchen. Sie und diese Häuser gehörten irgendwie zusammen. Sie zeitweilig davon zu trennen, war kein Problem, Assur übernachtete auch oft genug bei ihm, aber er hatte das sichere Gefühl, dass es nachteilige Folgen gehabt hätte, wenn sie dauerhaft von diesen Bauten getrennt worden wären. »Du bist plötzlich so still, was ist?« Er zeigte nach draußen, wo Jelto inzwischen eine ganze Traube Schaulustiger um sich scharte. Sie hielten gebührenden Abstand, sodass er sich ungehindert fortbewegen konnte. Und während der Florenhüter hochkonzentriert und kaum ansprechbar war, musste Algorian offenbar immer wieder Rede und Antwort stehen. »Dort ist auch Rotak«, sagte Assur, die dem Treiben ebenso interessiert folgte wie Cloud. »Sollen wir rausgehen?« Er war sich nicht sicher, ob das gut war. Schulterzuckend beobachtete er weiter. Jelto blieb erst stehen, als er den Lebensbaum erreichte. Hier hielt er zwei, drei Minuten inne, vielleicht einfach nur, um eine Pause einzulegen. Schließlich winkte er Algorian zu sich ins Aurenlicht, und sie verharrten beide noch einmal ein paar Minuten. Dann erlosch die Aura, und Cloud sah, wie Jelto seinen linken Arm anwinkelte und mit der rechten Hand eine bestimmte Stelle berührte. Im selben Moment sprach sein Kommunikationschip an, der wie ein hauchdünnes Pflaster an der Innenseite seines linken Unterarms befestigt war. Er berührte ihn und nahm das Gespräch entgegen. »John?« »Jelto. Ich kann dich sehen.« »Was heißt das? Ich bin im Dorf.« »Ich weiß, ich auch. Bei Assur. Soll ich rauskommen?« »Das wäre vielleicht das Beste.«
»Okay, ich bin gleich bei dir.« Cloud beendete die kurze Verbindung und sah Assur fragend an. »Kommst du mit?« »Klar. Bin ich neugierig? Aber ja!« Kurz darauf langten sie bei Jelto und Algorian an. In einigem Abstand redeten Angks mit Rotak. Sie sprachen leise, und Rotak winkte nur einmal kurz zu Cloud und Assur herüber, als er sie kommen sah. »Gibt es Neuigkeiten?«, fragte Cloud. »Zur Abwechslung vielleicht sogar mal gute?« »Du willst die gute Nachricht zuerst?« Jeltos Miene war noch genauso ernst wie vor dem Hydroponischen Garten, als Cloud sich von ihm verabschiedet hatte. Cloud schüttelte den Kopf. »Ich hab's mir anders überlegt – zuerst die schlechte … oder die schlechten.« »Es ist fast überall. Unsichtbar. Normalerweise auch unfühlbar. Aber es ist da. Wie genau und warum – ich wünschte, ich könnte es sagen. Es wuchert in allen relevanten Bereichen des Schiffes, bis auf – womit wir nahtlos zur guten Nachricht übergehen können – hier. Er wies um sich. Das Angkdorf ist frei davon. Fast.« Cloud verdaute die Nachricht. Dann fragte er: »Fast?« »Bis auf diese Stelle.« Jelto und Algorian hoben synchron jeweils einen Arm und zeigten auf den Lebensbaum von Rog. »Der Baum ist ebenfalls befallen. Als einziges Objekt im ganzen Dorf – so weit ich bislang gekommen bin jedenfalls.« Cloud verzog das Gesicht. Er überlegte, ob der Befall ein Grund sein könnte, warum der Baum den Strahlengewalten getrotzt hatte. Aber der Hydroponische Garten war auch betroffen und dort hatte es alles zerstört … »Es scheint keine erkennbare Logik dahinter zu stehen, oder seid ihr anderer Meinung?« Er blickte von Jelto zu Algorian und wieder zu Jelto. Sie schüttelten unglücklich die Köpfe. Und Cloud überdachte noch einmal seinen Gedanken von vor ein paar Minuten. Vielleicht würde sich, falls die Verhältnisse blieben, wie Jelto sie gerade geschildert hatte, über kurz oder lang nicht
mehr die Frage stellen, ob das Angkdorf von seinen Bewohnern evakuiert wurde, sondern vielmehr die Frage, ob nicht alle Mannschaftsmitglieder im Angkdorf Zuflucht suchen mussten. Weil der Rest des Schiffes irgendwann Zähne zeigen würde. Dann, wenn hervorbrach, was jetzt noch tief im Verborgenen schlummerte …
Jiim stand unter verschärfter Beobachtung. Der Narge hatte John eindringlich darum gebeten, Sesha ein Auge auf ihn haben zu lassen. Jiim hatte seit dem Zusammenprall mit Charly, als es aussah, als dringe der in ihn ein, eine regelrechte Phobie entwickelt. Nachts wachte er immer wieder auf, weil er glaubte, Charly steige aus ihm auf, mal aus seiner Brust, mal aus seinem Mund, mal aus irgendeinem anderen Bereich seines Körpers. Jiim hasste sich selbst wegen dieser Anwandlungen, aber er konnte nicht dagegen an. Er war froh, dass wenigstens Yael wieder ganz der Alte schien. Seit Charlys Verschwinden waren Tage vergangen, und Yael hatte mehrfach versucht, den imaginären Freund neu erstehen zu lassen. Er war stets gescheitert – aber es schien, als würde er das nicht wirklich bedauern. Vielmehr erweckte er den Eindruck, von einer schweren, fast schon traumatischen Last befreit zu sein. Sein Schlafrhythmus hatte sich komplett normalisiert, und seine Erholung insgesamt schritt mit Siebenmeilenstiefeln voran. Im Gegenzug schien aber nun sein Elter dafür büßen zu müssen. Jiim tat kaum noch ein Auge zu. Nachts hing er stundenlang im Schlafgeschirr seiner Hütte, und während Yael neben ihm tief und fest schlief, fand er selbst keine Erholung, sondern starrte Löcher in die Luft. Neuerdings war er dazu übergegangen, sich lieber mit Chex an ein Feuer zu setzen und belanglose Gespräche zu führen. Menschen zählten, das hatte Scobee ihm auf Anfrage erklärt, in solchen Fällen Schafe.
Tiere, die auf Scobees und Johns Heimatplaneten gelebt hatten – vor der Zeitenwende, als der steinerne Himmel über der Erde alles Leben dort veränderte. Alles ist im Wandel. Auch Kalser ist nicht mehr die Welt, die mir ein Zuhause bot, dachte Jiim schwermütig. Aber vielleicht muss es ja so sein. Vielleicht ist Leben Veränderung – und Veränderung erst Leben … Der stete Wandel hielt die Maschinerie des Kosmos erst in Gang. Trotzdem – er hätte manchmal den Stillstand und den Erhalt liebgewonnener Verhältnisse bevorzugt. Aber so wenig er den kleinen, gerade geschlüpften und putzigen Yael hatte festhalten und in diesem Lebensabschnitt bewahren können, so wenig gelang dies mit allem anderen um ihn herum. Oder mit ihm selbst. Er hatte Chex erzählt, was ihn belastete. Hatte ihm die Sache mit Charly berichtet, und Chex, ganz Freund, hatte ihm sein Mitgefühl und Verständnis versichert. Der echte Chex hätte dies auch getan, aber er lebte längst nicht mehr. Jiim stieß einen Seufzer aus, der fast wie ein Fluch klang. Im nächsten Moment … wälzte er sich, halb besinnungslos vor Schmerzen, am Boden.
»Sofort isolieren!« Cloud reagierte auf Seshas Nachricht, dass sich ein neuer Zwischenfall in Pseudokalser ereignete, kompromisslos. »Du begleitest mich!«, gab er Jarvis zu verstehen, der mit ihm in der Bordzentrale weilte. »Aber immer doch, Chef«, gab der Ex-GenTec flapsig zurück. Via bordinternen Transmittern erreichten sie Pseudokalser in neuer persönlicher Bestzeit. So schnell die Füße ihn trugen, eilte Cloud zum Dorf am Schrund, über dem sich ein künstlicher Nachthimmel spannte. Die Kulisse folgte einem Programm, das die Inhalte und Charak-
tere auf Ereignisse reagieren ließ. Dementsprechend groß war die Aufregung, als Cloud endlich bei der Stelle ankam, wo Jiim offenbar an einem Lagerfeuer gesessen hatte, als ihn irgendetwas überkam. Sesha hatte gemeldet, dass Jiim wie am Spieß zu schreien begonnen hatte. Auf Clouds Befehl hin war der Narge in ein Fesselfeld gelegt worden, das ihn ruhigstellen sollte, damit er sich oder anderen keinen Schaden zufügen konnte. Yael war zwischenzeitlich durch den Lärm alarmiert worden und hatte sich am Feuer eingefunden. Chex und die anderen gefakten Schrundbewohner wirkten geschockt, während Jiim mit offenen Augen, aber von unsichtbarer Umklammerung gehalten, verkrümmt am Boden lag und stieren Blicks zu Cloud herüber starrte. »Was ist passiert?«, fragte Yael, der erleichtert schien, als Cloud und Jarvis auftauchten. »Immer Ärger mit den Nargen«, knurrte Jarvis, als wäre das seine tatsächliche Meinung. Nur wer ihn näher kannte, hörte aus seinem Tonfall heraus, dass er sich Sorgen um den Freund machte. »He!«, zischte Yael, der ihn noch nicht gut genug einschätzen konnte, aufgebracht. »Da liegt mein Orham! Ich verbitte mir –« »Schon gut, Yael. Wir kümmern uns. Ganz ruhig.« Er kniete sich neben Jiim nieder und fragte: »Jiim, hörst du mich?« An Sesha gewandt verlangte Cloud: »Isolation im Kopfbereich lockern.« Jiim holte Atem – und wimmerte wie ein waidwundes Tier. »Bot ist unterwegs«, sagte die KI. »Sie injizieren ihm ein Schmerzmittel. Danach sehen wir weiter.« Von irgendwoher kam er wie auf Stichwort herangewieselt. Der Bot verabreichte an einer mit Sesha offenbar abgestimmten Stelle das angekündigte Mittel, und Jiims Wimmern ebbte ab. Dann fielen ihm die Augen zu. »Toll. Jetzt sind wir einen großen Schritt weiter. Und wie erfahren wir jetzt, woran er leidet?« Yael war kaum zu beruhigen. Cloud entschied sich, erst einmal anderweitig für Ruhe zu sorgen. »Sesha?« »Commander?«
»Ich will, dass du hier etwas aufräumst. Beziehungsweise das Programm an dieser Stelle stoppst und ausblendest. Es stört momentan nur und lenkt ab. Also bitte … Illusion aus!«
In der Kargheit nackter Wände und maschineller Konstrukte wirkte Jiim noch bemitleidenswerter als zuvor schon. Cloud, Jarvis und Yael fanden sich urplötzlich allein mit ihm wieder – eine Reduktion auf das Wesentliche, die auch von ihnen erst einmal verdaut werden musste. Der Raum, dem Sesha mithilfe von Dimensatoren fast eine Weite zu verleihen vermochte, wie sie auf Originalkalser geboten wurde, war in Wahrheit nur etwa so groß wie ein Fußballfeld – und nicht höher als zehn Meter. Eine Kunstsonne, holografische Kniffe und ein Korsett, das beispielsweise die begeh- und bewohnbare Hütte von Jiim und Yael stützte, schufen auf Wunsch eine nahezu perfekte Illusion, die angereichert war mit den Abbildern von Personen, die Jiim einst auf Kalser lieb und teuer gewesen waren. Sie alle waren wie auf das Fingerschnippen eines Zauberers hin verschwunden … aber jederzeit wieder generierbar. Sesha warnte unerwartet: »Vorsicht! Eine Veränderung unbekannter Art!« »Wo?«, bekam Cloud seine Überraschung schnell in den Griff. »Quelle ist Jiim.« Den hatte Cloud ohnehin im Auge – ohne dass ihm bislang etwas Verdächtiges aufgefallen wäre, das über das bereits Beobachtete hinaus ging. Aber die KI hatte andere Mittel zur Verfügung, um Veränderungen bereits im Ansatz zu erkennen. »Kannst du genauer werden?«, fragte Cloud. »Oder irgendwie hervorheben, worauf wir unser Augenmerk richten sollen?« Rings um den immer noch gefesselten Jiim baute sich ein Feld mit Eigenschaften auf, die Details des Nargen für den Betrachter hochvergrößerten. Gleichzeitig färbte die KI die betroffenen Regionen blau ein.
Und betroffen … war beinahe Jiims kompletter Körper. Ungeachtet des Fesselfeldes trat dort etwas aus ihm heraus. Charly!, war Clouds spontaner Gedanke. Doch die Substanz, die aus Jiim diffundierte, war golden und wenig später auch mit dem bloßen Auge erkennbar. Sesha deaktivierte das Vergrößerungsfeld. »Zurücktreten«, ermahnte Cloud seine beiden Mitbeobachter. »Wir wissen nicht, ob es uns gefährlich werden kann. Aber zu unserer Sicherheit sollten wir erst einmal davon ausgehen. Sesha – Schilde um uns errichten. Aber Schilde, die das, was aus Jiim herausfließt, auch aufhalten können – dein Fesselfeld erfüllt diese Bedingungen nicht. Sieh selbst – die Substanz quillt ungehindert an beliebiger Stelle aus Jiims Gefieder …«
Es war bizarr für Jarvis, mit anzusehen, wie sich neben Jiim eine goldene Lache am Boden bildete, die immer größer wurde, immer mehr an Substanz gewann. Bizarr deshalb, weil er selbst auch in der Lage war, zu einer solchen Pfütze zu kollabieren. Mochte sie bei ihm auch nicht gold-, sondern anthrazitfarben sein, so drängte sich die Parallele doch förmlich auf. Zumal die körpereigenen Instrumente von Jarvis' Nanohülle eindeutig bekundeten, dass die Pfütze aus mehr als nur schimmernder Flüssigkeit bestand. Sie strahlte höherdimensional. Sie – »Es ist das Nabiss!«, keuchte Yael plötzlich. »Das Nabiss, das der Körper meines Orhams schon seit längerem absorbiert, in sich aufgenommen hatte, sodass keine klare Trennung zwischen Rüstung und Gewebe mehr hat vorgenommen werden können!« Jarvis wusste, wovon Yael sprach. Der Commander wusste es fraglos auch. Seine Worte bewiesen es: »Du hast recht – genau das könnte es sein. Er schwitzt die Nabiss-Substanz wieder aus. Mit Charly hat das nichts zu tun. Es erinnert eher an einen Abstoßungsprozess.« Irgendwann nach Minuten hörte der Ausstoß auf.
Die Lache neben Jiim war jetzt so groß, dass die Substanz ausgereicht hätte, um … … um etwa daraus die Miniatur eines zwergenhaften goldenen Humanoiden zu formen. Eine Statue. Eine Figur. Die plötzlich zu sprechen begann …
»Ich wurde gesandt.« Mit diesen Worten begann, was weder Jarvis noch Cloud oder Yael je wieder vergessen sollten. Wie bedeutsam dieser Moment wirklich war, mochte sich erst später erweisen, doch auch hier und jetzt war spürbar, dass die Manifestation, die sich vor ihnen etablierte, Richtungsweisendes für die Zukunft zu verkünden hatte. Die »Verwandtschaft« mit Jarvis' Nanokörper mochte noch so entfernt sein – rein optisch gab es Parallelen. Während die Stimme erklang, bildete sich die Zwergstatue, die Cloud gerade mal bis zum Nabel reichte, weiter aus und formte die Miniatur einer Gestalt, die ihre Ähnlichkeit mit Charly nicht verleugnen konnte. Und zwar dem Charly, wie er sich bei seinen ersten Auftritten präsentiert hatte – wie ein halbwüchsiger Mensch. »Jiim hatte offenbar nicht ganz unrecht mit seinen Befürchtungen!«, platzte es aus Jarvis heraus. »Der Typ war tatsächlich in ihn gefahren – und jetzt …« »Jetzt was?«, unterbrach ihn Cloud. »Wenn der selbsternannte ›Gesandte‹ wirklich etwas mit Charly zu tun hat, warum braucht er dann Nabiss-Substanz, um sich Gehör zu verschaffen?« Er hatte bewusst laut gedacht, um die Charly-Figur zum Weitersprechen zu animieren. Denn bislang war es bei der einen Aussage geblieben. »Ihr liegt weder ganz falsch noch ganz richtig«, meldete sich die goldene Figur prompt wieder zu Wort. Ihre Stimme, der Goldton und die zwergenhafte Größe waren das Einzige, was nicht an Charly er-
innerte. Dennoch schien er mit der Manifestation etwas zu tun zu haben. »Ich bin das, was mit dem Geflügelten …« Die Hand der Figur hob sich und zeigte auf Yael. » … auf diese Seite kam. Ich benutze ihn als Vehikel, um mit euch in Kontakt zu treten, nachdem jener hier …« Immer noch zeigte der Arm auf Yael. »… unserer Bitte nicht Folge leistete. Er hätte selbst zu einem Gesandten werden können, doch der Versuch einer direkten Übernahme scheiterte. Deshalb bediene ich mich dieses Umwegs. Ich … es ist schwierig, es Wesen eurer Entwicklungsstufe zu erklären …« Na, vielen Dank für die Blumen, dachte Cloud angesäuert. »Ich infizierte den Projektionskörper mit meiner Imago und gelangte so hierher. Leider unterschätzte ich die Wirkung die Charlys Veränderung auf seinen Schöpfer hat – dem wurde immer mehr Kraft entzogen, damit die Charly-Präsenz ihre Verbindung mit mir wahren konnte. Der, den ihr Yael ruft, fiel in einen tiefen Schlaf, den wir nicht wollten. Wir wollen keinem von euch schaden. Deshalb … suchte ich nach anderen Wegen. Der andere Geflügelte war eine Option, eine so perfekte sogar, wie ich es nicht erhoffen durfte. Aber er trug etwas in sich, das uns wohlvertraut ist. Er wird darauf verzichten müssen, vielleicht für immer. Das wurde noch nicht entschieden.« Die Worte der Figur ließen die jüngsten Geschehnisse um Yael und Jiim in einem neuen Licht erscheinen. Cloud war durchaus dankbar für die Aufklärung, ihm missfiel jedoch die bestimmende Art, in der das Wesen oder Ding zu ihnen sprach. Und es irritierte ihn etwas, dass es permanent darin variierte, ob es von sich im Singular oder Plural sprach. Dennoch war es für ihn überhaupt keine Frage, in Kontakt mit dem Goldenen zu treten. »Hast du einen Namen?« Schweigen. »Vielleicht hört er dich nicht«, sagte Jarvis. »Oder er akzeptiert dich nicht …« Er grinste. Doch da begann die Zwergengestalt auch schon zu sprechen. »Es bleibt bei Charly. Daran seid ihr gewöhnt. Warum sollten wir etwas ändern.«
»Du bedienst dich seiner?«, fragte Cloud unbehaglich. »Heißt das, dass er noch existiert – oder hast du ihn …?« »Er hat nie existiert«, behauptete das, was sich dennoch nicht scheute den Namen des Nichtexistenten zu übernehmen. »Nicht in einem Sinne, der von irgendeiner Bedeutung wäre – oder anders ausgedrückt, die uns davon abhalten könnten, ihn zu benutzen. Und mit dem Nabiss verhält es sich ebenso. Dinge oder Fantasien sind dazu da, benutzt oder ausgekostet zu werden. Ihnen eine eigene Individualität zuzubilligen, würde weit über das Ziel hinausschießen.« »Sagt der neue Charly«, spottete Cloud. »Warum sollte ich glauben, dass du mehr Individualität besitzt als der alte – oder deine Worte mehr Gewicht haben?« »Willst du uns beleidigen?« »Ich will die Fronten klären – ungeachtet allen Geredes. Bringen wir es auf den Punkt: Bist du Freund oder Feind?« »Ich bin der Gesandte.« »Von wem gesandt – und mit welcher Absicht?« Cloud blieb stur. »Noch einmal: Freund oder Feind? Eine klare Frage verdient eine klare Antwort!« »Ich überbringe Informationen«, sagte der Goldene. »Von wem?« »Geht sorgsam damit um«, fuhr Charly fort. »Ihr könnt ihnen vertrauen. Sie sind wichtig. Wenn ihr es schafft, das Geheimnis, das hinter ihnen steht, zu lüften, werdet ihr wieder von uns hören.« »Bevor wir weiterreden …« Cloud blickte zu Jiim, der immer noch zu seiner eigenen Sicherheit in ein Fesselfeld gehüllt war. »Was ist mit ihm? Wird er den Missbrauch, den du an ihm betrieben hast, überleben?« »Es war kein Missbrauch. Und auch kein Raub … aber das werdet ihr vielleicht selbst einmal erkennen. Irgendwann …« »Beantworte meine Frage. Wird er es überleben?« »Du missverstehst es völlig. Ihm wurde kein Leid zugefügt. Er wird leben. Er hat körperlich und geistig keinen Schaden durch mich erlitten. Im Gegenteil. Betrachte ihn als geheilt.« »Dann war er krank? Das ist lächerlich. Wir hätten gemerkt, wenn
er –« »Es ist eure Sache, wie ihr Krankheit definiert. Fakt ist: Er wurde überschätzt. Das Nabiss überforderte ihn. Er war ihm nicht gewachsen, und irgendwann hätte sich das auch gezeigt. Er darf sich glücklich schätzen, dass aus ihm entfernt wurde, was ihm nur Ärger bereitet hätte.« »Behauptest du!«, mischte sich Yael aus dem Hintergrund ein. »Aber wer sagt uns, dass du nicht einfach nur ein skrupelloser Lügner bist, der andere drangsaliert und bestiehlt, weil er ihnen nicht helfen, sondern schaden will?« Insgeheim beglückwünschte Cloud Yael. Besser hätte er selbst es auch nicht formulieren können. »Vielleicht überzeugt euch mein Gastgeschenk.« Cloud wurde sofort hellhörig. »Du definierst dich also als Gast?« »Wie sonst?« »Wir hatten hier schon andere Auftritte.« Er dachte an Kargor. »Ich komme nicht als Aggressor. Ich komme als Bittsteller. Und ich unterwerfe mich euch.« Wie um seine Worte zu konterkarieren, begann der neue Charly plötzlich zu wachsen. Sich aufzublähen, als würde ein innerer Druck aufgebaut, der ihn zu dieser Expansion befähigte. Gleichzeitig schwand der Goldton und wich einem düsteren Mitternachtsblau. Der Wachstumsschub endete erst, als Charly jeden der Anwesenden um mindestens Haupteslänge überragte. Seine gerade noch menschlichen Gesichtszüge waren verschwunden, dafür wirkte sein übriger Körper beeindruckend athletisch. Unter der blauschwarzen Haut zeichneten sich Sehnen und Muskelstränge ab. Nur das Gesicht war irgendwie verschwunden. Der ovale Schädel saß auf einem muskulösen Hals und wurde von einem senkrechten »Riss« dominiert, der von der Stirn bis zur Kinnspitze reichte. Auf den ersten Blick sah der Spalt wie eine eiternde klaffende Wunde aus, tatsächlich aber schien das Gelb darin ein letzter Nachhall des Nabiss-Goldes zu sein. Rechts und links des Spalts, ungefähr in Höhe seiner Mitte, gab es zwei schräg stehende, fingerlange Schlitze, hinter denen sich wahrscheinlich die Sehorgane verbargen … Cloud blinzelte instinktiv, um seiner zeitweiligen Verunsicherung
Ausdruck zu verleihen. Er hatte fast vergessen gehabt, was er hier vor sich hatte: eben kein Geschöpf aus Fleisch und Blut, das somit auch kaum Augen im herkömmlichen Sinn nötig hatte, um zu »sehen«. »Was willst du uns damit beweisen?«, fragte er, als er das Gefühl hatte, nicht mehr länger schweigen zu dürfen. Die anderen erwarteten von ihm, dass er das Heft des Handelns nicht aus der Hand gab. »Nach Unterwerfung sieht das eher nicht aus.« »Was ihr seht, ist keine Drohgebärde«, behauptete der nun Mitternachtsblaue. »Ich will euch nur zeigen, wie ein Aggressor aussieht. Er hat mit mir nichts gemein. Aber prägt ihn euch ein. Damit ihr ihn erkennt, sollte er irgendwann eure Wege kreuzen …« »Wir haben solche Wesen noch niemals gesehen«, sagte Cloud. Charly ging nicht darauf ein. Offenbar glaubte er aber auch nicht, dass sie sich das Aussehen bereits genug eingeprägt hatten, denn er behielt es bei. »Nun zu meiner … Bitte.« »Und wo bleibt das Geschenk?«, warf Jarvis sarkastisch ein. »Bitte und Geschenk sind eins.« Etwas in der Art hatte Cloud befürchtet. Alles schien in diesen Tagen einen Haken zu haben, nichts wurde der RUBIKON-Crew wirklich geschenkt … »Ich weiß nicht, ob ich mir das anhören will«, raunzte Jarvis, dem offenbar das Gleiche auf- und missfiel. Charly schwieg. Sein seltsamer Körper dominierte die Umgebung und schien Helligkeit von ihr abzuziehen. Er machte einen düsteren, wenngleich nicht akut bedrohlichen Eindruck. Sesha meldete: »Empfange Datenfluss.« »Stopp!«, rief Cloud und baute sich entschlossen vor Charly auf. Dass er zu ihm aufblicken musste – und ahnte, dass dies nicht ganz unbeabsichtigt war –, beeindruckte ihn nicht im Mindesten. »Du wirst es bereuen, wenn du ein falsches Spiel treibst – wer immer du wirklich bist! Niemand hat dir gestattet, das Schiff mit möglicherweise schädlichen Datensätzen zu kontaminieren. Ich fordere dich auf, damit nicht nur aufzuhören, sondern dafür zu sorgen, dass die
bereits übertragenen Dateien –« Er verstummte, als Charly vor ihm verschwand. Von einem Moment zum anderen war er ohne jede Vorwarnung weg – und in das entstandene Vakuum strömte geräuschvoll Luft. »Ich hasse so etwas!« Jarvis fluchte. »Hallo? Vielleicht kümmert sich ja mal jemand um mich?«, rief Jiim aufgebracht. »Ich kann mich vom Hals abwärts nicht bewegen – wer ist dafür verantwortlich? John, du …?«
Zur gleichen Zeit hielt Scobee die Stellung in der Bordzentrale. Sesha informierte sie über die Vorgänge in dem Bordabschnitt, in dem normalerweise Pseudokalser generiert wurde, riet aber zur Zurückhaltung. Scobee nahm ungern »wohlgemeinte Ratschläge« einer KI an, doch je länger sie der Begegnung folgte, desto überzeugter war sie, dass Sesha in diesem Fall recht hatte. Eine Einmischung hätte das Tohuwabohu um den neu formierten Charly nur noch vergrößert. Dann verschwand die mitternachtsblaue Gestalt, und während sich in der Pseudokalser-Domäne noch alle wunderten und den Abgang kommentierten, bemerkte Scobee, dass sie plötzlich nicht mehr allein im Rund des Kommandopodests war …
Jiim war nabissfrei, aber das schien seiner Vitalität keinen Abbruch zu tun. »Ich fühle mich wie befreit«, seufzte er, nachdem das Fesselfeld endlich erloschen war – und jedermann bezog seine Aussage auf eben dieses Feld. Doch dann wurde er konkreter. »Ich habe nicht gewusst, wie sehr sie mich belastete … ich bin wirklich nicht traurig, sie los zu sein.« Yael hatte ihm erzählt, was passiert war. Die Rollen waren vertauscht. Tage zuvor hatten die Vorzeichen umgekehrt gestanden, da war Yael in die Position desjenigen gedrängt gewesen, der erst einmal hatte aufgeklärt werden müssen.
»Ist es wirklich so?«, fragte Cloud. »Bist du dir sicher? Ich kann noch nicht sagen, was ich von diesem neuen Charly-Verschnitt halten soll. Seine Motive liegen noch weitgehend im Dunkel. Er sagte, er habe die Nabiss-Substanz dazu verwendet, um sich bei uns zu manifestieren, und weiter behauptete er, uns ein ›Geschenk‹ zu machen, das offenbar aus Datenpaketen besteht, die er Sesha offeriert hat …« »Was sind das für Datenpakete?«, fragte Jiim neugierig. »Darüber habe ich mich mit Sesha noch nicht kurzschließen können. Sesha?« »Commander?« »Du hast gehört, was uns beschäftigt – und du hast mitbekommen, dass ich dem Datentransfer misstraue. Gibt es Hinweise auf eine Verseuchung, irgendwelche bösartige Viren, die dir beim Entpacken der Sätze gefährlich werden könnten? Uns gefährlich werden könnten?« Die KI erwiderte: »Hätte es diese Anzeichen gegeben, wären automatisch Sicherheitsmechanismen in Kraft getreten.« Cloud sah, wie Jarvis sich eins grinste. Sie wussten beide, wie anfällig die KI in der Vergangenheit diverse Male gewesen war. So viel zum Thema Sicherheitsmechanismen, die automatisch griffen … »Kannst du demnach etwas über die Inhalte sagen?« »Sie sind unverschlüsselt – demzufolge kann ich dir alles sagen, was du dazu wissen willst. Aber der Einfachheit halber würde ich vorschlagen, sie euch zu zeigen, am besten in der Holosäule der Zentrale.« »Du hältst sie wirklich für unbedenklich?« »Für unbedenklich im technischen Sinne, ja. Über alles, was darüber hinaus geht, musst du entscheiden.« »Wie meint sie das?«, fragte Jarvis. »Sie meint, die Daten könnten Dinge behandeln, die es in sich haben – und damit durchaus folgenschwer sein«, erwiderte Cloud. In diesem Moment erreichte sie ein Ruf aus der Zentrale, wohin sie ohnehin gerade aufbrechen wollten. Er und Jarvis zumindest. Jiim
und Yael waren besser hier aufgehoben. Sie konnten den Neustart ihrer Pseudoweit überwachen. »John?« »Scob? Hast du mitbekommen, was hier –« »Ja, danke. Ich bin so weit informiert. Aber vielleicht interessiert es euch zu erfahren, dass er hier aufgetaucht ist.« »Charly?« Cloud schwante Böses. »Sieh es dir lieber selbst an.« »Wir sind unterwegs! Betrachte uns quasi schon als bei dir befindlich …«
Bei Betreten der Zentrale war auf Anhieb keine Veränderung zu erkennen, auch von dem Charly, den sie zuletzt gesehen hatten und der orakelhaft zu ihnen gesprochen hatte, fehlte jede Spur. Doch dann … Scobee hatte Cloud und Jarvis zu sich herangewunken. Sie selbst stand unmittelbar neben dem kniehohen Podest, auf dem kreisförmig sieben Sitze angeordnet waren – weil in der RUBIKON einstmals sieben Mächtige das Sagen gehabt hatten. Das Septemvirat der Foronen, angeführt von ihrem Obersten – Sobek. Im Zentrum des Kreises, den die Kommandosarkophage bildeten, ragte die Holosäule auf – bis hoch zur Decke, weit über ihren Köpfen, am Ende des an eine Kathedrale erinnernden Herzens der RUBIKON. »Sagt ihr mir, was das zu bedeuten hat – und wie wir damit umgehen sollen.« Scobee zeigte unbestimmt zur Holosäule hin – zumindest kam es Cloud zunächst so vor. Doch dann fand sein schweifender, suchender Blick, worauf sie tatsächlich anspielte. Ein entsagungsvoller Seufzer rutschte ihm über die Lippen. Auch Jarvis war fündig geworden. »Dieser unglaubliche …!«, keuchte er. Cloud betrat das Podest. Es hatte sich eingebürgert, dass er den Sitz benutzte, der einst dem Hohen Sobek vorbehalten gewesen war.
Aber im Grunde wäre es egal gewesen, zu welchem der sieben Sarkophage er sich gewandt hätte, denn sie alle waren davon betroffen: Auf jeder Armlehne, rechts wie links, prangte eine Figur. Sie war nur handspannengroß, strahlte aber selbst in dieser Größe eine ungemeine Dichte und Kraft aus. Und sie sah aus wie der Charly, der sich in der Pseudokalser-Halle vor ihren Augen aufgelöst hatte. Humanoid. Mitternachtsblau. Jeder Zoll pure Aggression … »Was bezweckt es damit?«, stellte Scobee die Frage, die ihr offenbar schon die ganze Zeit auf der Zunge brannte. »Wer, Charly?«, erwiderte Cloud, ohne den Blick von den beiden Figuren seines Sitzes zu lösen. »Das, was vorgibt, Charly zu sein.« »Das tut es ja gar nicht. Davon war nie die Rede«, warf Jarvis ein. Dann fügte er hinzu: »Sie scheinen tot zu sein, nichts anderes als ein Jux dieses …« Wieder scheiterte er daran, das Wesen, das die Nabiss-Substanz beseelt hatte, näher zu bezeichnen. »An einen Jux glaube ich nicht eine Sekunde«, erwiderte Cloud. Er hatte seinen Arm ausgestreckt, aber er berührte die Figur, die ihm am nächsten war, nicht. Seine Hand schwebte Zentimeter darüber. Dennoch glaubte er das Material zu fühlen, aus dem die Statue gefertigt war. Es wirkte nicht bedrohlich, nicht die Spur. »Offenbar will er, dass wir uns das Aussehen wirklich einprägen. Sodass es uns selbst noch im Schlaf verfolgt.« »Wozu sollte das gut sein?«, fragte Scobee. »Damit wir vorbereitet sind.« »Wenn wir diesem Wesen tatsächlich einmal begegnen?« »Dieser Spezies«, sagte Cloud. »Ich glaube, es geht nicht um irgendein Individuum. Es geht um einen Feind, der sich aus einem ganzen Volk rekrutiert …« Obwohl er immer noch auf die Figur und nicht zu Scobee blickte, wusste er, dass sie ihn irritiert musterte und dann auch schon fragte: »Wie kannst du dir da so sicher sein?« »Ich bin nicht sicher. Es ist nur … ein Gedanke.«
Der ihm von der Figur unter seiner Hand eingeflößt, souffliert, worden war … Er versteifte sich. Zog die Hand zurück, als hätte er sie sich gerade verbrannt. »Was ist?«, fragte Jarvis. »Hat sie sich gewehrt?« Sein Ton ließ nicht klar erkennen, ob er es spöttisch oder einfach nur besorgt meinte. »Erinnert euch, weshalb wir noch hergekommen sind«, sagte Cloud und zeigte auf die freien Plätze. »Setzen wir uns und lassen wir Sesha loslegen. Die Daten – keiner neugierig, was ›Charly‹ uns für ein Geschenk dagelassen hat, bevor er sich in vierzehn Miniaturen aufspaltete?« »Du meinst also, das ist die Nabiss-Substanz, die er – oder es – aus Jiim gezogen hat?«, fragte Scobee. Cloud nickte. »Und die sollen wir jetzt einfach ignorieren, so tun, als wäre der neue Sitzschmuck gar nicht vorhanden?« Cloud verstand die Skepsis. Er machte den Vorreiter und ließ sich in den Sitz gleiten. Keine der beiden Figuren, die er jetzt im Blick hatte, reagierte … Stopp, dachte er. Das stimmt nicht. Wenn ich sie sitzend ansehe … Kann das sein? Kann es sein, dass sie …? Für einen Moment überkam ihn etwas von solcher Intensität, dass er fast aufgesprungen und aus dem Sitz geflohen wäre. Doch er bezähmte sich, und nach ein paar tiefen Atemzügen war es beherrschbar. Und nach einer Minute nur noch … spektakulär. »Setzt euch«, forderte er die Freunde auf, »und sagt mir, ob ihr es auch so empfindet, wie ich gerade. Seid darauf vorbereitet, dass etwas passiert, wenn ihr euch eine der Figuren sitzend anseht. Mehr sage ich nicht. Sonst seid ihr voreingenommen.« Scobee und Jarvis nahmen Platz. Scobee zu seiner Linken, Jarvis rechts. Scobee zuckte. Jarvis blieb völlig gelassen. »Wow …«, entlockte das Phänomen Scobee schließlich einen Kommentar. Jarvis schwieg.
»Jarvis?«, fragte Cloud. »Was soll sein? Ich sehe eine Figur. Die hab ich aber vorher auch schon gesehen – auf jeder Sitzlehne eine …« »Scob?« »Es ist … beängstigend.« »Ja, das finde ich auch. Zumindest hinterlässt es einen mehr als bleibenden Eindruck. Jedes Mal neu, wenn ich wieder hinsehe …« »Nicht dass ihr mich neugierig machen würdet …«, setzte Jarvis an. Und Cloud erklärte ihm, was für eine Bewandtnis es offenbar mit den Figuren auf den Sarkophaglehnen hatte. Zumindest für Betrachter aus Fleisch und Blut – wovon Jarvis aufgrund seiner physischen Zusammensetzung oder aus anderen Gründen offenbar ausgeschlossen blieb. »Wenn ich die Figur betrachte, scheint sie sich vor meinem Blick in Tausende, vom reinen Empfinden her sogar in Millionen und Abermillionen Aggressoren zu vervielfältigen! Es ist, als blicke man einer gigantischen Woge entgegen, die sich einem unaufhaltsam nähert, einer Armee, die nichts anderes im Sinn hat, als dich zu überrennen … Ist es bei dir auch so, Scob?« »Ich könnte es nicht treffender beschreiben«, gab sie zur Antwort. »Offen gestanden gruselt mir von den Dingern.« »Damit wäre die Absicht Charlys wohl aufgegangen«, sagte Cloud. »Und das passiert nur, wenn ihr sitzt?«, vergewisserte sich Jarvis. »Ja.« »Warum?« »Ich habe keine Ahnung. Vielleicht weil die Sitze der Ort sind, von dem aus wir uns diesem Feind einst nähern werden …«, bot Cloud den Versuch einer Erklärung an. »Ich beginne jetzt mit der Einspielung«, sagte Sesha aus dem Off, als habe sie die Diskussion gar nicht verfolgt. »In Ordnung, Commander?« »In Ordnung, Sesha.« Cloud mied den Blick auf die Miniaturen, schaute stattdessen dar-
an vorbei in die Holosäule, die das All zeigte, wo die RUBIKON gegenwärtig kreuzte. Die KI blendete Daten ein und markierte einen bestimmten Sternensektor. Er zoomte heran, bis ein einzelner Stern in den Fokus rückte. »Was bedeutet das, Sesha?« »Das sind die Koordinaten, die mir überspielt wurden. Ein Sonnensystem, keine achtzig Lichtjahre von unserer jetzigen Position entfernt. Veranschlagte Flugzeit ohne Transition: zwei Stunden.« »Warum rätst du von einer Transition ab?«, fragte Cloud. »Ich meine, gesetzt den Fall, dass wir überhaupt vorhätten, die Koordinaten anzusteuern.« »Die Daten sind nur bedingt vertrauenswürdig, richtig?«, fragte die KI. »So könnte man sagen.« »Dann ist das Ziel es auch, und es sollte nicht in einer Weise angepeilt werden, die kaum Zeit zum Sondieren des Eintauchgebiets lässt.« Dieser Logik der KI war nicht zu widersprechen. Die Frage aber blieb: Sollten sie sich auf ein solches Blinddate überhaupt einlassen? Welche Zwecke verfolgte das Wesen, das durch Charly sprach und das einer klaren Antwort ausgewichen war, als es darum ging, seine Kategorie einzuordnen. Freund oder Feind …?
»Freund oder Feind – Falle oder Glücksfall?« Cloud machte eine Ausholbewegung, die nach dem Stern zu greifen schien, den Sesha in der Holosäule hervorgehoben hatte. »Ihr entscheidet mit. Ich selbst habe eine Meinung dazu, aber unter den gegebenen Umständen hielte ich es für fahrlässig, den Egoisten heraushängen zu lassen. Stimmen wir also ab.« »Ich mag den Commander, der bestimmt lieber«, hauchte Assur von ihrem Sitz aus. Sie zwinkerte ihm zu. Cloud räusperte sich. »Und die anderen?«
Außer Assur hatten sich mit ihm noch Scobee, Jarvis, Algorian, Aylea und Rotak eingefunden. Alle sieben Sitze waren somit besetzt, wobei sich Cloud für Assur, Rotak und Aylea als Ersatz für die anderweitig beanspruchten Jiim, Cy und Jelto entschieden hatte. Cys Zukunft war immer noch ungewiss, aber offenbar hatten Jelto und er eine so innige Verbindung, dass dem Florenhüter zuzutrauen war, einen Weg zu finden, der dem Aurigen ein tragisches Ende ersparte. Und Jiim hatte sich freiwillig entschieden, der Zusammenkunft fern zu bleiben. Er und Yael waren noch mitgenommen von dem, was ihnen die Charly-Inkarnation zugefügt hatte. »Ich bin dafür, hinzufliegen«, sagte Jarvis. »Wenn's eine Falle ist, werden wir damit fertig. Dann knallt's mal wieder, und gut ist's! Und wenn eine ›Belohnung‹ auf uns wartet – umso besser. Hatten wir schon länger nicht mehr.« »Wenn das keine klare Position ist«, spottete Aylea. »Ich bin aber auch dafür – wenn eine Göre wie ich dazu was sagen darf.« »Darf und muss«, behauptete Cloud. »Du bist keine Göre, sondern ein überdurchschnittlich intelligentes Mitglied unserer Mannschaft.« »Oh, danke für die Blumen, Sir!« Sie griente. »Immer gern zu Diensten.« Assur lachte. Dann sagte sie: »Wir werden Charly vermutlich erst wieder los, wenn wir das tun, was er sich erhofft. Und da nicht wirklich feindselig auf mich wirkt, wie er sich benimmt, stimme ich ebenfalls für Nachschauen.« Sie blickte zu ihrem Ex-Partner Rotak, dem Sprecher der Angks an Bord, der zugleich auch der Vater der gemeinsamen Tochter Winoa war. »Und du, Rotak?« »Dagegen.« Er äußerte sich gewohnt zurückhaltend, war aber bestimmt in seinem Votum. Nicht nur Assur kannte ihn inzwischen gut genug, um zu wissen, dass er sich seine Entscheidung nicht leicht gemacht, sondern gute Gründe hatte, abzulehnen. Die Schiffssicherheit, die Sicherheit der Crew, ging ihm in der Regel über alles. »Wir lassen uns ohne Not auf ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang ein. Anstatt die fragwürdigen Koordinaten anzufliegen, plädiere ich
dafür, alles in unseren Kräften Stehende zu tun, um das Charly-Wesen zu lokalisieren und sicherzustellen, dass es keinen Schaden an Bord anrichtet.« »Aber Charly … der Charly, von dem wir momentan sprechen … muss nicht gesucht werden«, behauptete Jarvis allen Ernstes. »Er ist hier, bei uns.« Er zeigte auf die vierzehn Figuren. »Glaubst du das wirklich?«, fragte Algorian, der sich bislang noch nicht geäußert hatte. »Aber du hast vielleicht gar nicht so unrecht. Da ist etwas in den Figuren. Es fühlte sich für mich wie ein fernes mentales Echo an … Aber ich bin mir offen gestanden nicht sicher.« Cloud zeigte nicht, wie verblüfft er über die Worte des Aorii war. Befand sich das abgetauchte Wesen, das ihnen auf Pseudokalser gegenübergetreten war, tatsächlich mitten unter ihnen und tarnte sich, indem es sich in vierzehn gleiche Teile aufsplittete? Die Figuren wirkten völlig leblos. Aber was besagte das schon? »Es scheint mit der Ebene … dem Ort … verbunden zu sein, an den es Assur, Winoa und Yael verschlug. Und es scheint eng mit den Ganf verflochten zu sein, vielleicht sogar auf einen zurückzugehen«, ergriff nun wieder Cloud das Wort. »Aber halten wir uns an die Fakten: Wir haben Koordinaten erhalten, bei denen sich ein Sonnensystem befindet. Und wir sind nur einen Katzensprung, gemessen an der uns zur Verfügung stehenden Technik, davon entfernt. Aus diesem Grund und weil ich es mir ewig vorwerfen würde, wenn ich meine Neugier nicht gestillt hätte, stimme auch ich für einen Erkundungsflug. Womit wir ein sechs zu eins Ergebnis haben, nicht ganz einstimmig, aber ich hoffe, du kannst damit leben, Rotak?« Der Angk nickte knapp. »Damit ist es beschlossen. Sesha – wir nehmen Fahrt auf. Überlichtflug, ohne das Kontinuum zu verlassen. Die von dir berechnete Reisezeit gibt uns Gelegenheit, uns auf die Verhältnisse vor Ort einzustimmen – aber das heißt auch, dass wir von nun an permanent Daten der Fernortung auswerten müssen. Scobee? Das übernimmst du, gemeinsam mit Jarvis. Einwände?« Kopfschütteln.
»Dann sehe ich die anderen in knapp drei Stunden wieder hier, unmittelbar vor Erreichen des Zielsystems.«
9. Unauffällig. Jarvis überlegte, ob dieses Prädikat einem Sonnensystem, das ihnen auf so außergewöhnliche Weise offeriert worden war, wirklich gerecht werden konnte. Aber die ersten Ortungsdaten behaupteten genau dies: System 08576F/16 des Sternenkatalogs, über das, bis auf die Sonnenspezifikation, keinerlei Details vermerkt gewesen waren, war unauffällig. Zwölf Planetenkörper umkreisten den Stern der Spektralklasse K, davon befand sich einer in der sogenannten »Lebenszone«, die je nach Sternentyp variierte. Hier betrug die Entfernung des vielversprechendsten Himmelskörpers, was mögliches Leben betraf, etwa fünf Lichtminuten. Er war etwas kleiner als die Erde und umlief sein Gestirn einmal in 1,34 Erdjahren auf einer ellipsoiden Bahn. Die Atmosphäre war sauerstoffhaltig. Genaueres würde erst nach Ankunft der RUBIKON ermittelbar sein. »Spektralklasse K bedeutet«, sagte Jarvis, der gemeinsam mit Scobee jede Phase des Flugs überwachte, »dass der Stern eine mehr als doppelt so lange Lebensdauer hat wie die irdische Sonne vom GTyp.« »Wenn man bedenkt, dass unser Universum gerade mal 13,7 Milliarden Jahre alt sein soll, hat er noch einiges vor sich. Immerhin kann er etwa 24 Milliarden Jahre alt werden«, erwiderte Scobee. Sie nahmen die einzelnen Planeten unter die Lupe, auch die, die außerhalb der Zone mit der höchsten Wahrscheinlichkeit für gute Lebensbedingungen lagen. Zwei Gasriesen vom Jupitertyp belegten die Bahnen fünf und neun, ansonsten tummelten sich zwei Ringplaneten und mehrere, die nur Marsgröße erreichten, in dem System. Kurz vor Erreichen der äußersten Planetenbahn erschien Cloud
auf dem Kommandostand und ließ sich über die Messdaten informieren. Nur kurz ließ er sich auf die Wirkung der Charly-Figuren ein, dann beteiligte er sich an den Analysen. Nach und nach fand sich auch der Rest der aktuellen Brückenmannschaft ein. Während die RUBIKON bereits die Bahn des neunten Umläufers in respektvollem Abstand zu dem Gasriesen schnitt, fiel Cloud eine Auffälligkeit auf, die bislang unentdeckt geblieben war. Auch sie hatte mit dem Alter der hiesigen Sonne zu tun, aber nicht mit ihrer wahrscheinlichen Gesamtlebensdauer, sondern damit, wie lange sie bereits existierte. »Das ist ungewöhnlich«, sagte er. »Was?«, zeigte sich Jarvis sofort interessiert. Er mochte es nicht, wenn ihm etwas Eklatantes entging. »Das Alter der K-Sonne«, sagte Cloud. »Es lässt sich den Messungen zufolge auf etwa 13,5 Milliarden Jahre festlegen.« Jarvis wusste sofort, worauf Cloud hinaus wollte. »Das hieße, 08576F/16 gehört zu den ersten Sternen überhaupt, die nach der Zündung des Universums mittels Tridentischer Kugeln entstanden, und zwar nicht nur auf die Milchstraße bezogen, sondern auf das Universum insgesamt.« Cloud nickte. »Zum Vergleich: Die irdische Sonne entstand erst vor etwa 4,5 Milliarden Jahren, ungefähr gleich alt ist die Erde …« »Das hieße, die Planeten hier könnten auch fast dreimal so alt sein wie die des irdischen Sonnensystems – was bezogen auf den vielversprechendsten Kandidaten, den mit der Sauerstoffatmosphäre, hieße, etwaiges Leben hätte ein Vielfaches an Zeit gehabt, einen hohen Entwicklungsstand zu erreichen als beispielsweise wir Menschen.« »Ich weiß nicht, ob man die Rechnung wirklich so aufmachen kann«, erwiderte Cloud vorsichtig, »aber zumindest theoretisch halte ich es für denkbar. Scob?« »Durchaus. Keine Einwände.« Er fing einen Blick von Assur auf, die immer wieder aufmerksam beobachtete, wie Cloud mit Scobee umging, beziehungsweise in Missionen einbezog. Jarvis fragte sich, ob das Eifersucht oder bloßes Interesse war.
Er verdrängte den Gedanken. Er führte in eine Sackgasse, in die er sich nicht manövrieren wollte, weil es sonst wieder die alten Defizite, unter denen er litt, hochgespült hätte. »Jetzt bin ich erst recht gespannt«, seufzte Jarvis. Die RUBIKON jagte dem zweiten, noch namenlosen Systemplaneten entgegen. Dabei machte Sesha eine neue Entdeckung, bei der sie sich auf ein von den Foronen entwickeltes Kombi-Verfahren aus physikalischem Scan und mathematischer Berechnung berief, mit dem Reste von »Gravitationsfahnen«, wie die KI es nannte, ermittelt werden konnten. »Was genau willst du damit sagen?«, fragte Cloud, als die KI ihn darauf ansprach. »Ich höre zum ersten Mal von einem solch speziellen Scan. Hat es etwas mit unseren Zielkoordinaten zu tun?« »Absolut«, erwiderte Sesha. »Das Verfahren ist automatischer Bestandteil jedes Scans im Nahortungsbereich. Es wird also immer mit durchgeführt. Keine Erwähnung fand es bisher deshalb, weil nie nennenswerte Diskrepanzen auftauchten.« »Du musst präziser werden: Was wurde denn nun im hiesigen System 08576F/16 festgestellt?« »Eine extreme Bahnabweichung.« »Worauf bezogen?« »Auf unser Ziel, den zweiten Systemplaneten.« »Weiter!« »Vor ungefähr zweitausend Standardjahren – auch das lässt sich aus dem Abgleich der Gravitationsfahnen herausfiltern – kam es aus unbekannten Gründen dazu, dass der Planet näher an sein Muttergestirn heranrückte. Und zwar um schlussendlich rund zwanzig Millionen Kilometer näher. Das rekonstruierbare Bewegungsmuster lässt dabei auf ein Ereignis schließen, das vergleichbar mit einem extremen Kometeneinschlag ist. Zumindest, was die freigesetzte kinetische Energie betrifft. Möglicherweise war aber auch etwas völlig anderes die Ursache. Um Verlässliches dazu zu sagen, müssen erst weitere Informationen eingeholt werden.« »Der Planet verließ also nach Jahrmilliarden seine angestammte
Bahn, stürzte aber nicht in seine Sonne, sondern fing sich nach einer Weile wieder ab und pegelte sich in geringerer Entfernung um sein Muttergestirn wieder ein?« »Präzise.« »Hätte er nicht hineinstürzen und verdampfen müssen?« »Offensichtlich nicht, Commander«, gab die KI trocken zurück. Jarvis grinste. Er verfolgte das Pingpong zwischen John und Sesha mit einigem Vergnügen. Nebenbei ertappte er sich aber auch dabei, dass er mit seinen Nanosensoren immer wieder die beiden Figuren auf seinen Sitzlehnen scannte, so als erwartete er, dass sie nun bald zu Leben … zumindest aber zu irgendeiner Aktivität … erwachen würden.
Die Annäherung an einen fremden Planeten, der alle Kriterien erfüllte, um erdähnliches Leben hervorzubringen – zumindest aber hochkomplexes Leben im organischen Sinne – war auch schon im Normalfall ein Abenteuer. Cloud fragte sich, ob der Reiz solcher Missionen überhaupt jemals verfliegen würde. Er konnte es sich nicht vorstellen. Er war nervös wie ein kleiner Junge. Deshalb hatte er sich einst entschieden, in die Fußstapfen seines Vaters Nathan zu treten. Die Anziehungskraft des Unbekannten. Rätsel. Kosmische Geheimnisse … Er hatte niemals erwarten dürfen, wirklich einmal so nah an so viele Wunder des Universums heranzukommen, wie die Realität es ihm nach der Keelon-Invasion schließlich ermöglicht hatte. Nicht in seinen kühnsten Träumen hatte er sich eine realistische Chance ausgemalt, einmal sogar die Milchstraße verlassen und benachbarte Galaxien anfliegen zu können … Nein, wenn man es richtig betrachtete, war er ein Privilegierter. Er vergaß es im Alltag nur zuweilen. »Die eine Auffälligkeit«, sagte er, nachdem er Rücksprache mit Sesha genommen hatte, »besteht also darin, dass unsere Zielwelt of-
fenbar irgendwann vor zirka zweitausend Jahren ihre Bahn enger um ihre Sonne gezogen hat – über die Gründe kann gegenwärtig noch nicht allzu viel gesagt werden –, und die andere darin, dass in diesem Milchstraßensektor normalerweise keine Sterne dieses Alters vorkommen. Es gibt sie, vor allem außerhalb der Galaxie, im Halo, aber in diesem Abschnitt … im Grunde ist 08576F/l6 ein Anachronismus. Und das sollte uns noch neugieriger machen. Und noch vorsichtiger.« »Alle Systeme sind in maximaler Alarmbereitschaft«, beteuerte Jarvis. »Wird schon schiefgehen.« Und es ging schief. Wenn auch in einem eher schleichenden Prozess. Die RUBIKON schwenkte in einen Orbit um den Planeten ein, der ein nahezu ideales Klima und eine Sauerstoff-Stickstoff-Atmosphäre besaß. »Wir sind da«, sprach Cloud aus, was alle mit verfolgt hatten. »Beginnen wir mit den Detailscans und klären wir zunächst einmal die Frage, ob es höher entwickeltes Leben auf dieser Welt gibt …«
Eines war schon jetzt auf der Habenseite zu verbuchen: Bislang war kein Angriff auf die RUBIKON erfolgt, und es gab auch nicht das leiseste Anzeichen, dass ein solcher überhaupt vorbereitet wurde. Andererseits: Charly hatte sie mehr oder weniger hierher geschickt (auch wenn er es ins Kleid einer Bitte gehüllt hatte). Und damit schien beinahe ausgeschlossen, dass dieses Sonnensystem, dieser Planet, so harmlos war, wie es bislang den Anschein hatte. »Beobachtungssonden ausschwärmen!«, befahl Cloud. Sein Blick streifte die rechte Armlehnenfigur – eine wilde Horde überrannte ihn. Er hatte gelernt, nicht mehr zusammenzuzucken, wenn er sich versehentlich oder in vollster Absicht auf das Phänomen einließ. »Beobachtungsschwarm ausgeschleust«, meldete Sesha den Vollzug. In der Holosäule rasten Pünktchen auf den Planeten zu, dessen Gesicht von einem einzigen Großkontinent geprägt wurde. Ansonsten gab es nur noch eine zweite flächenmäßig bedeutendere Land-
masse, sie war aber beträchtlich kleiner. Winzige Inseln lagen über die Meere verstreut. Vereiste Pole gab es nicht. Die auf den Weg gebrachten Sonden würden den Planeten nebenbei komplett kartographieren. Ihre Hauptaufgabe bestand aber darin, nach Leben Ausschau zu halten, vorzugsweise intelligentem Leben. Allerdings würden sie sich auch auf Spurensuche begeben, was die festgestellte Bahnabweichung anging. Sollte tatsächlich ein Kometeneinschlag oder die Kollision mit einem vergleichbaren Himmelskörper dahinterstecken, würden sich dafür nach nur knapp zweitausend Jahren gewiss Belege finden lassen. »Ich habe deinen Blick vorhin bemerkt«, raunte Scobee Cloud zu. »Ich kann mir denken, worauf du spekulierst.« »Ach. Und worauf?« »Dass wir auf dieser Welt finden, was Charly uns so nachhaltig ans Herz legte.« Sie wies auf die Figuren, die sämtliche Sitze zierten. »Den Aggressor, der so aussieht wie die hier?« Cloud nickte. »Wäre naheliegend, oder?« »Durchaus.« »Dann rechnest du auch damit?« »Die Wahrscheinlichkeit ist gegeben, aber es kann auch etwas völlig anderes dahinterstecken.« »Eine Idee, was?« »Ich fasse mich in Geduld, lange kann es ja nicht mehr dauern, bis die ersten Ergebnisse eintrudeln.« Er nickte. »Sesha? Gibt es bereits Bilder?« Die KI verneinte. »Der Schwarm beackert den gesamten Planeten, wenngleich das Gros über den Landmassen zugange ist. Eine Minute – dann blende ich die ersten vorsortierten Szenen ein. Ich bin im Bilde, was von Bedeutung ist und was nicht.« »Sie ist im Bilde«, lästerte Jarvis. »Ist diese KI mit ihrer geschwollenen Ausdrucksweise nicht köstlich?« »Vielleicht sollte sie bei dir Nachhilfe nehmen – in Sachen loses Mundwerk«, versetzte Scobee bissig. »Darin hast du es zu unangefochtener Meisterschaft gebracht.« »Es spricht der Neid«, erwiderte Jarvis grinsend.
»Träum weiter.« Ein Grinsen huschte über Jarvis' vorgetäuschte Züge. Dann kamen sie schließlich – die Bilder einer Welt, die ihr wahres Gesicht verschleierte …
»Der Hauptkontinent … man könnte auch fast sagen, der einzige Kontinent … weist unübersehbare Spuren einer Besiedelung auf. Und auf der Meeresroute zwischen ihm und der zweiten, beträchtlich kleineren Landmasse herrscht reger Schiffsverkehr … Ich würde sagen: Bingo! Volltreffer!« Jarvis klatschte in die Hände, und Cloud erwartete unwillkürlich, dass es metallisch klingen würde – doch der Bractonen-Kristall hielt nicht nur optisch, sondern auch klangtechnisch die Illusion aufrecht, einen Freund aus Fleisch und Blut neben sich zu haben. Es hörte sich an, wie ein Klatschen eben zu klingen hatte … »Nahaufnahmen!«, verlangte Cloud, an die KI gerichtet. »Eine Siedlung herauspicken.« Sesha gehorchte, zauberte das Gewünschte aus dem Hut. Die Sonden versorgten sie unablässig mit Datenströmen, die von der KI vorgesichtet wurden. Plötzlich erschien ein komplexes Stadtbild im Hologramm. Es hatte Ähnlichkeit mit indianischen Pueblobauten, beispielsweise der Anasazi, wie Cloud sie noch in seinem Gedächtnis trug. Nur dass es offen liegende Straßen zwischen den einzelnen Bauten gab, ziemlich breite Straßen sogar, doch die schienen auch nötig angesichts der Bevölkerung, die sich darin tummelte. Cloud hörte ein Stöhnen … … und brauchte Sekunden, um zu begreifen, dass er selbst es ausgestoßen hatte. »Das gibt's nicht!«, keuchte von einem der anderen Sitze aus auch schon Scobee, während Jarvis, der als Dritter und Letzter in der Runde bestimmte Assoziationen mit dem Anblick verband, ein anderes für ihn seltenes Element beisteuerte: Er wirkte sprachlos. »Ist was?«, wollte Assur wissen, die Clouds und Scobees Reaktio-
nen absolut richtig deutete. »Kennt ihr die etwa?« »In gewisser Weise …« Cloud räusperte sich. Er nahm über sein Sitzinstrumentarium Korrekturen in der Bilddarstellung vor, zoomte einen der Stadtbewohner stärker heran und fror ihn inmitten der Bewegung ein. »Es gibt … oder gab … auf der guten alten Erde Sagen, in denen Geschöpfe wie diese vorkamen. Wobei … die hier sehen aus, als wären sie eine Mischung aus gleich zwei Sagengestalten, die aber dem ungefähr gleichen mythologischen Umfeld entsprangen.« Die Gestalt, die nicht ahnte, wer sie gerade aufs Genauste begutachtete und in wessen Richtung sie scheinbar blickte, während Cloud die Technik veranlasste, das Objekt des Interesses langsam um seine eigene Achse drehen zu lassen, hatte den gedrungenen, muskulösen Leib eines Pferdes und vier behufte Beine. Doch dort, wo eigentlich der Hals hätte ansetzen und in den Schädel übergehen müssen, ragte der Rumpf eines menschenähnlichen Geschöpfes auf. Menschenähnlich – aber wie ein Mensch sah es dann doch nicht aus. Viele Details erinnerten an ein ganz spezielles Geschöpf, insbesondere die spitzbärtige Kinnpartie, die schmalen, schräg stehenden Augen und … das imposante Gehörn, das seiner Stirnpartie entspross. »Ein Kentaur«, entfuhr es mit leichter Verspätung nun doch noch Jarvis. »Ein Satyr«, hielt Cloud dagegen. Er lächelte und räumte ein: »Aber eigentlich ist es eine Mischung aus beiden Sagengestalten – Kentaur und Satyr … Wer hätte das gedacht …« »Ich kenne weder die Namen noch diese Art von Körper«, sagte Assur. »Aber der hier … offenbar ein männliches Exemplar – vielleicht könnten wir mal die entsprechende Stelle besser ins Bild rücken? Danke. Ja, offensichtlich ein sehr männliches Exemplar seiner Gattung. Er sieht so herrlich wild verwegen aus – und er scheint nur wenig mehr am Leib zu tragen als … was ist das? Farbe? Dreck?« Dreck schloss Cloud aus. Dafür glänzte es zu gewollt. Er löschte die Einzelaufnahme und holte das Stadtbild zurück, einen etwas
größeren Bereich, der deutlich machte, dass alle Kentauren/Satyrn diese Light-Version einer »Bekleidung« trugen, aber ein jeder offenbar individuell nach seinem Geschmack, was die Farbgebung anging. »Haben wir dem Planeten schon einen Namen gegeben?«, fragte Jarvis. »Bislang noch nicht. Aber Vorschläge werden jederzeit angenommen«, sagte Cloud und lächelte. Insgeheim war er erleichtert, dass sich sein Verdacht, hier auf Humanoide zu treffen, die den von Charly hinterlassenen Figuren entsprachen, offenbar nicht bestätigte. Noch nicht zumindest. Wobei nicht auszuschließen war, dass neben den beobachteten Vierbeinern noch eine zweite vernunftbegabte Spezies auf dem Planeten existierte – aber er rechnete eigentlich nicht mehr damit. »Ich plädiere für Kentyr – mit Ypsilon.« »So wie Satyr?«, fragte Scobee spöttisch. »Und Kentaur«, ergänzte Assur, die gut zugehört hatte. »Hört sich alltagstauglich an – gekauft«, akzeptierte Cloud den Vorschlag auf Anhieb. Dem Wortgeplänkel, das Jarvis, Scobee und andere untereinander fortsetzten, schenkte er kaum noch Beachtung. Er war ganz in das Geschehen vertieft, das eine der Sonden dort unten auf der einzigen Sauerstoffwelt des Systems aufgenommen hatte. Kentyr. Warum hatte Charly – oder das, was sich seiner Gestalt bediente – sie unbedingt hierher schicken wollen? Was gab es auf Kentyr, das vielleicht nicht einmal sie, sondern nur Charly interessieren konnte? Wir werden es herausfinden, dachte er. Und vielleicht erfahren wir es sogar aus erster Hand – ich glaube nicht, dass Charly sich auf Dauer mit der Rolle des Unsichtbaren begnügt. Wobei … vielleicht stimmte es ja, dass er die ganze Zeit unter ihnen war und auch jetzt mit ihnen auf die Bilder schaute, die von Kentyr übertragen wurden. Vielleicht steckte er tatsächlich in jeder einzelnen der düsteren Fi-
guren, die den propagierten Aggressor darstellten …
10. Immer mehr Daten trudelten von Kentyr ein. Aber keinerlei Hinweis auf etwas, das die Kometeneinschlagtheorie auch nur vage genährt hätte. »Eine karge Welt … zumindest, was den Hauptkontinent angeht«, dozierte Scobee. »Dort scheint der Boden extrem ertragsarm zu sein. Das bisschen Landwirtschaft und Viehzucht, das man beobachten kann, deckt bestimmt nicht einmal den Bedarf eines Zehntels der Bevölkerung – und die ist nicht einmal wirklich zahlreich. Hochrechnungen aufgrund der von den Drohnen gelieferten Zahlen haben eine vermutliche Bevölkerungsgröße von gerade mal zehn Millionen ergeben.« »Das ist wirklich wenig«, kommentierte Assur. »Wenn ich es nur mit den Angkwelten vergleiche – und dort hatten wir Menschen verdammt wenig Zeit, uns zu vermehren und auszubreiten.« »Der Mensch ist nun mal sehr fortpflanzungswillig«, sagte Jarvis, »das muss bei den Pferdetypen ja nun nicht unbedingt der Fall sein … beziehungsweise ist es offenbar definitiv nicht.« »Nenn sie nicht so abfällig«, echauffierte sich Assur. »Sie heißen Kentyrer – zumindest solange wir nicht wissen, wie sie sich selbst und ihren Planeten nennen. Der Vorschlag stammt übrigens von dir.« »Du nimmst ihn viel zu ernst«, versuchte Cloud, die Wogen zu glätten. »Und du lässt ihm alles durchgehen«, konterte Assur. »Deshalb ist er ja so anstrengend.« Für diese Bemerkung fing sie beifällig Blicke von Scobee auf. »Offenbar solltest du dich wirklich etwas zügeln, sonst hast du die geballte Frauenpower gegen dich«, wies er Jarvis, immer noch mehr spaßhaft, auf drohendes Ungemach hin und nickte in Scobees und Assurs Richtung.
»Hey, du hast jemanden vergessen …« Die in den letzten Jahren schon merklich erwachsener gewordene Mädchenstimme gehörte unüberhörbar Aylea. Offenbar wollte sie in Sachen Frauenpower in nichts nachstehen. »Du siehst, es ist wirklich ernst …« Jarvis nickte scheinbar einsichtig. »Da bleibt mir wohl nur der Rückzug.« Nicht nur Cloud, auch die Frauen der Runde sahen ihn erstaunt an. So schnell lenkte Jarvis im Allgemeinen nicht ein. »Oder vielleicht nenne ich es besser Flucht.« Sein Scheingesicht grinste. »Kapier ich nicht«, seufzte Aylea. »Erklärt mir mal jemand die Pointe?« »Ich wüsste selbst gern, was er meint«, erwiderte Cloud. »Also, Mister Fettnäpfchen-Versenker?« »Ganz einfach«, sagte Jarvis. »Ihr braucht ganz offenbar eine Pause von mir, deshalb schlage ich vor, ich verbinde das Nützliche mit dem noch Nützlicheren und …« Pause. Fragende Blicke seinerseits in die Runde, ob wohl jemand darauf kam, was er wollte. »Und?«, drängten Scobee und Assur unisono. »… und mach mich auf die Socken.« »Und das bedeutet?« Cloud musterte ihn eindringlich. Jarvis blickte demonstrativ in die Holosäule, auf die von Kentyr eingehenden Bilder. Und plötzlich fiel der Groschen. Cloud schüttelte den Kopf. »Das würde dir so passen.« »Was will er?«, fragte Assur. »Das, was er immer will.« Cloud sah aus dem Augenwinkel, dass Jarvis sich aus seinem Sitz erhob und hinter ihn trat. Er drehte den Kopf. »Seht ihn euch an, dann geht euch auch ein Licht auf.« Alle Blicke gingen zu Jarvis. Der nicht mehr wie Jarvis aussah. Für Uneingeweihte hätte es so aussehen können, als hätte die Fabeltech-
nik der RUBIKON einen der Kentyrbewohner an Bord gehievt. Tatsächlich bemühte Jarvis nur einmal mehr seinen Illusionskristall. »Nicht unattraktiv«, kommentierte Scobee seine Erscheinung launisch. »An den Details musst du noch etwas feilen, zum Beispiel ist dein Gemächt schon etwas übertrieben … Männerfantasien halt. Aber sonst. Die Hörner, die du dir selbst aufgesetzt hast, könnten hingegen noch etwas Länge vertragen …« Selbst Aylea, die Scherzen in dieser Richtung normalerweise wenig abgewinnen konnte, grinste bei Scobees Worten. Auch Jarvis trug es mit Humor. »Pah. Und schon wieder spricht der Neid aus dir!« »Ganz sicher.« Kopfschüttelnd blickte Scobee zu Cloud, wartete offensichtlich darauf, dass er ein Machtwort sprach. »Du bist also der Meinung, der geeignete Mann zu sein, um sich ein wenig vor Ort umzusehen?« »Es gibt keinen Besseren«, übte sich Jarvis in gewohnter Bescheidenheit. »Ist außer ihm noch jemand dieser Ansicht? Ich meine das jetzt ernsthaft.« Zuerst wollte niemand die Hand heben. Aber nachdem sie offenbar glaubten, Jarvis lange genug schmoren gelassen zu haben, meldeten sich immerhin vier von sieben Anwesenden, darunter zu Clouds Überraschung sogar genau die drei weiblichen Crewmitglieder, die ihm eben noch Saures gegeben hatten. Am Ende hob auch er selbst den Arm. »Dann wäre es ja beschlossen«, sagte er und forderte Sesha beiläufig auf, ein Erinnerungsfoto von Jarvis' Gesicht zu schießen. »Du wirst uns verlassen. Wie lange brauchst du, um dich perfekt zu stylen?«
Er brauchte nicht lange. Das Feintuning war eine Sekundenangelegenheit – nachdem ihn Sesha mit einem Konzentrat aus möglichen Kentyr-Vorlagen versorgt hatte. Jarvis entschied sich aus lieber Gewohnheit – und weil die Beob-
achtungen ergeben hatten, dass durchaus die Herren auf Kentyr das Sagen hatten – für eine männliche Maske. Noch erledigte sich dann die Verbringung auf den Planeten. Eine Hafenstadt hatte sich rasch als pulsierende Metropole herausgestellt. Hier schienen die meisten Schiffe von insgesamt acht um den Kontinent verteilten Anlegepunkten anzukommen und wieder zu der entfernten Landmasse in See zu stechen, die im Gegensatz zu den bevölkerten Gebieten üppig bewachsen war. Der Lebensraum der Kentyrer erinnerte im Vergleich dazu, ähnlich wie die Sandfarbe der Häuser, eher an eine Wüstenei. Es würde unter anderen zu Jarvis' Aufgaben gehören, herauszufinden, warum die Kentyr-Kultur offenkundig nicht in der Lage war, ihren hauptsächlichen Lebensraum so sehr zu kultivieren und aufzubereiten, dass sie auf die Einfuhr der lebensnotwendigen Güter angewiesen waren. Für Außenstehende wie die RUBIKON-Besatzung formte sich das Bild einer Gesellschaft, die wenig weitblickend agierte, zumindest nicht, was das Lebenswichtigste anging: die tägliche Nahrung. Auf der anderen Seite musste der Logistik ein Kompliment ausgesprochen werden, die in der Lage war, Millionen von Kentyrern mit einer verhältnismäßig kleinen Flotte »von außerhalb« zu versorgen. So erklärte sich aber auch, dass selbst der Hauptkontinent fast ausschließlich an seiner Peripherie besiedelt war. Acht Großstädte verteilten sich dort. Ihre Bauten wirkten, als wären sie aus sandsteinbraunem Fels herausgeschlagen worden, und kein Gebäude war höher als dreistöckig. Dafür verteilten die Häuser sich über beeindruckende Flächen, und zur Hafenseite hin sah es so aus, als würden die Häuserzeilen mancherorts bis ins Meer hineinwachsen. »Was ist mit Fischfang?«, hatte Jarvis sich bei Sesha erkundigt, während er letzte Hand an sein Inkognito legte. Die um ihn herum projizierten Spiegelflächen zeigten ihm ein Resultat, das sich sehen lassen konnte – auch wenn er selbst das Gefühl hatte, ein ihm völlig und in keiner Weise nahestehendes Geschöpf zu betrachten.
»Die Beobachtungsdrohnen konnten keine Hinweise auf eine diesbezügliche Industrie feststellen«, hatte die KI erwidert. »Es gibt hier und da kleinere Boote von Kentyrern, die in entlegeneren Küstenregionen, fernab der Großstädte, leben. Sie fahren offenbar regelmäßig hinaus und werfen ihre Netze aus. Aber was als Ertrag festgestellt werden konnte, reicht wahrscheinlich oftmals kaum, um eine Familie zu ernähren. Ich habe auch Sonden durch die Ozeane geschickt. Das Resultat ist ernüchternd: Es gibt Leben darin, aber es ist so schwach über die gesamte Weite verteilt, dass sich der Aufwand herkömmlicher Fangmethoden niemals rechnen kann.« »Ist das nicht ungewöhnlich?«, fragte Jarvis. »Es ist ungewöhnlich«, bestätigte Sesha. »Wobei es an der Wasserqualität nicht liegen kann. Die ist extrem gut.« »Ein Planet, der das Leben auf sich klein hält … So zumindest erweckt es den Eindruck. Wann hatten wir das denn schon mal?« »Mir stehen keine Daten zur Verfügung, die einen anderen, vergleichbaren Fall beinhalten. Aber ich betone noch einmal: Es liegt nicht an der mangelnden Qualität von Boden, Wasser oder Luft. All diese Parameter erfüllen selbst höchste Ansprüche.« »Also ein Rätsel.« »So muss man es wohl nennen.« »Ich will sehen, ob ich etwas Licht ins Dunkel bringen kann. Bislang gab es nicht den geringsten Hinweis auf etwas … auf Geschöpfe, die dem ähneln, was uns Charly aufs Auge gedrückt hat?« »Auge gedrückt?«, echote Sesha. »Mach mich nicht ärgerlich. Du weißt genau, wovon ich spreche.« »Ich wurde angehalten, an deiner Ausdrucksweise zu feilen.« »Vergiss es. Die gehört mir. Die macht mich zu einem Unikat, und darauf lege ich Wert.« »Mit dieser Einstellung wirst du als Kundschafter Probleme bekommen.« »Abwarten, Baby. Wann bekomme ich das Sprach-Update?« »Wurde übertragen«, erwiderte die KI, und tatsächlich bemerkte Jarvis die entsprechende Programmerweiterung in seiner Nanosubstanz.
»Gut, dann gehe ich jetzt in die Zentrale – mich verabschieden.« Sesha schwieg. Jarvis verschob sein neues, noch gewöhnungsbedürftiges Gesicht zu einem sardonischen Grinsen.
Er rechnete mit keinem Zwischenfall. Nicht, solange er sich noch an Bord befand. Wie es dann auf Kentyr weitergehen würde, musste sich zeigen, aber hier, auf der RUBIKON … Entsprechend kalt »erwischte« es ihn. Auch wenn es harmlos und im grünen Bereich begann. »Pass auf dich auf!«, gab ihm John in der Bordzentrale mit auf den Weg. Andere verabschiedeten sich ähnlich, der eine persönlicher, der andere etwas reserviert. Die ganze Palette an Charakteren war vertreten. Und genau das schätzte Jarvis an seinen Gefährten. »Wird schon schiefgehen«, meinte er. Die Daten, die er für seinen Sprung benötigte, hatte er sich verinnerlicht. Ziel war die Hafenstadt Feool. Die größte Stadt Kentyrs. In dem dortigen Treiben lief Jarvis am wenigsten Gefahr, demaskiert zu werden. Zumindest war das die Theorie. Er hob den Arm für einen letzten Gruß vor dem Aufbruch. Dann leitete er einen Abgang ein, wie nur er ihn beherrschte. Sein Nanokörper bereitete sich auf die Transition vor. Um es stilecht zu gestalten, scharrte er nervös mit den Hufen. Dann – Die Transition zerlegte seinen Körper, um ihn durch den Hyperraum zu schicken und am Zielort wieder zusammenzusetzen. Doch bevor das Bild der Umgebung wechselte, schnappte Jarvis noch einen letzten Eindruck aus der RUBIKON-Zentrale auf. Die Sinne seines Kunstkörpers bemerkten eine auffällige Veränderung bei den Sitzen. Bei seinem Sitz, der im Regelfall für ihn reserviert war. Irgendetwas tat sich dort … veränderte sich …
… und dann raste etwas auf Jarvis zu … … den Bruchteil einer Sekunde, bevor der Sprung ihn aus der RUBIKON entfernte … … und in Feool neu erstehen ließ …
»Verdammt!«, fluchte Cloud. Er hatte es gesehen. Wie zwei dunkle Blitze hatte er es in Jarvis fahren sehen, just als dieser entmaterialisierte. »Was war das?«, rief sofort auch Assur. Die anderen besprachen sich untereinander, einige hatten »etwas« bemerkt, waren sich aber nicht sicher, ob sie einer optischen Täuschung erlegen waren, oder ob es sich um einen realen Vorgang gehandelt hatte. Im Grunde mussten sie nur zu Jarvis' Kommandositz blicken. Dort hatte sich etwas verändert. Als Einziger der sieben Sitze – waren seine Lehnen jetzt verwaist. Die Figuren waren verschwunden. Sie waren es gewesen, was Cloud wie Blitze in den Kentaurenleib des Freundes hatte fahren sehen. »Es hat die Gelegenheit beim Schopf gepackt«, seufzte Scobee. »Hat die Mitreise-Gelegenheit genutzt …« Offenbar hatte sie klarer als die meisten in der Zentrale verstanden, was gerade passiert war. Zumindest sprach sie genau das aus, was auch Cloud befürchtete. »Dann sind wir … hereingelegt worden?«, fragte Aylea. »Zumindest wurde versäumt, nachzuhören, ob Jarvis – oder ich – einverstanden ist mit einem so gestrickten Begleiter …«, sagte Cloud. »Sesha?« »Commander?« »Hast du verlässliche Daten, ob Jarvis planmäßig rematerialisiert ist?« »Die Gefügeerschütterung wurde am geplanten Wiedereintauchpunkt anmessen.«
»Dann scheint wenigstens das geklappt zu haben – stell eine Verbindung zu ihm her. Sofort. Falls er nicht bemerkt hat, was passiert ist, muss er gewarnt werden.« »Stelle Verbindung her … Du kannst sprechen, Commander.« Cloud zögerte keinen Moment. Er nickte grimmig. »Jarvis, hörst du mich?« »Klar und deutlich, John.« »Hast du es mitbekommen – im Moment deiner Entstofflichung? Wir fürchten, es hat dich noch erwischt.« »Da war etwas – aber was? Wisst ihr Näheres. Für mich sah es aus, als ob –« »Zwei der Figuren, die uns Charly hinterließ, scheinen sich dir angeschlossen, an dich dran gehängt zu haben – so zumindest sah es für uns aus.« »Hm, das deckt sich mit meiner Beobachtung. War mir aber nicht sicher …« »Es sah aus, als bohrten sie sich in dich hinein.« »Nichts gespürt.« »Siehst du sie irgendwo?« »Nein. Aber ich stehe hier ungünstig. Überall laufen Kentyrer. Ich melde mich später wieder. Muss mir erst mal ein ruhiges Plätzchen suchen.« »Okay, aber spann uns nicht so lange auf die Folter- und sieh dich vor dem Zeug vor. Vielleicht … ich will den Teufel nicht an die Wand malen, aber … vielleicht steckt es in dir drin. Hast du die Möglichkeit, das abzuklären, dich selbst zu scannen?« »Die Verbindung wird schlechter, John. Ich sehe zu, was sich machen lässt. Aber auch wenn ihr eine Weile nichts von mir hört: Nicht die Nerven verlieren, keine übereilten Reaktionen. Ich mach das schon. Ich bin der Spezialist für Risikoeinsätze … Bis später!« »Ich würde eher sagen, er ist das Risiko. Ob es wirklich so klug war, ihn damit zu betrauen, sich auf Kentyr umzusehen?«, murmelte Assur laut genug, dass alle auf dem Kommandopodest es hören konnten. »Du unterschätzt ihn«, ergriff Scobee unerwartet Partei für den
Freund. Cloud nickte. »So sehe ich das auch.« An die KI gerichtet fragte er: »Sesha, besteht noch Kontakt?« »Wurde unterbrochen.« »Von Jarvis?« »Negativ. Innerhalb der Stadt, in die er gesprungen ist, befinden sich Störquellen. Wenn er ihnen zu nahe kommt, wird es schwierig sein, die Verbindung aufzubauen oder aufrechtzuerhalten.« »Welcher Natur sind diese Quellen? Kentyr erweckt für mich – bislang zumindest – nicht den Eindruck einer Welt mit höher entwickelter Technologie – und bräuchte es nicht solche, um Funkverbindungen auf unserem Übertragungslevel erfolgreich zu stören?« »Es könnte sich auch um natürliche Ursachen handeln«, widersprach Sesha. »Bestimmte Erze schwingen in einem n-dimensionalen Bereich. Dafür gibt es etliche Beispiele. Was spezifisch auf Kentyr infrage käme, kann ich gegenwärtig nicht beantworten. Hinsichtlich dieser Dinge fehlt es an Detailinformationen.« »Ich möchte, dass du eine der Drohnen in Jarvis' Nähe platzierst. Erstens kann sie vielleicht als Verstärkerrelais dienen, und zweitens können wir von ihr vielleicht im Gefahrenfall rechtzeitig Meldung erhalten, um noch zu reagieren.« »Drohne mit Deflektorabschirmung wurde ins Zielgebiet entsandt. Ankunft letzte Position von Jarvis – drei Minuten.« »Hat sie eine Signatur, die ihr hilft, ihn zu lokalisieren?«, warf Scobee ein. Sesha bejahte. Scobee blieb skeptisch.
11. Jarvis war optimistisch. Wenn er an einem nicht krankte, dann an mangelndem Selbstbewusstsein, was seine »Agentenfähigkeiten« anging. Er betrachtete sich als Meisterspion. Dass die Funkverbindung zur RUBIKON instabil war, beunruhigte ihn nicht. Noch nicht jedenfalls. Was ihn allerdings beunruhigte, war das, was er selbst und die Zentralebesatzung im Moment der Transition beobachtet hatten. Zwei der insgesamt vierzehn Figuren aus Nabiss-Substanz schienen den Versuch unternommen zu haben, sich an ihn zu heften – um mit ihm nach Kentyr zu gelangen? Er konnte sie nicht ausmachen. Weder an sich noch in sich oder in der unmittelbaren Umgebung. Vielleicht hatten sie sich an ihn heften wollen, aber offenbar war das Bemühen nicht von Erfolg gekrönt gewesen … Er entschloss sich, die Gedanken an den Zwischenfall vorerst ruhen zu lassen. Er bewegte sich mit der gebotenen Vorsicht durch die Gassen der Pueblohafenstadt. Wohin er blickte, waren Kentyrer unterwegs. Eine sympathische Eigenschaft der Planetenbewohner war, dass sie stets großen Abstand zwischen sich und anderen hielten – offenbar ein Zeichen der Höflichkeit. Jarvis kam dies entgegen. Seine Maske saß, war nahezu perfekt, auch mit der Sprache traute er sich zu, geschickt zu jonglieren. Was ihn verraten konnte, waren Berührungen, ob beabsichtigt oder zufällig. Aufmerksam verfolgte er die Gespräche Vorbeiziehender. Die meisten strebten zur Hafenmole oder kamen von dort; manche zogen Karren hinter sich her, die schwer beladen mit Früchten und Gemüse waren, Waren, die offenbar zur gelöschten Fracht eines Schiffes gehörten. Obwohl auch Jarvis die Farbe imitierte, die die Leiber der Kenty-
rer, unabhängig vom Geschlecht, bedeckte, wusste er immer noch nicht, was für eine Bewandtnis es damit hatte. Diente sie tatsächlich als Kleidungsersatz? Jarvis zweifelte daran, immerhin sah er auch Kentyrer, die zur Farbe noch Accessoires trugen, vornehmlich breite Ledergürtel, in denen die unterschiedlichsten Gegenstände – Werkzeuge oder Waffen – steckten. Er überlegte, ob er eine Probe der Farbe entnehmen sollte, um sie mit körpereigenen Mitteln zu untersuchen. Doch dazu hätte er in engen Kontakt mit einem Kentyrer treten müssen, und die Reaktion auf eine solche Aktion war fragwürdig. Absichtlich ließ er die stark frequentierten Bereiche der Stadt hinter sich und suchte weniger bevölkerte Bereiche auf. All seine Sensoren waren mit der Aufnahme von Eindrücken beschäftigt, und zwischendurch versuchte er immer wieder, Kontakt zur RUBIKON herzustellen, zu Sesha oder gleich zum Commander. Bislang vergeblich – und je länger er durch die Straßen irrte, desto unwahrscheinlicher erschien es ihm, dass bloßer Zufall die Verbindungsaufnahme störte. Ganz zu Anfang hatte es doch auch geklappt. Plötzlich erhielt er eine Peilung. Er antwortete auf der gleichen Frequenz und erkannte, dass ganz in der Nähe eine Drohne unterwegs war. Sie gab ihm zu verstehen, dass sie als Relais benutzbar sei. Aber als er sie nutzen wollte, um sich mit der RUBIKON zu verbinden, geschah etwas Merkwürdiges: Ein letztes Identifikationssignal seitens der Sonde … und dann herrschte abrupt Stille im Äther. Dem Gefühl nach hätte Jarvis geschworen, dass der Abbruch aus einem einzigen Grund stattgefunden hatte – weil die Drohne aufgehört hatte zu existieren. Aber wer auf Kentyr sollte in der Lage sein, ein so hochwertiges Gerät abzuschießen – oder sein Tarnfeld überhaupt zu durchschauen? »Suchst du etwas?« Jarvis schrak unwillkürlich zusammen. Vor ihm stand eine Kentyrerin. Ihr Blick ging ihm durch und durch – was um so verwunderli-
cher war, da Jarvis diesbezüglich eigentlich alle Sensibilität eingebüßt hatte. Ihm ging nichts mehr »durch Mark und Bein«, Emotionen schlugen sich im Allgemeinen nicht mehr auf seine Körperlichkeit nieder – seit dieser Körper aus einem Hightech-Konstrukt bestand und keinerlei organische Bestandteile mehr hatte. Trotzdem bannte ihn der Frauenblick, und er geriet sogar ins Stottern. »N-nein. Wieso?« »Es sah so aus.« Ihre Stimme war wohlklingend. »Aus welcher Stadt bist du? Nicht von hier, das sieht man schon an deiner Farbe.« Seine Fell- und Hauttönung – Fell, was den vierbeinigen Rumpf anging und Haut, was den Oberkörper samt Kopf und Armen betraf – war dem Zufall geschuldet. Sie hatten einfach eine der vielen Farben herausgepickt, die von den Drohnen als gebräuchlich ermittelt worden waren. Offenbar keine lokale Mode. »Von weit aus dem Norden.« »Aus Vurrt?« »Ja«, sagte er, »aus Vurrt. Warst du auch schon einmal dort?« »Warum sollte ich?« »Aus demselben Grund, warum auch andere Kentyrer reisen – wie beispielsweise ich. Reisen bildet.« Er fürchtete, dass er sich gerade um Kopf und Kragen redete. Und zumindest in einer Sache hatte er sich tatsächlich in der Wortwahl vergriffen. »Kentyrer?« Das Gehörn der Frauen schien um die Hälfte kürzer und schmaler zu sein als das der männlichen Exemplare, wie Jarvis eines verkörperte. »W-wir nennen uns so im Norden.« »Nicht Salmonen?« »Auch. Doch. Es ist mehr … ein Klansname.« »Ich habe nie davon gehört. Oder stehst du in Verbindung mit den Ordenssuchern?« Er bejahte, ohne zu wissen, ob er seiner Glaubwürdigkeit damit endgültig das Grab schaufelte. »Wirklich?« Sie schien beeindruckt. »Du hast allerdings tatsächlich die Ausstrahlung, die man ihnen nachsagt – du wirkst so beeindru-
ckend geheimnisvoll. Was treibt dich nach Feool?« »Die Suche«, improvisierte er. »Natürlich die Suche – aber was konkret? Warst du schon beim Mahnstein?« »Ich fand … den Weg noch nicht.« Sie legte den Kopf schief. Seine Antwort schien sie zu verwirren. Es hatte fast den Anschein, als wüsste jedes Kind nicht nur in Feool, sondern auch über die Stadtgrenzen hinaus, was ein Mahnstein war und wo man ihn antreffen konnte. »Ich bin auch dorthin unterwegs«, sagte die Salmonin. »Wenn du willst, begleite mich.« »Es macht dir nichts aus?« »Es wäre mir eine Ehre.« »Ehre …« Jarvis merkte kaum, wie ihm das Wort von den Lippen kam. »Du bist zu freundlich, wie heißt du?« »Ora. Wie die Sagenumwobene.« Jarvis wüsste nicht, von welcher Sage die Rede war. »Ein schöner Name. Und damit … passend.« »Du bist reizend.« Sie lachte. »Wenn du willst, gehen wir anschließend noch ins Gatter.« Was meinte sie damit? »Ich überlege es mir.« Wieder dieser seltsame Blick, als hätte er keine für sie nachvollziehbare Antwort gegeben. Sie liefen in respektvollem Abstand zueinander durch die breite Gasse. Immer wieder begegneten sie Salmonen, und einmal … »Hast du das auch gesehen?« Verwirrt war er stehen geblieben und zeigte zu einer Stelle wenige Meter voraus. Dort war eben noch ein männlicher Salmone gegangen. »Der Mann. Er verschwand gerade – vor meinen Augen!« Ihre Augen schienen sich mit Tränen zu füllen. »Du … du weißt, dass man darüber … nicht spricht. Bitte.« Sie gingen weiter. Nach einer Weile, in der Jarvis fieberhaft nach einer Erklärung für das spurlose Verschwinden des Salmonen gesucht hatte, schien sich Ora wieder beruhigt zu haben.
»Und dein Name, Sucher?«, fragte sie. »Benkk«, log er. Konnte das Verschwinden des Mannes mit dem zusammenhängen, was die Drohne zum Schweigen gebracht hatte? Er beschloss, künftig noch mehr auf der Hut zu sein. »Ich hatte einen Alpha-Freund, der so hieß. Aber das ist schon Jahre her.« Jarvis/Benkk ging nicht näher darauf ein. »Gab es in letzter Zeit ungewöhnliche Vorkommnisse in Feool?«, fragte er stattdessen. »Du suchst Auffälligkeiten, die dir eine Spur zeigen könnten?« Ora lächelte. »Ich kenne mich ein wenig aus in den Gepflogenheiten und Vorgehensweisen der Ordenssucher. Früher wollte ich selbst eine werden. Es ist ein faszinierendes Gebiet.« »Das ist es. Erzähl mir mehr darüber. Was hat dich bewogen, dich dafür zu interessieren? Und was denkst du … wurde aus dem Orden, dass er sich jeder Entdeckung entzieht?« Alles, was er sagte und fragte, beruhte auf einer Extrapolation dessen, was Ora ihm als Vorlage lieferte. Offenbar stellte er sich nicht ganz ungeschickt an. Ora geriet ins Schwärmen … und wurde redselig. Nach und nach erfuhr Jarvis, dass es sich bei dem Orden, der von Salmos Bildfläche verschwunden war – schon vor vielen Generationen – offenbar um eine Gemeinschaft gehandelt hatte, die dem irdischen Rittertum verwandt waren. Offenbar war es das erklärte Ziel des Ordens gewesen, den Salmonen, die vor Zeiten im Elend zu versinken drohten, den Weg in eine lebensweitere Zukunft zu ebnen – was ihnen, Ora zufolge, auch tatsächlich gelungen war. Der Orden hatte die Nahrungsreichtümer jenes Subkontinents erschlossen, der die einzige weitere bedeutende Landmasse auf Salmo/Kentyr bildete. Doch dann, als alle Maßnahmen getroffen und Schwierigkeiten aus dem Weg geräumt waren, um eine permanente Seeverbindung zwischen beiden Landen einzurichten, war der Orden unter der Führung ihres Begründers Ferenc – dessen Weib jene sagenumwobene Ora war – von einem Tag auf den anderen aus der Wahrnehmung der Bevölkerung verschwun-
den. Das Erbe des Ordens aber lebte seit vielen Generationen fort, die Verbindung nach Abadon, wie der Garten Eden der Salmonen hieß, war kontinuierlich ausgebaut worden. Heutzutage, versicherte Jarvis' Führerin durch Feool, musste kein Salmone mehr lebensbedrohliche Not leiden. All das hörte sich gut an. Und Jarvis begann allmählich auch zu verstehen, dass die Ordenssucher eine geachtete Bewegung innerhalb der salmonischen Gesellschaft waren. Erklärtes Ziel war es, wie der Name schon verriet, etwas über den Verbleib der Ordensangehörigen, allen voran Ferenc, vor Jahrhunderten herauszufinden. Die Sucher waren auf ihre Art eine Mischung aus Gralssuchern und Archäologen. Sie durchkämmten Stadt und Land und hofften auch nach langer Zeit des Misserfolgs immer noch, eines Tages das Schicksal der Legendären klären zu können. Irgendwie kam es Jarvis so vor, als wären alle Salmonen im Geiste noch Waisen, die erst ihren Frieden finden konnten, wenn sie etwas über ihre leiblichen Eltern in Erfahrung bringen konnten, die sie nie bewusst kennengelernt hatten. Das erklärungsfreie Verschwinden des Ordens schien das Trauma auf diesem Planeten zu sein. Nur – was hatte das alles damit zu tun, dass Charly die RUBIKON hierher gelotst hatte? Jarvis schaffte die Gratwanderung, sich einerseits ohne großen Verdacht zu wecken mit Ora zu unterhalten und andererseits unentwegt an einem Verbindungsaufbau zur RUBIKON zu arbeiten, um einen Zwischenbericht zu erstatten. Allerdings war ihm bei Letzterem kein Erfolg beschieden. Und was Ora betraf … sie sagte völlig überraschend: »Wir sind da. Der Mahnstein … Du wolltest doch zu ihm.«
»Was ist mit der Drohne passiert?«, wandte sich Cloud beunruhigt an Sesha. »Du hattest versprochen, dass wir auf diese Weise Kontakt
zu Jarvis aufbauen können. Stichwort Relaisfunktion …« »Die Drohne ist aus meiner Wahrnehmung verschwunden. Abrupter als bei der Verbindungsunterbrechung mit Jarvis. Die Umstände lassen ein gewaltsames Ende nicht ausschließen.« Cloud glaubte sich verhört zu haben. »Du meinst, die Sonde wurde abgeschossen?« »Über die genaue Terminologie lässt sich streiten«, erwiderte Sesha. »Aber im Resultat läuft es darauf hinaus.« »Unsere bisherigen Beobachtungen«, mischte sich Scobee ein, »lassen nicht den Schluss zu, dass die Kentyrer technisch ausreichend bewandert wären, um so etwas zu vollbringen, auch nicht waffentechnisch. Zumal die Drohne doch unter einem Tarnfeld lag, oder?« Die KI bestätigte beides. »Entsende eine neue Drohne. Schütze sie mit einem Energieschild.« »Dafür sind die auf dem Planeten aktiven Drohnen nicht ausgelegt. Ich starte eine neue, modifizierte.« »Tu das«, sagte Cloud. Auf seiner Stirn waren tiefe Furchen zu sehen. »Du machst dir Sorgen«, sagte Assur. »Natürlich mache ich mir Sorgen. Jarvis ist ein Draufgänger. Aber er ist Jarvis. Will sagen: Er ist derjenige von uns allen, der sich am besten in einer völlig fremden Umgebung behaupten kann – und der auch am widerstandsfähigsten ist. Seine robotische Seite schützt ihn vor vielem. Aber auch nicht vor allem. Den zeitweiligen Verlust des Kontakts kann ich verschmerzen, aber wir haben jetzt auch den Verlust von etwas zu beklagen, das sich im Rahmen seiner Mission eigentlich auch seiner ›Haut‹ hätte erwehren können müssen.« »Die Drohne.« »Exakt.« »Oberflächlich betrachtet handelt es sich bei den Kentyrern um keine Zivilisation, die nach unseren üblichen Maßstäben – also technologisch – hochentwickelt wäre. Demzufolge dürfte sie auf Hochtechnologie auch nicht vorbereitet beziehungsweise in der Lage sein, Hochtechnologie gefährlich zu werden.«
»Der Verbindungsabbruch zu Jarvis hätte aber schon ein Indiz sein können …« Es war Scobee, die auf Assurs Einwand reagierte. »Können, durchaus. Aber wie schon Sesha ausführte, lassen sich dafür auch natürliche Umstände anführen. Nein, darauf konnten wir nicht unbedingt vorbereitet sein. Allerdings plädiere ich auch dafür, dass wir uns intensiver um Aufklärung und Ausschaltung potenzieller Gefahrenherde kümmern. Dazu zähle ich jedoch nicht nur die Dinge, die auf Kentyr geschehen, sondern auch das viel Näherliegende.« »Du spielst«, nahm Cloud den Faden auf, »auf unsere hausgemachten Probleme an.« Scobee nickte. »Jeltos Entdeckung. Dann das hier …« Sie wies erst auf die Figuren ihres Sitzes, dann auf die beiden freien Armlehnen von Jarvis' Sarkophag. »Oder auch …« Sie stockte kurz. »… Cy. Wir dürfen um Himmels willen Cy nicht vergessen! Wenn er recht hat, ringt er mit dem Tode!« Es war immer noch schwer vorstellbar, insbesondere aufgrund seines blühenden Erscheinungsbildes, dennoch gab Cloud Scobee im Stillen recht. Er sah sich um – sah über und hinter sich. Die Zentrale der RUBIKON war immer eine verlässliche Bastion gewesen, auch wenn sie nicht in jedem Fall dauerhaft gegen Feinde hatte gehalten werden können. Eine derart heimliche Invasion, wie sie gegenwärtig innerhalb des Schiffes vonstattenging, war jedoch einzigartig. Wenn er sich vorstellte, dass, wohin er blickte, unsichtbar bereits etwas wucherte, das nicht an Bord gehörte … und das bislang nur mit Jeltos Aurenlicht überhaupt wahrnehmbar war … nein, dann mochten sämtliche andere Probleme in ihrer Summe zwar relevant sein, in ihrem Ausmaß aber nicht annähernd an das heranreichen, was sich gerade im und am Schiff selbst tat … Er fragte sich, in was diese Veränderung kulminieren würde. Würde sie überhaupt zum Tragen kommen, überhaupt jemals sichtbar werden? Nicht einmal darauf gab es eine Antwort. Er wandte sich wieder Scobee zu. »Wenn du willst, geh zu Jelto
und Cy, kümmere dich – ich merke, dass es dir auf dem Herzen liegt.« Scobee nickte, erhob sich und ging. »Du und sie – ihr habt einen ganz speziellen Draht zueinander, stimmt's?«, fragte Assur, und es klang völlig eifersuchtsfrei. »Du magst sie. Ihr versteht euch blind.« »O ja«, erwiderte er, ohne sich gedrängt zu fühlen, nicht dazu zu stehen. »Wir mögen uns. Und das ist gut so.«
Der Mahnstein war etwas völlig anderes als Jarvis es erwartet hatte. Er war groß wie ein Haus. Massig. Kompakt. Alles daran strahlte Verlässlichkeit und Kraft aus. Auch wenn es eine unter der Oberfläche schlummernde Kraft zu sein schien. »Spürst du es?«, fragte Ora, die ein paar anderen Besuchern des Steins zuwinkte, als würde sie sie persönlich kennen. »Ja«, sagte er überwältigt. Wann hatte er beim Anblick von irgendetwas jemals so etwas empfunden? Etwas, dem es egal zu sein schien, ob sein Geist in einem leblosen Ding eingesperrt war und das ihn dennoch auch auf körperlicher Ebene berührte, wie er seit einer halben Ewigkeit nicht mehr be- und angerührt worden war. »Warum heißt es … Mahnstein?« Die Frage rutschte ihm heraus, bevor er es verhindern konnte. Zu beeindruckt war er vom Sturm der Gefühle, der in ihm tobte, als dass er sich noch hätte perfekt kontrollieren und zügeln können. Aber seine Frage schien außer leichter Verwunderung kein echtes Misstrauen in Ora zu wecken. Offenbar mussten Ordenssucher nicht unbedingt die Bedeutung des Steins kennen – oder aber sie fasste die Frage so auf, dass er hören wollte, was sie darüber wusste. »Er versiegelt den Quell, der unbeherrschbar ist«, sagte sie, jedes Wort offenbar wohl überlegt. Jarvis lächelte.
»Das ist alles?«, fragte er. »Er ermahnt uns zur Demut. Du weißt es, nicht wahr? Du hast tiefe Einblicke in alles, was mit dem Orden zusammenhängt … Eigentlich solltest du mich lehren – gern auch belehren. Ich sauge Wissen wie ein Schwamm in mich auf.« »Damit wirst du es weit bringen.« Von irgendwoher ertönte plötzlich eine Art Fanfarenstoß. Ein wenig erinnerte es auch an ein Nebelhorn. Ora legte den Kopf schief, lauschte. Kurz darauf ertönten in gleichmäßigen Abständen noch fünf weitere dieser Töne. »Ich wusste nicht, dass es schon so spät ist«, sagte sie bedauernd. »Schade. Ich hätte mich gerne noch mit dir unterhalten. Du bist ein interessanter Mann. Für das Gatter bleibt nun auch keine Zeit mehr …« »Wohin musst du so eilig?« »Zum Schiff. Ich gehöre zur Mannschaft der Faros, die heute in See sticht. Es werden Wochen vergehen, bis wir zurückkommen. Wirst du dann noch da sein?« Er zögerte zu lange mit einer Antwort, deshalb gab sie sich selbst die, von der sie annahm, dass es die richtige sei. »Wohl kaum. Ein Sucher hält sich nie lange an einem Ort auf. Es sei denn, er verfolgt eine vielversprechende Spur.« »Vielleicht tue ich das.« Er schalt sich, ihr Hoffnungen zu machen, aber im Angesicht des Mahnsteins verhielt er sich noch impulsiver als sonst. »Wohin stecht ihr in See?« Diese Frage schien sie zu verwirren, Misstrauen zu wecken. »Wohin reist ein Schiff?«, fragte sie. »Es gibt doch nur ein Ziel.« Er lächelte, wie er hoffte entwaffnend. »Ich weiß, entschuldige. Ich bin etwas durcheinander. Der Stein …« Der Argwohn verflog aus ihren Zügen. »Ich weiß. Das finde ich so spannend an dir. Du wirkst viel sensibler als die Männer, die ich sonst kennenlerne … Es ist schade, aber …« Sie machte eine entsagungsvolle Geste. Dann wandte sie sich dem Mahnstein zu und schmiegte ihren Oberkörper mit den vollen Brüsten und die linke
Wange dagegen. Gleichzeitig sah es aus, als versuche sie den mächtigen Stein zu umarmen. Das Bild schürte einen Anflug von Wollust in Jarvis, ohne dass er sich dessen erwehren konnte. Er seufzte. Sie löste sich von dem Monument und kehrte zu ihm zurück. »Das wird mir die nötige Kraft und Zuversicht geben«, sagte sie mit kehliger Stimme. »Eine Reise ist eine Reise, man weiß nie, ob einem die Winde gewogen sind …« Er nickte. »Eine Reise ist eine Reise …« Wie schön das klang. In diesem Moment wünschte er sich nichts sehnlicher, als noch länger mit Ora verweilen zu können. Doch sie durchschnitt das unsichtbare Band, das sich zwischen ihnen zu spannen schien. »Leb wohl. Alles Glück!« »Auch dir«, erwiderte er rau, »alles Glück.« Dann galoppierte sie davon.
12. Scobee fand Cy in seiner Privatkabine. Der Aurige öffnete ihr, nachdem sie mehrfach den Türsummer betätigt hatte. »Wieso bist du allein?«, wunderte sie sich. »Weil ich allein sein wollte.« »Aber wenn dir …« »Wenn mir etwas passiert?« Cys Blätter raschelten, und seltsamerweise fiel Scobee erst in diesem Moment auf, dass er aussah wie der alte Cy. Sie erschrak. Oder war es eher ein Grund zur Hoffnung? »Wo … sind deine Blüten geblieben?« »Willst du es wirklich wissen?« Sie nickte. Er zeigte mit einem Zweig ins Innere der Kabine. »Komm rein. Du musst nicht draußen stehen bleiben.« »Ich dachte schon …« Sie lächelte schal, weil auch der Witz schal war. Zögernd trat sie an ihm vorbei. Dort, wo Laub die Stelle markierte, an der Cy zu schlafen pflegte, mischten sich bunte Tupfer unter das Herbstbraun. »Sie sind abgefallen?« »Vor einer knappen Stunde«, bestätigte Cy. »Ich fühle mich seither sehr schwach. Als würde mich jede Minute ein Jahr kosten. Es geht bergab, es geht dem Ende entgegen. Das habe ich Jelto gesagt. Und er hat es respektiert, dass ich die letzte Phase für mich allein sein will.« Scobee hatte einen Kloß im Hals. »Willst du das wirklich?« Und für sich dachte sie: Warum hat Jelto uns nicht verständigt? Wie kann er so etwas allein entscheiden? Aber dann kam ihr ein gegensätzlicher Gedanke: Wie würde ich
reagieren, wenn ich an Cys Stelle wäre? Ist es nicht sein gutes Recht, selbst zu bestimmen, wie es enden soll? Sie fing an zu verstehen, warum Jelto den letzten Wunsch des Aurigen nicht torpediert hatte, indem er die Schiffsführung über die Verschärfung des Gesundheitszustands informierte. »Es ist verrückt. Wir kennen nach wie vor nicht den Grund für dein … dein Problem!« »Vielleicht ist das das Geheimnis des Universums«, sagte Cy. »Was?« »Dass nicht alles immer einen Grund braucht.« Sie wollte es nicht so hinnehmen. »Wir werden –« »Wenn du jetzt vielleicht wieder gehen könntest?« Zum ersten Mal fiel ihr auf, dass sich auch seine Blätter verändert hatten. Sie waren nicht mehr saftig grün, sondern an den Rändern gelbbraun, als wären sie am Zweig verdorrt. Sie spürte, wie sich alles in ihr zusammenzog. »Ich kann das nicht. Ich kann nicht zulassen, dass du dich einfach hinlegst und stirbst. Vielleicht ist es falsch, vielleicht begehe ich ein Unrecht, aber … nein! Verlang das nicht. Lass mich versuchen, dir –« Er drängte sie zur Tür. Sie spürte, wie viel Kraft es ihn kostete. »Bitte«, sagte er noch einmal. »Du gibst niemandem eine Chance, bei dir zu sein, wenn …?« »Aurigen sterben allein.« Sie merkte erst, als sich die Tür wieder hinter ihr schloss, dass sie draußen auf dem Gang stand. Wann hatte sie das letzte Mal Tränen in den Augen gehabt? »Verdammter Idiot!«, schimpfte sie. Aber sie wandte sich ab, ging wie betäubt zurück zur Zentrale … und überlegte fieberhaft, was sie den anderen sagen sollte.
Schon bald, nachdem sie weg war, kehrte Ernüchterung ein. Jarvis hinterfragte sein Verhalten. Es war absolut untypisch für ihn. Erst recht, dass er körperliche Reaktionen auf jemanden zeigte. Eine Erklärung dafür fand er nicht. Aber er entschied, sich fortan
wieder stärker auf seine eigentliche Mission zu konzentrieren. Als Erstes untersuchte der den Mahnstein mit den ihm zur Verfügung stehenden technischen Mitteln seines Nanokörpers. Schon die reine Form des Steins war auffällig. Der Koloss sah aus wie eine Kugel, die fast bis zur Hälfte im Boden versunken war. An der dicksten Stelle betrug ihr Durchmesser etwa zwölf Meter, davon steckten etwa fünf Höhenmeter im Erdreich. Es war keine perfekte Kugel, sondern es gab überall Buckel und Einbuchtungen, und an irgendein Bild aus ferner Vergangenheit – seiner persönlichen Vergangenheit – erinnerte es Jarvis. Er kam jedoch nicht darauf, worum es sich handelte. Das Material, aus dem der Mahnstein bestand, war aber das mit Abstand Bemerkenswerteste. Die Werte, die seine Sensoren einspielten, hatten frappante Ähnlichkeit mit etwas, das er erst kürzlich auf der RUBIKON auszuloten und zu scannen versucht hatte: der neue Charly. Und die Figuren, in die er sich aufgespaltet hatte. Er zuckte zusammen, als er Gelächter zu hören meinte. Das Erschreckende an dem Lachen war, dass es aus ihm selbst herauszukommen schien. Fast brutal brachte sich etwas in Erinnerung, das er wahrscheinlich schon viel zu lange ignoriert und ausgeblendet hatte – weil er nicht mehr daran erinnert werden wollte. Gib dich zu erkennen, Betrüger! Du treibst ein falsches Spiel mit uns, mit mir. Wer bist du wirklich und warum hast du uns hierher geschickt? Seine Gedanken wandten sich an das, was es offenbar doch geschafft hatte, mit ihm den Sprung nach Kentyr/Salmo zu vollziehen. Die beiden Figuren, die sich auf der RUBIKON im Moment der Transition an ihn geheftet hatten. Waren sie mit ihm verschmolzen? Waren sie Teil von ihm geworden? Aber wenn ja, warum hatte seine Hülle sich das gefallen lassen? Ich treibe kein falsches Spiel. Nicht einmal ein Spiel. Das hier ist blutiger Ernst. Und du hast erst einen Bruchteil der Problematik erkannt. Aber du bist auf einem guten Weg. Deine Schlussfolgerungen sind so weit richtig. Der Koloss ist identisch mit dem, was wir aus dem Körper des Nargen destillierten. Und woraus
ich mich formte, um bei euch sein zu können. Körperlich wie geistig. Und jetzt steckst du in mir? Ein Teil von mir, von uns. Ich traue dir nicht. Das ändert nichts. Woran. Dass du den begonnenen Weg fortsetzen wirst. Die eigene Neugier und dein Verantwortungsbewusstsein treiben dich dazu. Du glaubst, alles unter Kontrolle zu haben, was? Für dich bin ich nur eine Schachfigur … Ich will nur helfen. Ich wurde geschickt, um zu helfen. Dann hilf mir. Beweise, dass du es gut mit uns meinst. Wie sollte ich? Was hat es mit dem Koloss hier auf sich? Wieso ist er aus demselben Material, wie das Nabiss, das du aus Jiim herausgezwungen hast? Herausgezwungen? Das klingt wie ein Akt der Gewalt, aber es war Gnade. Er war ihm nicht gewachsen. Nur wenige sind das. Was seinem Jungen widerfuhr, war nur ein Aspekt. Noch Schlimmeres wäre gefolgt. Seid dankbar, dass der Fehler behoben wurde. Fehler? Schlimmeres? Wenn ich es richtig verstehe, redest du von Yael. Er ist kein Fehler – und alles andere als etwas, das Jiim bereuen müsste. Oder irgendwer sonst auf der RUBIKON! Davon war keine Sprache. Aber der, den ihr Yael nennt, ist mit ein Produkt dessen, was Jiim lenkte – dadurch hat er Gaben erlangt, die sich als zu mächtig erweisen könnten für einen wie ihn. Ein Nabiss wird gelenkt und benutzt, niemals darf dieses eherne Gesetz sich umkehren. Aber der Narge ist nicht schuld daran, er hätte die goldene Rüstung niemals erhalten dürfen. Der sie ihm gab, beging den Fehler, nicht der Empfänger. Der Ganf von dem Jiim erzählte? In der Toten Stadt auf Kalser? Dafür habt ihr einen Begriff: Schnee von gestern. Wichtig sind Gegenwart und Zukunft. Warum hast du uns nach Kentyr geschickt? Geht es um die Nabiss-Substanz hier vor uns, diesen Stein? Nein. Er zeigt nur, dass die Fährte richtig ist. Was für eine Fährte? Lass dich weiter von deinem Gefühl, deiner Intuition leiten. Du bist ein
bemerkenswertes Geschöpf. Und wo du fehl gehst … bin ja immer noch ich. Ich werde korrigierend eingreifen. Ich bin nicht mehr frei. Du hast mich – Nein, ich habe dich nicht versklavt. Ich bin bei dir. Das kann dir hilfreich sein. Ich will keine Situation heraufbeschwören, die für dich allein tödlich sein könnte – aber es ist nicht abwegig. Salmo … Kentyr … wie immer man diese Welt nennen mag … ist nicht harmlos. Und auch seine Bewohner sind längst zu Opfern geworden. Du wurdest bereits Zeuge des unheilvollen Einflusses, einmal kurz, aber du begreift noch nicht die Tragweite. Forsche weiter, betrachte deine Umgebung mit wachen Augen. Dann wirst du mehr Pervertiertes sehen. Mehr, das um sich greif und Unschuldige verschlingt. Die Bewohner dieser Welt stehen an einem Wendepunkt. Die Wurzel des Übels liegt weit in ihrer Vergangenheit … Zweitausend Jahre?, fragte Jarvis stumm. Ein sehr bemerkenswertes Geschöpf bist du. Dich zu schicken, mag ein Glücksfall gewesen sein. Du weißt mehr ab du zugibst. Warum hilft du mir dann nicht? Sag mir, worauf ich achten muss! Umso schneller sind wir am Ziel – wie auch immer es aussehen mag! Du irrst. Ich bin hier so fremd wie du. Ich nehme Dinge auf beobachte, ziehe meine Schlüsse. Aber alles, was ich weiß, habe ich durch dich erkannt. Ich traue dir nicht. Ja, so soll es denn sein. Aber jetzt – mach weiter. Folge deinem Gefühl. Es scheint seismische Kraft zu haben. Es hat längst begriffen, was zu tun ist. Sträube dich nicht dagegen. Lass die Zügel schießen … Plötzlich verdüsterte sich trotz guten Zuredens Jarvis' Stimmung. Eine Erkenntnis brach sich in ihm Bahn, und sie schürte Zorn. Du bist es! Ich bin was? Du bist es, der den Kontakt zum Schiff verhindert! Du brauchst die RUBIKON nicht. Sie wäre nur Ballast. Verlass dich auf deinen inneren Kompass. Und auf mich. Gemeinsam werden wir Erfolg haben. Das war gerade ein Schuldeingeständnis – oder? Der Unsichtbare schwieg.
Jarvis fluchte. Salmonen in der Nähe wurden aufmerksam, warfen ihm befremdliche Blicke zu. Offenbar hatte er in seiner Heimatsprache geflucht. Ohne nachzudenken, kehrte er dem Mahnstein den Rücken. Erst nach einer ganzen Weile wurde ihm bewusst, dass er ziellos durch die Gassen Feools geirrt war und vor ihm der Hafen lag. Plötzlich stieß er mit einem männlichen Salmonen zusammen, der auch nicht auf den Weg zu achten schien. Doch als der Zusammenstoß erfolgen musste und unumgänglich schien … … glitt der Salmone einfach durch Jarvis/Benkk hindurch. Flüchtig wie ein Gespenst, aber begleitet von einem haarsträubenden Gefühl, das Jarvis ähnlich durch und durch ging wie die Gefühle, die Ora in ihm geweckt hatte. Nur waren es diesmal Qualen, die er durchlitt. Ächzend wirbelte er herum und sah, wie der Salmone unbeirrt und unbeeindruckt weiterschritt und schon wenig später erneut mit jemandem zusammenprallte. Eine Frau. Sie schien auch einfach durch ihn hindurchzugehen wie durch einen Geist. Doch sie trat nicht auf der anderen Seite wieder heraus, wie Jarvis es geschafft hatte, sondern … verschwand in dem Gespenst … das seinerseits verschwand, sich auflöste … als hätte es nur das gebraucht: ein Opfer, das es verschlingen konnte. Nun war es satt – und fort. Jarvis stand wie erstarrt da. Unwillkürlich erwartete er … auch zu verschwinden. Aber er blieb. Er war offensichtlich anders. Du kommst ihm immer näher, kommentierte die Stimme in ihm. Wie sehr er das hasste! Am liebsten hätte er sich den Nanokörper aufgerissen und mit den bloßen Händen in sich gewühlt, bis er des ungebetenen Gastes habhaft wurde und ihm den Hals umdrehen konnte … Doch die Anwandlung verging. Er trabte weiter. Bis er vor einem Schiff ankam, das gerade ablegte.
An seinem Rumpf stand der Name: Paros. Jarvis sprang.
Kalser hatte nie besser ausgesehen. Das Kalser an Bord der RUBIKON. Jiim und Yael hatten nicht innegehalten, bis Sesha auch noch das letzte Detail wiederhergestellt hatte und Korrekturen beziehungsweise Ergänzungen eingebracht waren. Es war wohltuend, all die liebgewonnenen »Freunde« wieder um sich zu haben. Das kleine Baumdorf am Schrund rumorte vor Geschäftigkeit. Die einzigen realen Nargen weit und breit aber hatten sich nach kurzem Überlegen in die Lüfte geschwungen und waren in die Kälte hinausgeflogen. Ein Eispanzer überzog das Land abseits der besonderen Bedingungen am Schrund. In der Ferne ragten die Spitzen der Pyramidenbauten auf, die ahnen ließen, wozu Nargen einmal fähig gewesen waren. Nargen, die mit den rätselumwobenen Ganf in enger Gemeinschaft, beinahe Symbiose, gelebt hatten. Weiter und weiter flogen Jiim und Yael, bis sie am Rand einer der größten Ruinen landeten und sich ins Innere zurückzogen, wo die Temperatur erträglich war. Beide wussten, ein Befehl an Sesha hätte genügt, und ein wärmendes Feuer wäre vor ihnen entstanden. Doch das brauchte es gar nicht. »Wie geht es dir, Orham?«, fragte Yael, bevor Jiim ihm zuvorkommen konnte und diese oder eine ähnliche Frage an ihn richtete. »Ich müsste lügen, wollte ich sagen, dass es mir schlecht geht. Das Wesen … du weißt schon … kann nicht schlecht gewesen sein. Ich habe erst, als ich das Nabiss losgeworden war, gemerkt, wie sehr es mir zusetzte. Schon so viele Jahre …« »Ich verstehe«, sagte Yael. Sein Blick glitt über das Innere der halb verfallenen Pyramide, das nur noch ahnen ließ, welche Pracht es einmal ausgestrahlt hatte.
»Wirklich?«, fragte Jiim. »Ich glaube ja«, antwortete Yael. »Denn mir geht es ähnlich.« »Was meinst du damit?« »Mit Charly.« »Du meinst, du bist ihn auch … losgeworden. Mit seiner Hilfe?« »Ich fühle, dass es so ist. Dass eine Last von mir abgefallen ist. So war es nie, seit … seit ich ihn das erste Mal entstehen ließ, erschuf.« »Und du vermisst ihn kein bisschen?« »Kein Stück. – Vermisst du das Nabiss?« »Kein Stück!« Sie lachten. Es war gut, miteinander zu lachen, miteinander zu reden. »Ich wünschte«, sagte Yael nach einiger Zeit, »es hätte mich nicht nur von Charly befreit.« »Wovon noch?« »Du weißt es.« Jiim schwieg. Schließlich sagte er: »Besondere Kräfte … Fähigkeiten … müssen nicht schlecht sein. Es kommt darauf an, was man daraus macht. Und was das angeht, so traue ich niemandem mehr Weitsicht zu als dir, mein Kind.« Yael drehte den Kopf und sah seinen Orham an. »Es ist schön, wenn du ›mein Kind‹ sagst. Mir wird dann so warm – ganz tief drin in der Brust. Ich glaube … ich glaube, die Zeit, die ich Kind sein durfte, war viel zu kurz.« »Daran lässt sich nichts mehr ändern, aber wenn es dich tröstet: Die Zeit, in der ich der Orham eines kleinen Kindes sein durfte, war auch für mein Gefühl viel zu schnell vorbei. Du bist verflucht schnell groß geworden …« So redeten sie noch eine ganze Weile miteinander und genossen die Welt, die wie ein Phönix aus der Asche neu erstanden war. Und während sie einen Neustart machten, ging anderswo ein Leben unaufhaltsam dem Ende entgegen …
Der Sprung hatte Zeugen.
Matrosen der Paros wichen zurück, als Jarvis mit einem von den Betrachtern wahrscheinlich für nicht machbar gehaltenen Satz auf dem Schiffsdeck landete. Im Grunde hätte er hinüber fliegen können – aber das zu erklären, wäre einem Salmonen seiner Statur sicherlich noch schwerer gefallen als dieser akrobatische Akt. Er hörte, wie der Aufruhr im Ruf nach dem Kapitän der Paros gipfelte. Und dieser Kentaur/Satyr-Mischling war von wahrhaft imposanter Erscheinung, als er wenig später kam, um den Grund des Lärms herauszufinden. »Ruhe!« Er musste nur einmal schreien, und schon erstarb aller Lärm auf dem Schiff. Jarvis war beeindruckt. Ein wenig zumindest. Eine Entschuldigung für sein Verhalten gab es dennoch nicht. Das wusste er. Und das wusste die Mannschaft der Paros mit dem Kapitän an vorderster Front. »Wer ist das?«, wandte er sich an den Nächststehenden seiner Crew. Der Mann schilderte knapp, was sie beobachtet hatten. Das Schiff entfernte sich inzwischen weiter von der Hafenmole. Zum Zeitpunkt des Sprungs war es bereits gute fünf Meter davon entfernt gewesen, und Jarvis hatte wirklich keine Ahnung, wie er ihnen das verkaufen sollte. Er war mit den sportlichen Leistungen eines Salmonen nicht im Geringsten vertraut. »Wenn es stimmt, was ich gerade gehört habe«, wandte sich ihm der Kapitän mit einem boshaften Unterton zu, »dürfte es ja kein Problem für dich sein, Fremdling.« »Was dürfte kein Problem sein?«, ahmte Jarvis den Dialekt nach. »Wieder zurückzuspringen.« Der Kapitän zog etwas, das Ähnlichkeit mit einer Schusswaffe hatte, aus dem Gürtel. Die Mannschaft johlte. Die Reaktion ihres Anführers schien ganz nach ihrem Gusto zu sein. Der Kapitän legte auf Jarvis an. »Worauf wartest du? Du hast nur die Wahl zwischen Kugel und –«
»Kapitän, nicht! Bitte! Ich kenne diesen Mann – er ist ein Sucher. Ein Ordenssucher!« Auch wenn Jarvis keinen Moment um sein »Leben« fürchtete, war er dankbar für Oras Timing. Sie tauchte gerade rechtzeitig von irgendwoher auf und schob sich beherzt zwischen Jarvis und den Führer des Schiffes. »Ora …« Der bloße Tonfall verriet Jarvis, dass die Salmonin eine exponierte Stellung an Bord hatte. Vielleicht verbanden sie und den Kapitän sogar Gefühle – zumindest von seiner Seite her, denn ihre Art, mit Jarvis zu sprechen, hatte in ihm nicht den Eindruck hinterlassen, dass sie völlig desinteressiert an einem näheren Kennenlernen gewesen wäre. Lebten Salmonen überhaupt monogam? Jarvis wurde bewusst, dass seine Kenntnisse über die Soziologie dieses Volkes arg zu wünschen ließen. Der Kapitän wandte sich an Jarvis: »Stimmt das?« »Was? Dass ich so gut springen kann, oder …?« »Dass du ein Sucher bist? Einer, dem unser aller Respekt gebührt?« Er bejahte in der Gestik, die er sich für seinen Aufenthalt angeeignet hatte. »Dann …« Der Kapitän ließ die Handwaffe sinken. »… fühlen wir uns geehrt. Sei unser Gast. Wir wussten ja nicht. Und wenn du uns gefragt hättest …« »Ich wollte fragen, ob ihr mir eine Mitfahrgelegenheit anbietet – aber ich habe mich leider etwas verspätet.« »Ich traf ihn beim Mahnstein«, erklärte Ora und trat neben den Kapitän. »Das ist Paros.« »Wie das Schiff?« Jarvis lächelte. »Das ist die Regel, oder?«, reagierte Paros mit spürbarem Argwohn. »Und das ist Benkk«, sagte Ora schnell. Jarvis kam es vor, als wollte sie ihm beistehen. »Benkk stammt aus Vurrt.« »Von so weit?« Obwohl er es fragte, schien es Paros nicht wirklich
zu verwundern. Offenbar reisten Sucher kreuz und quer durch die Lande. Jarvis sparte sich eine Antwort. »Der Kapitän ist mein Alpha«, sagte Ora, als sei es ihr wichtig, das klarzustellen. Jarvis reagierte immer noch nicht. »Ora wird dir ein Quartier zuweisen. Wir sind unterwegs nach Abadon. Das Übliche, du verstehst. Und du? Folgst du einer vielversprechenden Spur?« »Ich hoffe«, erwiderte Jarvis reserviert. Das machst du alles gut. Sehr, sehr gut, wisperte eine Stimme in ihm. Aber statt sich daran aufzurichten, machte sie ihn wütend. Offenbar bezog Ora sein Schnauben auf sich und ihr Verhältnis zu Paros, denn sie beeilte sich, neben Jarvis zu gelangen und ihn von den anderen wegzudrängen. »Komm!«, raunte sie. »Ich zeige dir, wo du schläfst.« »Im Gatter?« Er konnte die zynische Frage nicht zurückhalten. Die Art, wie sie zusammenzuckte, verriet ihm, dass sie getroffen war. »Er hat die älteren Rechte«, sagte sie unterwegs. »Verzeih. Ich mochte dich vom ersten Moment an. Aber er sollte es besser nicht wissen. Er kann sehr … besitzergreifend sein.« Also nicht monogam. »Er hat von mir nichts zu befürchten.« »Schade«, sagte sie. Jarvis spürte, wie ihm das Blut in die Lenden schoss.
Was ging nur vor mit ihm? Lag es an der absorbierten Nabiss-Substanz, die ihn zu solchen Regungen befähigte? »Bist du meinetwegen an Bord gekommen?«, fragte Ora. »Die Wahrheit – bitte!« »Nein«, sagte er. »Das glaube ich dir nicht.« Typisch Frauen. Sie glaubten einem die Wahrheit nie.
Okay, das wusste er nur aus der grauen Theorie. Er war als keuscher GenTec unterwegs gewesen, bevor dieser Körper ihm die letzte Rettung vor dem Abgleiten … wohin eigentlich? … geboten hatte. Und auch nach dieser »Transplantation« seines Geistes … … war nichts wirklich Erotisches mehr gelaufen. Bis heute. Bis zur Ankunft auf Kentyr/Salmo. Und seiner Begegnung mit einer Frau, die aussah wie eine Mischung aus weiblichem Kentauren und Satyr … Wie bizarr, bitteschön, ging es denn noch …? »Ich bin ein Sucher, das weißt du doch.« »Und du suchst das Abenteuer.« »Ich dachte, Erkenntnis?« Sie lächelte. »Ich freue mich trotzdem, dass du an Bord gefunden hast.« »Ja, das tue ich auch.« »Die Wahrheit?« »Die Wahrheit!« Sie beugte sich zu ihm, als wollte sie ihn küssen. Aber er wich aus. Er musste an sich halten, um überhaupt noch so viel Verstand zu bewahren, dass ihm klar war: Einen Kuss konnte der Bractonen-Kristall nicht glaubwürdig vorgaukeln. Sein Betrug würde auf der Stelle auffliegen, und dann …? Nein, er musste kühlen Kopf bewahren. Sie schien die Abfuhr zu akzeptieren, verließ sein Quartier unter Deck aber grußlos. Erst gegen Abend, als Jarvis zum Kapitän gebeten wurde, sah er sie wieder. Sie standen auf einem Balkon, der zur Kapitänskajüte gehörte, und rieben ihre Leiber aneinander. Zumindest schien Ora Paros zu bedrängen, der seine liebe Not hatte, sie abzuwehren. Offenbar missfiel ihm ihr Verhalten im Angesicht des Besuchs. Jarvis missfiel es auch. Er ahnte, dass sie ihn auf diese Weise bestrafen wollte. Getreu dem Motto: Sieh her, was du verschmähst! Er versuchte, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Zudem
stand er noch unter dem Eindruck eines Ereignisses, das er beobachtet hatte, kurz bevor er in die Kabine getreten war. An Deck waren zwei Matrosen aneinandergeraten. Ein Streit, wie er sicher dutzendfach im Laufe einer Reise vorkam. Hier aber … war etwas Merkwürdiges geschehen. Jarvis schien der einzige Zeuge des Vorfalls zu sein, die anderen kümmerten sich nicht um das hitzige Wortgefecht, dem unversehens ein körperlicher Übergriff folgte. Bei dem aber stellte sich heraus, dass einer der beiden Salmonen gar nicht aus greifbarer Substanz zu bestehen schien, sondern dem ähnelte, was Jarvis bereits in Feool beobachtet hatte. Der reale Salmone berührte den »Geist« – und sofort verschwanden beide spurlos. Wie bei den beiden vorhergehenden Malen zog Jarvis zunächst eine Sinnestäuschung in Betracht. Doch er hatte aus den früheren Zwischenfällen gelernt und zeichnete seither sämtliche visuellen Beobachtungen in seinen Nanozellen ab – sie waren jederzeit abrufbereit. Ereignete sich nichts Auffälliges, wurden die Aufzeichnungen automatisch nach einer Stunde gelöscht. Auch beim mehrmaligen Ansehen der Szene blieb der erste Eindruck bestehen, und auch die verlangsamte Wiedergabe erbrachte keine Erkenntnis, wohin beide sich entfernt haben konnten. Der eine tauchte in den anderen ein – und beide waren weg. Als wäre der eine ein Tor, durch das der andere schritt, und dieses Tor hörte auf zu existieren, nachdem der Durchgang erfolgt war. »Es ist wichtig – ich habe eine Frage«, bestürmte Jarvis nun Paros und Ora, kaum dass er eingetreten war. Ora stellte ihre demonstrativen Bemühungen um Paros ein, als sie Jarvis'/Benkks Verständnislosigkeit bemerkte – die sich erkennbar nicht auf ihre Show bezog. »Worum geht es, Sucher? Tritt näher. Ich hatte nach dir geschickt, weil ich mich mit dir unterhalten will. Du bist sicher ein interessanter Gesprächspartner, und die Fahrt dauert noch ein Weilchen. Zeitvertreib tut not.« Sein Blick streifte Ora. »Und er kann nicht immer nur aus einer Sache bestehen.« Sie quittierte die Bemerkung mit einem kühlen Blick.
»Komm her, hier lässt es sich besser sprechen. Ich muss das Meer immer im Auge haben. Ich bin damit groß geworden. Und wenn ich schlafe und einmal nicht davon träume, fehlt mir am nächsten Morgen etwas. – Du wirst darüber lächeln.« Jarvis verneinte wahrheitsgemäß. »Ich reise viel auf Schiffen, ich verstehe das durchaus.« Paros nickte freundlich. Die Aggression und der Zynismus, den er bei ihrer ersten Begegnung an den Tag gelegt hatte, war verschwunden. Offenbar war auch er ein Mann mit Facetten. Es überraschte Jarvis nicht, dass er diesen Paros auf Anhieb sympathisch fand. Niemand wusste besser als er, dass man Menschen – oder Extraterrestriern – nicht mit Schubladendenken gerecht werden konnte. Auch er selbst hatte viele Gesichter, viele verschiedene Charakterzüge. Mal gewann der eine, mal der andere die Oberhand, und es sollte sogar schon Leute gegeben haben, die mit ihm ernsthafte oder gar philosophische Gespräche geführt hatten. Okay, das war eher selten. Aber ein Grund mehr, Paros ohne sonderliche Vorbehalte gegenüberzutreten. »Gerne.« Er trat auf den Balkon. Ora wollte ihn zu ihrer Linken winken – Paros stand rechts von ihr –, aber Jarvis zog es vor, sich wiederum rechts von Paros zu positionieren. Eine Weile blickten sie hinaus aufs Meer. Das Schiff lag gut im Wind. Die großen Segel waren prall gebläht und sorgten für ordentlich Geschwindigkeit, aber die Wasseroberfläche war kaum aufgewühlt. Überall nur kleine Wellen, deren Kämme im Licht der rötlichen Sonne glitzerten. Es war heiß, heißer als an Land, trotz der Brise. Jarvis bemerkte es, aber es tangierte ihn nicht. Er hätte ganz andere Temperaturen ertragen können, auch wenn sein Kristall sich bemühte, winzige Schweißperlchen vorzugaukeln, wie er sie an den Körpern der Salmonen bemerkte. »Was hast du auf dem Herzen, ehrenwerter Ordenssucher?«, fragte Paros.
»Ich habe etwas mit angesehen, für das ich – für das ich keine Erklärung finde.« »Oh, wenn das alles ist, was dich beunruhigt. Das Leben hat nicht immer Erklärungen und Patentrezepte für alles parat.« Der Einwurf kam von Ora. Natürlich. »Es geht um nichts Alltägliches.« »Ach?« Sie war nur in Farbe gekleidet, die sich wie graue Asche über ihren Körper gelegt hatte. Dass es Ora dennoch gelang, anziehend, begehrenswert zu wirken, selbst für einen Vertreter einer völlig anderen Spezies wie Jarvis, verdiente umso mehr Beachtung. »Worum also?« Paros schien ein wenig zu drängen, was Jarvis nur allzu gut verstand. Er entschied sich, offen zu sprechen. Was hatte er zu verlieren? Er schilderte die Szene an Deck und betonte, dass er Ähnliches bereits zweimal zuvor, da aber noch an Land, beobachtet hatte. Ora und Paros sahen ihn merkwürdig an. »Es scheint dir nicht gut zu gehen«, sagte der Kapitän schließlich. »Armer Benkk, die lange Suche – wie lange bist du eigentlich schon unterwegs? – hat offenbar Spuren hinterlassen. Bisweilen hört man von Suchern, deren Geist an der Aufgabe zerbricht. Ich habe einen Mann an Bord, der in solchen Dingen bewandert ist. Ich werde ihn rufen, dass er nach dir …« »Ich werde nach ihm sehen und mich kümmern«, unterbrach ihn Ora. »Vergiss nicht, mein Vater ist Arzt. Ich habe mir vieles abgeschaut. Sein Spezialgebiet ist die Psyche …« Aus ihrem Mund klang das beinahe wie eine Drohung. Paros missfiel ihre Einmischung sichtlich, und er schien fast erleichtert, als Jarvis kategorisch ablehnte. »Ihr irrt euch – beide. Und das lässt sich beweisen.« »Wie?«, fragte Paros. »Ich will dir aber keine falsche Hoffnung machen. Was du erzählst, klingt für jeden mit gesundem Verstand merkwürdig …« »Du führst sicher Buch über deine Mannschaft«, sagte Jarvis. »Wie jeder gute Kapitän … ja.« »Dann müsstest du nur deine Auflistung heranziehen, die Mannschaft kurz an Deck versammeln – und einen Abgleich vornehmen.
Du wirst sehen, dass zwei Mann fehlen.« »Ich kann nicht auf die bloße Einbildung eines …« Er rang nach Worten. »Ehrenwerten Ordenssuchers«, half Jarvis höflich aus. »… auf deine bloße Behauptung hin für Unruhe unter der Mannschaft sorgen«, beendete Paros den Satz auf die ihm genehme Weise. Doch er hatte die Rechnung ohne Ora gemacht. »Tu es. Tu ihm den Gefallen. Man muss Kranken helfen, wo man kann – mitunter auch zu drastischen Mitteln greifen, um ihnen ihre Befindlichkeit vor Augen zu führen. Und danach, wenn er der Realität nicht mehr entfliehen kann, kümmere ich mich um ihn.« Missmutig willigte Paros ein. Schon Minuten später hatte sich die dreißigköpfige Besatzung an Deck versammelt. Paros ließ sie in Reih und Glied aufmarschieren – ohne ihnen eine Erklärung dafür zu liefern. Dazu hatte er sich entschlossen, um wenigstens in einem seinen Willen durchzusetzen. Und offenbar kam es nicht unbedingt selten an Bord salmonischer Schiffe vor, dass ein Kapitän seine Autorität ohne Not demonstrierte. Das Gemurre der Männer hielt sich jedenfalls in Grenzen. Und Jarvis hielt sich im Hintergrund. Mit Ora stand er neben dem Aufbau der Kapitänskajüte und verfolgte, wie Paros mit einem Stift Namen auf einer Kladde abhakte, die er vorher aufgerufen und die von den Entsprechenden mit »Aye!« bestätigt worden waren – beziehungsweise dem salmonischen Äquivalent eines solchen Rufes. Es gab zwei Fälle, in denen niemand »Aye!« rief. Jarvis merkte sich die Namen. Nachdem Paros die Männer wieder an die unterbrochenen Arbeiten zurückgeschickt hatte, kehrte er mit Ora und Jarvis in seine Kajüte zurück. »Wie ich gleich sagte …«, begann er. Aber Jarvis entriss ihm einfach das Buch. »Das hat sich mir aber anders dargestellt. Auf zwei Namen gab es keine Bestätigungen.« »Du … irrst«, sagte Ora neben ihm, bevor Paros zu einer verärgerten Erwiderung ansetzen konnte.
»Larrk und Bonff, wenn ich es richtig verstanden habe«, sagte Jarvis und schlug das Buch auf. Die Schrift der Salmonen war für ihn ebenso lesbar wie ihre Lautsprache verständlich. »Hier … du hast sie auch nicht abgehakt! So viel zum Thema geisteskrank.« »Das muss ein Fehler in der Liste sein«, behauptete Paros im Brustton der Überzeugung, und Jarvis musste zugeben, dass er – wenn er es tat – richtig gut schauspielerte. Ebenso wie Ora, die sich weiter auf die Seite des Kapitäns schlug. »Larrk und Bonff waren die beiden, die ich beobachtet habe. Die verschwanden …« »Du steigerst dich da in etwas hinein, ehrenwerter –« Jarvis stampfte so heftig auf, dass das ganze Schiff bebte. Er konnte das. Für die Leute an Bord musste es sich wie ein kurzes Beben anfühlen. Ora suchte instinktiv Halt. Paros wäre fast gestürzt. »Benkk …« »Benkk ist ein Zauberer!«, ließ Jarvis jetzt nicht mehr locker. Er hatte es satt. »Was redest du –« Wieder schnitt er ihnen das Wort ab. Diesmal brauchte er dazu nicht einmal selbst etwas zu sagen. Er setzte ein, was sein Körper ihm an Möglichkeit bot. Zwischen ihm und den beiden echten Salmonen baute sich ein projiziertes Hologramm auf. Es zeigte die Szene, die Jarvis an Deck aufgenommen und abgespeichert hatte: zwei Matrosen, die erst in Streit gerieten, dann handgreiflich werden wollten … und dabei auf absurde Weise von der Bildfläche verschwanden. »Waren das Larrk und Bonff?« »Wie … wie hast du das gemacht?«, keuchte Ora. »Spielt keine Rolle. Waren sie es?« »Ich …« Plötzlich rollte Ora mit den Augen, ihre Vorderläufe knickten ein … und dann stürzte sie ohnmächtig zu Boden. Erschrocken kümmerte sich Paros um sie. Doch nach kurzer Zeit richtete er sich wieder auf und sagte erleichtert: »Sie ist nur ohn-
mächtig. Sie wird gleich wieder …« »Sind das Larrk und Bonff?« Jarvis startete die Aufnahme von Neuem. »Ich …« Paros bemühte sich, hinzusehen. Aber auch er begann plötzlich zu schwanken … und lag Sekunden später mit geschlossenen Augen neben Ora. Jarvis scannte beide kurz. Ihre Vitalfunktionen waren unbedenklich. Aber ihre Reaktionen – ihre Wahrheitsverweigerung bis zum bitteren Ende – machten ihm klar, dass er bei ihnen auch weiterhin auf Granit beißen würde. Jeder weitere Versuch war Zeitverschwendung. Das sehe ich genauso, meldete sich prompt die Stimme seines »Blinden Passagiers« in ihm. Verschwende deine … unsere Zeit nicht länger hier … Im Nachhinein fragte sich Jarvis, ob wirklich er die nun folgende Transition ausgelöst hatte – oder das Fremde in ihm. Zunächst einmal aber sprang er.
13. »Sind wir dort, wo ich hin wollte?«, fragte Jarvis laut, als sich die neue Umgebung um ihn herum gebildet hatte – beziehungsweise er sich in der neuen Umgebung manifestiert hatte. Die Umgebung musste schon vorher da gewesen sein. Obwohl er sich nach dem jüngsten Vorkommnis nicht einmal mehr dessen ganz sicher war. Wir sind am Ziel. Fast. »Was heißt das?« Er blickte sich um. Er stand auf einer Anhöhe, von der aus er weit blicken konnte. »Ist das Abadon?« Die blühende Landschaft war Antwort genug. Erst recht, als er in der Ferne eine zum Großhafen ausgebaute Bucht entdeckte. Fast ohne Unterlass kamen dort Schiffe an oder stachen in See. Auch an Land herrschte hektisches Treiben. Die Umgebung erinnerte an einen irdischen Dschungel, von der RUBIKON aus hatten sie sie schon über die Bilder der Drohnen betrachtet, sich aber noch keinen rechten Reim auf jedes Detail machen können. Inzwischen wusste Jarvis, dass Abadon die »Kornkammer« der Salmonen war – auch wenn anstelle des Korns Obst und Gemüse traten, vielleicht auch das eine oder andere Tier, das hier seinen Lebensraum hatte und im Dickicht gejagt und zur Strecke gebracht wurde. Wohin das Auge blickte, bis tief ins Landesinnere, waren Salmonen damit beschäftigt, Nahrung zu ernten in Karren zum Hafen hin zu befördern. Zurück ging es dann wieder leer … aber nur, um unverzüglich die Arbeit wieder aufzunehmen und eine neue Ladung zusammenzustellen. Welche Ordnung dahinterstand, erschloss sich Jarvis aus der Ferne nicht. Aber er war auch nicht gekommen, um landwirtschaftliche Studien zu betreiben. »Ich bin also fast am Ziel«, murmelte er ins Leere. »Und wie gelange ich genau hin?« Ich kann dich leiten.
»Ach? Warum überrascht mich das jetzt nicht?« Du irrst, wenn du glaubst, ich hätte es schon von Anfang an erkannt. »Ob ich dir glaube oder nicht, ändert nichts.« Du irrst schon wieder. Mir ist es wichtig dass du mir glaubst. »Warum?« Das sagte ich schon zu einem anderen Anlass. Du bist erstaunlich. Ich achte dich. Jarvis war entschlossen, sich nicht einlullen zu lassen. Nur noch schwach war die Erinnerung an Ora und die Paros in ihm. Aber sie war da, und irgendwie gab er dem Fremden in sich die Schuld daran, dass er sich so sehr in seinen Gefühlen hatte verstricken können. »Du kannst mich also leiten, sagst du. Und wohin würde das führen?« Vertraust du mir? »Nein.« Vertraue mir, bitte. Es ist wichtig. »Okay, aber du bist mir einen Gefallen schuldig.« Welchen? »Den, den ich irgendwann von dir einfordern werde. Im Moment weiß ich noch nichts. Aber falls wir in die Bredouille geraten …« Ich bin einverstanden. – Vertraust du mir? »Quälgeist. Zur Hölle ja! Meinetwegen.« Dann komm. Die Umgebung wechselte. Die rote Sonne, die der Fruchtbarkeit Abadons offenbar keinen Abbruch tat, schwand. Jarvis' nächster Eindruck war: Dunkelheit. Stille. Ein Raum. Ein Raum … wie ein Traum …
»Ich muss mit dir reden.« Cloud sah auf den ersten Blick, dass Scobee etwas auf dem Herzen hatte. Und er ahnte, worum es ging. »Cy?«, fragte er.
»Hat Jelto mit dir gesprochen?« »Worüber?« »Nur so.« Sie zögerte. »Red schon. Was war. Du warst bei ihm? Wie geht es ihm?« »Und hier?« »Die neue Drohne hat Jarvis noch nicht gefunden. Aber bei Durchsicht der Gesamtbilder, die uns die Sonden bislang lieferten, ist Sesha auf etwas Seltsames gestoßen. Zuerst hielt sie es für Aufnahmefehler. Doch inzwischen scheint sich abzuzeichnen, dass die Bilder die tatsächlichen Geschehnisse wiedergeben … nur haben wir noch keine Erklärung dafür, was sie zeigen.« Scobee stürzte sich mit Feuereifer auf die Neuigkeit. Cloud hatte fast das Gefühl, dass sie es tat, um sich von etwas anderem abzulenken. Er ahnte, dass es mit Cy zu tun hatte, aber er wollte nicht weiter in sie dringen, wenn sie nicht bereit war, darüber zu sprechen. »Was für Auffälligkeiten sind das?« »Sesha? Einblenden!« Cloud wartete, bis die KI die gesammelten Ungereimtheiten in einer Art »Medley« in der Holosäule vorgeführt hatte. »Sie berühren sich … und verschwinden beide?« »So war es mehrere Male, ja. Die Beispiele hast du gerade zusammengefasst gesehen.« »Was steckt dahinter?« »Das wissen wir noch nicht«, erwiderte Cloud. »Aber mittlerweile können wir nicht völlig ausschließen, dass ein ernsterer Grund hinter Jarvis' Schweigen steckt als nur Funkprobleme.« »Du meinst – er könnte auch in der gesehenen Weise verschwunden sein?« »Ich will es nicht hoffen.« In diesem Moment kam eine neue Meldung herein. Die speziell auf Jarvis abgestimmte Drohne hatte offenbar ein verwaschenes Ortungsecho aufgefangen. Sie überspielte die Daten. Sofort führte Cloud ein Orbitalmanöver aus, das die RUBIKON senkrecht über die ermittelten Koordinaten brachte. Mithilfe der
Bordtechnik war es möglich, den betreffenden Ausschnitt mitten im Meer optisch so heranzuzoomen, dass ein Objekt sichtbar wurde. »Ein Schiff. Eines dieser Segelschiffe, die zwischen dem Hauptund dem Kleinkontinent verkehren«, sagte Scobee. »Was sollte Jarvis auf dem Schiff wollen? Es ist sicherlich tagelang unterwegs, schon für die einfache Strecke. Dafür, dass er keine Verbindung zu uns hat, nimmt er sich aber verdammt viel Zeit. Sieht fast nach Auszeit aus …« »Ich glaube kaum, dass er seine Aufklärungsmission so wenig ernst nimmt«, erwiderte Cloud. »Aber er braucht kein Schiff, um irgendwohin zu gelangen. Er kann transitieren.« »Vielleicht funktioniert das ebenso wenig wie der Funk.« »Hm.« Offenbar musste Scobee einräumen, dass zumindest die Möglichkeit bestand. »Achtung, Drohne meldet erneuten Positionswechsel«, mischte sich die KI in die Unterhaltung. »Von Jarvis?«, fragte Cloud sicherheitshalber nach. »Ja.« »Wo soll er sich jetzt befinden? Zeigen!« In der Holosäule fand ein Bildwechsel statt. Plötzlich schien das Auge der Kamera über dichtem Dschungel zu schweben. Die Bäume zoomten heran. Aber von Jarvis war keine Spur zu erkennen. »Ortungsecho befindet sich in einiger Tiefe unter der Oberfläche des Kleinkontinents.« »Wenn er so gewechselt, muss er gesprungen sein, transitiert! Wieso können wir das nicht anmessen? Sesha?« Cloud war unzufrieden mit der Leistung der KI und der Schiffssensoren. Die KI schlug vor: »Die Transitions-Erschütterungen scheinen kompensiert zu werden.« »Wovon?« »Vielleicht von der Nabiss-Materie, die sich an Jarvis heftete, unmittelbar bevor er zur Oberfläche transitierte.« »Dann könnte sie auch die Ursache für die Verbindungsunterbre-
chung sein …«, murmelte Cloud. »Positiv.« »Aber bislang ist es reine Spekulation«, dämpfte Scobee seine Hoffnungen. »In einer Situation wie dieser, wo wir fast nur im Nebel stochern, klammere ich mich an jeden Strohhalm.« »Immerhin scheint er ja nicht wirklich verschwunden zu sein – wie die Beispiele, die du mir gerade gezeigt hast.« Auch Scobee wirkte erleichtert. »Wie gehen wir weiter vor? Meiner Meinung nach sollte die Mission abgebrochen werden. Wir sollten zusehen, dass wir Jarvis wieder an Bord bekommen – anhand seines Berichts können wir dann neu entscheiden, ob ein weiterer Einsatz auf Kentyr angeraten ist.« Cloud unterstützte ihr Anliegen, besprach sich kurz mit den anderen … … und steuerte die RUBIKON über die neu bestimmten Koordinaten, bei denen der Freund vermutet wurde. Dann gab er den Befehl, den Rochenraumer in die Atmosphäre eintauchen zu lassen. »Was hast du vor?«, fragte Scobee verblüfft. »Jarvis abholen – darüber sprachen wir doch gerade. Und waren uns einig.« »Aber –« »Hör zu«, schnitt er ihr das Wort ab, »ich bin so weit, jeden Aufwand zu betreiben, der nötig ist, ihn wieder zu uns zu bringen. Er steckt in Schwierigkeiten – um das zu erkennen, muss man kein Prophet sein. Und wenn es sein muss, rode ich sogar mit den Bordgeschützen den Dschungel und pflüge mich durch bis zu der Stelle, wo er offenbar gelandet ist. Jarvis ist robust. Der steckt das weg.« »Und wenn jemand bei ihm ist, der nicht so robust ist?« »Gehen wir erst mal tiefer. Die Rodung und das Pflügen können ja noch etwas warten. Klären wir erst einmal die Verhältnisse vor Ort …«
Wo sind wir? Jarvis vermied es, weiter laut zu sprechen. Dass es nicht nötig war, um mit seinem »Gast« in Verbindung zu treten, wusste er längst. Sieh dich um. Ich erkenne es. Aber du … Es ist das Verworrenste, was ich jemals sah. Wenn ich den Blick auf et was richte, verändert es sich unablässig. Als wäre es nicht starr und von bestimmter Form, sondern wechsele permanent seinen Zustand. Es ist Metamaterie. Was soll das sein, Metamaterie? Es gibt sie in vielen Legierungen. Eine davon ist das, woraus ein Nabiss geschmiedet wurde. Dann hat das hier … mit den Ganf zu tun? Alles hat mit den Ganf zu tun, antwortete die Stimme in ihm metaphorisch. Wo bin ich? Ist das eine Station? Im weitesten Sinne. Geh. Geh weiter. Wir müssen ihn finden. Wen? Den Toten.
Auf Nachfragen schwieg die Stimme. Jarvis jedoch war wachsam und aufmerksam wie selten zuvor. Er setzte seine speziellen Sinne ein, die nichts anderes waren als feinsensorische Instrumente, und auf diese Weise schien er seine Umgebung allmählich »in den Griff« zu bekommen. Das Absurde und Surreale, das seine Optiken zu Anfang bestürmt, seine Eindrücke verdreht an seinen Verstand weitergeleitet hatte, wich unmerklich dem Realismus und Pragmatismus, mit dem er etwas anfangen konnte. Metamaterie? Pah! Er nahm sich vor, sich nicht länger von Begrifflichkeiten beeindrucken zu lassen. Das hier war eine Station oder irgendetwas Vergleichbares, das mit den Ganf zusammenhing – ob in engerem oder weiterem Sinn musste sich noch zeigen. Und die Station schien sich auf Abadon zu
befinden, er glaubte nicht, dass er das Schlaraffenland der Salmonen wieder verlassen hatte. Ein seltsam verdrehter Gang nahm ihn auf. Alles hier erinnerte im weitesten Sinne an das verdrehte Gehäuse bestimmter Muschelarten oder an … ein riesiges Schneckenhaus. Die Ganf hatten solche »Häuser« auf den Rücken getragen, wusste er aus Jiims Erzählungen. Aber steckten sie wirklich dahinter – oder versuchte sein innerer Gast, das nur vorzutäuschen? Der Gang mündete übergangslos in einen Raum, der – ging das überhaupt? – noch bizarrer anmutete als alles, was Jarvis auf seinem Weg hierher gesehen hatte. »Was … ist das?«, entfuhr es ihm, als er das Wesen in der Mitte entdeckte. Es lag in einer Art Schale, von der aus Verbindungen nach überallhin liefen. Es sah aus, als wäre etwas mit Elektroden bestückt worden, aber nicht nur mit ein paar, die dann in Messgeräte mündeten, sondern mit Hunderten, Tausenden, die den Körper dahinter fast wie in einem Gespinst verschwinden ließen. Jarvis trat völlig gebannt näher. Das Wesen erinnerte an den Charly, wie er vor seiner Aufsplitterung in vierzehn Figuren in Pseudokalser hinter einem Baumstamm hervorgelugt hatte – nur Flügel, weder verrottet noch in Schuss, besaß er keine. Und je näher Jarvis der Gestalt kam, desto klarer wurde, dass es sich bei dem, was aus seinem Körper austrat, nicht um irgendwelche künstlichen Schläuche oder Leitungen handelte, sondern um seine natürliche Gewebesubstanz. Seine Nanomodule empfingen einen Gestank, der von einem Menschen kaum ohne Filter hätte ertragen werden können. Die Luft im Raum entsprach im weitesten Sinne dem, was an der Oberfläche von Salmo zu finden war, nur die Temperatur lag nahe dem Gefrierpunkt. Jarvis zögerte zuerst, doch dann sandte er Messimpulse aus, die ein eindeutiges Resultat ergaben.
Er ist tot, wie du es sagtest. Ein Ganf – oder? Wie lange liegt er schon hier? Nach deiner Zeitrechnung rund zweitausend Jahre. Damals gab es eine Katastrophe auf Salmo. Die Bahnveränderung … Hat er sie zu verantworten? Zu verantworten? Wer weiß. Aber ausgelöst haben sie andere. Woher weißt du das alles? Du wusstest auch, dass er hier ist. Du bist nicht zum ersten Mal in der Station … Doch. Zum ersten Mal. Und mein Wissen … nun, ich habe mich eingeloggt. In hiesige Computer? In seinen Geist. Er verrät alles. Aber er ist tot. Der Tod ist nicht das Ende. Ach? Wie konnte ich das nur annehmen? Ganf sind anders als deine Spezies. Ganf sind auch im Tode nicht ohne Macht und Einfluss.
14. Die RUBIKON hatte ihren Schmiegschirm aktiviert, stand unter Volltarnung. Mit kaum einer Technik war sie in dieser Verhüllung auszumachen, schon gar nicht visuell. »Entfernung zum Boden: fünfzig Kilometer.« Das Schiff sank mit einer Geschwindigkeit von einem Kilometer pro Minute. Cloud hätte einen schnelleren Sinkflug befehlen können, doch er wollte nichts überstürzen. Der Kleinkontinent unter ihnen gaukelte ein Paradies vor, dem viele an Bord misstrauten. Und ihre Ahnung sollte sie nicht trügen. Algorian war der Erste, der die Gefahr draußen witterte … und bei knapp 40.000 Höhenmetern Alarm schlug.
Die Worte hallten immer noch in Jarvis nach: Ganf sind auch im Tode nicht ohne Macht und Einfluss. Na, wenn das keine Ansage war … Was willst du damit sagen? Dass sein Leichnam unschädlich gemacht werden muss, wenn diese Welt nicht untergehen soll. Ich verstehe nicht. Sie ist dem Untergang geweiht, ist längst vergiftet. Jarvis zögerte. Die Brutalität der gerade erhaltenen Information machte ihm zu schaffen. Die Welt Salmo sollte dem Untergang geweiht sein – die ganze Welt? Wegen eines Ganf, der hier vor ihnen lag, tot? Genau das ist der Punkt. Erklär mir das. Wir lassen es ihn erklären.
Kein Zweifel, wen das Fremde in Jarvis meinte. Seine Beine folgten bereits jenem Willen, der nicht der seine war. Wie ein Marionette stakste er auf die Leiche zu … … und tauchte in das Gewirr der wurzelartigen Auswüchse ein, die von dem toten Ganf nach allen Seiten wegstrebten, vorzugsweise aber nach oben, wo sie in der Decke verschwanden. Die Fäden und Stränge klebten. Und sie brachten Jarvis schon bei der ersten Berührung zum Stillstand. Er versuchte, ihnen zu entrinnen, aber die Stimme in ihm erklärte, dass sie das nicht zulassen wollte. Du hast mich verraten, dachte Jarvis ehrlich enttäuscht. Hierher gelockt und verraten … Glaub, was du willst – aber schau erst einmal … Und Jarvis Geist versank im Traum eines Toten. Ein Traum, der danach strebte, sich ganz Salmo einzuverleiben … jeden einzelnen Salmonen …
Er war tot. Aber das war keine Option. Um ihn herum pulsierte Leben. Seinetwegen war er gekommen. Seinetwegen hatte er das Raumschiff durch die eisige Schwärze gelenkt. Die Boje wurde ausgeschleust und markierte das Vorkommen, das so viele Schiffe über eine so lange Zeit gesucht hatten. An so vielen Orten der Galaxie waren sie unterwegs. Aber was sie suchten, war rar. Eine absolute Seltenheit. Wertvoller als alles, was Welten hervorbringen konnten … Er hatte es gefunden. Er war einer von Tausenden. Sein Schiff senkte sich dem großen Kontinent entgegen. Doch bevor er ihn erreichte … erfolgte der Angriff. Wie aus dem Nichts. Aber mit unwiderstehlicher Gewalt. Schon der erste Schuss war ein Treffer. Das Ringschiff kam näher.
Feuerte erneut. Eine Explosion, so gewaltig, dass sie die Welt unter sich aus ihrer Bahn warf, gaukelte dem Feind die totale Vernichtung vor. Doch im Schutze der sich ausbreitenden Energiewelle landete der Kern des Schiffes doch noch auf dem Planeten, wenn auch abgeschlagen auf einer anderen Landmasse als jene, die die Boje bereits markierte. Der Feind vertraute dem Offensichtlichen. Er suchte nicht nach Überresten, weil die freigesetzte Gewalt keine Überreste zugelassen haben konnte … Diese Fehleinschätzung rettete Teile des Suchschiffs. Aber sie rettete nicht seinen Piloten. Der einsame Ganf starb. Sein Schiff – der innerste und bestgeschützte Kern – aber grub sich unbemerkt von dem Aggressor tief in die Rinde des Planeten, der seiner bislang härtesten Bewährungsprobe unterzogen wurde – als Folge dessen, was über ihm geschehen war. Er trudelte aus seiner angestammten Bahn, fing sich aber wieder, sodass er nicht in seinem Muttergestirn unterging – was der Aggressor offenbar dachte und auch deshalb keine weiteren Nachforschungen mehr anstellte. Als die Beben irgendwann abklangen, wurde die Welt von neuen Plagen heimgesucht – Klimaveränderungen, die den einst paradiesischen Hauptkontinent, wo die Boje parkte, in eine Dürrezone verwandelte, die den dort Lebenden kaum noch Nahrung bot. Die kleinere Landmasse aber, in die sich der Schiffskern gegraben hatte, erlitt ein anderes Schicksal. Zunächst fiel auch dort das meiste der Hitzewelle zum Opfer, die eine Folge der Sonnenannäherung war und blieb. Doch der Tod war nicht die letzte Instanz für ein Wesen wie jenes, das hier seine letzte Ruhestätte gefunden hatte. Und so wob es seinen jenseitigen Traum, der nach und nach auf alles Leben übergriff, das sich in seiner Nähe befand. Der Tod schützte das Leben, das eigentlich dem Untergang hätte geweiht sein müssen. Die üppige Vegetation entstand nach Jahren, Jahrzehnten und Jahrhunderten neu.
Doch sie konnte nur überleben, weil sie ein Gift in sich trug. Das Gift dessen, der sie erhielt. Der Leichnam verband sich mehr und mehr mit dem Leben über ihm, strebte über winzigste Myzelien bis in die letzte Pflanze, den letzten Baum und den letzten Strauch oder Grashalm. Alles dort oben über seinem Grab wurde ER. Und eines Tages gelang der Kontakt zu etwas halb Vergessenem. Die Boje. Die Boje bewachte den Quell und modifizierte ihn im Sinne des toten träumenden Ganf, der fortan im Stande war, auf jeden Träger »zuzugreifen«, ihn nach Gutdünken zu lenken. Und der Quell wurde zum Ursprung einer Bewegung, die der träumende Leichnam aus seinem Grab heraus gründete und förderte und schließlich den Besten der Besten dazu bewegte … … zu ihm zu kommen. Einen Salmonen namens Ferenc, dem der Tote sich einst wie unter Wasser gezeigt und dem er so vieles vorgegaukelt, so viele falsche Versprechungen gemacht hatte …
»Irgendetwas da unten ist geballte Schlechtigkeit … Verdorbenheit … Gefahr …«, beschrieb es Algorian. Seine Worte fanden Gehör. Cloud stoppte den Abstieg der RUBIKON. Zehn Kilometer über der Oberfläche des Dschungelkontinents kam sie zum Stillstand. »Das reicht nicht«, wisperte der Telepath. »Wir müssen … ganz weg … Zurück in den Weltraum …« »Jarvis ist noch irgendwo da unten.« Darauf wusste Algorian auch nichts zu erwidern. Aber er litt sichtlich unter dem, was er spürte, esperte. »So viel Verdorbenheit …« »Immer noch keine Verbindung zu Jarvis?«, wandte sich Cloud an Sesha. »Nein.«
»Aber er wurde geortet. Von der Drohne. Dann müssen wir doch auch …« »Ich kann ihn verschwommen lokalisieren. Nicht hundertprozentig sicher. Es reicht nicht, um –« »Um was?«, schnarrte Cloud. »Ich sagte es schon: Notfalls pflüge ich den Boden um. Und wie es aussieht, bleibt uns gar keine andere Wahl. Geschütze …« Er verstummte. In der Holosäule zeichnete sich eine neue Entwicklung ab. »Was … geschieht da?«, keuchte Scobee. Es sah aus, als würde … aber das konnte nicht sein. »Was ist mit der Bildqualität? Sesha?« »Es liegt nicht an der Bildqualität«, behauptete die KI. »Die Landschaft unter uns verschwindet wirklich …«
Jarvis erschauderte. Die Geschichte des Verderbens, das eine ganze Welt ergriffen hatte, entfaltete sich mit elementarer Kraft vor seinem geistigen Auge. Er erlebte alles wie aus erster Hand. Als wäre er jener Ferenc gewesen, der seinem sterbenden Volk den Weg nach Abadon ebnete – und ihm so Nahrung im Überfluss erschloss. Nahrung, von der er nicht ahnte, dass sie zwar den Hungertod verhinderte, dafür aber einem ganz anderen Unheil Tür und Tor öffnete. Denn wer die Früchte aß, die die Schiffe zu den Salmonen brachten, wurde Teil des Traums eines Toten. Und dieser Traum zerrte jeden über kurz oder lang in eine Welt, die wie ein Schatten Salmos neben der wahren entstand. Eine seltsame Dimension, vielleicht der Traum selbst, in die alles verschwand, was stark genug infiziert war – und die auch das noch nicht so umfassend Befallene mitriss, wenn es in Kontakt mit einem Verdammten kam. Der Traum aber war bereits in jeden Winkel des salmonischen All-
tags vorgedrungen, in jeden Kopf gesickert, jeden Geist … und hinderte die Befallenen daran, selbst die offensichtlichsten Fakten zu erkennen. Ein Entrinnen hätte es ohnehin nicht gegeben. So gesehen handelte der träumende Tod gnädig, indem er sein Tun und Treiben verhüllte …
Jarvis schrak zusammen, als das Fremde in ihm ihn wieder freigab. Er taumelte zurück. Die Fäden lösten sich von ihm. Jarvis begriff, dass er weg wollte. Nur weg. Das Grab des Ganf war der schrecklichste Ort, an dem er sich jemals aufgehalten hatte – auch wenn er aufgrund seiner Beschaffenheit – zumindest der körperlichen – weitgehend immun und unantastbar gegen das Gift war, das dieser verbreitete. Lass mich … gehen …. flehte er das Fremde in sich an. Erst wenn du getan hast, was getan werden muss. Soll ich ihn … vernichten? Eine Welle des Unverständnisses traf ihn. Dann erfuhr er, was das Fremde in ihm wirklich von ihm erwartete. Er schauderte. Wollte ablehnen. Doch dann überzeugte ihn der Wissende, dass es nur diesen Weg gab, um Salmo aus dem Traum des Toten zu erwecken und seinen Bewohnern vielleicht eine Zukunft zu ermöglichen. Schließlich ging er noch einmal auf den Leichnam zu. Löste alle Verbindungen, die nach oben führten. Der Leichnam wehrte sich. Auf seine Weise. Er schickte verzweifelte Impulse nach oben. Impulse, die einen ganzen Kontinent dorthin zu reißen drohten, wohin schon viele Salmonen vorausgeeilt waren. In eine fremde, kalte, jenseitige Dimension. Du musst den letzten Schritt tun – sonst verschlingt es auch uns. Uns beide. Und Jarvis tat, was er nie gewollt hatte … und nie für möglich gehalten hätte.
Er ekelte sich. Er wurde an seine Grenzen herangeführt … nein, er überschritt sie … Es war die einzige Chance. Der Leichnam und er … … wurden eins.
»Die Oberfläche … zieht uns zu sich herunter! Gleichzeitig … flackert sie, ist einmal da, dann wieder weg … und an ihre Stelle tritt … Große Galaxis, was ist das?« Wann war Scobee schon einmal so außer sich gewesen? »Der mentale Druck wird immer stärker. So viel abseitiges Denken … Es erstickt … mich …« Algorian brach japsend in seinem Sitz zusammen. »Beschleunigung!«, wies Cloud die KI an. »Mit allem, was wir haben!« Er dachte auch jetzt noch an Jarvis, während unsichtbare Klauen an der RUBIKON zerrten. Aber das konnte er nicht länger riskieren. Das Leben so vieler musste mehr zählen als das eines Einzelnen … In Blickrichtung materialisierte Jarvis. Ein Jarvis ohne Maske. Der nackte Nanokörper präsentierte sich dem Betrachter. Etwas fuhr aus ihm heraus: zwei schwarze Blitze, die … … sich auf den Armlehnen eines verlassenen Sarkophagsitzes zu zwei Figuren stabilisierten. Cloud wartete keine Erklärungen ab. Er schloss den eigenen Sarkophag und lenkte die RUBIKON eigenhändig zurück ins Weltall. Kentyr – oder Salmo – blieb hinter ihnen zurück. Und Algorian konnte plötzlich wieder atmen …
Jarvis wurde nicht müde zu berichten. Es war schwierig, den anderen nahezubringen, was er selbst im Grab des Ganf geschaut hatte, als wäre er der Träumende selbst gewesen, der seine Augen und
Sinne nach überall hin geschickt hatte … auch zu der Boje, die den wertvollen Quell markierte und bewachte. »Was für ein Quell war das?«, fragte Assur, während die meisten nur sprachlos Jarvis lauschten. »Ist«, korrigierte sie der ehemalige GenTec. »Er existiert immer noch, wurde nur versiegelt. Die beiden hier …« Er zeigte auf die Figuren seines Sitzes. »… verrieten es mir.« »Verrieten was?«, erkundigte sich nun auch Cloud, der wie aus einer Trance erwachte, so sehr hatte ihn der Bericht in den Bann gezogen. »Warum Ferenc und sein Orden damals verschwanden … beziehungsweise verschwanden ist falsch, sie sind noch heute da, nur nicht mehr erkennbar.« »Soll heißen?«, drängte Assur. »Bei dem Quell handelt es sich um ein Vorkommen des vielleicht seltensten Stoffes im ganzen Universum – an dem die Ganf seit jeher sehr interessiert waren.« »Lass mich raten: Das Zeug, aus dem sie diese Rüstungen herstellten … Nabiss nennen sie sie …«, sagte Cloud. »Sehr gut«, bestätigte Jarvis den Verdacht. »Der träumende Leichnam scheint das Ziel, den die Ganf mit Fundorten der seltenen Substanz verbanden, nie aus dem Blick verloren zu haben – nicht einmal im Tode. Und so förderte er eine pervertierte Abart dessen, was Ganf daraus zu schmieden vermögen. Er ›erfand‹ das Stahlbad, das diejenigen, die es nicht umbrachte, in einer Form erhöhte, die weitreichende Folgen für die Salmonen hatten. Ferenc und seine Ordensbrüder erlangten so etwas wie Kultstatus unter ihresgleichen – aber letztlich wurde er nur zum Werkzeug des Träumers.« »Alles andere, was folgte, hast du bereits erzählt«, sagte Cloud. »Nicht ganz«, widersprach Jarvis. »Ich habe vergessen zu erwähnen, was aus Ferenc und dem Orden wurde.« »Erzähl.« »Irgendwann zeigte der träumende Tod einen Anflug von Einsicht … oder Reue … wie immer man es sehen will. Jedenfalls scheint er begriffen zu haben, dass er auf dem Holzweg mit dem Stahlbad war
…« »Nette Metapher.« Assur grinste. »Danke. Jedenfalls entschied er, wenigstens dem ein Ende zu bereiten. Und so befahl er die Träger der Rüstungen zum Quell, den er … es klingt grausam, ich weiß, aber nachdem ich ihm so nahe kam, weiß ich besser als jeder von euch, dass er grausam ist … den er für alle Zeit, wie er hoffte, verschloss, versiegelte, indem er … einen Pfropfen aufsetzte.« »Einen Pfropfen?« »Den Mahnstein. Der Mahnstein, das waren einmal Ferenc und die anderen Träger der Rüstung. Ihr letzter Dienst an den Traum war die Schließung der Quelle … Was soll ich anderes sagen. So war es.« »Was du immer noch nicht gesagt hast, ist, wie du den Träumer unschädlich gemacht hast. Du hast immer betont, dass er nicht zu besiegen sei. Und als du die Fäden durchtrenntest, die ihn mit der Oberfläche und allem verbanden, hast du ein Aufbäumen ausgelöst, das fast noch die RUBIKON ins Verderben gerissen hätte …«, sagte Cloud. »Es hat einen Grund, weshalb ich nicht darüber gesprochen habe.« »Und der wäre.« »Es gibt eigentlich keine Rechtfertigung für mein Tun – ich bringe alle damit in Gefahr. Fürchte ich. Andererseits wurde mir versichert, ich hätte keine andere Wahl.« Cloud lächelte aufmunternd. »Wir werden dir schon nicht den Kopf abreißen. Rede. Was wurde aus dem Leichnam? Wie hast du ihn schließlich doch ausgeschaltet?« »Ich habe ihn eingeschlossen.« »Eingeschlossen?« »In mir.« Jarvis zeigte auf seinen Körper, und zum ersten Mal fiel den anderen auf, dass er vielleicht eine Spur dicker und größer war als früher. »Du willst sagen …?« Cloud spürte, wie sein Herz einen Takt überschlug. »Ich habe ihn mitgebracht – ja.« Als wäre das das Stichwort, lösten sich alle vierzehn Figuren von
den Armlehnen der Sitze und vereinigten sich innerhalb der Holosäule zu einem Wesen, das aussah wie jenes, das Jarvis noch bestens als träumenden Toten in Erinnerung hatte. »Ihr braucht es nicht zu fürchten. Ich stehe euch bei. Die Ganf sind nicht das Problem, das euch beschäftigen muss. Das Problem sind die, die ihr die ERBAUER nennt. Ihr seid nun in der Lage, zu ihnen vorzustoßen – und genau das müsst ihr tun. Sonst wird es die Bractonen und die Menschen, die ihr Angks nennt, schon bald nicht mehr geben. Seid ihr bereit zu helfen?« Niemand, der die Frage hörte, glaubte, dass er wirklich eine Wahl hatte. Und bevor Cloud antworten konnte, überbrachte Sesha aus dem Off eine Nachricht, die für eine ganze Weile jeden anderen Gedanken der Gefährten erstickte. »Soeben«, sagte die KI, »ist der Aurige Cy in seiner Kabine gestorben.«
Epilog Cy war tot. Für Tage rückte alles andere in den Hintergrund. Selbst das fremde Ding an Bord, das aussah wie ein Ganf, schien die Bedeutung des Verlusts zu spüren, denn es zog sich zurück, als wollte es der Mannschaft Zeit zu trauern geben. Sie beobachteten Kentyr noch eine Weile, und zuletzt mehrten sich die Anzeichen, dass sich die Verhältnisse auf dem Planeten zu normalisieren begannen – was nicht gleichbedeutend damit war, dass den Bewohnern rosige Zeiten bevorstanden. Aber ein gewisser Prozentsatz von denen, die vergiftet waren, würden vielleicht die Kraft aufbringen, um dem Gift zu trotzen – jetzt, da kein Träumer das Verderben mehr immer wieder neu schürte … Schließlich gab Cloud den Befehl, das System zu verlassen und Kurs auf die Koordinaten der Angkwelten zu nehmen. Was sie dort
allerdings erwartete, wusste er nicht – wahrscheinlich aber dieselben Verhältnisse, die beim letzten Besuch verhindert hatte, dass irgendetwas ins Innere des Systems gelangte. Dass alles im Fluss und nichts, gar nichts, geschafft oder gewonnen war, bewiesen die immer noch nicht zur Ruhe gekommenen Vorfälle an Bord. Es ging besorgniserregend weiter. Als Nächstes traf es … das Dorf. »Commander!« Cloud weilte im Sarkophag des Kommandopodests, als ihn Seshas Ruf erreichte. »Die Angks, Commander. Die Verbindung zu ihnen ist abgerissen.« Was war das jetzt wieder für eine Hiobsbotschaft? Der Deckel des Sarkophags war geschlossen. Die intensivste Form der Kommandoübernahme. Cloud verschmolz förmlich mit dem Schiff, war in der Lage, mit seinem Geist durch die verborgenen Adern zu eilen. »Was genau soll das heißen, Sesha? Werde deutlicher!« Die KI erwiderte stoisch: »Ich entschuldige mich, ich war unpräzise. Korrekt muss es heißen: Die Verbindung zu den Angks im Dorf ist abgerissen.« Nicht auch das noch!, war der eine spontane Gedanke. Alle anderen Überlegungen drehten sich dann aber schon um jenen speziellen Personenkreis, zu dem auch Assur und ihre Tochter gehörten und die – Ihm wurde heiß. »Die Position zweier Personen ermitteln! Name: Assur. Und Name: Winoa. Koordinaten!« Zu seiner unbändigen Erleichterung antwortete die KI: »Name Assur befindet Sie in deiner Kabine, Commander. Name Winoa in Ayleas Kabine.« »Und zu ihnen besteht Verbindung?« »Möchtest du mit ihnen sprechen?« »Nein. Zumindest noch nicht. Ich will nur sicherstellen, dass es ihnen gut geht.«
»Es geht ihnen gut.« »Was aber nicht für die im Dorf befindlichen Angks gilt?«, fragte Cloud nach. »Deren Befindlichkeit entzieht sich meiner gegenwärtigen Wahrnehmung.« »Und wie viele halten sich gerade außerhalb auf, Assur und Winoa mitgerechnet?« »Sechsundfünfzig.« Sechsundfünfzig … von mehreren tausend! »Ich will sehen, was du meinst. Wie kann die Verbindung abreißen, nur weil sie im Dorf sind. Spielen die Häuser etwa gerade wieder Transmitter …?« »Das Problem scheint anders geartet zu sein«, erwiderte Sesha, wodurch Cloud nicht unbedingt schlauer wurde. »Soll ich führen?« »Ja!« Die KI sandte einen mentalen Leitimpuls, der es Clouds Geist erleichterte, durch die Adern der RUBIKON zum Angkdorf zu finden. Alleine wäre es ihm auch möglich gewesen, aber nicht so schnell. Durch die Sensorik einer hochstehenden Technik »starrte« er einen kaum messbaren Moment später bereits auf das Dorf … beziehungsweise versuchte er, auf das Dorf zu blicken. »Wo ist es?«, keuchte sein Körper im Sarkophag. »Und was zum Teufel ist das?« »Deine Überraschung war abzusehen, Commander«, sagte die KI. »Aber das hier ist das Dorf. Auch wenn es kaum wiederzuerkennen ist.« »Unmöglich!«, war ein Wort, das Cloud eigentlich aus seinem Vokabular hatte verbannen wollen. Anlässe genug hatte es in den Jahren gegeben, seit er als »einfacher« Astronaut in einem irdischen Primitivraumschiff zum Mars aufgebrochen war. Aber jetzt rutschte es ihm doch heraus. Weil sich die Gebäude des Angkdorfes in einer Weise verändert hatten, die kaum auf dem Mist der Angks selbst gewachsen war. Sie hätten ihre Architektur sicher auch nicht ohne vorherige Rücksprache mit ihm in dieser Weise modifiziert.
»Kann es sich um eine Täuschung handeln? Auch kybernetische Augen sind manipulierbar, dafür haben wir Beispiele zuhauf …« »Wie du sagst … es könnte eine Täuschung sein, natürlich. Aber die Beobachtungswerte und alle von mir eingesetzten Instrumente zum Scan besagen etwas anderes. Diese Bauten sind real – nur eben nicht mehr das, was wir, seit die Bractonen Hand anlegten, für diesen Bereich des Schiffes kennen.« Cloud starrte auf die Aneinanderreihung schimmernder Pyramiden, die das neue Dorfbild prägten. Er wusste nicht, was er denken, geschweige denn, wie er reagieren sollte. Er war wie gelähmt. Die RUBIKON war ihm fremd geworden, fremder, als er es jemals für möglich gehalten hätte … ENDE
Glossar John Cloud
28 Jahre alt, 1,84 m groß, schlank, durchtrainiert. Sohn von Nathan Cloud, der an der ersten Marsmission teilnahm. Dunkelblond, mittellanges Haar, blaugraue Augen, markante Gesichtszüge, ausgeprägte Wangenknochen. Nach dem Fund und der Inbesitznahme der RUBIKON – eines Raumschiffs der Foronen, das von diesen SESHA genannt wurde – ist Cloud der Kommandant des Schiffes.
Jarvis
Ehemaliger Klon. Nach dem Tod des ursprünglichen Körpers wechselte sein Bewusstsein in die Rüstung eines Foronenführers, die aus Nanoteilen besteht. Sie ist wandelbar und kann von Jarvis beliebige Gestalt verliehen bekommen, er bevorzugt aber ein Erscheinungsbild, das an seinen ursprünglichen Körper erinnert und dessen Mimik er immer besser zu beherrschen lernt. Er ist ca. 1,85 m groß, hat ein schmales, energisches Gesicht und angedeutete streichholzkurze »Haare«.
Scobee
Weibliche in-vitro-Geborene. 1,75 m groß, violettschwarze, schulterlange Haare, schlank, sehr attraktiv, Anfang zwanzig. Statt Brauenhärchen trägt sie verschnörkelte Tattoos über den Augen, deren Farbe je nach Umgebungslicht und Bedarf variieren kann, der Grundton ist grün. Bewusst umschalten kann Scobee ihr Sehvermögen auf Infrarotsicht. Scobee wurde von Kargor mithilfe der mobil gemachten CHARDHIN-Perle aus dem Nar'gog-System befreit/entführt und ins AngkSystem gebracht. Wo sie mit Prosper Mérimée und
dessen Leuten über eine »Energiestraße« auf die Oberfläche eines der dortigen Planeten gelangt. Jiim
Geflügelter, einstiger Bewohner des Planeten Kalser, die sich selbst Nargen nennen. Jiim ist ein Freund der Menschen und im Besitz einer fast metaphysischen goldenen Rüstung namens Nabiss, die seit einiger Zeit förmlich mit seinem Körper verschmolzen ist, von diesem absorbiert wurde. Seine Befindlichkeit hat darunter nicht gelitten, im Gegenteil: Jüngst brachte Jiim ein Kind namens Yael zur Welt, für das er nun als »alleinerziehender Elter« die volle Verantwortung übernommen hat.
Yael
Jiims Junges, das einen rasanten Wachstumsprozess absolviert und dessen Gefieder überdies in der Farbe von Jiims Nabiss erstrahlt: golden. Yael verschlägt es kurzzeitig nach Portas im Angksystem, wo ebenso gefährliche wie rätselhafte Dinge vorzugehen scheinen. Nach seiner Rettung von dort kann er sich an nichts mehr erinnern, was mit seinem Aufenthalt zu tun hat. Aber mehr und mehr muss er erkennen, dass er … anders ist, als sein Orham Jiim es je erwarten konnte …
Charly
Ein rätselhaftes Geschöpf, das offenbar von Yael ins Leben gerufen wurde, wie genau, weiß noch niemand – eine Art »unsichtbarer Freund«, der jedoch durchaus physischer Natur ist. Er kann von anderen nur wahrgenommen werden, wenn Yael das will. Und nicht selten kommt er aufwieglerisch daher wie ein moderner »Karlsson vom Dach«. Er ist der geborene Anstifter …
Vorschau Die Wahrheit der Bractonen von Manfred Weinland
Das Ziel, das der »neue« Charly für die RUBIKON-Crew ausgegeben hat, ist klar – sie sollen unverzüglich zu den Koordinaten aufbrechen, wo sich einmal das Angksystem befand. Um es zu retten, wie der seltsame Sendbote es formuliert. Doch als sie dort ankommen, hat sich das Chaos noch verschlimmert. Es scheint keine Möglichkeit zu geben, die mahlstromartige Wolke zu durchdringen, die den einstigen Standort des Systems markiert. In dieser Situation melden sich Wesen zu Wort, die seinerzeit mit den Angkgeborenen an Bord kamen und von denen man lange nichts mehr hörte. Sind sie der Schlüssel, um das Chaos doch noch zu durchdringen?