Jörg Weigand
Der Traum des Astronauten Science Fiction-Stories
BASTEI-LÜBBE
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Science Fiction...
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Jörg Weigand
Der Traum des Astronauten Science Fiction-Stories
BASTEI-LÜBBE
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Science Fiction-Bestseller Band 22 056
| Copyright 1978,1979,1980,1981,1982,1983 by Jörg Weigand Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co., Bergisch Gladbach All rights reserved Titelillustration: Tim White/Agentur Thomas Schluck Umschlaggestaltung: Quadro-Grafik, Bensberg Druck und Verarbeitung: Eisnerdruck GmbH, Berlin Printed in Western Germany ISBN 3-404-22056-0 Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
Inhalt Ein netter kleiner Krieg (1983) 7 Vater der Zukunft (1980) 25 Immer am Ball (1981) 37 Der Vogel (1980) 47 Objekt der Verehrung (1981) 51 Die Welt des Doo (1980) 63 Selbstheilung (1983) 73 Sonnensegel (1978) 85 Ein Fall für den Tierschutzverein (1980) 89 Pepes Welt (1981) 99 Schleim (1978) 105 Der Traum des Astronauten (1981) 113 Belinda Superstar (1981) 122 Eigentor(1979) 137 Ein Stückchen Heimat und die Folgen (1981) 143 Touristenattraktion (1981) 153 Wir Kinder des Lichts (1983) 169 Ausklang (1980/1982) 181 Nachbemerkung 187
Ein netter kleiner Krieg
1 Die Männer sangen lauthals, als sie von dem Offizier mit der golden paspelierten Fangschnur eines Diensthabenden in Richtung der weit offen stehenden Ladeluke im Bauch des startbereiten Truppentransporters geführt wurden. Sie waren alle guter, fast ausgelassener Laune und freuten sich ganz offensichtlich auf den bevorstehenden Einsatz, über den sie beim derzeitigen Stand der Dinge noch gar nichts wissen konnten. Es war ihnen von niemandem befohlen worden, ein Lied anzustimmen, doch hatte weder der Diensthabende Unwillen gezeigt, noch waren die mitmarschierenden Unteroffiziersdienstgrade dagegen gewesen, als ein blondhaariger Obergefreiter aus der Kolonne spontan zu singen angefangen hatte und die übrigen mit ihrer rauen Stimmen eingefallen waren. Und so schallte nun das Lied »Heut' stürmen wir die Galaxis« zum harten Knallen der Stiefel auf dem Beton über das Rollfeld. Die Männer trugen bereits den leichten, tarnfarbenen Kampfanzug, geeignet für Einsätze bei sommerlich warmen bis heißen Temperaturen auf erdähnlichen Planeten, luftdurchlässig und dabei dennoch äußerst strapazierfähig. Die ebenfalls tarnfarben gestrichenen Kommandohelme mit dem Kehlkopf-Mikro und den verschiebbaren Sichtblenden baumelten ihnen vorne auf der Brust, so dass sie im Notfall fast ohne Zeitverzug übergestülpt werden konnten - im Ernstfall hatte sich das schon oft bewährt. Die Waffen, selbst die Handfeuerwaffen und der Spaten, und die anderen Ausrüstungsgegenstände wie Feldgepäck und Regenzeug, waren ihnen auf schweren Transportfahrzeugen zum Schiff vorausgefahren worden und befanden sich bereits im Innern des Truppentransporters. Die Männer würden sich noch früh genug damit abschleppen müssen, für den Augenblick wenigstens blieb ihnen diese Plackerei noch erspart. So lautete der Tagesbefehl des Kommandeurs der Fünften Fremdweltenbrigade, der diese Männer angehörten. Auf dem weitläufigen Gelände des Raumhafens war alle
andere Arbeit zum Erliegen gekommen, als die lang gestreckte Formation der Soldaten hinter dem vor langer Zeit ausgebrannten und nie wieder aufgebauten Hangar am anderen Ende des Flugfeldes aufgetaucht war. Die Fünfte Fremdweltenbrigade, seit vielen Jahrzehnten hier auf Chys, dem vierten Planeten der Sonne Tion am Rande des galaktischen Imperiums, stationiert und zum Teil aus der Jugend der einheimischen Bevölkerung rekrutiert, genoss einen geradezu legendären Ruf. Diese Brigade galt als vorbildlich für die gesamten übrigen Streitkräfte Terras in dem von Menschen kontrollierten Gebiet, so groß es auch war; und zwar galt dies sowohl für die Raumflotte wie für die Interventions- und Bodentruppen. Wer bei der Fünften Fremdweltenbrigade Dienst tat, war stolz darauf, und viele Kommandeure des terranischen Militärs hatten einmal in dieser Brigade angefangen. Kein Wunder also, dass Beifall aufkam auf der Piste des Raumhafens, als die Soldaten in strammem Schritt vorbeimarschierten. So mancher Techniker und Arbeiter hier auf dem Rollfeld hatte ein oder zwei Söhne, die in der Einheit Dienst taten, freiwilligen Dienst, auch wenn der Sold nicht gerade üppig war. Und stolz blickten die Väter auf ihre Nachkommen, die im Dienste Terras einem neuen Kampf, einem neuen Abenteuer entgegengingen. Die Bewohner von Chys identifizierten sich weitgehend mit den Angehörigen der Fünften Fremdweltenbrigade. Diese Männer trugen Uniform im Interesse des gesamten Imperiums, also auch im Interesse von Chys; sie sorgten dafür, dass die Bedrohung an den Grenzen, und davon war dieser Planet ja besonders betroffen, nicht zu übermächtig wurde. Ja, sie klatschten Beifall. Ihre Jungs würden es schon richtig machen!
2 Irgendwie hatte er mit der Institution Militär, aber auch mit ihren Repräsentanten, den Uniformträgern im Dienste der
imperialen Sicherheit, noch nie etwas anfangen können. Selbstverständlich verschloss er sich nicht der Tatsache, dass die Grenzen des terranischen Einflussgebietes gesichert werden mussten; doch was ihm total fremd war, war jene seltsame Mentalität, die selbst im Privatleben - weit weg von allen dienstlichen Belangen - militärische Haltung und Disziplin pflegte, ja von anderen auch forderte. Und da er gerade zu dem Zeitpunkt, als er gemustert wurde und seinen Dienst ableisten sollte, etwas schwach auf der Brust war, wie der Musterungsarzt sich ausgedrückt hatte, war er »einstweilen« zurückgestellt worden. Doch seitdem waren etliche Jahre vergangen, und man hatte sich nicht wieder bei ihm gemeldet. Während er durch das Bullauge die anmarschierende Kolonne beobachtete, überlegte sich Robert Zwick, ob er nicht eventuell in dieser Kolonne mitmarschieren würde - wenn, ja wenn sie ihn damals genommen hätten. Denn möglicherweise hätte er sich dann weiterverpflichtet, wer weiß; das taten viele, und manche blieben ihr ganzes Leben lang dabei. Manchmal allerdings war ein solches militärisches Leben auch sehr kurz; denn die Ausfallrate bei den Planeteneinsätzen war hoch, auf jeden Fall höher, als der Öffentlichkeit mitgeteilt wurde. Doch Robert kannte die echten Zahlen, und sie hatten ihn erschüttert, als er zum ersten Mal mit ihnen konfrontiert worden war. »An sich dürften wir diese Zahlen gar nicht kennen, geschweige denn in Form dieser Statistik besitzen«, hatte ihm sein Chefredakteur erklärt, nachdem er ihm das Papier zu lesen gegeben hatte. »Die halten das im Kolonialministerium streng unter Verschluss. Aber, na ja, irgendwann kommt ein solches Dokument eben doch auf den Markt.« Das war an dem Tag, als ihm Chef Pohl eröffnete, dass er mit der Fünften Fremdweltenbrigade einen Ausflug, wie er es nannte, machen sollte. »Warum eigentlich Kolonialministerium, ist da nicht das Verteidigungsministerium zuständig?« »Ganz recht«, war die Antwort. »Eigentlich schon, aber
irgendein Schlaukopf in der Verwaltungsplanung hat dem Kolonialministerium die Federführung für alles übertragen, was mit Fremdwelten zu tun hat.« »Aber heißt es nicht immer, daß die Moral der Truppe ausgezeichnet sei?« »Das sagen die vom Ministerium . . .« »Aber wie verträgt sich das dann mit der Statistik, die Sie mir gerade gegeben haben?« »Das sollen Sie ja recherchieren, mein Lieber. Deswegen habe ich Ihnen ja eine Möglichkeit verschafft, die Brigade bei ihrem nächsten Einsatz zu begleiten.« Robert Zwick versuchte zu protestieren, viel Lust hatte er nicht, ehrlich gesagt, zuerst einmal in einem überfüllten Truppentransporter mitzufliegen und dann auch noch mit den Soldaten irgendwo auf einem abgelegenen Planeten im Dreck zu liegen. »Warum gerade ich?« »Warum nicht?« war die Gegenfrage gewesen. »Oder spricht etwas dagegen?« Das letzte war eine ausgesprochene Gemeinheit gewesen, denn der Chef kannte Zwicks Ratlosigkeit gegenüber allem Militärischen. Aber der Reporter konnte schlecht ablehnen. Seitdem er vor einigen Wochen im Fall Bremer Mist gebaut hatte, hatte er -und das war Meinung aller in der Redaktion - noch etwas gutzumachen.
3 Die Angehörigen der Fünften Fremdweltenbrigade entpuppten sich als recht nette Kerle, mit denen gut auszukommen war. Auch die Unterführer waren erträglich, solange man sich mit ihnen nicht auf eine Debatte über Sinn und Zweck der bewaffneten Macht einließ. Aber nach dem ersten heißen Streitgespräch, bei dem es fast zu einer handfesten Prügelei gekommen wäre, hütete sich Robert, das
Thema von sich aus noch einmal anzuschneiden. Und für die andere Seite war sowieso alles klar, warum also noch viel darüber diskutieren? »Fordern Sie die Jungs nicht heraus, dann werden Sie gut mit allen zurechtkommen«, hatte ihm Hauptfeldwebel Skrobowsky an jenem Abend nach dem Streitgespräch geraten.« Da verstehen sie alle keinen Spaß, ich übrigens auch nicht; wenn wir nicht davon überzeugt wären, wären wir nicht hier, oder?« Wovon überzeugt? hätte Robert Zwick am liebsten gegengefragt doch er hielt lieber den Mund, denn mit Skrobowsky war nicht gut Kirschen essen, das hatte er bald raus. Der Mann hatte eine irgendwie brutale, rücksichtslose Ausstrahlung - er verkörperte im Grund all das, was Robert am Militär nicht leiden konnte. Es war besser, sich nicht mit ihm anzulegen. Die Einzelgespräche mit den einfachen Soldaten, den Gefreiten und Obergefreiten, brachten Robert nicht viel Neues. Versuchte er, ihnen Fangfragen zu stellen - etwa nach früheren Einsätzen und den damaligen Verlusten oder nach ihrem Verhältnis zu den Vorgesetzten, dann stieß er oft genug auf Unverständnis. Die jungen Kerle waren es zufrieden, im Dienste Terras den bunten Rock zu tragen und gleichzeitig damit ein nützliches Werk zu vollbringen. Schwierigkeiten? Sowas kannten sie nicht. Das kam Robert nun allerdings seltsam vor. Was war das für eine Truppe, in der es keinerlei Reibereien zwischen der Mannschaft und ihren Vorgesetzten gab? Und wo gab es Soldaten, die rundherum mit allem zufrieden waren? Material gab es dennoch, das lieferte man ihm sozusagen gratis frei Haus. Nachdem sie sich bereits etwa eine Woche im Raum befanden, ließ ihn der Kommandeur der Brigade zu sich rufen, Einsternegeneral der Raumtruppen Peter Casimir Braun, ein hochgewachsener, etwas zur Korpulenz neigender Rotschopf, dessen Haar sich allerdings bereits stark gelichtet hatte. Ihm auf einer schmalen Sitzgarnitur gegenübersitzend, fand sich Robert Zwick mit seinen 25 Jahren, schmächtig und kleingewachsen, doch etwas schäbig. Vor allem: Er hatte keine Uniform an, ihm fehlte all das Lametta, das der andere pompös zur Schau stellte. Das wirkte schon, sollte es wohl
auch. »Nun, mein Lieber«, begann der General, nachdem er sich bequem zurechtgesetzt hatte, während Robert nicht genau wusste, wie er sich nun verhalten sollte. »Sie also wollen unseren nächsten Einsatz mitmachen.« »Ja . . . ich meine ... wenn Sie ...« »Aber ich denke, das ist doch alles zwischen dem Hauptquartier auf Cera V und Ihrer Zeitung geregelt worden?« »Gewiss, Herr General. Ich wollte nur sagen, dass ich mich...« »Warum sagen Sie es dann nicht, wenn Sie es sagen wollen?« unterbrach ihn Braun mit einem prüfenden Blick. Er verstand es ausgezeichnet, der Herr General, seinen Gesprächspartner aus dem Konzept zu bringen. Robert empfand nun erst recht keine sonderlich großen Sympathien für diesen arroganten Soldaten. »Nun, ich war noch nie bei einem solchen Unternehmen dabei, deswegen wird für mich vieles neu sein.« »Haben Sie denn nicht gedient?« Robert verspürte fast so etwas wie ein Schuldgefühl in sich, aber er schüttelte es rasch ab, denn was konnte er dafür, dass ihn damals der Musterungsarzt für untauglich gehalten hatte? »Gesundheitliche Gründe«, sagte er knapp. »Erstaunlich«, bemerkte Braun und zog die rechte Augenbraue hoch. »Wirklich erstaunlich, dass Sie dann Ihren harten Job so gut durchstehen.« Genug damit, dachte der Reporter. Jetzt mal ran! »Können Sie mir sagen, wohin wir fliegen?« »Eigentlich ist das ja noch geheim, und normalerweise bekommen es alle außer mir natürlich und der Crew des Transporters - erst am Tage vor der Landung mitgeteilt. Aber ich denke, Sie haben gelernt, den Mund zu halten.« Er sah ihn unter buschigen Augenbrauen abschätzend an, nickte dann, wie um sich selbst zu bestätigen. »Unser Ziel heißt Masare.« Da verschlug es Robert Zwick doch den Atem. Denn alles hätte er erwartet, nur nicht diesen Namen. Der General hatte seine Reaktion genau beobachtet, und
nach einiger Zeit des Wartens, als Robert immer noch keinen Ton geäußert hatte, fragte er nur: »Nun?« »Warum diese Welt?« war Roberts Gegenfrage.« Sind denn Masarenen nicht bekannt für ihre Friedensliebe?« »Das ist offizielle Version, sicherlich.« »Was heißt das?« In Robert erwachte nun doch der Reporterinstinkt. » Nun, es hat Zwischenfälle gegeben. Ich denke, vor Ort werden Sie sich ein genaues Bild davon machen können.« Und damit war das Gespräch eigentlich zu Ende, denn der Reporter folgte nur noch mit halbem Herzen dem anschließenden Gespräch bei dem es um Nachwuchsprobleme der Brigade und die Berichterstattung über militärische Angelegenheiten und die Disziplin in der Truppe ging. Begreiflicherweise war der General über die Arbeit der Presse nicht immer hellauf begeistert, das verstand auch Robert. Dann verabschiedete er sich etwas überstürzt, vielleicht war das auch unhöflich, aber das war ihm im Augenblick ziemlich egal. Er hatte nach diesem Gespräch jede Menge Stoff zum Nachdenken.
4 Der Planet Masare, der zweite der Sonne CC-37 B, befand sich etwa viereinhalb Lichtjahre von Chys und 87 Lichtjahre von Terra entfernt. Seine Entdeckung verdankte er einem routinemäßig ausgeschickten Explorerschiff, das den erdähnlichen Planeten mit der atembaren Atmosphäre offiziell im Namen des Imperiums in Besitz nahm, ehe kurz darauf die intelligenten Eingeborenen entdeckt wurden - zu spät, um die Inbesitznahme rückgängig zu machen. Denn Masare als Teil des Imperiums war bereits aktenkundig - und was die Bürokratie einmal in ihren Akten hat, das rückt sie nicht mehr raus. Und außerdem war man im Imperium heilfroh über die Tatsache, einen für Menschen geeigneten Planeten gefunden
zu haben, auch wenn man ihn zur Zeit als Siedlungsland nicht benötigte. Die Masarenen waren entfernt humanoid, ähnelten eher aufrecht gehenden Koalabären, zumal sie eine ziemlich dichte, fliederfarbene Körperbehaarung besaßen. Dem Durchschnittsmenschen reichten sie etwa bis unter die Achsel, Exobiologen stellten in zahlreichen Experimenten, denen sich die Eingeborenen bereitwillig unterzogen, fest, dass die Masarenen keinerlei Aggressionstrieb besaßen, aber auch nicht die Flucht als Mittel zum Schutz vor Gefahren kannten. Sie brauchten so etwas nicht. Sie besaßen keine natürlichen Feinde, Raubtiere gab es nicht. Und Gewaltanwendung war auf dieser Welt überhaupt unbekannt. So hatten sie denn auch nichts dagegen, als die Menschen auf ihrer Welt einen Stützpunkt errichteten, der zunächst einmal - es vergingen zehn bis zwölf Jahre, in denen sich niemand im Imperium so recht für diese Welt zuständig fühlte, sie verstaubte sozusagen zwischen den Akten - recht klein und bescheiden ausfiel, bis, ja bis von einem Prospektorenteam auf Masare unvorstellbar große Vorkommen an jenem Metall gefunden wurden, das nach eben jenem Planeten benannt war, auf dem man es zuerst entdeckt hatte: Sabillium. Und ohne Sabillium war das überlichtschnelle Reisen einfach unmöglich. Erst ein dünner Überzug der Außenhaut mit Sabillium verlieh dem Material jene Festigkeit und dabei Flexibilität, die starken Vibrationen während des Eintauchens in den Hyperraum und während des Austritts ohne Schäden aushalten zu können. Seitdem bemühte man sich von Seiten des Imperiums sehr intensiv um den Sabillium-Abbau auf Masare. Die Eingeborenen kümmerten sich um solche Aktivitäten einfach nicht; was sie trieben, darum sorgten sich die Exobiologen. Das war so ziemlich alles, was Robert Zwick über jenen Planeten wusste, der das Ziel dieser Militärexpedition war, die er begleitete. Auch ein Nachschlagen in der großzügig ausgestatteten Bibliothek des Truppentransporters brachte
ihn nicht weiter. In der Hauptsache standen dort Abenteuerschmöker, Pornos und Sammelbände der Reden bekannter Politiker des Imperiums. In der Realenzyklopädie stand unter dem Stichwort »Masare« auch nicht mehr, als er bereits wusste. Und die wenigen Darstellungen über die Geschichte und Entwicklung des Imperiums waren allesamt so allgemein gehalten und im Sinne Terras geschrieben, dass sie nichts Neues vermitteln konnten. Aber Robert hatte ja Gelegenheit, sich selbst vor Ort ausführlich zu informieren.
5 Sie landeten nicht etwa auf dem Raumhafen von Masare-Central-Point, sondern irgendwo im Ödland »Alles Taktik«, erklärte Hauptfeldwebel Skrobowsky, der sich wohl im Auftrage des Generals ein wenig um den Reporter kümmern sollte. »Schließlich müssen ja nicht alle gleich alle mitkriegen, dass wir hier sind.« »Aber über Radar...« »Die Eingeborenen haben kein Radar. Die kennen keine Technik in unserem Sinn.« »Aber wie sollen sie eine Gefahr darstellen, wenn sie noch nicht einmal Technik kennen?« Skrobowsky sah Robert prüfend an, kniff die Lippen zusammen und antwortete dann hart: »Wer nicht mit uns arbeitet, der zeigt doch, dass er etwas gegen uns hat. Und wer gegen uns ist ...« Den Rest des Satzes ließ der Hauptfeldwebel unausgesprochen, doch Robert verstand nur zu gut, was gemeint war. Während ihres Gesprächs hatte das Ausladen des schweren Geräts begonnen: gepanzerte Mannschaftstransportwagen, leichte Lasergeschütze, Flammenwerferorgeln, Minenstreugeräte und Schweber, die der Erkundung dienten. Kaum war das Ausladen abgeschlossen, da hieß es:
»Sammeln! Jeder Soldat geht zu seiner Einheit!« Und dann gab es das, was Skrobowsky den »Aufmunterungsschluck« nannte. »Das machen wir immer so. Wir kümmern uns um unsere Leute. Und General Braun ganz besonders. Vor jedem Unternehmen gibt's etwas Anständiges zu trinken.« Und es gab Schnaps, für jeden eine doppelte Ration. Auch Robert erhielt seinen Teil davon ab. Und da er nach dem ersten Schluck feststellte, dass das Zeug sogar sehr würzig und aromatisch schmeckte, trank er mehr davon, als er eigentlich wollte; und er sah, dass die Soldaten sich ebenso ranhielten. Während er trank, beobachtete Robert Zwick Einsternegeneral Braun, der als einziger, wie es schien, kein Glas in der Hand hielt. Er beriet mit den Kompaniechefs, hielt wohl Einsatzbesprechung. Als er Roberts Blick auf sich gerichtet sah, winkte er ihn zu sich. »Bleiben Sie mal bei mir, junger Freund. Gleich geht's los!« »Gegen die Masarenen?« Robert war etwas überrascht. „Natürlich. Ein Dorf liegt unweit von hier, so einige Kilometer entfernt. Das nehmen wir uns jetzt vor.« Und wirklich brachen sie sogleich auf. Vorweg ein Schweber, dicht gefolgt von zwei Lasergeschützen. Und dahinter die Mannschaftstransportwagen.
6 Das Dorf lag in einer kleinen Senke, und es wimmelte nur so von Eingeborenen. Als sie die Kolonne kommen sahen, blieben sie stehen, wo sie gerade waren, und schauten den Menschen entgegen. Robert sah zum ersten Mal in seinem Leben einen Masarenen. Und es ekelte ihn. Er fand diese Wesen abscheulich. Er war überzeugt, dass sie ihm Übles wollten. Sie wollten über seine Mutter herfallen und seine Schwester verschleppen. Und sie wollten ihn kastrieren. Sie wollten die Erde vernichten. Und sie wollten das ganze Universum erobern.
Verdammte Pelztiere, die sie waren! Scheinheilige Bestien, die nur nach außen hin so friedlich taten. Das heftige Atmen um ihn herum bewies ihm, dass die Soldaten ebenso empfanden wie er. Er sah General Braun an und bemerkte dessen prüfenden Blick, dem ein zufriedenes Lächeln folgte. Überall fingen die Männer an zu fluchen. »Absitzen!« schrie Hauptfeldwebel Skrobowsky und mit ihm all die anderen Zugführer. »Auf sie!« Und dann begann das Gemetzel. Denn es war kein Gefecht, in dem sich die Feinde gegenüberstehen und sich gegenseitig ans Leder wollen. Hier blieb die eine Seite teilnahmslos, ließ sich niedermetzeln, abschlachten, verbrennen, in die Luft sprengen, zerfetzen, zu Pulver zerstrahlen – ohne auch nur die geringsten Anstalten zu einer Gegenwehr. Und Robert Zwick fand das alles ganz in Ordnung. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns, dachte er und wollte vom Kommandopanzer, auf dem er sich mit General Braun befand, herunterspringen, um selbst am Kampf teilzunehmen. Mit hartem Griff wurde er zurückgehalten. »Hier geblieben!« befahl Skrobowsky. Und General Braun fügte hinzu: »Sie sind doch nicht dazu da, unsere Arbeit zu tun. Beobachten Sie nur fleißig, damit Sie nachher genügend Material für Ihre Artikel haben. Aber natürlich freut es uns, daß Sie mit solchem Eifer bei der Sache sind.« Aber es juckte Robert schon mächtig, wenn er sah, wie die Soldaten der Fünften Fremdweltenbrigade unter den Masarenen aufräumten. »Da, Widerstand!« schrie ein Kompaniechef, den Robert nicht genau mit Namen kannte, Traber oder Treber oder so ähnlich hieß er. Er deutete zu einer Hütte hin, in der eine Masarenenfrau gerade das Fenster schloss. »Sie verbarrikadieren sich!« »Flammenwerferorgel vor!« Und Skrobowsky schrie vom Kommandopanzer: »Setzt die Lasergeschütze ein!« »Brennt das Dorf nieder«, wurde sein Ruf aufgenommen. Und
alle waren mit Feuereifer dabei. Und schließlich war von dem Ort nichts mehr übrig als rauchende Trümmer und verkohlte Leichen: Männer, Frauen und Kinder, alle waren bis zur Unkenntlichkeit unschädlich gemacht. Sie zumindest konnten der Erde und dem Imperium nicht mehr gefährlich werden, dafür war gesorgt. In Robert Zwick war eine große Befriedigung. Die Soldaten verstanden ihr Handwerk, und sie hatten ihre Arbeit getan. Und auch wenn er selbst nicht aktiv daran hatte teilnehmen können, so hatte er doch wenigstens mit ihnen gefühlt, hatte mit ihnen gehasst und hatte vom Panzer herunter Anfeuerungsrufe geschrieen. Unter den Männern der Fünften Fremdweltenbrigade hatte es nur drei Verwundete gegeben: Einer war unter den Trümmern einer einstürzenden Hütte begraben worden, einem anderen hatte ein Querschläger den Oberarmmuskel durchschlagen, und ein dritter war aus Versehen von einem Kameraden aufs Korn genommen worden: Verbrennungen, aber erlag bereits im Heilautomaten, bald würde er wieder mitmachen können. Und abends feierten sie ihren Sieg. Auch die beiden Leichtverwundeten. Und Robert feierte mit ihnen.
7 Sie hatten noch viele Einsätze dieser Art. Ein Dorf der Masarenen nach dem anderen wurde dem Erdboden gleichgemacht, systematisch, wie General Braun erklärte. Und an jedem Morgen, vor dem Einsatz, gab es die Zusatzration Schnaps, an die sich Robert bereits gewöhnt hatte, ja nach der er bereits regelrecht süchtig war. Doch eines Morgens, sie hatten über Gebühr lange bis in die Nacht hinein ihren täglichen Sieg gefeiert, und Robert war mit einem Brummschädel aufgewacht, eines Morgens nun geschah ihm ein kleines Missgeschick. Man hatte ihm seine Schnapsration eingeschenkt, und die anderen tranken bereits. Da erscholl ein Schrei. Jener Kompaniechef war's, Traber oder
Treber. »Sie hauen ab. Wir müssen hinterher.« »Austrinken. Und aufsitzen!« schrie Skrobowsky im Verein mit den übrigen Zugführern. Alle tranken hastig, nur Robert hatte gezögert, irgend etwas hatte ihn abgelenkt, eine Kleinigkeit, die sich aber in einem seiner Artikel gut machen würde. Kurz: Er wurde von den aufbrechenden Soldaten gerempelt, der Feldbecher ihm aus der Hand geschlagen, und das kostbare Nass versickerte im Boden. »Los, los!« schrie da auch schon Skrobowsky.« Oder wollen Sie etwa nicht mit?« Da fasste er nach der entgegengestreckten Hand und schwang sich auf den anfahrenden Kommandopanzer. Mit Bedauern sah er noch einmal auf die Stelle, wo der köstliche Schnaps vergossen war, doch er war hin. Es musste auch ohne Stärkung gehen. Und es ging ohne, doch anders als Robert Zwick es sich vorgestellt hatte. Denn nur allzu bald hatten sie die abziehenden Masarenen erreicht. Robert erinnerte sich, daß die Eingeborenen Flucht eigentlich nicht kannten. Vielleicht zog hier ein Dorf einfach nur einmal um? Seltsamerweise kamen ihm die bepelzten Masarenen ganz sympathisch vor, als er sie diesmal sah. Besonders ein Kind, das auf dem Arm seiner Mutter ganz munter in die Welt sah und die anrückenden Soldaten etwas scheu musterte, war ausgesprochen niedlich anzusehen. Der Kommandopanzer fuhr diesmal an der Spitze. General Braun ließ anhalten. Skrobowsky sprang herunter und stellte sich den wandernden Masarenen in den Weg. »Halt!« schrie er. »Keinen Schritt weiter. Ihr werdet noch für die Arbeit in den Minen gebraucht!« Doch die Eingeborenen ließen sich nicht beirren. Sie gingen um den Hauptfeldwebel, der mit seinen ausgebreiteten Armen ein wenig lächerlich aussah, herum und wanderten weiter in die ursprünglich eingeschlagene Richtung. »Wer nicht für uns ist, ist gegen uns!« schrie Skrobowsky. Da wurde es Robert erst klar, daß er noch nicht einmal wusste, ob und welche Sprache die
Masarenen besaßen und ob sie vielleicht auch Terranisch verstanden. »Absitzen und Feuer frei!« befahl Skrobowsky. Und dann begann die Hölle. Denn Robert Zwick erlebte zum ersten Mal richtig mit, was es hieß, einen Sieg über die Masarenen zu erringen. Die Eingeborenen ließen alles mit sich geschehen, sie wehrten sich nicht. Als erstes wurde das Kind auf den Armen der Mutter das Opfer eines Flammenstrahls. Zusammen mit der Mutter verging es in einer Feuerlohe. Und dann war kein Halten mehr. Und Robert wurde es übel, daß er glaubte, er müsste das Frühstück wieder herauswürgen. Und ihm wurde klar, woran das lag. Er hatte diesmal den Schnaps nicht getrunken. Weiß der Teufel, was da drin sein mochte, ein Enthemmer und ein Aggressator, ein Hassentfacher oder wie man das sonst nennen mochte. Jedenfalls war ihm nun bewusst, daß die Soldaten vielleicht abgesehen von wenigen in Führerfunktionen - vor jedem Einsatz gedopt wurden. Und daß sie gar nicht bewusst all dies Gräueltaten verrichteten. Sie hatten den Teufel im Leib. Aber nicht von Natur aus, man hatte ihnen den Hass zu trinken gegeben. Und er, Robert Zwick, musste aufpassen, daß niemand merkte, daß er diesmal nicht unter der Wirkung der Droge stand. Das würde einen Bombenbericht abgeben, eine wahre Sensation! Robert beobachtete aufmerksam weiter, auch wenn ihm übel war.
8 Im Lager wurde am Abend wieder gefeiert, und alles war wie sonst auch. Man war fröhlich und freute sich über den errungenen Sieg. Nur Robert musste sich zwingen mitzumachen. Und als er sich einmal wegen eines menschlichen Rührens in die Büsche schlug, da setzte er sich nach getaner Verrichtung ein wenig abseits auf eine kleine Lichtung, wollte Abstand
gewinnen, Luft schöpfen. Und seine Gedanken sammeln. Da hörte er Stimmen, ganz in der Nähe, die des Generals konnte er erkennen, gleich darauf auch Hauptfeld Skrobowsky. »Alles unter Kontrolle, Herr General«, sagte der Zugführer. »Eine gute Sache, das mit dem CTX-Y. Das Mittel wirkt einmalig.« Das war Einsternegeneral Braun. »Ja, die Männer sprechen alle darauf an. Sogar unser vorwitziger Reporter kann sich der Wirkung nicht entziehen.« Skrobowsky lachte: »Das wäre ja wirklich noch schöner, wenn ausgerechnet er immun gegen das Zeug wäre!« »Aber auf jeden Fall muss er vor dem Rückflug wie alle anderen Oubliat bekommen; denn davon darf natürlich nichts an die Presse. Und so ist er für uns ein ausgezeichnetes Alibi.« Robert Zwick merkte, wie die Wut in ihm hochstieg. So also war das. Das hatten sie sich ja schön ausgeknobelt! »Daraus wird nichts, Herr General!« schrie er unbeherrscht und brach durch die Büsche, bis er vor den beiden stand. »Was ich gesehen habe, das habe ich gesehen. Mein Wissen können Sie mir nicht nehmen ...« »Wen haben wir denn da?« Der General runzelte die Augenbrauen. »Das ist aber gar nicht nett, andere zu belauschen. Und was das andere angeht: Selbstverständlich können wir Ihnen Ihr Wissen nehmen. Am besten, Hauptfeld, gleich heute Abend.« Schon hatte Skrobowsky Robert im Polizeigriff geschnappt. »Zu Befehl, Herr General! Und dann werden wir das Bürschchen in Verwahrung nehmen, bis es wieder nach Hause geht.«
9 Es war immer ein großes Ereignis für die Bewohner von Chys, wenn die Soldaten der Fünften Fremdweltenbrigade von einem Einsatz in ihren Heimatstandort zurückkehrten.
Auch diesmal standen sie dicht gedrängt, als der Truppentransporter auf dem Rollfeld niederging. Und als sich die Schleuse öffnete und die Soldaten im Gleichschritt das Schiff verließen, da brandete Beifall auf, und »Hoch«-Rufe ertönten, denn man hatte schon von ihrem großen Erfolg auf Masare erfahren und daß sie sich wacker geschlagen hatten. Die Soldaten freuten sich offensichtlich ebenso herzlich über den Empfang, der ihnen bereitet wurde, auch wenn sie jetzt beim Vorbeimarschieren nicht zurückwinken durften. Und General Braun war sogar fast gerührt über die Anhänglichkeit der Bewohner von Chys. »Sehen Sie«, sagte er zu Hauptfeldwebel Skrobowsky, der mit ihm zusammen von der Schleuse aus den Abmarsch der Truppe beobachtete. »Diese Leute haben wenigstens noch Verständnis für unsere Arbeit. Was ein solch kleiner netter Krieg ausmacht! Er hebt die Moral unserer Leute und macht den Zivilen klar, dass wir nützliche Arbeit leisten.« »Gut, dass wir Oubliat haben, Herr General, und den Erinnerungsregenerator für die Nacht. So können wir unsere Arbeit optimal fortsetzen.« »Dennoch, Hauptfeldwebel, glauben Sie mir: Ich bin froh, dass wir wieder unter Menschen sind. Meinen Sie nicht, dass wir jetzt unseren jungen Freund in die Redaktion entlassen können?« »Jawohl, Herr General«, bekräftigte Skrobowsky. »Und diesmal, glaube ich, werden wir eine besonders gute Presse haben.«
Vater der Zukunft
1 Vorbemerkung des Herausgebers Vieles aus der frühzivilisatorischen Geschichte der Menschheit, insbesondere vor Einführung der neuen Datierung (n.D.) im Gefolge der Gründung des »Verbundes Besiedelter Welten« vor nunmehr fast 1079 Jahren, liegt im dunkeln. Zahlreiche Unterlagen: Dokumente, Register, Statistiken, Filme und Fotos sind selbst aus den zentralen Archiven verschwunden, in den Kriegswirren während der Einigungsbestrebungen zerstört oder durch Unachtsamkeit dem Verderb anheim gegeben worden. Dies ist bekannt und oftmals nicht nur in wissenschaftlichen Fachblättern wie der »Neuen Historiographischen Zeitschrift« oder der »Acta Omnium Planetarum Historica«, sondern auch in populären Journalen und Tageszeitungen beklagt worden. Im Gesamtzusammenhang der uns berührenden Geschichte ist es freilich ebenso wichtig, aus der Frühzeit der Fremdrassen, auf die menschlicher Forschungsgeist bisher gestoßen ist, nähere Kenntnisse zu erlangen. Der Weg dahin erweist sich in der Regel als noch schwieriger als das Aufspüren von Einzelheiten der frühen Menschheitshistorie, deren Probleme gerade kurz angerissen wurden. Zahlreiche Fremdrassen nämlich halten es geradezu für ihre Pflicht, dem Menschen selbst grobe Züge der Entstehung ihrer Kultur oder ihres Staatswesens vorzuenthalten. Uneinsichtigkeit, Ignoranz oder ganz einfach sture Abwehrhaltung erschweren derartige Forschungen ungemein. Um so betrüblicher muss daher die Tatsache bewertet werden, daß Dokumente über die Entwicklung auf anderen Welten uns nach Erhalt wieder verloren gehen. Erfreulich aber auch, wenn eine glückliche Fügung solche Unterlagen wieder verfügbar macht. Eine solche Wiederentdeckung ist dem Unterzeichner dieser Vorbemerkung bei der Durchsicht abgelegter, zur Verbrennung bestimmter Akten gelungen. Wie die wichtigen Unterlagen
zwischen die vergilbten Verwaltungsanordnungen gelangen konnten, ist unbekannt. Das wieder gefundene Dokument einschließlich Begleitpapier soll hier mit vollem entzifferbarem Wortlaut abgedruckt werden. Bei der geschichtlichen Quelle handelt es sich um ein Fragment der Stammesgeschichte einer intelligenten Spezies, die sich selbst »Maa« nannte. Die Papiere - es handelt sich um fünf handbeschriebene Blätter in der Rundbogenschrift der Maa, die teils stark verblichen sind - sowie deren Übersetzung wurden im Jahre 723 n.D. von dem Xenobiologen Heribert Polachewski an das damalige Zentralarchiv von Terra-City gesandt. Polachewski stand, wie in den Personalstammakten jener Zeit nachzulesen ist, in den Jahren 718 bis 731 im Dienst der irdischen Explorerflotte. Über die Art seiner Dienstverpflichtung, seinen Dienstgrad sowie sein weiteres Verbleiben nach 731 konnte nichts Genaueres in Erfahrung gebracht werden. Das Dokument der Maa besteht aus zwei Teilen, die sicherlich im Zusammenhang stehen und das gleiche Ereignis - wenn auch zeitlich verschoben - beschreiben. Polachewski hat mit der Eingabe der Dokumentenblätter und deren Übersetzung zugleich in einem Begleitschreiben die Umstände der Auffindung aufgezeigt, darüber hinaus einige notwendige Anmerkungen zum Planeten Maa-do und zur Rasse der Maa gegeben. Im folgenden soll zunächst dieses Begleitschreiben Polachewskis vorgelegt werden, da erst nach dessen Lektüre einige Einzelheiten des Maa-Dokuments begreiflich erscheinen. Danach folgen die beiden Teile des Dokuments in der Übersetzung Polachewskis, die der Schreiber dieser Zeilen nur an einigen wenigen Stellen stilistisch etwas geglättet und modernisiert hat. In einer abschließenden Bemerkung sollen dann noch die kargen Ergebnisse eigener Recherchen über den heutigen Stand auf Maa-do aufgezeigt werden. Eine Einordnung in den geschichtlichen Gesamtzusammenhang ist auf Grund dieser doch sehr spärlichen Unterlagen selbstverständlich nicht möglich, doch kann vorsichtig formuliert werden, dass das Maa-Dokument trotz aller Vorbehalt bereits wertvolle Einblicke in die psychologische
Konstitution einer Fremdrasse gewährt. Bleibt zu hoffen, daß eventuell weitere Funde, so unwahrscheinlich sie im Augenblick auch erscheinen mögen, Wer irgendwann für zusätzliche Aufhellung sorgen werden. Lund Samwall. Oberarchivar Zentralstelle für Dokumentation von Fremdrassen Terra-City, 19. Tag im 3. Monat d.J. 1078 n.D.
2 Polachewskis Begleitbrief Maa-Do, im siebenten Monat d.J. 723 n.D. An Zentralarchiv Dokumentation Fremdrassen Terra-City, VBW In Erfüllung von § 5 meines Arbeitsvertrages mit der Explorer-flotte, der mir das Sammeln von Dokumenten über Fremdrassen und deren Weitergabe an das Zentralarchiv zur Aufgabe macht, reiche ich in Anlage die Fragmente eines Berichtes ein, der auf dem Planeten Maa-do (d.i. »Welt der Maa«) entstanden ist. Maa-do ist der fünfte Planet der Sonne Mi-ra (d.i. »Gott des Lichts«), etwa 860 Lichtjahre von unserem eigenen Sonnensystem entfernt. Vor rund zwei Jahrzehnten erkundete ein Scout-schiff der Explorerflotte zum ersten Mal das Mi-raSystem und katalogisierte in groben Zügen den fünften Planeten, der sich als einziger als bewohnbar und bewohnt erwies. Vor zwei Jahren wurde ich als Xenobiologe auf Maa-do abgesetzt, um mittels einer Feldstudie das Verhalten der Eingeborenen der Maa (d.i. »Geschöpfe«), zu untersuchen. Die Maa gehören zu den Hominiden; sie messen zwischen 90 und 120 Zentimetern Körpergröße, gehen aufrecht und haben
sechs Finger an jeder Hand und je sechs Zehen an den Füßen. Sie verfügen über unwesentlich mehr Haarwuchs als wir Menschen. Die Sprache der Maa ist reich an Worteinheiten und erinnert in der Sprachstruktur ein wenig an das irdische klassische Chinesisch, das heißt, die Sprache kennt so gut wie keine Grammatik; lediglich über die Syntax wird dem einzelnen Wort der genaue Bedeutungsinhalt und seine Funktion im Satzzusammenhang zugewiesen. Maa-do, der Planet, besitzt eine Achsneigung ähnlich Terra, der breite Mittelgürtel quer zur Polachse verfügt durchschnittlich über ein fast mediterranes Klima; gegen die beiden Pole hin allerdings nimmt die Wärme rasch ab bis hin zu erbitterter, ewiger Kälte. Die Maa, einzige intelligente Spezies dieser Welt, leben in jenem Mittelstreifen. Technische Errungenschaften sind ihnen fremd, selbst das Rad ist noch nicht erfunden. Dennoch verfügen sie über eine - mehr auf geistiger Ebene basierende Zivilisation. Sie führen ein ruhiges Leben als Bauern und sporadische Jäger. Dieses eben Geschriebene basiert weitgehend auf Vermutungen bzw. auf den Beobachtungen einer einzigen Großfamilie von genau 17 Individuen. Es ist mir in den zwei Jahren meines Aufenthalts auf Maa-do nicht gelungen, weitere Maa-Leute aufzustöbern, obwohl ich mit dem Schweber weite Vorstöße in alle Himmelrichtungen unternommen habe. Die Maa leben dem Jahresrhythmus angepasst, der ihnen drei Ernten schenkt. Nahrungsmangel scheint demnach nicht die auslösende Ursache für die gravierende Dezimierung an Individuen zu sein. Ich vermute, dass das beigelegte Dokument dem Kundigen einen Schlüssel zum Verständnis des MaaSchicksals bietet. Ich erhielt die fünf Blätter während eines der drei jährlichen Erntedankfeste, die dem Gott Mi-ra, also der Sonne dieses Planeten, gelten. Zuvor schon hatte ich ab und an vom »Vater der Zukunft« gehört, wenn ich bei abendlichen Gesprächen oder auch während der täglichen Feldarbeit versuchte, Einzelheiten der Vergangenheit zu ergründen. Der »Vater der Zukunft« scheint im Denken der Maa, zumindest aber dieser Großfamilie,
eine tragende Rolle zu spielen. Einzelheiten aus dem Dokument, das die Flucht in den Norden anlässlich einer Seuche beschreibt, vermögen Aufschlüsse über den Mann zu geben, der später mit dem Ehrennamen »Vater der Zukunft« bedacht wurde. Die fünf Blätter des Dokuments, in der Rundbogenschrift der Maa abgefasst, sind vor und während des Marsches in den Norden beschrieben worden. Der Mittelteil des Berichts fehlt leider, er scheint verloren gegangen zu sein. Wenigstens förderte eine auf meinen Wunsch durchgeführte Suche keine weiteren Blätter zutage. Die dem Maa-Dokument beigegebene Übersetzung habe ich zusammen mit meinem alten Freund Lu-a, dem Oberhaupt der Großfamilie, angefertigt. In strittigen Fragen habe ich seinen Anregungen und Interpretationen Folge geleistet. Im übrigen wurde darauf geachtet, den Inhalt der Papiere mit der gebührenden Sorgfalt wiederzugeben. In Erwartung des Schiffes, das mich ins Plaje-System zu einem neuen Einsatz befördern soll, Heribert Polachewski.
3 Das Maa-Dokument, erster Teil »... schlechte Kunde aus allen Himmelsrichtungen: Es scheint, als sei die Rote Seuche wieder ausgebrochen. Die Stammesältesten haben sich bereits gestern zu einer Beratung zurückgezogen, die - wie üblich - mehrere Tage beanspruchen wird. Bo-o, unser noch junger Anführer, wird sich bei diesen Beratungen zum ersten Mal richtig bewähren müssen. Wer aber kann sagen, was wird, wenn die Rote Seuche nicht zum Stillstand kommt? (Einige Zeilen im Original nicht mehr zu entziffern. H.P.) Wir opfern jeden Tag mehrmals; Mi-ra möge uns gnädiger gestimmt werden! Seit Tagen regnet es, die Ernte verfault auf den Feldern. Unser Gott zürnt mit seinem Volk Die Weise
Urirau möge uns helfen, einen Weg zur Besänftigung des zürnenden Mi-ra zu finden. Die Ältesten haben ihre Beratungen beendet. Bo-o konnte sich mit seinem Vorschlag nicht durchsetzen. Seine Idee war, vor der Roten Seuche nach Norden auszuweichen. Er verweist auf die Heilige Überlieferung, die davon spricht, daß in den Nordgebieten das Heilmittel zu finden sei, falls einmal die Große Krankheit ausbrechen sollte. Doch weiß man, ob mit dem Begriff >Große Krankheit< die Rote Seuche gemeint ist? Darauf hat Ta-u, der Rivale Bo-os, nicht nur im Rat der Stammesältesten, sondern auch um die Gunst von Ba-i, der Tochter des Breitkornanbauers Sa-a, zu Recht hingewiesen. Die Heilige Überlieferung sei nur eine Sage, und im hohen Norden gebe es keine Möglichkeit zu überleben. Ich warte, dass ... (Unleserlich. H.P.) Sa-a ist gerade aus dem Nachbardorf gekommen. Dort sind alle tot. Sa-a hat geschworen, dass er nichts und niemanden berührt hat, aber alle hier haben Angst. Wir haben ihn gezwungen, wegzugehen. Ba-i, seine schöne Tochter, hat sich ihm angeschlossen, nachdem es ihr nicht gelungen war, das Dorf umzustimmen. In der Angst waren sich alle einig. Am ärgsten hat sich Ta-u, der immer um Ba-is Gunst buhlte, gegen das Verbleiben ihres Vaters im Dorf ausgesprochen. Doch vielleicht ist es schon zu spät, und Sa-a hat die Ansteckung bereits eingeschleppt. Möglicherweise hat Bo-o mit seinem Vorschlag doch recht, auf jeden Fall wird sich der Rat der Ältesten noch einmal damit befassen. Seit gut zehn Wochen sind wir auf der Wanderung. Bo-o führt uns in die Gebiete des Nordens, nachdem der Ältestenrat nach nur eintägiger Beratung beschlossen hatte, seinem Vorschlag zu folgen. In den letzten Wochen war wenig Gelegenheit auszuruhen, daher musste diese Niederschrift warten. Heute haben wir eine etwas längere Rast eingelegt, denn wir haben die ersten Ausfälle. Für viele Maa sind die Anstrengungen zu groß, sie bleiben zurück, denn tragen können wir sie nicht. Wir haben die Rote Seuche hinter uns gelassen, doch die Angst begleitet uns und treibt uns weiter vorwärts.
Es ist kalt geworden. Wir haben festgestellt, dass wir nicht genügend Kleidung mitgenommen haben, um uns zu wärmen. Wir Männer sind da noch in einer besseren Lage, wir sorgen uns um die Jagd und sind daher immer in angestrengter Bewegung, doch Frauen und Kinder leiden stark an der Kälte. Auch Bo-o weiß keinen Ausweg; so weit im Norden war noch keiner von uns. Ta-u triumphiert wieder einmal. Zwar hatte er sich bei der letzten Ratssitzung der Stammesältesten nicht durchsetzen können, doch nun scheint es, als behielte er recht. Die Nahrung wird immer knapper, wildes Breitkorn ist kaum noch zu finden. Wovon sollen unsere Frauen in Zukunft die Fladen zubereiten? Doch schlimmer noch: Auch mit der Jagd geht es nicht mehr wie zu Beginn. Seit Tagen haben wir keinen Wa-bo (d.i. eine Art Springbock, das Hauptjagdtier der Maa. H.P.) mehr erlegen können. Wir leben von den Vorräten, doch wir brauchen dringend frische Nahrung...«
4 Das Maa-Dokument, zweiter Teil «... haben sie Ta-u entseelt gebracht. Er ist in eine Felsspalte eingebrochen und tief gestürzt. Ich weiß nicht, wie lange wir uns nun schon wieder gegen Süden schleppen. Es gibt Stimmen unter uns, die meinen, es wäre besser gewesen, im Norden umzukommen. Doch Bo-o treibt uns vorwärts. Es ist erstaunlich: Freimütig gibt unser Anführer zu, dass er sich geirrt hat, was die Überlebensmöglichkeiten hier im Norden angeht. Doch Ta-us Triumph hat nicht lange gedauert, nun ist er tot. Bo-o dagegen ergeht sich in Andeutungen; immer wieder betont er, im Süden warte die eigentliche Entscheidung auf uns, wichtiger als alles, was der Stamm bisher durchgemacht hat. Bo-o hat wieder einmal eine Idee, doch noch will er nichts davon verraten. Wir sind nur noch insgesamt 26 Männer, Frauen und Kinder. Allmählich nähern wir uns wieder fruchtbaren Gefilden. Gestern
gelang es unseren Jägern zum ersten Mal seit vielen Wochen, einen Wa-bo zu erlegen. Groß war die Freude, wir haben Halt gemacht, um neue Kräfte zu sammeln. Das gibt Gelegenheit, diese Aufzeichnungen zu vervollständigen. Es scheint, wir haben den kalten Norden überlebt, nur um hier auf den fruchtbaren Äckern unseres Heimatdorfes zu sterben. Es ist Bo-os Idee. Kaum näherten wir uns wieder bekannten Tälern und Hügeln, da wuchs die Angst in uns vor der Roten Seuche. Je mehr Tage wir wieder zu Hause waren, um so größer wurde diese Angst. Apathisch saßen wir alle herum und warteten, dass die Krankheit uns packte. Es war Erntezeit, doch keiner dachte daran, die Früchte einzubringen oder für Mi-ra das Dankfest zu feiern. Da trat Bo-o mit jenem Vorschlag unter uns, der uns entsetzte, der aber gleichzeitig uns allen in der Tat der einzige Ausweg zu sein scheint. Bo-o schlug vor, wir sollten uns freiwillig mit der Roten Seuche infizieren, denn ein solches Leben in Angst sei in Wahrheit kein Leben mehr. Und nur der könne in Zukunft ohne Furcht weiterleben, der die Krankheit überwunden habe. Was schade es, wenn ein großer Teil des Stammes an der Seuche sterbe, wenn nur einige wenige Immune die Krankheit überlebten. Bo-o hat uns klargemacht, dass auf diese Weise das Volk der Maa wieder eine Zukunft haben werde. Und Bo-o hat recht. Denn schon mehren sich bei den restlichen Angehörigen des Stammes die Anzeichen des Wahnsinns, eines Wahnsinns, der seine Wurzeln in der erdrückenden Angst hat, die auf allen lastet. Natürlich gab es zuerst Widerspruch gegen Bo-os Idee, doch die meisten haben die Berechtigung seines Vorschlags rasch eingesehen. Die wenigen noch Entschlusskräftigen haben die Initiative ergriffen, morgen schicken wir drei unserer kräftigsten Jäger in die Nachbardörfer, um die Krankheit in unser Dorf zu schaffen ... (Hier beginnt das letzte Blatt, in einer anderen Handschrift abgefasst. Wie auch auf den Blättern zuvor ist nicht vermerkt, wer diese chronikartigen Aufzeichnungen verfasst hat. H.P.) Bo-o ist tot. Heute morgen erlag er der Roten Seuche. Zuletzt war sein Antlitz ganz mit jenen grässlichen Beulen übersät, die
das Fleisch aushöhlen und zum Zusammenbruch führen. Bo-o starb, ein Lächeln auf den Lippen. Denn kurz zuvor hatten wir ihn mit dem Ehrennamen .Vater der Zukunft, geehrt Er ist nicht nur so, dass er uns eine neue Verheißung geschenkt hat, Bo-os Voraussage ist eingetroffen- zwei von uns, Nu-o, der Starke, und De-a, die Üppige, sind offensichtlich unempfindlich gegenüber der schrecklichen Krankheit. Beide machen sich zum Aufbruch fertig. Lange kann es nicht mehr dauern, bis auch der letzte von uns Kranken tot ist. Auch ich spüre bereits die Kälte in meinem Blut, kaum vermögen meine Finger den Stift zu halten. Nu-o und De-a mögen lange leben, und ihre Nachkommenschaft möge ohne Furcht vor der roten Seuche aufwachsen. Gesegnet sei Bo-o, der »Vater der Zukunft. «
5 Schlussbemerkung Soweit die Dokumente, die ein glücklicher Zufall wieder der Wissenschaft zugänglich machte. So dürftig diese Unterlagen sind, sie ermöglichen dennoch einige Einblicke in die Psyche einer Rasse, über die keine Annalen weiter Informationen enthalten. Auch die eigentlichen Berichte des Xenobiologen Polachewski, die er alle drei Monate abzuliefern hatte, sind nicht mehr auffindbar. Dass wir über jene wenigen Informationen verfügen, ist um so wichtiger, als eigene Recherchen des Herausgebers dieser Papiere ergeben haben, dass sich die Prophezeiung jenes Stammesführers mit Namen Bo-o, den die sterbenden Maa zum »Vater der Zukunft« ernannten, nicht erfüllt hat. Der Planet Maa-do ist entvölkert, von den Maa ist nichts mehr aufzufinden außer einigen Überresten ihrer nicht weit fortgeschrittenen Zivilisation. Die Ursachen für das endgültige Aussterben dieser Rasse ist
unbekannt. Mag sein, dass die Nachkommen der beiden ursprünglich Resistenten dann doch nicht gegen die Rote Seuche immun waren . Ebenso möglich ist, dass Auswirkungen des Inzestes zur Degeneration und damit zum Aussterben führten; ein einziges Paar ist eben doch eine allzu schmale Basis für die Gründung einer neuen Volksgemeinschaft. Es kann aber natürlich auch andere Gründe für das Aussterben der Maa geben; diese sind uns jedoch unbekannt.
Immer am Ball
27. Mai Heute Vormittag kam Order von der World Wide TV-News: Auf dem schnellsten Wege nach Indien. Da ich die vergangene) Tage vor der kanadischen Küste das Abschlachten der allerletzten Robben gedreht habe (tolle Bilder; die neue 4-XVide» Kamera vermittelt den Eindruck, als spritze einem das Blut direkt ins Gesicht), bin ich nicht auf dem laufenden. Nach allem, was ich bisher weiß, scheinen in Bangladesh wieder eine Menge Menschen am Verhungern zu sein. Eigentlich scheut lieh, solche Verhungernden, aber ich habe das schon einmal mitgemacht. Man gewöhnt sich an alles; nichts als Routine. VVW-TV hat mehrere aktuelle Berichte und ein 45-MinutenFeature bestellt. Feine Sache, damit ist eine Menge Geld a machen. Vor der Abreise muss ich aber noch mit Wolf Maier von der WW-TV sprechen, diesmal sollen die mir nicht die Butter vom Brot nehmen; die ausländischen Verwertungsrechte müssen bei mir bleiben. Besonders da ich mir vorstelle, das Feature diesmal um den Themenkreis »Mutter - Kind« herumzubauen Wenn so ein halbverhungertes Kleines mit brauner Haut über dem aufgequollenen Bauch an den schlaffen Brüsten der auch schon fast toten Mutter kaut - das sind Bilder, die den Zuschauer ansprechen. Und so was lässt sich auch spielend international vermarkten.
28. Mai Vor der Abreise. Gerade war ich bei Maier. Alles geregelt. Zuerst wollten die bei WW-TV einen Aufstand veranstalten, aber dann haben sie doch klein beigegeben. Besonders als ich ihnen das Telex unter die Nase hielt, auf dem International Sensation mich aufforderte, für sie m Bangladesh zu drehen. Gut, dass ich Ted bei IS-TV kenne; irgendwann werde ich ihm den kleinen Freundschaftsdienst mit dem getürkten Telex schon vergelten können.
Habe die Kamera noch einmal durchgecheckt. Alles okay. Nur das Zoom wollte zuerst nicht recht; irgendein Schmutzpartikelchen muss sich an der Schiene festgesetzt haben. Mit dem Staubpinsel war schließlich auch das in Ordnung zu bringen. Seitdem die TV-Anstalten sparen und nur noch Einmann-Berichterstatter bezahlen wollen, muss ich besonders sorgfältig darauf achten, dass mit der Kamera immer alles in Ordnung ist. Früher, als ich gelernt habe, bestand ein Team immerhin aus vier Leuten: Kameramann, Kamera-Assi, Toningenieur und (eventuell) Beleuchter. Dazu kam dann noch der Reporter, der oft genug abseits vom Team seine Recherchen anstellte. Seit zehn Jahren, also seit etwa 1985, mit der Einführung der ersten Allround-Kameraausrüstung mit Einmannbedienung, ist das alles überflüssig geworden. Nun bin ich mit meiner Kamera allein vor Ort: Als Reporter und Kameramann in einer Person; das eingebaute Richtmikro auf Schwenkachse sowie der automatische Lichtausgleich, der selbst bei schlechtesten Lichtverhältnissen das Drehen noch erlaubt, haben auch die restlichen Teammitglieder überflüssig gemacht. Manchmal stört mich freilich das Reportagemikro direkt vor meiner Nase, aber da die neue 4-DX-Video praktisch selbsttätig arbeitet, sobald ich sie auf ein lohnendes Motiv gerichtet habe, kann ich mich doch sehr auf den Text konzentrieren, den ich auf das fertig geschnittene Material spreche, wie ich es auf dem (leider etwas zu kleinen) Monitor sehe.
30. Mai Gestern kam ich nicht dazu, wenigstens einige Eindrucke festzuhalten. Der Flug verlief ruhig, der Service an Bord der Maschine war, wie immer in den letzten Jahren, miserabel. Der Zoll in Dakka machte einige Schwierigkeiten, aber auch daran habe ich mich schon gewöhnt. Bis ich dann in meinem Hotel - dem »Metropol« - war, ging gerade die Sonne unter. Nach einem schnellen Imbiss
und einem erneuten Checking der Kamera, die (toi, toi, toi) die Reise gut überstanden hat, blieb gerade noch Zeit für einen Drink an der Bar. Dort traf ich dann einige Kollegen, die bereits seit Tagen hier sind, darunter Jose Amadillo von Brazil Inter und Hajime Suzuma von Nippon Standard TV sowie Terry Marx, der für eine Privatfirma an einer Dokumentation über »Katastrophen 1995« arbeitet. Jose und Terry kenne ich von mehreren Einsätzen her, unter anderem aus Zentralafrika von der großen Flut und von dem Erdbeben vor zwei Jahren auf den Ryukyulnseln. Hajime Suzuma war mir bisher nur vom Hörensagen bekannt; er gilt als scharfer Hund, der überall hart am Ball bleibt. Alle drei Konkurrenten, gewiss, aber auch prima Kumpels. Heute habe ich als erstes einmal die Stadt in Augenschein genommen. Sie ist total überfüllt, da die Bevölkerung von Lande hereinströmt in der Hoffnung, hier etwas zu essen zu bekommen. Doch da die Stadtverwaltung Rationierungsbons ausgegeben hat, die nur für alteingesessene Stadtbewohner gelten, krepieren die Bauern schon direkt vor der Hoteltür. Habe einige nette Motive gesehen (bei einer Rauferei um einen schimmligen Reisfladen hat ein Jugendlicher einem Greis das linke Auge ausgekratzt). Habe mich geärgert, dass ich die Kamera im Hotel gelassen habe. Zurück im Hotel, musste ich feststellen, dass diese Flaschen noch nicht einmal in der Lage sind, ihren Gästen ein Steak vorzusetzen. Musste mich mit Spiegeleiern auf Toast begnügen. Die Eier schmeckten schauderhaft nach Fischmehl, ich habe die Hälfte stehen lassen und eine geharnischte Beschwerde angebracht. Doch diese sturen Hunde kann nichts beeindrucken. Der schiefnasige Kellner hat nur mit der Achsel gezuckt und abgeräumt. Als ich gleich darauf den Speisesaal verließ, sah ich ihn in einer Ecke meinen Teller leeren. Na, wohl bekomm's!
31. Mai Ich bin rechtschaffen müde. Dieser Tag hatte es in sich. Gleich
am Morgen sind Terry Marx und ich in die Umgebung von Dakka gefahren, auf der Suche nach lohnenden Motiven. Ich glaube, ich habe erstklassiges Material bekommen. Etwa neun Kilometer außerhalb trafen wir in einem Dorf mit unaussprechlichem Namen auf ein Notaufnahmelager. Ein unerwarteter nächtlicher Platzregen hatte die Wege des Lagers zum Teil bis in Kniehöhe unter Wasser gesetzt. Die Leute hocken wahllos in irgendwelchen schlammgefüllten Löchern; das Wasser steht ihnen bis zum Hals - doch sie rühren keinen Finger, um sich selbst zu helfen. Dazwischen liegen die Leichen der Verhungerten, keiner kümmert sich um ihre Beseitigung. Sicher, das gibt Bilder, doch etwas mehr »Action« wäre mir lieber. Schließlich kann ich hier nicht so lange warten, bis die Cholera ausbricht (und Anzeichen dafür gibt es). Schön und gut: Die Mutter, die in der vergangenen Nacht ihr Baby nicht schnell genug aus den einströmenden Fluten geborgen hat und nun, das ertrunkene Mädchen im Arm, in ihrem Dreckloch sitzt und vor sich hinstarrt, ist vielleicht als Einstieg für mein Feature nicht schlecht. Aber eigentlich hatte ich mir mehr erhofft ... Da lobe ich mir die Überschwemmung letztes Jahr in Zentralafrika. Der Dauerregen prasselte 63 Tage lang herunter, und die Wassermassen, die sich durch das Hochtal wälzten, über dem wir unser Standquartier bezogen hatten, besaßen eine solche Wucht, dass sie selbst die riesigsten alten Baumknorren mit sich fortrissen. Damals drehte ich für die kanadische Gesellschaft TT-TV. Besonders begeistert war man in Ottawa von meinem Kurzbericht - ich möchte es eine Impression nennen - über das Knäblein, das versuchte, seinen vom Wasser hinweggeschwemmten Hund zu retten. Ich stand unmittelbar neben dem Buben, als er selbst abgetrieben wurde. Mit dem Zoom habe ich alle Details haarscharf mitbekommen. Beinahe hätte ich dafür auch noch einen Preis erhalten; das sind eben Bilder, wie sie das Publikum sehen will. Ich glaube, wir müssen weiter ins flache Land hinein, um genügend Stoff für unsere Berichte zu erhalten. Auch Terry ist nicht recht zufrieden; vorhin schimpfte er, das sei doch alles Routinequatsch. Unmittelbar vor der Hauptstadt sieht eben alles
noch viel zu geordnet aus. Das hat mir auch Pierre Mireau bestätigt, den ich auf dem Rückweg vom Notaufnahmelager traf. Pierre ist noch einer von den Altmodischen. Er arbeitet immer noch mit der ARI, hat ein komplettes Team dabei, w wir es seit Jahren nicht mehr kennen - und er arbeitet mit einem Reporter zusammen, dem es aber hier in Bangladesh zu blöd ist, mit vor Ort zu fahren. So hat Pierre freie Hand beim Drehen; getextet wird dann am Abend in der Hotelbar.
1. Juni Mann, bin ich geschlaucht. Gestern Abend bin ich mit Pierre und Hajime in einer Bar der Altstadt versackt. Hajime hat mir ein paar Tipps gegeben, wo für meine Feature-Story eventuell noch etwas an Bildteppich zu holen ist. Ich habe zwar den Verdacht, dass er selbst dort schon fleißig abgegrast hat, aber ich denke, wir werden uns dennoch nicht ins Gehege kommen. Als angenehme Überraschung stellte sich heraus, dass Pierre Mireau vor sieben Jahren ebenfalls in Saudi-Arabien war, als die amerikanische Eingreiftruppe die Ölquellen besetzte. Komisch, dass wir uns damals nicht gesehen haben. Andererseits herrschte dort damals ein solches Durcheinander... Saudi-Arabien war ein toller Job. Es war mein erster Versuch als Freelancer. Ich hatte in der International Prop Oil einen! potenten Geldgeber gefunden; die amerikanische Ölfirma wollte Bildmaterial für den hausinternen Gebrauch. Das hat sie auch bekommen, zur Genüge. Leider ist davon natürlich nie etwas über den Sender gegangen. Das gesamte Material liegt! noch bei der Firma - was die daraus gemacht haben, ist mir unbekannt. Eigentlich schade, denn ich hatte zum Beispiel exklusiv, wie die Eingreiftruppe das Erdölministerium »gesäubert« hat. Mann, war das ein Spektakel, die Jungs haben ganz schön gewütet. Starkes Material war das. Na ja, wenigstens hat die Ölgesellschaft gut bezahlt. Und weiterempfohlen hat sie mich auch. Seitdem bin ich gut im Geschäft und habe, glaube ich
inzwischen einen prima Riecher für zuschauerwirksame Bilder entwickelt. Das kommt einem bei einem Einsatz wie hier in Bangladesh, wo so gar nicht viel los ist, gut zustatten. Wo nichts ist, muss man halt was zaubern. Heute sind Jose und ich weiter von Dakka ins Landesinnere gefahren. Etwa fünfzig Kilometer, dann fanden wir, wonach wir suchten. Hier auf dem flachen Land ist die Not in der Tat schlimmer als dicht vor den Toren der Hauptstadt. Mein Feature nimmt immer mehr Gestalt an. Von den Kurzberichten habe ich bereits einige abgeschickt. Die 4-DX-Video bewährt sich wieder einmal, auch bei solchem Routinekram. Die Erde ist hier knochentrocken und hat teilweise mehrere hundert Meter lange Risse. Wo man hintritt, wallt feinpulvriger Staub auf. Den Regen vorletzte Nacht muss das Land wie ein Schwamm geschluckt haben. Ein Tropfen auf den heißen Stein. Durch meine Sauferei gestern Abend, aber auch wegen des verteufelten Staubs überall, habe ich einen solchen Brand, dass ich schon fast eine ganze Flasche Bourbon ausgetrunken habe. Mein Kopf fühlt sich an wie ein wattegefüllter Ballon. Die Menschen liegen hier auf den Straßen, auf den Feldern, in den Häusern, kurz überall herum und regen sich nicht mehr. Ausgemergelte Gestalten, denn flüssige und feste Nahrung fehlt. Was mir fehlt, ist »Action«! Ich traf einen UN-Beauftragten, der sich vor Ort ein Bild von der Katastrophe machen wollte. Jose war gerade am anderen Ende und versuchte, ein Interview mit einem Bauern zu erhalten. Der UN-Beauftragte schätzt die Zahl der bisherigen Toten auf über 100 000. Ich habe ihn sofort vergattert, dass er diese Zahl vorerst - zumindest bis morgen zurückhält. So habe ich sie exklusiv und kann drum herum eine tolle Rührstory bauen. Den Bildteppich dazu habe ich hier vor der Nase.
2. Juni Heute morgen habe ich meine Frau angerufen. Meine Kurzberichte sind alle gelaufen. Silvie hat sich bei WW-TV
erkundigt, dort scheint man ganz zufrieden mit meiner Arbeit zu sein. Jedoch hat Silvie von Wolf Maier gehört, das Bildmaterial sei manchmal schwach gewesen. Verdammt, sollen die doch einmal selbst hierher in den Dreck kommen und die S drehen. Aber trotzdem: Ich muss mich halt anstrengen, noch stärkeres Material aufreiße. WW-TV zahlt gut, ich r sie mir nicht vergrätzen. Silvie kann einen manchmal richtig nerven. Hat sie mir noch am Telefon mitgeteilt, dass sie einen neuen Wagen r will. Dabei ist der jetzige, das neueste Methanol-Modell, noch kein halbes Jahr alt. Ich habe erst einmal abgelehnt, so leicht verdiene ich mein Geld schließlich auch nicht. Aber dann sie am Telefon einen solchen Zirkus veranstaltet, dass ich schließlich doch zugestimmt habe. Aber ich habe mir ausbedungen, dass sie mit dem Kauf wartet, bis ich wieder zu Hause bin. Sonst Routine. Der Monsun kündigt sich an. Ich wollte zuerst nicht glauben, denn er kommt vor der Zeit, doch José Amadillo, der sich in dieser Gegend besser auskennt, hat midi auf den schweren nächtlichen Regen vor einigen Tagen hingewiesen. Nun, das ergibt dann hoffentlich doch noch starke Bilder.
3. Juni Ein harter Tag liegt vor mir. Ich muss die letzten Bilder drehen WW-TV hat mich zurückgerufen. In Afrika gibt es irgendwo einen Volksaufstand, das sei im Augenblick wichtiger und zugkräftiger als Indien, schreibt Wolf Maier in dem Telegramm das mir der Zimmerboy heute früh unter der Tür durchgeschoben hat. Maier hat nicht so unrecht; schließlich sterben jeden Tag irgendwo auf der Welt soundso viele Menschen an Hunger aber Revolutionen gibt es gar nicht mehr so häufig. Mir soll's recht sein. Die eine Woche hier reicht mir. Ich muss aber unbedingt noch genügend Monsunbilder zusammenkriegen, denn seit heute Nacht fällt das Wasser nur so vom Himmel. Zwar habe ich schon einige Einstellungen, aus dem Dorf, damals nach dem Regen. Aber es geht um die Atmosphäre, die ich als
Ergänzung zu meinen Dürrebildern brauche. Auch dem Feature wird es gut tun, wenn ich es ein wenig mit entsprechendem Material anreichere. Um die aktuellen Kurzberichte kümmere ich mich nicht mehr, dafür habe ich keine Zeit. Das kann die Redaktion aus dem Materialangebot der Agenturen nehmen. Ich frage mich nur, wann hier, bei diesen hygienischen Verhältnissen, die Cholera ausbricht... Heute Nachmittag um 16 Uhr geht meine Maschine. Ich darf nicht vergessen, mit Wolf Maier dieselben günstigen Konditionen für Afrika auszuhandeln wie für den hiesigen Einsatz.
Der Vogel
Der kleine Vogel hüpfte immer um den Pfeiler der Turbobahn, herum und pickte im Staub. Das Getöse der Bahn über ihm ^ auch die vielfältigen Straßengeräusche schienen ihn nicht a stören. An dem graubraunen Gefieder erkannte der alte Main auf der anderen Straßenseite, dass es sich um einen Spatz, handelte. Nun war er 92 Jahre alt, der Greis, und hatte sei Jahren keinen Spatzen mehr gesehen. Er hatte sich freilich noch nie viele Gedanken darüber gemacht, weswegen es immer weniger Vögel gab. Seit einigen Jahren ging er nicht mehr oft auf die Straße; der Lärm und das Gequirle der Menschenmassen stießen ihn ab. Nur manchmal, wenn er es in seine» Zimmerchen gar nicht mehr aushielt, traute er sich für einige Minuten außer Haus - um danach schleunigst wieder in die Geborgenheit seiner vier Wände zu fliehen. Heute hatte er gerade die Hektik der Durchgangsstraße verlassen wollen, um auf seinem Zimmer die Nachmittagsnachrichten anzusehen, da erblickte er den Vogel. Der Spatz schien im Straßendreck eine Menge Pickenswertes zu entdecken, denn er kam gar nicht zur Ruhe. Das Köpfchen ging auf und ab, stocherte den Schnabel in den Untergrund; dann ein Hüpfen seitwärts oder nach vorn, und wieder geriet das Köpfchen in Bewegung. Diese stete Bewegung war es wohl auch, die einige Jugendliche auf den Vogel aufmerksam machte. Die etwa Vierzehnjährigen schlenderten langsam näher und hielten sich dabei im Sichtschatten des mächtigen Pfeilers der Turbobahn. Dabei sprachen sie miteinander, doch das Brausen des Straßenverkehrs war so intensiv, dass der alte Mann auf der anderen Seite der Straße nichts verstehen konnte. Plötzlich bückte sich der eine Jugendliche, für sein Alter hochgewachsen und von Mutter Natur mit einem wirren schwarzen Haarschopf bedacht, griff in den Staub und warf - eine Bewegung ging in die andere über - einen Steinbrocken auf den Vogel, der arglos herumpickte. Die vier Kumpane des Schwarzhaarigen taten es ihm nach und im Nu prasselte ein Steinhagel auf das kleine Tier nieder. Der erste Brocken musste bereits getroffen haben, denn als der
alte Mann, von den vorbeifahrenden Wagen immer wieder irritiert, genauer hinschaute, lag der Spatz bewegungslos am Boden. Der Alte erkannte in der jugendlichen Gruppe nun auch ein Mädchen, das sich bückte und den Vogel aufhob. Unter der Berührung der menschlichen Hand bewegte der Spatz schwach seine Flügel. »Lasst den Vogel in Ruhe!« schrie der Greis mit zitternder, vor Erregung heiserer Stimme, konnte aber den Straßenlärm nicht übertönen. Doch drüben, unter der Turbobahn, bemerkte einer aus dem Augenwinkel das Gestikulieren des alten Mannes und machte die anderen darauf aufmerksam. Ein fast verachtungsvoller Blick herüber, dann wandten die fünf ihre Aufmerksamkeit wieder dem Tier in der Mädchenhand zu. Ehe sich der Alte versah, befand er sich mitten auf der Fahrbahn des in dieser Fahrtrichtung dreispurigen Boulevards, getrieben von einer jäh aufschießenden Erregung. Er verursachte Notbremsungen und musste Verwünschungen anhören, doch er kam unbeschadet auf den Mittelstreifen unter der Turbobahn. Die Jugendlichen gingen ihm nun langsam entgegen, das Mädchen hielt immer noch den Vogel. »Na, Opa, was ist denn los?« fragte der Schwarzhaarige grinsend. Von dem waghalsigen Abenteuer der Fahrbahnüberquerung war der Alte außer Atem geraten. »Lasst ... den ... Vogel ... in Ruhe!« stieß er hervor. Und dann, nachdem er tief Luft geholt hatte: »Ihr solltet euch schämen, mit Steinen nach dem armen Tier zu werfen und es zu verletzen!« »Ach, reg dich ab!« sagte ein anderer Bursche. »Was ist schon an so einem Ding dran!« Dem Alten schössen wirre Erinnerungen durch den Kopf: an Nachmittage auf sonnenhellen Wiesen, während er den trillernden Lerchen lauschte; an Winternachmittage, wo er den Meisen an den Futterringen zugesehen hatte; an die zeternde und sich balgende Spatzenschar im Hinterhof seines Wohnblocks, wie er sie noch vor Jahren von seinem Fenster aus beobachten konnte. Nun gab es nichts mehr dergleichen.
Aber - wie sollte er diesen halben Kindern mit dem Blick von Erwachsenen dies alles deutlich machen, ihnen das Besondere an diesem einen Spatzen erklären? Sie kannten nur eine Welt voller Autos und Turbobahnen. Was bedeutete ihnen ein Wiese, ein Wald? Und was so ein Spatz? Der Alte streckte die Hand nach dem Vogel aus, der ihn nu großen Augen ansah. Flehend ansah, so war sein Eindruck. »Gebt ihn mir«, bat der Greis. »Ich werde ihn gesund pflegen.« »Bah, so ein Quatsch!« lachte da der Schwarzhaarige hellauf, die beiden bisher Stummen grienten. »Aus welchem Jahrhundert stammst du denn, Opa?« Er nahm dem Mädchen den Vogel aus der Hand. Seine Finger schlossen sich so fest um das Gefieder, dass der Greis selbst den Druck zu spüren glaubte. Mit einer heftigen Bewegung schleuderte der Schwarzhaarige den Vogel vor sich auf den Boden. Das geschah so schnell, dass der alte Mann keine Zeit zur Reaktion hatte. Der Fuß da Jugendlichen schnellte vor und trat auf den Vogel, drehte sich auf dem Absatz: vor und zurück. »Da siehst du, was von deinem Vogel übrig bleibt!« Der alte Mann war zu Boden gesunken; er kniete vor den Überresten des Spatzen. Seine tränenverschleierten Augen nahmen nur undeutlich die Drähte, Schrauben und Blechteile wahr, die aus dem aufgeplatzten Tierkörper quollen. Hinter ihm entfernten sich lachend die Jugendlichen.
Objekt der Verehrung
1 Als sich die Abenddämmerung allmählich über die ausgedörrte Steppe senkte, begannen die Schakale zu heulen, und die Frauen des Stammes stampften die letzten Körner für den Fladenteig. Zwei erfahrene Jäger erhoben sich aus der kauernden Runde, die der vorzeremoniellen Meditation gewidmet, war, und begaben sich auf Posten auf die erste Wache, Um die Mitte der Nacht, wenn der Mond sich über den Berg der erhob, würden sie von zwei anderen Stammesangehörigen abgelöst werden. Tarak, der Jungjäger, war für diese Nacht von der turnusmäßigen Wache befreit. Als Jüngster im Mannesalter, er zählte gerade 16 Sommer, wurde er zwar öfter als die Alterfahrenen zu Diensten und Pflichten herangezogen, doch hatte die Erfahrung den Stamm gelehrt, dass man selbst die Zähesten und Ausdauerndsten unter den Jungen nicht unbegrenzt belasten konnte. So waren auch Tarak fünf von zehn Nächten zum unbegrenzten Schlaf gestattet worden. Tarak reckte seine breiten Schultern, griff hinter sich zum abgelegten Bogen und dem Köcher und erhob sich aus da gebückten Haltung. Bis zur Zeremonie war noch ein wenig Zeit. Seine Augen suchten Malia, die vierzehn Sommer zählte; ihre tiefbraunen, glühenden Augen und ihr schlanker Körper hatten es ihm angetan. Nach den Regeln des Stammes galt zwar die Verbindung von Mann und Frau innerhalb der Stammeseinheit als nicht erwünscht, doch handelte es sich dabei nicht um ein direktes Tabu - so dass Tarak fest entschlossen war, Malia nach allen Kräften zu umwerben, um sie im nächsten Sommer, wenn sie das heiratsfähige Alter erreichen würde, in seine Hütte zu führen. Der Stamm der Hundskrieger lagerte seit Generationen am Rande der großen Ebene, die auch jetzt noch - nach so langer Zeit - von den Narben der Großen Katastrophe gezeichnet war, Diese Steppe dehnte sich über den ganzen nördlichen Teil Elopas aus; tundraartiger Bewuchs sorgte für nur wenig
Abwechslung. Dennoch: die Steppe gab ihnen Nahrung, und in den Randgebieten gegen Süden hin ließ sich sogar während der Trockenzeiten noch etwas Wasser finden. Und der hochstämmige Wald auf den Hängen der Berge, die den Südwesten der Ebene einfassten, bot den idealen Standort für die Behausungen der Hundskrieger. Malia bewohnte mit ihren Eltern und sechs wesentlich jüngeren Geschwistern eine der größeren Laubhütten. Als noch Unberührbare durfte sie bei der allabendlichen Zeremonie natürlich nicht dabei sein; ebenso wenig war es ihr gestattet, der vorzeremoniellen Meditation beizuwohnen. Und da außerdem der Abend nun rasch kam, war Tarak sicher, das Mädchen in oder bei der elterlichen Behausung anzutreffen. Betont unauffällig schlenderte der Jungjäger, den Federschmuck des ersten Jahres keck aus der Stirn geschoben und den Bogen geschultert, vom Feuer weg; den Köcher mit den langfiederigen Giftpfeilen schleifte er lässig hinter sich her. Noch wollte er sein Interesse nicht zu deutlich zeigen; denn auch andere Jungjäger hatten Malias Liebreiz entdeckt. Tarak wollte weder Unghu noch Peta allzu früh darauf aufmerksam machen, dass er, Tarak, sich um die Tochter von Nabar, dem Bärentöter, bemühte.
2 Nach der Meditation musste Bernar, der vom Großen Rat der Stämme in der Elopa-Steppe eingesetzte Oberpriester, mit der Vorbereitung der Zeremonie beginnen. Die Regeln schrieben vor, dass der Ritus noch vor der Einnahme der abendlichen Mahlzeit, des einzigen gemeinsamen Essens am Tage, ausgeübt werden musste. Bernar seufzte. Es waren immer die gleichen Vorbereitungen zu treffen, die Handgriffe waren ständig dieselben, und ob der Große R dadurch gnädiger gestimmt würde und dadurch das verheißene Glorreiche Zeitalter der Technik wiederkommen würde - der Oberpriester zuckte insgeheim mit den Achseln, erschrak aber gleichzeitig vor seiner
eigenen Reaktion und seinen blasphemischen Gedanken. Es durfte kein Zweifel aufkommen, dass der Große R gelebt hatte. Denn so stand es geschrieben. Und auch, dass er, mit seinen treuesten Jüngern und Chronisten, die Unsterblichkeit erlangt hatte. Nie durfte er als Oberpriester am Wahrheitsgehalt der Verheißung auf Wiederkehr des Großen R zweifeln. Und beschlichen ihn doch Zweifel, dann musste er sie gut verbergen. Da,, bei den Stammesangehörigen der Hundskrieger wie bei der Angehörigen der übrigen Stämme in der Elopa-Steppe musste der Glaube fest sein wie gewachsener Fels. Und dafür wollte er immer sorgen. Und wehe, es wagte einer gegen den Kult lästern, wie vor wenigen Sommern der Jungjäger Jew. Er hatte die Frechheit besessen zu behaupten, möglicherweise habe da Große R - gelobt sei sein Name, der nur auf dem heiligem Artefakt gelesen, aber nie ausgesprochen werden durfte, und gepriesen seine fünf Chronisten - gar nie gelebt; die Zeremonie sei daher ohne Wert. Bernars ganzer Zorn hatte Jew getroffen, und er hatte den Jungjäger mit einem harten Bann belegt, so dass in der Folge niemand unter den Stammesangehörigen es wagte, ihn mit Nahrung oder Kleidung zu versorgen, ihm Unterschlupf zu gewähren oder auch nur das Wort an ihn zu richten. Ja, so wacker verteidigte der Oberpriester Bernar seinen Gott, den Großen R, denn dass die Stammesangehörigen bereit waren, ihn jeden Tag aufs neue mit allem Lebensnotwendigen zu versorgen, war abhängig davon, dass er ihnen den rechten Glauben erhielt und ihnen das »Objekt der Verehrung« präsentierte. Das »Objekt der Verehrung«. Bernar schlug sich an die Stirn. Er musste sich beeilen, die Zeremonie würde sogleich beginnen. Schweißperlen auf der Stirn und der Nasenspitze, eilte der Oberpriester, so schnell ihn die Füße trugen, zur Hütte der Verehrung, in der das Heiligste aufbewahrt wurde. Und mit aller gebotenen Sorgfalt machte er sich daran, die Schachtel aus Eichenrinde mit dem wertvollen Inhalt, der den Hundskriegern vom Großen Rat der Stämme zugeteilt worden
war, vor der Hütte aufzubauen. Aus den anderen Hütten näherten sich schon die erwachsenen Männer und Frauen des Stammes. Alle machten feierliche, erwartungsvolle Gesichter.
3 »Von meinem nächsten erlegten Bock bringe ich dir eine Keule.« Mit diesem Versprechen trennte sich Tarak, der Jungjäger, von Malia. Gleich begann die Zeremonie. Bernar, der Oberpriester, wurde rasch unwirsch, wenn ein Angehöriger, des Stammes zur abendlichen Kulthandlung zu spät kam. Entschuldigt waren nur die Jäger, die auf einem ausgedehnten Streifzug nach Wild außerhalb der Ansammlung von Hütten übernachten mussten. Tarak beeilte sich, vor die Hütte der Verehrung zu gelangen, wo Bernar das »Objekt der Verehrung« bereits auf einem Gestell aus Weidenschösslingen zur Schau stellte, so dass auch alle es sehen konnten. Als alle Angehörigen des Stammes der Hundskrieger, die berechtigt waren, an der Zeremonie teilzunehmen, versammelt waren, begann der Oberpriester mit der Kulthandlung. »Großer R, wir danken dir!« Bernar rezitierte diese gewohnten Eingangsworte mit erhobener Stimme. »Wir danken dir für alles, worauf wir noch hoffen dürfen«, antwortete der Stamm im Chor. »Ewiglebender Einiger der Menschheit, du wachst über uns mit deinen Jüngern und Chronisten!« sang Bernar. Und die Gemeinde: »Chronisten des Großen R, mit Namen Khascher, Cladatn, Kutma, Weweh und Kubran gerufen, nehmt euch des Stammes der Hundskrieger an.« Und wieder Bernar: »Du bist der Erbe des Universums, wir warten auf dich!« »Einige die Stämme der Steppe in Elopa, so wie du die Völker des All geeinigt hast, auf dass wir aufs neue erobern fremde Welten.« Deutlich konnte Tarak aus dem Chor die Stimme von
Unghu, seinem möglichen Rivalen bei Malia, heraushören. Als er hinüberblickte, rezitierte dieser offensichtlich voller Inbrunst den vorgeschriebenen Text. Tarak verzog leicht das Gesicht. Doch schon war da wieder Bernars eindringliches Rufen: »Großer R, dessen Namen nicht ausgesprochen werden darf, hier vor dem »Objekt der Verehrung«, bringen wir dir, Glauben dar!« »Denn wir glauben an dich, großer R, und an deine Wiederkunft und an die von den fünf Chronisten niedergeschriebene Geschichte deines Lebens und Wirkens«, sang der Chor. Wie immer bei diesen Worten fühlte Tarak Ehrfurcht aufsteigen. Glaubte man den heiligen Worten, dann war die Leistung, die der Große R vollbracht hatte, wahrhaft gigantisch. Abgesehen von allem anderen, konnte es sich Tarak einfach nicht vorstellen, dass ein Mensch sich vom Erde erhob und zum Mond flog, jenem nächtlichen Begleiter der Erde, von dem der Oberpriester Bernar manchmal behauptete, der Große R habe dort oben immer noch eine Hütte für sich und warte nur darauf, wieder zur Erde herabzusteigen und die Stämme der großen Ebene zu einigen. Bei solchen Gelegenheiten der gemeinsamen Anrufung vergaß Tarak leicht seine Zweifel, die ihn manchmal befielen. Wenn er während der Jagd im Wald außerhalb des Dorfes übernachten musste, dann kamen ihm wohl skeptische Gedanken. Etwa, warum es denn zu der Großen Katastrophe gekommen sein mochte, wenn der Große R doch allmächtig und allwissend war und dazu noch das ewige Leben hatte. Schon als Kind hatte er einmal während der »kleinen Unterweisung« solche Einwände vorgebracht, war aber von Bernar mit dem Hinweis zum Schweigen gebracht worden, der Große R habe die Menschen für begangene Fehler bestraft und wenn Tarak nicht augenblicklich den Mund halte, werde der Große R auch ihn bestrafen. Und dann hatte Tarak den Mund gehalten, doch die Zweifel meldeten sich immer wieder einmal, und in letzter Zeit traten sie immer häufiger auf. Das ging soweit, dass Tarak inzwischen
bezweifelte, in jener geheimnisvollen Schachtel aus Eichenrinde könne wirklich etwas aus der Hinterlassenschaft des Großen R stecken. Tarak schrak auf. Die Schlussformel. Seine Augen begegneten dem wütenden Blick des Oberpriesters, der offensichtlich Taraks Geistesabwesenheit bemerkt hatte. Während er die heiligen Worte sprach, überlegte Bernar, was gegenüber dem renitenten Jungjäger zu tun sei. Er wollte ihm noch eine Chance geben. Aber nur eine.
4 Nach der Zeremonie versuchte Tarak rasch zu verschwinden. Er wollte sich einen Platz neben Malia sichern, da es gleich ans gemeinsame Abendessen ging. Doch Bernar hatte ihn nicht aus den Augen verloren. »Tarak!« Der Ruf war ein Befehl, und eine winkende Hand bedeutete ihm, dem Oberpriester zu folgen. Die Rindenschachtel vorsichtig tragend, betrat Bernar die Hütte der Verehrung. Tarak war draußen stehen geblieben, doch der Ältere zog ihn hinein, nachdem er die Schachtel vorsichtig auf dem Tisch im Innern abgestellt hatte. »Tarak, ich mache mir Sorgen um dich«, begann der Oberpriester. Tarak sah ihn nur stumm an; in seinen Augen glomm Auflehnung, die trotz des schummrigen Lichts, das von einer Kiefernfackel herrührte, erkennbar war. Bernar ließ sich nicht beirren, »Wenn ich dich so sehe, dann muss ich an den unglücklichen Jew denken ...« Tarak durchzuckte es wie ein Stich. Nein, wie Jew wollte er nicht enden. Er dachte an Malia, dann blickte er Bernar offen an. »Was betrübt dich, Bernar?« »Erzähl mir etwas über das Objekt der Verehrung«, forderte der Oberpriester den Jungjäger auf.
»Nun«, Tarak fühlte ich überrumpelt, darauf war er gewiss nicht vorbereitet. »Jahrhunderte nach der Katastrophe fanden Jäger des Stammes der Hundskrieger in einer Höhle eine Metallkassette. Darin waren Druckschriften, die über den Großen R erzählten. Bis dahin war den Stämmen der Ebenen nichts von dem Großen R bekannt gewesen. Nun wurden die Fundstücke gesichtet und schließlich auf die einzelnen Stämme verteilt. Doch bei der Verteilung kam es zum Streit; seitdem gibt es zwar noch den Großen Rat, doch der ist nur noch für religiösen Belange zuständig. Sonst herrscht Krieg auf der Steppe.« Bernar nickte beifällig zu Taraks Darstellung. »Einiges hast du aus der »kleinen Unterweisung« richtig behalten, aber natürlich ging das mit der Auswertung und Verteilung nicht so schnell. Darüber allein vergingen etwa 20 Jahre, bis sich die Weisen der Stämme über den Wahrheitsgehalt der Papiere im klaren waren.« Der Oberpriester zeigte auf die Schachtel: »Was, meinst du, ist da drin?« Tarak zögerte mit der Antwort. »Ich weiß nicht. Wenn Schriften darin sind, heilige Schriften ich kann sie nicht lesen. Nur Priestern ist es erlaubt, diese Kunst zu erlernen.« »So ist es. Da ich seit einiger Zeit den Eindruck habe, dass du Zweifel hegst, ob überhaupt etwas darin ist, will ich dir den Inhalt zeigen.« Bernar öffnete den Deckel der Schachtel und erklärte: »Vielleicht kannst du dich erinnern: In der Höhle fand man insgesamt fünfzig Schriften in jener Metallkassette; dazu noch einen Brief desjenigen, der dafür gesorgt hat, dass die Kunde vom Großen R uns erreicht hat. Es ist fast ein Wunder, dass die alles den Feuersturm der Katastrophe überdauern konnte. Jene fünfzig Schriften sind die Aufzeichnungen der Chronisten Khascher, Cladatn, Kutma, Weweh und Kubran - die einzigen schriftlichen Dokumente aus der Zeit vor dem Untergang der alten Welt.« Bernar entnahm der Schachtel zwei Papierstücke.
»Diese zwei Teile erhielt der Stamm der Hundskrieger. Es sind wichtige Beweisstücke für die wahre Existenz des Großen R. Dies hier ist die erste der insgesamt fünfzig Schriften; sie ist allerdings im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte immer mehr beschädigt worden. Das Papier zerfällt - auch bei den anderen Stämmen wurde das festgestellt. So ist uns nur noch dieses letzte Stück des Umschlags geblieben. Hier!« Vorsichtig nahm Tarak den Beweis für die Existenz des Großen R in Empfang.
5 Das Bild zeigte drei Männer, die seltsam unförmige Anzüge trugen; sie liefen vom Beschauer weg ins Bild hinein, über eine kahle, schroffe Fläche. Ihre Köpfe steckten in kugelförmigen Behältern. Auf ihrem Rücken erkannte Tarak gurkenförmige Gebilde. Hinter den drei Männern sah man fremdartiges Gerät, dessen Zweck der Jungjäger nicht deuten konnte. Das Bild war schon stark ausgeblichen, dennoch hatte Tarak den Eindruck, dass früher einmal die Farben sehr grell gewesen sein mussten. An den Seiten waren überall Ausrisse; die Seite war unvollständig. Links oben waren Teile einer Schrift zu erkennen. »Was heißt das?« fragte Tarak. »Das ist der vollständige Name des Großen R«, sagte der Oberpriester feierlich. »Du weißt, dass der Große Rat der Stämme verboten hat, den Namen auszusprechen und dadurch zu beflecken.« Tarak war überwältigt, nie hätte er für möglich gehalten, dass Bernar tatsächlich solche Kostbarkeiten in seiner Hütte barg. »Wer sind die drei Männer auf dem Bild?« fragte er fast schüchtern. »Das kann ich dir nicht sagen, aber die Weisen der Stämme vermuten, dass höchstwahrscheinlich einer der drei der Große R selbst sein muss.« Tarak verschlang das Bild mit den Augen. Der Große R
leibhaftig vor seinen Augen - wenn auch nur auf einem Bild! »Und was ist das da?« fragte der Jungjäger und deutete auf das zweite, gefaltete Papier in der Hand Bernars. »Das ist der Begleitbrief, der zusammen mit den fünfzig Schriften der Chronisten gefunden wurde. Auf seinem Inhalt fußt zu einem erheblichen Teil die Beurteilung der Schrift Denn daraus geht eindeutig hervor, dass der Große R gelebt hat, dass er die Menschheit lange vor der Katastrophe geeint und zahlreiche ferne Welten erobert hat.« Der Oberpriester machte keine Anstalten, Tarak den Brief geben, und dieser verstand. Denn der Brief war von unschätzbarem Wert, darauf basierte die Verehrung des Großen R. Tarak gab Bernar das Bild zurück, sichtlich beeindruckt. Bernar bemerkte, in welchem Zustand sich der junge Man» befand. Ziel erreicht, dachte er zufrieden. »Du kannst wieder gehen«, sagte der Oberpriester. »Aber sprich mit keinem über das, was ich dir soeben gezeigt habe. »Ja, Bernar. Ich danke Euch. Nie wieder werde ich zweifeln«, stammelte Tarak und stürzte aus der Hütte, denn er schämte sich zu zeigen, wie ihm Tränen der Rührung in die Augen schossen. Hinter ihm lächelte Bernar zufrieden in sich hinein. Das war geschafft. Liebevoll strich er über den Brief; er hatte ihn Tarak nicht gegeben, denn lesen konnte ihn dieser doch nicht Er hätte ihn ihm vortragen können, schließlich kannte er ihn auswendig. Er schloss die Augen und sah den Brief vor sich: Oktober 1980 »Er ist der größte Held - ich bete ihn an Er ist der Retter der Menschheit und der Erbe des Universums, er hat den Frieden gesichert und zahlreiche ferne Welten besucht: Perry Rhodan Damit sein Geschichte nie vergessen wird und auch spätere Generationen ihn so wie ich verehren können, verstecke ich die ersten fünfzig Folgen seiner Lebensgeschichte in einer
feuersichereren Kassette. In diesem Jahr feiern wir sein Jubiläum. Perry Rhodan wird ewig leben! Friedrich W. Baumann, 14 Jahre Oberpriester Bernar steckte die beiden Papiere wieder in die Schachtel aus Eichenrinde zurück. Er war zufrieden. Tarak war bekehrt, der Stamm der Hundskrieger bekannte sich vollständig zur Verehrung des Großen R. Bernar würde auch in der nächsten Zeit nicht hungern müssen.
Die Welt des Doo
1 Er kauerte verkrümmt im Schalensitz des Rettungssystems; seine vom Havarieschock verschleierten Augen sahen nicht wechselnde Grautöne. Seine Lebensimpulse waren auf j absolut Notwendige reduziert. Sein verstörtes Ich suchte Zuflucht in der gekrümmten Wärme seines Körpers. Das Unglück war unverhofft über den terrestrischen Luxusraumer hereingebrochen. Während eines der zahlreichen Bord feste, die auf jeder überlichtschnellen Reise für die verwöhnte Passagiere ausgerichtet werden, um die nervtötende Eintönigkeit einer Fahrt zwischen den bewohnten Welten überbrücken zu helfen, hatte ein schwerer Stoß das Schiff erschüttert. Während im Ballsaal alle über- und durcheinander purzelten, fielen nacheinander sämtliche Kontrollen aus. Der leitende Ingenieur war durch die Erschütterung gegen eine Seitenstrebe geschleudert worden und hing mit gebrochenem Genick über der Maschine. Die Spannung ließ rapide nach. Durch den Energieausfall konnten die beiden QU-Konverter das Schiff nicht mehr im Überraum halten. Der Übertritt von der Dunkelzone in das Normaluniversum erfolgte ohne Vorwarnung. Innerhalb weniger Sekunden gab es im Maschinenraum verheerende Explosionen. Valentin Fisher, Repräsentant eines multiplanetaren Großkonzerns für Maschinenbau, hatte gerade seinen zehnten Drink dieses Tages vor sich stehen, als die Panik ausbrach. Da er sich nichts aus Tanzen machte, woran ihn auch sein stattlicher Leibesumfang nicht unwesentlich gehindert hätte, war sein Platz bei solchen Bordfesten immer an der Bar. Der erste Stoß, den das Schiff erhielt, hatte Fisher nicht aus seinem vom Whisky erzeugten Dösen herausreißen können. Doch die zunehmende Unruhe im Saal schreckte ihn schließlich auf. Gezielt steuerte er auf den Ausgang zu. Doch bereits nach wenigen Schritten erhielt er einen Schlag auf den Kopf und spürte danach nichts mehr. Erst nach geraumer Zeit wurde sich das wimmernde Bündel
im Schalensitz des Rettungssystems seiner Umgebung bewusster. Langsam sickerten in seinen getrübten Geist Einzelheiten der Kabine: Das Flackern der Lämpchen; das Graugrün des Bodenbelags; die viereckige Platte der Steuerkonsole; das fahle Rosa der eigenen verkrampften Finger. Er musste sich übergeben. Während Valentin Fisher würgte, wurde er sich mit plötzlicher Schärfe der Tatsache bewusst, dass er allein war. Allein in einer Notkapsel des beginnenden 22. Jahrhunderts, deren Funktionen ihm nicht vertraut waren; denn bei der allfälligen Instruktion zu Beginn der Reise hatte er selbstverständlich gefehlt. Die Möglichkeiten zu seiner Rettung waren ihm nicht einmal andeutungsweise bekannt. Er würgte erneut. Und während er nichts als Schleim erbrach, wurde er wieder bewusstlos.
2 Als sie ihn fanden, war er nichts weiter als ein hilfloses Tier, bis auf die Knochen abgemagert, stammelnd wie ein Idiot. Sie waren sanft, mit weichem, flaumigem Pelz und tiefbraunen, lidlosen Augen. Ihm zu helfen, war eine Selbstverständlichkeit, die ihnen von Geburt an durch ihren Glauben mitgegeben war. Sie schafften ihn in ihre Welt und linderten seinen Hunger, seinen Durst, seine Ängste. Schmale, vielgliedrige Finger wuschen ihn, salbten ihn und streichelten ihn, bis er sich, ruhig geworden, lang ausstreckte. Als er schließlich aus seiner mehrtägigen Bewusstlosigkeit erwachte und seine Betreuer betrachten konnte, fasste er sofort Vertrauen zu ihnen. Diese freundlichen Wesen wollten nur das Beste, dessen war er mit einem Mal sicher. Danach machte der Heilprozess rasche Fortschritte. Als er wieder soweit hergestellt war, dass ihm das Aufstehen kaum noch Mühe bereitete, da begannen sie auch mit ihm zu sprechen. Denn bis dahin hatten sie sich nur durch Gesten
verständlich gemacht. ,.Wir sind das Volk«, sagte unverhofft sein ständiger Pfleger, den er leicht an einer angegrauten Stelle des Pelzes unter dem rechten Auge erkannte. »Wir haben dich als unseren Gast aufgenommen. Wenn du aufstehen und dich umsehen willst, dann ist dir das gestattet.« Valentin Fisher war durch die plötzliche Anrede so überrascht, dass es ihm zuerst an Worten fehlte. Als er stammelnd zu einer Antwort ansetzte, wurde er sanft unterbrochen: »Wir wollten dir Zeit lassen, dich auch innerlich wieder zu fangen. Außerdem waren wir uns nicht ganz sicher, ob du in den Kreis des Doo gehörst wie wir alle. Offen gestanden sind wir uns immer noch nicht im klaren darüber, doch die Zeit wird uns das wissen lassen.« »Wo bin ich?« war Fishers erste Frage. »Unsere Heimat schwebt zwischen den Welten, in der Leere, die das Doo gebiert. Vor langen Jahren schon hat sich das Volk losgesagt von allem Verhaftetsein mit den Systemen des Universums. Wir haben uns eine eigene Welt geschaffen, die schweigend dahin zieht; hier leben und sterben wir.« Während der Pelzige das erklärte, hatte der Mensch sich von seiner Lagerstatt erhoben. Das Fremdwesen ging ihm knapp bis an die Schulter, wie er mit Überraschung feststellte. Denn aus der Perspektive des Liegenden war ihm der andere viel größer vorgekommen. Valentin Fisher fühlte sich leicht, fast unbeschwert, wie schon lange nicht mehr in seinem Leben, das ihn auf viele bewohnte Welten geführt hatte. Er merkte, dass diese Empfindung offensichtlich auch mit der Tatsache zusammenhing, dass hier eine geringere Schwerkraft als auf der Erde oder in den irdischen Raumschiffen herrschte. »Wie soll ich dich nennen?« erkundigte er sich bei seinem Gegenüber. »Man nennt mich Lilisan.« Sein Pelz hatte, von oben gesehen einen seidigen Schimmer. »Du als unser Gast darfst I auch so anreden« Nach allem, was Lilisan bisher erzahlt hatte, befanden sie sich
in einer Art Raumstation, die zwischen den Galaxien schwebte und völlig autark war. Valentin Fisher schienen die Angehörigen des Volkes, wie sie sich nannten, etwas seltsam zu sein. Aber solange sie sich um ihn kümmerten und ihm halfen, wieder nach Hause zurückzukehren, sollte ihm das egal sein. »Wir wollen einen Rundgang machen«, schlug Lilisan vor und wandte sich zur Tür. »So bekommst du am besten einen Eindruck von uns und von unserer Welt.
3 Die Welt des Doo, so nannten die Pelzigen ihre Heimat untereinander, war auch für irdische Begriffe riesenhaft, doch sie besaß nur einige tausend Bewohner. Ausgeklügelte Selbstversorgungsanlagen verhinderten, dass irgend jemand Not leiden musste. Auf mehreren Decks übereinander befanden sich Plantagen, in denen die verschiedensten Gewächse kultiviert wurden. Tiere sah Valentin Fisher keine. Und Fleischgenuss galt, das ergab eine vorsichtige Frage, als heiliges Tabu. Im Verlauf langer Gespräche kam Fisher dahinter, dass das Volk weniger eine soziale als eine religiöse Ordnung kannte. Es gab keine Vorgesetzten und keine Bestrebungen einzelner, sich gegenüber den anderen hervorzutun. Wo etwas zu entscheiden war, geschah dies einvernehmlich - oft ohne sichtbare Abstimmung. Dem Menschen schien es manchmal, als sei hier eine Gemeinschaft so ineinander verwachsen, dass das verbale Einholen der Zustimmung einzelner gar nicht mehr vonnöten war. Alles bestimmte das Doo, ein Begriff, unter dem sich Fisher lange Zeit überhaupt nichts vorstellen konnte. Manchmal erschien es ihm als abstrakter Begriff, doch fast ebenso oft wiederum hatte er den Eindruck einer Personifizierung. So, wenn Lilisan etwa in einer Diskussion einwarf: »Das Doo sagt, dass ...« Meist folgten dann Äußerungen, die auf Geduld und Verständnis anderen gegenüber abzielten. Erst allmählich merkte Valentin Fisher, dass jedes Gespräch,
das er mit einem Vertreter des Volkes führte, gleichzeitig ein Test war. Seine Gesprächspartner wechselten rasch, als wollte man ihn durch verschiedene Spezialisten prüfen lassen Ihm freilich kam es so vor, als ginge es immer nur um das gleiche Thema Die meditierende Haltung des einzelnen gegenüber dem Universum und die Einpassung des Individuums in die religiöse Gemeinschaft des Doo. Zu Anfang hielt er sich bei den ausgedehnten Diskussion zurück War es zuerst mehr Unsicherheit darüber, worum eigentlich ging, so merkte er rasch, dass es da Dinge gab, auf die das Volk großen Wert legte, die ihm jedoch ziemlich fremd waren Doch merkte er mit Fortschreiten der Zeit, dass ihn eine geheime Ungeduld befiel, die anwuchs und durch nichts zu stoppen war. Zum ersten Mal ging Fisher aus sich heraus, als sein neue. Gesprächspartner ihm eine Vorlesung zu halten begann über die Tugenden des Doo: »Wer im Doo lebt, weiß, ohne zu wissen. Er ist ehrlich und weiß doch nicht, was Wahrheit ist. Er hilft aus eigenen Antrieb anderen, ohne Hilfe zu kennen. Er liebt das Volk über alles, und doch ist ihm Liebe unbekannt. Er tut seine Arbeit, doch was ist für ihn Pflicht? Er praktiziert Treue zum Doo und .... Da riss der Geduldsfaden. »Was soll das eigentlich?« unterbrach er in scharfem Ton den. vortragenden Tansetung. »Was soll dieses Salbadern? Warum muss ich mir das immer wieder anhören? Einmal ist genug!« Tansetung, aus seinem meditierenden Sprechen brutal in da Gegenwart gerissen, schaute ihn aus Schreck geweiteten Augen an. Fisher ließ sich nicht beirren: »Wie lange muss ich eigentlich noch warten, ehe man mehr auf das eingeht, was ich will? Wann kann ich endlich nach Hause? Habe ich es hier nur mit lauter Verrückten zu tun?« Er hatte sich bei diesem Gefühlsausbruch erhoben und schaute Tansetung wütend an. Doch nicht lange - dann war der Pelzige geflohen.
4 Zwar bereute Valentin Fisher ihm nachhinein, dass er sich so hatte gehen lassen, doch beruhigte er sich schnell wieder bei der Überlegung, dass es eben einmal hätte sein müssen. Er hatte es doch gar nicht nötig, sich auf diese Weise schikanieren zu lassen! In seinem irdischen Beruf als Repräsentant von Großmaschinen galt auch nur das forsche Drauflosgehen; Rücksichten konnte sich bei dem Job keiner erlauben. Im übrigen ließ das Volk ihn nun in Ruhe. Er seinerseits hatte auch keine große Lust, auf die Pelzigen zu treffen; daher verließ er kaum noch sein Zimmer. Ein verschüchtertes Jüngelchen brachte ihm jeden Tag seine Mahlzeiten, ein nicht minder verängstigtes Mädchen machte seinen Schlafraum sauber und sorgte auch sonst für Ordnung. Er, Valentin Fisher, hatte endlich Ruhe vor diesem Geschwätz, das nur den Nerv tötete und zu nichts gut war. Nun allerdings, den ganzen Tag auf sich allein gestellt, begann er den Whisky schmerzlich zu vermissen. Nicht dass er in seinem normalen Leben unter die Säufer zu rechnen gewesen wäre. Wenn er auch keinen Tag ohne ein gutes Dutzend Schnäpse hatte verstreichen lassen, so hielt sich Fisher doch nicht für einen Trinker. Dass er freilich bis jetzt ohne Alkohol ausgekommen war, schien ihm nicht ganz begreiflich. Dazu kam noch, dass ihm allmählich das Essen über wurde. Jeden Tag, morgens - mittags - abends, gab es Pflanzenkost. Zwar wurden die verschiedensten Gewächse meist sehr schmackhaft zubereitet, doch Fisher bekam immer mehr einen Heißhunger auf Fleisch. Die Gier nach tierischem Eiweiß wühlte in seinen Eingeweiden und konnte auch durch die köstlichen Salate und Gemüse nicht gestillt werden. Eines Tages stand unverhofft Lilisan in der Tür. Fisher, der sich gerade einem Tagtraum hingab, in dem ein riesiges Steak auf einem Teller dampfte, schrak zusammen.
Darf ich mich setzen?« fragte Lilisan mit der allen Pelzigen eigenen sanften Stimme. »Aber sicher, nimm nur Platz. F.S ist schließlich eure eigene Welt, auf der ich mich befinde!« Lilisan beachtete die Spitze nicht, die in den Menschen zu spüren war. »Wir sind über dich zu Rate gegangen«, sagte er und richtete seine dunkelbraunen Augen auf Fisher, »und sind zu dem Schluss gekommen, dir noch eine Chance zu geben, ehe wir endgültig entscheiden.« Valentin Fisher fühlte die Wut in sich aufsteigen. Sollte er sich etwa wieder dieses dumme Geschwätz anhören? »Muss das denn ewig so weitergehen?« fragte er böse. »Warum habt ihr nicht Interessen wie andere auch, zum Beispiel: Wann gibt es endlich etwas Richtiges zu essen? Fleisch beispielsweise.« Lilisan erstarrte. »Ich bitte dich, einen solchen Frevel nicht mehr auszusprechen!« stieß er hervor, sichtlich aufgebracht. »So ist das also! Hier darf man nicht einmal sagen, was man, denkt.« Fisher dachte nicht mehr über seine Worte nach. Sie sprudelten über seine Lippen wie eigenständige Wesen. »Hast du mich verstanden: Ich habe Hunger auf Fleisch! « Lilisan wich vor dem wütenden Menschen bis an die Tür zurück. »Dann fürchte ich, dass hiermit das Urteil gefällt ist«, sagte er mit trauriger Stimme. Fisher beachtete die Worte Lilisans überhaupt nicht, Er gab sich ganz seinem Zorn hin. »Euer betuliches Geschwätz könnt ihr euch sparen. Damit werdet ihr auch nichts erreichen, wenn es einmal hart auf hart geht. Auf der Erde ist noch nie eine Auseinandersetzung oder ein Krieg entschieden worden, weil jemand klug dahergeredet hat!« »Krieg!« Man sah förmlich, wie der Pelzige sich versteifte. Er warf Fisher noch einen entsetzten- ja verstörten - Blick zu und stürzte dann hinaus.
Als die Tür hinter ihm zufiel, hörte Fisher zum ersten Mal ein Klicken, als ob ein Riegel einrastete. Er stürzte nach vom, rüttelte an der Tür. Sie war fest verschlossen. Er war eingesperrt. Wie ein wildes Tier.
5 Er kauerte im Schalensitz vor der Steuerkonsole und kam langsam wieder zu Bewusstsein. Es war ihm, als rüttelte er immer noch an der verschlossenen Tür. Ja, er erinnerte sich. Dann war es auf einmal dunkel um ihn geworden. Und jetzt ... Wo war er? Sein Blick fiel auf den Sichtschirm. Dort war schwarze Leere. Ein verwaschener Fleck deutete eine Galaxis an, Millionen von Lichtjahren entfernt. Und von rechts schob sich nun ein riesenhaftes, eiförmiges Gebilde gegen die Bildmitte vor. »Die Welt des Doo.« Nun sah er sie auch einmal von außen. Da! Es kam ihm voll zu Bewusstsein, dass er ausgesetzt war. Das Volk hatte ihn wieder dorthin zurückgebracht, wo sie ihn aufgelesen hatten. Und wie damals war seine Lage hoffnungslos. Ohne Aussicht auf Hilfe trieb er zwischen den Milchstraßensystemen in der drohenden, lebensfeindlichen Leere. Und konnte nur warten. Und draufgehen. Aus dem Lautsprecher kam ein Kratzen. Fisher fuhr zusammen. »Hörst du mich, Mensch?« Das war Lilisans Stimme. »Ja, verdammt. Warum habt ihr mich wieder in diesen Kasten gesetzt?« »Es musste sein.« Aus der Stimme des Pelzigen sprach kein Mitleid. »Aber ich werde sterben müssen. Hier hilft mir doch keiner!« »Das ist richtig. Dir soll auch keiner helfen können. Denn du
bist eine Gefahr für alle.« »Ihr könnt mich doch nicht einfach zum Tode verurteilen!« Fisher merkte, wie die Wut ihn übermannte »Ihr verdammten Heuchler!« schrie er mit überschnappender Stimme. »Ihr redet von Liebe und Demut und lasst doch andere jämmerlich krepieren.« »Wir wissen, dass du uns nicht verstehst« sagte Lilisan, und diesmal klang Mitgefühl aus seinen Worten' »Und du tust uns leid. Doch auch wir müssen uns treu bleiben. Wir helfen allen Lebewesen im Universum am meisten dadurch, dass wir dich dir selbst überlassen. « Fisher schlug in ohnmächtigem Zorn um sich, fegte den Lautsprecher von der Wand, trampelte auf ihm herum. Ehe das Gerät zerbrach, hörte der Mensch noch die letzten Worte des Pelzigen: »Wer im Doo lebt, hat die anderen vor Übel zu bewahren. Und du, du bist das schlimmste Übel, das wir kennen!« Auf dem Bildschirm zog die Welt des Doo vorüber und entfernte sich in das schwarze Niemandsland zwischen den Galaxien. Valentin Fisher war allein mit sich selbst.
Selbstheilung
»Nein!« Hart akzentuiert stand das Wort zwischen ihnen; schroffe Ablehnung, ja krasse Zurückweisung einer fast zaghaft vorgetragenen Frage. Eigentlich eher einer Bitte. Bis vor einer halben Minute noch hatte Thomas Bullock wie gebannt auf die verschiedenen Bildschirme gestarrt, auf denen in übersichtlicher Anordnung Ausschnitte der gesamten Erdoberfläche gezeigt wurde, die Not am größten war. Der große Panoramaschirm oberhalb der Steuerkonsole vermittelte in genaueren Details das Geschehen jeweils in jenem Erdteil, in dem augenblicklich am heftigsten gekämpft wurde, die Not am größten war. Für Bullock bedeutete dieser Krieg, die Verkörperung seiner Ängste und Alpträume, die sich seit vielen Jahren in ihm aufgestaut hatten: Da wand sich ein Soldat, dem ein Querschläger den Bauch aufgerissen hatte, in Todesqualen. Mit schreckgeweiteten Augen irrten Menschen durch radioaktiv verseuchtes Gebiet. Flüchtlinge kämpften sich durch verstopfte Straßen der Städte und über Körper Todgetrampelter hinweg. Die Bilder, die über die Monitore getreulich ins Innere des Raumschiffes hereingetragen wurden und Kunde brachten von einer untergehenden Welt, vermittelten Illustrationen eines Infernos, wie es kein menschliches Gehirn sich schlimmer hätte ausmalen können. Bis zur Unkenntlichkeit zerfetzte Leichen markierten die Einflugschneisen der tieffliegenden Jäger. Aus den blau verfärbten, vor Atemnot verzerrten Gesichtes der Gaskranken würgte die Galle. Gigantische Trümmerfelder, einige Kilometer im Durchmesser, markierten Atomschläge. Von ihren Eltern getrennten Kinder irrten weinend zwischen den Fronten. Fast glaubte Thomas Bullock. den Pestatem der Verwesung riechen, den Gluthauch der Vernichtung spüren zu können.
Doch nun. nach der schroffen Abfuhr, die er erhalten hatte, konnte er sich nur noch mit größter Anstrengung auf das Geschehen vor seinen Augen konzentrieren. Das harte Nein hatte ihn schwer getroffen. Zumal er nicht im geringsten damit gerechnet hatte, auf solche Ablehnung zu stoßen. Er hatte einen gallebitteren Geschmack im Mund. Wenn doch nicht geholfen werden konnte, nicht geholfen werden durfte, wenn dem unheilvollen Geschehen kein Ende zu setzen war - welchen Sinn konnte es dann noch haben, der Selbstzerfleischung der Erde, dem Massenselbstmord aufmerksam zuzusehen.... Als das dunkle Raumschiff an jenem strahlenden Sonntagnachmittag über der dichten Dunstglocke New Yorks erschienen war, hatte zunächst einmal niemand davon Notiz genommen Die sommerliche Hitze ballte sich in den tiefen Häuserschluchten der Millionenstadt, machte das Atmen zur Qual und hemmte die Aktivität der Menschen. Wer irgendwie konnte, hatte das Häusermeer der Innenstadt fluchtartig verlassen. Geblieben waren die Armen und Gebrechlichen, die Farbigen und die Hoffnungslosen, die Ausgeflippten - und natürlich alle, die in Krankenhäusern, Feuerwehren, Polizeistationen, Rundfunk- und Fernsehanstalten, in den Kneipen und Bordellen Dienst taten. Und dann natürlich all jene, denen einfach alles egal war; und das waren gar nicht so wenige. Die Stadt war also keineswegs menschenleer, wenn auch an den quirlenden und drängenden Menschenmassen in den Avenuen und Kaufhäusern fehlte. Dennoch, zuerst einmal blieb die dunkle, durch den allgegenwärtigen Smog stark verzerrte Kontur am Himmel von den New Yorkern unbemerkt. Und als schließlich einige darauf aufmerksam den, da hielten es die meisten von ihnen für eine Sinnestäuschung, hervorgerufen durch die flimmernde Hitze, die in kleinen Wirbeln vom glühend heißen Asphalt abprallte. Und manche dachten an eine weitere, eine neue unbekannte Verunreinigung. Nur in den Radarzentralen der Luftüberwachung hatte die
rapide, nicht nachvollziehbare Annäherung des nicht identifizierten Flugkörpers sofort Alarm ausgelöst. Abfangjäger stiegen auf, doch sobald sie bis auf eine Distanz von etwa zwei Meilen herangekommen waren, entzog sich da, geheimnisvolle Objekt sofort jedem Kontakt durch rasche Ausweichmanöver, die es in Sekundenschnelle bis über die Mond, bahn hinaus trugen. Auch der mehrmalige Versuch, Luftabwehrraketen - auch mit Nuklearsprengkopf und sensibelst eingestellten Annäherungszündern - einzusetzen, führte zu keinen, Erfolg. Der unbekannte Flugkörper war nicht zu erreichen. Nachdem eine Verständigung über das rote Telefon zwischen Washington und Moskau vorläufig Klarheit darüber ergeben hatte, dass es sich bei dem Flugobjekt wohl nicht um eine irdische Konstruktion handeln konnte - Einsichtigen und vor allem UFO-Gläubigen, so hieß es später einmal, hätte dies ja eigentlich von vorneherein klar sein müssen -, wurde der zwecklose Einsatz der Kampfflugzeuge und Flugkörper abgeblasen. Nun versuchte man es auf die sanfte Tour. Allerdings schlugen alle Versuche, über Funk Kontakt aufzunehmen, zunächst einmal fehl. Der dunkle Bote einer fremden Welt, Vertreter einer anderen intelligenten Spezies, verharrte auf seinem selbst gewählten Platz 8000 Meter über der Riesenstadt New York. Ein unnahbarer, etwa einhundertfünfzig Meter messender Ellipsoid ohne erkennbaren Antrieb, auch die Satellitenbeobachtung ergab nicht mehr. Zu diesem Zeitpunkt kam Thomas Bullock ins Spiel. Der psychologisch geschulte Anthropologe und Xenobiologe, einunddreißig Jahre alt und Junggeselle, zur Zeit auch sonst gefühlsmäßig nicht an ein anderes menschliches Wesen--sprich Frau - gebunden, war der wichtigste Kandidat für die nächste bemannte Expedition zum Mars, dem roten Nachbarplaneten der Erde. Eine sanfte Landung sollte versucht werden nachdem mehrere unbemannte Annäherungen beim Versuch, weich
aufzusetzen, als Totalschaden geendet hatten. Thomas Bullock sollte der erste Mensch sein, der seinen Fuß auf die rote Oberfläche des Bruderplaneten setzen würde. Bullock also wurde aus einem kurzen Erholungsurlaub zwischen zwei Trainingsetappen in die NASA-Zentrale zurückgerufenBis er sich allerdings nach seinem überstürzten Eintreffen in der Zentrale mit dem Problem, das da über New York schwebte, vertraut gemacht hatte, hatte sich auch die Kriegsgefahr auf der Erde durch eine Verkettung unglücklicher Umstände drastisch verschärft. In Washington hatten, praktisch über Nacht, die Vertreter der Falken mehr Einfluss auf den Präsidenten gewonnen. Für sie steckte, trotz aller gegenteiligen Behauptungen, Moskau hinter diesem geheimnisvollen Schiff, das eine der wichtigsten Städte der Vereinigten Staaten bedrohte. Und da sich Moskau, trotz mehrmaliger Aufforderung, weiterhin weigerte, etwa durch Einblick in seine Fabrikationsstätten eindeutig zu beweisen, dass jenes geheimnisvolle Flugobjekt keinesfalls aus sowjetischer Fabrikation stammen konnte, wurde die Stimmung zwischen den Supermächten zusehends gereizter. Dazu kam, dass die AuchAtommächte wie Frankreich, China, Indien und Israel, ganz abgesehen von Südafrika oder Pakistan, die mit ziemlicher Sicherheit ebenfalls bereits über Nuklearwaffen verfügten, darauf drängten, in den möglicherweise bevorstehenden Dialog mit den Außerirdischen eingeschaltet zu werden. Aus Gründen der nationalen Sicherheit, wie das jeweilige Außenministerium verlauten ließ. Das war die Lage, als Thomas Bullock in der Zentrale der NASA vom Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika per Telefon davon unterrichtet wurde, dass die Fremden über New York sich einen Unterhändler der Erde - aber männlichen Geschlechts, wie betont worden war - erbeten hatten. Und dazu sei er, Thomas Bullock, zweifacher Doktor der Medizin und der Biologie, ausersehen. Was der Präsident der USA seinem neuen Unterhändler freilich nicht mitteilte, weil er der Meinung war, das gehe ihn nichts an, war die Tatsache, dass es sich da keineswegs nach
einer Bitte, eher nach einem knallhart formulierten Ultimatum angehört hatte. Die Entdeckung des bewohnten Planeten, der um eine um eine kleine gelbe Sonne in einem Seitenarm der galaktischen Spirale rotierte, war für die Bewohner von Szu, dem fünften Planeten der Sonne Migra in der Nabe der Galaxis, eine ziemliche Überraschung- Denn bisher hatte man so weit draußen am Rand des eigenen Sternenrades und weitab von den bislang bekannten Systemen keine nennenswerten Zivilisationen entdeckt, ja noch nicht einmal vermutet. Eine routinemäßig ausgeschickte Überlichtschnelle Sonde, die in genau programmierten Intervallen in den Normaleraum eintauchte, dort Daten sammelte und die Ergebnisse anschließend an die Heimatwelt funkte, damit sie wenigstens bei einem immer möglichen Verlust der Sonde erhalten blieben, war sozusagen en passant auf das System Sol und damit auch auf seinen dritten Planeten, die Erde, gestoßen. Wenn auch bei einem so flüchtigen Besuch, der auf der Erde selbst unbemerkt geblieben war, nicht gerade viele Tatsachen festgehalten worden waren, den Bewohnern von Szu - sie selbst nannten sich Mbadoi, das heißt: »die im Licht der Schöpfung stehen« - genügte bereits diese Meldung vom Vorhandensein einer nennenswerten Entwicklungsstufe an Intelligenz auf dem neu entdeckten Planeten, um sogleich ein bemannte Schiff auszusenden, das den Planeten und seine Bewohnet näher untersuchen sollte. Bei einem solchen harmlosen Erkundungsflug mit Kriegsmaschinen empfangen zu werden, war für die Mbadoi in ihrem unbewaffneten Schiff ein entsetzlicher Schock, den sie fast nicht verkraften konnten. Zwar kannten auch sie Waffen und Kriegsgerät, doch diente dies alles nur zur Abwehr wilder Tiere oder halbintelligenter Zwitterwesen, die sich zusammengerottet hatten, um vereint besser Beute machen zu können Ihre eigene Entwicklung hatte die Mbadoi zu einer generell friedlichen Verhaltensweise geführt - und auch bei den anderen bisher vorgefundenen vierunddreißig intelligenten Rassen war der
Friedenswille wesentliches und vorherrschendes Motiv ihres Handelns. Kein Wunder also, dass sie inzwischen bei jeder neuen intelligenten Spezies von ähnlichen Verhaltensmustern ausgingen. Sie sahen friedvolles Verhalten als normal für den Umgang zwischen Intelligenzen an. Bisher hatte ihnen die Praxis da ja auch recht gegeben. Nun aber erfolgten sogleich diese Angriffe. Gewiss, dies war ein Schock, dennoch lag auch eine gewisse Faszination, der Reiz des Neuen und Ungewohnten, im aggressiven Verhalten dieser intelligenten Wesen, die sich Menschen nannten. Mit Hilfe ihres Superionenantriebes, dem die Erdbewohner nichts Gleichwertiges entgegenstellen konnten, waren die Mbadoi ja auch in der Lage, den Angriffen fast spielend auszuweichen. Nach einigen Tagen der genauen Beobachtung, die durch das Ausschicken zahlreicher Sonden noch intensiviert wurde, hatten die Mbadoi sich soweit in das Denken der Menschen eingearbeitet - eine seltsame Welt mit ihren verschiedenen Staatsgebilden, den unterschiedlichen Sprachen, der da und dort praktizierten Rassentrennung -, wobei das Verfolgen der Radiound Fernsehprogramme eine wichtige Rolle spielte, dass je nun bereit waren, auf die von der Stadt unter ihnen wie auch von zahlreichen anderen Orten des Planeten immer wieder abgeschickten Funksprüche zu reagieren. Die Mbadoi wollten nun mit einem Menschen sprechen. Aber nur mit einem einzigen. Denn mehrere Menschen in einer Gruppe - das schien ihnen nicht recht geheuer zu sein. Da entstand sofort wieder Aggression. Daher auch der barsche Ton ihrer Forderung. Und: ein männlicher Mensch musste es sein. Soweit die ausgestellten, faltenreichen Gewänder eine Beurteilung zuließen, gehörten die Mbadoi zu den Säugern. Bullock war sich da seiner Sache nicht ganz sicher, zumindest aber schienen sie ihm Warmblütler zu sein, wenn er an die Berührung dachte, als sie ihm an Bord des Schiffes geholfen
hatten. Die Fremden waren etwa einen Meter sechzig groß, wirkten rundlich und besaßen Gliedmaßen ähnlich dem Menschen. Ihre Hautfarbe war dunkel, verursacht durch eine starke Pigmentierung; sie trugen statt Haaren breite schimmernde Schuppen auf dem Schädel und schienen über beträchtlich. Intelligenz zu verfügen. Dieser Eindruck drängte sich Bullock sofort auf, als er das auf Vorschlag der Außerirdischen kurzfristig außerhalb New Yorks auf einem hermetisch abgeriegelten Gelände gelandete Raumfahrzeug bestiegen hatte. Washingtoner Kreise, vornehmlich aus dem Verteidigungs- und Innenministerium, hatten Gedanken in die Diskussion gebracht, in einem handstreichartigen Überfall zu versuchen, das Raumschiff der Fremden zu kapern, doch hatten gescheite Techniker sich mit dem Hinweis durchsetzen können, wer über einen solchen superschnellen Antrieb verfüge, besitze sicherlich auch die entsprechenden Möglichkeiten der Abwehr - unter Umständen auch den Planelen zerstörende Waffen. Thomas Bullock wurde von Lda, dem Leiter der fremden Expedition, in solch einwandfreiem Amerikanisch begrüßt, dass der irdische Besucher erschrak. Wenn es den Mbadoi in so kurzer Zeit gelang, eine ihnen absolut fremde Sprache derart perfekt zu beherrschen, wozu mochten sie dann noch alles fähig sein... Über die Behandlung freilich konnte Bullock sich nicht beklagen. Nachdem das Raumschiff, für den menschlichen Gast unbemerkt, wieder in den Himmel über New York aufgestiegen war, fehlte es ihm an nichts: Er erhielt Nahrung und Getränke nach Belieben; alle diesbezüglichen Wünsche wurden ihm sofort erfüllt. Da er kein Raucher war, kam er erst gar nicht in die Verlegenheit, nach Tabakwaren fragen zu müssen. Fernsehprogramme waren einwandfrei zu empfangen, und ein großer Leser war er noch nie gewesen. Schlaf ließen ihm die Mbadoi auch ausreichend, aber nicht mehr, denn die Tage waren angefüllt mit endlosen Gesprächen,
die fast Verhören glichen, so intensiv wurden sie geführt. Und war er ermattet, dann führten sie ihn durch ihr Schiff, zeigten ihm immer neue technische Wunder, die er doch nicht verstand, auch wenn er immer so tat, als sei das alles für ihn sehr leicht zu verarbeiten. Doch im Laufe der Tage wurde sein Eindruck immer stärker, dass die Mbadoi sehr wohl begriffen, dass dieser technische Kram ihm ebenso fremd blieb wie ihre eigene Sprache. Denn nach einigen vergeblichen Versuchen, wenigstens einige Brocken des fremden Idioms zu lernen, hatte Bullock resigniert aufgegeben; Sprachen waren noch nie seine Stärke gewesen. Und dann hörten sie den Funkverkehr der Erde ab, sahen sich gemeinsam Fernsehprogramme an, beobachteten über die winzigen Sondenkameras Details der Erdoberfläche - und zu allem musste Bullock seine Erklärungen abgeben. Eins wurde immer deutlicher: Auf der Erde braute sich etwas zusammen, der Ton zwischen den Hauptstädten wurde härter, schroffer, zynischer. Man wollte nicht mehr miteinander reden, man wollte befehlen. Die Mbadoi beobachteten dies alles fasziniert. Hier lief eine Entwicklung ab, die einem wissenschaftlichen Experiment ähnlich war, eine Entwicklung, wie sie sie während des gesamten Bestehens ihrer eigenen Zivilisation nicht kennen gelernt hatten, eine Eskalation der - zunächst verbalen - Gewalt. Das faszinierte und stieß sie in gleichem Maße ab. Vielleicht aber waren sie auch so fasziniert, weil sie sich davon so sehr abgestoßen fühlten. Und die ganze Zeit über erhielt Bullock keine Gelegenheit, mit der NASA oder einer anderen irdischen Stelle in Kontakt zu treten. Zwar beschwerte er sich mehrere Male bei Lda darüber, doch er erhielt keinerlei Antwort, geschweige denn eine Erklärung. Die Mbadoi wollten einfach nicht. Und er hatte sich dahinein zu fügen. Dann kam der Tag, an dem die erste Nuklearwaffe gezündet wurde, an dem das Inferno begann.
Und Thomas Bullock, Abgesandter der Vereinigten Staaten von Amerika und damit der gesamten Menschheit, zweifacher Doktor der Medizin und Biologie, lag vor Lda auf den Knien und flehte ihn an, einzugreifen - zu versuchen, als Vermittler zwischen den streitenden Parteien aufzutreten. Ihnen, den Mbadoi, musste es doch möglich sein, den Planeten Erde - oder wenigstens die Vereinigten Staaten von Amerika zu retten. Doch da kam jenes harte »Nein!« »Ihr könnt doch nicht eine ganze intelligente Rasse dem Verderben preisgeben!« schrie Bullock wild. »Seht, wie sie verrecken!« Er deutete auf die Bildschirme, die so Schreckliches zeigten, dass Bullock es nicht glauben wollte, ja zeitweise die Augen schloss, um nicht zusehen zu müssen. Die Wirklichkeit war um vieles schlimmer, als es sich die Phantasie je hatte ausdenken können. Und was für ihn das schlimmste war: Er, Thomas Bullock, war hier oben im Raumschiff der Mbadoi in Sicherheit und konnte nichts weiter tun als schauen. Und weinen. Und die Fremden anflehen. Und sie schließlich beschimpfen. Und ganz zum Schluss spie er ihnen vor die wallenden Gewänder und nannte sie seelenlose Ungeheuer. Doch da war das Inferno auf der Erde bereits so weit fortgeschritten, dass es kein Zurück mehr gab. Lda aber wandte sich ab und ließ Bullock in seinen Ruheraum bringen, wo er sich in seiner Verzweiflung die Pulsadern aufschnitt, denn sie hatten ihn, als er an Bord gekommen war, nicht nach gefährlichen Gegenständen wie einem Messer abgesucht. Vielleicht hatte er die Schnitte mit dem Messer nicht fachgerecht angebracht, schließlich hatte er ja keine Erfahrung darin, jedenfalls fanden ihn die Mbadoi noch rechtzeitig und holten ihn ins Leben zurück. Sie päppelten ihn auf, und als er sich dagegen sperrte, da
zwangen sie die Nahrung hinein, bis er seinen Widerstand aufgab. Und dann stand eines Tages Lda an seinem Lager, auf dem Bullock - gefesselt an allen Gliedmaßen, damit er nicht einen neuen Versuch der Selbsttötung unternehmen konnte - hilflos lag. »Auch wenn du mir nicht zuhören willst und ich dir keinerlei Rechenschaft schuldig bin, so will ich wenigstens mit dir reden«. sprach der Fremde von Szu, der dem Menschen nun noch fremdartiger vorkam als vorher. »Monster!« Nur dieses eine Wort stieß Bullock hervor. Dann wandte er den Kopf ab und schloss die Augen. Der Anblick des schuppenbedeckten Schädels verursachte ihm Übelkeit. Er verfluchte seine eigene Ungeschicklichkeit, die ihn weiterleben ließ. Der Führer der Mbadoi aber sprach dennoch zu ihm, und irgendwann begann der gefesselte Mensch, wenn auch gegen seinen Willen, zuzuhören. «... ist der Eindruck nicht falsch, dass die Menschen sind wie kleine, unreife Wesen, die man bei euch Kinder nennt. Jedes Kind muss gewisse Kinderkrankheiten durchmachen, das hast du uns selbst erzählt. Für uns ist Aggressivität, wie sie sich dort unten auf deinem Heimatplaneten gezeigt hat und wo sie immer noch tobt, eine solche Kinderkrankheit - die Kinderkrankheit einer Spezies, die erst noch erwachsen werden muss.« Lda unterbrach seinen Redefluss, betrachtete den vor ihm liegenden Menschen; als er bemerkte, dass dieser aufmerksam folgte, fuhr er fort. »Es gibt aber auch Kinderkrankheiten, die auf Erwachsene übertragen werden können, und das sind oft die gefährlichsten. Vielleicht verstehst du, dass ein Volk wie wir, das nie mit dieser Form der Aggressivität in Berührung gekommen ist, sich da vor Ansteckung schützen muss.« »Und deswegen muss ein ganzer Planet grässlich untergehend stieß Bullock zwischen den Zähnen hervor.
»Ist das nicht allein eure Schuld?« fragte Lda und erhob sich, als wollte er gehen, besann sich aber dann und setzte sich wieder an den Rand der Bettstatt, »Stell dir eine Galaxis vor, in der alle Völker und Rassen frei solche Aggression ausleben . . .« Bullock spürte, wie Resignation in ihm aufstieg, doch er kämpfte dagegen an, wollte stärker sein als die Erkenntnis, die sich ihm öffnete. Er fauchte: »Ihr habt diesen Krieg ausgelöst, weil ihr in eurem Raumschiff aufgetaucht seid.« Zum ersten Mal glaubte der Mensch Unwillen in den stahlblau schimmernden Augen des anderen aufsteigen zu sehen. »Du redest Unsinn, und du weißt das auch«, war die einzige Antwort, die ihm Lda auf seinen Vorwurf gab. Stille breitete sich in dem Ruheraum aus, nur unterbrochen vom schweren Atmen Bullocks, der glaubte, an seinem Gefühl der Hilflosigkeit und der Verzweiflung ersticken zu müssen. Dann sagte Lda: »Dieser Krieg da unten ist wie eine Reinigung, eine Selbstreinigung. Das ist eine Therapie, die sich de Menschen selbst verschrieben haben. Sie müssen sie auch durchstehen. Das ist wie hohes Fieber. Möglich, dass einige wenige überleben werden, das hoffen wir sogar. Denn dann könnte es sein, dass sie immun geworden sind gegen diesen schrecklichen Virus der Aggression. Möglich aber auch, dass keiner überleben kann. Dann erledigt sich das Problem von alleine. »Du«, - er erhob sich endgültig und ging zur Tür, wo er sich noch einmal umdrehte - »Du bist sozusagen nur ein einzelner Krankheitskeim, damit werden wir fertig. Und zu Studienzwecken wirst du uns wertvolles Material sein. Da haben wir nichts zu befürchten.« »Dann bin ich also ein Krankheitskeim«, stieß Bullock trotzig hervor. »Nun, sag mir doch, weswegen ihr mich nicht habt Selbstmord begehen lassen. Dann hättet ihr gar keine Sorgen mehr zu haben brauchen.« Lda schritt zur Tür, wandte sich um. »Anders als bei vielen intelligenten Rassen kann beim Menschen nur die Frau Kinder gebären, und dazu braucht sie nur
zu Anfang - und nur für einen winzigen Zeitraum - einen Mann. Ich denke, du verstehst mich.« Er öffnete die Tür und trat hinaus. Langsam schloss sich die Tür wieder hinter ihm, und durch den letzten schmalen Spalt hörte Bullock noch die Worte: »Du als Mann bist absolut ungefährlich«. Dann war Thomas Bullock mit seinen Gedanken alleine.
Sonnensegel
Der Überraum hatte sie ausgespuckt. Wie einen abgelutschten Pflaumenstein. Nun hingen sie da mit ihrem Schiff in der Leere zwischen den Galaxien. Drifteten zwischen den Weltinseln ab und mühten sich, das Leck zu dichten, das irgendein Stück kosmischen Drecks in die Schiffshülle geschlagen hatte. Auch den Konverter hatte es getroffen. Mitten hinein ins empfindlichste Aggregat. Die Maschine hatte daraufhin die überlichtschnelle Fahrt nicht mehr halten können. Sie waren in den Normalraum zurückgefallen. Ausgespuckt. Wie ein Pflaumenstein. Charles DuBonneau zwängte sich an einer der scharfen Spitzen vorbei, die das Leck säumten. Wenn nur der Schutzanzug nicht undicht wurde! Weiß der Himmel, wie viele Tage die Reparatur, das Auswechseln des beschädigten Teils, dauern mochte. Etwas hielt seinen Blick fest. Unbewusst noch. Dort in der schwarzen Leere. Rechts sah er die silberne Spirale der heimatlichen Milchstraße; links funkelten Sternhaufen, deren Namen wohl in der Kladde verzeichne! waren. Er selbst kannte sie auf Anhieb nicht. Dazwischen: Schwärze... Leere,.. Nicht doch, da war etwas! ein verwaschener Fleck. Genau in Fahrtrichtung. »Piet«, sagte er ins Mikro. »Kannst du mal kommen? Da ist was.« Nichts weiter sagte er. Doch Piet van Heelen, sein Partner auf dem Trip, kam. Denn wenn da was ist in der Leere, kann es Aufmerksamkeit verlangen. Das war ein ungeschriebenes Gesetz. Dann standen sie und starrten hinaus. Auf das schwach sich abzeichnende Objekt, das sie nicht identifizieren konnten. Sie standen und vergaßen die Reparatur, von der doch ihr Überleben abhing. Lange Zeit standen sie so. Dann sagte Charles: »Los, an die Arbeit! Das Ding scheint uns entgegenzukommen. Morgen wissen wir mehr.« Piet nickte. Und werkelte weiter an dem zerstörten Teil. Am dritten Tag schließlich hielten sie es nicht mehr aus. Sie mussten wissen,
was es war - das Ding da draußen. Sie zwängten sich in die Pinasse, die auf kurze Strecken immerhin was taugte Und flogen dem rätselhaften Objekt entgegen. Je näher sie kamen, desto andächtiger staunten sie. Staunten über die Meisterschaft einer unbekannten Rasse, die ein solches Wunderwerk hatte bauen können. Sie sahen ein Segel aus feinstem Gespinst, wohl mehrere Quadratkilometer an Fläche. So fein waren die einzelnen Fäden dass nur die angehäufte Vielzahl sie sichtbar machte. Wie feiner Nebel spannte sich das Segel über einer Plattform, die darunter hing; gehalten von gedrehten Klammern. Ihr Boot stieß an die Plattform, federnd, sanft, wie auf Daunen auflaufend. Es gab Behausungen. Alle verlassen. Von den Bewohnern keine Spur. „Wie lange es schon so treibt?" flüsterte Piet. Andacht verschlug ihm fast die Sprache. »Schau her«, antwortete Charles ebenso leise, denn ihm ging es ähnlich. Er rieb mit dem Handschuh über den Hoden und streckte ihn dem Freund hin. Millimeterdicker Staub. »Wie lange braucht es wohl, bis kosmischer Staub sich in solcher Schicht absetzt?« Nichts weiter musste gesagt werden. Das Sonnensegel mit der Lebensplattform war uralt. Wohl viel älter als die Menschheit. Und keine Spuren, wie sie ausgesehen haben mochten, die Erbauer dieses technischen Wunders. »Es wird getrieben durch kosmische Winde«, Charles DuBonneau sprach zu sich selbst. »Sonnenkorpuskel spenden die Energie. Hörst du das Singen, Piet?« Und während er das sagte, wurde es ihm erst richtig bewusst dieses Singen. Es war, als finge sich der Wind im feinen Geflecht der Fäden. Fast unhörbar war dieses Klingen, am Rande des Vernehmbaren. Doch es fraß sich fest in ihrem Kopf. Wollte nicht mehr weichen. Ließ sie alles vergessen. Sie saßen und lauschten. Und vergaßen ihr eigenes Sein. Waren eins mit dem Singen. Waren eins mit dem Kosmos.
Und träumten. Was sie weckte? Vielleicht eine Bewegung ihrer Glieder. Oder ein fast unmerklicher Wechsel in der Geschwindigkeit, mit der das Sonnensegel die Plattform durchs All zog. Sie erhoben sich wie in Trance. Kamen allmählich zu sich. Sie waren weit abgetrieben worden von ihrem havarierten Schiff. Sie rissen sich mit Mühe los. Das kosmische Singen des Sonnensegels hielt sie im Bann. Immer noch. Charles war der Stärkere. Er packte Piet. Stieß ihn in die Pinasse. Als das riesige Segel immer kleiner wurde, wieder zu jenem nebelhaften Fleck zu werden drohte, kamen sie zu sich. Charles kauerte vor dem Schirm. Er starrte mit brennenden Augen hinaus. Neben ihm Piet, reglos. Gebannt von dem Wunder. Charles merkte, dass er weinte. Doch er schämte sich der Tränen nicht. »Wie sie wohl ausgesehen haben?« flüsterte er. Piet blieb stumm.
Ein Fall für den Tierschutzverein
Auf den Sichtschirmen zogen die graublauen Schlieren des Mahlstroms vorbei, auf dem die Schiffe durch den Hyperraum ritten. Die gleichmäßige Wellenbewegung der Farben, nur selten unterbrochen vom Schwarz der Wirbelflecken, deren genaue Ursache unbekannt war, und das Auf und Ab der Grauabstufungen wirkten auf eine fast hypnotische Weise beruhigend. Späher-3 richtete seine Sensoren nach draußen, tauchte in den Farben unter und versank in Träumereien, die seine Rasse seit alters her mit dem Universum verbanden. In diesem sensitiven Einssein war die Reise durch den Hyperraum jedes Mal eine wahre Erholung von den physischen Strapazen des bewohnten Alls, das wie eine gigantische Blase im übergeordneten Kontinuum schwamm. Lotos, die grüne Welt im Zentrum der Milchstraße, gehörte zu den Gründungsmitgliedern der galaktischen Konföderation; und die Lotonen bildeten dank ihrer sensitiven und telepathischen Fähigkeiten die Kundschaftertruppe des Sternenreiches. Späher-3 von Lotos befand sich auf einer Routinefahrt als Kurier zwischen der Zentralverwaltung auf Bor-X-5 und einer der neuen Kolonialwelten gegen die Magellansche Wolke zu. Friede erfüllte die Sinne von Späher-3; Harmonie verband ihn mit der Rhythmik des Überraums. Der Lotone genoss die Fahrt. Da wurde das Schiff brutal aus dem Hyperraum hinaus gestoßen und in den Normalraum gedrückt. Wilde Turbulenzen schüttelten das Kurierboot, der Konverter drohte durchzugehen doch auch höchste Kraft der Maschinen konnte das künstliche Gebilde nicht im Überraum halten. Die Signalknöpfe an der Konsole spieen wahre Kaskaden alarmierender Farbkombinationen aus. Etwas Unfassbares war geschehen: Späher-3 von Lotos war mit seinem Schiff havariert; irgendwo, weitab von den bekannten Verkehrswegen. Einen Grund konnte er für die Havarie so schnell nicht ausmachen. Vielleicht hatte einer jener gigantischen Wirbelflecken das Schiff aus dem übergeordneten Kontinuum geschleudert. Späher-3 konnte sich jetzt nicht darum kümmern. Ein schneller Versuch ergab, dass die Maschinen nicht mehr
reagierten. Eine erste Orientierung in der kosmischen Nachbarschaft erlaubte eine ungefähre Positionsbestimmung: Das Schiff war am Rande eines dünnen Seitenarms der Galaxis in den Normalraum gefallen. Unweit leuchtete eine gelbe Sonne, die von mehreren Planeten umkreist wurde. Per Lotone musste eine Notlandung versuchen. Da die Maschinen nicht mehr ansprachen, war vom Schiff kein Funkkontakt mehr möglich. War er erst gelandet, gab es vielleicht Hilfe für ihn. Der Stadtobersekretär a.D. Wilhelm Schmitz erwachte an diesem Morgen sehr früh. Neben ihm schlummerte seine bessere Hälfte noch tief und genoss den Schlaf der Gerechten und von sich selbst Überzeugten. Es war kurz nach Sonnenaufgang. Draußen tschilpten die Spatzen bereits in den Märzhimmel; sie bauten unter dem Giebel des kleinen Einfamilienhauses, das sich Schmitz in langen Berufsjahren bei der Stadtverwaltung von Neu Großenau zusammengespart hatte. Vom Dachfirst kam das Gurren der Tauben, Schmitz' ganzer Stolz und Ersatz für die Kinderlosigkeit, die das Alter doch etwas einsam machte. Wilhelm Schmitz schwang sich aus dem Bett. Auch wenn heute Sonntag war, er musste aufstehen und nach dem Rechten sehen. In den vergangenen Nächten war mehrmals in den Taubenschlag eingebrochen und mehrere Tiere waren gerissen worden. Schmitz tippte auf einen Marder, doch hatte er auch mit einer raffiniert aufgestellten Falle den Räuber bisher nicht erwischen können. Der Taubenschlag hatte einen Zugang vom Anbau aus, der nachträglich hinten ans Haus angeklebt worden war. Schmitz quälte sich die schmale Treppe empor, wobei ihm wie immer sein Bauch im Weg war, aber mit 68 Jahren mag man auch nicht mehr seine Eßgewohnheiten ändern, nur um abzuspecken. Bei den Tauben war alles in Ordnung, und Schmitz ließ sich Zeit mit den allmorgendlichen Routinearbeiten, zu denen auch gehörte, dass er mit seinem Lieblingstäuberich sprach und wohl zum hundertsten Mal sein linkes Bein untersuchte, das sich der
Vogel vor zwei Monaten gebrochen hatte. Eine wahre Tragödie war das damals gewesen, denn der Täuberich sollte beim alljährlichen Wettbewerb des überregionalen Taubenzüchtervereins teilnehmen, mit guten Aussichten, wie Schmitz gegenüber der Nachbarschaft immer wieder betonte. Dann dieser Unfall, der eine Teilnahme am Wettbewerb unmöglich machte; und das nicht ganz ohne Schadenfreude mancher Nachbarn, die sich oft genug über den Lärm, vor allem aber über den Taubendreck beschwert hatten. Dann stieg Schmitz wieder nach unten, in den Garten, wo die Schneeglöckchen in voller Blüte standen und die Krokusse in verschiedenen Farben leuchteten. Der Flieder hatte schon dicke Knospen, und auch die Edelrosen waren für die Jahreszeit sehr weit. Ganz besonderen Spaß bereitete ihm die Akelei, deren Blätter bereits einige Zentimeter aus dem Boden lugten. Im vergangenen Sommer hatte er im Ludesheimer Forst wilde Akeleien, versteckt in einer Schonung, entdeckt. Da die Pflanzen unter Naturschutz standen, hatte er sie nicht gepflückt, sondern sich nach dem Abblühen den Samen geholt. Und nun kamen die Jungpflanzen bei ihm im Garten aus der Erde. Er stutzte. Etwas war nicht so, wie es sein sollte. Eine Schleifspur führte quer übers Beet, einige Pflanzen waren umgedrückt. Die Spur führte offensichtlich vom Haus weg in Richtung auf den nahen Wald. Sollte das etwa der freche Taubenmörder sein? Schmitz besorgte sich aus dem Gartenhäuschen einen kräftigen Stock und machte sich auf die Suche. Doch als er den vermeintlichen Räuber gefunden hatte, stand er wie erstarrt. Nein, ein Marder war das nicht! Es war kalt auf dieser Welt. Späher-3 kauerte am Rande eines Waldes unter einem Strauch und hoffte, dass die Strahlen der Sonne ihn bald besser wärmen würden. Auf Lotos kannte man keine Kleidung, die milde Witterung das ganze Jahr über machte solchen Schutz überflüssig. Und Tabus irgendwelcher Art, was das Aussehen
oder die Gewohnheiten von Intelligenzwesen anging, gab es in der gesamten galaktischen Konföderation nicht mehr. Zu verschieden und widersprüchlich waren die Gebote und Verbote der zahlreichen Welten und Rassen gewesen; so hatte man sie kurzerhand abgeschafft. Nun aber hätte sich Späher-3 doch gerne einige Kleider gewünscht, die er in seinem Schiff zwar nie benutzt, jedoch für solche Zwecke zur Verfügung hatte. Doch mit der Landung hatte es nicht recht geklappt. Der dritte Planet der gelben Sonne hatte schließlich geeignete Bedingungen für eine Landung geboten; darüber hinaus war er auch noch bewohnt, was die Chancen des Lotonen erheblich verbesserte. Der Antrieb des Kurierschiffes funktionierte nur noch sporadisch, auch nachdem Späher-3 eine notdürftige Reparatur gelungen war. Späher-3 hatte große Mühe, im richtigen Eintauchwinkel die relativ dichte Atmosphäre anzugehen. Das Randgebiet einer ausgedehnten Siedlung schien ihm geeignet, um dort niederzugehen. Auf dieser Hälfte des Planeten war noch Nacht, kurz vor Aufgang des Tagesgestirns, der richtige Zeitpunkt zur Landung. Doch kurz vor dem Aufsetzen schmierte das Schiff ab und zerschellte dicht bei einem Steinbruch, wobei die Überreste in Flammen aufgingen - ein Hinweis auf den ziemlich hohen Sauerstoffgehalt der Atmosphäre. Späher-3 kam mit dieser Luftzusammensetzung zurecht, brauchte keinen Schutzanzug und keine Atemmaske, da sein Körper mit unterschiedlichen atmosphärischen Mischungen fertig wurde. Doch nun trauerte er der Kleidung nach, die in dem Wrack verbrannt war, denn es war empfindlich kalt. Er hatte sich am Rande der Siedlung umgesehen, doch nicht in die Häuser getraut. Dann hatte er sich hierhin zurückgezogen. Seine Sensoren signalisierten ihm das Nahen eines Lebewesens, wie das Nachprüfen ergab, eines intelligenten Eingeborenen. Der Lotone erkannte die Gestalt schon auf einige Entfernung. Das Wesen schien irgend etwas zu suchen. Es war von gedrungener Gestalt, etwa um die Hälfte größer als er,
Späher-3 selbst. Und es trug feste Kleidung, was den Schiffbrüchigen wieder an sein eigenes Frieren erinnerte. Ein telepathisches Sondieren zeigte dem Lotonen, dass die »Menschen«, so nannten sich die Eingeborenen, offensichtlich noch nie Kontakt mit Außerirdischen gehabt hatten. Späher-3 musste bei seiner Erforschung des fremden Bewusstseins vorsichtig vorgehen, damit seine Neugier nicht bemerkt wurde, denn auch Telepathie gehörte hier nicht zum Allgemeingut. Der Lotone haderte innerlich mit sich: was für ein Pech! Nicht genug, dass eine Havarie ihn aus dem Hyperraum geworfen und letztendlich auch sein Schiff zerstört hatte, die Notlandung hatte ihn - weitab von der Konföderation - auch noch auf einen Hinterwäldlerplaneten geführt, mit dessen unwissenden Eingeborenen er sich nun herumzuschlagen hatte. Möglicherweise hatte sich Späher-3 bewegt, jedenfalls blieb der Mensch mit einem Mal abrupt stehen, starrte zu ihm herüber. Der Lotone drückte sich enger in den Busch, als könne ihm die Pflanze Schutz gewähren. Dann hob der Eingeborene den Stock, den er in der rechten oberen Extremität trug, und ... da erscholl von der Siedlung her ein lauter Ruf. Der Mensch drehte sich um. Mehrere andere kamen auf ihn zugelaufen. So etwas Hässliches hatte Wilhelm Schmitz in seinem ganzen 68jährigen Leben noch nicht gesehen. Unter dem Haselstrauch saß etwas wie ein Haufen Gelatine, fast durchsichtig. Obenauf klebte ein kleineres Häufchen, vielleicht eine Art Kopf, doch Augen waren nicht zu erkennen. Es war einfach abstoßend und spottete allen Naturgesetzen. Und als Gartenbesitzer und Taubenzüchter bildete sich Schmitz ein, davon eine ganze Menge zu verstehen. So etwas durfte es einfach nicht geben! Der Ekel stieg in ihm hoch, es würgte ihn im Hals. Fast automatisch hob er den Stock, um loszuschlagen. Was so aussah, raubte auch Taubenschläge aus. Da hörte er von hinten seinen Namen rufen. Er drehte sich um und sah einige Nachbarn auf sich zulaufen, allen voran der fünfzehnjährige Bengel vom Nachbarhaus, Jochen Brunne, mit
dem er schon ein paar Mal aneinander geraten war, weil jener behauptete, Tauben übertrügen Krankheitskeime und gehörten daher abgeschossen. Dann kamen da der Bäcker Schmacke und der Elektromeister Proll gelaufen; Schmacke war wie Schmitz ein begeisterter Gärtner, und Proll war Mitglied im Kaninchenzüchterverein. Ganz am Schluss keuchte die alte Müllersche, die wegen ihrer 220 Pfund, die sie spielend auf die Waage brachte, immer leicht aus der Puste geriet. Sie zerrte das Jockelchen hinter sich her, eine total verfettete Promenadenmischung, die nur noch entfernt Ähnlichkeit mit einem Hund aufwies. Während die anderen drei Neuankömmlinge wie gebannt auf das Etwas unter dem Haselbusch blickten, war es natürlich die Müllersche, die als erstes begierig fragte: »Na, haben Sie den Taubenmörder gefunden, Herr Schmitz?« Der Stadtobersekretär a.D. deutete nur stumm unter den Busch, doch noch ehe er etwas sagen konnte, fragte der junge Brunne-. »Was ist denn das? Ein solches Tier hab' ich ja noch nie gesehn!« »Ein Scheusal ist das, ein Monstrum«, schrie die alte Müller mit überkippender Stimme, kaum dass ihr Blick den Lotonen gestreift hatte. »Nun tun Sie nicht so!« Das war Schmacke, der sich auf seine Ruhe immer etwas zugute hielt. »Wir wissen ja noch nicht einmal, worum es sich da handelt.« »Aber Frau Müller hat recht«, behauptete nun auch Schmitz. »Ich kenne kein Tier, das so aussieht.« »Muss ja kein Tier sein«, kam nun Jochens helle Stimme. »Unser Besserwisser!« Auch Proll hatte mit dem jungen Brunne keine guten Erfahrungen gemacht; er konnte außerdem nicht verwinden, dass sich auch Brunnes Eltern schon mehrfach wegen des Gestanks beschwert hatten, der angeblich von seinen Kaninchenställen ausging. »Was ist es denn dann?« »Vielleicht kommt's von einem anderen Planeten...« »So ein Quatsch!« »Hör dir mal den an!«
»Womöglich soll dieses Etwas auch noch denken können . . . « Und Wilhelm Schmitz knurrte nur; »Idiot!« Und lauter; »Hau ab, ehe ich dir Beine mache, frecher Kerl!« Jochen Brunne wich vorsorglich einige Schritte zurück, denn der Beamte außer Diensten hatte seinen Stock gehoben. Die Aufmerksamkeit der Erwachsenen wandte sich wieder dem Ding unter dem Haselstrauch zu. Späher-3 schöpfte Hoffnung, als er die Gruppe herbeilaufen I sah. Von seiner Heimatwelt her wusste er, dass das Gruppenbewusstsein in der Regel zu mehr Besonnenheit und Hilfsbereitschaft führt. Das mochte den zuerst herbeigekommenen Menschen in Zaum halten. Doch dann kam es offenbar zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen den fünf Eingeborenen, das heißt: zwischen den vier älteren und dem jungen Menschen. Da der Lotone immer nur ein Bewusstsein telepathisch kontaktieren konnte, war es ihm etwas schwierig, der Auseinandersetzung zu folgen. Doch offensichtlich hatte der Junge seine Partei ergriffen und dabei auf die mögliche Herkunft von einer anderen Welt hingewiesen. Zur großen Enttäuschung von Späher-3 konnte sich diese Meinung nicht durchsetzen, ja der junge Mensch wurde aus der Gruppe weggeschickt, blieb aber in einiger Entfernung abwartend stehen. Während die vier Menschen nun laut überlegten, was sie mit ihm anfangen sollten, wandte der Lotone seine Aufmerksamkeit dem Hund zu. Das vierbeinige Wesen schien ihm friedlicher, artverwandter als die Menschen, doch sprach es nicht auf telepathische Kontaktversuche an. Späher-3 kam sogar auf die Idee, dass dieses Lebewesen möglicherweise überhaupt nicht dachte, doch das schien ihm unsinnig zu sein: was tat es dann in der Gesellschaft der hier versammelten Eingeborenen... Der Lotone wagte einen weiteren Versuch: Er entrollte eines seiner Gliedmaßen, um zumindest einmal in körperlichen Kontakt mit dem Vierbeiner zu treten - als Anfang zu weiterem. Gleichzeitig sandte Späher-3 beruhigende Gedankenströme aus.
Schmitz hatte sich inzwischen in Wut geredet. Er war nun überzeugt davon, dass jener Gelatineklumpen der Mörder seiner Tauben war. »Die Polizei muss her«, sagte er. »Schließlich, vielleicht gehört das Vieh irgend jemandem. Ich habe gehört, dass sich die Leute inzwischen sogar Schlangen und Krokodile in der Wohnung halten.« »Igittigitt!« schrie die dicke Müller und warf gleichzeitig einen liebevollen Blick auf ihr Jockelchen. »Herr Schmitz, das das doch nicht wahr sein!« »Doch, das hab' ich auch gelesen«, bestätigte Proll. Was ist das?« Wieder Proll. Aus dem Etwas unter dem Haselbusch wand sich ein Tentakel hervor, schnurstracks auf die Müller zu, und senkte sich auf das]ockelchen. »Zu Hilfe, Polizei, Mörder«, schrie die Frau in höchsten Tönen. »Das Ding will meinem Jockeichen was antun.« Der Tentakel hatte den Hund erreicht und schien ihn zu streicheln. »Herr Proll, Sie sind doch im Tierschutzverein«, schrie die Müllersche weiter und zerrte an ihrem Hund, doch dem schien die Berührung durch den Lotonen zu gefallen. »So helfen Sie doch, Herr Proll. Das ist ein Fall für Sie!« »Ja, ja«, war alles, was von Proll kam. Nun würgte es auch ihn. Und auch Schmacke wurde ganz grün im Gesicht. Nur von hinten schrie der junge Brunne: »Da seht ihr es, es kommt von woanders her!« Schmitz übermannte die Wut: »Halt's Maul, du Rotzlöffel«, schrie er. »Was verstehst du schon davon?« Er hob den Stock und drosch mit aller Kraft auf das Etwas ein. Die Außenhaut platzte, und der Stock drang tief ein. Eine helle Flüssigkeit spritzte aus der Wunde und sickerte in den Waldboden. »Ja, Herr Schmitz, weiter drauf«, feuerte die Müller an, unterstützt von den anderen beiden Männern, die sich rasch bückten, scharfkantige Steine auflasen und damit in die
zuckende Masse warfen, bis schließlich nur noch Fetzen übrig blieben. Und zwanzig Meter entfernt stand Jochen Brunne, erstarrt vor Schreck. Das war so schnell gegangen, dass er gar nicht hatte reagieren können. Jetzt war ihm schlecht.
Pepes Welt
Tag für Tag umlagerten die Kinder den alten Mann, der am Rande des von knorrigen Bäumen eingefassten Platzes hockte Es schien sie wenig zu stören, dass der Alte blind war. Anfangs blickte jeder Neuankömmling scheu auf die riesige, gezackte Narbe, die quer durch das über und über mit Runzeln bedeckte Gesicht lief, doch noch jeder hatte sich schnell daran gewöhnt, sobald ihn der Zauber der Geschichten, die der Blinde mit ruhiger, aber ausdrucksstarker Stimme erzählte, in Bann geschlagen hatte. So hockte der Alte im Staub des Platzes, unbeeindruckt vom Gequirle der Menschen, dem Gestank der kleinen SojabohnenSiedestellen in den Hinterhöfen dieses Elendsviertels, dem Gehämmere der Behelfsschmieden und dem Geschrei der Händler, die Frauen mit verhärmten Gesichtern ihre Waren aufschwatzen wollten. Denn sehen konnte er das ärmliche, wenn auch bunte Treiben nicht mehr, und wenn er auch als Blinder Geräuschen gegenüber besonders empfindlich war, so ließ er sich doch nichts anmerken. Umlagert von der jungen Schar, machte der Alte Tag für Tag den gleichen zufriedenen Eindruck. Und immer wieder bettelte eins von den Kindern. »Pepe, erzähl uns eine Geschichte.« Und der Blinde erfüllte den Wunsch; doch kaum hatte er ausgesprochen, da baten sie erneut: »Bitte, Pepe, noch eine Geschichte. Nur noch eine, du weißt schon, die mit dem Häschen.« Und ein anderer, der Jüngste unter ihnen, bettelte: »Nein, bitte, erzähl noch mal, wie du auf dem fremden Planeten gelandet bist, da oben, ganz weit weg.« Oder da war das Mädchen mit dem wirren, blonden Haarschopf, die zerlumpte Puppe unterm Arm. Obwohl bereits acht Jahre alt, lutschte es noch immer eifrig am Daumen, doch nun nahm es den Finger heraus, musterte mit seinen strahlend blauen Augen aufmerksam den Alten und meinte: »Mir gefällt immer am besten, wenn Pepe von großen Geschäften erzählt; mit den vielen Spielsachen, den Teddys und den Puppen mit den Kulleraugen.« Geduldig trug der Blinde das Gewünschte vor, wohl wissend,
dass dies sicherlich nicht die letzte Geschichte war, die er heute würde erzählen müssen. Denn war diese zu Ende, würde es wieder heißen: »Eine allerletzte Geschichte noch, Pepe, bitte.« So ging es jeden Tag, bis die Sonne am Horizont versank und die Kinder von ihren Müttern zum abendlichen Essen gerufen wurden. Dann verschwanden die Kleinen in den halbverfallenen Wohnblocks, in den Behelfshütten zwischen Bergen von Unrat und nahmen in ihre Träume ein wenig von dem mit, was ihnen Pepe mit seiner ruhigen Stimme erzählt hatte. Eines Tages jedoch zuckten die Kinder erschrocken zurück, als dunkle Schatten auf sie fielen, während sie dem Blinden gebannt zuhörten. Hinter ihnen standen Mitglieder der Sicherheitspatrouille, die fast nie und dann nur nachts in dieser Gegend auftauchte. Die fünf Männer in ihren schwarzen Uniformen standen im Halbkreis um die kauernde Kinderschar und starrten auf den Alten, der nun - aufmerksam geworden - seine toten Augen in die Richtung der Störenfriede hob: »Ist was, Kinder?« Das klang nicht irgendwie schüchtern, eher sprach Neugier aus der Frage. »Können Sie sich ausweisen?« fragte der Truppführer, der die Sicherheitspatrouille befehligte. Obgleich keinerlei Gefahr sich abzeichnete, lag seine Rechte vorsorglich auf der Elektropeitsche, die an seinem Gürtel hing. »Aber sicher«, antwortete der Blinde und richtete sich aus der Hocke auf. »Wer sind Sie denn, wenn ich fragen darf?« »Fragen kannst du wohl«, war die Entgegnung, der Ton war merklich barscher geworden, »Aber du willst doch wohl keine Antwort darauf.. « Der Alte zuckte zurück. »Sofort, mein Herr!« Er nestelte an seinem geflickten Gewand und hielt die Hand mit dem Ausweis der barschen Stimme entgegen. »Gib schon her!« Der Truppführer riss ihm das Papier aus der Hand und warf einen flüchtigen Blick hinein. »Pepe Gonzalez Marquez..., den Namen kenn ich doch . . . « Einer der vier restlichen Mitglieder der Patrouille, ein junge,
Gefreiter mit keckem Schnauzbart, räusperte sich: »Truppführer, hieß nicht einer jener Verrückten ... Ich meine, mein Vater hat mir mal von dieser Marsexpedition erzählt...« »Stimmt«, unterbrach der Truppführer seinen Untergebenen. »Von da her kenn ich den Namen. Na, die Kameraden haben damals nicht gerade großen Erfolg gehabt. Gab es da nicht bei der Rückkehr diesen Unfall?« »Ja, Herr.« Pepe hatte stumm gelauscht. Als er nun kurz bestätigte, starrten ihn die verängstigten Kinder groß an. »Du hältst den Mund, Alter!« Unter der Zurechtweisung zuckte der Blinde zusammen. Auch die Kinder hatten nun offenkundig den Ernst der Situation voll erfasst. Einige der Kleineren begannen zu weinen. Angewidert verzog der Truppführer das Gesicht; er mochte keine heulenden Kinder. »Hier hast du den Ausweis zurück.« Er warf dem Alten das Papier vor die Füße. »Wenn ich du wäre, würde ich vorsichtiger sein. Und keine Menschenaufläufe hier in der Gegend, verstanden!« Als der Blinde sich wieder in die Hocke niederließ, um im Staub nach seinem Ausweis zu suchen, da hatten sich die fünf Schwarzgekleideten bereits abgewendet. Eilfertig sprangen einige Kinder hinzu, um ihrem Pepe zu helfen. Doch aus dem Erzählen wurde für diesen Tag nicht mehr viel. Pepe schien nachdenklich und traurig zugleich; und auch die Kinder saßen in gedrückter Stimmung um ihn herum. Am nächsten Tag hatte sich der Blinde wieder gefangen. Mit ruhiger Stimme erzählte er wieder seine Geschichten von der schönen, vergangenen Welt, die er noch erlebt hatte und von der sich die Kinder trotz seiner Erzählungen kaum eine Vorstellung machen konnten. Für sie waren das eher Märchen; nur manchmal zuckte in den älteren die Erkenntnis auf, dass an Pepes Worten vielleicht doch etwas Wahres sein könnte. Zwei Tage darauf war die Sicherheitspatrouille wieder da. Diesmal steuerte der Truppführer, gefolgt von seinen Männern direkt auf die Ecke des Platzes zu, wo der Alte, umringt von den
gespannt zuhörenden Kindern, auf einem Stein saß. Pepe erzählte gerade von seiner Landung auf dem roten Planeten Mars; der ersten Landung eines Menschen auf dem Nachbarplaneten. Gebannt lauschten die Kinder der Beschreibung der rostroten Staubwüste, da wurde der Alte unterbrochen. Rücksichtslos brach der Truppenführer durch die Linie der sitzenden Kinder, die zur Seite geschleudert wurden. »Hab' ich nicht vor zwei Tagen . . . Ihr verdammten Krampen, ihr meint wohl, ihr könnt machen, was ihr wollt.« Er stieß die Kinder weg, seine Untergebenen halfen ihm dabei. Die Kleinen begannen zu weinen, einige hatten sich beim Hinfallen weh getan. Sie wichen zurück, ließen den blinden Alten auf dem Stein sitzend allein und sammelten sich am anderen Ende des Platzes. Der Truppführer wandte sich dem ehemaligen Astronauten zu: »Und nun zu dir, Alter!« «Ja, Herr«, begann Pepe und wollte aufstehen. »Ich . . .« Ein Stoß beförderte ihn wieder zurück. Er verlor das Gleichgewicht und prallte mit dem Rückgrat gegen den Stein. Mit schmerzverzerrtem Gesicht blieb er liegen. «Wenn ich rede, hast du Pause, merk dir das«, schrie der Patrouillenführer. «Was meinst du, wen du vor dir hast.« Pepe antwortete nicht, er lag neben dem Stein. Sein Mund war zu einer schmalen Geraden zusammengepresst. "Gib mir eine Antwort, du Hund!« schrie der Schwarzgekleidete. Seine Untergebenen grinsten beifällig. Ihre Hände tasteten nach den Elektropeitschen. Mühsam rappelte sich der Blinde auf. Er schwankte leicht beim Aufstehen und versuchte, das Gleichgewicht wiederzugewinnen. »Ich habe hier Aufenthaltsrecht«, beteuerte er. »In meinem Ausweis ist ein Vermerk darüber.« »Dein Ausweis interessiert mich nicht. Du bist ein Aufrührer, ein Terrorist. Du hetzt die Kinder auf mit deinem Geschwätz über gestern. Das ist verboten, verstanden?« »Aber, Herr, ich habe nie etwas anderes als die Wahrheit erzählt.«
»Die Wahrheit, pah! Das ist verboten, kapierst du nicht?« Der Alte schüttelte verzweifelt den Kopf, als könnte er seine eigenen Ohren nicht trauen. »Aber die Behörde hat mir die Erlaubnis erteilt, mich hier . . .« Er streckte dem Truppführer, dessen vor Zorn bebendes Gesicht dunkelrot angelaufen war, seinen Ausweis hin. Da schlug der Schwarze mit der Elektropeitsche zu. »Ihr habt es gesehen«, schrie er, diesmal noch lauter. »Er hat mich angegriffen. Er wollte mich schlagen!« Da machten sich auch die anderen vier über den im Staub liegenden Alten her und bearbeiteten ihn mit elektrischen Schlägen, bis er sich nicht mehr rührte. Schließlich stieß der Truppführer mit dem Fuß gegen das von staubigen Lumpen umhüllte Bündel. Einmal, zweimal. »Der ist hin«, bemerkte er zufrieden. »Wir lassen ihn liegen, soll der Pöbel hier schauen, wie er ihn wegkriegt.« Er sah kurz hinüber zu den Kindern am anderen Ende des Platzes. Sie hatten sich um Jose geschart, den mit neun Jahren ältesten unter ihnen. Vielleicht wäre der Truppführer der Sicherheitspatrouille mit seinen Leuten nicht so zufrieden abgezogen, wenn er Joses erste Worte vernommen hätte: »Pepe hat einmal erzählt, wie er...«
Schleim
Der Nebel hing in dicken, grauen Schwaden zwischen dem Astwerk der niedrigen Büsche und machte den Abstieg in den Steinbruch noch riskanter als bei Tageslicht. »Klatschnass bin ich schon«, schimpfte Peter Schreiner, während er versuchte, auf dem lehmigen Boden langsam abwärts zu rutschen. Von Josef Pieralla, dem zweiten Beteiligten, kam nur ein Brummen. Er hatte sich mit der Cordjacke in einer Brombeerhecke verfangen und versuchte nun ungeduldig, sich freizumachen, während die Füße ihm wie auf Schmierseife unter dem Leib wegrutschten. Ein letzter Ruck befreite ihn schließlich aus dem Gestrüpp, wobei allerdings eine Ecke aus seinem Jackenärmel zurückblieb. »Eine Schnapsidee von dir, bei Nacht in dieses Dreckloch hinunter zu steigen«, keuchte er. »Als ob wir das Zeug nicht am Tage genauso hätten holen können.« Während er vorsichtig einen Steilabsturz umging, der aussah, als könnten sie sich hier den Hals brechen, verteidigte sich der dürre Schreiner: »Du weißt genau, dass die uns nicht mehr in die Müllkippe lassen. Vorne an der Zufahrt haben sie sogar einen Posten aufgestellt. Nichts zu machen, ich hab's doch versucht!« Behutsam tasteten sie sich weiter. Der alte Steinbruch diente seit einigen Jahren als Müllabladeplatz für die nahe Stadt. Unglaublich, was die Leute alles wegschmissen. Bald nachdem er arbeitslos geworden war, hatte Peter Schreiner, an sich Angestellter in einem Industriebetrieb, damit begonnen, die Müllkippe regelmäßig nach Brauchbarem abzusuchen. Sein dicklicher Freund, Pieralla, der schon seit langem keinen Wert mehr auf eine regelmäßige Arbeit legte, half ihm dabei. Und er musste zugeben, dass sie auf ihre Kosten kamen. Nicht nur Altmetall, sondern vor allem alte Möbel waren die Beute. Möbel, die sich leicht in so genannten Antiquitätengeschäften verscherbeln ließen. »Ausgerechnet heute musste sie zumachen«, schimpfte Josef Pieralla wieder. »Hätten die bloß noch einen Tag gewartet, dann hätten wir noch einmal absahnen können. «Sei doch mal ruhig«, mahnte Schreiner. »Sonst hören die
dich noch und kommen, um uns wegzujagen. Pass lieber auf, dass der Sack und die Taschenlampe nicht nass werden. « Das schwimmt doch sowieso schon alles«, maulte Josef, hielt dann den Mund. Die Gründe für die Schließung der Müllkippe waren offiziell nicht mitgeteilt worden. Spekulationen gab es aber viele, die Gerüchteküche dampfte. Und wie so oft stimmte da manches nicht an den Vermutungen, aber einiges war doch nicht so falsch. Auch Schreiner und Pieralla wussten nicht mehr als die Allgemeinheit. Sie vermuteten Ablagerungen von Giftfässern oder ähnliches, trauten sich aber zu, der Gefahr auch in der Dunkelheit - aus dem Wege gehen zu können. Unten im Loch war es stockfinster. Peter Schreiner, der sich immer noch als erster einen Weg nach unten ertastete, fiel erst der Länge nach hin, ehe er merkte, dass es nicht mehr weiter bergab ging. Der Nebel hatte sich in einen Vorhang feinster Wassertröpfchen aufgelöst. Der arbeitslose Angestellte tastete nach der Taschenlampe, knipste sie an, aber die Nässe hatte sie unbrauchbar gemacht. Nach mehreren vergeblichen Versuchen schleuderte er sie wütend in die Dunkelheit. Schnaufend war inzwischen auch der dicke Pieralla die letzten Meter hinuntergeschliddert. Zum Glück funktionierte seine Lampe gleich beim ersten Versuch. Im Lichtkegel zeigten sich die Überreste einer Wegwerfgesellschaft: Matratzen, leere Flaschen und Kisten, Stühle. All dies beachteten die beiden nicht. Sie hatten gehört, aus Versehen sei eine größere Anzahl Messingleuchter auf dem Müllplatz abgeladen worden. Die sollten ihre Beute sein. Sie machten sich auf den Weg quer über die Müllberge. Vielleicht zwanzig Meter von der Abstiegstelle entfernt regte sich etwas. Jetzt, in der Dunkelheit, war das natürlich nicht zu sehen. Und selbst bei Tage hätte ein sehr aufmerksamer Beobachter kaum etwas feststellen können: ein Gleiten, ein Sichverschieben einzelner Müllbestandteile, vielleicht ein sekundenschnelles Aufglänzen im Mondlicht. ES hatte lange geruht; jetzt hatte ES Bedarf an organische eiweißhaltiger Nahrung. Denn ES war Leben, wenn auch rein
instinktiv. Und ES witterte nun dringend benötigte Nahrung in einiger Entfernung. Ein langer, dünner Finger aus Schleim, der im Sonnenschein leicht oszilliert hatte, glitt langsam, aber beharrlich in Richtung auf die beiden ahnungslosen Männer. Selbst wenn die Stadtverwaltung etwas von den Geschehnissen im Steinbruch bekannt gemacht hätte, hatten die beiden sicherlich kein Wort davon geglaubt. Denn in den letzten Tagen waren mehrere Arbeiter und Müll sammelnde Kinder auf der Halde spurlos verschwunden. Nur die vollständige Kleidung, einschließlich Schuhen und Unterwäsche, hatte man in unordentlichen Haufen am Orte des Verschwindens entdeckt. Eine sorgfältige Suche hatte lediglich einige Kanister mit radioaktivem Müll aufgespürt, die hier illegal gelagert worden waren. Dies gab den Ausschlag, den alten Steinbruch für die Allgemeinheit endgültig zu sperren. Doch einer Lösung des Rätsels war man dadurch keinen Schritt näher gekommen. Freilich, wäre ES entdeckt worden, hätten Experten sich manches zusammenreimen können. Denn ES war eine spontane Mutation, ausgelöst durch die Einwirkung der radioaktiven Strahlung auf verschiedene Chemikalien und Rohsubstanzen, die sich allmählich vermischt hatten. So war ES entstanden. Der blasse Schein der Taschenlampe zeigte ihre Umgebung nur in einem schmalen Lichtkegel. Peter Schreiner war es unbehaglich zu Mute. Wäre er alleine gewesen, dann wäre er wahrscheinlich schon längst umgekehrt. Aber vor Pieralla wollte er sich keine Blöße geben. Ein Augenblick der Unachtsamkeit ließ ihn stolpern. Sofort war sein Freund mit der Lampe zur Stelle. Sie zuckten beide zurück. Ein weißer Totenschädel grinste sie an. »Verdammt, was haben die denn hier abgeladen?« stammelte Schreiner und ging zwei Schritte rückwärts, nur um beinahe wieder über einen abgeladenen Reifen zu stolpern. Das wandernde Licht enthüllte eine Schrift: VORSICHT ! LEBENNSGEFAHR! RADIOAKTIV!
»Schweinerei!« keuchte Josef Pieralla, den seine Fettleibigkeit schon wieder außer Atem gebracht hatte. »Wir müssen aus dieser Ecke weg. Sonst holen wir uns was. Mit Atommüll ist nicht zu spaßen!« Er drehte sich um und eilte in die Dunkelheit. Schreiner folgte ihm sofort - genau in jene Richtung, aus der das Grauen kam Der schleimige Finger hatte inzwischen schon eine beachtliche Entfernung zurückgelegt. Andere folgten in geringem Abstand. ES war von Gier erfüllt. Der Geruch nach Nahrung war starker geworden. Etwas wie Erinnerung regte sich, Erinnerung an vergangene, kraftvolle Mahlzeiten. Nahrung bedeutete neue Kraft; und Kraft hieß Wachstum. Nun brauchte ES mehr Nahrung. Der wurmartige Fühler näherte sich immer mehr. Er kroch geduldig über alle Hindernisse, beschleunigte das Tempo. Die Qual des Hungers trieb ES, seine Kraftanstrengung zu verdoppeln. Da: Kontakt! Peter Schreiner merkte zuerst nichts davon. Er fühlte nur, wie sich etwas an seine Wade schmiegte, und dachte an irgendwelche Ranken. Er schlenkerte mit dem Bein, um sich freizumachen, aber das gelang nicht. »Komm mal mit dem Licht hierher", rief er seinem Freund zu, der gerade in einem Berg Kartonagen stöberte, unter dem sich vielleicht die gesuchten Leuchter befinden konnten. »Ich hänge fest.« Unwillig über die Störung, fing der Dicke wieder an zu maulen. »Wären wir nur erst gar nicht in das Dreckloch gestiegen. Bei diesem Mistwetter krieg ich höchstens einen Schnupfen.« Pieralla kam aber zurück und beleuchtete Schreiners rechtes Bein, das dieser immer noch heftig bewegte, um sich loszumachen. Pieralla stutzte. Er ließ das Licht nach unten wandern. Peter Schreiners rechter Schuh war zur Gänze mit einer
Lampenschein glitzernden Schicht bedeckt, die wie ein schmales Band in die Dunkelheit reichte. Am Rande des Lichtkegels glaubte der Müllsammler weitere leuchtende Bänder zu sehe Ein wulstiges Sichaufbäumen ließ einen ganzen Klumpen a Schreiner herankommen, der wie erstarrt dastand. Als de oszillierende Klumpen in seinem Hosenbein verschwand erwachte der Mann aus seiner Erstarrung. »Das brennt wie Feuer«, schrie er auf und bückte sich, um ES mit den Händen zurückzureisen. Er verlor das Gleichgewicht und stürzte mit dem Gesicht vornüber in die weiter auf ihn zu gleitende Substanz. Als er sich mühsam wieder aufrappelte -sein rechtes Bein wollte ihn nicht mehr tragen - waren seine Züge von Schmerz verzerrt. Josef Pieralla. der im bleichen Lampenlicht nur ungenügend erkannte, was vorging, richtete die Lampe auf das Gesicht seines Freundes. Und schrie. Pieralla brüllte vor Entsetzen, dass es von den Wänden widerhallte. Denn Peter Schreiners Gesicht bestand nur noch zu einem Teil. ES, die gefräßige Kreatur des Teufels, verschlang den Mann bei lebendigem Leib. Schon schwankte er stärker, denn der unsichtbare Fraß unter seiner Kleidung war am Körper schon viel weiter fortgeschritten. Mit einem Aufbäumen starb Peter Schreiner in dem Augenblick, als ein dünner Schleimfinger sich bis in sein Herz durchgebohrt hatte. ES war in Extasse. ES konnte seinen Hunger stillen. ES erhielt neue Energien. Und ES wuchs. ES schickte weitere Schleimfühler aus, denn da war noch mehr Nahrung. Nahrung, die ES dringend brauchte, um das Wachstum zu beschleunigen. Der Hysterie nahe blickte Josef Pieralla in die gebrochenen Augen seines Freundes. Was hier geschah, ging über seinen Verstand. Die Gestalt seines Kompagnon fiel zusehends in sich zusammen, je weiter der gierige Schleim sich vorfraß. Schließlich konnte sich der Mann aus der hypnotischen Starre
befreien. Mit einem irren Schrei drehte er sich um und taumelte mehr, als dass er lief, weg. Nur weg aus diesem Ort des unsagbaren Schreckens! Das Getaumel wurde bald zu einer wilden Jagd quer durch die Müllhalden. Er rannte in sperrige Gegenstände, zerfetzte sich die Kleider, riss sich die Wange blutig. Und stürzte schließlich total erschöpft, in eine Mulde. Er fiel weich. Wie auf ein Federkissen. ES war da. Und ES machte sich an die Arbeit der Nahrangsaufnahme. Im Handumdrehen war der gestürzte Mann mit einem dünnen, schleimigen Film umgeben, der sich von allen Seiten durch die Kleidung zum Körper vorarbeitete. Das dumpfe Stöhnen des Gequälten dauerte nur kurz und ging bald in ein Röcheln über. Schließlich lag der formlose Haufen still. Als beide Nahrungsspender aufgezehrt waren, zog ES seine Fühler zurück. Neue Kraft erfüllte den Mutterkörper. Aber mit dem Zufluss an Energie war auch die Gier gewachsen. Der Hunger nach weiterer Nahrung. In größerer Entfernung gab es noch mehr Nahrung. Viel Energie wartete darauf, von dem Schleim aufgenommen zu werden. ES schickte erneute Fühler aus. Und ließ ihnen bald den Mutterkörper folgen. Denn dort, in der nahen Stadt, würde ES ein neues Versteck finden. Und viel Nahrung.
Der Traum des Astronauten
Vor dem Sprung Kurz bevor das Erkundungsboot zu seinem letzten Sprung in den Hyperraum eintauchte, aktivierte Seoul Mendelsson noch einmal den Schirm und blickte nach draußen. Das Schiff hing im Vakuum zwischen den Galaxien, das nur die Lichtkorpuskel vielleicht schon längst verglühter Gestirne durchbrachen. Mendelsson liebte diesen Anblick, die Ruhe des Kosmos, die sich darin zeigte. Nie hatte er verstehen können, dass andere beim Anblick der schwarzen Leere durchdrehten, verrückt wurden. Zahllose Ausfälle der Erkundungsflotte waren wohl auf solche panikartigen Reaktionen zurückzuführen, wenn auch ein exakter Nachweis nur schwerlich geführt werden konnte. Das mehrfach geschweifte Oval des Andromedanebels hing am oberen Rand des Bildschirms. Die Sterneninsel hatte etwas Vertrautes für den einsamen Mann, der ganz versunken war in den Anblick des nur durch spärliche Sternhaufen durchbrochenen Nichts. Die Sternballungen hatten freilich keinerlei praktische Bedeutung - waren sie doch viele Tausende von Lichtjahren entfernt. Passierte hier draußen etwas, konnte keiner auf Hilfe hoffen. Der Scout hatte sich damit abgefunden, dass es - gab es einmal einen Notfall - unweigerlich mit ihm zu Ende war. Selbst eine Besatzung von mehreren Raumfahrern hätte da nichts genutzt, allzu komplizierte Gebilde waren diese Erkundungsboote. Deswegen schickte die Erde nur noch Einmannschiffe in die Weiten des Alls; gingen sie verloren, mussten eben wieder neue auf die Reise gehen. Freiwillige für die Erkundungsflotte gab es zur Genüge; allerdings bestand immer nur ein Bruchteil der Aspiranten die schwierigen physischen und psychischen Tests. Dennoch, die Tests schienen noch nicht hart genug zu sein. Die Ausfallquote war hoch; und wer zurückkam, konnte meist nur leere Hände vorweisen. Denn nur wenige Sonnen hatten Planetensysteme, erheblich weniger, als frühere Hochrechnungen vermuten ließen. Und von diesen Planeten waren öffentlich nur sehr wenige zur Entstehung von Leben
geeignet. Fremde Intelligenzen gar waren bisher nicht gefunden worden, obgleich gerade ihnen die intensive Suche galt. Nun aber konnte Scout Mendelsson die frohe Nachricht zur Erde bringen. Ihm war die groß« Entdeckung gelungen, von der die Menschheit seit Anbruch des Raumfahrtzeitalters geträumt hatte. Die Suche war erfolgreich gewesen. In einem Zwei-Planeten-System am jenseitigen Rand von Andromeda gab es Intelligenzwesen, wenn auch sehr fremdartige
Der Weg dorthin Mendelsson hatte sich mit sechzehn Jahren im Flottenkommando seiner Heimatprovinz Nahost gemeldet. Ihn lockten die Sterne. Er absolvierte die ersten Tests mit einer auch ihn selbst überraschenden Leichtigkeit; darauf wurde er in die Vorbereitungsklasse der Kadettenschule aufgenommen. Im Verlauf dieser fünfjährigen Ausbildung zum Scoutanwärter der Erkundungsflotte wurde Mendelsson zum ersten Mal der Unterschied zwischen Draußen und Drinnen bewusst. Hier, in der Kadettenschule, herrschte zwar strenge Disziplin, doch materielle Not war unbekannt, ja man machte sich so manches Mal über die Hungernden in den Städten und auf dem flachen Und lustig. Draußen war das Elend in der Tat groß, die Menschen wurden von einer Katastrophe zur anderen vertröstet; doch eine Lösung der Probleme in jenen Jahrzehnten des 22. Jahrhunderts gab es nicht. Mendelsson selbst stammte nicht gerade aus den Slums seiner Heimatstadt Tel Aviv, doch hatte sein Vater immer nur zeitweilig Arbeit gefunden, so dass sich die sechsköpfige Familie jahrelang mehr schlecht als recht durchschlagen musste. Doch unbeeindruckt von materieller Not hatte es Mendelssons Vater immer verstanden, in seinen Kindern den Sinn für Schönheit und innere Ausgewogenheit, aber auch die Sehnsucht nach einer besseren Welt wach zu halten. Mendelsson hatte sich für die Kadettenschule des
Flottenoberkommandos entschieden, eine seiner Schwestern war im Showgeschäft gelandet und dort untergegangen. Die übrigen vier Geschwister führten das übliche kleinbürgerliche Leben wie Tausende um sie herum ebenfalls. Sie besaßen nicht die Kraft, aus eigenem Antrieb aus der Alltagswelt auszubrechen Mit 21 Jahren ging Mendelsson auf seine erste Reise; nach fünf Jahren Training in den Simulatoren sah er sich nun wirklich. lieh dem Kosmos gegenüber. Und fand sich auf Anhieb so gut zurecht, dass ihn seine Vorgesetzten bereits nach dem dritten Einsatz für schwierigere Unternehmungen vorschlugen. Denn der junge Mann besaß eine seltene seelische Widerstandskraft gegenüber den großen Gefahren des Alls, aber auch in sich selbst: Einsamkeit, Leere, Enge, Überdruss - so dass er rasch selbst alte Hasen der Erkundungsflotte überflügelte. Diese Reise war nun die längste, die ein einzelner in einem Erkundungsboot jemals unternommen hatte. Lange Zeit war man im Hauptquartier uneins gewesen, ob es überhaupt einen Sinn habe, eine solche lange Reise zu unternehmen, die den Scout trotz der bereits jahrzehntelang erprobten Technik des Langstrecken-Hyperflugs über zehn Jahre von der Erde fernhalten würde. Mendelssons Resistenz gegenüber Einsamkeit und Leere des Alls hatte dann schließlich den Ausschlag gegeben. Und nun kehrte er zurück, die frohe Botschaft von der Existenz einer anderen intelligenten Rasse im Bordcomputer gespeichert, und stand vor dem letzten Sprung durch den Hyperraum. Er machte sich zum Schlafen fertig, aktivierte die Kontakte zum Sensibilisator, der ihm das Träumen ermöglichte, und rief die Automatik zum Sprung ab. Während er langsam in den Schlaf glitt, dachte er, wie so oft, darüber nach, weswegen er immer denselben Traum hatte, während doch andere Scouts davon schwärmten, dass sie jedes Mal in eine andere Fiktion befördert wurden. Doch er war mit seinem eigenen Traum bisher immer zufrieden gewesen.
Der Traum Das Erkundungsboot tauchte aus dem Hyperraum auf, und da hing sie, die Erde. Heimatplanet des Menschen, grünblaue Insel in der Schwärze des Alls, Sehnsucht aller Raumfahrergenerationen. Das Boot sank langsam nieder und landete sicher auf einem weiten Feld, das umstanden war von jubelnden Menschen. Während sich die Schleuse weit öffnete, machte er sich fertig und trat dann hinaus, atmete tief durch und schmeckte den köstlichen Duft reiner Atmosphäre - ein Labsal gegenüber der immer wieder umgewälzten und erneuerten Luft im Schiff. Ohne die jubelnden Menschen zu beachten, schlenderte er über die Wiese und bewunderte die Vielzahl der Pflanzen, die blühende Schönheit und die Mannigfaltigkeit der Insekten. Unter einer massigen Eiche blieb er stehen, reckte sich und ließ sich einfach zu Boden fallen. Es war eine Ruhe in ihm und eine Fröhlichkeit, dass er es wieder einmal geschafft hatte. Lange Zeit schloss er die Augen und genoss die Strahlen der Sonne auf der des Sonnenlichts entwöhnten Haut. Dann öffnete er die Augen wieder und sah die Menschenmenge auf sich zulaufen, allen voran jenes blonde Mädchen, das er schon öfter gesehen hatte, dessen Namen er aber nicht kannte. Bald würde sie da sein und ihn willkommen heißen. Er war zu Hause.
Annäherung Irgendwo zwischen Jupiter und Mars orteten sie das Schiff, kurz nachdem es aus dem Hyperraum ausgetreten war. Sie riefen es an; und Mendelsson antwortete. Es drängte ihn, mit der guten Nachricht sogleich an die richtige Stelle zu gelangen, doch sein Begehren wurde schroff abgewiesen. »Halten Sie Ihre Route«, befahl der Uniformierte auf dem Schirm und musterte den Heimgekehrten mit halb zugekniffenen Augen. »Landen Sie auf keinen Fall, ehe wir es Ihnen
ausdrücklich erlauben!« »Aber sonst ging das doch immer viel einfacher«, wollte er es besser wissen. »Es hat sich hier manches geändert«, war die knappe Antwort. »Wie lange sind Sie draußen gewesen?« »Elfeinhalbjahre.« »Machen Sie sich auf Überraschungen gefasst!« »Können Sie mir nichts Genaueres sagen?« bat er. Doch es kam keine Antwort mehr, der Schirm verdunkelte sich. Er war wieder allein. Mendelsson überdachte, was er gehört hatte. Doch wie er es auch drehte und wendete, es ergab wenig Sinn. Außerdem war die Sehnsucht größer, besonders als er sich dem blauen Planeten soweit genähert hatte, dass er unter den Wolkenfeldern die Kontinente unterscheiden konnte. Er dachte an seinen Traum, an die sonnenüberflutete Wiese und an das blonde Mädchen, das der Menschenmenge vorauslief- da beschloss er zu landen. Gegen den Willen der Kontrolle, Er meldete sich auch nicht mehr. Er handelte, Das Schiff schoss pfeilschnell nach unten.
Auch ein Traum Das Landefeld war eine graue Betonwüste, in weitem Abstand gesäumt von unförmigen Hangars, in denen sich kein Leben zeigte. Um das Landefeld herum verlief ein hohes Gitter, hinter dem - außerhalb des Geländes - sich dichte Menschenmassen ballten. Sie hielten Transparente in den Händen, die auf die Entfernung nicht zu lesen waren. Als sich das Erkundungsboot aus der tief hängenden Wolkendecke nieder senkte, wurde der Menschenauflauf größer. Es kam Unruhe in die Menge, Aus der Ferne war, noch verhalten, das Heulen der Polizeistreifen zu hören. Während sich die Schleuse weit öffnete, machte sich Scout Mendelsson fertig und trat dann hinaus. Er atmete tief durch -
und musste unvermittelt husten. Scharf brannte die vergiftete Atmosphäre in seinen Lungen, keuchend versuchte er, die die Tränen zurückzuhalten, die der Schmerz in die Augenwinkel trieb. Er stand und bestaunte die Welt, die ihm fremd geworden war. Grau und feindlich. Doch innerlich triumphierte er, denn er trug die Botschaft bei sich, die den Menschen neue Hoffnung geben würde. Hinter Dunstschleiern sah er die Stadt steil in den Himmel ragen, ein Turm neben dem anderen. Er bemerkte nicht, dass unter dem Druck der Menschenmassen der Gitterzaun brach und die zerlumpten Männer und Frauen mit ihren Transparenten auf das Landefeld strömten. Erst als sie sich ihm auf knapp hundert Meter genähert hatten, wurde er auf sie aufmerksam. Er öffnete den Mund, um ihnen sein Willkommen entgegen zu rufen - da streifte ihn der erste Stein. Der nächste schon traf ihn ,in der Stirn und zerschmetterte seinen Schädel. Im Niedersinken vernahm er noch Bruchstücke des Geschreis: »Gebt uns Brot, keine Raketen!« »Was kümmern uns die Sterne, unsere Kinder hungern!« »Technik ade - Armut tut weh!« Die alarmierten Sicherheitskräfte konnten nicht verhindern, daß die aufgeputschten Massen über den erschlagenen Scout ins Innere des Erkundungsbootes drangen und als erstes den Bordcomputer demolierten.
Bellinda Superstar
1 Das Gebäude der Staatlichen Fernsehgesellschaft ragte mit seinen dreißig Stockwerken fast bedrohlich vor mir in den morgendlichen Januarhimmel. Mit zweiundzwanzig Jahren wird wohl ein jeder allein von der Demonstration der Macht, die solch ein Klotz aus Beton und Glas darstellt, beeindruckt. \rm mit einiger Mühe konnte ich meinen Blick losreißen und betraf durch die Drehtür die weite Empfangshalle. »Sie wünschen?« Ein Fernsehtraum kümmerte sich um mich: Tiefschwarzes, schulterlanges Haar; blaugraue Augen; hochgeschlossenes, eng anliegendes Kleid in den Tricolor-Farben der neuesten Mode, das eine tadellose Figur erkennen ließ. Es stimmte also, ich war beim Fernsehen, und heute sollte ich meine erste Stellung antreten. »Mein Name ist Mark Lehlein«, stotterte ich ein wenig, fing mich dann aber schnell, als ich ein spöttisches Verziehen des Mundwinkels bei der Schwarzhaarigen bemerkte; schließlich war ein ausgebildeter Computertechniker auch wer, oder? »Ich habe für zehn Uhr eine Verabredung mit Herrn Sommer.« »Mit Herrn Sommer, oh!« Anscheinend ein wichtiger Mann, dieser Herr Sommer. Ich war offensichtlich im Urteil des Fernsehtraums um etliche Sprossen die Leiter hinaufgerutscht. Während die Empfangsdame telefonierte und mich anmeldete, blickte ich mich in der Halle um. Mehrere Sitzgruppen teilten den Raum auf. An den Wänden hingen Posters und Fotos, die Szenen aus der Arbeitswelt des Fernsehens zeigten, Ich erkannte Bilder von der ersten Liveübertragung vom Mars durch Jonny Cartier, den damaligen Starreporter, der von seinem anschließenden Trip zum Japetus nicht zurückgekommen ist. Vor nicht einmal zehn Jahren war die Übertragung vom roten Planeten sieben Tage lang ohne Unterbrechung ausgestrahlt worden. Cartier konnte natürlich nur einen kleinen Teil davon bestreiten; wenn er schlief oder sich sonst wie erholte, vertrugen
die automatischen Kameras, ab und an mit vorbereiteten, kommentierenden Texten unterlegt, in jedem Falle, aber des atemlosen Staunens der ganzen Erde sicher. Die Computerisierung dieser sieben Tage dauernden Übertragung hatte über ein Jahr lang die Programmierer und Techniker in Atem gehalten - ein Glanzstück des modernen Fortschritts, das uns auf der Schule für Fernsehtechnik immer wieder als beispielhaft vor Augen gehalten worden war. Ich wurde ziemlich abrupt aus meinen Träumen gerissen, als mir die Schwarzhaarige in den Tricolor-Farben auf die Schulter klopfte und mir mitteilte, Herr Sommer sei im Augenblick anderweitig beschäftigt und könne daher den abgesprochenen Termin nicht einhalten. Wissen Sie«, flötete sie, »heute fällt die Entscheidung über unseren nächsten großen Star, den die Gesellschaft aufbauen will. Eine höchst wichtige Entscheidung, nicht wahr? Schließen will das Publikum ja nur das Beste vorgesetzt bekommen . . .« Sie schaute mich unter ihren verlängerten Wimpern an, als erwartete sie, ich solle sie als nächsten großen Star vorschlagen. Sicherlich war sie davon überzeugt, dass sie das alles viel besser konnte als die vom Publikum und den Fernsehgewaltigen notierten Schönheiten. Ich begnügte mich damit, sie nach dem Weg in die Computerzentrale zu fragen, und überließ sie ihren Träumen. Mein Gespräch mit Herrn Sommer, dem technischen Leiter der Computerabteilung, hatte offensichtlich Zeit. Jetzt wollte ich mich erst einmal mit meinen neuen Kollegen bekannt machen.
2 Es ist eben doch ein himmelweiter Unterschied zwischen dem, was man auf der Schule lernt, und den Anforderungen, die dann in der Praxis gestellt werden. Der gleichmäßige Trott, an den wir uns auf der Schule für Fernsehtechnik in den vergangenen drei Jahren gewöhnt hatten, wurde bei der staatlichen Fernsehgesellschaft abgelöst durch ein Stoßgeschäft mit
hektischen Aktivitäten, worauf dann lange Zeiten der Pause folgten Ebenso plötzlich flammte dann wieder Arbeitswut auf, bedingt durch Termine oder auch nur menschliche Unzulänglichkeiten, da niemand in den oberen Etagen in der Lage zu sein schien, für eine gleichmäßige Auslastung der Mitarbeiter zu sorgen. Ganz schön aufreibend, eine solch sporadische Hektik. Das geht an die Nerven, kaum einer, der nicht gereizt reagiert, wenn ihn ein anderer nur schräg ansieht. Bald war ich in diesem Chaos, das wunderbarerweise immer wieder mit wirklich bemerkenswerten Resultaten aufwarten konnte, voll integriert. Ich schimpfte wie meine Kollegen auf »die da oben«, war dennoch ganz zufrieden, mein gutes Geld auch für streckenweises Nichtstun zu erhalten, und maulte, wenn Terminarbeiten dieses Nichtstun unterbrachen. Bereits in die ersten Wochen fiel meine entscheidende Begegnung mit Bellinda. In jenen Tagen wurde ich in der Abteilung herumgereicht, um überall einmal hineinschnuppern und mich akklimatisieren zu können - so der technische Leiter Sommer, mit dem ich am Tag nach meinem Arbeitsantritt eine kurze Unterredung gehabt hatte. Sommer war mir herzlich unsympathisch, ein diensteifriger Strebertyp, wie ich sie noch nie habe leiden können. Ich war auf dem Weg zur Computerzentrale, da wurde ich auf dem Gang von einem jungen Mädchen angesprochen. Sie war höchstens 18 Jahre alt und lächelte mich etwas schüchtern an. »Können Sie mir sagen, wo ich Herrn Peter Melchior finde?« fragte sie. Ich musterte das Mädchen etwas erstaunt. Peter Melchior ist unser Chefprogrammierer, ein serviler Typ. Was konnte sie von ihm wollen ... »Es geht um die Anlage der Programme«, fügte das Mädchen wie als Antwort auf meine unausgesprochene Frage hinzu. Es war etwas kleiner als ich, also etwa einen Meter siebzig groß, hatte ziemlich kurz geschnittenes, kastanienbraunes Haar und hellblaue Augen, die mir sofort auffielen. Ihre Figur war vielleicht nicht üppig zu nennen, doch saß da alles am richtigen
Fleck. Ws ging eine natürliche, eine selbstverständliche Anmut von ihr aus. »Na! Genug gesehen?« Mit einem Mal wirkte sie nicht mehr so schüchtern Ein schneller, prüfender Blick aus den umwerfend ^n Augen begleitete die kecke Frage. »Hm ja« Jetzt war ich verlegen. »Ich habe mir gerade überlegt, was Sie wohl bei Melchior... ich meine, Herrn Melchior . .« »Warum ich ihn suche? Nun, ich bin Beate Michalowski . . .« Sie sah mich an, als müsste mir nach dieser Eröffnung alles klar sein. Wahrscheinlich starrte ich ihr nur blöde wie ein Rindvieh auf der Weide entgegen, denn der Name sagte mir gar nichts. Sie lachte hell auf. »Ach so! Ich habe mich immer noch nicht daran gewohnt, ich bin Bellinda.« Nun staunte ich erst recht. Das also war sie, unser neuer Superstar Aus Tausenden von Bewerberinnen ausgewählt, die selbst bereits mehrere Wettbewerbe erfolgreich hinter sich «bracht hatten. Man erzählte sich bereits Wunderdinge von Bellindas Talent vor der Kamera, von ihrer Ausstrahlungskraft, ihrem Charme. Nun konnte ich mich selbst davon überzeugen. Ich glaube, ich war in jenem Moment der Überraschung keines gescheiten Gedankens mehr fähig Immerhin war ich noch ausreichend bei Verstand, um Bellinda bei. Melchior abzuliefern. Dann aber war für den Rest des Tages nicht mehr viel mit mir anzufangen. Immer wieder sah ich jene hellblauen Augen vor mir, im Kontrast dazu die kastanienfarbenen Haare die kleine gerade Nase Ich glaube, ich hatte mich damals schon, gleich bei der ersten Begegnung, hoffnungslos in Bellinda verknallt. Ob da nun bei mir ein besonderer Funke gezündet hatte oder ob die Auswahl der Fernsehanstalt so zielsicher erfolgt war, dass einfach alle Männer auf die Ausdruckskraft des lieben Gesichts ansprangen, darüber möchte ich nicht zu lange nachdenken. Die erste Erklärung ist mir lieber, sie lässt mir mehr individuelle Befriedigung; andererseits ist der große, ja überwältigende
Erfolg von »Bellinda Superstar« eine Tatsache. Damals freilich konnten alle nur auf so eine Erfolg hoffen. Bellinda wäre, bei all ihrer Bescheidenheit, sicherlich auch mit weniger Erfolg zufrieden gewesen - zumindest am Anfang, denn im Laufe des Aufbaujahres entwickelte sie einen recht beachtlichen Ehrgeiz. Vielleicht hätte sie sonst die folgenden Monate auch gar nicht durchhalten können.
3 In der Folgezeit traf ich, auch in meiner Eigenschaft als Computertechniker, öfter mit Bellinda zusammen. Zwar war ich der Jüngste in der Mannschaft der Computerzentrale, doch bei uns muß jeder, ohne Ansehen der Person und seiner Dienststellung, überall einsetzbar sein. Daher wurde ich auch zur Gesamtfeldprogrammierung von »Bellinda Superstar« herangezogen. Man hatte das Programm einfach nach dem Star genannt, um den sich zwölf Monate lang alles drehte. Eigentlich müsste ich sagen, nach dem zukünftigen Star, doch für mich war Bei Bellinda von Anfang an etwas Besonderes. Bei dem Programm, das mit der bei uns üblichen sporadischen Hektik durchgezogen wurde, ging es um folgendes: Die Gesamtpersönlichkeit Bellindas, ihr Verhalten ihre Gesten, ihre Mimik, ihre Sprachgewohnheiten - all das und noch vieles mehr mussten eingespeichert werden, um schließlich nach Beendigung des Programms im Personality-Generator ein hundertprozentiges Bild der Person Bellinda zu ergeben. Das hört sich sehr kompliziert an, aber so schlimm war es eigentlich nicht. Es dauerte nur seine Zeit und verlangte ungeheuer konzentrierte Kleinarbeit. Das fing damit an, dass Bellinda bei allen nur irgend denkbaren Bewegungen und Tätigkeiten des täglichen Lebens mit der Kamera beobachtet und das Ganze auf Magnetband aufgezeichnet wurde. Die Elektronik erlaubt schärfere Konturierung als der Film, und auch kleinste Details erfahren so
eine einwandfreie Wiedergabe. Dazu noch wurde das Geschehen auf dem Einzollband gespeichert und nicht auf dem Viertelzoll, das wir eigentlich seit vielen Jahren auch professionell nutzten Ich bin kein Techniker der magnetischen der magnetischen Aufzeichnung, aber wie die Kollegen mir das erklärt haben, scheint die Viertelzoll-MAZ aus schnitttechnittechnischen Gründen für die Gesamtfeldprogrammierung weniger geeignet zu sein als das Einzollband. Bei den Aufnahmen im Freien, in irgendwelchen Autos, Flugzeugen oder Eisenbahnabteilen, aber auch bei der Arbeit im Studio erwies sich Bellindas schauspielerische Begabung. Sogar die schwierigsten Rollen meisterte sie auf Anhieb mit Selbstverständlichkeit, die selbst alte Füchse im Fernsehgeschäft staunen machte. Ich konnte ihr immer wieder zusehen oder ihre Leistung auf den Bändern während des Schnitts beobachten; ich war ihr von Herzen zugetan, doch noch darüber hinaus war ich von ihren Fähigkeiten tief beeindruckt. Diese Arbeit beanspruchte während der Dreharbeiten Bellindas volle Aufmerksamkeit; es war nicht leicht, den Wünschen dir Regie, der Aufnahmeleitung, der Technik oder der Kamera immer gerecht zu werden. Oft ging es um winzige Kleinigkeiten, um Nuancen wie einen Augenaufschlag, ein Lächeln, ein Herabziehen der Mundwinkel. Waren die Aufnahmen im Kasten, dann begann unsere Aufgabe. Jede Bewegungseinheit wurde in kleinste Aufbauteilchen zerlegt, so genannte »Bits«, aus denen man umgekehrt ganz neue Bewegungsabläufe wieder zusammensetzen konnte, vorausgesetzt, man hatte vorher alle nötigen Bits gespeichert. Oft mussten neue Kameratermine anberaumt werden, da wichtige Zwischenglieder fehlten. Diese Bits nun mussten nach Art, Rhythmus. Schnelligkeit, Bewegungsrichtung usw. klassifiziert und anschließend zum Verbleib in den Fixwertspeicher eingegeben werden. Von dort waren sie dann jederzeit abrufbereit. Für Bellinda war das eine ungeheure physische, aber auch psychische Anstrengung; ihr wurde das Letzte abverlangt. Doch sie ertrug alles mit gleich bleibend guter Laune, ihre Reserven
waren erstaunlich. Doch nach einem halben Jahr war es mit ihrer Kraft am Ende. Sie konnte nicht mehr.
4 Es war ein heißer Augusttag. Die Sonne brütete über der Stadt schon beim Aufstehen hatte ich einen Schweißausbruch. ich war zur Spätschicht eingeteilt, musste also nicht vor 14 Uhr im Dienst erscheinen. Als ich den technischen Trakt betrat, kam mir Bellinda entgegen. Wir hatten uns in den letzten Monaten angefreundet, waren vertraut miteinander geworden. Wie es um sie stand, war mir nicht klar, da sie sich nie dazu äußerte, ich jedenfalls war hoffnungslos in sie verliebt. Sie trug ein luftiges Kleidchen aus blauem Stoff, passend zu den Augen. Ein viereckiger Ausschnitt ließ mehr von ihrem wohlgeformten Körper sehen als üblich. Sie sah so reizvoll aus, dass mir das Blut ins Gesicht schoss. Obgleich ich längeres Haar vorgezogen hätte, trug sie immer noch ihre kurze Frisur. »Das gehört zu meinem Typ«, hatte sie mir einmal erklärt. Ich dagegen war davon überzeugt, dass zu ihrem Typ ebenso langes Haar passen würde. Aber einem Argument musste ich mich schließlich beugen. Die Aufnahmen verlangten immer gleiches Haar. »Ich habe eine Stunde Zeit,« sagte Bellinda zur Begrüßung. »Wollen wir ein wenig durch die Anlagen laufen?« Ein Gedanke, der mir sehr gefiel. Ein kurzes Telefonat, und ein Kollege übernahm für die nächste Stunde meinen Job am Eingabepult des Computers, irgendwann einmal würde ich ihm zum Ausgleich auch einen Gefallen erweisen können. Wir schlenderten unter den hohen Pappeln und Birken dahin, die in einem breiten Parkgürtel an der Hinterfront des Gebäudes der Fernsehgesellschaft angesetzt sind. Schon bald schien Bellinda müde zu werden, sie wollte sich auf eine Bank setzen. Ich merkte ihr die Erschöpfung an; sie saß mit geschlossenen
Augen und atmete tief die Luft ein, die hier im Schatten der Bäume frischer war als in den Häuserschluchten. »Hat es haute etwas Unangenehmes gegeben?« fragte ich sie besorgt, legte meinen Arm um ihre Schulter und zog sie an mich. Sie sträubte sich nicht, schüttelte nur mit dem Kopf und sah mich an. Ihr Blick besaß nicht die gewohnte Kraft der Ausstrahlung. Und als ich ihr in die Augen schaute, nach Anzeichen irgendwelchen Ärgers oder Schwierigkeiten forschte, da lehnte iii plötzlich ihren Kopf an meine Schulter und begann zu weinen. Ich fühlte mich hilflos, wusste nicht, was tun, wischte dann ihre Tränen ab und fuhr ihr mit der Hand übers Haar, bis sie sich schließlich wieder beruhigte. Ich wartete ab, dann begann sie zu erzählen. „Weißt du, Mark, wahrscheinlich kann sich das niemand vorstellen, was das heißt, jeden Tag - manchmal ohne Unterbrechung stundenlang - vor dem Fischauge der Kamera zu stehen, sich zu bewegen, wie man es dir sagt, irgendwelchen Anweisungen des Regisseurs oder des Kameramanns zu folgen. Du verlierst mit der Zeit den Sinn für die Wirklichkeit. Am schlimmsten ist, dass du immer wieder die gleichen Gesten ausführen, die gleiche Szene spielen musst.« Ich konnte mir das schon vorstellen, hatte ich doch so manches Mal ihre Geduld, ihre Zähigkeit bewundert. Es erschütterte mich dennoch, Bellinda so niedergeschlagen zu erleben. »Du musst daran denken, dass dies ja nicht in alle Ewigkeit so weitergeht«, versuchte ich sie aufzumuntern. »Schau, dein Vertrag für das Aufbaujahr läuft bald ab. Dann werden sie dir den eigentlichen Vertrag vorlegen, da bin ich ganz sicher. Und das bedeutet den Erfolg, darauf kannst du dich doch jetzt schon freuen.« »Aber ich kann nicht mehr. Mark, ich möchte weg von hier, mich irgendwo verkriechen, wo es keine Kameras und kein Studio gibt.« »Wenn du es dir ganz fest vornimmst, dann kannst du auch weitermachen«, behauptete ich, war davon aber gar nicht so fest überzeugt.
Sie versuchte ein zaghaftes Lächeln. »Meinst du?« »Davon bin ich überzeugt. Die Programmierung steht zum großen Teil, jetzt geht es um die Feinheiten. Oder willst du jetzt vielleicht aussteigen, nachdem du bereits soviel durchgemacht hast?« Sie schien sich wieder etwas beruhigt zu haben und schüttelte energisch den Kopf. Eine Zeitlang schwieg sie. Ich saß ruhig neben ihr und hielt sie im Arm. »Mark?« sagte sie dann. »Ja, Liebes?« Das rutschte mir so heraus, aber sie schien es nicht bemerkt zu haben. »Warum müssen eigentlich zwölf Monate lang diese Aufnahmen gemacht werden? Man hat mir gleich zu Beginn gesagt, dass sie Voraussetzung sind dafür, dass später in jedem Fall gesendet werden kann. Damals hat mir das als Antwort genügt, heute frage ich mich, ob das alles eigentlich notwendig ist.« Jetzt war ich in meinem Element, denn über diesen Punkt hatte ich inzwischen nicht nur mit Sommer und Melchior, sondern auch mit zahlreichen Kollegen gesprochen. Denn auch ich hatte mir diese Frage gestellt, um deren Beantwortung mich nun Bellinda bat. »Nimm einmal an, aus dir ist bereits der große Star geworden, ich persönlich zweifle überhaupt nicht daran, dass du das schaffen wirst, dann bedeutest du für die Fernsehgesellschaft ein ungeheures Kapital, mit dem gearbeitet werden muss. Nun ist es ja möglich, dass du mitten in einer wichtigen, dazu noch terminlich engen Produktion krank wirst. Du brichst dir ein Bein oder kriegst die Gelbsucht, auf jeden Fall ist es etwas Ernstes, das dich daran hindert weiterzuspielen. Du fällst also aus, die Gesellschaft müsste das Projekt aufgeben, da sie unmöglich termingerecht fertig werden kann. Das wären ungeheure Verluste, denn schließlich hat man ja bereits ein Jahr lang in dich investiert und in die laufende Produktion auch noch eine ganze Menge Geld gesteckt. Dann greifen wir von der Computertechnik auf das Gesamtfeldprogramm mit deinen Bits
zurück und simulieren die Szenen, die du wegen deiner Krankheit nicht spielen kannst. Die von uns aus Tausenden von Bits zusammengesetzten Bewegungsabläufe der Bellinda werden dann über Bildmischpult in die jeweilige Bildsituation eingestanzt. Das ist eine kniffelige Arbeit, sicherlich, aber es geht, vorausgesetzt wir verfügen über viele Hunderttausende, ja Millionen von Bits, die es uns ermöglichen, jede nur denkbare Situation aufzubauen.« Bellinda hörte aufmerksam zu, an dieser Stelle hatte sie eine Frage: »Du sagst, mein bild wird in die jeweilige Szene eingestanzt. Wie geht das denn, ich habe doch in den Spielszenen, in den zukünftigen Spielhandlungen sicherlich nicht immer das selbe Kleid an.« »Das ist ein Problem, an dem haben die Leute von der MAZ und vom Mischpult lange geknabbert. Seit etwa zwei Jahren gibt es auch dafür eine Lösung. In der Tat können sie dir - das heißt, der Bellinda in der simulierten Szene - jedes beliebige Kleidungsstück anpassen. Das verlangt eine sehr genaue Adaptation, doch kannst du danach keinen Unterschied zwischen den Originalszenen und den simulierten Passagen erkennen.« »Es muss also sein, meinst du?« fragte sie. »Aber natürlich. Alle sagen das bei uns.« »Aber wenn nun das gesamt Programm steht, wenn alle Bits eingespeichert sind, brauchen die mich dann überhaupt noch?« Eine Überlegung, an der etwas dran war. Allerdings hatte ich mir darüber noch keine .Gedanken gemacht. In der Tat, was war, wenn die Programmierung stand? Eine Frage, die unangenehme, ja schreckliche Konsequenzen andeutete. Alles Unsinn, sagte ich mir, es handelt sich hier schließlich nicht um irgendeine Hintertreppenfirma. Das sagte ich auch zu Bellinda und fügte hinzu: »Sie werden dich immer brauchen, denn schließlich will dich das Publikum auch einmal in natura sehen.« Doch in mir nagte nun der Zweifel, denn es gab genügend Fernsehstars, die nie auf der Bühne zu sehen waren. Es gab Gesangsgruppen, die überhaupt nicht singen konnten und deren
angeblicher Gesang vom Computer kam, die Künstler sangen nichts als Playback. Doch ich hielt den Mund, ich wollte Bellinda nicht noch mehr verunsichern. »Ich danke dir, Mark«, sagte sie, nun schon wieder mit einem Lächeln auf dem schönen Gesicht. »Auch ich mag dich gern.« Also hatte sie vorhin doch gut zugehört. Ich war glücklich.
5 Eines Tages, Anfang Dezember, bekam ich durch Zufall Teile eines Gesprächs zwischen dem technischen Leiter der Computerabteilung, Ludwig Sommer, und unserem Chefprogrammierer Peter Melchior mit, Ich glaube, ich habe schon einmal festgestellt, dass ich beide nicht leiden kann. Das sind servile karrieregeile Typen, die dauernd den Vorgesetzten herauskehren und von Kollegialität wenig halten. Ich befand mich im Ablageraum, in dem die Magnetbänder gelagert werden; die Tür zum Computerraum stand angelehnt. Da hörte ich die beiden hereinkommen, offensichtlich mitten in einem Gespräch. Melchior: »... kann ich bestätigen, dass es soweit ist. Wir werden unser Programm einhalten können.« Sommer: »Wie macht sich das Mädchen?« Melchior: »Sie besitzt eine erstaunliche Spannbreite an Ausdruckskraft. Ihre physische Konstitution ist hervorragend.« Sommer: »Wie ist es mit ihrer psychischen Resistenz?« Melchior: »Neuerdings ist sie starken Gefühlsschwankungen unterworfen. Ab und an kriegt sie schon mal einen hysterischen Anfall. Aber sie fängt sich immer wieder sehr schnell.« Sommer: »Hm, das ist schlecht. Sie müssen sie mehr unter Druck setzen.« Melchior: »Natürlich, das versuchen wir auch. Ich bin ziemlich sicher, dass wir sie dahin bekommen, wo wir sie haben wollen.« »Sommer: »Wie lange haben Sie mit ihr noch zu tun?«
Melchior: »Nur noch wenige Tage. Zwischen Weihnachten und Neujahr werden wir fertig.« Stille, dann Sommer: »Ich verlasse mich ganz auf Sie. Es darf nichts schief gehen. Denken Sie bei Beendigung des Programms an § 17 c unserer vertraulichen Dienstanweisung. Das Haus kann sich unnötige Folgekosten nicht leisten. Die finanzielle Lage ist angespannt, wir alle müssen unser Bestes tun, da Abhilfe zu schaffen.« »Klar, Herr Sommer, ich ...« Dann waren die beiden wieder draußen, so dass ich ihr Gespräch nicht weiter verfolgen konnte. Aber ich machte mir so meine Gedanken. Bellinda hatte es also bald geschafft. Ich freute mich für sie, hatte aber auch Angst vor dem Tag, an dem der Anschlussvertrag, der das große Geld und den Starruhm bringen würde, unterzeichnet wurde. Denn mit Anlaufen der ersten großen Produktion für das Publikum würde sich für Bellinda eine neue Welt auftun. Und damit, fürchtete ich, würde sie mir immer fremder werden. Denn wie sollte ich gegen den Glanz und die Verlockungen einer solchen Karriere anstehen können? Meine Zweifel trieben mich zu ihr, ich fand sie in der Garderobe, einem ihrer Lieblingsplätze. Sie wurde gerade von der Maskenbildnerin für den nächsten Auftritt im Studio hergerichtet. Anscheinend sah sie mir den Sturm der Gefühle an, der in mir tobte, denn Bellinda entschuldigte sich kurz bei der Maskenbildnerin und zog mich auf den Gang hinaus. »Was ist los mit dir?« fragte sie und sah mich forschend an. Ich beichtete ihr meine Bedenken, doch sie lachte mich mit ihrer glockenhellen Stimme aus. »Du bist ein rechter Dummkopf, da brauchst du doch keine Angst zu haben. Schlimm wäre mir nur, wenn ich über dieses Jahr hinaus weiter so schuften müsste. Das könnte ich nicht mehr verkraften, ich glaube, dann würde ich lieber . . .« Ich schämte mich ein wenig, denn in Wahrheit war ja sie die Belastete, und jetzt machte ich ihr mit meiner egoistischen Eifersucht auch noch das Leben schwer. Ihre Nerven waren lange nicht mehr die besten. Oft genug in den vergangenen Wochen war sie in Heulkrämpfe ausgebrochen und hatte mir
anschließend ihr Leid ausgeschüttet. Mein Versuch, ihr Trost zuzusprechen, endete meist in der Prophezeiung vom baldigen Ende der Tortur. Doch was, wenn es weiterging? Sonst fühlte ich mich in jenen Tagen beschwingt. Ich war glücklich, denn ich liebte Bellinda. Und ich war zufrieden darüber, dass sie mich mochte. Das Wort »Liebe« freilich gebrauchte sie mir gegenüber nie, doch war mein Gefühl für sie so stark, dass ich über ihre Zurückhaltung hinwegsah.
6 Am 30. Dezember lief Bellindas Vertrag über das Aufbaujahr ab. Ich hatte in den vergangenen Tagen wenig Gelegenheit gehabt, sie zu sehen; zwischen den Feiertagen fuhren wir nur halbe Schichten, doch das Programm lief weiter, und so halten wir alle Hände voll zu tun - mehr als gewöhnlich. An jenem Dreißigsten kam ich in den Computerraum gestürzt, denn ich war etwas spät dran. Mein Wagen war nicht angesprungen, und ich hatte zuletzt ein Taxi rufen müssen Peter Melchior saß an der Eingabetafel und begrüßte mich freundlich, eigentlich freundlicher, als es sonst seine Art war. »Wir haben das Bellinda-Programm abgeschlossen,« rief er mir entgegen. »Jetzt wird die Arbeit für uns noch interessanter. Ab Januar werden wir simulieren, die erste Produktionsanmeldung liegt schon vor.« Ich grüßte zurück, achtete dabei wenig auf das, was er mir sagte, und betrat den Ablageraum, um mich um die neu angelieferten MAZ-Bänder zu kümmern. Da wurde die Tür wieder aufgerissen, und Sommer stürzte herein. Ich stand verdeckt hinter der Ablage, so dass er mich nicht sehen konnte. »Ist alles in Ordnung?« fragte er Melchior. »Aber sicher.« »Was macht das Mädchen?« »Es hat sich bereits nach dem Folgevertrag erkundigt.« »Verdammt.« Sommers Stimme wurde wütend, steigerte sich
in der Lautstärke. »Das Direktorat hat erst vor wenigen Tagen noch einmal darauf aufmerksam gemacht, dass wir uns einen solchen Starvertrag über Jahre hinweg nicht erlauben können. Im Parlament wollen sie uns sowieso den Etat zusammenstreichen. Und nach einer solchen Ausbildung, wie sie das Mädchen bei uns bekommen hat, und vor allem bei ihrer Wirkung auf Männer könnte die doch verlangen, was sie will.« »Vorsicht, da...« Melchior versuchte offensichtlich, seinen Vorgesetzten auf meine Anwesenheit aufmerksam zu machen. Doch dieser achtete nicht darauf. »Haben Sie an Paragraph 17 c gedacht?« »Ja, Herr Sommer.« »Ich habe sie informiert, dass unser gesamtes Programm durch einen technischen Defekt unbrauchbar geworden ist und dass wir die nächsten zwölf Monate dazu benützen müssen, das Programm neu zu erstellen.« Aber das stimmt doch gar nicht, wollte ich rufen, besann mich aber. Hatte nicht Melchior gerade noch fröhlich verkündet, dass wir mit Beginn Januar mit der Simulation beginnen würden? Simulation? In meinem Magen krampfte sich plötzlich alles zusammen. Die Angst griff nach mir. Bellinda! Wo war sie? Sofort musste ich sie darüber informieren, dass das alles gar nicht stimmte, was Melchior ihr erzählt hatte. Dass alles Luge war... Ohne auf Sommers erstaunte Blicke zu achten, drückte ich mich an ihm vorbei und stürzte hinaus.
7 Ich fand sie in der Garderobe. Mit der Nagelschere hatte sie sich der Länge nach die Pulsadern aufgeschnitten. Sie wusste, wie man das sachgemäß anstellen musste, denn erst kürzlich hatte sie vor der Kamera eine solche Szene spielen müssen. Sie saß vor dem Spiegeltisch, ihr Kopf war nach vorne
gefallen, die kastanienbraunen Haare schwammen im blutigen Wasser des Waschbeckens, in das ihre Hände hineinhingen. Ich griff nach dem Puls. Nichts. Ich alarmierte unseren Hausarzt. Zu spät. Am Boden fand ich ein Blatt Papier. Sie hatte nur wenige Sätze darauf geschrieben. Mark. Sei mir nicht böse. Aber noch ein ganzes Jahr kann ich das nicht ertragen. Bitte, versteh mich. Ich hatte gehofft, doch das ist zuviel. Ich bin auch nicht mehr Beate Michalowski. Bellinda Ich war wie betäubt. Kein Wort der Liebe. Keine Bemerkung, die uns beide betraf Ihr Beruf war ihr doch über alles gegangen, und sie war so bitter enttäuscht worden, Ich dachte an Sommers Erwähnung der vertraulichen Dienstanweisung, die ich als kleiner Subalterner nicht kannte. Und ich dachte an Melchiors fröhliches Gesicht, als er mir die Simulation für Januar angekündigt hatte. Ja, jetzt konnten wir Bellinda simulieren. Ich stürzte hinaus, ich hielt es nicht mehr aus in diesem Raum, in diesem Gebäude, unter diesen Menschen. Draußen war ein klarer Wintertag. Gegenüber dem Fernsehgebäude errichteten Arbeiter eine riesige Anschlagwand, die Bellinda, meine Bellinda, zeigte. In übergroßen Lettern schrie es mir entgegen: SENSATION! IM NEUEN JAHR BELLINDA SUPERSTAR DIE GROSSE ENTDECKUNG DER KOMMENDEN JAHRE! Sie hatte erreicht, wovon sie geträumt hatte: Sie war Bellinda
Superstar . . .
Eigentor
An: MINISTERIUM FÜR KULTUS UND ERZIEHUNGSWESEN - Referat IX b – Terra-City Verbund Besiedelter Welten Von: KOMMISSION FÜR DIE REFORM DES ERZIEHUNGSWESENS - Der Sekretär für historische Studien Betr.: Vorschlag zur Textgestaltung des programmierten >Lehrbuchs zur Historie der MenschheitLehrbuchs zur Historie der Menschheit< schlagen wir vor, den in Anlage als Kopie beigefügten Textauszug aus dem Tagebuch des cygnianischen Geschichtsschreibers Bythamele Ty Mnomeno in das o.a. Lehrbuch aufzunehmen. Begründung: Der vor ca. 200 Jahren verstorbene Cygnianer Mnomeno war der bislang bedeutendste Historiker seines Planeten. Sein Tagebuch galt lange Zeit als verschollen. Ein glücklicher Umstand ließ das auf einer Autographenauktion angebotene Dokument in den Besitz der »Kommission für die Reform des Erziehungswesens, Abteilung Historische Studien«, gelangen. Mnomenos Tagebuchauszug, der hiermit zur Aufnahme in das o.a. Lehrbuch vorgeschlagen wird, ist ein Dokument aus erster Hand und für einen gewissen Zeitraum unserer Geschichte von nicht unerheblicher Bedeutung. Der Text belegt das Schicksal unserer Expedition, die im Jahre 851 (neue Datierung) Cygni II befrieden und für menschliche Besiedlung öffnen sollte. Da damals die Gefahr bestand, dass das Capella-Reich ebenfalls Interesse an einer Kolonisierung des von Echsen abstammenden Intelligenzen nur spärlich besiedelten Planeten haben könnte,
erfolgte das Unternehmen ohne große vorherige Erkundungsaktion. Man hielt die (recht spärlicher Daten einer automatischen, unbemannten Sonde, die Cygni II mehrmals umkreist hatte, für ausreichend. Die Expedition kehrte nie zurück. Spätere Untersuchungen (erst vor 100 Jahren gelang es, eine weitere Sonde auf dem Planeten zu landen und Messungen durchzuführen) ergaben einen erhöhten radioaktiven Strahlenbefall des ganzen Planeten. Man führte dies auf den Beschuss durch unsere Expeditionsflotte zurück. Die Wirren, die in den Jahren 859 bis 866 (nD) den Verbund Besiedelter Welten erschütterten und schließlich zur Eroberung des Capella-Reiches führten, ließen das Geschehen um Cygni II in Vergessenheit geraten. Neuerdings scheint der Planet wegen der erhöhten Strahlung sowieso nicht mehr zur Besiedlung geeignet zu sein. Mnomenos Tagebuch erhellt das Schicksal jener Expedition. Wir halten den vorgelegten Auszug für geradezu beispielhaft und überaus geeignet, das historische Denken unserer Kinder zu formen, und bitten daher um Aufnahme in das o.a. Lehrbuch. Dieser Antrag wurde von den Kommissionsmitgliedern gemeinsam formuliert und einstimmig gebilligt. KOMMISSION FÜR DIE REFORM DES ERZIEHUNGSWESENS - Der Sekretär für historische Studien - gez. S.R. Hoggins (o.ö. Professor der Historie) Erste Terranische Zentraluniversität Anlage: Auszug aus dem Tagebuch des cygnianischen Historikers B. Ty Mnomeno. ÜBERTRAGUNG DER HANDSCHRIFTLICHEN TAGEBUCHEINTRAGUNGEN VON BYTHAMELETY MNOMENO (KOPIE DES COMPUTERS): »Ganz plötzlich waren sie da. Wenn auch mein Erinnerungsvermögen im Verlauf vieler Jahre nachgelassen hat, dieser Tag wird mir immer gegenwärtig
bleiben. Es war strahlend-schönes Wetter; die Zeit der Ernt stand vor der Tür. Wie gewöhnlich um diese Tageszeit - das Licht der Zweiten Periode begann am Horizont zu glühen - ging ich am nahe gelegenen See spazieren. Ich begegnete niemandem, denn auch damals - wie heute - waren wir ein dünn besiedelter Planet, der dem einzelnen genügend Raum zur persönlichen Entfaltung gewährt. Durch ein ungewöhnlich durchdringendes Aufblitzen im Gegenlicht wurde ich auf das Geschehen aufmerksam. SIE kamen. Nach einem Augenblick des Wartens sah ich eine ganze Flotte silberner Schiffe am Himmel über mir. Über der nahen Hauptstadt, in der ich damals noch meine Pflichtarbeitsstunden pro Dekade ableisten musste, verhielten die Schiffe unbeweglich, drohend. Dann ging es los. Tausende glitzernder Punkte lösten sich aus den Schiffsleibern und taumelten herab. Unübersehbare Mengen atomarer Sprengkörper, dazu bestimmt, unseren schönen Planeten zu versengen. In immer neuen Trauben sank die Vernichtung vom Himmel. Schon zischten die ersten Bomben in den See und ließen heiße, helle Dampfschwaden aufsteigen. Ich stand wie gelähmt. Das Unheil um mich her hatte mich handlungsunfähig gemacht. Ich beobachtete. An meinen eigenen Schutz dachte ich nicht. Durch eine glückliche Fügung kam ich unbeschadet davon - so kann ich als Chronist meiner Pflicht genügen. Dann schaltete sich unsere Abwehr ein. Die weitreichenden Geschütze und Energiebatterien holten sogleich Dutzende der silbernen Schiffe herunter. Die Formation geriet in Unordnung. Im Bestreben, dem konzentrierten Beschuss auszuweichen, wurden die Manöver der feindlichen Armada immer unkontrollierter. Schiffe stießen zusammen und stürzten trudelnd in dichten Knäueln ab. Schließlich wandte sich der Rest zur Flucht. Doch kein Schiff entkam. Unsere Abwehr leistete ganze Arbeit. Aus den Trümmern der abgestürzten Maschinen aber, die zum Teil in unwegsamem Gelände niedergegangen waren, krochen die Überlebenden und flüchteten sich in die Wälder. Und wurden ihre eigenen Opfer. Denn uns macht radioaktive Strahlung nichts aus. Im
Gegenteil: Im Verlauf unserer sieben Entwicklungsphasen sind wir dringend auf sie angewiesen. So dringend, dass unsere Wissenschaftler bereits vor langen Jahren einen Schutzschirm errichtet haben, der das Entweichen der Strahlung in den Weltraum verhindert. Dieser Schutzschirm liegt weit heruntergezogen in der Atmosphäre, um eine Mindestkonzentration der Strahlung zu gewährleisten. Schade eigentlich, dass die feindlichen Schiffe nur Sprengkörper mit extrem kurzer Zerfallszeit einsetzten. Nun müssen wir wieder Mangel leiden. Für die Angreifer aber wurde die Strahlung zum Verhängnis. Ihre Körper deformierten sich. Ihre Nachkommen glichen kaum noch den Eltern. Sie wurden zu Tieren. Heute noch ist eine der beliebtesten Freizeitbeschäftigungen unserer Jugend in der zweiten Entwicklungsphase die Jagd auf die wilden Bestien, die sich einst >Menschen< nannten.« An: KOMMISSION FÜR DIE REFORM DES ERZIEHUNGSWESENS - Der Sekretär für historische Studien – Terra-City/VBW Von: MINISTERIUM FÜR KULTUS UND ERZIEHUNGSWESEN - Referat IX c – Betr.: Vorschlag zur Textgestaltung des programmierten >Lehrbuchs zur Historie der Menschheit< Ihr Schreiben vom "12. Tag im 9. Monat d.J. 1075 (nD) Terra-City, 3. Tag im 11. Monat d.J. 1075 (nD) Zuständigkeitshalber wurde uns das o.a. Schreiben von Referat IX b im Hause übergeben. Wir bitten, in Zukunft die Zuständigkeiten der Fachressorts besser zu beachten. Der Antrag auf Aufnahme des Tagebuchauszugs des Cygnianers Mnomeno in das o.a Lehrbuch für die Schulen im Bereich des VBW wird abgelehnt.
Begründung: Nach sorgfältiger Prüfung des übersandten Tagebuchteils erscheint ein wünschenswerter Einfluss auf das Denken unserer Schulkinder nicht möglich. Unsere historische Wissenschaft hat als wichtigste Aufgabe und oberstes Ziel, eine positive Einteilung der Bevölkerung zur Geschichte der Menschheit und ihrer verschiedenen Entwicklungsphasen zu erreichen. Der vorgelegte Tagebuchauszug enthält jedoch eine Schilderung, fa diesem Ziel entgegensteht. Unwesentliche Fehler politischer und militärischer Führung der VBW sind nicht geeignet dadurch aufgebauscht zu werden, dass sie in Schulbüchern behandelt werden. Falls notwendig, erscheint eine Darstellung durch einen kompetenten Fachhistoriker möglich, der das Ereignis der Aufnahmefähigkeit der Schüler entsprechend aufarbeitet. Keinesfalls aber kann das Abhandeln solcher Ereignisse durch wörtliche Zitate aus - vermutlich verzerrten -Darstellungen Fremdrassiger erfolgen Gemäß § 135, Abs. 3. Unterzeile c, der >Verordnung zur Erneuerung des Gedankenguts an Schulen< wird der Antrag daher ab unzumutbar zurückgewiesen und gleichzeitig der KOMMISSION FÜR DIE REFORM DES ERZIEHUNGSWESENS ein förmlicher Tadel ausgesprochen. Wir bitten, weitere dergl. Anträge zuvor genauer auf Eignung zu überprüfen. Weiterhin wird gemäß § 18, Ziffer 7, Abs. 5, >Gesetz zum Schute der Bürger im VBW< das diskriminierende Dokument beschlagnahmt Das Tagebuch des Cygnianers Mnomeno ist unverzüglich der im Wohnbezirk zuständigen Unterstelle des Sicherheitsdienstes auszuliefern Gemäß § 18, Ziffer 8, Abs. 3, steht auf Zuwiderhandeln die Todesstrafe. MINISTERIUMM FÜR KULTUS UND ERZIHUNGSWESEN -Referat IX cgez: SMITT (Oberverwaltungssekretär) Durchschlag an: SD, Wohnbezirk ET. Zentraluniversität
Ein Stückchen Heimat und die Folgen
1 Er glaubte gerade, der Lösung des umfassenden Problems Kreuzung verschiedener einheimischer Grassorten, um verwertbares Getreide zu erhalten - einen Schritt näher gekommen zu sein, da erschien Jens an der Tür zu seiner Denkerwerkstart, einen Strauß mit jenen roten Blumen in der Hand. Normalerweise war Robert Danner ein eher bedächtiger Charakter. Der siebenunddreißigjährige, über einsachtzig große schwere Mann - selbst hier auf Kabale II hatte er seine gut zwanzig Pfund Übergewicht behalten - war von den Kolonisten auf Grund seiner ausgeglichenen Wesensart zum ersten Bürgermeister der gerade fünf Jahre alten Auswanderergemeinde gewählt worden. Das war eine Funktion, für die er schon wegen seines Berufes - er war Xenobiologe nicht gerade prädestiniert schien. Doch bisher hatte er seine Sache gut gemacht. Wenn nur nicht die Selbstvorwürfe gewesen wären! Immer wieder quälten sie ihn, suchten ihn im Traum heim und ließen ihn selbst dann nicht los, wenn er sich mit messerscharfer Logik klarzumachen versuchte, dass ihn an dem ganzen Unglück eigentlich nicht mehr Schuld traf als alle anderen auch. Und so blieb ein Rest von Schuldgefühl, das ihn Tag für Tag hartnäckig verfolgte. Und nun der zehnjährige Jens mit dem Blumenstrauß in der Hand. Was selten geschah: Robert Danner bekam, wie er selbst es nannte, wenn einmal der Topf überkochte, »einen dicken Hals«. Das Gebrüll alarmierte seine einige Jahre jüngere Frau Margret. Als sie in dem immer noch provisorischen Anbau des Blockhauses erschien, erlebte sie einen tobenden Bürgermeister, der auf einem Strauß Mohnblumen herumtrampelte und jedes Blättchen einzeln in den festgestampften Boden zu treten versuchte. Jens aber stand fassungslos in einer Ecke, heulte wie nach einer Tracht Prügel (die ihm sein sonst so sanfter Vater noch nie
verabreicht hatte) und schluchzte, als seine Mutter ihn in die Arme nahm: »Aber - das sind doch die Blumen von zu Hause.« Und Margret Danner, mit dem Drama vertrauter als der Zehnjährige, wusste nichts darauf zu antworten
2 In jenem Teil der Galaxis standen die Sonnen viel enger beisammen als draußen am Rand, in dem geschwungenen Seitenarm, wo sich der Heimatplanet um den schwachen Stern Sol drehte. Die Erde selbst, einst ein grünblau schimmerndes Juwel vor dem diamanten glitzernden Sternenteppich der Milchstraße, war inzwischen von gierigen, machthungrigen Materialisten und beschränkten, genusssüchtigen Dummköpfen soweit ausgebeutet und ihrer natürlichen Bodenschätze beraubt worden, dass gravierende Hungerkatastrophen und zunehmende Massenaufstände die Menschheit gezwungen hatten, nach anderen Welten Ausschau zu halten, wo es ein Überleben geben konnte. Kabale II war erst einige hundert Jahre nach Beginn der Suche tief im Innern der Milchstraße entdeckt worden. Wenn Flora und Fauna auch wenig mit der irdischen Tier- und Pflanzenwelt zu tun hatten, so boten sie doch Möglichkeiten zum Überleben. Denn ein Großteil der einheimischen Gewächse und Lebewesen war für den Menschen genießbar, auch wenn er sich an manche Geschmacksnuancen erst gewöhnen musste. Und außerdem besaß der Planet gigantische Bodenschätze, deren Abbau angesichts der Größenordnungen in einigen Jahren auf jeden Fall rentabel sein würde; sehr oft bot sich sogar Tagebau an. Zwar war es ein weiter Weg zur Erde; doch die überlichtschnelle Fahrt, vor gut fünfzig Jahren durch D'Alemberto erfunden, schaffte schnelle Verbindungen, auch wenn die neuesten Entwicklungen für den Transport von Fracht noch nicht zur Verfügung standen. Was machte es schon, wenn solche Transportschiffe ein Jahr oder länger unterwegs waren, ehe sie ihr Ziel erreichten. Hauptsache, die Erde erhielt die
lebensnotwendigen Rohstoffe. Für die Kolonisten aber ergaben sich andere Probleme, die freilich nicht weniger schwer wogen. Denn wenn es ihnen hier auch materiell weitaus besser ging als auf dem Heimatplaneten Erde, so plagte sie doch alle das Heimweh. »Was gäbe ich darum, wieder einmal eine richtige Nacht zu erleben«, seufzte angesichts der nächtlichen glitzernden Pracht, in deren Schein selbst schwierigste Stickarbeiten noch möglich waren, so manches Mal selbst der ausgeglichene Herr Bürgermeister. Doch seiner Frau und vor allem den Kindern der Kolonisten, die noch Erinnerungen an die Erde besaßen, ging es nicht besser, eher war bei ihnen das Gefühl der Verlorenheit - so weit entfernt von der eigentlichen Heimat - noch ausgeprägter. Dieses Gefühl des Abgeschnittenseins von der Erde wurde noch verstärkt durch die Tatsache, dass die irdische Bürokratie für alle Kolonialvorhaben außerhalb des Sonnensystems ein striktes Einfuhrverbot von irdischen Tieren, Pflanzen und Sämereien verhängt hatte. Denn durch unsachgemäße, gedankenlose Handhabung waren verschiedene aussichtsreiche Welten verödet - die einheimische Flora und Fauna hatten sich mit irdischen Pflanzen und Tieren nicht vertragen. Das bedeutete erhebliche Verluste - denn auf lange Sicht hatten in der Regel irdische Gewächse und Tiere in dem fremden Boden doch keine Möglichkeiten des Überlebens gefunden; das einheimische Leben aber war bis dahin bereits restlos ausgestorben. Daher mussten auch die Auswanderer auf Kabale II - bisher waren es nur knappe dreitausend - mit den einheimischen Gegebenheiten vorlieb nehmen. Doch dann kam der Mohn.
3 Fast genau ein Jahr nach Gründung der Kolonie entdeckte der damals sechsjährige Jens Danner die roten Blüten in einer entfernten Ecke des von seiner Mutter mühsam eingerichteten
Gartens. Auch einige noch geschlossene Knospen gab es. Ein Rasselbeeren-Gehölz nahm die direkte Sicht auf die einzelne Pflanze, die kräftig getrieben hatte. Staunend stand der Junge vor dem Mohn, erinnerte sich an den Garten zu Hause auf der Erde, wo immer im Sommer die rote Pracht gelockt hatte, und traute sich nicht, eine der Blüten zu pflücken. Sein Vater, gerade zum Oberhaupt der neuen Ansiedlung ausgerufen, war nicht daheim, als Jens ins Haus stürmte und seine Entdeckung verkündete. »Wir müssen gut auf das Bümlein Acht geben«, meinte seine Mutter, nachdem sie sich ebenfalls das Wunder angeschaut hatte. »Das ist ein Stück von unserer Heimat. Wir wollen dafür sorgen, dass es uns erhalten bleibt.« Und mit vor Nostalgie verklärten Augen trug sie ihrem Sohn auf, die Existenz der Mohnblüten ganz für sich zu behalten, ja noch nicht einmal dem Vater davon zu erzählen. So kam es, dass Robert Danner ahnungslos blieb - in jenen hinteren Teil des Gartens kam er sowieso nie - bis er im darauf folgenden Jahr mit der roten Invasion konfrontiert wurde. Zu diesem Zeitpunkt aber war es bereits zu spät. Denn sein Sohn Jens hatte, unter Anleitung der Mutter, die Samenkapseln sämtlicher Blüten sorgfältig aufbewahrt und kurz nach den schweren Winterfrösten die einzelnen Samenkörner im eigenen Garten und in der Umgebung ausgestreut, ja einige Körner auch am Rande des aus riesigen Honig-Kiefern gebildeten Waldes verteilt. Einige davon, daran gab es für Danner keinen Zweifel, waren von den zumindest äußerlich echsenhaften Windseglern aufgepickt und weit entfernt unverdaut wieder ausgeschieden worden. Es half nichts: Der irdische Mohn hatte auf Kabale II eine neue Heimat gefunden. Und Robert Danners Appell an die anderen Siedler, die Mohnpflanzen auszureißen und zu vernichten, halte keinen Erfolg. Denn auch für sie war der Mohn ein Stück Heimat - und da sie diese Erinnerung an zu Hause nun einmal hatten, wollten sie sie auch nicht mehr missen. Der Xenobiologe machte sich keine Illusionen: Selbst wenn
der Appell an die Vernunft seiner Mitmenschen befolgt worden wäre, hätte er des Erfolgs nicht sicher sein können. Denn die Mohnsaat ist in einem kaum glaublichen Maße resistent und überlebt in der Erde viele Jahre; dabei bleibt sie keimfähig wie gleich nach der Reife. Es war von Anfang an ein Kampf gegen die symbolhaften Windmühlenflügel gewesen. So tröstete er sich damit, dass ihn keine Schuld traf und dass höchstwahrscheinlich auch kein Schaden daraus erwachsen würde. Wenigstens war vorerst nichts festzustellen. Doch dann passierte das mit den Höckerbüffeln.
4 Das erste verendete Tier fanden sie im dritten Jahr - nach der Mohnblüte. Die schwerfälligen Äser hatten an sich nichts mit irdischen Rindern gemein, sie glichen eher verunstalteten sechsbeinigen Bären, doch waren sie stark genug, um als Zugtiere verwendet zu werden - und gutmütig genug, um sich das gefallen zu lassen. Darüber hinaus war ihr Fleisch für den Menschen genießbar. Die Höckerbüffel, das hatten sorgfältige Untersuchungen der Ökologen noch vor der Besiedelung ergeben, erfüllten auf Kabale II eine wichtige Aufgabe. Ihre Hauptfutterpflanze war die Klebminze, eine Ranke, die schnell in Gärten und auf Feldern zur Plage werden konnte. Sie samte aus, indem sie ihre Samenkapseln parallel zur Windströmung ausrichtete. So schleppte die Luftbewegung die Samenkörner überallhin. Und da eine einzige Pflanze der Klebminze bis zu einhundert Samenkapseln, darin enthalten jeweils etwa 500 winzige Samenkörner, hervorbrachte, war für die Verbreitung der Pflanze wie für die Nahrung der Höckerbüffel ausreichend gesorgt. Doch nun begann das große Sterben der phlegmatischen Äser Und was zuerst nur wie ein Rätsel aussah, entwickelte sich rasch zu einem Schock für Robert Danner. Denn die Tiere waren allesamt eingegangen, nachdem sie
nicht mehr als eine einzige grüne, also unreife Kapsel des irdischen Mohns gefressen hatten. Und zwar mussten sie schlagartig verendet sein, denn nirgends fand Danner mehr als die Überreste der einen zermalmten Kapsel im Magen der Tiere. Weswegen diese Todesfälle nicht bereits früher aufgetreten waren, entzog sich Danners Kenntnis, doch hatte der Mohn möglicherweise erst jetzt die notwendige Verbreitung gefunden, um als Gefahr erkannt zu werden. Vereinzelte Todesfälle im vergangenen Jahr waren wahrscheinlich der normalen Sterberate zugerechnet worden. Ob die in den Mohnkapseln enthaltenen Alkaloide Morphin, Kodein, Papaverin oder Narcotin in dieser natürlichen Zusammensetzung oder einer dieser Bestandteile allein oder eine Zweierverbindung für den abrupten Tod der Tiere verantwortlich war - der Xenobiologe konnte mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln keinen exakten Nachweis führen. Was hätte es auch geholfen, der Mohn blühte inzwischen überall - dafür sorgten schon die Windsegler - und die Höckerbüffel schienen Geschmack an den für sie tödlichen Kapseln gefunden zu haben. Jedenfalls starben sie in Massen, die Menschen hatten Mühe mit der Beseitigung der Kadaver, damit keine Seuchen entstandenEs war abzusehen, wann das letzte Tier verendet sein würde. Und allüberall verbreitete sich die Klebminze. Nachdem die Höckerbüffel die Pflanze nicht mehr im gleichen Maße wie bisher abästen, überwucherte die Minze die Felder und Beete, erdrückte die Saat und erklomm gar die riesigen Honig-Kiefern, die unter den saugenden Wurzeln abstarben. Der Untergang des Planeten Kabale II war bereits programmiert. Damit musste sich Robert Danner abfinden; doch leicht fiel es ihm nicht. Denn da waren die Selbstvorwürfe.
5 Während er den asten Höckerbüffel seziert und in seinem Magen die zermalmten Überreste der Mohnkapsel gefunden
hatte, war Robert Danner engenden, wie die Pflanze auf Kabale II gekommen sein konnte, nein: musste. Auf der Erde, kurz vor der Abreise, war es gewesen. Er war noch einmal im Garten herumgewandert und hatte sich, etwas Wehmut war schon dabei, noch einmal alles angesehen. Eine der trockenen Mohnpflanzen hatte er ausgerissen und die reife Kapsel zwischen den Händen zerdrückt Dann hatte er, wie im Spiel, die Samenkörner in die Luft geworfen. Dabei muten sich einige Samen im Rand seiner Mütze festgesetzt haben. Und eben diese Mütze hatte er durch den Zoll geschmuggelt. Denn es war strikte Vorschrift. dass Auswanderer auf andere Planeten eine gänzlich neue Ausrüstung gestellt bekamen; und dazu gehörte auch die Kleidung. Eine Einheitsbekleidung, genormt nach rein praktischen Gesichtspunkten, die keinerlei individuelle Varianten gestattete. Doch Robert Danner hatte auf seine Mütze, diese lächerliche, fleckenübersäte Kopfbedeckung, nicht verzichten wollen. Ein lächerlicher Spleen, der sich nun bitter rächte. Bei der Auswanderungsbehörde war er vor Betreten des Sternenschiffes wie alle anderen - seine Funktion spielte da keine große Rolle - eindringlich gefragt worden: »Haben Sie auch wirklich nichts dabei? Sie wissen, es ist bei strenger Strafe verboten. persönliche Dinge ungeprüft mitzunehmen.« Doch wie alle anderen hatte er energisch die Frage verneint, die zusammengeknautschte Mütze unter der Achsel festgeklemmt, denn er hing nun mal am dem alten Ding aus altem Stoff. Und als er dann festgestellt hatte, dass praktisch jeder – trotz oder vielleicht sogar wegen der Verbote – irgend etwas Persönliches, oft wirklich nur eine Kleinigkeit, von der Erde mitgebracht hatte, da war sein Schuldgefühl dem Trotz gewichen. Warum hätte ausgerechnet er darauf verzichten sollen, wenn all anderen es ja auch nicht taten? Und seine Frau hatte ihn, als er ihr sein Vergehen berichtete, in seiner Ansicht bestärkt. Sie zog aber auch keine Verbindung zwischen der Mütze und dem persönlichen Auftauchen der
Mohnpflanzen. Sie schien das Ganze immer noch wie ein unerklärliches Wunder hinzunehmen. Jetzt aber war die Katastrophe da, und nichts konnte sie mehr aufhalten, denn ein Bekämpfungsmittel gegen die Klebminze gab es nicht. Die Ernte erreichte in diesem Jahr nur noch ein Zehntel. Und die Erdregierung ließ sie mit ihren Problemen auf Kabale II schmoren. Wenn die dortige Bürokratie endlich begreifen würde, worum es ging, würde es für den Planeten längst zu spät sein. Und für seine Bewohner auch. Daran änderte auch nichts, dass er nun wie ein Irrer auf den roten Mohnblättern herumstampfte. Er wusste das sehr gut, doch er konnte nicht aufhören zu trampeln. Auch nicht, als seine Frau einen Schreikrampf bekam. Und die Mütze hatte er auf wie immer.
Touristenattraktion
1 Dank der auf vollen Touren arbeitenden Klimaanlage herrschte im Restaurant des Anangpal-Hotels eine angenehme Kühle Klaus-Dieter Kleinschmidt seufzte zufrieden; er war satt. Träge beobachtete er seine Frau, die nach ihrem eigenen Dessert -geeiste Melone in halbtrockenem Sherry - auch noch die Portion ihres Mannes verdrückte. Die für ihr Alter von zweiundvierzig Jahren etwas zu grell geschminkten Lippen öffneten sich rhythmisch beim Kauen und gaben den Blick frei auf makellose dritte Zähne. Gerda war in den letzten Jahren schon arg aus dem Leim gegangen; doch er hatte sich recht ordentlich gehalten, auch wenn er einen leichten Ansatz zum Bauch nicht abstreiten konnte. Durch das Panorama-Fenster des Restaurants bot sich dem Deutschen die gewohnte Szenerie auf der Straße. In geballten Massen strömten draußen die Menschen vorbei. Sie achteten nicht auf den Toten im Staub, der direkt unterhalb des Fensters des Nobelhotels lag; heute morgen waren Klaus-Dieter und Gerda Kleinschmidt beinahe darüber gestolpert. Die Stadtverwaltung von Kalkutta kam einfach mit dem Aufsammeln der Leichen Verhungerter nicht nach, hatte ihnen der Oberkellner lächelnd erklärt, als sich der Deutsche am Tage ihrer Ankunft, eine Woche war das nun her, darüber beklagt hatte. Inzwischen hatte er sich an den Anblick gewöhnt, und auch Gerda machte nun keinen Bogen mehr um die Hindernisse, sondern stieg mutig über die Kadaver hinweg. Für die Einheimischen war das sowieso kein Anlass mehr, auch nur einen Blick zu verschwenden. Auf der anderen Straßenseite, durch die Menschenmassen fast nicht zu erkennen, sammelte ein etwa zehnjähriger Junge, einer jener Unberührbaren, die auf der Straße lebten und sich allenfalls mit Zeitungen zudeckten, die frischen Kuhfladen der heiligen Kühe, die allenthalben zu sehen waren, in einen Korb. Er kratzte den noch dampfenden Kot mit bloßen Händen vom holprigen Pflaster, hastig und immer auf der
Hut vor Konkurrenten, die es ebenfalls auf das kostbare Material abgesehen hatten. Irgendwo, abseits der Hauptstraße, würde er dann den braunen Brei dann in form runder Kuchen auf das Trottoir, an die Wand eines Hauses oder die Mauer eines Lageplatzes kleben und darauf warten, dass die sengende Sonne sie steinhart brannte. Solche Fladen waren ein begehrter Brennstoff in dieser baumarmen Gegend; und seitdem die Ölpreise und damit die Preise für Kohle und Holz derart angezogen hatten, dass selbst di reichsten Familien Kalkuttas sich diesen Luxus kaum noch erlauben konnten, war der getrocknete Kuhdung noch gefragter geworden. »Ein gutes Geschäft«, hatte Kleinschmidt gemeint, als er zum ersten Mal diese Art der Brennstoffgewinnung gesehen hatte. Doch der einheimische Chauffeur, den er für die Dauer ihres Urlaubs gemietet hatte, schüttelte nur abwehrend den Kopf und bemerkte in seinem gerade noch verständlichen Englisch: »O nein, Sir, sie irren sich. Die Unberührbaren erhalten dafür nur geringe Entlohnung, gerade genug, dass sie davon leben können. Sie müssen die getrockneten Fladen an die den Besitzer der Kühe abliefern, und der gibt sie dann weiter an den Großhandel. « Kleinschmidt hatte das zwar nicht eingeleuchtet, er hatte etwas von »freiem Wettbewerb« gemurmelt, sich aber dann doch den Argumenten des Fahrers, der die hiesigen Verhältnisse besser kannte, beugen müssen. Indien war eben doch ein ganz anderes Land. Ein seltsamer, exotischer Reiz ging von all der Armut und dem Dreck aus. Der Deutsche erkannte eine Obdachlose, eine so genannte »Pflasterbewohnerin«, die an der Ecke des Hotelgebäudes, unmittelbar neben dem Eingang, ihre Notdurft verrichtete. Der rot uniformierte Portier sah ihr gelangweilt zu, gähnte kurz und ließ sie gewähren. Da hatten schon so viele hingepisst und hingeschissen, dass es auf ein Mal mehr auch nicht ankam. »Schatzilein! «, Die Stimme seiner Frau riss ihn aus seinen Betrachtungen. Aus Erfahrung gewitzt, war er gleich ganz Ohr. »Was gibt es denn da draußen Interessantes zu sehen?«
wollte Gerda wissen, Nachdem sie ein Stückchen Melonenschale ausgespuckt hatte. »Das Übliche«, sagte er nur. Es gab ja auch nichts Besonderes auf der Straße zu beobachten. Das dort war der Alltag von Kalkutta. »Was wollen wir denn heute Nachmittag unternehmen?«, fragte Frau Kleinschmidt. »Müssen wir nicht für Tante Dorothee und die Kinder Souvenirs besorgen? Eigentlich könnten wir doch . . . « Bevor sich Gerda in einem langen Monolog eigenen konnte was Kleinschmidt nicht vertrug, unterbrach er sie lieber: »Einverstanden, ich werde Mahat Bescheid sagen lassen, dass er mit dem Wagen, sagen wir gegen halb vier, bereitsteht.«
2 Der Weg vom Hotelausgang zum bereitgestellten Sicherheitsauto, Marke Mitsubishi, mit schusssicheren Scheiben und verstärkten Bodenschutz, ähnelte wie immer einem Spießrutenlaufen. Im Nu «raren die beiden Deutschen von Bettlern, aber auch von ganz normalen Passanten umgeben, die sie mit schrillen Stimmen und fordernd ausgestreckten Händen bedrängten. Ein Krüppel, dem wahrscheinlich seine eigenen Eltern die Beine hatten abnehmen lassen, um ihn dadurch für den Bettelberuf zu präparieren, arbeitete sich auf seinem Rollbrett quer durch die dichte Menschenmenge Fluche und Tritte der belästigten Einheimischen verfolgten sie. Eine total abgemagerte Frau in einem verschlissenen Sari, die sich gerade an einer Wasserpampe unweit des Hotels gewaschen hatte, ließ abrupt den Pumpenschwengel los und eilte ebenso herbei wie einige Kuhfladensammler mit ihren stinkenden Körben. Daneben unzählige bis auf Haut und Knochen abgehungerte Kinder und Jugendliche. Die Menge umdrängte die Touristen ausgesprochen dreist; die Menschen machten auf Kleinschmidt einen aggressiveren Eindruck als noch vor wenigen Tagen.
Ale wollten mm Anteil an jenen wenigen Paises, den kleinsten Münzen der indischen Wahrung, erbeuten, die der Deutsche in weitem Schwung auf die Straße warf. Sofort ließen die Bettelnden von ihnen ab und stürzten hinter den Münzen her. Nur Gerda Kleinschmidt schrie auf einmal: »So halt sie doch auf, Klaus-Dieter!« Sie zeigte auf ein etwa elfjähriges Mädchen in total verdrecktem Rock und fadenscheiniger Bluse, unter der sprossende Brüste zu erkennen waren. Es schwenkte triumphierend das rohseidene Taschentuch, das ihre geschickte Hand der Fremden entwendet hatte Dann war die Diebin in der Menge verschwunden. Brummend schob Kleinschmidt seine keifende Frau durch die geöffnete Wagentür und ließ sich dann auch in die Polster fallen. Mahat, der einheimische Chauffeur, der mit Argusaugen darüber gewacht hatte, dass kein Unbefugter dem Wagen zu nahe kam, schmetterte die Tür zu, die sich automatisch verriegelte. Unliebsame Erfahrungen von Ausländern mit Straßenbanden machten einen solchen Schutz erforderlich. »Rasch in die Innenstadt«, befahl Kleinschmidt. »Souvenirs kaufen.« Mahat verzog leicht das Gesicht. »Okay, Sir«, brummelte er und gab Gas. Während Gerda Kleinschmidt wütend die Menschenmenge betrachtete, durch die sich der Wagen nun langsam unter fast ununterbrochenem Hupen einen Weg bahnte, schaltete ihr Mann ab. Sie waren nach Indien gekommen, weil das im Augenblick bei denjenigen, die sich das heutzutage überhaupt noch leisten konnten, die große Mode war. Hier in Indien, besonders aber in Kalkutta, so der Prospekt für Individualreisen des Reisebüros in Kuwait, sei der Kampf ums Überleben ganz besonders eindringlich zu beobachten. Und in der Tat: So viele Menschen hatte Kleinschmidt noch nie in seinem Leben auf so engem Raum zusammengepfercht gesehen. Und täglich wurden es mehr, denn nicht nur hatte Indien so ziemlich den höchsten Geburtenüberschuss auf der
Erde - auch immer mehr Landbevölkerung drängte in die großen Städte. Denn auf Grund der Ölpreissteigerung gab es so gut wie keinen Kunstdünger mehr. Und Kuhdung, den man ja statt dessen hätte verwenden können, brauchte man als Heizmaterial. Augenblicklich schätzte man, genaue Zählungen gab nicht, die Einwohnerzahl von Groß-Kalkutta, Hauptstadt von WestBengalen, auf etwa fünfzehn Millionen Menschen. Ein zehnmal höhere Bevölkerungsdichte als etwa in Berlin. Wohnungen waren knapp. In jedes Zimmer der schäbigen Blocks teilten sich bis zu drei Familien , die schichtweise schliefen dennoch aber volle Miete an die Besitzer der Bruchbuden abliefern mussten. Außerhalb der achtstündigen Schlafperiode verbrachte der Hauptteil der Bevölkerung Kalkuttas sein Leben auf der Straße Diese Stadt war ein eindrucksvolles Beispiel dafür, was die Intervention der Amerikaner vor zwei Jahren, 1986 also, im Iran und den Golfstaaten für Unheil angerichtet hatte. Alle Welt hatte damals mit einem großen Krieg gerechnet, doch ein Stillhalteabkommen mit der Sowjetunion, der vertraglich Anteile am Öl zugesichert wurden, hatte den weltumspannenden Konflikt verhindert. Und gegen beide Supermächte hatte dann auch China nichts unternommen. Die Länder der Dritten Welt, und dazu musste man Indien immer noch oder schon wieder - da stritten sich die Experten rechnen, waren nicht mehr in der Lage, den durch die seit damals andauernden Krisen, Aufstände und Bürgerkriege im Nahen Osten ins Astronomische gestiegenen Ölpreis zu bezahlen; auch viele Industriestaaten konnten nur noch durch Verzicht reagieren. In Afrika, Lateinamerika und Asien aber, mit Ausnahme der Länder mit eigenen Ölvorkommen, ging alles wieder vor die Hunde, was vielleicht im Ansatz nach Besserung und Aufbau ausgesehen hatte. Kalkutta war das beste Beispiel dafür, und Kleinschmidt war dankbar dafür, dass er hier so eindringlichen Anschauungsunterricht nehmen konnte. In dieser Stadt gab es kaum noch Häuser, die einigermaßen intakt waren. Überall bröckelte der Putz und fielen die Fassaden. Die Gehsteige waren vergammelt und hatten Schlaglöcher, das Pflaster war
herausgerissen. Was vielleicht vor zehn Jahren an Kanalisation vorhanden gewesen war, noch nicht einmal zehn Prozent des damaligen Bedarfs, ging wegen mangelnder Wartung in die Brüche. Mehrere Male im Jahr gab es Seuchenalarm. Fäkalien von Mensch und Tier - allen voran von den heiligen Kühen, aber auch von Ratten und Affen - verseuchten das Trinkwasser. Obwohl die Bevölkerung inzwischen weitgehend immun war, gab es immer wieder Epidemien. Gerade fuhr der Wagen an einer Gruppe Blinder und Verkrüppelter vorüber. Für Kleinschmidt waren solche Bilder der Beweis dafür, dass er richtig gehandelt hatte, als er sich gleich nach Beendigung der amerikanischen Intervention in Nahost von Kuwait als Anlageberater hatte anheuern lassen. Denn die Kuwaitis, nie um Kompromisslösungen verlegen, wenn es ums Geschäft ging, hatten sich bei Ausbruch der Kampfhandlungen, zusammen mit Oman, sogleich auf die Seite der USA geschlagen. Auf diese Weise hatte der studierte Volkswirt Kleinschmidt nicht nur in Kuwait einen lukrativen Posten ergattert, er war auch der von innenpolitischen Unruhen schwer gebeutelten Bundesrepublik Deutschland entronnen, wo die vom Wohlstand verweichlichte Bevölkerung arg unter den Auswirkungen der permanenten Ölkrise litt und überhaupt nicht damit fertig wurde, dass nunmehr drei Millionen Arbeitslose herumlungerten. Und da die USA die Ölförderung in Nahost nur in dem Maße zuließen, wie es ihnen in ihre nationalen Belange passte, konnte niemand in absehbarer Zeit auf Besserung hoffen.
3 Die zudringlichen Einheimischen machten den Einkauf keinesfalls zu einem Vergnügen, und so entschlossen sich Herr und Frau Kleinschmidt bereits nach dem Besuch von zwei Geschäften, die Innenstadt zu verlassen. Endlich saßen sie wieder, reichlich zerzaust, in ihrem Wagen;
die Türen waren verriegelt. Ihm war die Uhr vom Handgelenk gestohlen und ein Jackenärmel aufgeschlitzt worden, und sie hatte nur mit sehr resolutem Zugriff ihre Handtasche aus den Händen eines dreisten, abgezehrten Bengels retten können, was beinahe zu einer Schlägerei mit den Bettlern und Eckenstehern auf der Einkaufsstraße geführt hätte, wenn nicht Mahat ihr Chauffeur, geistesgegenwärtig eine Handvoll Münzen in die Menschenmenge geworfen hätte. Rettung in letzter Sekunde. »Ich finde die Leute heute bösartiger, feindseliger als noch vor wenigen Tagen«, beschwerte sich Gerda Kleinschmidt, und auch Klaus-Dieter meinte: »Irgendwie brodelt es in den Straßen, habe ich den Eindruck.« Mahat sah ihn im Rückspiegel prüfend an: »Das ist noch gar nichts, Sir, ich bin sicher, dass alles noch viel schlimmer wird und zwar innerhalb vierundzwanzig Stunden.« »Wie kommen Sie darauf?« fragte Kleinschmidt den Inder, der so gut informiert zu sein schien. »Das würde mich auch interessieren, Schatzilein«, ließ sich nun auch Gerda Kleinschmidt vernehmen; sie schien ihren Ärger über die beinahe gestohlene Handtasche vergessen zu haben. Vielleicht witterte sie aber auch Sensationen. »Nun, wie ich gehört habe, sollen die laufenden Getreidelieferungen im Augenblick Kalkutta nicht mehr erreichen.« »Aber vor gut einem Monat hat doch die amerikanische Regierung zusammen mit der EG genügend Getreide angeliefert, so dass eigentlich für die nächsten Wochen, bis zur anstehenden Ernte, ausreichend zur Verteilung vorhanden sein müsste.« Kleinschmidt erinnerte sich, darüber in verschiedenen Zeitungen gelesen zu haben. »Das waren enorme Mengen.« »Das stimmt, Sir.« Mahat konnte das nur bestätigen. »Aber nach den Aufständen hier in der Stadt, in Bombay, Madras und Neu-Delhi, aber auch in verschiedenen Regionen des flachen Landes, war das auch dringend notwendig!« »Wie ist denn die Versorgungslage Kalkuttas?« fragte Gerd. »Gemessen am Landesdurchschnitt ziemlich gut. Kalkutta ist in den letzten Jahren immer bevorzugt beliefert worden. Nach
den blutigen Unruhen von 1984, bei denen es über 50 000 Tote gab, hat noch jede indische Regierung versucht, die heißblütigen Bewohner der westbengalischen Hauptstadt bei Laune zu halten.« Irgendwie passte da einiges nicht zusammen. Kleinschmidt konnte verschiedene Fakten nicht miteinander in Einklang bringen. „Und jetzt gibt es mit einem Mal kein Getreide mehr? Ja, um Himmels willen, wie soll das weitergehen?« »Wie ich gehört habe . . .« Man konnte fast sehen, wie sorgfältig Mahat seine Formulierungen wählte. »Wie ich gehört habe ist seit etwa einer Woche kein Körnchen mehr angeliefert worden. Für mehr als eine Woche Vorräte hat es in Kalkutta noch nie gegeben. Und was die Bauern aus dem Umland jeden Morgen in die Stadt bringen, ist im Vergleich zum Bedarf ein Nichts.« »Also müssen wir wieder mit Unruhen rechnen . . .« stellte Kleinschmidt nüchtern fest. »Aber da wir sowieso nichts daran ändern können: Gerda, wollen wir jetzt nicht zu Kalis Tempel fahren?«
4 Die Göttin Kali gehört zum Pantheon des Hinduismus. In verschiedenen Sekten wird sie auch unter anderen Namen verehrt, etwa: Chamunda, Uma oder Durga. Kali ist eine Göttin des Blutes, und ihr bedeutendster Tempel befindet sich unweit des Marktes auf dem Kali-Ghat-Platz in Kalkutta. Als der Mitsubishi-Sicherheitswagen mit den Kleinschmidts vorfuhr, kam Bewegung in die Schar der Bettler, die vor dem Eingang zum Heiligtum saß. Im Nu waren die Deutschen von Blinden, Verstümmelten und anderen Siechen und Krüppeln umgeben, die ihnen auffordernd ihre verdreckten Hände entgegenstreckten. Inmitten der zerlumpten Schar stand unbeweglich, fast hoheitsvoll, ein Asket, die Arme verschränkt. Der noch junge Mann hatte sich, wohl in religiöser Verzückung, einen
zweischneidigen Dolch durch beide Wangen gestoßen, so dass auf der einen Seite noch der Griff zu sehen war, auf der anderen bereits die Spitze der Waffe hervorragte. "Das muss ich haben«, schrie da Gerda Kleinschmidt auf; sie meinte den Asketen, dessen Augen sie ruhig musterten. »Wo ist mein Fotoapparat?« Sie wandte sich um zum Wagen, den Mahat gerade wegfahren wollte. Nachdem der Chauffeur ihr den Apparat herausgereicht hatte, schoss sie eifrig eine ganze Serie von Bildern und ließ auch die kleine Gruppe der Leprakranken nicht aus, di sich vorsichtig etwas im Hintergrund hielt, um nicht mit den übrigen Bettlern in Streit zu geraten. Denn bis vor gar nicht so langer Zeit achtete die Polizei, im Auftrag des Gesundheitsministeriums, darauf, dass Lepröse nicht in der Öffentlichkeit auftauchten. Dass sie nun hier unbehelligt stehen konnten - auch das war ein Hinweis auf den zunehmenden inneren Verfall des indischen Staates. Gerda Kleinschmidt jedenfalls bekam alle Bilder, die sie für zu Hause brauchte. Währenddessen warf Klaus-Dieter Kleinschmidt einiges Kleingeld in die Menge und freute sich an der nun folgenden Balgerei, die nicht selten in handfesten Hieben endete. »Ganz hervorragend, lassen Sie sich bloß nicht stören!« Die Stimme aus dem Nirgendwo, die auf einmal ertönte, erschreckte beide Kleinschmidts. »Gestatten, Bieber. Ich hörte, dass Sie Deutsche sind. Wir arbeiten für World-Wide TV.« Ein hochgewachsener, bärtiger Mann trat auf sie zu und schüttelte ihnen die Hand. Nachdem auch die Kleinschmidts sich vorgestellt hatten, erfuhren sie, dass man hier in Kalkutta für WWTV an einer Dokumentation über Massenverelendung drehte. Eine der wenigen Filmproduktionen, die im Zeitalter der Elektronik überhaupt noch möglich war, wie Bieber, der sich als Produktionsleiter vorgestellt hatte, fast traurig betonte. »Wo ist denn Ihr Team?« fragte Kleinschmidt. »Wir arbeiten bei solchen Außenaufnahmen sehr viel mit Tele«, erklärte der Produktionsleiter. »Gerade hier in Kalkutta
ist die Bevölkerung manchmal so aggressiv, da gehen wir lieber auf Abstand. So eine Szene, wie gerade Ihre Ankunft vor diesem Tempel, ist Gold wert. Das lenkt ab und bringt Leben in die Menge. Außerdem liefert uns das hervorragende Kontraste. Aber Sie wollten ja wissen ... Wenn Sie sich umdrehen, auf der anderen Seite des Platzes, hinter dem hohen Aufbau des Lastwagens sitzt das Kamerateam.« »Sie entschuldigen uns kurz«, meinte Kleinschmidt, denn seine Frau zog ihn am Ärmel; sie wollte den Tempel betreten, von wo die grausigen Geräusche des Rituals zu hören waren. Sie gingen durch den schmalen, schlecht erleuchteten Gang, der zur eigentlichen Tempelhalle der Göttin Kali führte. Es war feucht und klebrig in dem Gang, doch ein junger Novize «leitete sie und andere Besucher sicher hindurch. Kali ist die Göttin der schwarzen Pocken, und schwarz ist auch das Material, aus dem ihr Standbild gehauen ist. Ein Kranz aus Totenköpfen, die wie Affenschädel aussahen, hing um ihren Hals. Gerda Kleinschmidt schauderte es ein wenig, als Klaus-Dieter ihr zuflüsterte, Eingeweihte behaupteten, der makabre Schmuck Kalis bestünde keineswegs aus Affenschädeln, sondern aus den Köpfen geopferter Kinder. »Jai Kali - es lebe Kali!« war aus allen Ecken von den Gläubigen zu hören. Sie führten der Göttin geweihte Opfergaben mit sich: Schafe, Hühner, Gänse, Tauben und anderes Getier. Nachdem sie von den Brahmanen huldvoll im Namen Kalis angenommen worden waren, wurden die Tiere unmittelbar neben der schwarzen Statue von einer pausenlos tätigen Guillotine enthauptet. Ursprünglich war dieses blutige Ritual außerhalb der Tempelhalle vollzogen worden, doch im Zeichen des starken Zulaufs und der zunehmenden Fanatisierung der Gläubigen hatten sich die Kalipriester zu dieser Verlegung entschlossen. Um eine Verunreinigung auszuschließen, war eine breite Abflussrinne in den Boden gehauen worden, aus der heraus dennoch von Zeit zu Zeit das schwarzrote Blut überschwappte. Während die Einheimischen der grausigen, rein mechanischen Enthauptung der Tiere geradezu verzückt zusahen, wurde es
Kleinschmidt schnell flau im Magen. Und Gerda flüsterte: »Schatzilein, mir wird schlecht. Ich muss hier raus!« Doch als sie sich umdrehten und halb blind vor Übelkeit herausstolperten, wurden sie von einem Brahmanen angehalten, der ihnen gebieterisch die leere Hand entgegenstreckte. Kali forderte von jedem ihr Opfer. Kleinschmidt fingerte in seiner Hosentasche herum, gab, was er fand, ohne zu wissen, wie viel es war. Draußen holten sie erst einmal tief Luft. Selbst das Gewimmel der Bettler, das sie gleich wieder umgab, war besser zu ertragen als die blutgetränkte Luft dort drinnen in der Halle Das Fernsehteam hatte sein Versteck auf dem Lastwagen verlassen und befand sich nun inmitten der Menschenmenge auf dem Kali-Ghat. Der Produktionsleiter Bieber erblickte die beiden sofort, rief seinem Kameramann etwas zu und kam auf die Touristen zu. »Na, wie war's da drinnen?« fragte er. Ohne auf Antwort zu warten, fuhr er gleich darauf fort: »Mir ist auch schlecht geworden, als ich dieses Gemetzel zum ersten Mal gesehen habe.« »Ist das hier nicht ein wenig dürftig für Ihre Zwecke?« fragte Kleinschmidt den Fernsehmann und deutete auf die Umgebung. Bieber strich sich eine braune Locke aus der Stirn. »Das stimmt wohl. Seit die EG und USA diese Getreidelieferungen losgeschickt haben, ist alles viel zu ruhig in diesem Land. Nirgends mehr Unruhe, keine Hungerkatastrophen, rein gar nichts!« »Aber ist es nicht schön, wenn es den Leuten besser geht?« fragte Gerda Kleinschmidt. »Aus deren Sicht schon.« Bieber machte einen erschöpften Eindruck, wie er so vor ihnen stand. »Aber wir brauchen harte Bilder, die das Thema illustrieren und dokumentieren, das wir behandeln: Massenverelendung. Und da können wir nicht nur abgemagerte Kinder und verwanzte Wohnungen zeigen. Wir brauchen Aktionen, Unruhe, was weiß ich . . .« »Ich verstehe«, sagte Kleinschmidt. »Aber da haben Sie sich einen schlechten Zeitpunkt ausgesucht.« »Vielleicht wird's ja noch«, meinte der Produktionsleiter. Ich muss wieder zu meinem Team zurück.«
Er nickte ihnen zu und wollte weggehen, doch Kleinschmidt fragte ihn noch: »Haben Sie denn Anzeichen dafür, dass es wirklich Unruhen geben wird?« »Nun, wir haben die Lieferungen stoppen la . . . Ich wollte sagen, ich habe gehört, dass es seit gut einer Woche in ganz Groß-Kalkutta kein angeliefertes Getreide mehr gibt. Die Stadt steht kurz vor einer Explosion. Wir hoffen, dass . . .« Damit war Bieber in der Menschenmenge verschwunden.
5 Irgendwo mussten sie etwas Unrechtes gegessen haben, denn in der folgenden Nacht bekamen die Kleinschmidts starken Durchfall und durften ihr Bett, betreut vom Hotelarzt, mehrere Tage lang nicht verlassen. Nur über Radio und aus Zeitungen erfuhren sie, dass es in der Stadt zu Demonstrationen und Ausschreitungen Hungriger kam, die täglich an Heftigkeit zunahmen. Am ersten Tag, an dem sie wieder auf die Straße durften, war ihr Ziel die Howrah-Brücke, die über den Hooghy-Fluß spannt und Kalkutta mit ihrer Schwesterstadt Howrah verbindet. Sie fuhren sehr zeitig los, denn das Leben beginnt in Kalkutta bereits früh im Morgengrauen. Mahat hatte sie bis nahe an die Brücke herangefahren und dort nach einem Aussichtsplatz für sie gesucht, ohne aber auf Anhieb etwas Geeignetes zu entdecken. Als sie etwas ratlos neben dem Auto standen - von den Bettlern war um diese Morgenstunde noch nichts zu sehen -, erblickte Kleinschmidt den Fernsehmann, den sie beim KaliTempel gesprochen hatten. »Herr Bieber!« Ebenfalls auf dem Weg zur Howrah-Brücke, schrak der Produktionsleiter von WWTV etwas zusammen, als er seinen Namen hörte. »Ach, Sie sind's. Wir wollen heute den Menschenstrom drehen, der sich jeden Tag nach Kalkutta hereinwälzt. Dort
kommt das Team.« »Haben Sie denn inzwischen die Aufnahmen, die Sie brauchen?« fragte Gerda Kleinschmidt. Solche Fernseharbeit war doch irgendwie aufregend, fand sie. »Es geht. Einiges an Krawallen hat es bereits gegeben, und für heute kündigt sich weiteres an.« »Wie viele Tausende kommen so jeden Morgen über die Brücke?« fragte Kleinschmidt und nickte Mahat zustimmend zu, der ihm bedeutete, er werde den Wagen beiseite fahren. »Und können wir ein wenig bei Ihren Leuten bleiben?« »Sie meinen, wegen der Sicherheit? Na klar. Ja mehr wir sind, desto weniger kann passieren. Die Stadtverwaltung konnte uns auch keine genaue Auskunft geben. Man schätzt dass es zwischen 400.000 und 600.000 Menschen sind, die sich innerhalb weniger Stunden über die Brücke wälzen, Autos und Busse inbegriffen. Fünfhundert Meter ist die Brücke lang, doch oft braucht ein Fußgänger fast eine Stunde dafür, Autos noch viel länger.« »Ein Wunder, dass die Brücke noch nicht zusammengebrochen ist», meinte Kleinschmidt nachdenklich. »Ich muss sagen . . .« Er wurde von seiner Frau unterbrochen, die auf die Brückenauffahrt deutete: »Sieh mal! Was ist das?» Auch Bieber war aufmerksam geworden. »Wagner! Hirschkamp! Geht mal ran!» rief er. »Da braut sich was zusammen.» Eine dichte Menschentraube hatte sich gebildet. Transparente wurden aufgerollt, aber auch Stangen und Knüppel geschwungen Die Menschenmassen auf der Brücke mussten verharren. Es gab kein Vorwärts und kein Zurück. Auf dem diesseitigen Ufer war die gesamte Straßenbreite blockiert, und von hinten drängten die Menschen auf der Brücke nach, Menschen, die nicht wussten, was vorne geschah, und weitergehen wollten. Die Demonstranten wurden von Minute zu Minute zahlreicher. »Es sind bald Zehntausend", murmelte Bieber. »Was rufen die eigentlich?« Gerda Kleinschmidt starrte
gebannt auf die Szene. »Genau kann ich das auch nicht sagen«, meinte Bieber. »Es dürfte wieder . . .« Mahal tauchte wie durch Zauberei auf. »Sie rufen: Gebt uns zu essen - wir haben Hunger! « sagte er. Dann erschien dir Polizei. Während die Menge der Demonstranten immer noch zunahm, gingen die Sicherheitskräfte bereits mit Schlagstöcken und Tränengas gegen die Aufrührer vor. Vereinzelt fielen Karabinerschüsse. Eine Maschinenpistole ratterte kurz, erstarb wieder. Die Polizei nahm keinerlei Rücksicht darauf, wer getroffen wurde, so dass die Kleinschmidts und das Fernsehteam zurückweichen mussten. »Macht nichts!« rief der Kameramann Wagner Bieber zu. »Wir haben dufte Sachen im Kasten. Den Rest mach' ich mit Tele!« »Okay«, schrie Bieber zurück. »Passt auf euch auf. Am besten, ihr kommt zu uns.« Von ihrem neuen Standpunkt aus war in der Tat hervorragend zu beobachten, mit welcher Härte die Polizei vorging. Es entwickelte sich eine blutige Straßenschlacht. »Toll», sagte Gerda Kleinschmidt zu ihrem Mann, nachdem sie wieder ein Foto geschossen hatte. »Das ist ja aufregender als bei den Gastarbeiterkrawallen vor drei Jahren in Frankfurt. Erinnerst du dich noch, Schatzilein?« 0 ja, Kleinschmidt erinnerte sich. Damals ging es nicht ums Essen, es ging um Bürgerrechte und Gleichberechtigung. Gegen Diskriminierung, für Menschlichkeit - das war damals die Parole. Kleinschmidt wurde auf Bieber und Wagner aufmerksam, die miteinander sprachen, während Hirschkamp, der Kameraassistent, weiterdrehte. »Es hat alles geklappt«, sagte Wagner gerade. »Gutes Material! « »Freut mich«, antwortete Bieber und lachte zufrieden. »Hat auch eine Menge Arbeit gekostet, bis ich den Knaben soweit hatte.« Kleinschmidt wandte sich etwas ab, damit die beiden nicht
merkten, dass er mithörte. Das interessierte ihn. »Das war auch nicht gerade billig«, redete Bieber weiter. »Aber der Kerl hat gespurt. Es lebe die Korruption! Hätte dieser Beamtenheini nicht, von uns angeregt, einfach die Lieferungen gestoppt, dann stünden wir schön blöd da!« »Und was ist mit dem Getreide?» wollte Wagner wissen. »Ach, das wird wohl irgendwo außerhalb der Stadt vergammeln. Was weiß ich? Ich führe hier nur meinen Job aus!« Damit gingen sie zusammen zu Hirschkamp hinüber. Noch war die Produktion nicht ganz abgeschlossen. Kleinschmidt aber versuchte, sich auf das, was er soeben gehört hatte, einen Reim zu machen. Und Gerda, seine Frau, verknipste bereits den zweiten Film. Das würde Bilder geben! Tante Dorothee würde staunen! Indien war eben doch eine Reise wert.
Wir Kinder des Lichts
1 An jenem Nachmittag, an dem Pitt der Krumme sterben sollte waren wir alle im Dorf sehr fröhlich. Wir hatten uns die Bäuche wie selten voll schlagen können, denn eine Jägergruppe unter der Führung vom Hässlichen Tom hatte einen Nacktbären erlegt und ihn unter Absingen des Siegerliedes mitten auf den Versammlungsplatz geschleppt. Sicher, der Hässliche Tom war ein Verunstalteter, gar nicht zu vergleichen mit uns Normalen; aber er war ein guter Fährtensucher und wusste seine Schar Jäger zu führen und zusammenzuhalten. Damit war er vielen Normalen in unserer Sippe überlegen, denn die meisten von uns interessierten sich nicht für etwas so Alltägliches wie die Jagd. Schließlich mussten wir uns alle vorbereiten auf den Tag, an dem das Große Licht erscheinen und uns erlösen würde. Wir waren um den Stumpf der im vergangenen Jahr durch Blitzschlag entzündeten und abgebrannten Linde im Halbkreis gruppiert, als der Jägertrupp mit seiner Beute eintraf. Schon von weitem hörten wir ihren frohen Gesang tönen, ein zerfasertes, helles Fisteln, das nur durch die tiefe Stimmlage des Hässlichen Tom geradezu zerschlagen wurde. Wie gesagt: Tom war ein Verunstalteter, doch dafür konnte er natürlich nichts, der Arme, und die Sippe hatte ihn deswegen auch nicht verstoßen, wie es in vielen anderen Dörfern nun einmal üblich war. Die Jäger hatten den Nacktbären bereits im Wald ausgenommen und ihm das Fell abgezogen. Ich war noch nicht alt genug, um mit auf die Jagd gehen zu dürfen - und ich hatte wenig Hoffnung, dass dies jemals der Fall sein würde -, aber ich wusste doch, dass es Unglück bedeutete, einen noch nicht abgehäuteten Nacktbären in ein Dorf zu bringen. Und ganz besonders unheilvoll war es, wenn dem Bären nicht gleich nach seinem Tod der Kopf abgeschnitten worden war. Ich hatte nie erfahren können, was die Jäger mit dem abgetrennten Schädel anstellten, ob sie ihn vergruben oder
verbrannten oder ihn einfach den wilden Hunden zum Fräße liegen ließen. Auf jeden Fall hatte ich noch nie einen toten Nacktbären mit Schädel gesehen. Und einem lebenden zu begegnen, dazu hatte ich, jung wie ich war, noch keine Lust. Diese Raubtiere sollten sehr gefährlich sein. Na, wie schon erzählt, dieser Bär war von den Jägern bereits ordnungsgemäß vorbereitet, so dass ihn Mutter Tutu, die Dorfälteste, gleich würzen konnte. Dann wurde der schwere Braten auf einen geschälten Weidenast gespießt, und wir Jugendlichen erhielten den Auftrag, ihn über dem großen Feuer aus Kiefernknorren zu drehen. Stundenlang. Ich glaube, wir alle bekamen davon lahme Arme, doch wir taten es gern, denn es winkte die Belohnung. Mir lief das Wasser im Mund zusammen, so sehr gierte ich nach einem Stück Fleisch von dem Spieß, den wir mit nie erlahmendem Eifer drehten.
2 Unser Dorf liegt am Fuße eines nicht zu hohen Hügels, an der Südseite, genauer gesagt. Den Hügel hinauf wachsen fast nur Echobäume, in denen des Nachts der Wind heult und seufzt; dazwischen finden sich vereinzelt Weymouthkiefern und Krüppelbirken. In der Nähe des Dorfes, gegen Norden, steht ein kleiner Hain mit Wacholderkraut, in dessen verfilztem Dickicht im Sommer die herrlichsten Pilze wachsen. Dort ist es mir schon zweimal gelungen, in ausgelegten Schlingen Kaninen zu fangen. Ein Kanin ist ein relativ kleines Tier, etwa halb so groß wie ein Kind von sechs Sommern. In der Regel haben die Kaninen vier Beine, doch ich habe auch schon solche gesehen, denen noch ein fünftes Bein unter dem Leib hervorragt. Das sieht lustig aus, wenn das Tier auf der Flucht andauernd über sein überzähliges Bein stolpert, das unnütz baumelt. Einmal hat die Rote Gels beim Anblick eines solchen Kanins einen Lachkrampf bekommen. Sie konnte nicht mehr aufhören, wälzte sich schreiend und brüllend am Boden, bis Mutter Tutu ihr einen Bottich siedendes Wasser überschüttete und sie so
wieder zur Besinnung brachte. In den Tagen darauf lief die Rote Gela mit einer Haut herum, die die Farbe von Erdbeeren besaß, so dass kaum ein Unterschied zu ihrem Haar bestand. Rund um unser Dorf haben die Männer auf Geheiß von Mutter Tutu alles abgeholzt, was den Bewohnern die Sicht versperren könnte, denn wir können ja nie wissen, wer oder was sich unseren Hütten nähert und wem wir trauen können. Im Unterschied zu anderen Dorfern gibt und gab es bei uns noch nie Streit darüber, wer das Sagen hat. Bei uns ist es Mutter Tutu, das steht fest, und wer sie sieht, der weiß auch, dass nur sie allein unsere Dorfälteste sein kann. Sie ist größer als alle anderen und wiegt sicherlich doppelt so viel wie der schwerste unserer Männer; nur ihr Kopf ist vielleicht ein wenig klein geraten, doch das wagt keiner im Dorf zu sagen, und wir haben uns inzwischen alle daran gewöhnt. Mutter Tutu bestimmt alles im Dorf: Wer in welcher Hütte und mit wem wohnt und wer wie viel zu essen bekommt und wie oft. Und sie legt auch fest, welche Männer auf die Jagd gehen und welche im Dorf bleiben müssen, um die nötigen Hilfsarbeiten für die Frauen auszuführen. Einmal hat der Lahme Fit darüber gemault, dass er am selben Tag dreimal hintereinander zum Bach gehen und die Wäsche schlagen musste, während der Dicke Matt bei Mutter Tutu auf der faulen Haut lag. Aber der Dicke Matt war zu jener Zeit gerade der Favorit unserer Dorfältesten; da half dem Lahmen Fit kein Maulen. Zu seiner Arbeit, die er selbstverständlich ausführen musste, hat er auch noch eine deftige Tracht Prügel als Dreingabe bekommen. Ich habe daraus gelernt, dass es keinen Zweck hat aufzubegehren. Ich bin halt nun einmal kein Mädchen, sondern nur ein Junge - und die Natur hat unsere Rolle vorbestimmt. Es lebt sich am besten, wenn man sich in diese natürlichen Regeln einfügt.
3 Nach dem Essen, einem Festessen, denn die Jäger hatten einen fetten Nacktbären erbeuten können, waren alle sehr ausgelassen. Während die Männer die Reste wegräumte und den platz rund um den Lindenstumpf sauber fegten, ließen sich die Frauen vor der Hütte der Dorfältesten nieder und rauchten gestampftes Bilsenkraut. Das war eine heilige Handlung, eine Vorstufe der Meditation, wie Mutter Tutu einmal sagte, und auch die Männer hätten gerne daran teilgenommen. Doch ihnen war der Genuss des Bilsenkrautes streng verboten. »Die Männer sind zu schwach, das Kraut zu vertragen.«, hatte Mutter Tutu einmal im Rat der ältesten Frauen verkündet. »Männer sind nur gut für die Jagd und zum Kindermachen. Alles Ernsthafte überfordert sie. Sie drehen zu leicht durch; der Rauch würde sie verrückt machen. « Bisher hatte ich das niemanden erzählt, denn ich scheute mich, jemanden klar zu machen, wie ich zu meinen Kenntnissen über die Ansichten unserer Dorfältesten gekommen war. Schließlich konnte ich schlecht zugeben, dass ich mich an ihre Hütte herangeschlichen und durch ein winziges Astloch in der hinteren Tür gelauscht hatte. Da auf der Rückseite der Hütte eine dichte Feuerhecke stand, die praktisch undurchdringlich war, und nur so schmale Kerlchen wie ich sich zwischen Hecke und Hüttenwand entlang schlängeln konnten, war ich vor Entdeckung ziemlich sicher. Dennoch war das Risiko groß genug gewesen. Heute würde ich so etwas nicht mehr tun, denn ich habe inzwischen im Mannbarkeitsunterricht gelernt, dass es dem Manne nicht ziemt, allzu neugierig zu sein. Die Frauen saßen also nach dem Essen zusammen und rauchten Bilsenkraut. Und alles sah sehr friedlich aus und wäre es auch geblieben, wenn nicht mit einem Mal Pitt der Krumme aufgetaucht wäre. Er war der zweite Verunstaltete im Dorf; und wir alle hatten Mitleid mit ihm, denn im Gegensatz zum Hässlichen Tom besaß er keinerlei besondere Fähigleiten, die
ihn aus der Schar der Männer hervorgehoben hätten. Er war kein Jäger und verstand noch nicht einmal etwas vom Kochen. Dass er dennoch oft am Herd stand, daran war Mutter Tutu schuld; sie betonte immer wieder, jeder müsse Aufgaben für die Gemeinschaft übernehmen. Doch wenn Pitt der Krumme Küchendienst hatte, dann war das Essen meist fad und fast nicht genießbar. Das Fleisch ließ er regelmäßig verkohlen. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass Pitt seine Pflichten im Dorf nicht ernst nahm. Und das als Mann. Normalerweise saß Pitt der Krumme in oder vor seiner Hütte, summte seltsame Melodien vor sich hin, die außer ihm niemand im Dorf kannte. Er führte oft verdrehte Reden, mit denen niemand etwas anfangen konnte. Das ganze Dorf war der Meinung, dass er nicht nur körperlich verunstaltet, sondern auch nicht ganz richtig im Kopf war. Pitt also erschien vor der Hütte der Dorfältesten, stellte sich ohne großes Zaudern breitbeinig vor den sitzenden Flauen auf und grinste sie böse an: »Na, ihr faulen Weiber, lasst ihr die armen Männer wieder die Arbeit tun? « Eigentlich sprach er nicht mit ihnen, sondern schnauzte sie an und stieß mit seiner ausgestreckten rechten Hand immer wieder in ihre Richtung. »Ihr habt es gut, während wir uns die Knochen abarbeiten dürfen!« »Halt's Maul«, sagte die Rote Gela sanft, denn sie mochte Pia den Krummen, das wussten wir alle und hatten uns auch schon oft darüber lustig gemacht. »Und hau ab!« »Ich will aber hier bleiben.« Die Frauen taten, als bemerkten sie den störrischen Mann nicht, der sie unter zusammengezogenen Augenbrauen anstarrte. Außer mir waren jetzt auch alle anderen auf den Zwischenfall aufmerksam geworden. In weitem Bogen scharten wir uns um die Hütte und die sitzenden Frauen. »Ich will auch rauchen«, forderte Pitt. »Verschwinde«, fauchte mit einem Mal Mutter Tutu und sah auf. Du störst uns in unserer Konzentration auf das Große Licht. «
»Das Große Licht! Ha! Als ob das etwas Besonderes wäre! Ihr wisst ja gar nicht, wovon ihr redet!« Mich durchfuhr ein eisiger Schreck; auch die Männer um mich herum wichen in Panik zurück. Das war Gotteslästerung! Seit langer Zeit hatte es niemand mehr gewagt, so über das Große Licht zu reden, ihm seine Göttlichkeit abzusprechen. Trotz ihres enormen Gewichts sprang Mutter Tutu behänd auf und stellte sich vor Pitt den Krummen, den sie um mehr als zwei Haupteslangen überragte. Doch dieser wich keine Handbreit zurück, sondern trotzte weiter. »Packt ihn!« schrie Mutter Tutu und wies mit beiden Händen auf den Lästerer. »Schafft ihn weg von hier. Er muss dem Großen Licht geopfert werden, damit diese Sünde ausgelöscht wird.« Leises Gemurmel war unter den Männern zu hören, doch ein kurzer, strenger Blick der Dorfältesten ließ sie verstummen. »Kann er nicht einen Tag Bedenkzeit erhalten, Mutter Tutu?« fragte die Rote Gela, die wie die anderen Frauen inzwischen aufgestanden war und nun hinter der Dorfältesten stand. »Vielleicht hat er es nicht so gemeint . . .« »Nein!« Scharf war das Urteil und hart, doch nach den Regeln des Zusammenlebens im Dorf, die unser Dasein bestimmten, war es gerecht. »Er muss sterben!« Macht, was ihr wollt-, schrie da Pitt der Krumme mit schriller Stimme und schaute wild um sich. »Was seid ihr schon . . . Nichts weiter als eine Bande jämmerlicher Kretins! Bald wird es niemanden mehr in dieser Gegend geben, den man wirklich noch als Menschen bezeichnen kann. Und die wenigen, die es noch gibt, müssen eure Speisekarte aufbessern.« »Hinweg mit ihm«, befahl Mutter Tutu. Pitt wurde gepackt. Sie schleppten ihn an den Dorfrand, während er weiter versuchte, sie zu beschimpfen. Seine letzten Worte endeten in einem Gurgeln, als ihm Mutter Tutu - ab
Dorfälteste auch unser Schamane - mit scharfer Steinklinge die Gurgel durchschnitt. Mich schauderte. Nicht weil Pitt der Krumme hatte sterben müssen. Wer eine solche Gotteslästerung ausspricht, muss eben dafür büßen - besonders, wenn ein Mann so etwas äußert Frauen sind da in einer besseren Lage, aber sie sind auch vorsichtiger. Nein, deswegen schauderte es mich nicht. Aber was hatte Pitt mit seinem letzten Satz andeuten wollen? Das Große Licht ist unser Gott, und wir sind die Kinder des Lichts. Das Große Licht hat uns erschaffen, und ohne das Große Licht gäbe es uns überhaupt nicht.
4 Das Große Licht ist unsere Mutter und unser Vater, es ist unser Ursprung und unsere Zuflucht. Jeden Tag beten wir zum Großen Licht; und das Leben der Frauen ist der Meditation und der Vorbereitung auf den Tag gewidmet, an dem das Große Licht wieder erscheinen wird. Als ich noch kleiner war, damals als meine Mutter noch lebte, ehe sie über Nacht tot in unserer Hütte lag, damals gab es noch den Alten Jock. Er war wirklich uralt, bestimmt schon fünfzig Sommer musste er gesehen haben, und er war verunstaltet wie heute Pitt der Krumme und der Hässliche Tom. Doch Jock konnte erzählen aus jenen Zeiten, ehe das Große Licht erschien und die Welt veränderte. Ehe wir geschaffen wurden. Ganz habe ich das freilich damals nicht verstanden, wahrscheinlich war ich noch viel zu klein, um alles mitzubekommen. Doch wenn ich heute mit meinen fast dreizehn Sommern alles zusammenkratze, was mir von Jocks Erzählungen in Erinnerung geblieben ist, dann muss es früher eine Welt voller Verunstalteter gegeben haben, in der Normale so wie wir - in häusergroße Käfige gesteckt und dort gefangen gehalten wurden. Mutter Tutu nennt das immer die Zeit des Leidens, in der es keine Gerechtigkeit gab und wir Normalen Freiwild der
Verunstalteten waren. Dann erschien eines Tages unser Gott, das Große Licht, und beschloss, uns zu erlösen und die Normalen normal sein zu lassen und den Verunstalteten den ihnen gebührenden Platz in der Gesellschaft zuzuweisen. Der Tag, an dem das Große Licht erchien, hat unser Leben und hat die ganze Welt verändert. Unser Gott erschien und verwies die Mittagssonne in das Reich der Nacht. Wie sollte die Sonne gegen Gott auch konkurrieren können . . . Das Große Licht war so stark, dass es an mehreren Stellen der Welt gleichzeitig erblühte und die Verunstalteten blendete, so dass sie irregingen und dem Untergang anheim fielen. Daher gibt es heute nur noch so wenige von ihnen. Für uns Normale aber war das Erscheinen des Großen Lichts die eigentliche Geburtsstunde. Und es ist uns verheißen, dass das Große Licht wiederkommen wird, um auch die letzten Verunstalteten zu vernichten und uns Normale ins Paradies zu führen, wo es nur so von Kaninen und Nacktbären wimmelt und das Wasser schmeckt wie das gestampfte Bilsenkraut in den Pfeifen der Frauen. Dann wird es keinen Hunger und keine Not mehr geben und alt und jung werden leben können ohne Gefahren, die hier in der Welt drohen. Das ist unsere Hoffnung und unser Glaube, und daher müssen unsere Frauen meditieren, auf dass die Verheißung Wirklichkeit werde.
5 Nun lebte nur noch ein Verunstalteter unter uns: Der Hässliche Tom. Pitt den Krummen hatten die Männer verscharrt; er lag draußen, außerhalb des von Bäumen gesäuberten Areals in einem Loch, aus dem die Dorfbewohner früher einmal Lehm gegraben hatten. Damals lebte eine Frau, deren Namen ich vergessen habe, sie muss gestorben sein, als meine Mutter mich gerade geboren hatte. Diese Frau beherrschte die Kunst, aus dem
gegrabenen Lehm und getrocknetem Gras rechteckige Ziegel herzustellen. Daraus hatte man unsere Hütten gebaut. Doch seitdem jene Frau tot war, verstand sich niemand mehr auf diese Kunst, und es wurde immer schwieriger, die Hütten instand zu halten, denn Wind und Regen nagten an ihnen wie die Kaninen am wilden Kraut. Fast war es also jetzt bei uns wie in den anderen Dörfern, wo die Normalen keine Verunstalteten unter sich duldeten, sondern sie aus dem Dorf wiesen. Bis zum Alter von sechs bis acht Sommern wurden die Kinder sorgsam beobachtet; wenn sich dann herausstellte, dass sich doch nichts Normales zeigte, sondern sie verunstaltet blieben, dann wurden sie in die Wildnis gejagt. Ich war froh, dass ich diese Prüfung, um die sich niemand drücken kann, für die man sich aber auch nicht besonders bewähren kann, gut überstanden hatte. Wahrscheinlich wurden diese verunstalteten Kinder in den Wäldern von den Nacktbären gefressen, denn ich hatte noch nie davon gehört, dass unsere Jäger ein solches totes Kind gefunden hätten. Kaninen gab es auch nicht in Hülle und Fülle, wovon hätten die Nacktbären sonst satt werden sollen? So war es wahrscheinlich ganz gut, dass es die verunstalteten Kinder als Nahrung für die Nacktbären gab, denn schließlich lebten wir wiederum vom Fleisch dieser Tiere. Dennoch blieb etwas Rätselhaftes, ein Erinnerungsfetzen in meinem Kopf aus der Zeit, als meine Mutter noch lebte und mein Vater gerade nicht mehr von der Jagd zurückgekommen war. Es ist schon lange her, aber . . . Ich lag damals auf meinem Feilager in der Hütte. Es war lange nach Sonnenuntergang, und ich hatte mich im Dunkeln zusammengekuschelt, nachdem ich lange den Gesängen gelauscht hatte, mit denen allabendlich die Frauen das Große Licht beschwören. Ich war wohl eingeschlafen, wurde dann aber durch ein Geräusch geweckt. Ich schreckte hoch und hörte im Halbschlaf zwei Stimmen, die über die Jagd sprachen und wie mühsam es manches Mal sei, einen Nacktbären zu erlegen. Die eine, tiefere Stimme meinte, an sich könnte man doch die Nichtnormalen gleich im Dorf »fertig machen« und müsste sie
nicht erst in die Wildnis jagen. So ganz verstanden hatte ich das bisher nie. Fest stand, dass wir bald ein ganz und gar normales Dorf sein würden, dessen harmonisches Miteinander nicht mehr durch Verunstaltete gestört würde. Doch solange der Hässliche Tom ein so guter Fährtenleser war, würde er wohl bei uns bleiben können; wir brauchten ihn. Denn er brachte mit schöner Regelmäßigkeit die Nacktbären von den Jagdzügen ins Dorf. Komisch war eigentlich nur, dass der Hässliche Tom selbst nie Fleisch von der heimgebrachten Beute aß, sondern sich mit anderem - Fladenbrot oder Brei - zufrieden gab. Kaninen dagegen briet er sich ab und an in seiner Hütte und aß sie mit Genuss, wie ich selbst hatte feststellen können. Auch etwas, das ich nicht verstand. Irgendwie war ich doch erleichtert, dass wir allmählich ein normales Dorf wurden; denn kamen einmal Bewohner anderer Ansiedlungen, dann spotteten sie über uns oder beschimpften uns gar. Wenn man mit dem Hässlichen Tom auch auskommen konnte, mehr als ihn liebte ich Mutter Tutu mit ihrem kleinen Kopf; und es überkam mich irgendwie angenehm, wenn mich die Rote Gela mit ihren drei Augen fest anblickte. Auch konnte ich mir ein Leben ohne den Lahmen Pitt nicht mehr vorstellen, denn es war immer lustig zu beobachten, wie er mit seinen drei Armen und drei Beinen und dazwischen fast gar nichts zum Bach kroch - >gehen< sagte er dazu -, um die Wäsche zu schlagen, wie Mutter Tutu ihm das aufgetragen hatte. Ich bedauerte nur, dass ich selbst wohl nie würde auf die Jagd gehen können, obwohl ich mich so danach sehnte, einmal einen Nacktbären zu erlegen. Doch ich musste aufpassen, dass ich nicht hinfiel oder einen Schlag auf den Hinterkopf verpasst bekam, wo mein Gehirn außen in einem Kästchen aus Rinde hing. Denn das würde mich töten, hatte mir einmal meine Mutter gesagt. Und die hatte mich sehr lieb gehabt. Von ihr stammte auch das Rindenkästchen, das kunstvoll geflochten war, wie die anderen mir erzählten, denn ich selbst konnte es ja nicht sehen.
Wahrscheinlich war es mein Los, mein Leben lang am Bach die Wäsche des Dorfes zu schlagen. Bis das Große Licht wiederkam und uns Kinder der Sonne erlöste - wie die Verheißung es versprach.
Ausklang
Er lag lang gestreckt auf dem nackten Boden, starrte in den Himmel und dachte an Barbara, seine tote Frau. Trotz der bereits tief am Horizont stehenden Sonne warf der verkohlte Stumpf der einstmals riesigen Eiche nur einen spärlichen Schatten gegen das Bunkerloch. Der Gluthauch der Katastrophe, dem auch Barbara zum Opfer gefallen war, hatte alles innerhalb weniger Sekunden abgesengt; ein Wunder, dass dieser schäbige Rest verbrannten Holzes stehen geblieben war. Milton Baker, seines Zeichens Fernhorcher in seinem EinMann-Bunker, etliche zig Meter unter der Oberfläche des nun verwüsteten Gebirges und mit der Aufgabe betraut, feindliche Funksprüche auf etwaige Angriffsabsichten abzuhören, war nun zwangsläufig arbeitslos. Angriff und Vergeltung hatten derart blitzartig stattgefunden, dass niemand eine Chance gehabt hatte. Milton wusste nicht einmal, wer das Inferno ausgelöst hatte. Nun war die Erde, der ganze Planet, verwüstet und ohne Leben. Nichts wuchs mehr außer den Dünen, die der Wind in der Ebene unterhalb des Gebirges aus Asche zusammentrug. In den Anfangstagen nach der Katastrophe hatte Milton versucht, Funksprüche gleich welcher Art aufzufangen. Er hatte den durch die Hitzewelle abgeschmolzenen Mast durch Ersatzteile notdürftig repariert. Doch vergeblich. Auch über seinen Radioempfänger war nichts als Rauschen hereingekommen. Und da sich auch niemand von der Armee sehen ließ, der er formell unterstellt war, hatte er schließlich resigniert. Er musste davon ausgehen, dass außer ihm wohl keiner überlebt hatte. Beinahe mit Wehmut dachte er an Barbara, seine Frau. Sie war das gewesen, was man »emanzipiert« nennt. Bei sich allerdings hatte Milton sie immer »pseudo-emanzipiert« genannt, denn trotz ihrer zur Schau getragenen Selbständigkeit und ihrer versteckten Herrschsucht hatte sie immer großen Wert darauf gelegt, dass ihr Mann sie umwarb und ihr Aufmerksamkeiten erwies, wie sie eher zu galanter Zeit üblich gewesen sein mochten. Vielleicht war es ganz gut, dass Barbara sich immer geweigert hatte, Kinder zu bekommen. Sie wären jetzt ebenso tot, zu Asche verbrannt.
Selbstverständlich hatte Barbara über seine Ängste vor einem globalen Krieg stets gelacht. Seine Tätigkeit erschien ihr sinnlos. Und sie hatte seine Diensteinteilung gehasst, die ihn dazu zwang, jeweils eine ganze Woche lang in die Einöde zu gehen, fernab von jeder Zivilisation, während sie allein zu Hause blieb. Dennoch: Was hätte Milton darum gegeben, wenn er Barbara bei sich gehabt hätte. Die Armee hatte in geradezu unglaublichen Mengen Nahrungsmittel in dem unterirdischen Bunker angehäuft. Auch zu zweit hätte es Jahre gedauert, ehe sie sich nach etwas anderem hätten umsehen müssen. Seufzend erhob er sich, blickte in die Runde, ohne etwas wahrzunehmen, was Aufmerksamkeit verdiente, und warf routinemäßig einen Blick auf den Geigerzähler. Wie immer gab es keine Anzeichen schädlicher Strahlung. Er öffnete die Außentür des Bunkerzugangs, die verzogen gewesen war und nun schief in den Angeln hing. Bedächtig knipste er nur eine der Lampen an, die den Gang ins Innere des Berges erhellten. Er musste Energie sparen, die Batterien gingen zur Neige. Der warme Schein der elektrischen Birne leuchtete weit in die beginnende Nacht hinaus. Sie hatte gehofft, in den Bergen noch einen Rest von Vegetation vorzufinden, der ihr Schutz und vielleicht auch ein wenig Nahrung bieten konnte. Doch nun, am Fuße des Gebirges, musste sie erkennen, dass all ihre Hoffnungen nichts als ein schöner Traum gewesen waren. Wie die Ebene, über die sie sich nun schon tagelang hinschleppte, war auch das Bergland nicht verschont geblieben. Ein Würgen stieg in ihr auf und ließ sie den Hunger vergessen, der sie seit Tagen quälte. Auch Wasser hatte sie keins mehr; ihre Kehle war ausgedörrt, die Zunge geschwollen und schwer wie Blei. Ihre Augen brannten, doch der geschundene Körper konnte keine Tränen mehr hervorbringen. Sie ließ sich zu Boden fallen, wo sie gerade gebückt stand. Die Asche stäubte von unten auf und bedeckte ihr schmutzverkrustetes Gesicht mit einer weiteren Schicht. Sie war bereit aufzugeben, nachdem sie sich so lange Zeit
gezwungen hatte, weiterzusuchen und zu hoffen. Doch nun konnte sie nicht mehr. Francine Duvallier war als Au-pair-Mädchen in die Staaten gekommen. Sie wollte ein wenig von der Welt sehen. Ihre Träume waren stets bescheidener Natur gewesen: Sie wollte irgendwann einen netten Mann heiraten und Kinder bekommen; ein Häuschen im Grünen ... und dann in Frieden alt werden und zusehen, wie aus den Kindern etwas Rechtes wurde. Nun, es hatte sich ausgeträumt! Sie kehrte der untergehenden Sonne den Rücken, die den Himmel in ein kitschig-grelles Rot tauchte, und sah - das Licht. Sie taumelte beim Aufstehen, zwang den Körper vorwärts und stolperte den Berg hinan. Auf das Licht zu, das mit einemmal erlosch. Doch sie irrte weiter durch die Dunkelheit, bis die Erschöpfung sie zu Boden zwang. So fand Milton sie, keine zehn Meter vom Ausstieg entfernt, am nächsten Morgen. Er ging umher wie betäubt und betrachtete sie immer wieder staunend. Er konnte es noch nicht fassen, dass er nicht mehr allein war. Francine. Ein schöner Name. Und ein schönes Mädchen von knapp achtzehn Jahren, was allerdings erst sichtbar wurde, nachdem sie sich gewaschen und fast den ganzen Tag über geschlafen hatte. Nun ging es schon wieder auf den Abend zu. Francine saß neben dem verkohlten Eichenstumpf und aß bedächtig, nachdem sie den ersten Hunger bereits am Morgen hatte stillen können. Er sah wieder zu ihr hinüber, voll ungläubigen Staunens über die Jugend und Lebenskraft, die von ihr ausging. Sie bemerkte seinen Blick und erwiderte ihn etwas verlegen, aber glücklich. Milton hatte bereits gegessen; ihn hielt es nicht auf seinem Platz. Die Nähe des Mädchens machte ihn unruhig; er wollte nichts überstürzen. Eine lange entbehrte Zärtlichkeit
füllte ihn ganz und gar aus. Er sah, dass sie immer noch erschöpft und müde war, und ließ sich neben ihr nieder. »Du kannst dich an mich lehnen«, sagte er einladend. »Ich sitze gern abends noch eine Weile hier und sehe dem Sonnenuntergang zu. Wenn du einschläfst, trage ich dich hinunter.« Sie kuschelte sich in seinen Arm, legte den Kopf an seine Schulter und spielte mit den Fingern in seinem wochenalten Bart. »Du siehst aus wie Rübezahl«, sagte sie zärtlich. »Oder wie ein Teddybär.« Er starrte gegen den wolkenlosen Himmel, war glücklich und verlegen zugleich und überlegte, ob es nicht vielleicht besser sei, den Bart abzurasieren. Ihre Haut duftete, und er vergrub sein Gesicht in ihrem Haar. Sie rührte sich nicht. Doch als er zu dem Schluss gekommen war, sie sei eingeschlafen, flüsterte sie: »Milton, ich möchte Kinder von dir haben, damit wir nie mehr allein sein müssen. Versprichst du mir das?« Für einen Moment stockte ihm der Atem, doch er beherrschte sich und flüsterte ebenso leise: »Aber natürlich, mein Liebes.« Und dachte: Nun, Barbara, auch das verdanke ich dir. Dein Wille war immer stärker als der meine. Kinder wolltest du keine, die Pille auch nicht. Und zu jenem »kleinen Eingriff«, wie der Arzt es nannte, warst du auch nicht bereit. Nun scheitert die Menschheit daran, dass ich deinem Drängen nachgegeben habe und - nicht mehr zeugungsfähig bin.
Nachbemerkung
Für die moderne Science Fiction gilt, was Isaac Asimov so ausgedrückt hat: »Die Science Fiction hat nicht die Funktion, die Zukunft vorauszusagen, sondern alternative Zukunftsbilder aller Wahrscheinlichkeitsgrade darzustellen, von hundert bis null, und dies möglichst komplex.« Gerade in unserer Zeit, da sich die SF - zumindest in ihren wirklich ernstzunehmenden Werken - anschickt, auf der Leiter der literarischen Qualität wie (damit verbunden) der literarischen Anerkennung immer wieder einmal eine oder gar mehrere Sprossen nach oben zu klettern, ist es ungemein wichtig, sich über solche Einordnungen Gedanken zu machen. Ebenso dringend freilich, wie über die Funktion der SF nachzudenken, ist es, sich vor Augen zu halten, dass die beste Idee und die schlüssigste Extrapolation nichts wert sind, zumindest die SF im Gesamtzusammenhang der Literatur nicht weiterbringen, wenn die literarische Aus- und Aufarbeitung nicht stimmen. Denn hier klafft es in der Tat oft erschreckend zwischen Anspruch und tatsächlich Gebotenem. In diese Überlegungen gehört meiner Meinung nach auch, inwieweit eine Idee "trägt«, in welchem Rahmen sie sinnvoller Weise aufgearbeitet werden kann. Wer viele SF-Romane liest, wird nämlich immer wieder zu dem betrüblichen Schluss kommen (wobei reines Abenteuer hier einmal ausgenommen sei), dass viele Ideen, die eigentlich nur für eine kürzere oder längere Erzählung Stoff hergeben, über Gebühr zu einem Roman zerdehnt werden, was weder den Lesegenuss verstärkt, sondern im Gegenteil stark mindert, da der Leser zuweilen arg langatmige Passagen in Kauf nehmen muss, noch zu mehr literarischer Qualität beiträgt. Ich meine, dass all jene recht haben, die die kurze Form der Erzählung als die eigentliche und beste Ausdrucksform der SF ansehen. Aus dieser Überzeugung heraus schreibe ich SFKurzgeschichten und -erzählungen, wenn auch manche der darin behandelten Ideen (wie mir Freunde immer wieder versichern, die mich zum Romanschreiben animieren wollen) durchaus ein ganzes Buch füllen könnten. Nach meiner eigenen Einschtzung
habe ich freilich eine solche umfassende Idee noch nicht aufgetan, die mich zum Roman führen könnte. Warum bleibt es bisher bei den kurzen Stücken, von denen hier eine Auswahl aus der Produktion von sieben Jahren zum ersten Mal gesammelt vorliegt. Zur Science Fiction kam ich als Schüler: Im Jahre 1954 ging ich ins Freiburger Bertold-Gymnasium; an einem Kiosk in der Nähe der Jonhanniskirche entdeckte ich die ersten Ausgaben des »Utopia-Großbandes«. Seitdem hat mich die SF nicht mehr losgelassen. Während der gesamten Schulzeit las ich wie ein Besessener, bei weitem nicht nur SF, jedoch hatte diese Genre immer einen entscheidenden Platz, bei meiner Lektüre. In den letzten Schuljahren begann ich mich dann als Autor zu betätigen, schrieb mal hier, mal da was, SF war noch nicht dabei. Und schließlich schrieb ich zunächst einmal über SF - da gab es einen offenen Markt, denn als mein erster Artikel über SF erschien (das war im Jahre 1961 und ich war gerade beim »Bund»), da war Science Fiction fürs breite Publikum noch exotischer als die seltenste Orchideenblüte. Damals hatten die meisten wohl noch nicht einmal von SF gehört, geschweige denn etwas gelesen. Und von denjenigen, die den Begriff kannten, hatten die meisten ganz falsche Vorstellungen darüber, freilich genährt durch allzu schlimme Produkte, die unter dem Siegel »SF« auf den Markt geworfen wurden, So hatte ich also, wie man so schön sagt, eine Marktlücke entdeckt, arbeitete stetig über SF, ohne freilich allzu viel zu veröffentlichen - so offen war der Markt damals eben doch noch nicht! Inzwischen war ich mitten im Studium, hatte anderes zu tun, doch die SF ließ mich nicht los. Ich schrieb über alle möglichen Themen, rein journalistische Arbeiten, verfasste Kindermärchen und übersetzte auch einige Krimis aus dem Französischen. Und als ich 1965/66 mit einem Stipendium in Paris studieren konnte, war dies willkommene Gelegenheit, mich ausführlicher mit der Entwicklung der SF und der phantastischen Literatur im allgemeinen bei unseren Nachbarn auf der anderen Seite des Rheins zu beschäftigen. In jener Pariser Zeit schrieb ich auch meine ersten kleinen SF-
Stories, für die ich zunächst keinen Abnehmer fand, die aber dann etliche Zeit später als Amateurstories in einer Heftserie abgedruckt wurden - Fingerübungen, die heute kaum noch Bestand haben, damals aber einen wichtigen Schritt vorwärts bedeuteten. Erst Mitte der siebziger Jahre begann ich verstärkt, SF zu »betreiben«. Ich hatte in der französischen SF genug Bemerkenswertes entdeckt, das den Abdruck auf Deutsch lohnte; der Heyne Verlag war bereit, das Experiment (das inzwischen als gelungen bezeichnet werden kann) zu wagen. Und auch auf deutscher Seite gab es mittlerweile genügend Erzählungen von einigem Niveau, so dass ich Ausschau hielt nach Verlagen im Ausland, die an deutscher SF Interesse haben könnten. Schließlich bin ich in Spanien und Frankreich fündig geworden. Fast zwangsläufig kam ich damals wieder zum Schreiben eigener Science Fiction. Inzwischen habe ich ca. 50 kürzere und längere Erzählungen geschrieben, von denen die meisten zur SF bzw. zur Phantastik ganz allgemein zählen. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass es gerade für den SFAutor ungemein wichtig ist, neben der SF etwas anderes zu schreiben, sich mit anderen Themengebieten zu beschäftigen, um den Geist zu lüften. Allzu schnell sonst sitzt der Autor im geistigen Getto; da ist nur schwer wieder herauszufinden. Darum pflege ich meine Studiengebiete (Sinologie, Japanologie. Politische Wissenschaften), so gut das zeitlich eben geht, und habe inzwischen fünf Buchveröffentlichungen zur Kultur- und Geistesgeschichte Chinas vorzuweisen. Ich glaube, dass dies ein wichtiger Rat ist, den gerade der junge Autor beherzigen sollte. Und die junge deutsche SF - sie liegt mir ja ganz besonders am Herzen; verschiedene Anthologien beweisen dies. Über Freud und Leid des Anthologienmachens habe ich bereits anderweitig ausführlich geschrieben, das muss hier nicht wiederholt werden. Dass die deutsche Science Fiction sich in den letzten Jahren doch ganz erstaunlich gemausert hat, das darf uns alle freuen, die wir - als Leser oder Macher - daran teilhaben. Wenn wir sie
weiter pflegen wie bisher, ist sie steigerungsfähig. Davon bin ich überzeugt.
durchaus Jörg Weigand
noch
Von Jörg Weigand herausgegebene Anthologien: (Stand Ende 1982) DIE STIMME DES WOLFS. Science-Fiction-Erzählungen aus Frankreich. 128 S., Heyne-Tb. 3482, München 1976. I.O MEJOR DE LA CIENCIA FICCION ALEMANA. 319 S., Libro Amigo, 380. Editorial Bruguera, Barcelona 1976. DIE TRIVIALE PHANTASIE. Beiträge zur Verwertbarkeit von Science Fiction. 160 S., Asgard Verlag, Bonn-Bad Godesberg 1976. VORBILDLICHES MORGEN. Experten stellen ausgewählte SF-Stories vor. 125 S., Asgard Verlag, Sankt Augustin 1978. DEMAIN L'ALLEMAGNE... 14 recits de Science-fiction allemande. 271 S., Fiction Special 29, Nouvelles Editions OPTA, Paris 1978. QUASAR EINS. Science Fiction Stories aus Deutschland. 191 S., Bastei-Lübbe Science Fiction Bestseller Tb. 22013, Bergisch Gladbach 1979. SIE SIND TRÄUME. Science Fiction Erzählungen aus Frankreich. 128 S., Heyne Tb. 3690, München 1980. DEMAIN L'ALLEMAGNE..., tome II. 20 recits de jeunes auteurs allemands de science-fiction. 271 S., Fiction Special 31, Nouvelles Editions OPTA, Paris 1980. DIE ANDERE SEITE DER ZUKUNFT. (Deutsche SF für Jugendliche). 184 S., Hermann Schaffstein Verlag, Dortmund 1980. VORGRIFF AUF MORGEN. Science Fiction-Stories aus der Bundesrepublik Deutschland. 165 S., dtv phantastica 1873, München 1981. GEFANGENE DES ALLS und andere Science Fiction Stories. (Jugend-SF), 137 S., Kibu-Verlag, Menden/Sauerland 1982. DIE TRÄUME DES SATURN. (Deutsche SF für Jugendliche). 205 S., Arena-Verlag, Würzburg 1982.
DAS LÄCHELN AM ABGRUND. Phantastische Geschichten aus Frankreich 239 S., Bastei Lübbe Phantastische Literatur Tb. 72020, Bergisch Gladbach 1982.