Angel : Jäger der Finsternis. - Köln : vgs (ProSieben-Edition) Der Preis der Unsterblichkeit / Jeff Mariotte. Aus dem A...
13 downloads
739 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Angel : Jäger der Finsternis. - Köln : vgs (ProSieben-Edition) Der Preis der Unsterblichkeit / Jeff Mariotte. Aus dem Amerikan. von Antje Görnig. - 2001 ISBN 3-8025-2784-4
Das Buch »Angel -Jäger der Finsternis. Der Todesgott« entstand nach der gleichnamigen Fernsehserie (Orig.: Angel) von Joss Whedon und David Greenwalt, ausgestrahlt bei ProSieben. © des ProSieben-Titel-Logos mit freundlicher Genehmigung der ProSieben Televisions GmbH Erstveröffentlichung bei Pocket Books, New York 1999. Titel der amerikanischen Originalausgabe: Angel. Not forgotten.
™ und © 2001 by Twentieth Century Fox Film Corporation. All Rights Reserved. © der deutschsprachigen Ausgabe: Egmont vgs Verlagsgesellschaft, Köln 2001 Alle Rechte vorbehalten. Lektorat: Gaja Busch Produktion: Wolfgang Arntz Umschlaggestaltung: Sens, Köln Titelfoto: © Twentieth Century Fox Film Corporation 2000 Satz: Kalle Giese, Overath Druck: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3-8025-2784-4 Besuchen Sie unsere Homepage im WWW: www.vgs.de
Prolog
In der Nähe von Nias, Indonesien, 1863 Die Toten jagten sie. Sie war verflucht, und die Verfluchten waren ihre Beute. Im Wind kauten sie an ihren Haaren, im Regen nagten sie an ihren Knochen. Die Toten waren immer hungrig. Während sie durch den Dschungel kroch, schlitzten sie ihr die Haut mit ihren Reißzähnen auf und tranken ihr Blut mit den Enden ihrer knochigen Fingerspitzen. Die Geister labten sich an ihrem lebenden Fleisch. Doch es waren die Organe, die die köstlichen Schätze darstellten. Am begehrtesten war ihr Herz. Die Knochen ihrer Arme und Beine brachen knackend, während die Toten sie verschlangen, um an die Delikatesse zu gelangen. Die Trommeln waren die Herzschläge der Toten, die immer schneller wirbelten, je mehr sie sie umzingelten. Je näher sie dem Tod kam, desto lauter spielten die Trommeln. Bald würden sich die Schläge dem Rhythmus ihres Herzens anpassen und ihn verändern. Sie würden einen Funken erzeugen wie zwei Stöcke, die aneinander gerieben wurden. Dann würde ihr Herz Feuer fangen und sie von innen her verbrennen, bis nichts als ein Haufen Asche zurückblieb. Sobald ihr Körper nur noch eine bloße Erinnerung war, würde sich ein dämonischer jin ihrer Seele bemächtigen und sie verschlingen. Sie würde der Vergessenheit anheim fallen und sich nicht mehr an ihr Leben oder ihr Ich erinnern können. Nichts von ihr würde auf dieser Welt fortbestehen. Sie würde einfach verschwinden, für immer. Nur Latura, der Gott der Toten, konnte sie jetzt noch vor diesem Schicksal bewahren, denn er beherrschte die Dämonen. Wenn er ihnen befahl, die verfluchte Frau zu verschonen, würden sie es tun. Und er würde sie erretten, weil nur sie allein die Worte kannte, die ihm Zugang zur Welt der Menschen verschaffen konnten. Latura hauste in der Unterwelt, nur in Gesellschaft von Dämonen und Toten. Seine Welt kam dem Vergessen so nahe, wie es überhaupt nur möglich war. Sie war der Stoff, aus dem die Hölle war. Sie war die Hölle selbst. 3
Laturas Zwillingsbruder Lowalangri war der Gott des Himmels, der Herrscher des Firmaments, der die menschliche Rasse erschaffen hatte. Und während die Menschen sich veränderten und Abenteuer erlebten, blieben die Toten stets die Gleichen. Sie waren statisch. Latura sehnte sich danach, aus der Unterwelt aufzusteigen und unter den Lebenden zu wandeln. Dafür brauchte er jemanden, der unzählige Opfer darbringen und die Zahl der Toten mehren würde, damit er für eine Weile aufhören konnte, ihre leblosen Körper einzusammeln. Jemand, der lebte, der seinen Namen sprechen und unheilige Riten und Rituale durchführen würde, um die magische Energie zu konzentrieren und ihm die Kraft für die Reise zu geben. Er musste außerdem ein Gefäß haben – einen lebenden Körper, in dem er wohnen konnte. Und damit dieser Körper nicht in Flammen aufging und Latura zurück in die Tiefe stürzte, musste er entsprechend vorbereitet werden. Die Dienerin wusste jetzt, dass ihr Geliebter dieses Schicksal für sie geplant hatte, und sein Verrat traf sie bis ins Mark. Kaum hatte er erkannt, dass sie Bescheid wusste, hatte er ihr seine Liebe gestanden und ihr erklärt, dass er ohne ihr Opfer keinen Erfolg haben würde. Aber sie wusste zu diesem Zeitpunkt, dass auch das eine Lüge war. Er hatte seinen eigenen Tod vorhergesehen, und er musste jemanden zurücklassen, der sein Werk fortsetzen würde. Tat er dies nicht, würde Latura seine Seele an die Toten verfüttern. Und so wurde sie, unter Androhung derselben Strafe, Laturas neue Dienerin. Schnell musste sie die Riten und Beschwörungsformeln lernen, bevor ihr Geliebter entdeckt und getötet wurde – oder Latura in seiner Enttäuschung und seinem Zorn ihrer beider Seelen an die jin verfüttern und sie für immer zu Staub zermahlen würde. Doch jetzt war ihr Geliebter tot, und sie allein kannte die Worte, die Latura befreien konnten, weshalb ihr die »Ehre« erspart blieb, ihm als Gefäß zu dienen. Sie war in Sicherheit. Solange die Geheimnisse Laturas nicht niedergeschrieben wurden. Da die Dienerin nicht schreiben konnte, hatte sie alles auswendig gelernt. Und dieses Wissen würde sie jetzt am Leben erhalten, sofern nicht jemand versuchte, ihr unter Folter das verbotene Wissen zu entlocken. Wenn sie gewusst hätte, was es hieß, diesem Gott zu dienen, hätte sie niemals die Reise angetreten, die sie jetzt so bitter bereute. Ihre einzige Hoffnung war, den Seelenfressern ins Jenseits zu entkommen und als Phantom zu existieren. Im Elend zwar, aber zu existieren. 4
»Latura«, flüsterte sie und ließ Worte folgen, die für sie keinen Sinn ergaben und zu keiner Sprache dieser Zeit und dieser Welt gehörten. Aber sie beschwörten ihn herauf, wenn auch nur als unsichtbare Macht. »Latura.« Blitze zuckten, Wind heulte durch den Dschungel. Vögel schwärmten kreischend aus, als die Bäume schwankten und umstürzten. »Latura.« Im dampfenden Dschungel wurde es kalt, so unglaublich dies auch war, und ein fauliger Gestank stieg wie Nebel vom Boden auf. Panik breitete sich unter den Tieren des Urwalds aus. Die Trommeln verstummten. Sie drückte ihr Gesicht gegen den Boden und schloss die Augen. Die Erde bebte und wölbte sich auf; Bäume wurden entwurzelt und uralte Steine hochgeschleudert, als der Gott der Toten über die Erde schritt. Feuer flackerten auf und formten einen Ring um sie. Die Welt ging in Flammen auf. Sogar der feuchte Dschungel geriet in Brand. Sie spürte die Hitze, roch den Rauch, aber sie bewegte sich nicht. Der gefürchtete Herr der Schatten hob sie hoch und trug sie auf seinen Schultern durch das Gewirr der Ranken und das üppige, urwüchsige Unterholz. Dampf stieg von dem dichten Bambus auf. Tiere kreischten. Einige von ihnen starben. Schlangen glitten davon. Krieger in schwarzen Jacken und mit Federkronen durchbrachen mit wilden Schreien das Dickicht. Ihre Speere teilten die Bambusstangen, während sie sich ihr näherten. Sie war im Reich der Nias, einem Volk, das aus Kopfjägern und Kannibalen bestand. Latura hatte ihr befohlen, zu ihnen zu gehen, und versprochen, dass sie ihr nicht den Kopf abschlagen würden. Sie zitterte heftig. Als seine Badui – Heilige und Ausgestoßene zugleich – war ihr jeder Kontakt mit der Außenwelt verboten. Die Badui durften ihr Haar nicht schneiden, keine vierbeinigen Tiere essen, kein Geld berühren. Sie durften weder ehebrechen noch stehlen. Um Latura zufrieden zu stellen, hatte sie viele dieser Dinge getan. Sie, die sich selbst als die Dienerin bezeichnete, weil ihr Name zu einem anderen Leben gehörte, hatte ihr Haar geschnitten, sodass es ihr nur noch bis zu den Schulterblättern reichte. Sie hatte heimlich einen verheirateten Mann geliebt, den Baduihäuptling, der Latura verehrte. Ihr Geliebter war leidenschaftlich, stattlich und Furcht erregend gewesen und hatte Latura in seinem und in ihrem Namen Opfer dargebracht, aufgrund dessen sie zu Laturas treuen Dienern geworden waren. 5
Bis zu diesem Tag wusste sie nicht, wie er die Verbindung zu Latura aufgenommen hatte, und nun war dieses Geheimnis mit ihm gestorben. Kurz vor seinem Tod hatte er jedoch sein Blut mit ihrem gemischt und ihr so die Fähigkeit gegeben, mit Latura Zwiesprache zu halten. Sollte es ihr nicht gelingen, den Gott in die Welt zu bringen, war es ihre Pflicht, einen neuen Diener zu erschaffen, bevor sie starb. Latura kam zu ihr in Gestalt eines Wirbelwinds aus Feuer und verriet ihr viele Geheimnisse über das Leben und den Tod. Er lehrte sie Beschwörungen und Zaubertränke. Er konnte Krankheiten heilen und den körperlichen Zerfall aufhalten, und er versprach, ihr die magischen Worte beizubringen, die sie auf ewig vor dem Tod verschonen würden. Wenn sie ihm nur treu diente. Aber in den drei verbotenen Dörfern der Badui war es unmöglich, Geheimnisse zu bewahren. Latura, der grausame und böse Gott der Toten, war ein verbotener Gott. Aufgrund dessen hatte der Geliebte der Dienerin sie vor seiner Ermordung durch seine eigenen Leute angefleht zu fliehen, solange sie noch Gelegenheit dazu hatte. Und als die Baduidörfler sie jagten, beschützte Latura sie als Gegenleistung für ihren Schwur, zu den Nias zu gehen. Zuerst rief er die Dunkelheit, und der Himmel füllte sich mit tief hängenden Wolken. Dann rief er die Hitze, und der Dschungel zischte und dampfte. Die Dorfbewohner verfolgten sie weiter, woraufhin Latura eine Horde Dämonen schickte. Versteckt im Dschungel beobachtete sie, wie die grünhäutigen Ungeheuer ihren Verfolgern – und vielen ihrer Verwandten – die Köpfe abschlugen und ihnen das Herz aus der Brust rissen. Das waren die Glücklichen unter ihnen. Für die anderen war der Tod qualvoller. Ihre Herzen fingen Feuer und verbrannten in ihrer Brust, sodass auch ihr Blut in Flammen aufging und sich ihr Körper in Asche verwandelte. Bei diesem Anblick zitterte die Dienerin. Sie und ihr Geliebter hatten Latura ihre Seele geschenkt, und sie war für immer sein. Sie würde ihm bis zum Ende aller Tage dienen, obwohl ihr Dorf sie verflucht hatte, denn ihr Treueschwur war der stärkere Fluch. Jetzt, als die Kopfjäger sie einkreisten, weinte sie so heftig, dass Blut aus ihren Augen floss. Unter Geheul feuerten sich die Krieger gegenseitig an, während sie mit erhobenen Speeren auf sie zustürmten. Sie betete zu den Göttern, die sie längst verstoßen hatten.
6
Venice Beach, heute »Niemand lebt ewig.« Danny Elfman, Oingo Boingo In der hellen Meeressonne glitt Meg Taruma auf ihren Inline-Skates dahin und hörte sich die Musik von Oingo Boingo an. Die kalifornische Gruppe hatte sich vor einem Jahrzehnt aufgelöst, und ihr Kopf, Danny Elfman, war seitdem ein berühmter Filmmusikkomponist. Oingo Boingos makabrer Sinn für Humor und ihre mitreißenden Rhythmen waren zeitlos, und sie bedauerte, dass sie sie nie live gesehen hatte. Seit sechs Monaten führte Meg ein neues Leben. Sie wohnte jetzt in einem prächtigen viktorianischen Herrenhaus, von dem es hieß, dass das große, mit Schindeln gedeckte Gebäude mit seinen Erkerfenstern und eindrucksvollen Ecktürmen einst einem Zauberer gehört habe und später von seinen Nachlassverwaltern in ein Apartmenthaus umgewandelt worden sei. Nachts knarrten die Treppen, und der Wind pfiff durch die Kamine, und obwohl es unheimlich war, machte es Spaß, dort zu wohnen. Erinnert ein wenig an Jusef, dachte Meg leise lachend. Venice Beach selbst war so, wie sich jedes indonesische Kind Südkalifornien in seinen Träumen vorstellte: hip, verrückt, sexy. Meg hatte sich sofort zu Hause gefühlt, als Jusef sie hierher gebracht hatte. Sie wusste einfach, dass dieser Ort für sie bestimmt war. Und das Apartment in dem viktorianischen Gebäude – »Casombra« mit Namen – war die einzige Wohnung, die sie sich angesehen hatten, bevor er einen Einjahresmietvertrag für sie abgeschlossen hatte. Seit drei Monaten studierte sie Gesang und Tanz, während er sie als Leadsängerin seiner neuen Band aufbaute. In Asien war Jusef Rais ein berühmter Rockstar. Aber er wollte mehr. Er wollte Amerika erobern. Um das zu erreichen, hatte er die Band Bahasa Fusion gegründet, und Meg glaubte fest daran, dass er die asiatische Antwort auf Ricky Martin sein würde. Mit ihr an seiner Seite. Jusef war der einzige Sohn einer unvorstellbar reichen indonesischen Familie, den Raises. Sein Vater, Bang, war eine Kultfigur in Indonesien und wurde von den Menschen genauso verehrt wie gefürchtet. Tausende wollten, dass er das Land führte, egal, ob als Präsident, als Premierminister oder als Diktator. Jusef fürchtete seinen Vater zutiefst, was Meg nur zu gut verstand. Sie würde alles tun, um nicht in der Nähe von Bang Rais sein zu müssen. 7
Pak Rais jagte ihr eine Heidenangst ein. Er beobachtete sie ständig und studierte sie ohne Unterlass. Jusef versuchte dies mit einem Lachen und der Bemerkung abzutun, dass sie eine schöne Frau sei und sie dem alten Mann sein Interesse schwerlich übel nehmen könne. Sie hatte Jusef nie erzählt, dass sein Vater sie an all die Männer erinnerte, die nach dem Tod ihrer Familie gekommen und gegangen waren, denn sie war sich nicht sicher, ob er das verstehen würde. Als Indonesier wussten sie beide, dass die Behandlung, die sie erfahren hatte, eine Folge des von ihr eingeschlagenen Weges gewesen war. Die Frau, die von einem Mann erwartete, dass er sich gegen seine Natur verhielt, musste sich über Probleme schließlich nicht wundern. Aber all das warf bloß einen kleinen Schatten auf einen ansonsten sehr sonnigen Tag. Zunächst hatte Jusef Angst gehabt, sein Vater würde seine Pläne durchkreuzen. Schließlich mussten sich in Indonesien Söhne auch wie Söhne verhalten. Aber Bang hatte nachgegeben und sich entschieden, Jusefs Vetter Slamet zum nächsten Rais zu machen, der all ihre geschäftlichen Interessen vertrat. Jusef zog nach Los Angeles, wo die Familie ein Anwesen besaß, und machte sich daran, in Amerika ein Star zu werden. Slamet und Bang kamen häufig mit einem großen Gefolge zu Besuch und blieben oft monatelang. Laut Jusef planten Bangs treue Anhänger eine Übernahme der Regierung, doch das war etwas, mit dem sich Meg nicht beschäftigte. Auf Jusefs Anweisung hin konzentrierte sie sich auf ihre Musik, ging regelmäßig ins Fitnessstudio, nahm Tanzunterricht und skatete, so oft sie konnte. Dadurch hatte sie einen schlanken, athletischen Körper bekommen, den sie mit der passenden Kleidung unterstrich. Mit ihrer abgeschnittenen Jeans und dem knappen, verführerischen Top musste sie grinsen, als ein paar der Bodybuilder, die auf dem glitzernden Sand trainierten, ihr nachpfiffen. Sie hatte ihr unglaublich langes, glattes schwarzes Haar am Hinterkopf hochgesteckt, und es löste sich aus der Spange, als sie schneller wurde. Sie schüttelte ihre Haare, und die Testosteron-Brigade applaudierte. Mit der rechten Hand umklammerte sie ihre McDonald's-Tüte. Sie wusste, dass sie zu spät zur Probe kam. Aber Jusef würde ihr verzeihen. Schließlich war er derjenige, der sie die ganze Nacht wach gehalten hatte, während sie einfach nur so dahingeschmolzen war. Apropos dahinschmelzen ... Sie lachte leise, fühlte sich gut, fühlte sich jung, fühlte sich endlich sicher. Sie würde nie wieder Mary Margaret Taruma sein wie damals auf 8
den Killing Fields, als alles Gute auf der Welt in Stücke gerissen worden war. Sie zuckte wie unter einem körperlichen Schmerz zusammen, als die Erinnerungen sie zu überwältigen drohten, doch sie verdrängte sie. Seit fünf Jahren arbeitete sie schon daran, sie auszulöschen, und dank Jusef waren sie fast verblasst. Sie skatete weiter, während sie Jusefs neue Komposition vor sich hin pfiff. Der Song hieß »Raising the Dead«, und sie hoffte, dass er ein Hit werden würde, der ihnen einen Platz im Mainstream sicherte. Los Angeles stand total auf Ethnomusik, und ihre Band, Bahasa Fusion, setzte sich hauptsächlich aus Indonesiern zusammen. Wenn über die Hälfte der in L. A. geborenen Kids Nichtweiße waren, dann gab es eine Menge Raum für Sachen, die das sprengten, was Jusef »die Weißbrotgrenze« nannte. Jusef war groß für einen Indonesier, mit stacheligen schwarzen Haaren und diesen großen Augen, die bis zum Grund der Seele zu blicken schienen, wenn sie einen ansahen. Sein fein geschnittenes Gesicht und das breite, strahlende Lächeln genügten, um sie dazu zu bringen, alles zu tun, was er wollte. Oh, Meg, du bist wirklich in einer schlimmen Lage, sagte sie sich. Aber es war überhaupt nichts Schlimmes daran. Okay, hin und wieder gab es ein paar Schatten. Aber damit kam sie zurecht. »He, Baby, was geht ab?«, rief jemand. Es war der krummbeinige alte Mann, der in einem leer stehenden Haus ein paar Blocks von ihrem entfernt lebte. In einem grellorangenen Trainingsanzug und einem altmodischen Hut mit einer langen Feder stand er am Maschendrahtzaun, wo er immer auf Meg wartete. Sie brachte ihm jeden Morgen einen Egg McMuffin. Er erzählte allen, dass er mit Bö Diddley gesungen hätte, aber das stimmte nicht. »Guten Morgen«, sagte sie, als sie abbremste. »Tingtang wallawalla bingbang«, erwiderte er. »Hab ich's richtig ausgesprochen?« Sie kicherte. Er hatte entschieden, dass der unsinnige Satz »Guten Morgen« auf Indonesisch bedeutete. »Fast perfekt«, versicherte sie ihm. Sie reichte ihm die McDonald's-Tüte mit dem Egg McMuffin und dem Becher heißen Kaffee. Hungrig blickte er hinein. Soweit sie wusste, war dies alles, was er jeden Tag aß. »Du bist ein gutes Mädchen«, sagte er und nahm das Sandwich heraus. »Muchas gracias, amiga linglang.« 9
»Gern geschehen.« Sie lächelte ihn an. »Passen Sie gut auf sich auf.« »Ich kannte Bö Diddley«, erklärte er. »Ja, ich weiß.« »Er hat mir immer zwei Egg McMuffins gebracht«, fügte er hinzu. »Was halten Sie davon, wenn ich Ihnen morgen zwei bringe?« »Inky dinky parlez-vous.« Glücklich biss er in das Sandwich. »Ramalama ding dong.« »Bis später.« »Chattanooga choo-choo. Do-wah-diddy-diddy.« Sie winkte ihm zum Abschied zu und skatete davon. Ein paar Blocks weiter würde sie Olive LaSimone treffen, eine ältere Dame, die behauptete, einst ein Stummfilmstar gewesen zu sein. »So berühmt wie Mary Pickford«, pflegte sie zu sagen, während sie die Geranien vor ihrem Apartment goss. Ihr gefärbtes Haar hatte denselben Orangeton wie die Blumen. Da es keinerlei Aufzeichnungen über eine Schauspielerin namens Olive LaSimone gab, erklärte sie immer: »Pickford ließ alles über mich löschen. Sie war eifersüchtig.« Jusef fand die arme alte Olive komisch. »Sie ist wie die alten Ägypter«, hatte er Meg erst gestern Nacht erklärt. »Sie denkt, dass sie ewig lebt, wenn man sich an sie erinnert. Alle Menschen in Los Angeles glauben das, und deshalb wollen auch alle Filmstars werden. Einmal auf Zelluloid gebannt, werden sie niemals sterben.« Meg hatte einwerfen wollen, dass dies in gewisser Hinsicht auch stimmte, aber es hätte zu sehr nach Widerspruch geklungen. Und das mochte Jusef nicht. Das Meer war blau, die Luft salzig. Sie war jung. Es gab keinen Grund, Jusef zu verärgern oder den Frieden zwischen ihnen zu stören. Er brauste leicht auf. Ihre Skates waren schnittig und schön; sie flog fast über den Boden wie eine geflügelte Göttin. An den Müllcontainern, eine ihrer Landmarken, hüpfte sie mit einem eleganten Sprung vom Bürgersteig. Dann glitt sie über die Straße, war mit einem Satz auf dem anderen Bürgersteig und bog um die Ecke. Das Apartmenthaus, in dem Olive wohnte, lag direkt... Meg starrte auf den rauchenden Schutthaufen, wo das Gebäude gestanden hatte. Und die verkohlte Leiche auf dem Bürgersteig. Dann schrie sie. Eine blonde Frau in einem khakifarbenen Regenmantel, die müde und zerknittert wirkte, ließ ihre Dienstmarke aufblitzen und sagte: »Gehen 10
Sie bitte weiter.« Aber Meg war wie gelähmt. Sie starrte weiter auf die Leiche, konnte den Blick nicht abwenden. Olives Körper war zu einer schwarzen Masse zusammengeschrumpft. Meg hätte nicht einmal gewusst, dass es Olive war, wenn nicht die Strähne grellorangenen Haares an dem Schädel und die Fetzen von Olives buntem Hauskittel an dem verkohlten Körper geklebt hätten. Es ist nicht passiert, dachte sie, als alte Erinnerungen in ihr hochstiegen. Es ist nie passiert. Sie zitterte plötzlich. Die Polizistin sah sie forschend an und sagte: »Kannten Sie diese Frau? Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?« Unter der geschäftigen morgendlichen Stadt Los Angeles schreckte Angel aus dem Schlaf hoch. Irgendetwas stimmt nicht, dachte er.
11
Erstes Kapitel
Los Angeles, zwei Wochen später Flammen schlugen durch den Boden des verdreckten Apartments in East L. A., als Angel den riesigen Dämon mit Flügeln packte, der sich um seine Brust und seinen Hals gewickelt hatte. Die Monsterschlange zischte und wand sich und versuchte mit aller Kraft, das Leben aus seinem Opfer förmlich hinauszupressen. Was ein völlig sinnloses Unterfangen war, denn Angel war ja bereits tot. Genau genommen, jedenfalls. Die weiß glühende Kreatur verstärkte ihren Druck und brannte sich in Angels Schulter und Oberkörper. Gut, dass er nicht atmen musste. Aber schlecht, dass er den Schmerz spürte. Schlimmer noch, ich habe keine Marshmellows mitgenommen. Das Apartment glich einem Inferno. Stapel aus Lotterielosen, Wettscheinen und ausländischen Tageszeitungen gingen in Flammen auf, als die abgewetzten Möbel in der Hitze praktisch explodierten. Angel war entsetzt. So was muten die Ausbeuterbetriebe also ihren Arbeitern als Wohnung zu. Dabei sind das sogar noch die guten Unterkünfte. Jene, die man bekommt, wenn man seine eigenen Leute ausbeutet. Illegale Arbeiter hausten unter schlimmeren Bedingungen als der durchschnittliche amerikanische Häftling. In Hochsicherheitstrakten. In Haftanstalten, wo die Gefangenen rebellierten und Aufseher töteten, weil sie es satt hatten, wie Tiere zu leben. Bei jedem Schlag der großen schwarzen, ledrigen Schwingen der Schlange züngelten die Flammen höher. Eine Lampe mit rotem Seidenschirm fing Feuer und brannte wie eine Fackel. Horden panikerfüllter Ratten huschten durch den Abfall. Einer der Nager verwandelte sich in einen zuckenden Flammenball, fiel dann durch den aufgeplatzten Boden und verschwand. Auf einer Kiste mit versengten Nähmaschinenteilen lagen ein Fächer, der mit einem grüngesichtigen Dämonen bemalt war, und eine verschrumpelte Styroporschüssel von Rice King. Beides ging in Flammen auf. 12
Während Angel mit dem Monster kämpfte, erschien plötzlich die Gestalt eines hoch gewachsenen Mannes im Türrahmen. Angels Meinung nach war er einfach wie ein Geist aus dem Nichts aufgetaucht. Obwohl seine Gesichtszüge von den Flammen verborgen blieben, konnte Angel seine schwarz gekleidete Silhouette erkennen. Der Mann sagte nichts, tat nichts. Er beobachtete nur. Als es Angel gelang, wieder seine Hände um den dicken Leib der Schlange zu legen, schnippte der Mann mit den Fingern. Darauf verwandelten sich die Hautschuppen der Schlange in scharfkantiges Glas, das Angels Handflächen und Fingerspitzen zerschnitt. Mit einem durchdringenden Zischen bäumte sich die Schlange auf. Abgrundtiefe Bösartigkeit leuchtete in ihren Augen. »Ihr Arbeiter werdet hier drinnen verbrennen!«, schrie Angel. Der Mann ballte die Fäuste, streckte die Arme aus und spreizte die Daumen ab. Von seinen Knöcheln zuckten blaue, knisternde Flammen durch den kleinen Raum. Ohne einen Moment zu zögern, ließ Angel den Kopf der Schlange los und zog das Kinn ein. Die Augen auf das ultragrelle Leuchten der magischen Energie gerichtet, packte er die dicken Schuppen der Schlange und hielt sie vor sich, um sich vor dem Energieausbruch zu schützen. Sekunden bevor sie getroffen wurde, grub die Schlange ihre nadelspitzen Fänge in Angels Schädeldecke. Doch als die blaue Energie in ihren Körper eindrang, kreischte sie wütend auf und ließ von ihm ab. Angel gelang es auch, den zweiten magischen Angriff des Mannes mit dem Körper des Ungetüms abzuwehren. Schlangenfetzen klatschten auf den Boden, während sich Angel gerade noch rechtzeitig duckte, bevor eine weitere Salve aus blauen Flammen aus den Händen des Mannes hervorschoss. Angel warf sich zur Seite und suchte Deckung hinter einer Kleiderpuppe. Der Mann murmelte etwas in einer Sprache, die er nicht kannte. Dann pfiff eine Phalanx aus gebogenen, scharfen Messern wie eine Raketensalve durch die Luft und bohrte sich in die Kleiderpuppe. Aus den Öffnungen quoll Blut. Es kochte und rauchte. Wieder bewegte der Mann seine Hände und schuf etwas, das Angel als Nächstes angreifen sollte. Diesmal waren es nicht eine, auch nicht zwei, sondern gleich drei geflügelte Schlangen. Angel riss zwei der Messer aus der Kleiderpuppe und stieß damit nach zwei der Kreaturen. Sie kreischten und wanden sich wie Aale am Angelhaken, bevor Angel sie in die Flammen schleuderte, wo sie in 13
einem Schauer aus kleinen Stücken explodierten. Die dritte, noch immer unversehrt, segelte über Angels Kopf hinweg. Der Mann klatschte in die Hände, woraufhin sich ein menschlicher Totenschädel zwischen ihnen bildete, der mit glühenden Augen und klappernden Zähnen direkt auf Angel zuflog. Dieser stürzte sich auf den Schädel, packte ihn mit beiden Händen und schleuderte ihn zu Boden. Der Schädel kreischte wie ein gepfählter Vampir und explodierte, wie ein solcher, in einer Staubwolke. Die dritte Schlange nutzte diesen Moment, um Angel erneut zu attackieren. Diesmal ließ sie sich auf den heißen Boden fallen und schlängelte blitzschnell auf ihren Gegner zu, der erst im letzten Moment in die Luft sprang. Während die Schlange sich vom Boden abstieß und auf ihn zuflog, landete Angel sicher hinter ihr. Seine Stiefelabsätze bohrten sich durch die brennenden Dielenbretter, und er landete absichtlich auf dem Rücken, in sicherer Entfernung von der brüchigen Stelle. Die Schlange fiel durch das neu entstandene Loch im Boden, bevor auch sie explodierte und einen Schauer aus halb gekochtem Fleisch in alle Richtungen schickte. Einige Brocken landeten auf dem Ärmel von Angels schwarzem Ledermantel. »He«, protestierte der Vampir. Auf der anderen Seite des Raumes begann das Haar des Fremden zu rauchen. Licht umflackerte ihn und brachte seine Gesichtszüge zum Vorschein. Diesen nach zu urteilen war er Asiate, wahrscheinlich Malaie. Buschige Brauen über Augen, die wie schwarze Löcher aussahen, gekrümmte Nase, fliehendes Kinn. Aus seiner Nase und seinen Augenhöhlen strömte schwarzer Rauch. Er hob eine Hand und zeigte auf Angel, während seine leeren, toten Augen, eingefasst in blasenwerfendes Fleisch, scharlachrot leuchteten. »Du«, sagte er, obwohl sich seine Lippen nicht bewegten, »Halblebender. Diese Welt will dich nicht. Du wirst niemals sicher sein, und du wirst einsam sterben und vergessen werden. Mein Gott wird deine Seele essen.« Ein Feuersturm brauste durch das Zimmer, und kurz darauf wurde Angel von einem heulenden Wirbelwind aus Feuer eingeschlossen. Der Raum war nur noch ein rauchender Strudel aus Orange und Rot. Tentakel peitschten durch die Luft und griffen wie Finger nach ihm. Sie zerrten an seiner Kleidung, seinen Haaren, seinem Gesicht. Sein Mantelschoß ging in Flammen auf, und er löschte das Feuer mit den Händen. Seine Haut warf Blasen und selbst seine Augen wurden heiß. 14
Dann wurde das Feuer blau, sodass alles in dem Raumjetzt dieselbe leuchtende Farbe wie die knisternde Energie hatte, die von dem hoch gewachsenen Mann ausgegangen war. Das Blau flackerte, bevor es sich schließlich verhärtete und erstarrte. Überall bildete sich Eis. Wo eben noch Flammen getanzt hatten, knisterten und glitzerten jetzt Eiszapfen. Raureif überzog die Fenster und die toten Ratten, die überall herumlagen. Im Innern des Feuers tauchte genau an der Stelle, an der der Mann gestanden hatte, plötzlich eine schöne, schlanke Frau auf. Sie konnte nicht älter als neunzehn oder zwanzig sein. Sie warf ihr blauschwarzes Haar hin und her, als würde sie unter einem Wasserfall tanzen, und Blätter aus Gold glitzerten und funkelten darin. Die Robe aus goldenem Stoff glänzte übernatürlich grell, und als sie mit ihren gekrümmten Händen langsame Bewegungen machte, schimmerten Dutzende von goldenen Haarspangen. Sie hatte goldene Fingernägel, die fast zehn Zentimeter lang waren, und Leggings aus dunklerem Gold umschmiegten ihre festen Schenkel. Ihre Knie waren gebeugt und ihre Füße verkrümmt, während sie wie in Zeitlupe tanzte. Angel erinnerte es an siamesische Scherenschnittfiguren, deren ornamentierte Oberflächen für das verzauberte Publikum, das die mythischen Aufführungen zehn oder zwölf Stunden lang ohne Pause verfolgte, unsichtbar blieben. Und an exotische Länder, wo Männer in safrangelben Roben sich in Meditationen und Ritualen verloren. Er hörte Tempelglocken, das rhythmische Trommeln von Bambus auf Stein und den hellen, klaren Sopran eines jungen Mädchens. Er war an derartigen Orten gewesen, hatte an derartigen Orten gelebt. Langsam streckte sie ein Bein nach hinten und legte den Kopf zur Seite. Während sie ganz sacht ihr Gewicht verlagerte, malte sie einen Kreis in die Welt aus blauem Eis. Als sie sich drehte, entdeckte sie ihn. Und hörte auf zu tanzen. Tränen rannen über ihr Gesicht. Sie öffnete den Mund und formte Worte, die er zwar nicht hören konnte, die er aber nichtsdestotrotz verstand: Hilf mir. Langsam schmolz das blaue Eis und brachte einen Raum zum Vorschein, der wie ein versunkenes Wrack aussah. Wo die Flammen bis zur Decke gestiegen waren, gab es jetzt nur noch Aschehaufen und die verkohlten Überreste der Möbel. Das schwarz gewordene Gemälde einer fruchtbaren Berglandschaft löste sich von der Wand und landete in einer halb verbrannten Kiste. 15
Angel sah eine Ratte mit rauchendem Rücken, die über seinen Schuh huschte und verschwand. Von dem wunderschönen Mädchen fehlte jede Spur. Ebenso wie von dem magiekundigen Fremden. In der Ferne hörte Angel einen Schrei, der Sekunden später vom wilden Sirenengeheul der Krankenwagen und Feuerwehrautos übertönt wurde. Seine Schritte gingen in dem Lärm unter, als er durch den Raum stapfte und durch die Tür schoss. Er stürzte die Treppe hinauf, wobei er zwei, drei Stufen auf einmal nahm und jeden Moment damit rechnete, dass sie unter ihm nachgeben würden. Doch das taten sie nicht, und er erreichte unbeschadet den Treppenabsatz. Er rannte zur nächsten Tür, die verrußt war und rauchte wie die Wände ringsum. Hinter ihr schluchzte und klopfte jemand, doch als Angel die Tür öffnen wollte, war die Klinke glühend heiß. Plötzlich brach das Treppenhaus krachend in sich zusammen, was wie das Gebrüll eines riesigen sterbenden Dämonen klang. Das Schluchzen verwandelte sich in Schreie der Todesangst. »Alles okay!«, schrie Angel gegen den Lärm an. Er legte seine Schulter an die Tür und drückte mit aller Kraft, doch das Holz gab nicht nach. Also trat er zurück und warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür. Das Holz splitterte, und im gleichen Moment drang Rauch heraus und traf ihn unvorbereitet. Er hustete und wich einen Schritt zurück, als eine Hand durch einen der Risse schoss und Angels Hosenbein packte. »Helfen Sie uns!«, hörte er jemanden flehen. Es war die Stimme einer jungen Frau. »Angel?«, rief eine zweite Frauenstimme. Sie gehörte Nira Surayanto, seiner Klientin, die ihn um Hilfe gebeten hatte und der Grund war, wieso er in dieser Nacht hierher gekommen war. »Nira?«, schrie er. »Bringen Sie uns hier raus! Wir kriegen keine Luft mehr!« Nira hustete laut. »Gehen Sie von der Tür weg!«, befahl Angel, bevor er sich gegen das Holz warf und es durchbrach. Das Zimmer war voller Rauch. Mit zusammengekniffenen Augen spähte er durch den Nebel. Eine Hand umklammerte seine. Und plötzlich war er von mindestens einem halben Dutzend junger Frauen umringt, von denen keine älter war als achtzehn, sowie einer Horde Kinder. Sie zerrten an ihm und schrien, als würden sie ertrinken. 16
Rasch führte er alle hinaus auf den Korridor, während Nira noch immer seine Hand festhielt. Sie war etwa achtzehn, klein und dünn, mit schwarzen Haaren, die bis zum Kinn reichten. Ihre Jeans und ihr orangenes T-Shirt waren voller Ruß. Sie blickte zu ihm auf, wobei sich ihre Fingernägel in seinen Handballen bohrten, und brach in Tränen aus. Doch als zwei andere Frauen ebenfalls zu weinen begannen, wischte sich Nira die Augen ab und redete energisch auf die beiden ein. Fast augenblicklich kehrte Ruhe ein. Angel beobachtete, dass die Tränen ihre rußverschmierten Gesichter in monströse Masken verwandelt hatten. »Nira, brennt es dort drinnen?«, fragte er, während er sie an den Schultern packte und ihr ins Gesicht sah. Der Rauch, der aus dem Zimmer drang, umwallte sie in dichten, öligen Schwaden. »Ja.« »Sind alle in Sicherheit?« »Ja, pak«, versicherte sie nach einem schnellen Blick in die Runde. »Kommt«, drängte er, war sich jedoch bewusst, dass ihnen der Fluchtweg aus dem Haupteingang des Gebäudes versperrt war. In diesem Augenblick brach eine Gruppe von Feuerwehrmännern durch die Haustür. Einer von ihnen sah zu Angel hinauf und rief: »Nicht bewegen! Der Boden kann jeden Moment nachgeben. Mann, wir sind gerade noch rechtzeitig gekommen.« »Glauben Sie an Wunder?«, fragte Nira Angel. »Manchmal schon«, antwortete der jahrhundertealte Vampir. Die Feuerwehrleute brachten eine große Leiter herein und lehnten sie an das obere Stockwerk, das bedrohlich ächzte. Sie beeilten sich, die Frauen herunterzuholen, ehe die Decke nachgab. Die Brandmeisterin winkte Angel herunter, doch der war der Ansicht, dass es keinen Sinn machte, die Überlebenden dem Risiko auszusetzen, hinabzustürzen, indem er den instabilen Treppenabsatz verließ, auf dem er stand, nur damit eine andere Person seinen Platz einnehmen konnte. Daraufhin warnte die Brandmeisterin ihn vor einem möglichen Leck in der Gasleitung, wodurch das gesamte Gebäude explodieren konnte. »Ihre Familie wird uns bis in alle Ewigkeit verklagen, wenn Sie mit in die Luft gehen.« »Ich habe keine Familie«, sagte Angel ausdruckslos. »Und ich gehe nirgendwohin.« Vielleicht erkannte sie, dass es sinnlos war, mit ihm zu streiten, denn sie nickte ihm nur kurz zu und fauchte dann: »He, Leute, bewegt eure Hintern. Wenn dieser Mann hochgeht, wird einer von euch dafür bezahlen müssen.« 17
Alle arbeiteten fieberhaft. Die Brandmeisterin gab den Feuerwehrleuten Befehle, während sich Angel um die Überlebenden kümmerte. Zwei von ihnen hatten eine Rauchvergiftung erlitten und mussten auf Tragen die Leiter hinuntergelassen werden. Ein kleines Mädchen, das sich am Rücken schwere Verbrennungen zugezogen hatte, kniff zwar die Augen vor Schmerz zusammen, weinte aber nicht. Angel hätte sich viel besser gefühlt, wenn sie nicht so tapfer und gefasst gewesen wäre. Er fand, dass es besser war, wenn sie ihre Angst herausließ, denn nur so konnte sie das Geschehene verarbeiten. Als Nira zu einem Krankenwagen gebracht wurde, ging Angel neben ihrer Trage her und sagte: »Ich werde später nach Ihnen sehen. Ich brauche Ihre Hilfe, um diesen Leuten das Handwerk zu legen.« »Nein«, keuchte sie, als sie die Sauerstoffmaske vom Gesicht genommen hatte. »Sie haben mich herausgeholt. Das ist alles, was ich von Ihnen wollte.« Sie hustete, bevor sie mit heiserer Stimme weitersprach. »Ich werde Sie bezahlen, sobald ich aus dem Krankenhaus entlassen werde. Ich habe etwas Geld gespart, für meine Familie in der Heimat, und ...« »Das eilt nicht«, unterbrach er. »Aber die Sache ist noch nicht vorbei, Nira.« »Aber...« »Helfen Sie mir zu verhindern, dass dies noch anderen Menschen passiert«, bat Angel. Ihm war nicht klar, ob sie über den Einsatz von Magie Bescheid wusste, aber er wollte darüber nicht in der Öffentlichkeit reden. »Sie hätten mich fast umgebracht«, krächzte sie. »Dieser Mann ... er kam die Treppe herauf, nachdem ich Sie angerufen hatte. Er sagte, wir würden großartige Opfer abgeben.« »Miss, behalten Sie bitte die Maske auf«, sagte einer der Sanitäter. Nira kam der Anweisung nach. Ihre großen Augen blieben auf Angel gerichtet, als man sie in den Krankenwagen hob. Und als dieser davonfuhr und sich langsam seinen Weg durch die Menge der Schaulustigen bahnte, die sich inzwischen eingefunden hatten, sah Angel ihm nach. Unter den Neugierigen befanden sich hohläugige Junkies sowie großäugige Kinder und Frauen aus der Nachbarschaft, die sich bekreuzigten, was ihm größeres Unbehagen bereitete als alles andere. Angel konnte nicht genau einschätzen, wie lange es dauerte, bis die Umgebung abgesperrt war. Das passierte Vampiren manchmal. Er lebte 18
schon so lange, dass Stunden manchmal wie Minuten vorbeiflogen, während andersrum Minuten auch schon mal zu einer Ewigkeit wurden... »Frage: Ignorieren Sie alle Police Officers oder nur die, die Sie kennen?« Angel blinzelte und sah, dass Detective Kate Lockley vor ihm stand. Ihre blonden Haare waren zu einer improvisierten Gretchenfrisur verdreht, und sie trug einen khakifarbenen Regenmantel. Sie hatte kein Make-up aufgelegt, aber das war egal, denn sie sah mit oder ohne gleich schön aus. In der Hand hielt sie einen Regenschirm. Angel blickte überrascht zum Nachthimmel auf und stellte fest, dass es regnete. Er hatte es nicht einmal bemerkt. »Nur die, die ich kenne«, erklärte er schließlich. Sie seufzte. »Ich habe Sie gefragt, was Sie hier machen.« »Ich genieße la vida loca.« Er wollte ihren guten Willen nicht auf die Probe stellen – sofern sie welchen hatte – und fügte deshalb schnell hinzu: »Eine der Überlebenden ist eine Klientin. Offenbar haben die Chefs dieser Schlepperbande die Mädchen – asiatische Immigrantinnen – mit dem Versprechen hierher gelockt, ihnen Englisch beizubringen und anständige Jobs zu verschaffen, um sie dann als billige Arbeitskräfte zu missbrauchen. Hauptsächlich als Näherinnen. Oder sie wurden an andere reiche Asiaten als Hausmädchen und Kellnerinnen verliehen.« »Und als Prostituierte?«, fragte Kate scharf. »Hat Ihre Klientin als Prostituierte gearbeitet?« Angel zuckte die Schultern. »Ich glaube nicht, dass davon die Rede war.« »Haben diese Frauen eine Aufenthaltsgenehmigung? Oder sind sie illegal hier?« Er sah sie stirnrunzelnd an. »Kate, regen Sie sich ab. Immerhin sind die Frauen in diesem Feuer fast umgekommen.« »Ich kann nicht einfach wegsehen, nur weil die Frauen einen schweren Tag hatten, Angel«, erklärte sie mit blitzenden blauen Augen. »Wir haben Gesetze in diesem Land. Die, was Sie vielleicht überraschen wird, dazu da sind, derartige Situationen zu verhindern.« »Sie haben Recht. Es überrascht mich.« Er wandte sich zum Gehen. »He.« Ihr Ärger nahm zu. »Seien Sie mir gegenüber nicht so selbstgerecht. Mein Job ist es, andere zu beschützen und für die Einhaltung der Gesetze zu sorgen.« Angel fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. Er war müde und er war schmutzig. Und außerdem rückte der Morgen immer näher. 19
»Ich will Ihnen nicht weismachen, dass ich unsere Einwanderungspolitik für fair oder gerecht halte«, fügte sie schnell hinzu. »Aber so ist nun mal die gültige Politik. Diese Leute wollen ein besseres Leben, aber wenn sie illegal in unser Land kommen, machen sie sich und ihre Kinder automatisch zu Opfern.« »Alles, was manche ›dieser Leute‹ wollen, ist leben. Und zwar ohne Hunger. Oder politische Verfolgung.« »Wollen Sie etwa bei der nächsten Wahl kandidieren?«, fauchte sie. Sie starrten sich an. Kate gab als Erste seufzend nach. Vielleicht war sie zu müde für eine Auseinandersetzung. Normalerweise gab sie nicht so schnell klein bei. »Wenn Sie mir den Namen dieser Frau nicht geben, dann werde ich ihn vom Krankenhaus bekommen«, sagte Kate, diesmal etwas sanfter. »Nira Surayanto. Sie rief an, weil sie von ihrem ›Aufseher‹ bedroht wurde, und es scheint, als habe er heute Nacht versucht, sie zu töten.« Er wünschte, er hätte länger mit Nira reden können. »Mit ihrem Anruf bei mir hat sie eine Menge riskiert.« »Ich bin froh, dass sie es getan hat«, sagte Kate schlicht. »Aber könnten Sie in Zukunft vielleicht mich anrufen, damit ich eingreifen kann? Mir einfach Bescheid geben, wenn irgendetwas schief läuft? Dafür bin ich da, wissen Sie?« »In Ordnung, Commissioner Gordon.« Sie lächelte bei dieser Anspielung auf Batman. »Ich sehe ziemlich dumm aus, wenn Sie immer als Erster am Tatort sind.« »Sie sehen nie dumm aus, Kate«, entgegnete Angel und meinte es ehrlich. Sie seufzte und fuhr sich, vielleicht unbewusst, genau wie er mit den Fingern durchs Haar. »Was ist mit Ihnen los, Angel? Was machen Sie wirklich in Los Angeles?« »Ich bin auf der Suche nach dem großen Durchbruch«, sagte er. Alte Fragen, alte Lügen. Sie winkte ab. »Sie haben das Recht, nach Hause zu gehen und sich zu waschen, bevor Sie auf die Wache kommen, um Ihre Aussage zu machen.« »Heute Abend«, erklärte er. »Ich komme zu Ihnen und sage Ihnen alles, was ich weiß. Aber im Moment bin ich völlig erledigt. Geben Sie mir den Tag, um mich auszuruhen.« Sie runzelte die Stirn. »Das ist eine sehr lange Zeit für die Aussage eines Augenzeugen.« »Das Feuer war schon ausgebrochen, als ich ankam«, warf er ein. 20
»Es gibt eine Leiche«, entgegnete sie ausdruckslos. »So seltsam es auch klingen mag, ich denke, dass sie womöglich das Feuer ausgelöst hat.« Er sah sie an. Sie schnaubte. Offenbar wollte sie ihm keine Details anvertrauen. »Hören Sie, ich habe ein paar merkwürdige Mordfälle, die möglicherweise mit diesem bezaubernden Vorfall hier in Verbindung stehen.« »Oh!« Er zog erwartungsvoll die Brauen hoch, doch sie schüttelte den Kopf. »So, wie ich das sehe, ist das nicht Ihre Angelegenheit.« »Zumindest solange mich niemand bittet, es zu meiner Angelegenheit zu machen.« »Was ich nicht tun werde«, sagte Kate mit Nachdruck. »Und sollte jemand anders auf Sie zukommen, erwarte ich, dass Sie mich informieren.« Angel salutierte müde und ging hinein in die Dunkelheit. Nicht in diesem Leben, dachte er. Die meisten Leute, denen Angel half, konnten aus verschiedenen Gründen nicht zur Polizei gehen. Cordelia nannte sie »die Hilflosen«, und Angel war ihre letzte Hoffnung. Und in gewisser Weise waren sie auch seine. Er warf einen Blick über die Schulter. Kate sah ihm frustriert nach, dann duckte sie sich unter das gelbe Band der Polizeiabsperrung und scheuchte die Cops herum, während sie mit der Brandmeisterin redete. Ihr Handy klingelte, und sie nahm das Gespräch entgegen. Eine Million Dinge auf einmal. Wie immer. Die Sonne war kurz davor aufzugehen; er konnte ihre Kraft selbst in der Dunkelheit vor dem Morgengrauen spüren. Doyle würde jetzt aus den Clubs nach Hause schwanken, während Cordelia wahrscheinlich schlief und von Ruhm und Reichtum träumte. Wenn er sich recht entsann, hatte sie heute einen Vorsprechtermin. Es ist bloß ein weiterer zauberhafter Dienstag, dachte er, als er in sein Kabrio stieg und den Motor anließ. Derselbe alte Trott. Ich brauche ein Hobby. Oder Urlaub. Aber Angel, der einzige existierende Vampir mit einer menschlichen Seele, konnte sich weder das eine noch das andere leisten. Er war nach Los Angeles gekommen, um Frieden zu finden und seine Liebe zu Buffy Summers, der Vampirjägerin, zu vergessen. Doch das hatte er noch immer nicht geschafft. 21
Er fuhr durch die Straßen, lenkte seinen Wagen auf den überdachten Parkplatz und ging zu seinem Haus. Er musste so schnell wie möglich ins Innere, denn die Sonne musste jeden Moment aufgehen. Er schloss sein Büro auf, trat über die Schwelle und warf die Tür hinter sich zu. Rasch sah er sich um – das durchgesessene Sofa, die Schreibtische und Stühle, die ihn an einen alten Detektivfilm aus den dreißiger Jahren erinnerten Der Anrufbeantworter blinkte, und während er an das Gerät trat, ging ihm das Bild der goldenen Frau durch den Kopf. Er drückte auf die »Play«-Taste. »Ehm«, machte eine Frauenstimme. »Ich brauche Hilfe. Ich ...« Dann war ein Klicken zu hören. Die Anruferin hatte aufgelegt. Oder jemand anders hatte die Verbindung unterbrochen. Angel wählte die 69, nur um von einer ausdruckslosen Computerstimme darüber informiert zu werden, dass der Anruf nicht zurückverfolgt werden konnte. Handy, dachte er. Wer immer sie auch war, er hoffte, dass sie noch einmal anrufen würde. Wenn sie konnte.
22
Zweites Kapitel
In den letzten Minuten der Nacht Tief unter dem Anwesen, in dem Tempel, den Jusef Rais für Latura erbaut hatte, schrie ein junges Mädchen namens Julie Gonda auf und fiel zu Boden, als er ihr das Handy entriss und auf den Beton schleuderte. »Wen hast du angerufen?«, fragte Jusef scharf. Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen, und er hörte ihre leisen Schluchzer. Sie weiß, dass ihr Leben in meiner Hand liegt. Es gibt niemanden in ihrer Welt, der stärker ist als ich. Ich bin ihr Gott. Er packte sie an den Haaren, riss ihren Kopf zurück und zwang sie, ihn anzusehen. Die Angst auf ihrem Gesicht war das stärkste Aphrodisiakum überhaupt, aber obwohl er sie begehrte, würde er sie nicht berühren. Als Opfer für Latura war sie weitaus geeigneter. Latura. Er wusste nicht einmal, wie sein Gott aussah. Er, sein Vater und sein Vetter Slamet hatten versucht, einen Tempel zu bauen, der dem Herrn der Toten gefallen würde. Sie mussten Erfolg gehabt haben, denn der Gott gewährte ihnen weiter seine Gunst. Genauer gesagt, er gewährt mir seine Gunst, dachte Jusef zufrieden. »Er hat mir gesagt... er...«, krächzte Julie schließlich, brach jedoch plötzlich ab, als hätte sie erkannt, dass sie schon zu viel gesagt hatte. »Decha? Decha Sucharitkul?«, fragte er. Sie keuchte. Mit dem Absatz seines Schuhes zertrat er die Überreste ihres Handys, als ihm dämmerte, dass er es besser nicht getan hätte. Schließlich hätte er damit viel leichter herausfinden können, wen sie angerufen hatte. Und wie es ihr gelungen war, das Gerät unter der Erde zu benutzen. Nun, ich kann es mühelos aus ihr herausfoltern. »Ihr Verräter mit euren Pagern und Handys. Ihr seid wirklich Mitleid erregend.« Er zerrte heftiger an ihr, und sie schrie auf, als er dabei ein dickes Haarbüschel aus ihrer Kopfhaut riss. Um sie zum Schweigen zu bringen, kniete er sich auf ihre Brust. Sie hustete. »Decha hat dir gesagt, dass ich bei ihm war, nicht wahr? Er hat sich in ein Zimmer geschlichen, dich angerufen und dir gesagt, die Luft sei rein, 23
um sich hierreinzuschleichen und meinen Tempel zu entweihen, oder?« »Er war schon entweiht, als er gebaut wurde«, sagte sie mutig. Er dachte darüber nach. »Richtig.« Er und die anderen hatten den Tempel so gut sie konnten gebaut, doch da ihre Informationen sehr lückenhaft gewesen waren, mussten sie improvisieren. Sie nahmen an, dass der Gott der Toten Bilder des Todes in seiner heiligen Stätte verlangte, und sie hatten ihr Bestes getan, um diesen Wunsch zu erfüllen: Die Wände waren mit Darstellungen von Massenfolterungen, Hinrichtungen und Leichenbergen bemalt, alles Opfer von Katastrophen und Seuchen. Aufgeschichtete Totenschädel von Menschen und Tieren säumten die Wände wie Regale, Kerzen glommen in den Augenhöhlen. Auf den Schädeln lagen schriftliche Zauberformeln oder mandi, geschrieben auf Bambusstangen und Borke wie in alten Zeiten. Es waren Gebete, mit denen um Schutz oder Rache oder Hilfe bei der Suche nach Laturas Buch gebeten wurde. Und damit die Gedanken reale Formen annahmen, war das Blut ihrer Opfer über die Formeln gespritzt worden. Denn wie es in vielen Religionen hieß: Das Blut ist das Leben. Eimer mit Blut standen in den vier Ecken des Tempels, der aus gewachsenem Gestein gehauen worden war. Die ursprünglichen Besitzer des Anwesens, das aus den zwanziger Jahren stammte, hatten die unterirdischen Räume nicht genutzt. Laut Angabe des Maklers, der das drei Morgen große Grundstück an Jusefs Familie verkauft hatte, waren die Kavernen ursprünglich angelegt worden, um als Lager für schwarzgebrannten Alkohol zu dienen. Dieser Plan war jedoch nie verwirklicht worden, und die Kavernen hatten seitdem leer gestanden. Was die Beleuchtung des Tempels anging, so war es Jusef nach einigen Diskussionen gelungen, die anderen zu überzeugen, kein elektrisches Licht zu benutzen. Das begründete er damit, dass sich Latura in den alten Tagen den kannibalistischen Kopfjägern von Nias am nächsten gefühlt hatte, die Fackeln als Wärme- und Lichtquelle verwendet hatten. Feuer war für sie ein Gott, und deshalb würde es Laturas neuen Tempel erleuchten. Ruß schwärzte die pompöse Decke, die von indonesischen Künstlern in Form eines Brustkorbes gestaltet worden war. Die einzelnen Rippen reichten vom Scheitelpunkt des hohen Raumes bis hinter die aufgeschichteten Totenschädel. Der Opferaltar selbst war buchstäblich das Herz des Raumes. Ebenfalls aus Stein gehauen, war er mit Metall verkleidet – Jusefs einzige Konzession an die Veränderungen, die die Zeit Laturas Vermächtnis zugefügt hatte. Wenn die Opfer auf ihm verbrannt wurden, verstärkte das 24
Metall ihre Qualen. Und Qualen waren wichtig für Latura, zumal Schmerz und Angst die einzigen Gefühle waren, die ihm in der Unterwelt zur Verfügung standen, da sie den Verdammten und den Sterbenden gehörten. Ein Abbild von Latura, Dämonengott der Schatten, umarmte den Altar. Auch bei dieser Darstellung ihres Meisters hatten sich Jusef und die anderen um Korrektheit bemüht, wenngleich sie nur vage Hinweise auf sein wahres Aussehen gehabt hatten und nicht wussten, wie nahe sie der Realität gekommen waren. In den Dschungeln von Java hatten sie den Erzählungen gelauscht, die seit der Ersten Dienerin von Generation zu Generation in Form von Liedern und Tänzen weitergegeben worden waren. Anhand dieser Legenden hatten sie in Stein gehauen, was sie für Laturas Gesicht hielten: einen Albtraum aus Narben, Wunden und einem breiten, klaffenden Maul. Sein gigantischer Kopf und die riesigen glühenden Augen überragten seine dreizehn Arme, die mit Kämmen aus scharfen, rostfreien Messern gespickt waren. Jusef wusch die Messer nie ab, sodass ganze Lagen aus verkrustetem Blut die Klingen überzogen. Er hatte gelernt, dass unter dem Verfall das existiert, was nicht rostet: das ewige Leben. Weitere Klingenkämme überzogen Laturas sieben gebeugte Beine, die in mit Schwimmhäuten und Klauen besetzten Massen aus Stein endeten. Außerdem hatte er einen gegabelten Schwanz und riesige Schwingen, die den Altar besitzergreifend umfassten. Maden und Insekten krabbelten Tag und Nacht über den Altar, auf dem sie über zweihundert Menschen hier geopfert hatten, und noch viele mehr daheim in Indonesien. Aber diese Gonda war dabei, das Werk zu zerstören, indem sie das Ritual der Reinigung begonnen hatte, das Jusef nicht kannte. Links vom Altar befand sich eine reine Stelle, die frei von Laturas unheiliger Macht war. Das bedeutete, dass ihre magischen Bemühungen Erfolg gehabt hatten, auch wenn sie sie nicht zu Ende führen konnte. Entweder hatte die Opposition mehr Bruchstücke des verschollenen Wissens über Latura gesammelt als er und seine Familie, oder sie besaß tatsächlich das Buch. Dieser Gedanke war fast unerträglich, aber wie sein Vater immer zu sagen pflegte: Rechne mit dem Schlimmsten und hoffe auf das Beste. So oder so würde er alles erfahren haben, was dieses Mädchen wusste, bevor es auf dem Altar starb. »Fassen wir noch einmal zusammen«, sagte er ruhig. »Ich nehme an, du hast unseren Freund Decha vor einiger Zeit angerufen, um dich zu 25
vergewissern, dass die Luft rein ist. Hast du ihn gerade angerufen, um ihn wissen zu lassen, dass du hier eingedrungen bist?« Sie nickte. »Ja.« »Lügnerin!«, schleuderte er ihr entgegen. »Ich sage die Wahrheit«, protestierte sie. Ihre Stimme bebte. »Bitte, Pak Rais, du musst mir glauben.« Er packte sie wieder an den Haaren und zerrte sie über den Steinboden. »Er ist tot«, sagte er ruhig. »Er ist schon seit Stunden tot. Als er sich weigerte, mir etwas Nützliches zu verraten, habe ich sein Herz entzündet.« Obwohl ihr die Tränen in die Augen traten, blieb ihr Gesicht starr wie eine Maske. Ihr Mut beeindruckte ihn. Er sagte: »Du kannst nicht mit einem Toten sprechen, ganz gleich, wie leistungsstark dein Handy auch sein mag.« Sie lächelte ihn tatsächlich an. »Du hast Recht«, sagte sie. Dann würgte sie plötzlich, und er starrte sie verdutzt an. Blut und Speichel benetzten ihre Lippen. »Nein!«, schrie er. Sie lächelte erneut. Und einen Moment später schoss Blut wie ein Geysir aus ihrem Mund und bespritzte ihn. Ein ganzer Schwall traf sein Gesicht und tropfte von seinem Kinn, während ihr Körper von heftigen Krämpfen geschüttelt wurde. »Hör auf, hör auf damit!«, rief er. Auf ihrem Gesicht war eine Mischung aus Triumph und Traurigkeit zu sehen, bevor ihr Körper schlaff wurde und ihre Augen ins Leere blickten. Sie war tot. »Latura, iss ihre Seele!«, kreischte er, während Speicheltropfen aus seinem Mund flogen. Er ließ die Leiche fallen und richtete sich auf. Vor seinem Gott ballte er die Fäuste und schüttelte sie. »Latura, zieh sie zu dir in die Hölle!« »Dafür ist es ein wenig zu spät«, sagte eine Stimme in der Dunkelheit. Jusef fuhr herum. Ein blauer Lichtfunke tanzte in der Schwärze der Kaverne. Er wuchs und wirbelte herum, wobei er sowohl an Größe als auch an Geschwindigkeit gewann. Sein Vater erschien, umhüllt von blauer Energie. »Vater?«, fragte Jusef überrumpelt. »Wie ... wie ist das möglich? Bist du ein Geist?« 26
»Wenn du meinst«, entgegnete Bang Rais. »Du ahnst nicht, wozu ich fähig bin Jusef.« Er kniff die Augen zusammen. »Aber ich wusste ziemlich genau, wozu du fähig bist. Manchmal.« Das blaue Leuchten erlosch. Bang Rais, einer der gefürchtetsten Menschen Asiens, bedachte seinen Sohn mit einem verächtlichen Blick. »Du dachtest, du könntest mich täuschen«, sagte er. »Du dachtest, du könntest mich belügen.« Mit einem bedrohlichen Ausdruck auf dem Gesicht trat er auf seinen Sohn zu. »Du dachtest außerdem, ich wäre in Djakarta und dass ich keine Ahnung hätte, dass du versuchst, mich um die Unsterblichkeit zu bringen.« »Nein, Vater«, sagte Jusef, während er zurückwich. »Wenn du irgendetwas gehört hast, dann ist es eine Lüge. Es sind meine Feinde, die versuchen, Zwietracht zwischen uns zu säen.« Sein Vater schüttelte den Kopf. »Versuch nicht, deinen Hals aus der Schlinge zu ziehen. Du hast Decha Sucharitkul getötet, als du ihm das Versteck des Buches entlocken wolltest. Und als das Apartment in Brand geriet, hast du keinen Gedanken an die Konsequenzen verschwendet.« »Es schien keine zu geben«, sagte Jusef kläglich. Sein Vater verengte die Augen. »Aber du wusstest nicht, dass dort Frauen waren, die einer unserer Aufseher oben eingesperrt hatte, weil er sie zu Prostituierten machen wollte. Eine von ihnen hatte bereits jemanden angerufen und um Hilfe gebeten. Diese Hilfe kam auch, und zwar rechtzeitig. Nur war sie kein Mensch, mein Sohn. Sondern ein Dämon.« Bang Rais starrte seinen Sohn an. »Da es mir nicht gelungen ist, den Dämon zu töten, wird er jetzt der Spur folgen, die du hinterlassen hast.« »Wer? Was für eine Art Dämon?« »Das ist für dich ohne Bedeutung. Denn du wirst sterben.« Jusef hob die Hände. »Vater, nein, du verstehst das falsch.« Bang Rais ging auf ihn zu. Er war groß und muskulös. Doch da ihn seine magische Reise in den Tempel – auf Wegen, die Jusef unbekannt waren – ausgelaugt hatte, war er im Moment sehr erschöpft. Das ist meine einzige Chance, mich zu retten, dachte Jusef verzweifelt. Aber was kann ich tun? Ich beherrsche die Magie nicht wie mein Vater. Ich weiß nicht einmal, wie diese Gonda es geschafft hat, ihr Handy hier unten zu benutzen. Dieses Mädchen ... Plötzlich hatte Jusef eine Idee. Die Reinigung. Er trat auf seinen Vater zu und sagte: »Vater, geht es dir nicht gut?« 27
Und im nächsten Moment packte er Bang Rais, der ihn überragte, und schleuderte ihn auf die Stelle, die Julie Gonda geweiht hatte. Es hieß – obwohl es nie überprüft worden war –, dass Latura jeden verließ, der auf heiligem Boden wandelte. Jusef hoffte, dass der Gott einen gereinigten Teil seines eigenen Tempels als heilig ansehen würde. Sein Vater war verwirrt. »Was machst du da?« Während er darauf achtete, dass er die gereinigte Stelle nicht betrat, zog Jusef einen Talisman aus der Tasche und hielt ihn vor sich. Es war eine Miniaturversion des Zeichens von Latura: ein brennendes Herz im Maul eines Dämonenschädels. »Gott der Mysterien, lass sein Herz erstarren«, sang er. »Damit es nicht mehr schlägt. Damit kein Blut mehr fließt.« »Jusef!«, schrie sein Vater ihn an. »Hör auf!« »Beende sein Dasein«, fuhr Jusef unbeirrt fort. »Er ist ein reines Wesen. Er ist ein Wesen des Guten. Fühle das Gute in ihm und vernichte es.« »Nein!« Gerade als Bang sich auf Jusef stürzen wollte, schrie er auf, griff sich ans Herz und kippte nach vorn. Mit einem dumpfen Klatschen schlug sein Gesicht auf dem Beton auf, dann quoll Blut heraus. Bang lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden und rührte sich nicht. Jusef beobachtete ihn über eine halbe Stunde lang wachsam. Und als er überzeugt war, dass sein Vater tot war, lachte Bang Rais' einziger Sohn laut auf, bis sein Gelächter in Weinen überging. Später am Morgen Meg schluchzte noch immer, als Jusef das Tanzstudio in Venice Beach betrat, das nicht weit von ihrem Apartment entfernt lag. Dort probte die Band immer dann, wenn kein Tanzunterricht stattfand. Gitarren, Schlaginstrumente und ein Schlagzeug nahmen einen Teil des Raumes ein, der Rest wurde von den traditionellen Instrumenten der uralten Gamelanmusik von Bali in Beschlag genommen: der Ugal, einem xylofonähnlichen Instrument; Gongs, Trommeln, Becken und einer gangsa, das mit Hämmern gespielt wurde. Jusef, der vorher geduscht hatte, roch nach Sandelholzseife und Kokosnussshampoo. Er trug schwarze Jeans, Cowboystiefel und ein schwarzes T-Shirt. Trotz ihres Nervenzusammenbruchs vergaß Meg einen Moment lang ihren Kummer, als sie ihn sah. Das Wort »Honig« kam ihr in allen Sprachen in den Sinn, die sie beherrschte: in Bahasa28
Indonesisch, Englisch, ihrer javanischen Muttersprache und Niederländisch. »Meg, was ist los?«, fragte er zutiefst besorgt und kniete neben ihrem Stuhl nieder. Da der Rest der Band nach draußen gegangen war, um zu rauchen, waren sie ungestört. »Es hat ein weiteres Feuer gegeben«, sagte sie. In den zwei Wochen seit Olives Tod waren drei weitere Gebäude niedergebrannt. »Sie haben es in den Nachrichten gesagt.« »Und es hat in dir alles wieder aufgewühlt«, sagte er. Sie nickte. »Hat dich die Polizei erneut angerufen?«, fragte er. Sie hatten sie in zwei Fällen kontaktiert. Weil sie Olive kannte. Zumindest hatten sie dies als Grund angegeben. Doch Meg fragte sich, ob die Polizei über ihre Vergangenheit Bescheid wusste. »Nein. Aber derselbe Detective, die Frau, die mit mir gesprochen hat, war in den Nachrichten. Detective Lockley.« »Haben sie schon irgendwelche Hinweise?«, fragte er, während er ihre Schulter streichelte. Sie lehnte sich an ihn und spürte, wie die Muskeln seiner Brust gegen ihre Wangenknochen drückten. Es gab niemanden auf Erden, der so stark und mächtig war wie Jusef und der sich so gut um sie kümmern konnte wie er. »Davon war nicht die Rede. Es war ein Apartmenthaus im Textilviertel. In den Nachrichten hieß es, die Bewohner hätten dort unter schrecklichen Bedingungen gelebt. Der Mann, dem das Haus gehört, behauptet, er habe nicht gewusst, wofür es genutzt worden sei. Er habe es nur vermietet.« »Die Polizei hat nicht angerufen«, wiederholte er. Sie schüttelte den Kopf. »Warum sollte sie?« Er zuckte die Schultern. »Keine Ahnung.« Er lachte und fuhr sich mit der Hand durch das unglaublich seidige und volle Haar. Seine Wimpern waren lang und strichen über ihre Haut, als er seine Stirn an ihre drückte. »Es hieß, dass man den Opfern möglicherweise einen mit Benzin gefüllten Autoreifen um den Hals gelegt und ihn dann angezündet hat«, fuhr sie mit gepresster Stimme fort. »In Afrika soll diese Methode weit verbreitet sein.« »Es ist auch eine Hinrichtungsart im organisierten Verbrechen«, erklärte Jusef. »Bei Gangs hier in den Staaten ist sie auch recht beliebt. Ein ziemlich qualvoller Tod, wie ich gehört habe.« Sie schauderte. »Als ich aufwuchs, hieß es immer, Amerika sei ein gewalttätiges Land. Ich hatte ja keine Ahnung.« Er seufzte. »Ich hätte dich nicht hierher bringen dürfen.« 29
Sein reuevoller Tonfall rührte sie. »Aber Indonesien ist auch gefährlich.« »Hätte mein Vater dort die Macht, dann könnte man um ein, zwei Uhr morgens allein spazieren gehen, ohne dass einem etwas zustößt«, sagte Jusef grimmig. »Die Welt fährt zur Hölle, Meg. Und Menschen wie mein Vater haben die Aufgabe, sie zu retten.« Indem er allen die Freiheit nimmt. Jeden einsperrt, der es wagt, den großen Bang Rais zu kritisieren, dachte sie. Aber das behielt sie für sich. »Ich werde dich beschützen«, versprach Jusef ihr. Dann hob er ihre Hand zu seinen weichen Lippen und küsste ihre Knöchel. »Du bedeutest mir alles. Es gibt auf der ganzen Welt niemanden, der so ist wie du.« »Klingt beinah glaubwürdig für mich«, murmelte sie, nur um seinen Widerspruch zu provozieren. »Es ist wahr. Ich weiß es ganz genau.« Er lächelte sie an. »Du bist einzigartig. Unersetzlich.« Sie rümpfte die Nase und versuchte die schlimmen Erinnerungen zu verdrängen, indem sie sich auf ihn konzentrierte – so wie er es ihr beigebracht hatte. »Es klingt so, als wäre ich eine Mingvase«, entgegnete sie scherzhaft. »Oder ein anderes kostbares Gefäß«, erwiderte er. Dann stand er auf und zog sie hoch. »Bereit zum Arbeiten?« Sie nickte. »Das ist meine Meg. Ich hole die anderen wieder rein.« Er zog eine Zigarette aus einer Schachtel, die auf einem gelben, dreibeinigen Schemel lag. »Du kannst dir in der Zwischenzeit das Gesicht waschen.« Jusef ging durch den Raum zur Hintertür, wo die anderen rauchten. Meg warf noch schnell einen Blick in den Spiegel. »Gott, ich seh aus wie der Tod«, murmelte sie. Dann wandte sie sich ab und wusch sich das Gesicht.
30
Drittes Kapitel
Später am Nachmittag »Mein Atem ist so frisch«, trällerte Cordelia Chase, während sie die Treppe des Cooper Buildings hinaufstieg. Sie befand sich im Textilviertel, mitten in Downtown Los Angeles - allerdings nicht, um auf Schnäppchenjagd zu gehen. Denn sich an schäbigen Ziegelsteingebäuden vorbeizudrücken und Kleidung in Läden anzuprobieren, in denen die einzige Umkleidekabine aus einer Decke bestand, die über ein Seil geworfen worden war, stand nicht gerade ganz oben auf ihrer Wunschliste. Früher habe ich nie auch nur einen einzigen Blick auf ein Preisschild geworfen, dachte sie bedrückt. Jetzt habe ich ständig Geldsorgen. Es war der trockene, heiße Nachmittag eines langen Tages, den Angel nicht gerade leichter gemacht hatte. Gerade als sie sich an diesem Morgen auf ihren Vorsprechtermin vorbereitete, hatte er angerufen und sie gebeten, seinen Anrufbeantworter zu überprüfen, während er den Tag über schlief. Er hatte irgendetwas von einem Feuer in der vergangenen Nacht und einem unterbrochenen Telefonanruf gemurmelt und dass es überaus wichtig sei, auf eventuelle Anrufe eines Mädchens namens Nira sofort zu reagieren. Gründe hatte er natürlich keine angegeben. Vielleicht bedeutet Nira, dass er über Buffy hinweg ist, dachte Cordelia und betrachtete das Gedränge in dem Geschäft zu ihrer Rechten. Er ist zwar erst ein paar Monate hier in L. A., aber, he, schließlich war er es, der mit Buffy Schluss gemacht hatte. Trotz der zunehmenden Verbreitung von Billigläden war das Textilviertel von L. A. noch immer berühmt, zumal es nach wie vor ein Paradies für Schnäppchenjäger war, die auf der Suche nach Armani und Hugo Boss und ähnlichen Edelmarken waren. Die Käufer wurden in Bussen hierher gekarrt – zum Teil sogar aus Las Vegas. Hoffentlich ist es die Reise wert. Für sie und für mich. Hoffentlich ruft Nira an, wenn es das ist, was er will. Und nur weil Angel erschöpft war, musste sie das Telefon im Auge behalten. Er hatte ihr erklärt, dass er nicht gut geschlafen habe und dringend eine Ruhepause brauche. Wieso? Stirbt er etwa, wenn er nicht genug Schlaf bekommt? 31
Aber vielleicht ist er am Ende doch noch nicht über Buffy hinweg. Um nett zu sein und, na ja, ihren Job zu behalten, hatte sie versprochen, den Anrufbeantworter regelmäßig abzuhören –, auch wenn dadurch ihre Vorbereitungen für das Vorsprechen erschwert wurden. Aber wer für einen Superhelden arbeitete, musste wohl mit so etwas rechnen. Sie runzelte die Stirn, während sie all die verschiedenen Frauen und Mädchen beobachtete, die ihre Einkaufstüten abgestellt hatten und Spandex-Hosen anprobierten. Nein, nein und nochmals nein, dachte sie kopfschüttelnd angesichts der modischen Entgleisungen um sie herum. Wenn die Leute mehr Modezeitschriften lesen würden und Einkaufsberater hätten, käme es gar nicht erst zu all diesen Fehlgriffen. Sie sah sich einen Rock an, seufzte und hängte ihn wieder zurück. Schließlich hatte sie im Moment sowieso keine Gelegenheit, ihn zu tragen. Und auch diese Wildlederjacke war viel zu warm für das Klima in L. A. Aber wieder zurück zu Angel. Sie hatte getan, um was er sie gebeten hatte, obwohl dies für sie und ihre potenzielle Karriere nicht gerade von Vorteil gewesen war. Früher hätte sie alle Anrufe per Handy erledigt. Und Daddy hätte die Rechnung bezahlt. Es war ihr peinlich, das Münztelefon im Castingbüro zu benutzen, während alle anderen die Ohren spitzten, um sie, die Konkurrenz, einzuschätzen und vielleicht ein paar Hinweise auf andere Vorsprechtermine zu erhaschen. So etwas machte einfach keinen Spaß. Aber auch schon vorher war ihre Stimmung nicht gerade die beste gewesen. Sie hatte vom Santa Ana – einem heißen Wind, der durch die Canyons von L. A. pfiff und die Feuchtigkeit aus jeder Pore saugte – stechende Kopfschmerzen bekommen. Und, um die Wahrheit zu sagen, war sie außerdem ziemlich deprimiert, was vorkam, wenn man überall abgelehnt wurde. Sie empfand fast so etwas wie Mitgefühl für die Verlierer, die sie routinemäßig hatte abblitzen lassen, wenn sie sie im Bronze zum Tanzen aufgefordert hatten. Sie verließ das Cooper Building auf wunden, brennenden Füßen – diese blöden billigen Schuhe! – und schlenderte durch die Fashion Alley. Dort standen Ständer voller Kleider direkt auf der Straße, und der Körpergeruchspegel hatte aufgrund des dichten Gedränges einen neuen Rekordstand erreicht. Einige Touristinnen in übergroßen T-Shirts und Leggings – so out, selbst im Land des Out, das in diesem Fall wohl Michigan war – posierten für Fotos vor einem Gebäude, das etwas 32
malerischer als die anderen war. Die meisten von ihnen – die Gebäude, nicht die Frauen – waren Lagerhäuser und Fabriken aus Ziegelstein, die in den zwanziger Jahren erbaut wurden und von denen es wegen der Erdbeben nicht mehr viele in Südkalifornien gab. »Lasst uns im Pantry essen! Es gehört dem Bürgermeister«, sagte eine der Frauen, während Cordelia sich fragte, ob sie sich jemals in ihrem Leben wieder Urlaub leisten könne. »Mein Atem ist so frisch!«, sagte sie mit größtmöglicher Überzeugung, nur um im nächsten Moment in sich zusammenzusinken. »Aber davon abgesehen geht es mir sauschlecht.« Nach diesem Vorsprechen würde man sie bestimmt nicht zurückrufen. Der gelangweilte Blick der Castingagentin während des Vorsprechens hatte Bände gesprochen. Oder vielleicht war es auch die Art gewesen, wie sie Cordelia unterbrochen und »Die Nächste« gesagt hatte. Was ist es diesmal?, hätte Cordelia fast gefragt. Ist meine Nase zu groß? Ist sie zu klein? Irgendwas ist es immer in dieser Stadt. Sie blieb auf der Straße stehen und strich sich die Haare aus der Stirn. Ihre Waden taten weh und ihre Füße brannten. Blöde Schuhe. Es wäre sowieso nur ein dämlicher Werbespot gewesen. Es wäre ihr peinlich gewesen, darin mitzuspielen. In Sunnydale war ich diejenige, nach der alle anderen Mädchen an der Sunnydale High beurteilt wurden. Auf der Cordelia-Chase-Skala, die von eins bis zehn ging, war ich eine zwölf. Aber in Hollywood – nur zwei Stunden von ihrer Heimatstadt entfernt, aber im Grunde auf einem anderen Planeten – war sie nicht der Paradiesvogel, der von allen anderen gehasst wurde, weil er so schön war. Hier war sie eher das hässliche Entlein. Zumindest hatte ein Castingagent Cordelias Manager erzählt, ihre Brauen seien zu buschig. Ausgerechnet ihre Brauen, die absolut glatt waren. Nasen ließen sich operieren. Zähne ließen sich verschönern. Man konnte sich die Lider tätowieren lassen, Collagen in die Lippen spritzen, das Fett am Kinn absaugen, die Brust vergrößern, das Gesicht liften oder gleich den ganzen Körper aufmöbeln lassen. In Los Angeles konnte man fast alles mit seinem Körper machen – sofern man das nötige Kleingeld hatte –, um sein Aussehen zu verbessern. Oder es mit Piercings und ähnlichen Dingen zu verschlechtern. Also musste sie annehmen, dass es nicht an ihrem Körper lag, da sie eigentlich hinreißend aussah und nur allzu bereit war, sich Schönheitsoperationen zu unterziehen. Die Ablehnungen waren auch nie mit ihrer 33
mangelnden Schauspielkunst begründet worden, sodass es etwas sein musste, das die Castingagenten nicht in Worte fassen konnten. Sie jedoch konnte es. Es liegt an meiner Kleidung. Früher – in Sunnydale, als ihre Eltern noch nicht ihr ganzes Geld an das gierige Finanzamt verloren hatten, das zweifellos genug andere Leute kannte, denen es Geld abknöpfen konnte, um das lächerliche Defizit auszugleichen, das durch die Steuerhinterziehung ihres Vaters entstanden war –, früher war sie aus vielerlei Gründen einkaufen gegangen. Zum Spaß. Um den hohen Standard aufrechtzuerhalten, den sie gesetzt hatte. Oder um das Modeniveau an der Sunnydale High zu heben (was nicht gerade schwer gewesen war). Sie war außerdem einkaufen gegangen, weil – seien wir ehrlich – der Umgang mit Buffy und dem Rest der Scooby Gang ihre Garderobe arg in Mitleidenschaft gezogen hatte. Sie wusste nicht, wie viele schöne Kleidungsstücke sie weggeworfen hatte, weil die Blutflecken nicht mehr herausgegangen waren. So gesehen konnte man sagen, dass Buffy und Willow mit ihren schäbigen Klamotten besser dran gewesen waren, denn schließlich waren Dämonenschleim und Monstereingeweide aus Polyester viel leichter zu entfernen als aus Naturfaserstoffen. Und wenn nicht, konnte man die Sachen einfach entsorgen, ohne dass es einem Leid tun musste. Aber jetzt, wo sie es mit Leuten zu tun hatte, die wichtig für sie waren und die sich in der Mode genauso gut auskannten wie sie, hatte sie nicht das Geld, um sich so zu kleiden, dass sie als Millionärin durchgehen konnte. Eigentlich hatte sie nicht einmal das Geld, um wie eine Sozialhilfeempfängerin auszusehen. »Ich kann mir nur Klamotten leisten, die vor zwei Jahren in Mode waren und jetzt in irgendwelchen Secondhand-Läden hängen«, murmelte sie vor sich hin, als sie eine grellgrüne Seidenbluse von einem überfüllten runden Kleiderständer nahm, an dem ein Pappschild mit der Aufschrift TIEFSTPREISE hing. Kein Wunder, das würde sonst auch niemand kaufen. Das ist die hässlichste Farbe, die ich je gesehen habe. Darin würde ich wie ein Zombie aussehen. Und ich weiß, wovon ich rede. Tränen traten ihr in die Augen. Sie wünschte sich nichts sehnlicher als hübsche neue Kleidung, elegante Schuhe und die Möglichkeit, einen Einkaufsbummel zu machen, wenn ihr danach war. Einkaufen war nur eins der vielen Vergnügen, die sie sich nicht mehr leisten konnte, und es 34
erinnerte sie jedes Mal daran, dass sie auf der Überholspur ins Nichts war. »Oh nein, bitte, nicht«, sagte ein Mann. Cordelia fuhr zusammen und blickte auf. Wow, dachte sie, während sie verblüfft blinzelte. Hallo, was für eine Augenweide. Der junge Mann, der ihr die Bluse aus der Hand nahm, bot schlichtweg einen überwältigenden Anblick. Er schien Mitte zwanzig zu sein und war trotz seines lässigen Auftretens extrem gut gekleidet. Cordelia hatte einen Blick für edle Kleidung und wusste, wann sie ein Fünfzig-DollarT-Shirt vor sich hatte. Seine schwarze Jeans saß hauteng und seine abgewetzten Cowboystiefel passten perfekt dazu. Er roch nach Geld und einem Hauch Bijan for Men. Hoch gewachsen, mit makelloser, kakaobutterbrauner Haut und einem Gesicht, das so ausdrucksstark und fein geschnitten war wie das von Brad Pitt. Unter seinen kurzen, stacheligen schwarzen Haaren lagen dunkelbraune, mandelförmige Augen. Er hätte wie Harrison Ford ausgesehen, wenn Harrison Ford Mitte zwanzig und in Japan geboren worden wäre. »Diese Farbe passt überhaupt nicht zu Ihrem Teint«, sagte er. Während er freundlich lächelte, um seine Kritik zu entschärfen, streifte er die Bluse wieder über den Bügel und hing sie zu den anderen hässlichen Blusen und Pullovern zurück an den Ständer. »Äh«, machte sie, viel zu fasziniert, um einen vernünftigen Satz von sich zu geben. Wurde hier etwa gerade die Cordelia Show gedreht? Oder war sie gestorben und gen Himmel gefahren? Er legte den Kopf zur Seite. »Vous me comprenez?« Er ist Franzose, dachte sie entzückt. Oh, wieso habe ich Französisch nur für eine tote Sprache gehalten und mir die Fingernägel nicht in einem anderen Kurs lackiert? »Äh, ich bin Amerikanerin«, antwortete sie auf Englisch. Mit leichtem Akzent sagte er in ihrer Muttersprache: »Tut mir Leid, dass ich so offen war. Aber meine Familie ist in der Bekleidungsbranche, und ich kenne mich mit so was aus.« Er zuckte die Schultern. »Aber natürlich ist es Ihre Entscheidung.« Er neigte kurz den Kopf und wandte sich zum Gehen. »Warten Sie!«, rief sie. »Ich wusste, dass mir diese Farbe nicht steht.« Sie räusperte sich und wies auf den Ständer. »Da ist zu viel Gelb drin.« Er strahlte. »Zu viel Gelb.« »Ich würde darin wie eine Leiche aussehen.« »Es wäre ein Desaster.« Er lächelte und legte die Handflächen nach asiatischer Sitte aneinander. »Ich bin Jusef Rais.« Er sagte es, als musste 35
sie ihn kennen. Wäre er eine bekannte Größe in der Unterhaltungsindustrie gewesen, hätte sie ihn auch gekannt. Schließlich las sie jeden Tag Ted Casablancas E! Online-Klatschreport an Angels Computer. »Hi.« Sie wollte seine Geste schon nachahmen, sagte sich dann aber, dass es künstlich wirken würde, und lächelte nur. »An dem ganzen Ständer gibt es nichts, das Ihnen steht«, sagte er. »Das sind Sachen für Bankkassierer.« Er rümpfte die Nase. »Oder Büroangestellte.« Kein Grund zu erwähnen, dass ich Sekretärin bin, dachte sie. Vor allem, da ich den Job nur angenommen habe, um Angel zu helfen. Und, okay, damit ich essen kann. »Sie sind hier, um ...?«, fragte sie. »Jemanden zu treffen.« »Oh.« Sie war enttäuscht. Hätte ich mir denken können. Er lächelte. »Und das habe ich auch.« Volltreffer, dachte Cordelia glücklich. Endlich! »Kaufen Sie hier oft ein?«, flirtete sie. Er lachte leise. »Nein. Aber uns gehören eine Menge Läden in der Gegend. Ich komme hin und wieder her, um nach dem Rechten zu sehen.« Eine Menge Läden? Davon? Trotz ihrer Euphorie rümpfte sie die Nase. »Um nach dem Rechten zu sehen? Indem Sie den Leuten abraten, etwas zu kaufen?« »Das könnte man sagen. Ich habe Sie davon abgehalten, diese Bluse zu kaufen, nicht wahr?« »Wie ich schon sagte«, verteidigte sie sich, »ich wusste, dass sie mir nicht steht.« »Sie sollten einmal unseren Ausstellungsraum besuchen«, fuhr er fort. »Wir sind auf indonesische Stoffe spezialisiert. Und Batik wird jetzt wieder aktuell.« »Ja.« Sie nickte, obwohl sie nicht die leiseste Ahnung hatte, was »Batik« war. »Es ist wirklich, äh, schön. Ich finde es toll.« »Wir lassen es von unseren Mitarbeitern hier herstellen.« Hier im Gegensatz zu wo? »Toll«, sagte sie begeistert. Er legte den Kopf zur Seite. »Sie sind Schauspielerin, nicht wahr? Ich habe Sie irgendwo schon einmal gesehen.« »Wahrscheinlich nicht. Ich habe eine Menge Indie-Sachen gemacht.« Erklärend fügte sie hinzu: »Independent-Filme. Was man in Programmkinos sieht.« Wenn überhaupt. »Aber keine, äh, Sie wissen schon, Filme über Lesben und Ähnliches.« 36
»Wir haben ein kleines Studio in Indonesien. In Djakarta.« »Oh.« Sie zog die Brauen hoch. Ein Studio? Er besitzt ein ganzes Studio? In Indonesien ... wo zum Henker liegt Indonesien? Dort wird es wohl keinen Club Med geben, sonst hätte ich davon gehört. Wer hätte denn ahnen können, dass ein paar der nutzlosen Fakten, die man in der High School lernt, sich irgendwann doch als nützlich erweisen würden? Wie Französisch. Oder Geografie. »Haben Sie irgendwelche Filme gemacht, die ich vielleicht gesehen habe?«, fragte sie ihn. »Eigentlich nicht.« Er grinste sie an. »Wir produzieren eine Menge Indie-Sachen, wie Sie sagen, nur eben in anderen Sprachen. Mandarin. Tagalog. Und natürlich Bahasa-Indonesisch.« »Oh, natürlich.« Sie nickte, als wusste sie, wovon er sprach. »Das ist die volle Wahrheit, und ich versuche auch nicht, Sie zu beeindrucken. Ich bin sicher, dass sie ständig irgendwelche Kerle treffen, die behaupten, in der Filmbranche zu sein.« »Oh, natürlich«, antwortete sie leichthin. »Auf jeder Party. Sie wissen ja, wie das ist.« Genau, die Partys, auf die sie nicht mehr gehen konnte, weil sie jetzt für Angel arbeitete. Der ja nur nachts arbeiten konnte, wenn die Partys stattfanden. »Vielleicht könnten Sie für uns arbeiten.« Er griff in seine Tasche und reichte ihr eine Visitenkarte. Dabei berührten sich ihre Finger, sodass sie die Karte beinahe fallen gelassen hätte. Das hat geknistert. Entweder ist es ein knochentrockener Tag, oder ich bin elektrisch geladen. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen hatte er es auch gespürt. Cordelia senkte den Blick und betrachtete die Karte, um ihre Reaktion zu verbergen. Früher konnte ihr in puncto Coolness niemand das Wasser reichen, doch aufgrund der Tatsache, dass sie in Los Angeles ignoriert wurde, war sie ein wenig aus der Übung geraten. Die Schrift auf der Karte war golden und nur schwer zu lesen. Da war eine Art Hahn oder etwas Ähnliches abgebildet. Sie entschied, sie später genauer unter die Lupe zu nehmen, und warf sie in ihre Handtasche. »Nun«, sagte Jusef und sah sich um. »Es sieht so aus, als würde mein Vetter nicht kommen.« Seine Stimme hatte jetzt einen Unterton, der vorher nicht da gewesen war. Er verengte die Augen und schaute missbilligend um sich. »Ich habe Sie vom Einkaufen abgehalten«, fügte er schließlich hinzu. »Nein, das ist schon okay«, wehrte sie ab. »Wie Sie schon sagten, hier gibt es eigentlich nichts Vernünftiges und ...« Sie riss die Augen auf. 37
Er trug eine Rolex. Eine wunderschöne, teure Rolex. Als ihr dämmerte, dass er bemerkte, wie sie die Uhr anstarrte, sagte sie hastig: »Oje, wie die Zeit vergeht. Es ist fast Sonnenuntergang.« »Ihr Filofax ruft«, entgegnete er und schwieg für einige Sekunden. Als er kurz darauf wieder in den Flirtmodus umschaltete, funkelten seine Augen. »Haben Sie eine Verabredung?« Schön war's. Das Gespräch mit ihm war alles, was sie in den letzten Monaten an Verabredungen vorzuweisen hatte, sofern man ihr zufälliges Zusammentreffen als solche bezeichnen konnte. Es muss an meiner Kleidung liegen. »Slamet, da bist du ja«, sagte Jusef, als ein junger Mann auf sie zueilte. »Jusef, wo zum Teufel hast du gesteckt?«, wollte der Neuankömmling wissen. »Ich habe hier gewartet, wie verabredet.« »Hör bloß auf. Wir wollten uns doch am Haupteingang treffen.« Cordelia starrte ihn an. Er hätte fast Jusefs Zwillingsbruder sein können – was bedeutete, dass er unglaublich gut aussah –, nur mit dem Unterschied, dass er ziemlich fertig zu sein schien. Seine Augen waren geschwollen – vom Weinen, vermutete sie –, und sein wirklich schöner blaugrauer Anzug sah aus, als hätte er damit an einem Spinnkurs teilgenommen. »Ich möchte ja nicht unhöflich sein«, sagte der Neue – Salami? – mürrisch, bevor er abbrach und Cordelia anstarrte. »Mein Gott, sie sieht genau wie Meg aus«, entfuhr es ihm. Jusef zuckte die Schultern. »Ein wenig. Und mir fällt gerade ein, dass ich noch nicht mal Ihren Namen kenne.« »Cordelia Chase«, informierte sie ihn und Salami. »Schauspielerin«, fügte Jusef hinzu. »Oh«, meinte Salami ohne rechten Schwung. Nach einer Pause sagte Jusef: »Mein Vater ist heute gestorben.« Was dir egal zu sein scheint, dachte sie. Doch da es die Etikette verlangte, legte sie ihre Hand an die Brust und sagte: »Das tut mir schrecklich Leid. Ehrlich.« Er machte ebenfalls ein trauriges Gesicht. »Mein Dad war schon recht alt. Aber es ist immer schockierend, wenn der Tod eine Seele aus dem Leben reißt. Sie wissen, was ich meine?« »Äh, ja.« Sofern es keine Monsterseele ist. Obwohl die meisten von ihnen keine Seele haben. Was wohl einer der Gründe ist, wieso sie Monster sind. Abgesehen von ihrem Hang, Menschen umzubringen. Er betrachtete sie aufmerksam. »Was weiß jemand wie Sie schon vom Tod?« 38
Hast du ein paar Stunden Zeit?, dachte sie, aber das behielt sie für sich und sagte stattdessen: »Sie wären überrascht.« »Wir müssen gehen«, erklärte Salami. Cordelia wandte sich an Jusef. »Es war ... nett... mit Ihnen über hässliche Klamotten zu plaudern.« Jusef ergriff ihren Ellbogen und führte sie ein paar Schritte weiter. »Am Begräbnis meines Vaters dürfen nur die nächsten Verwandten teilnehmen«, sagte er. »Aber kann ich Sie vielleicht zum sedhekah einladen?« Sie zögerte. »Ich schätze, das hängt davon ab, was das ist.« »Es ist ein traditioneller Leichenschmaus, mit dem man dem Verstorbenen seinen Respekt erweist.« Er streckte eine Hand aus. »Da wir ziemlich verwestlicht sind, gibt es auch noch einen großen Empfang für die Geschäftspartner meiner Familie. Beides wird auf unserem Anwesen stattfinden.« »Ihrem Anwesen«, wiederholte sie langsam. »In Indonesien laden wir jeden zum Begräbnisempfang ein. Je mehr Gäste kommen, desto größer ist nämlich die Ehre der Familie. Es würde mich sehr freuen, wenn Sie kämen«, erklärte er. »Zur Beerdigung Ihres Vaters.« »Ja.« Er meinte es ernst. »Nun ja.« Sein Lächeln, bei dem er leicht die Nase kraus zog, war hinreißend. »Ich würde mich geehrt fühlen.« Komm schon, sag zu, dachte sie. Kostenloses Essen und gut aussehende Männer. Gut aussehende Männer, die Filme machen und Geschäftspartner und ein Anwesen haben. So verrückt ist es nun auch wieder nicht. Richtig? »Ich werde meinen Chef fragen müssen, ich meine, meinen Agenten«, sagte sie. Erfolgreiche Schauspielerinnen arbeiteten nachts nicht als Sekretärinnen. »Sie sind ein umsichtiges Mädchen. Das gefällt mir.« Erwies auf ihre Handtasche. »Meine Telefonnummern stehen auf der Karte. Auch die von meinem Handy.« Er klopfte auf seine Hemdtasche, und sie sah, dass sie leicht gewölbt war, was zweifellos an einem hochmodernen Mobiltelefon lag. »Wir haben noch mindestens drei Stunden bis zum sedhekah. Slamet und ich müssen jetzt nach Hause, um die Leiche für das Begräbnis zu waschen.« Iiih. So genau wollte ich es gar nicht wissen, dachte sie. 39
Ihr wurde plötzlich bewusst, dass sie noch nie einen Toten gewaschen hatte. Zwar hatte sie vor einiger Zeit die Einzelteile einer Leiche wie ein Puzzle zusammengesetzt, und daheim in Sunnydale fand man schließlich Tote an den abwegigsten Stellen – im Kühlraum der Cafeteria, in Auras Turnhallenspind, auf dem Rücksitz ihres Wagens. Aber eine zu waschen war etwas Neues für sie. »Es ist ein Ritual«, erklärte er ihr. »Meine Familie legt sehr großen Wert auf Rituale.« »Ich verstehe«, brachte sie matt hervor. »Rufen Sie mich in drei Stunden an«, schlug er vor. »Dann dürften wir fertig sein. Wenn Sie möchten, schicke ich Ihnen einen Wagen, der Sie abholt.« Etwa eine Limousine? Sind wieder die glücklichen Zeiten angebrochen? »Ich bin eine Fremde«, erinnerte sie ihn. »Ich meine, das ist schließlich eine Art Familienangelegenheit« – die Angelegenheit einer reichen Familie, also halt die Klappe! – »und was soll ich überhaupt anziehen?« »Etwas Schwarzes, wenn Sie so etwas haben.« Er sah sie auf eine Weise an, die ihre Wangen brennen ließ. »Sie müssen in Schwarz wundervoll aussehen.« »So ist es«, bestätigte sie. Er legte eine Hand auf ihren Unterarm. Seine Fingernägel waren makellos. Ein paar Meter weiter, knapp außer Hörweite, ging Salami ungeduldig auf und ab. Er schien stinksauer zu sein. Vielleicht ist er eifersüchtig, dachte sie hoffnungsvoll. Oder vielleicht glaubt er, dass die Familie mich verfluchen wird, wenn ich bei der Neil-Sedaka-Feier auftauche. »Ich könnte etwas Aufheiterung gebrauchen«, fügte Jusef hinzu. »Ich bin sozusagen das schwarze Schaf der Familie.« »Oh. Nun ja. Ich bin ein heiteres Mädchen, wie jeder bestätigen wird, der mich näher kennt.« Sie streckte ihre Hand aus. »Ich werde mein Bestes tun.« »Danke.« Er schenkte ihr das Lächeln eines traurigen Jungen. »Ich weiß nicht, ob Sie an Karma glauben, aber ich tu's.« »Ich weiß nicht genau.« Sie hob die Schultern. »Manchmal scheint es so, als hätten manche Leute mehr Pech als andere.« Wie ich mit meiner Schauspielkarriere. »Und Glück auch«, fügte sie hastig hinzu, denn natürlich war es das, was er gemeint hatte. »Lassen Sie uns herausfinden, ob unsere Begegnung Glück war. 40
Ich halte es nicht für einen Zufall, dass Sie diese grauenhafte Bluse genommen haben in dem Moment, als ich Sie sah.« Er nahm ihre Hand. Salami winkte ihm zu. »Jusef, wir müssen gehen.« »Schon gut, Slamet«, nickte er. »Oh, er heißt Slamet«, murmelte sie. »Das bedeutet ›Glück‹ auf Indonesisch.« »Mein Name bedeutet Cordelia.« Jusef sah sie forschend an, und sie hatte das Gefühl, in seinen ausdrucksvollen braunen Augen zu schwimmen. »Ich hoffe, Sie rufen an.« »Okay«, krächzte sie. »Geben Sie uns drei Stunden«, bat er sie. »Ich werde das Handy bei der Beerdigung abschalten.« Sie nickte leicht überrumpelt, bevor sie ihm »Viel Glück« wünschte. Dann machte sie, so lässig wie möglich, auf ihren superhohen Absätzen kehrt und ging davon. Ich habe eine Verabredung zu einem Begräbnis. So was ist nur in L. A. möglich, dachte sie. Und natürlich in Sunnydale, aber in dem Fall wären die beiden verkleidete Dämonen oder so. Sie warf einen Blick über die Schulter und war ein wenig enttäuscht, als sie sah, dass sie in der entgegengesetzten Richtung verschwanden. Allerdings war es ohnehin Zeit für sie, ins Büro zu gehen, denn Angel würde in Kürze aufwachen, und sie wollte herausfinden, ob seine Nira ihn angerufen hatte. Und wer sie eigentlich war. Auf halbem Weg zur Bushaltestelle – es war demütigend, in Los Angeles kein Auto zu haben –, spürte sie einen Ruck an ihrer Handtasche. »He«, rief sie und fuhr herum. Sie senkte den Blick und sah ein kleines Mädchen, das seine kleine Hand in ihre Handtasche gesteckt hatte. Erst jetzt bemerkte Cordelia, dass sie den Reißverschluss nicht zugezogen hatte, als sie Jusefs Karte hineingeworfen hatte. Mit einem ernsten Blick starrte die Kleine Cordelia an. Ihr Gesicht war mondförmig und ihre Augen glichen zwei dunklen Sicheln. Ihr langes schwarzes Haar war zu zwei Zöpfchen geflochten und ihre Schneidezähne fehlten. Mit den himbeerroten Shorts und dem ärmellosen Batikoberteil sah sie ganz niedlich und überhaupt nicht wie eine Diebin aus. Langsam zog das Mädchen seine Hand zurück. »Wolltest du was aus meiner Handtasche klauen?«, fragte Cordelia barsch. Die Kleine starrte sie weiter an. Cordelia runzelte die Stirn. »Kannst du mich verstehen?« 41
Sie starrte immer noch, was Cordelia auf die Nerven ging. »Mach das ja nie wieder. So was darf man nicht. Du handelst dir damit nur eine Menge Ärger ein, und die Polizei wird dich ins Gefängnis werfen. Böses Mädchen«, sagte sie und zog demonstrativ den Reißverschluss ihrer Handtasche zu. »Nein, nein.« Sie drohte der Kleinen mit dem Finger und ging weiter. Nach etwa fünf Sekunden sah sie sich um. Die Kleine starrte ihr noch immer nach. Dann gesellte sich ein Junge zu ihr, der nur etwas größer war als sie und ebenfalls ein Batik-T-Shirt trug. Er verpasste er dem kleinen Mädchen eine schallende Ohrfeige. Die Kleine wich zurück, blieb aber stumm. »He!«, schrie Cordelia. Das Mädchen drehte sich wieder zu Cordelia um, während Blut an ihrem Kinn hinunterlief. Der Junge zog an ihrem Arm und schrie etwas in einer fremden Sprache. Als sie nicht reagierte, schlug er sie wieder. Und während das Blut auf ihr farbenprächtiges Top tropfte, blieb ihr Blick weiter auf Cordelia gerichtet. »Hör auf damit, du Rowdy!«, schrie Cordelia. Sie rannte auf die beiden kleinen Kinder zu, doch eine entgegenkommende Passantin – eine gebeugt gehende Frau mit kurz geschnittenen grauen Haaren – versperrte ihr den Weg. »Verzeihung«, sagte Cordelia aufgeregt und drängte sich an ihr vorbei. Die beiden Kinder waren verschwunden, hatten sich praktisch in Luft aufgelöst. Verdutzt blickte sich Cordelia nach allen Seiten um. Sie konnten unmöglich weggelaufen sein. Sie hätte sie gesehen. Die grauhaarige Frau streckte eine Hand aus und sagte: »Geld?« Sie hatte mandelförmige Augen und ein rundes Gesicht. Sie sah erschöpft und verhärmt aus. »Ich habe nur das Geld für meinen Bus«, erwiderte Cordelia. »Du reiches Mädchen«, sagte die Frau anklagend und streckte weiter ihre Hand aus. »Gib mir Geld.« »He, verschwinde.« Cordelia trat einen Schritt zurück. »Ich habe kein Geld, okay? Nur Kleingeld für den Bus.« In diesem Moment tauchten die beiden kleinen Kinder aus dem Nichts auf und rannten auf Cordelia zu. Und während diese die zwei anstarrte, packte die alte Frau ihre Handtasche, klemmte sie unter ihren Arm wie eine Footballspielerin und verschwand mit erstaunlicher Geschwindigkeit in einer Gasse. Die beiden Kinder folgten ihr schnell und anmutig wie kleine Gazellen. 42
»He!«, schrie Cordelia. Sie trippelte auf ihren hohen Absätzen hinterher, doch ihr war klar, dass sie entweder ihre Handtasche verlieren oder sich die Fußknöchel brechen würde. Sie blieb stehen und streifte ihre Schuhe ab. Und als sie den drei Gestalten so graziös nachsetzte, wie sie es auf der Modelschule gelernt hatte – damals, als sich ihre Eltern derartige Dinge noch leisten konnten –, waren diese schon fast aus ihrem Blickfeld verschwunden. »Ihr habt mein Busgeld!«, brüllte sie. Sie lief an einem völlig verdreckten Mann mit leeren Augen vorbei, der sie stumm ansah, und funkelte ihn an. »Helfen Sie mir!« »Hamse was Kleingeld für mich? Ich bin Veteran«, sagte er. Sie stürmte an ihm vorbei. Straßenschmutz verdreckte ihre Strümpfe. Sie musste würgen, lief aber weiter. Als sie Glasscherben vor sich glitzern sah, verlangsamte sie ihren Schritt und spähte in die Gasse. Da war nichts zu sehen außer Dunkelheit und nichts zu hören außer dem schmutzigen Mann, der hinter ihr herschlurfte. »Hamse was Kleingeld?«, fragte er. Sie musterte ihn. »Nein«, sagte sie. »Aber ich wette, Sie haben was.« Sie streckte ihre Hand aus. »Geben Sie mir fünfunddreißig Cents.« Der Mann blinzelte. In diesem Moment gellten die Schreie los.
43
Viertes Kapitel
»Wie wir im alten Land zu sagen pflegten«, brummte Doyle Angel zu, während die beiden in Angels Büro standen, »igitt.« In der Dämmerung war Angel hochgeschreckt, nachdem er die wirren Träume von der Hölle, dem Feuer und der tanzenden, in Gold gekleideten Frau gehabt hatte. Und von dem Chihuahua aus den TacoBell-Werbespots hatte er geträumt. Jetzt betrachteten er und Doyle gerade die Autopsiefotos, die Angel vom Laborcomputer der Pathologieabteilung des Police Departments heruntergeladen hatte. Kate wusste nicht, dass er mühelos dazu in der Lage war – und es auch tat –, wenn sie ihm gegenüber ein ungewöhnliches Verbrechen erwähnte. »Igitt ist das richtige Wort dafür«, erwiderte Angel und blickte von dem Foto zu der Uhr an der Wand. »Wo bleibt Cordelia? Sie müsste längst hier sein.« »Vielleicht hat sie die Rolle bekommen«, sagte Doyle hoffnungsvoll. Er hatte eine Schwäche für Cordelia, das wusste Angel, nur hatte er nicht die leiseste Ahnung, ob aus dieser Schwärmerei jemals mehr werden würde. Sein irischer Landsmann war nicht reich, und bis jetzt hatte er die Tatsache, dass er ein Halbdämon war, für sich behalten. Was vielleicht daran lag, dass Cordy noch kein einziges gutes Wort über Dämonen verloren hatte. »Das wäre toll«, sagte Angel. Doyle runzelte die Stirn. »Aber in diesem Fall hätte sie uns angerufen, oder? Ich meine, wir sind ihre engsten Freunde. Dann hat sie die Rolle wahrscheinlich doch nicht bekommen. Vielleicht war sie so deprimiert, dass sie in eine Kneipe gegangen ist, um ihren Kummer zu ertränken.« Er sah besorgt aus. »Cordelia Chase?« Angel schüttelte den Kopf. »Sie würde niemals allein in eine Bar gehen. Selbst wenn sie alt genug wäre, um Alkohol zu trinken.« Er zuckte die Schultern. »Geben wir ihr noch ein paar Minuten.« »Bevor wir was tun?«, fragte Doyle unglücklich und griff nach dem Telefon. »Ich rufe sie zu Hause an.« »Gute Idee«, nickte Angel. Dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf den Computermonitor. Die Farbaufnahme drehte ihm zwar 44
den Magen um, kam ihm aber irgendwie vertraut vor. Er hatte etwas Derartiges schon einmal gesehen, wenngleich er nicht sagen konnte, wo und wann. Kate vertraut mir also nicht genug, um mir alles zu erzählen, aber damit hätte ich auch nicht gerechnet, dachte er mit einem grimmigen Lächeln. Es waren Brandopfer – in diesem Punkt hatte sie nicht gelogen –, aber es steckte noch viel mehr dahinter. Angel wusste, obwohl er nicht ganz sicher war, woher, dass diese Person von innen her verbrannt war. Aber kann ein brennender Körper ein ganzes Apartmenthaus in Brand setzen? »Ich habe nur ihren Anrufbeantworter erwischt«, berichtete Doyle. Dann sagte er in die Sprechmuschel: »Cordelia, hier ist Doyle. Wir machen uns ein wenig Sorgen um dich. Wenn du nicht kommen kannst, dann gib uns Bescheid, okay? Habe ich schon erwähnt, dass ich es bin, Doyle?« Angel lächelte vor sich hin. Als hätte sonst noch jemand diesen Akzent. »War das mal ein Mensch?«, fragte Doyle, als er auflegte. »In der Tat«, bestätigte Angel, während er mit der Maus den Cursor über die schwarzen und roten Stellen in der unteren linken Ecke des Bildschirms bewegte. »Kate hat mir erzählt, dass es einige merkwürdige Mordfälle gegeben hat. Ich frage mich, ob das die Leiche ist, die sie gestern Nacht in Niras Haus gefunden hat«, fügte er hinzu. »Was denkst du?«, fragte Doyle und zog eine Grimasse. Angel starrte das Foto durchdringend an, während vor seinem geistigen Auge Bilder entstanden, die nicht aus seinen Träumen stammten und auf denen auch keine Chihuahuas vorkamen. »Spontane menschliche Selbstentzündung?«, sagte Doyle in das ausgedehnte Schweigen hinein. »Hast du schon mal davon gehört? So was gibt es tatsächlich.« »Ja. So was gibt es«, antwortete Angel bedächtig. Die Bilder erinnerten Angel an Dinge, die er schon seit langem unterdrückte, und als er sich ihnen öffnete, fielen ihm weit mehr Einzelheiten ein, als ihm lieb war. Oder als er ertragen konnte. »Angel?«, fragte Doyle. »Glaubst du, dass wir es hier mit Selbstentzündung zu tun haben?« Es war Doyles irischer Akzent, der Angel zurück nach Galway brachte, in jene Zeit, als er noch ein Mensch gewesen war. 45
Und wieder wurde er von seinen Erinnerungen überwältigt. Galway, 1752 »Granny Quinn ist tot. Lass uns zu ihr gehen und bei ihrem Leichnam etwas wünschen«, flüsterte Doreen Kenney Angelus zu, als sie ihn verschämt von sich stieß. Sie lagen in der Scheune ihres Vaters im Heu, während die Sonne fast untergegangen war und die karmesinroten Strahlen durch die Dachluken fielen. Doreens Haare waren feuerrot, und manche sahen dies als Beweis dafür an, dass sie eine Hexe war. Angelus war bereit, das zu glauben, denn allein ihr Blick genügte, um ihn zu entflammen. »Granny ist tot, und das Einzige, was man für ihre morschen Knochen noch tun kann, ist, ein Gebet zu sprechen«, entgegnete Angelus gereizt. »Und wir beide haben in unserem Leben bestimmt schon genug für die Toten gebetet. Für die, die wir liebten. Für Verwandte und Freunde. Was haben wir mit der alten Vettel zu schaffen?« In Galway war der Tod ein ständiger Begleiter; Babys, kleine Kinder und alte Leute starben, Bettler verhungerten, und Krankheiten kamen öfter, als dass sie fernblieben. Und kaum ein Haus blieb für immer verschont, ob es nun katholisch oder protestantisch, arm oder reich war. »Moira sagte, wer sich in Gegenwart einer aufgebahrten Leiche etwas wünsche, bekomme, was er wolle.« »Und wenn dem so ist, warum ist Moira dann mit ihren neunzehn Jahren noch Jungfer?«, spottete Angelus. Doreen blickte verwirrt drein. Schon immer hatte Angelus sie für etwas dumm gehalten, was keine schlechte Sache bei einem Weib war, denn schließlich wollte man nicht, dass sie sich über zu viele Dinge den Kopf zerbrach. Frauen hatten wichtigere Dinge zu erledigen, wie sich um ihre Männer und Babys zu kümmern. Bei Dorrie wusste man allerdings nie, ob ihr Verstand die Richtung einschlagen würde, in die man sie lenken wollte, oder ob sie unterwegs hängen blieb. »Ich will damit sagen, dass Moira eine Menge Chancen hatte, ein paar Wünsche auszusprechen«, erklärte Angel. »Und wir beide wissen, dass sie nicht einen einzigen Verehrer hat. Was bei ihren Zähnen auch weiter kein Wunder ist.« Er schauderte. »Und bei diesem Atem.« »Das ist nicht nett von dir«, sagte Dorrie und grinste dann. »Aber es stimmt. Und Granny Quinn könnte für Abhilfe sorgen, dessen bin ich mir sicher.« 46
»Es ist ein kalter Tag«, führ Angelus fort, »und wir haben Besseres zu tun, als den Leichnam einer weisen Frau zu verspotten.« »Weise Frau? Sie war eine Hexe, und du weißt das«, sagte Doreen und zog einen Schmollmund. »Ihre verfluchte Seele wird heute Nacht den Teufel im Wald treffen. Auf einem Besenstiel wird sie nackt mit ihm davonfliegen.« Ihre grünen Augen leuchteten vor Erregung. »Ah, meine bezaubernde Doreen, ich wünschte, du würdest nackt auf meinem Besenstiel fliegen«, scherzte er, während er ihre Hand ergriff, um sie dahin zu legen, wo es ihm das größte Vergnügen bereitete. Sie brach in Gelächter aus und entzog ihm ihre Hand. »Angelus, du weißt, dass ich meine Keuschheit noch immer habe und sie keinem Mann schenken werde, der nicht mein Ehemann ist.« »Sicher, und du weidest dich an meinem Leiden«, stöhnte er. »Mein Vater wird mir nicht die Mittel geben, um mir ein Weib zu nehmen. Wenn es nach ihm geht, werde ich noch Jahre von ihm abhängig sein.« »So lange werde ich nicht warten«, sagte sie spitz. Ihr Vater war ein wohlhabender Mann, und sie hatte eine beträchtliche Mitgift zu erwarten. Der alte Patrick Kenney wollte sie verheiraten, solange sie noch in der Blüte ihrer Jahre stand; sie war sechzehn, und es wurde höchste Zeit für sie, einen passenden Gatten zu finden. Und genau dieser Gatte hätte Angelus als Landadeliger sein können, wäre sein Ruf nicht so schlecht gewesen. Patrick Kenney hielt ihn für einen Prasser und Schurken. Und in beiden Punkten entsprach die Meinung des Gentleman der Wahrheit. »Doreen, wenn ich könnte, würde ich.« Er legte seinen Arm um ihre Hüfte. »Noch in diesem Moment.« Kichernd drückte sie sich an ihn. »Ja, das würdest du, Angelus. Daran habe ich keinen Zweifel.« Er hielt den Atem an. »Aber du wirst es nicht tun.« Und bevor er Gelegenheit hatte zu protestieren, fügte sie hinzu: »Wie dem auch sei, bring mich jetzt zu Granny Quinn, und dort kannst du einen Wunsch aussprechen, der vielleicht wahr werden wird.« Sie küsste ihn lange und leidenschaftlich, und hätte sie in diesem Moment von ihm verlangt, den gesamten Friedhof umzugraben, um so ihre Gunst zu gewinnen, er hätte es getan. »Es heißt, dass du selbst eine Hexe bist«, flüsterte er. Sie verspannte sich. »Nimm das zurück, Angelus.« Ihre Stimme war kalt wie Stein. »Nimm das zurück, oder ich werde nie wieder ein Wort mit dir reden, solange ich lebe.« Er blinzelte. »Sicher. Aber das glaubst du doch wohl selbst nicht.« 47
»Kein einziges Wort.« Sie löste sich von ihm und strich ihr Kleid glatt, während er aufstand. In diesem Moment verschwand die Sonne, und die Farben in der Scheune verblassten zu einem trüben Grau. Und als Angelus Doreen ansah, hätte er schwören können, dass er ein anderes Gesicht sah – grausig deformiert und mit rot glühenden Augen, die voller Wut waren. Es musste wohl an dem Spiel von Licht und Schatten liegen, denn als er sie anblinzelte, sah er nur noch seine wunderschöne Doreen. »Lass uns nicht gehen«, stieß er hervor. »Das bringt nur Unglück.« »Was? Ist er etwa ein Feigling?«, stichelte sie. »Dann werde ich mir einen anderen Begleiter suchen müssen.« »Nein, das wirst du nicht.« Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Ihr Blick wanderte über seinen Körper und ein Lächeln umspielte ihre Lippen. »Dann bist du also eifersüchtig?«, fragte sie. »Natürlich.« »Oh, Angelus, du bist so ein Tölpel«, schalt sie ihn sanft. »Du hast keinen Grund, eifersüchtig zu sein.« Das brachte ihn zum Schmelzen, und er sagte sich, dass die seltsame Erscheinung eine Täuschung gewesen war, hervorgerufen durch das Spiel des Lichtes und seine närrische Einbildung. Schließlich waren die Nächte lang, und die Welt langweilte ihn. Eine derartige Situation verlangte nach kühnen Plänen – vielleicht sollte er Galway verlassen und versuchen, in der Fremde sein Glück zu machen. Dann konnte er sich ein Weib wie Doreen zur Frau nehmen. »Doreen«, sagte er zärtlich, »ich liebe dich.« »Mich – und all die anderen Mädchen in Galway«, neckte sie ihn. »Nein, niemals«, sagte er nachdrücklich. »Und ich nehme alles zurück, sollte ich je etwas Kränkendes zu dir gesagt haben. Verzeih mir, liebstes Mädchen. Du hast mein Herz gewonnen.« »Und deine Seele?« Ein Schauder lief ihm über den Rücken. Dennoch lachte er. »Falls außer Gott noch jemand sie haben will«, meinte er, »dann gehört sie dir.« Sie drehte ihm den Rücken zu und hob den Kopf. Durch das Fenster schien der Vollmond, und er war überrascht, dass er so schnell aufgegangen war. In seinem Licht sahen Doreens rote Haare jetzt gelb aus. Er hatte es ihr nie gesagt, aber eigentlich zog er blonde Mädchen den rot- oder schwarzhaarigen vor. 48
Sie drehte ihm weiter den Rücken zu, als sie sagte: »Komm jetzt. Wir werden Granny Quinn besuchen und herausfinden, was du willst.« Mit zwei der edlen Rösser ihres Vaters – Angelus ritt auf Chieftain und Doreen auf Black Silky – galoppierten sie durch die Dunkelheit, während sich das Salz und der Gestank des Hafens wie Rauch verdichtete. Kräftiger Wind bauschte Doreens karierten Mantel, während die Hufe von Black Silky rhythmisch auf den ebenholzschwarzen Boden trommelten. Ihre Familie war nicht so alt wie Angelus', aber die Kenneys waren immer reich gewesen. Manche behaupteten, dass die Familie – alles Rotschöpfe – mit den Geistern im Bunde war und so ihr Vermögen zusammengerafft hatte. Gebildete Menschen ignorierten diesen Klatsch jedoch, der einzig von Neid geprägt war. Wolken rasten am Himmel dahin, als würden sie die beiden verfolgen, und Angelus gab seinem Pferd die Sporen. »Doreen«, schrie er, »ein Sturm kommt auf!« Doch sie galoppierte weiter und vergrößerte ihren Vorsprung. Er konnte nicht sagen, ob sie ihn nur ignorierte oder ob sie ihn nicht hören konnte. Und während ihr Pferd an Schnelligkeit gewann, blähte sich ihr Mantel wie die Schwingen eines großen Vogels. Sie duckte sich, und als sie dahinjagte, sah es aus, als hätte sie keinen Kopf. Blitze zuckten am Himmel, und Chieftain warf seinen Kopf zurück, während er verängstigt wieherte. Ein weiterer Blitz riss die Wolken auf, und Regen stürzte nieder. Von den grünen Hügeln stieg dampfender Nebel auf und wallte über Angelus' Weg. Er dachte kurz daran, die Straße zu verlassen, um irgendwo Schutz zu suchen. Seine Ängstlichkeit beschämte ihn, doch jede Faser seines Körpers protestierte gegen dieses Abenteuer. Es war einfach töricht, bei diesem Wetter weiterzureiten. Davon abgesehen hatte er eine Verabredung mit Bess in Mistress Burtons Gesellschaftshaus. Bess war seine Favoritin, denn sie hatte keine Illusionen über Ringe und Versprechen, und wenn sie ihn reizte und sein Blut in Wallung brachte, gab sie ihm auch, was er verlangte ... Hinzu kam, dass er sich nicht sicher war, ob er wirklich einen Blick auf Granny Quinns Leichnam werfen wollte. Die alte Vettel, die ganz allein gelebt hatte, stand in dem Ruf, mit Leuten zu reden, die außer ihr niemand sehen konnte. Es gab Gerüchte über einen Geliebten, dessen Knochen in ihrem Garten vergraben waren, nachdem er sich als untreu entpuppt hatte. Es hieß, dass man im Winter um Mitternacht den Wind durch seinen Brustkasten pfeifen und das Klappern seiner Zähne hören könnte. Weibergeschwätz, sagte sich Angelus. 49
In diesem Moment riss Doreen ihr Pferd herum und winkte ihm zu, sich zu beeilen. Er konnte ihr Gesicht in der Dunkelheit und dem Wind nicht sehen, aber irgendwie war er sich sicher, dass sie ihn auslachte. Verärgert trieb er sein Pferd an. Granny Quinn hatte in einer armseligen Hütte gelebt. Ratten raschelten in dem Abfallhaufen, der sich neben ihrer Behausung türmte, und es stank nach Torf, Schlamm und den Kadavern kleiner Tiere, die wie Sonntagswäsche an einer Leine vor der Tür hingen. Ein großes Feuer, das im Garten loderte, tauchte die verwitterten Steinwände der Hütte in gelbes Licht. Angelus erinnerte es an die alten Zeiten, als man Feuer gemacht hatte, um die Toten zu wärmen, bevor sie sich auf den Weg ins Totenreich begaben. Um das Feuer drängten sich mindestens sechs oder sieben Leute – bis auf eine Ausnahme alles Frauen. Die meisten der Weiber hielten sich Taschentücher vor das Gesicht und weinten. Eine andere, die ihren Mund mit ihrem Schal bedeckt hatte, jammerte laut genug, um die Toten zu wecken. Angelus war überrascht, dass sich so viele Trauergäste eingefunden hatten, egal, ob sie nun dafür bezahlt wurden oder nicht. Granny Quinns Besucher – aus Scham stets um Heimlichkeit bemüht – waren nur in dunklen, mondlosen Nächten zu ihr gegangen, um vor ihrer Tür um Liebestränke, Heilkräuter und Gifte zu bitten. Die Frau, die ihren Mund mit dem Schal bedeckt hatte, sang jetzt in einer alten Sprache, während die Flammen des Feuers flackernd ihr Gesicht erhellten. Angelus lauschte, und seine Verwirrung wuchs: Sie war eine bean caointe, ein professionelles Klageweib, dessen war er sich sicher. Und dennoch galt ihr Klagelied einem ertrunkenen Kind. Der einzige Mann war wie ein aranischer Fischer gekleidet. Seine Kleidung war steif und grob, und er trug einen breitkrempigen schwarzen Hut. Als er sich zu Angelus umdrehte, löste sich das Geheimnis um die Trauernden und das Klagelied: Er hielt ein totes Kind in einem weißen Unterkleid in seinen Armen – dem Aussehen nach zu urteilen ein Junge von vier oder fünf Jahren. Um den Hals des Kindes lag noch immer Seetang, und seine kleinen Füße waren blau vor Kälte. Schweigend sah der Fischer Angelus an, bevor eine einzelne Träne über sein Gesicht rann. Doreen sprang von ihrem Pferd, ohne das tragische Bild eines Blickes zu würdigen. Mit großen Schritten lief sie um das Feuer herum und hinein in Granny Quinns Hütte. 50
Angelus war jedoch wie gebannt. Erblieb auf Chieftain sitzen und erwiderte den Blick des Fischers, der noch kein Wort gesprochen hatte. Sein totes Kind in den Armen, stand er da wie eine Steinstatue auf einem Grab. Dieser Mann ist tot, genau wie sein Kind, dachte Angelus. Und auch für mich ist Galway der Tod. Tag für Tag. Denn hier erwartet mich nichts anderes als Zank und Streit mit meinem Vater, der selbst ein toter Mann ist. Das Klagelied der jammernden Frauen wurde lauter, untermalt vom Prasseln des Feuers. Sie sangen weiter, und Angelus hörte wie in Trance zu. Als er sich schließlich wieder rührte, hatte er das Gefühl, sich für einige Zeit verloren zu haben; durch die Flammen blickte er zu der windschiefen Tür der Hütte hinüber und fragte sich, was Doreen dort drinnen wohl trieb. Wahrscheinlich betete sie. Ein plötzlicher unerbittlicher Windstoß fegte über die Szenerie und hüllte die um das Feuer Versammelten in tiefe Dunkelheit. Von einem Moment zum anderen wurde die Luft winterlich kalt. Die Klageweiber verstummten. Alle bekreuzigten sich gleichzeitig, während sie sich erstaunt umsahen, doch außer dem Heulen des Windes und Angelus' eigenem Herzschlag war alles still. Bis mit einem Mal ein trauriges Stöhnen erklang, das ihm einen Schauer über den Rücken jagte. Es sammelte sich wie Nebel auf der kalten Erde, stieg dann spiralförmig in die Höhe und wurde zu einem schrillen Kreischen, das die verängstigten Rufe der Trauernden übertönte. »Nein! Du kannst meinen Paddy nicht haben!«, schrie der aranische Fischer, wobei er das Kind an sich drückte, auf die Knie sank und sich schützend über das Bündel beugte. Angelus stemmte sich gegen den aufziehenden Sturm und trat an seine Seite. Er legte dem Mann eine Hand auf die Schulter und sagte: »Was ist das? Was ist das für ein Lärm?« »Seid Ihr denn kein Ire?«, rief der Fischer. »Das ist die Banshee, die Todesfee, die gekommen ist, um meinen Sohn zu holen! Ich kam hierher, um mir über Grannys Knochen zu wünschen, dass er mir zurückgegeben wird, aber jetzt wird die Banshee ihn holen!« Er schluchzte. »Patrick! Oh, Paddy, geh nicht mit ihr fort!« Die anderen schrien. Doch Angelus verdrehte angesichts dieses Aberglaubens die Augen. »Das ist doch nur der Wind, Mann!«, donnerte er. In diesem Moment verwandelte sich das Stöhnen in ein Kreischen, und als der Wind immer wilder blies, stolperten die Frauen davon. Das Feuer, 51
von den Böen entfacht, spuckte einen Funkenschauer aus, der an den Schweif eines Kometen erinnerte. Der Fischer hob seine Arme über den Kopf und betete in armseligem Latein vor sich hin. Dann trat Doreen aus der Hütte, und Angel konnte für einer Moment ihr Profil sehen, das irgendwie verunstaltet aussah. Ihre Kapuze tauchte Stirn und Nasenrücken in Schatten, aber mit ihren Wangen und ihrer Kinnlinie schien etwas nicht zu stimmen. Und während sie ganz langsam die Hände zur Kapuze hob und sie zurückschlug, machte sie eine Vierteldrehung zum großen Feuer und sah direkt hinein. Ihr Gesicht war aschfahl, unter ihren Augen lagen schwarze Ringe und ihre Lippen waren grau. Ihr feuerrotes Haar war schneeweiß geworden. Angelus starrte sie an. »Dorrie?«, murmelte er, obwohl niemand, am allerwenigsten sie, ihn hören konnte. Unsicher stemmte er im brausenden Sturm einen Fuß gegen den Boden. Der Wind war so kalt, dass seine jungen Gelenke schmerzten und der Speichel auf seinen Lippen zu Eis gefror. Ihr Blick wanderte vom Feuer zu ihm. Dann hob sie eine Hand und streckte einen Finger aus, während sie langsam – nach vorn gebeugt und schlurfend – losging. Sie bot einen grässlichen Anblick. »Die Todesfee!«, kreischte der Fischer und umklammerte sein Kind. »Nein, nein! Gott und all Seine Engel haben meinen Paddy in ihrer Obhut!« Verzweifelt sah er Angelus an. »Er ist nicht getauft! Sie wird ihn mitnehmen!« Angel starrte Doreen mit offenem Mund an. Noch nie in seinem ganzen Leben hatte er solche Angst gehabt. Doreen – oder was immer aus ihr geworden war – schrie ein Wort in einer Sprache, die er nicht verstand, und kurz darauf hörte der Wind auf. Der Fischer brabbelte und weinte und klammerte sich an sein Kind. Doreen starrte die beiden an, bevor sie ihr Gesicht zu einem grausigen Lächeln verzog. Sie hatte nur noch ein paar Zähne im Mund. »Angelus«, sagte sie. »Wünsch dir etwas. Wünsch dir, dass ich jung bin und schön und deine Braut.« Sie streckte ihre Arme aus. »Wünsche es dir, und ich werde dein sein.« Er konnte sich nicht bewegen, konnte nicht sprechen. Doch als sie einen weiteren Schritt auf ihn zutrat, riss Angelus sich aus seiner Erstarrung und wich hastig zurück. Mit dem Zeichen gegen den bösen Blick versuchte er, sie abzuwehren, doch sie kam immer näher. Der Fischer blickte gequält zu ihm auf. »Wünscht Euch, dass sie mein Kind verschont«, flehte er. 52
Die Gestalt sah erst den Fischer an und dann seinen toten Sohn. Als wäre es ihr völlig gleichgültig, zuckte sie die Schultern. »Wenn das dein Wunsch ist«, sagte sie zu Angelus, »wird er dir gewährt.« Sie bewegte ihre Hüften. »Oder du kannst Doreen und all ihren Reichtum haben. Du musst es nur sagen.« »Tut es für mein Kind, Mann!«, bettelte der Vater. »Rettet die Seele meines Kindes!« Das muss ein Traum sein, dachte Angelus, als er sich rührte. Ein Albtraum, ganz gewiss. Aber er wusste, dass er wach war. Dann eben ein Trick. Habe ich dasselbe Gesicht nicht schon vorhin in der Scheune gesehen? Ich weiß nicht wie, aber ihre Schwestern und sie erlauben sich gewiss einen Streich auf meine Kosten. So was wie Magie gibt es nicht. Ich habe nie daran geglaubt und tu es auch jetzt nicht... »Du musst nicht daran glauben«, sagte das Schreckgespenst, als hätte es seine Gedanken gelesen. »Es ist nicht nötig. Du hast die Möglichkeit, dein Leben für immer zu ändern. Du musst nur deinen Wunsch aussprechen, Angelus.« Er straffte seine Schultern und befeuchtete seine Lippen. »Ich muss daran glauben, um ihn aussprechen zu können.« »Um der Liebe Gottes willen, nein!«, rief der verzweifelte Fischer. »Sagt ihr, sie soll fortgehen!« »Willst du Doreen und ihre Mitgift haben?« Ihre Stimme war ein Flüstern, dennoch konnte er jedes Wort deutlich verstehen, als wären ihre grauen Lippen an sein Ohr gepresst. »Oder willst du Galway für immer verlassen? Ich glaube, du möchtest gern nach London. Du kannst London haben. Und Paris. Sogar die Kolonien.« »Ich werde meinen eigenen Weg machen«, sagte Angelus trotzig. Als sie in Lachen ausbrach, klang es wie das Röcheln einer Frau, die entsetzliche Schmerzen hat. »Du findest doch nicht einmal allein den Weg vom Schulhof, Master Angelus. Du bist ein Lügner und ein Betrüger, und du hast alles, was du konntest, von deinem Vater gestohlen, ohne dass er dich wie einen gemeinen Dieb davongejagt hat. Deiner Mutter hast du das Herz gebrochen, und deine Schwestern sind die Einzigen, die dich noch immer lieben. Du hast die Herzen vieler Mädchen gebrochen, von denen einige ihren Weg zu dieser Tür hier gefunden haben, um deine Brut loszuwerden. Auf deine Art bist du also auch noch ein Mörder.« Sie hob einen knochigen Finger. »Und du wirst eines Tages für deine Morde mit dem Tod bezahlen. Du wirst für alles leiden, was du getan hast, auf eine Weise, die du nicht erahnen und die ich dir nicht einmal erklären kann.« 53
Sie stach mit ihrem Finger in seine Richtung. »Und wenn du einsam stirbst, wird niemand um dich trauern.« Bei diesen Worten machte der Fischer das Zeichen gegen den bösen Blick in Angelus' Richtung, der sich mit der Hand durchs Haar fuhr und nervös den Kopf schüttelte. Es hieß, dass tote Augen in die Zukunft sehen konnten. Also würde er wegen Mordes gehängt werden, oder? Zorn kochte in ihm hoch. Das ist alles nur eine Scharade, sagte er sich. Doreens Familie ist reich; sie kann mühelos ein paar Scharlatane anheuern, um jene Verehrer abzuschrecken, die ihr nicht passen. »Dann werde ich eben nicht sterben«, schleuderte er ihr trotzig entgegen. »Ich werde niemals sterben. Das ist mein Wunsch.« Sie lachte krächzend. »Törichte Kreatur! Du hast damit deine eigene Verdammnis besiegelt. Denn du, mein hochmütiger Junge, solltest eines wissen: Gottes Kinder sterben. Alle. Und jene, die nicht sterben, sind nicht die Seinen. Sie gehören dem Teufel.« Während sie sprach, sah sie das tote Kind an. Der Vater des Jungen klammerte sich an ihn und brüllte: »Erzengel Michael! Sankt Patrick! Oh, ihr Heiligen, helft mir in meiner Not!« Die Frau lachte wieder. »Junger Mann«, sagte sie, und für ihn klang ihre Stimme sanft, »die Seele deines Kiemen ist längst im Himmel. Gott begehrt die Unschuldigen, und dieses Kind gehörte gewiss dazu. Hör auf mit dem Gejammer und troll dich nach Hause.« »Barmherziger Gott«, murmelte der Mann und bekreuzigte sich. Unsicher stand er auf und lief davon. Die Frau wandte sich wieder Angelus zu. »Damit bleibst nur noch du für die Banshees und die Wilde Jagd. Bald wirst du Dämonenfutter sein.« »Nicht ich, sondern du, Vettel!«, brüllte er. Im Nu brauste der Wind wieder los, stärker als jeder, den Angelus bisher erlebt hatte, selbst auf dem Meer. Er zerrte an ihm, und er musste sich gegen ihn stemmen. Der Wind hob Doreen – oder was immer sie war – in die Luft und ließ sie direkt ins große Feuer fallen, wo sie sofort in Flammen aufging. Sie kreischte und wand sich; Haare, Kleidung, Gesicht – alles verbrannte binnen Sekunden. Das Feuer loderte hoch und verwandelte sich in einen Berg aus Flammen, die brüllend hinauf zum Himmel stiegen, bis sie außer Angelus' Sichtweite waren. Er war sich sicher, dass man das Feuer, das dem Schweif eines Kometen glich, wohl noch in Dublin sehen konnte. Es war wie eine Brücke zur Hölle. 54
Angelus wollte auf sein Pferd steigen, doch das Tier sträubte sich. Es wieherte und bäumte sich auf, warf sich herum und trabte davon. Black Silky galoppierte hinterher, und die Pferde verschwanden schnaubend in der Dunkelheit. »Verflucht sollt ihr sein!«, schrie Angelus ihnen hinterher. In diesem Moment erlosch das Feuer, und nicht einmal ein glimmender Scheit war übrig geblieben. Es war, als hätte es nie ein Feuer gegeben. Bis auf die Leiche, die im Mondlicht rauchte. Bis auf sie. Zögernd trat er näher. Das Licht war trübe, aber was er zu Gesicht bekam, vertraute er niemals einer anderen Seele an: Die Leiche war irgendwie geschmolzen und geschrumpft, wenngleich die Gesichtszüge unversehrt geblieben waren. Als wäre eine Kerze von innen nach außen gebrannt, ohne die äußere Hülle in Mitleidenschaft zu ziehen. Ohne ein weiteres Wort machte er kehrt und floh in die Dunkelheit. Er brauchte die ganze Nacht und den halben nächsten Tag, um nach Galway zurückzukehren, und als man ihn fragte, wo er gewesen sei, behauptete er, betrunken in einem Straßengraben gelegen zu haben. Betrunken zu sein war schließlich besser, als verrückt zu sein. Doreen Kenney wurde nie wieder gesehen, und obwohl man überall nach ihr suchte, schaute niemand in Granny Quinns Hütte nach. Soweit Angelus wusste, ging nie wieder ein Mensch zu Granny Quinns Behausung, auch nicht, um zu begraben, was dort lag. Vierzehn Tage später wurde er zu Angelus, der mit dem Engelsgesicht – der grausamste Vampir, der je gelebt hatte. Sofern man das, was er war, als Leben bezeichnen konnte.
55
Fünftes Kapitel
Bist du Mensch oder Tier?« »Mensch.« »Wie ist dein Name?« »Ich habe ihn vergessen.« – Altindonesischer Tanz Nias, 1863 »Latura«, flüsterte die Dienerin, als die Kopfjäger näher rückten. Sie schloss die Augen und zuckte zusammen, als ein Speer so dicht an ihrem Hals vorbeiflog, dass sie den Luftzug spüren konnte. Er hatte Dämonen geschickt. Und Flammen. Sicherlich würde er sie jetzt nicht im Stich lassen. »Latura, hilf deiner Dienerin«, murmelte sie. In diesem Moment zogen sich die Kopfjäger zurück, ihre wilden Gesichter erschöpft und misstrauisch. Während sie vor sich hin murmelten, sanken sie nacheinander auf die Knie und drückten ihre Stirn gegen den Boden. Ein Gewicht legte sich auf die Schultern der Dienerin, und als sie den Kopf hob, musste sie einen Schrei unterdrücken. Was sie sah, war grausig. Es war weder Hand noch Kralle noch Klaue noch irgendetwas anderes, das sie beschreiben konnte, und dennoch erfüllte es die Funktion einer Hand. Es war ledrig und dunkelgrün, und während sie es anstarrte – unfähig, ihren Blick zu lösen – veränderte und verwandelte es sich. Es sah fast wie ein Gesicht aus, bevor es zu langen, seilähnlichen Tentakeln wurde, die sich wanden und durch die Luft peitschten. Was wie purpurner, giftiger Nebel war, verwandelte sich in eine tropfende Flüssigkeit, die nach Tod roch. Sie war jetzt allein, als die Flüssigkeit in sie floss. Sie schwebte in der Dunkelheit und spürte, wie die Flüssigkeit sich durch ihren Körper bewegte. Sie konnte nicht atmen. Eisige Kälte ließ ihr Blut erstarren; für zwei, drei, vier Schläge setzte ihr Herz aus und konnte sie nicht länger am Leben halten. Der Gott hat mich verraten, dachte sie verzweifelt, als sie zu sterben begann. 56
Dann hob sie vom Boden ab und glitt durch die Luft. Zur gleichen Zeit setzte ihr Herzschlag wieder ein, und für einen Moment glaubte sie, dass sie selbst flog. Dann erkannte sie jedoch, dass etwas ihre Kleidung gepackt hatte und sie durch die Lüfte trug. Sie sah sich um und blickte nach oben. Es war eine gigantische Schlange mit Flügeln, einem riesigen Kopf, rot glühenden Augen und einem vor Zähne starrenden Maul. Zähne so lang wie ihr Unterarm hatten die Bluse der Dienerin zerrissen, und während sie an zerfaserten Stofffetzen hoch über dem Boden hing, stieg sie immer weiter nach oben. Sie schrie, als sie und das Monster den Pulk der Krieger unter sich ließen und höher und höher stiegen, bis sie glaubte, das Gesicht des Mondes mit ihren Fingerspitzen berühren zu können. Als sie einen Blick über die Schulter warf, entdeckte sie flackernde gelbe Punkte am Boden. Sie sah genauer hin. Es waren die Krieger, die in Flammen aufgegangen waren und herumrannten, um sie so zum Löschen zu bringen. »Nein«, bat sie flüsternd, aber tief in ihrer Seele hörte sie die Antwort des Gottes: Doch. Los Angeles, heute In Indonesien war es Brauch, dass die Familien sich um ihre toten Verwandten kümmerten und die Leichen mit ihren eigenen Händen wuschen und salbten und in Leinentücher wickelten. Wurde der Verstorbene verbrannt, war es an ihnen, das Streichholz zu entzünden. Wurde der Tote begraben, war es an ihnen, die Grube auszuheben und den Leichnam hineinzulegen. In dem dunklen, von Weihrauch geschwängerten Raum nahmen die beiden Rais-Vettern die Waschung von Bang Rais' Leichnam vor. Meg war sich nicht sicher, ob sie wussten, dass sie da war. Als Jusefs Protege – und Geliebte – war es ihr erlaubt, nach Belieben zu kommen und zu gehen, und sie kam oft zum Meditieren hierher, wie Jusef es ihr beigebracht hatte – um die Erinnerungen in Schach zu halten und für den Moment zu leben. Es war sehr dunkel und still gewesen, und am Brunnen mit seinem schwimmenden Lotos hatte sie die Müdigkeit übermannt, sodass sie sich auf den dahinter liegenden Seidenkissen ausgestreckt und gedöst hatte. Heute Nacht würden das sedhekah und der Empfang stattfinden, und sie würde nach traditioneller Art den barong tanzen, bevor ... Bevor... 57
Nein, dachte sie und ließ alles los. Sie ergab sich dem Schlaf. Als sie erwachte, war der Rais-Patriarch unweit vom Eingang des Raumes nackt auf gelber und roter Seide aufgebahrt. Sie setzte sich auf, nicht sichtbar für andere, da der Brunnen sie verdeckte, und unbemerkt, weil der Tod im Zimmer war, der eifersüchtig Aufmerksamkeit einforderte. Bang Rais. Er ist wirklich tot, dachte sie schaudernd. Es gab viele in ihrem Land, die glaubten, dass er niemals sterben würde. Sie hatte bereits in den Nachrichten gehört, dass mindestens ein Dutzend Menschen Selbstmord begangen hatten aus Verzweiflung über sein Dahinscheiden. Er sah im Tode genauso Ehrfurcht gebietend wie im Leben aus. Ungewöhnlich groß für einen Indonesier - ein Meter neunzig -, muskulös und sportlich gebaut, mit kantigem Kinn und ausdrucksstarkem Gesicht, hatte er etwas Furchteinflößendes an sich gehabt. Es war ein Schock gewesen, als sein Herz – ganz ohne Vorwarnung und ohne Krankheit, die ihn geschwächt hätte – zu schlagen aufgehört hatte. Laut Jusef, der bei ihm gewesen war, als er starb – in seinem Zimmer, wo er mit seinem Sohn über die Zukunft Indonesiens diskutierte –, hatte er nicht einmal über ein Taubheitsgefühl in seinem linken Arm oder Brustschmerzen geklagt. In dem einen Moment hatte er gelebt und im nächsten aufgehört zu existieren. Viele tausend Indonesier hatten zu ihren Göttern gebetet, er möge die Führung ihres Landes übernehmen. Präsident, Diktator, König, Gott – ihnen war es gleich, als was er sich bezeichnete. Hauptsache, er führte sie und nährte sie und verhinderte, dass ihre Kinder an vermeidbaren Krankheiten starben. Was würde jetzt aus Indonesien werden? Was wird aus der Band? Wird Jusef die Familie übernehmen müssen, oder kümmert sich Slamet weiter um die Geschäfte? Meg beobachtete, wie die beiden Vettern den Leichnam wuschen. Jusef tauchte eine Kelle in eine große Glasschüssel mit Wasser, auf dem frische gelbe Blüten mit roter Staude trieben und den Raum mit Blumenduft erfüllten, der den beginnenden Verwesungsgeruch überlagerte. Er goss das Wasser auf die Brust seines Vaters, während Slamet mit der Hand durch die wohlriechende Flüssigkeit fuhr, als würde er ein beschlagenes Autofenster abwischen. Anschließend beugte sich Jusef zum Ohr seines Vaters und flüsterte: »Wie ist es, Vater? Bist du im Totenreich willkommen, oder bist du dort ein Fremder?« 58
»Nicht«, knurrte Slamet. »Wir werden ihn zurückholen.« »Aber wir haben das Buch nicht«, sagte Jusef. »Und wir wissen nicht, wie. Außerdem ist er tot. Wir können nur einen lebenden Menschen unsterblich machen, aber keinen Toten wieder auferstehen lassen.« Er schöpfte noch mehr Wasser. »Und das auch nur in der Theorie. Schließlich haben wir es noch nie getan.« »Darüber bist du doch froh«, schleuderte ihm Slamet entgegen. »Und du versuchst nicht mal, es zu verbergen.« »Natürlich bin ich nicht froh.« Jusef seufzte. »Nach all dieser Zeit ist mein Vater gestorben.« »Du weißt, dass er nicht sterben konnte. Du weißt, dass er der Günstling des Gottes war. Irgendetwas ist nicht in Ordnung. Jemand hat unsere Magie durchbrochen.« »Slamet, es war Bestimmung«, sagte Jusef. »Nicht sein Karma.« Slamet hat Recht, dachte Meg. Jusef ist froh, dass sein Vater tot ist. Aber wovon reden sie? Sie wollen ihn zurückholen? Wiederauferstehung der Toten? Unsterblichkeit? Welches Buch? Sie zitterte plötzlich. Eine Stimme in ihrem Kopf antwortete: Du weißt, welches Buch, Meg. Du weißt es. Das Zittern wurde stärker, als sie von Erinnerungen überwältigt wurde... Als sie die Augen öffnete, saß Jusef mit einer Kerze in der Hand vor ihr. Das warme gelbe Licht ließ sein kurzes Haar blauschwarz schimmern. »Bist du okay, Baby?«, fragte er sie. Sie blinzelte. »Was ist passiert?« »Du hattest einen Anfall«, erklärte er. »Kannst du dich nicht erinnern?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich erinnere mich an gar nichts.« Sie sah sich um, stellte fest, dass sie in Jusefs Quartier auf dem Anwesen waren. Das Bett war zerwühlt, zwei Lautsprecher und ein Verstärker standen zwischen dem Bett und dem angrenzenden großen Bad. »Wir wollten am Begräbnistanz arbeiten«, erklärte er ihr. »Dann bekamst du einen deiner Anfälle. Ich habe ihn nur mit Mühe unter Kontrolle bekommen.« Sie berührte ihren Kopf. Hinter ihrer Stirn pochte es. »Danke«, sagte sie leise. »Ich muss bei den Vorbereitungen für das Begräbnis helfen, aber ich habe unseren Arzt angerufen. Bleib hier und ruh dich aus, okay?« 59
Plötzlich flackerte etwas in ihrer Erinnerung auf. Es hatte mit den Vorbereitungen für das Begräbnis zu tun. Wie sie am Brunnen saß, während er mit Slamet redete über... über... Sie versuchte sich zu konzentrieren. Aber ihr fiel es nicht ein. Jusef nahm ihre Finger und küsste ihren Handrücken. »Ruh dich aus, Meg.« Sie nickte und sank zurück aufs Bett. Er schüttelte ein Kissen auf und schob es unter ihren Kopf. Dann zog er liebevoll die Decke bis zu ihrem Kinn hoch und küsste ihre Stirn. »Ich komme später wieder«, versicherte er. »Schlaf jetzt, okay?« »Es muss schlimmer geworden sein«, sagte sie. »Ich hatte schon so lange keinen Anfall mehr.« »Aber nein«, wehrte er ab, und sie lächelten sich traurig an. Vor rund einem Jahr, kurz nachdem sie sich kennen gelernt hatten, hatte Meg den ersten Anfall bekommen. Spezialisten in Djakarta hatten festgestellt, dass Meg an einem seltenen Gehirntumor litt, den man normalerweise nur bei älteren Menschen fand. Neben anderen Dingen führte er zu einem Flüssigkeitsstau, der durch ein dünnes Plastikröhrchen abgeleitet wurde, das unter ihrer Haut von ihrem Schädel zu ihrem Hals führte. Wenn man wusste, wohin man sehen musste, konnte man die leichte Wölbung des Röhrchens an der linken Seite ihres Halses erkennen. Der Tumor war inoperabel. Auf ihren Computertomografie-Aufnahmen hatte sie gesehen, wie er wuchs. Früher oder später würde er sie umbringen. Die meiste Zeit konnte sie ein normales Leben führen. Es gab sogar Tage, an denen sie ihre Krankheit völlig vergaß. Dies hatte sie vor allem den Hypnosesitzungen zu verdanken, die Jusef mit ihr abhielt und die er zuerst dazu benutzt hatte, damit sie andere Dinge vergaß. Sie schloss die Augen. Und träumte. Er war ein Mensch und doch wieder nicht. Er lebte, aber sein Herz schlug nicht. Wenn sie ihn rief, kam er zu ihr. Sie öffnete den Mund und flüsterte: »Angel.« »Was?«, fragte Angel, als er aus seinen Träumereien hochschreckte. »Ich sagte, sie antwortet noch immer nicht«, erwiderte Doyle. Angel schüttelte den Kopf. Der Lärm der Stadt verdrängte die letzten Reste der Erinnerung an jene seltsame Nacht in Galway. Er wusste noch jede Einzelheit bis hin zur Kleidung, den Gerüchen, den Gefühlen; er wusste auch, wie er sich in den Jahren, nachdem er seine Seele 60
zurückbekommen hatte, selbst gequält hatte. Wie er jeden Moment endlos analysiert, jeden Fetzen Erinnerung durchleuchtet hatte. Hatte dieser Wunsch in jener Nacht seine Schöpferin Darla in sein Leben gerufen? War er in eben jenem Moment verdammt worden? Er würde es natürlich nie mit Sicherheit sagen können. Und es spielt eigentlich auch keine Rolle, nicht wahr? Die Dinge sind so, wie sie sind. Ich bin zu dem geworden, was ich bin. Aber dennoch konnte Angel nicht aufhören, darüber nachzudenken, konnte den Erinnerungen nicht entfliehen. Es war das, was die Zigeuner gewollt hatten, oder? Er sollte bis in alle Ewigkeit bereuen, was ihn zu einer der bösesten Kreaturen gemacht hatte, die die Hölle jemals auf die Welt losgelassen hatte. Es hieß, dass die Beichte gut für die Seele sei. Aber welches Gute sollte aus diesen Qualen entstehen, die er durchlitt? Sie werden mich davon abhalten, es je wieder zu tun, dachte er. Solange ihm wahres Glück verwehrt blieb – oder, wie Doyle sagen würde, solange ich mir selbst das wahre Glück verwehre –, würde er seine Seele behalten. Reue war die Eigenschaft, die die Menschen von den Dämonen unterschied, zumindest laut der Zigeunersippe der Kalderash, die ihn für den Mord an ihrer Lieblingstochter verflucht hatte. Folgerte demnach daraus, dass die reinste Form der Existenz das Leiden war? Er konnte es nicht glauben. »Es ist gar nicht ihre Art, nicht anzurufen«, sagte er zu Doyle. »Davon rede ich doch schon die ganze Zeit«, entgegnete Doyle ungeduldig. »Du hast mir überhaupt nicht zugehört, nicht wahr?« Das Telefon klingelte, und als Angel abnahm, wechselten er und Doyle einen erleichterten Blick. »Cordelia«, begann Angel. »Nein, tut mir Leid. Ich bin's, Kate«, sagte der Police Detective. »Ich glaube, ich habe einen Ihrer Klienten hier. Was überaus aufschlussreich ist.« »Nira? Im Gefängnis?« »Im Leichenschauhaus. Frisch eingeliefert. Na ja, eigentlich haben wir die Leiche schon gestern Nacht bekommen, aber es hat eine Weile gedauert, bis wir sie identifizieren konnten.« Am anderen Ende der Leitung raschelte Kate mit Papieren. Er war überzeugt, dass sie über das Opfer sprach, dessen Autopsiefoto gerade auf seinem Bildschirm zu sehen war. Er fragte sich, ob sie vielleicht wusste, dass er sich nach Belieben in ihr System einhacken konnte, und ihn auf diese Weise wissen lassen wollte, dass ihr seine Aktivitäten nicht 61
verborgen blieben. »Thailänder«, sagte sie schließlich. »Familienname ist Sucharsoundso. S-U-C-H-A-R-I-T-K-U-L. Vorname Decha.« Die goldene Frau aus meiner Vision? »Der Name sagt mir nichts. Warum glauben Sie, dass sie meine Klientin war?« »Er. Weil er Ihre Karte hatte.« Das weckte sein Interesse, denn schließlich gab es nur wenige Menschen, die seine Karte hatten – trotz Cordelias Bemühungen, die Privatdetektei »Angel Investigations« bekannt zu machen, vorzugsweise unter »hilfsbedürftigen Leuten, denen wir eine Rechnung schicken können«. Hatte dieser Fall irgendetwas mit dem Feuer von gestern Nacht zu tun? »Wissen Sie irgendetwas über meinen neuen Freund Decha Sucharitkul?«, fragte Kate. »Größe etwa einsachtzig. Gewicht hundertsechzig Pfund, aber das ganze Fett ist weg. Ich habe meine Leute auf seinen Visumstatus angesetzt. Wie viel wollen Sie wetten, dass er illegal hier war?« Falls das ein Köder war, biss er nicht an. »Was war die Todesursache?« »Würde das Ihrer Erinnerung auf die Sprünge helfen?«, fragte sie lauernd. Er ging nicht darauf ein, und sie seufzte. »Er wurde Opfer eines Brandes. Wie ich Ihnen bereits erzählt habe. Merkwürdige Geschichte.« Dann ließ sie die Bombe platzen. »Er war die Leiche in dem Apartmentfeuer von gestern Nacht, Angel. Ich habe Ihnen von dem Fall berichtet.« Angel sah auf seinen Computer. Spontane menschliche Selbstentzündung, hörte er Doyle in seiner Erinnerung sagen. Er hatte einmal ein Foto von einem Mann gesehen, der in Flammen aufgegangen war. Der Kerl hatte halb verbrannt in einem Polstersessel gesessen. Seine Beine waren unversehrt gewesen, doch von der Hüfte aufwärts war alles zu Asche verbrannt. Er fragte sich, ob die Frau in dem blauen Feuer irgendetwas mit dem toten Mann auf dem Bildschirm zu tun hatte. Vielleicht war sie seine Freundin. Oder seine Schwester. Sie ist wahrscheinlich nicht einmal real, erinnerte er sich. Schließlich habe ich sie nur aufgrund magischer Kräfte gesehen, nicht auf dem Video einer Partnervermittlung. »Halten Sie es nicht auch für einen erstaunlichen Zufall, dass Sie beide am selben Ort waren?« »Was für Ausweispapiere hatte er bei sich?«, fragte Angel. 62
»Ob Sie's glauben oder nicht, alles, was er bei sich hatte, war ein Buch, in das er seinen Namen geschrieben hatte. ›»Englisch als Zweitsprache.‹ Wirklich komisch. Seine Englischlehrerin wurde ebenfalls Opfer eines Brandes. Ihr Name war Olive LaSimone.« »Woher wissen Sie das alles?« »Ach, Angel, Sie wissen doch, dass ich nicht alles ausplaudere, nur weil Sie so nett fragen«, erwiderte sie. »Ich kann Ihnen nicht helfen«, erklärte Angel ehrlich. »Ich habe nie mit ihm gesprochen.« »Haben Sie in der letzten Zeit mit anderen asiatischen Immigranten gesprochen?«, fragte sie. »Wenn ich Sie recht verstanden habe, ist die Frau, die Sie gestern Nacht alarmiert hat, Indonesierin.« »Nicht, dass ich wüsste.« »Okay. Einen Moment.« Sie deckte die Hörmuschel ab, als sie kurz mit jemand sprach. »Wie es scheint, gibt es einen neuen Fall«, eröffnete sie ihm dann. »Geben Sie mir Bescheid, wenn Sie irgendetwas über meinen toten Freund erfahren, okay? Der Gerichtsmediziner sagt, dass der arme Kerl höchstens sechzehn war. Ich muss jetzt zu einem anderen hübschen Tatort, aber ich hoffe, Sie rufen mich an, sobald Sie etwas herausgefunden haben.« »Sicher.« Oder auch nicht. Er legte auf. »Das war sicher Kate Lockley«, stellte Doyle fest. »Gehen wir.« Angel griff nach seinem Mantel. »Um Cordelia zu suchen?« Angel nahm seine Schlüssel. Und zuckte zusammen, als sich die Wunde an seinem Kopf, die ihm die Schlange zugefügt hatte, bemerkbar machte. »Bist du okay, Mann?«, fragte Doyle. Da klingelte das Telefon, und wieder war es Angel, der den Hörer abnahm. »Ja?« »Angel? Oh, mein Gott, ich bin's, Cordelia!«, schrie Cordy. »Ich bin in ... Wo bin ich denn? In einem Obdachlosenasyl?« »Cordelia, wenn du einen Vorschuss auf dein Gehalt brauchst...« »Ich bin nicht obdachlos«, unterbrach sie. »Die Polizei hat mich hierher gebracht!« »Die Polizei?« Sie schnaufte. »Kannst du nicht herkommen? Irgendwas Unheimliches geht hier vor sich, und ich werde auf keinen Fall den Bus nehmen.« 63
»Okay. Gib mir die Adresse.« »Seine Karte war in meiner Handtasche!«, jammerte Cordelia. »Beruhige dich.« Angel hatte keine Ahnung, wovon sie eigentlich redete. »Mich beruhigen? Ich hatte eine Verabredung zum Begräbnis eines stinkreichen Kerls!« »Okay, Cordy. Wir machen uns jetzt auf den Weg.« Als sie ihm die Adresse nannte, sah ihn Doyle sichtlich besorgt an. »Was war mit der Polizei?«, wollte er wissen, als Angel aufgelegt hatte. »Das finden wir heraus, sobald wir dort sind.« »Aber ihr geht es gut?« Doyle starrte ihn stirnrunzelnd an. »Ihr geht es doch gut, oder?« »Ich will es mal so ausdrücken: Was ihr am meisten Sorgen machte, war die Tatsache, dass sie die Telefonnummer irgendeines Kerls verloren hat.« »Oh.« Doyle war erleichtert. »OA.« Und dann verletzt. »Er ist aber tot, glaube ich«, fügte Angel hinzu. »Oh?« Doyle strahlte. »Dann wird es mit den beiden wohl nichts werden. Ein toter Kerl würde ein Mädchen wie Cordelia zu Tode langweilen.« Mit einem matten Lächeln verließ Angel das Büro und ging durch den Korridor zum überdachten Parkplatz, wo sein Kabrio stand. Sie stiegen ein und fuhren los. Plötzlich stöhnte Doyle auf, und kurz darauf wurde sein Dämonengesicht – eine Art stachelgespickter blauer Nagelkopf – sichtbar. Obwohl der Dämon von heftigen Krämpfen geschüttelt wurde, fuhr Angel weiter, denn er wusste, dass Doyle eine Vision hatte und er im Moment ohnehin nichts für ihn tun konnte. Schließlich kehrte Doyles menschliches Gesicht wieder zurück, während er ächzend ausatmete. »Was hast du gesehen?«, fragte Angel. »Diesmal war es besonders schlimm«, stöhnte Doyle. »Schmerzhaft?« »Was ich gesehen habe, meine ich.« Er schnitt eine Grimasse. »Es war eine wirklich schöne junge Frau. Und sie war verbrannt, Angel. So wie die Person auf dem Autopsiefoto.« »Trug sie goldene Kleidung?« Doyle sah ihn neugierig an. »In der Tat.« »Ich habe sie auch gesehen. Gestern Nacht«, sagte Angel, während er links abbog. 64
Doyle war sichtlich überrascht. »Wirklich? Das ist ja ganz was Neues.« »Ich habe sie tanzen gesehen.« »In meiner Vision war sie eindeutig verbrannt. Kein hübscher Anblick.« Doyle ächzte erneut und schloss die Augen. »Sie ist in einem Club«, sagte er. »Club Ko-soundso. Ich kann es nicht deutlich erkennen.« Angel runzelte die Stirn, aber er wusste, dass Doyles Visionen manchmal unklar und verschwommen waren, sich am Ende jedoch immer als richtig erwiesen. Es waren Bilder der Leute, die Angel nach dem Willen der zuständigen Mächte retten sollte. Eine brennende Frau, dachte er. Eine gemeinsame Vision von Doyle und mir. Das war tatsächlich etwas Neues. Und er hatte das Gefühl, dass etwas Großes dahinter steckte. Ein Police Officer tauchte auf der Bildfläche auf, kurz nachdem das Geschrei ausgebrochen war. Er rannte sofort los, und Cordelia rief ihm nach, dass er ihre Handtasche zurückbringen sollte, hatte jedoch keine Ahnung, ob er sie überhaupt gehört hatte. Sein Partner Jason brachte sie ins Obdachlosenasyl, wobei er die ganze Zeit in sein Funkgerät sprach und Zahlen statt Worte herunterrasselte, sodass sie keine Ahnung hatte, was vor sich ging. Nachdem sie Angel angerufen hatte, zog sie ihre Strumpfhose aus, wusch sich die Füße und schlüpfte wieder in ihre Schuhe, diesmal ohne Strumpfhose. Jetzt saß sie auf einem Metallklappstuhl mit einer Tasse Kaffee in der Hand und einem Doughnut mit Puderzucker, der in einer Papierserviette auf ihrem Schoß lag. Vor ihr stand ein Mann, der zwar nicht Mr. Kleingeld war, aber aus derselben Liga stammte. »Ich war noch ein Kind, als Pearl Harbor angegriffen wurde«, sagte er. »Ein Kind wie du. Und heute verkauft mein Sohn Computer an die Japaner. Was hältst du davon?« »Äh«, machte Cordelia. »Was soll ich schon davon halten?« »Er sagt, er habe sich in das Land verliebt. Er will, dass ich nach Tokio ziehe.« Er deutete mit einem Finger auf sie. »Also, was hältst du davon?« Sie verzog das Gesicht. »Dasselbe wie gerade«, entgegnete sie. Plötzlich hielten mehrere Streifenwagen mit quietschenden Reifen vor dem breiten Glasfenster des Asyls. Police Officer sprangen heraus und rannten vorbei. »Wow, was ist passiert?«, fragte Cordelia, wobei sie sich zu halber Größe aufrichtete. 65
»Irgendein Verbrechen«, kommentierte der Mann. »Was denkst du denn?« »Ich denke, Sie sollten an irgendeinen Ort ziehen, an dem es schöner ist«, sagte sie, während sie die Polizei beobachtete. Diese Person, die ich schreien gehört habe, muss ... schwer verletzt sein. Sie hoffte inständig, dass es nichts Schlimmeres war. Die Männer um sie herum ignorierten das Geschehen. Laut ihrem Pearl-Harbor-Freund war es fast Zeit zum Abendessen, und das schien alles zu sein, was ihre umnebelten Gehirne interessierte. Sie war entnervt. Und darüber hinaus konnte sie nicht aufhören, an ihren Freund Xander zu denken – wenngleich er nicht mehr ihr Freund gewesen war, als sie Sunnydale verließ. Sie hatte irgendwie immer erwartet, dass er wie diese stinkenden alten Kerle enden würde. Aber nach allem, was sie gehört hatte, half er Buffy und Giles weiterhin bei ihrem Kampf gegen die Vampire und erwies sich dabei als eine große Hilfe. Er ist nicht mehr der Volltrottel von früher, dachte sie ein wenig wehmütig. Immer mehr Cops tauchten auf und gingen wieder. Während sie in ihre Walkie-Talkies sprachen, wurde Cordelia immer nervöser. Unter den Männern im Obdachlosenasyl entstand Unruhe. Gulaschzeit, vermutete Cordelia. Makkaroni mit Käse. Und ich bin so hungrig, dass ich was essen werde, wenn sie mir etwas anbieten. Sofern sie von Papptellern essen. Doch der wahre Grund für diese Unruhe war die Ankunft von Angel und Doyle. Angel tauchte in der Tür auf, hoch gewachsen und gut aussehend, aber auch gleichzeitig sehr ernst und gebieterisch. Er strahlte diese Zuversicht aus, die den Eindruck vermittelte, als könnte und würde er jedes Problem seiner Mitmenschen lösen. Um ihnen dann hoffentlich eine Rechnung auszustellen, dachte Cordelia, als sie winkte. Schließlich geben die Leute Hunderte von Dollar für ihre Haustiere aus. Angel rettet Menschen das Leben. Sie stand auf. »Angel, hier drüben!« Ihr Doughnut fiel zu Boden, und ihr neuer Freund stürzte sich wie der Blitz darauf und stopfte das ganze Ding in den Mund, ohne es auch nur abzuwischen. »Iiih«, machte Cordelia. Dann rief sie laut Angels Namen. Diesmal sahen die beiden Männer sie und eilten zu ihr hin. »Cordelia, was ist passiert? Was machst du hier?«, fragte Doyle, die Stirn in Sorgenfalten gelegt. 66
»Ich bin überfallen worden«, erzählte sie atemlos. »Von zwei kleinen Kindern und einer alten Dame, die mich beschimpfte, weil ich kein Kleingeld hatte. Und dann ist sie mit meiner Handtasche und den kleinen Kindern abgehauen, die vorher schon versucht hatten, sie mir zu klauen.« Sie schniefte. »Okay, es war kein richtiger Überfall, da ich nicht verletzt wurde.« »Das ist ein übles Viertel«, murmelte Doyle. »Dann brach plötzlich dieses Geschrei los«, fügte Cordelia hinzu, während sie an ihrem Kaffee nippte. Der Santa-Ana-Wind wurde stärker, und die Scheiben der großen Fenster, die zur Straße hin lagen, vibrierten und klirrten. »Deshalb brachte mich mein Freund, Police Officer Jason, hierher, bevor er losgezogen ist, um die Sache zu überprüfen«, fuhr sie fort. »Aber eigentlich hatte das Geschrei da schon aufgehört, und ich weiß nicht, ob er noch zurückkommt oder nicht.« Sie schnüffelte. »Riecht das für euch nach Steak? Denn mein Freund, Mr. Isst-den-Doughnut-vom-Boden, hat mir gesagt, dass es Makkaroni mit Käse zum Abendessen gibt.« Sie bemerkte den Blick, den Doyle und Angel wechselten. »Wir sehen uns mal um«, sagte Angel. Dann wandte er sich zum Gehen und Doyle folgte ihm. »Oh, nein«, protestierte sie, »lasst mich hier nicht allein.« Sie machte ein paar Schritte, aber ohne ihre Strumpfhose rieben ihre billigen Schuhe an neu entstandenen Blasen. »Autsch!« »Setz dich und trink deinen Kaffee«, befahl Angel. Sie sah ihm nach, als er mit Doyle davonging. »Ich esse kein Fleisch. Ich bin Libertarier«, informierte sie der stinkende Mann. Sein Mund war vom Puderzucker schneeweiß. »Es gibt heute Makkaroni mit Käse.« »Das ist... schön«, sagte sie und humpelte dann zu ihrem Stuhl zurück, um sich zu setzen. Ungeduldig warf sie einen Blick über die Schulter und hoffte, dass Angel und Doyle bald zurückkommen würden. Das kleine Mädchen, das beim Diebstahl ihrer Handtasche geholfen hatte, starrte sie durch das Fenster an. »He!«, rief Cordelia. »Bleib stehen, Diebin!« Während sie zur Tür humpelte, zögerte die Kleine einen Moment und rannte dann weg. Sie hatte sich Cordelias Handtasche über die Schulter gehängt, doch sie war so klein, dass die Tasche fast den Boden berührte. »Gib sie mir zurück!«, schrie Cordelia. »Oder wenigstens Jusefs Visitenkarte!« 67
Die Kleine warf ihr einen verängstigten Blick zu und rannte weiter. Cordelia kam der Gedanke, dass es vielleicht eine Falle war, aber hier ging es um ihre Sachen, und sie würde ihren Besitz nicht kampflos aufgeben. Schließlich gehörte ihr nicht mehr besonders viel. Und außerdem war Jusefs Telefonnummer in der Tasche. »Angel! Doyle!«, schrie sie. »Helft mir!« Sie humpelte in eine andere Gasse, in der noch mehr Unrat lag als in der ersten, aber Gott sei Dank kein Glas. Der Gestank war dafür umso schlimmer und erinnerte sie an verbranntes Steak. Sie hatte keine Chance, das kleine Mädchen einzuholen. Und als sie stehen blieb und frustriert mit den Zähnen knirschte, hörte sie nur noch Schritte, die in der Ferne verschwanden. In diesem Moment kam Doyle um die Ecke gestürmt und rief: »Was ist los?« »Das kleine Miststück, das meine Handtasche geklaut hat, ist gerade wieder aufgetaucht, um mich zu verhöhnen«, sagte Cordelia wütend. »Wo habt ihr gesteckt? Ihr tragt doch keine billigen hochhackigen Schuhe und hättet sie prima schnappen können.« Sie spähte in die Gasse hinein, die mit gelbem Polizeiband abgesperrt war. Zwei oder drei Police Officers hielten davor Wache, während sich ein anderer in eine Mülltonne übergab. »Was ist da los?« Doyles wurde blass. »Sie haben etwas gefunden, Cordy.« Sie starrte ihn entsetzt an. »Doch nicht das kleine Mädchen!« »Nein. Die Leiche eines Erwachsenen.« Er hielt sie zurück, als sie sich die Sache näher ansehen wollte. »Das ist nichts für dich. Glaub mir, Cordelia.« Mann, Kate wird ziemlich sauer sein, dachte Angel. Es gibt keinen Quadratzentimeter Boden, auf dem die Cops nicht herumgetrampelt sind. Hatten sie denn nicht Der Knochenjäger gesehen? Während die Police Officers damit beschäftigt waren, alle Spuren am Tatort zu verwischen, hatte Angel die große Fabrik an der Ecke umrundet und war eine schwankende Feuerleiter hinaufgeklettert. Von dort aus war er lautlos und geschmeidig von einem Dach zum anderen gesprungen. Jetzt beobachtete er das Geschehen von einem anderen Gebäude aus, das nach menschlichen Exkrementen stank. Er duckte sich und horchte. Sie hatten die Leiche eines Mannes gefunden, der schrecklich verbrannt war. Sein Name war Ernesto Torres, in seiner Tasche befand sich ein Schlüsselbund mit nummerierten Schlüsseln, und er hatte trotz des 68
warmen Abends eine Jacke getragen, in der ein Bündel Parkscheine steckte. Die Polizei vermutete, dass die Jacke nur deshalb unversehrt war, weil Torres sie abgestreift hatte, als er in Flammen aufgegangen war. Offenbar hatte Mr. Torres häufig an einem Ladedock fünf Blocks südlich vom Fundort seiner Leiche geparkt. Angel prägte sich schnell die Adresse ein und beschloss, sie sich als Nächstes anzusehen. In diesem Moment traf der Gerichtsmediziner ein, einige Zeit später kam auch Kate. Wie Angel erwartet hatte, explodierte sie, als sie sah, wie die Cops auf den Spuren herumgetrampelt waren. Sie schrie so laut, dass man noch einen Block weiter jede Silbe verstehen konnte. Als er ins Obdachlosenasyl zurückkehrte, durchsuchte Cordy mit Doyle zusammen ihre Handtasche. Gut. Doyle hat sie gefunden, dachte Angel erleichtert. »Was ist los?«, fragte Cordy, als sie Angel bemerkte. Doch der sah nur in Doyles Richtung und schüttelte den Kopf. Dieser schnitt eine Grimasse. »Lass mich mal sehen, ob alle deine Kreditkarten noch da sind«, sagte er zu Cordy. »Was ist passiert?«, fragte Cordelia Angel und fügte an Doyle gewandt hinzu: »Ich habe keine Kreditkarten. Weil ich nämlich auch keinen Kredit habe. Okay, ich geb's zu – ich habe eine. Ich konnte es nicht über mich bringen, sie zu zerschneiden. Aber sie ist ungültig.« Mit der Präzision eines Revolverhelden schlug sie ihre Brieftasche auf und zog eine American-Express-Platinkarte heraus. »Aus meinen besseren Tagen«, murmelte sie und steckte sie wieder in die Brieftasche, bevor sie das Portemonnaie öffnete. »Mein Busgeld ist noch da. Und hier ist Jusefs Visitenkarte.« »Von dem toten Kerl?«, fragte Angel. »Glaub mir«, warf Doyle eilig ein, »du würdest nicht mit einem Toten ausgehen wollen. Vielleicht hast du ja was anderes gehört, aber sie sind nicht gerade gute Unterhalter und ...« »Angel, sieh mal«, unterbrach ihn Cordelia, während sie die Karte betrachtete. Angel nahm die Karte in die Hand. Auf der Rückseite, in fast unleserlicher roter Tintenschrift, standen die Worte HILF UNS, LADY. WIR SIND ENTFÜHRT CELIA SUCHARITKUL. Derselbe Name wie Kates vorletztes Brandopfer. »Sie wurden entführt?«, sagte Cordelia. »Wir müssen die Polizei informieren.« 69
Angel drehte die Karte wieder um. Der Name Jusef Rais war mit derselben roten Tinte umkreist. »Er ist nicht tot«, sagte Cordelia zu Doyle. »Ich habe nur eine Einladung zur Beerdigung seines Vaters bekommen.« »Oh«, machte Doyle. »Du hast also kein Rendezvous mit einem Toten.« »Nun, ich hoffe nicht«, sagte Cordelia giftig. »Ich meine, ich arbeite für einen – nimm's nicht persönlich –, und denke, damit tummeln sich schon genug Tote in meinem Leben, oder? Mein Agent muss übrigens auch tot sein, weil er mir nie irgendwelche Engagements besorgt.« »Vielleicht ist Cordys Verabredung das neue Brandopfer«, sagte Doyle zu Angel. »Nein!«, entfuhr es Cordelia. »Nein! Meine Dates sterben nur in Sunnydale, okay? Nicht auch noch hier!« »Sofern er sich nicht den Decknamen Ernesto Torres zugelegt hat, ist er wahrscheinlich noch am Leben«, beruhigte Angel sie. Für einen Moment herrschte bedrücktes Schweigen. »Also liegt da hinten ein Toter?«, stellte Cordelia fest und wurde blass. »Ja«, erwiderte Doyle zerknirscht. Sie seufzte. »Ich hatte gehofft, es wäre nur irgendetwas Ekelhaftes, dessen Anblick du mir ersparen wolltest«, sagte sie zu Doyle und schenkte ihm ein mattes Lächeln. »Was ich übrigens sehr nett von dir fand. Aber weißt du, daheim in Sunnydale habe ich alle möglichen ekelhaften Dinge gesehen und es dennoch geschafft, liebenswert und attraktiv zu bleiben.« »Und der Trend setzt sich fort«, versicherte Doyle aufmunternd. Sie nahm das Kompliment an, aber Angel konnte erkennen, wie erschüttert sie war. »Glaubt ihr, dass mein Date diese Kids entführt hat?«, fragte sie. »Vielleicht wollte die Kleine nur, dass du Kontakt mit ihm aufnimmst«, spekulierte Doyle. »Könnte doch sein, dass sie mit ihm verwandt ist.« »Das sollten wir überprüfen«, meinte Angel. »Hast du Lust auf ein Begräbnis, Doyle?« »Zu meiner Zeit habe ich ein paar wirklich gute erlebt«, sagte Doyle. Cordelia blickte unbehaglich drein. »Äh, Leute, ich weiß nicht, ob es eine Gästeliste oder so gibt...« »Wir werden uns schon irgendwie Zutritt verschaffen«, erwiderte Angel. »Eine kleine Spionageaktion«, nickte Doyle. 70
»Wir bringen dich jetzt nach Hause. Anschließend machen Doyle und ich uns ans Werk. Wolltest du dir ein Taxi nehmen?« »Jusef schickt mir eine Limousine«, sagte sie und hob ihr Kinn. »Ich soll ihn anrufen.« »Okay«, sagte Angel und begutachtete seine Kleidung. »Wir sollten uns besser umziehen. Damit wir nicht auffallen.« Er warf Cordelia einen Blick zu. »Reiche Leute?« »Sie haben ein eigenes Filmstudio in Indonesien.« Doyle machte ein geknicktes Gesicht. »Wann sollst du ihn noch mal anrufen?« »Drei Stunden nach unserem Treffen ...« Sie warf einen Blick auf Doyles Uhr. »Oh, nein, in anderthalb Stunden! Ich muss mich umziehen! Meine Haare!« Sie griff sich an den Kopf. »Ich sehe grauenhaft aus!« Doyle und Angel wechselten einen weiteren Blick. »Was ist?«, fragte Cordelia. »Die Welt zu retten«, sagte Doyle gedehnt, »ist nicht bloß ein Job. Es ist ein Abenteuer.« In diesem Moment hörte er Schritte hinter sich. »Um wie viel wollt ihr wetten, dass Kate wissen will, was wir hier machen?«, sagte Angel. Er hätte die Wette nicht verloren.
71
Sechstes Kapitel
»Sie an, sieh an, wenn das nicht der geheime Kreuzzügler ist«, sagte Kate trocken, als sie sich zu Angel, Doyle und Cordy gesellte. »Und Sie sind rein zufällig in Tatortnähe meines brandneuen Mordfalls, nehme ich an.« »Damit hat es nichts zu tun«, warf Cordelia ein. »Kleine Kinder haben meine Handtasche geklaut. Und es sieht so aus, als wurden sie entfuhrt. Oder vielleicht war es auch nur ein Trick. Jedenfalls gab mir ein verrückter Mann mit einem extremen Körpergeruchsproblem Kleingeld, um Angel anzurufen, damit er mich abholt.« Cordelia sah sich um. »Hier muss irgendwo ein netter Police Officer namens Jason sein, der meine Aussage bestätigen wird. Er ist übrigens Single«, fügte sie für den Fall hinzu, dass Kate auch einer war. »Entführt?«, wiederholte Kate. Schweigend reichte ihr Angel Jusefs Karte. »He«, protestierte Cordy, doch Kate sah sie scharf an. »Kann ich mir vielleicht die Nummer abschreiben?«, fragte Cordy mit dünner Stimme. Während Kate die Karte studierte, drehte sie sie ein paar Mal um. »Kennen Sie Jusef Rais?«, fragte sie Cordelia schließlich. »Ich gehe zur Beerdigung seines Vaters. Hoffe ich«, fügte sie hinzu und sah die Karte an. »Fangen wir ganz von vorn an«, entgegnete Kate geduldig. »Okay. Zwei Kinder haben mir aufgelauert«, sagte Cordy. Als Cordelia erzählte, was passiert war, hörte Angel nur mit halbem Ohr zu. Die Wunde an seinem Kopf schmerzte, und er hatte das Gefühl, als würde sich sein Gehirn in Eis verwandeln, sofern so etwas überhaupt möglich war. Doyle musterte ihn forschend. »Was ist los?«, fragte er leise. Angel sagte: »Etwas hat mich gebissen. Wir sollten uns besser darum kümmern, wenn wir wieder in meiner Wohnung sind«, antwortete Angel. Doyle legte den Kopf zur Seite. »Wenn du ›etwas‹ sagst, dann war es wohl kein Hund und auch keine Katze?« Angel nickte. »Definitiv keine Katze.« »Und dann muss sie das da auf die Karte geschrieben haben«, beendete Cordelia ihren Bericht. 72
Kate sah Angel schief an. »Wie es scheint, ist der Berg zum Propheten gekommen.« Als er nichts sagte, fügte sie hinzu: »Sie sollten doch auf die Wache kommen, um Ihre Aussage zu dem Kerl in dem Apartment zu machen. Und jetzt sind Sie an dem Ort, an dem es einen neuen Todesfall gegeben hat. Obendrein haben wir es möglicherweise mit einer Entführung zu tun haben, in die jemand verwickelt sein könnte, mit dem Ihre Sekretärin ein Rendezvous hat.« »Es ist eine Beerdigung«, stellte Cordelia richtig. »Nicht direkt ein Rendezvous.« Kate ignorierte sie. »Wenn Sie es endlich schaffen, in mein Büro zu kommen, werden Sie keine Aussage machen, sondern ein ganzes Buch schreiben müssen.« »Für einen Roman ist meine Aussage völlig ungeeignet«, erwiderte Angel. »Zu viele Zufälle.« »Ma'am.« Hinter Kate war ein Police Officer aufgetaucht. »Wir müssen noch die Zuständigkeit festlegen.« Sie kommentierte diesen Satz mit Worten, die Angels Meinung nach nicht druckreif waren. »Gehen Sie ja nicht weg«, warnte sie die drei und sah Cordelia und Doyle eindringlich an. »Das gilt für alle.« Cordelia runzelte die Stirn und hob gestikulierend die Hand. »Aber ich muss meine ...« »Ja?«, fauchte Kate. Cordelias Schultern sackten nach unten. »Nichts«, sagte sie matt. »Das ist wohl heute nicht mein Tag.« Doyle sah Cordelia mitfühlend an und machte ein paar Schritte auf sie zu. Kates funkelnder Blick ließ ihn erstarren. »Ich bewege mich nicht von der Stelle«, versicherte er, während er die Hände halb hob. Dann wandte er sich an Cordy. »Ist es wirklich so schlimm?«, fragte er sie. »Schlimmer«, versicherte diese. »Ich habe schließlich nicht darum gebeten, in der Nähe eines Mordtatorts ausgeraubt zu werden, okay?« Daraufhin stapfte Kate davon. »Puh«, machte Doyle. »Die hat wirklich Haare auf den Zähnen.« »Sie hat auch einiges am Hals«, erwiderte Angel, während er ihr nachstarrte. »Diese Obdachlosen bekommen heute Abend Makkaroni mit Käse«, erklärte Cordelia. »Und was Kate betrifft – ich könnte schwören, dass ich sie in einer Episode von Zauberhafte Hexen gesehen habe.« 73
Wenn man reich ist, kann man eine Menge cooler Sachen machen, dachte Jusef. Zum Beispiel kann man andere Leute dazu bringen, eine Menge böser Dinge zu tun. Die kurzhaarige ältere Dame, die aufs Anwesen gebracht worden war, hatte um ihr Leben gefleht und dann ihre Komplizen verraten. Es war der Junge gewesen, der einem von Jusefs Brüdern von ihr erzählt hatte. Letzterer hatte ihn und das Mädchen bei dem Versuch bemerkt, Ernesto Torres Leiche zu beseitigen, und als die beiden in Panik weggerannt waren, hatte er den Jungen gefangen. Das Mädchen war jedoch entkommen. Offenbar hatte die alte Frau einige ihrer kleinen Mündel aus dem illegalen Betrieb zu Taschendieben ausgebildet. Kleinkriminalität dieser Art hatte die Rais-Familie jedoch streng verboten, denn es war äußerst unklug, auf derart billige und überflüssige Weise Aufmerksamkeit zu erregen. Aber die Frau hatte unbedingt Geld für ihre Überfahrt gebraucht, denn sie wollte dem Wunsch ihrer todkranken Tochter in Bangkok nachkommen, ihre Mutter noch ein letztes Mal sehen zu wollen. Selbst ein Straßenkind, das zum Überleben Brieftaschen und Schmuck gestohlen hatte, war sie nach Thailand gegangen, als Mao in China die Macht übernommen hatte, und hatte sich dort als politische Aktivistin betätigt. Dafür war sie verfolgt und ins Gefängnis gesteckt worden, wo sie eine Faszination für Amerika – einem brutalen Land, in dem es nichtsdestotrotz Gedankenfreiheit und Unabhängigkeit gab – entwickelt hatte. Jahre später hatte sie einen ihrer ehemaligen Mitgefangenen auf der Straße getroffen, und der hatte ihr angeboten, sie nach Amerika zu bringen. Hätte sie damals nur gewusst, dass es bloß ein Trick war, um sie zu versklaven und zu einer verabscheuungswürdigen Kollaborateurin zu machen, die kleine Kinder zwang, bis zum Umfallen zu arbeiten. Da sie es nicht ertragen konnte, sie so leiden zu sehen, hatte sie einige der Kinder als Taschendiebe angelernt und ihnen gegen einen Anteil an ihrer Beute die Arbeit in dem illegalen Ausbeuterbetrieb erspart. Sie fälschte Unterlagen, trug ihre angeblich geleisteten Arbeitsstunden ein und schwindelte, was die Menge der von ihnen hergestellten Stoffe anging. In der Hoffnung, Gnade von Jusef zu erhalten, hatte sie all das zugegeben und sogar angeboten, ihren gesamten Profit aus ihren illegalen Aktivitäten abzuliefern. 74
Dass sie es jedoch mit Dämonen zu tun hatte, die auf der falschen Seite kämpften, ahnte sie nicht. Und so war sie einen langsamen und sehr qualvollen Tod gestorben. Jetzt warfen die Fackeln im Tempel von Latura Schatten auf das Gesicht des kleinen Jungen, der zitternd vor Jusef stand. Verhärmt und erschöpft, wie er war, sah er wie ein alter Mann aus ... mit dem einzigen Unterschied, dass er nicht mehr lange genug leben würde, um ein alter Mann zu werden. Das große Rad des Karma dreht sich eindeutig zu meinen Gunsten, dachte Jusef. Der Name des kleinen Jungen war Kliwon Sucharitkul, der jüngere Bruder dieses Narren Decha. Decha, ursprünglich ein Gefolgsmann, war zum Verräter geworden, als er die Nerven verloren und versucht hatte, das Werk aufzugeben. Und Latura war kein Gott, der Verrat duldete. Kliwons bleistiftdünne Handgelenke waren an die Wand gekettet, während Tränen über sein gelbbraunes Gesicht rannen und sein blaues Batikhemd benetzten. Jusef hatte noch nie jemanden so viele Tränen vergießen sehen. Es war unheimlich, dass das Kind derart weinen konnte, ohne einen Laut von sich zu geben, doch gleichzeitig war es überaus faszinierend. Mit einer Kapuzenrobe bekleidet, stand Jusef vor dem Jungen und sagte auf Bahasa-Indonesisch: »Du weißt, warum ich wütend bin, nicht wahr?« Kliwon senkte den Kopf und Jusef seufzte. Unter seiner Kapuze klickte er nachdenklich mit den Zähnen. War er selbst jemals so demütig gewesen? Wohl kaum. Sein Vater hatte stets gelacht und ihm erzählt, dass er stolz und ehrgeizig auf die Welt gekommen sei. Von einem Tyrannen wie seinem Vater war dies in der Tat ein großes Lob. Aber nachdem Jusef Bang erklärt hatte, dass er Musiker werden wolle, kam kein Lob mehr über dessen Lippen. Erst als er sich den Mysterien des Okkulten zugewandt hatte, war sein Vater wieder sein Freund gewesen. Oh ja. Zumindest für eine kurze Weile. Er erinnerte sich noch gut an den letzten Tag, an dem es ihm noch wichtig gewesen war, was sein Vater dachte. An den Tag, an dem er zum Mann – Laturas Mann – geworden war. Und an eine der seltsamsten Nächte seines Lebens.
75
Paris, 1996 Da war ein Mann. Oder war es eine Kreatur? Jusef wusste nicht genau, was von beidem zutraf. Aber dieser Mann konnte nicht getötet werden. Jusef hatte dies nur zufällig entdeckt, als er eines Nachts, nachdem er mit einer Gruppe am Montmartre gejammt hatte, die Straße hinunter zur nächsten Metrostation gegangen war. Er war nach rechts in die Rue Mariotte gebogen und ohne Eile weitergeschlendert, obwohl es schon drei Uhr morgens war. Auf Leibwächter hatte er verzichtet, denn sie passten nicht zu seinem Stil. Und dann hatte er die Kampfgeräusche gehört. Und das Knurren. Im trüben Licht der Straßenlaternen hatte sich ihm ein Bild geboten, das ihn förmlich hypnotisierte: ein großes Wesen mit dem Körper eines Mannes, aber dem Gesicht eines Dämonen. Sein Haar war schwarz, sein Gesicht bleich. Er trug einen langen schwarzen Mantel. Dieser Mann kämpfte mit einem Geschöpf, das seinesgleichen zu sein schien – eine Kreatur mit grotesken Gesichtszügen und langen, spitzen Zähnen. Mit ihren unglaublichen Kräften schlugen sie so heftig aufeinander ein, dass sie durch die Luft flogen und gegen die Ziegelwände der Gasse prallten. Immer wieder griff die andere Kreatur fauchend an, aber für Jusef stand fest, dass der Große gewinnen würde. Die Verletzungen, die beide davontrugen, waren entsetzlich; normale Menschen wären längst an ihnen gestorben. Und dann, plötzlich, stach der Große mit einem Stock – oder einem Zauberstab – auf seinen Gegner ein. Und dieser explodierte in einer Staubwolke. Jusef hatte das Gefühl, sich in Stein verwandelt zu haben. Vor Erstaunen war er wie gelähmt. Der Sieger wandte sich ab, rannte die Gasse hinunter und wurde von der Nacht verschluckt. Es war vorbei. Von diesem Moment an war es Jusefs Ziel, eine vergleichbare Macht zu erlangen. Er engagierte Detektive, Medien und Wahrsager und kaufte teure okkulte Werke. Dann machte er die ersten Entdeckungen. Wundervolle Entdeckungen, mit deren Hilfe er seine Karriere vorantrieb. Sein Vater, der überall seine Spione hatte, erfuhr natürlich davon und machte Jusefs Hoffnungen und Träume zunichte. Aber fast noch schlimmer war, dass er Jusefs schwachsinnigen Vetter Slamet ins Spiel 76
brachte. Jusef war es ein Rätsel, warum sein Vater eine derart hohe Meinung von Slamet hatte, dem es an Ehrgeiz und Intelligenz mangelte, und das nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Vater, Sohn und Neffe entwickelten ihre magischen Kräfte immer weiter. Und während Bangs Macht in Indonesien wuchs und wuchs, wetteiferten die Staatsführer aller Länder um seine Gunst. Amerikanische Generäle scherzten darüber, dass man »mehr Bang für sein Geld« bekam. Nach einiger Zeit durchschaute Jusef den unausgesprochenen Handel seines Vaters: Sein Sohn sollte sich ruhig hier und dort ein paar Tricks zu Nutze machen, um seine Karriere voranzutreiben, aber die wahre Macht musste Bangs ehrgeizigen Plänen dienen. Nur dann würde er es Jusef ersparen, die Geschäfte der Familie zu übernehmen, etwas, das sein Sohn zutiefst verabscheute. Nach weiteren Entdeckungen machte Jusef die ultimative Entdeckung: das Geheimnis ewigen Lebens. Latura war der Gott der Toten. Wer ihm diente, konnte ewig leben. Bang machte klar, dass, wenn jemand in der Familie das Geschenk der Unsterblichkeit erhalten würde, er es war. Aber wie konnte er erwarten, dass ich ihm das Geheimnis des ewigen Lebens verraten würde, wenn nur einer von uns unsterblich werden kann?, fragte sich Jusef. Bang hatte seinem Sohn schließlich auch nicht verraten, wie man sich als körperloses blaues Licht von einem Ort zum anderen bewegen konnte. Und was war mit dem Dämon, der ihm entkommen war? Gegen was hatte sein Vater in der letzten Nacht seines Lebens gekämpft? Jusef fragte sich, wie Slamet sich wohl fühlte, jetzt, wo Bang tot war. Die Götter hätten Bang Rais vor allem Unbill schützen müssen. Jusefs Vater und Slamet hatten viele Schwüre geleistet und Hunderte von Menschen hier und in Indonesien geopfert, um Bang vor Krankheiten und Verletzungen zu bewahren. Und ihre Anstrengungen waren belohnt worden, was man daran erkennen konnte, dass zahlreiche Attentate auf Bang fehlschlugen. Aber ihr Wissen über Latura wies zahlreiche Lücken auf und basierte einzig auf einigen Seiten aus dem Tagebuch eines katholischen Priesters aus dem achtzehnten Jahrhundert. Obwohl es ihnen gelungen war, Laturas Macht anzuzapfen, hatten sie es nicht geschafft, direkten Kontakt mit dem Gott aufzunehmen. Dann brachte Jusef etwas Wundervolles in Erfahrung: Es gab ein Buch, eine schriftliche Aufzeichnung allen Wissens, das erforderlich war, um Latura in diese Welt zu holen. Den Gott zurückzuholen war der 77
Preis, den man für das Geschenk des ewigen Lebens zahlen musste. Dieses konnte jedoch nur einer Person zuteil werden, und zwar derjenigen, die Opfer bringen und die Riten und Zauberformeln lernen würde. Jemand, der Latura ein geeignetes Gefäß bereitstellte, in dem er auf Erden wandeln konnte. Wie das gehen sollte, war in besagtem Schriftwerk erklärt. Jusef war sich ziemlich sicher, dass es in einer kleinen Kirche unweit von Nias aufbewahrt wurde. Also schickte er Männer los, um danach zu suchen. Zum gleichen Zeitpunkt begann Jusef, seinen Vater systematisch hinters Licht zu führen. Er gründete die Bruderschaft von Latura, einen streng geheimen Kult von Akolythen. Er fragte sich, ob Bang auch davon erfahren hatte, so wie er auch herausgefunden hatte, dass sein Sohn ihn belog. Es spielt keine Rolle. Er ist Futter für die Würmer, sagte er sich nervös. Kurz nach der Gründung des Kults hatte Jusef erfahren, das das Buch nach Amerika geschmuggelt worden war. Offensichtlich hatte jemand den brillanten Einfall gehabt, es als Lehrbuch zu tarnen. »Englisch als Zweitsprache« – was für ein gelungener Scherz. Sofort hatte Jusef angefangen, die Besitzer dieses Buches ausfindig zu machen, und herausgefunden, dass sie alle interessanterweise derselben katholischen Pfarrei in Los Angeles angehörten. Der Priester dieser Pfarrei stammte aus Indonesien und war zur selben Zeit untergetaucht, als Jusef all diese Informationen bekommen hatte. Und ich werde dieses verdammte Buch finden, selbst wenn ich dabei jeden Menschen in Los Angeles umbringen muss. Apropos umbringen ... »Du hast nicht versucht, diese junge Dame zu bestehlen, oder?« Der Junge gab keine Antwort. Stattdessen senkte er den Kopf und weinte noch heftiger. Jusef entschloss sich zu warten. Wenn er irgendetwas als Sohn von Bang Rais gelernt hatte, dann die Tatsache, dass derjenige, der den ersten Schritt machte, immer verlor. Dann deutete er in die Dunkelheit, wo heftiges Flügelschlagen von den rußigen, blutgetränkten Wänden widerhallte und Klauen auf dem glatten, feuchten Boden klickten. Der Junge zerrte verzweifelt an seinen Ketten und rief: »Nein! Nein, pak!« »Aber deine Schwester hat die junge Frau bestohlen. Und du hast versucht, sie dafür zu bestrafen.« Die alte Frau hatte es ihm vor ihrem Tod erzählt, in der Hoffnung, dass er den Jungen verschonen würde. 78
»Sie hat nichts getan. Und ich habe nicht... ich habe sie nicht geschlagen, um sie zu bestrafen. Sie sagte, ich wäre dumm. Deshalb habe ich's getan.« Der Junge blickte zu ihm auf. Nur um ihn einzuschüchtern, trat Jusef einen Schritt zurück in die Schatten, was ihn wie ein Gespenst aussehen ließ. »Bitte, pak.« Das stammelnde Kind verfiel in seinen gutturalen und unangenehmen Heimatdialekt. Irgendetwas über seine Mutter und dass es ihr das Herz brechen würde, wenn ihre Kinder starben. Dass die Behörden nach ihnen suchen würden. »Du nichtswürdiger kleiner Sklave«, sagte Jusef verächtlich. »Glaubst du wirklich, dass mich dein Flehen berührt? Mich, Jusef Diener von Latura? Wie sehr du seine Macht doch unterschätzt!« Der Junge bettelte und flehte weiter, während seine Schluchzer immer lauter wurden. Viel zu laut. Jusef blickte nach oben und dachte an die vielen Menschen, die Gäste, die über das Anwesen spazierten. Er sah wieder den Jungen an, der sich jetzt nach vorn warf und dabei die Haut an seinen kleinen Handgelenken in Fetzen schnitt. Blutstropfen flogen durch die Luft. In der Dunkelheit schabten die Klauen gierig über den Beton. »Wo ist meine Schwester?«, schrie der Junge. »Was haben Sie mit meiner Schwester gemacht?« Jusef betrachtete das Kind fast freundlich. »Das wäre meine nächste Frage an dich gewesen«, informierte er den Jungen. »Da du offenbar nicht weißt, wo sie ist, hast du gerade dein eigenes Todesurteil unterschrieben.« Der Dämon – Jusefs Dämon – kroch in den Lichtkreis der nackten Glühbirne an der Decke. Vierbeinig, die Haut leuchtend grün, mit rohen Gesichtszügen, die tief in sein karmesinrotes Fleisch geschnitzt waren, und mit Flügeln, die so schnell wie die eines Kolibris flatterten. Wild kreischend stürzte er sich auf Kliwon. »Ich weiß, wer das Buch hat!«, schrie der Junge. Jusef war verblüfft. »Halt!«, befahl er dem Dämon. Doch es war zu spät, denn das weit aufgerissene Maul verschlang schon den Kopf des jungen. Zwar verriet ein leises Wimmern, dass das Kind noch am Leben war, aber es war eindeutig zu spät. Langsam setzte sich Jusef auf den Boden und lauschte in der Dunkelheit den Schlürf- und Kaugeräuschen. Er blickte zu dem Altar seines 79
Gottes hinüber und murmelte: »Für dich, mein dunkler Herr. Ein weiteres Opfer.« Aber jetzt zu seiner Schwester, dachte er. Celia. Das hat Vorrang. Jusef war ruhig und gefasst, als er den Tempel verließ und sich zu seinem Vetter gesellte, der die Gäste begrüßte. Das sedhekah würde in Kürze beginnen, und der allgemeine Empfang hatte bereits begonnen. Jusef fand Slamet am Eingang des palastartigen Familienhauses. Es war ein Monument des Art deco, über das in Dutzenden von Zeitschriften geschrieben worden war. Die klaren Linien waren mit malvenund lavendelfarbenen Neonröhren betont, die eine fantastische Skulptur von Diana beleuchteten, die mit ihrem Bogen in einem Vollmond über der Doppeltür abgebildet war. Glassteine glühten warm im Kerzenlicht. Obwohl der Leichnam von Bang Rais in der Erde ruhte, war im Wohnzimmer ein Altar als Gedenkstätte aufgebaut worden. Die Gäste waren eingeladen – genauer gesagt, es wurde von ihnen erwartet –, den Göttern und dem Geist des lieben Verstorbenen ihren Respekt zu erweisen. In seinem elegant geschnittenen schwarzen Anzug sah Slamet durch und durch wie der trauernde Lieblingsneffe eines sehr reichen Mannes aus. Jusef trug ebenfalls Schwarz, einen topmodischen italienischen Anzug mit einem kragenlosen weißen Hemd. An seinen Füßen befanden sich jedoch Cowboystiefel. Er bemerkte Slamets missbilligenden Blick und grinste unwillkürlich. Was für ein engstirniger Mensch mein Vetter doch ist, dachte er. In diesem Moment rollte ein Polizeiwagen durch das Tor. Slamet zog die Brauen hoch und warf Jusef einen beunruhigten Blick zu. »Und jetzt?« Jusef zuckte die Schultern. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung.« »Diese Toten«, flüsterte Slamet. »Bist du sicher, dass sie unsere Spuren nicht zurückverfolgen können?« Jusef verdrehte die Augen. »Fängst du schon wieder damit an?« »Warum hast du sie nicht auf weniger auffällige Weise getötet?«, fuhr Slamet fort. »Oder sie woanders umgebracht?« »Ich wollte unsere Feinde einschüchtern«, informierte Jusef ihn. »Sie wissen lassen, dass wir die Macht haben. Und sie glauben lassen, dass wir das Wissen haben.« »Aber sie wissen, dass wir das Buch nicht haben«, sagte Slamet leise. »Woher? Woher sollen sie das wissen? Zum Teufel, sie glauben, dass es zwei Bücher gibt. Aber es könnten auch zwanzig sein. Das alles sind 80
doch Überlieferungen, vermischt mit Legenden, Slamet. Weißt du, wie viele ›echte Kreuze‹ es in Europa während der Zeit der Kreuzzüge gab?« In diesem Moment trat eine wunderschöne Inderin mit ernstem Gesicht auf sie zu. Jusef verbeugte sich schweigend und sie verneigte sich ebenfalls. Sie bekleidete ein hohes Amt in der indischen Regierung, oder zumindest hatte sie das einmal. Jusef konnte sich beim besten Willen nicht mehr an ihren Namen erinnern. »Madame Krishnamurti«, sagte Slamet respektvoll. »Danke, dass Sie zu unserem Empfang gekommen sind.« »Madame«, echote Jusef. »Vielen Dank.« »Mein Beileid zum Tod eines großen Mannes«, entgegnete sie und ging weiter. Als der Polizeiwagen anhielt, sagte Slamet: »Was soll das? Vor allen Augen? In der Nacht von Onkels Beerdigung!« »In Indonesien wäre das nicht möglich«, stimmte Jusef zu. Die Beifahrertür öffnete sich und eine blonde Frau stieg aus, die Jusef bekannt vorkam. Natürlich. Sie war in den Nachrichten gewesen und hatte über die Brände gesprochen. Mit Meg gesprochen. »Mr. Rais?«, fragte sie. Ich werde es Slamet überlassen, dachte er und verhielt sich schweigsam. »Jusef Rais?«, fügte sie hinzu. Sein Herzschlag setzte für einen Moment aus, aber es gelang ihm, seine Fassung zu bewahren. Sie klappte eine Lederbrieftasche auf und ließ ihre Marke aufblitzen. »Ich bin Detective Lockley vom L. A. P. D. Ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen.« »Es findet gerade der Begräbnisempfang für meinen verstorbenen Vater statt«, erwiderte Jusef. »Kann ich Ihnen vielleicht zu einem anderen Zeitpunkt helfen?« »Tut mir Leid«, sagte sie entschuldigend, aber es war klar, dass es sie nicht kümmerte, wer gestorben war oder was vor sich ging. »Gehen wir ins Haus, wo wir ungestört sind«, schlug Jusef vor. Slamet wollte ihnen folgen, doch die Frau hielt ihn mit einer Handbewegung davon ab. »Im Moment brauche ich nur Ihren Bruder«, informierte sie ihn. »Er ist mein Vetter«, sagte Slamet mit gerunzelter Stirn. Dann wandte er sich an Jusef: »Soll ich unseren Anwalt anrufen?« »Sie erwarten Schwierigkeiten?«, fragte der Detective lauernd. 81
Slamet wurde rot, und Jusef hätte ihn am liebsten auf der Stelle erwürgt. »Nein, nein«, beeilte sich Slamet zu sagen und strafte damit seine eigenen Worte Lügen. »Es ist bloß so, dass wir sehr reich sind, verstehen Sie, und sehr bekannt. Wir müssen an unsere Stellung in der Gesellschaft denken.« »Ich verstehe.« Sie zuckte die Schultern. »Sie können anrufen, wen Sie wollen, Mr. Rais. Ich möchte Ihrem Vetter nur ein paar Fragen stellen.« Sichtlich verärgert stapfte Slamet davon. Jusef dagegen entschloss sich, weiterhin höflich zu sein. Lächelnd sagte er: »Ich nehme an, da Sie im Dienst sind, kann ich Ihnen keinen Champagner anbieten.« »Nicht für mich, danke«, sagte sie schroff. Jusef führte sie ins Haus, wo sie eine Reihe Diener mit schwarzen Trauerbändern um den linken Oberarm passierten und einen Salon betraten, den seine Mutter sehr geliebt hatte. Sie war vor vier Jahren gestorben, und Jusef vermisste sie noch immer. »Hübsch«, sagte der Detective. Sie setzte sich in einen Korbsessel mit ballonförmiger Rückenlehne. Das Zimmer war mit rotem Jasmin geschmückt. Jusef nahm ihr gegenüber Platz, schlug die Beine übereinander und faltete die Hände. »Heute Abend hat ein kleines Mädchen einer Freundin von Ihnen die Handtasche gestohlen«, begann der Detective. »Der Name des Mädchens ist Celia Sucharitkul.« Jusef konnte nicht verhindern, dass er bei dem Namen zusammenfuhr. Als er sah, dass sie es bemerkt hatte, bemühte er sich um einen besorgten Gesichtsausdruck. »Ich fürchte, sie ist ausgerissen«, erklärte er und beugte sich leicht nach vorn. »Sie hatte sich mit ihren Brüdern gestritten.« »Das sind ...?« Er dachte einen Moment nach. Wie hieß der Kleine noch gleich? »Kliwon«, sagte er. »Und Decha.« »Decha wurde tot aufgefunden.« Er fuhr hoch. »Was?« »Verbrannt. Wir haben überall in der Stadt eine ganze Reihe ähnlicher Mordopfer gefunden. Wissen Sie etwas darüber, Mr. Rais?« »Nein. Natürlich nicht.« Meg hatte Jusef gesehen und wollte zu ihm gehen, doch jetzt blieb sie stehen und horchte. Ihr Herz hämmerte. 82
Sie sind wegen mir hier, dachte sie. Sie denken, dass ich etwas damit zu tun habe. Vor ihrem geistigen Auge sah sie Olives entstellten Leichnam. Ihr drehte sich der Magen um, und fast hätte sie sich übergeben. Dann, ebenso deutlich, tauchte das Bild eines Mannes auf. Er war extrem bleich, und seine Augen und Haare waren schwarz. Er blickte verwirrt drein, so als könnte er sie ebenfalls sehen. War er ein Engel? »Angel?«, flüsterte sie. »Können Sie mir helfen?« Angel stopfte weißen Salbei und Rosmarin in etwas, das wie ein Tee-Ei aussah. »Ja, Doyle?«, sagte er. Dieser blickte von einem dicken alten Lederbuch auf und reckte den Kopf. »Ja, Mann?« »Hast du nicht gerade meinen Namen gesagt?«, fragte Angel und runzelte die Stirn. Doyle schüttelte den Kopf. »Nein. Ist das nicht das zweite Mal, dass dir so was passiert?« »Ja.« Angel berührte die Bisswunde an seinem Kopf. »Ich erinnere mich, dass Buffy einmal mit Dämonenblut in Berührung kam. Und danach konnte sie die Gedanken anderer Menschen hören.« »Telepathie«, sagte Doyle hilfsbereit. Angel legte den Talisman hin, den er vorbereitete, und blätterte in dem Buch, aus dem er das Herstellungsverfahren entnommen hatte. Es handelte sich um eine Übersetzung mit dem Titel Das dämonische Kompendium und enthielt einige Informationen über asiatische Dämonen. »Ich habe zu irgendjemandem Kontakt, ich weiß nur nicht, zu wem.« Er blätterte ungeduldig weiter. »Wenn du zufällig die lateinische Originalausgabe dieses Werkes bei eBay siehst, lass es mich wissen. Ich vertraue keinen Übersetzungen.« »Das ist ein seltenes Werk«, sagte Doyle, während er auf das Buch deutete. »Es gibt davon nur ein paar Exemplare.« Ich will mich nicht erinnern, flüsterte eine Stimme in Angels Kopf. Angel blinzelte. »Diesmal hab ich sie deutlich gehört. Es ist eine Frauenstimme. Sie klingt jung. Und sehr verängstigt.« Angel und Doyle sahen sich an. »Vielleicht ist es die Frau aus unserer gemeinsamen Vision«, vermutete Angel. Doyle hielt die Skizze hoch, die Angel angefertigt hatte. Sie hatten sie zusammen gezeichnet und waren nach sorgfältigem Studium schließlich zu der Überzeugung gelangt, dass ihre Kleidung javanisch und ihre Tanzpose balinesisch war. 83
Indonesisch. Rais war ein indonesischer Name. Nach ein paar Minuten im Internet hatte Angel herausgefunden, dass die Raises eine sehr vermögende Familie mit großem Einfluss in Asien und den USA waren. Die Hauptquelle ihres Wohlstands war die Textilindustrie. »Die Limousine ist gleich hier«, rief Cordelia sie in diesem Moment an. »Der Fahrer hat mich gerade auf meinem Handy angerufen, um es mir mitzuteilen.« Sie hatten sie mit zu Angel genommen, um dort weiter an den rätselhaften Verbrennungsfällen arbeiten zu können. Und obwohl Cordelia nicht besonders begeistert gewesen war, hatte sie es verstanden. »Okay. Die Party geht los«, sagte Angel. Er und Doyle trugen schwarze Anzüge, verzichteten aber auf Mäntel, da die Nacht warm war. Mit dem Aufzug fuhren sie nach oben, wo sie Cordelia trafen, die nervös auf und ab ging. Doyles Augen weiteten sich bei Cordelias Anblick. »Du siehst großartig aus«, sagte er bewundernd. Das tat sie wirklich. Sie hatte das Haar zu einem Chignon gebunden, ein paar Strähnen hingen ihr ins Gesicht, und ihr schwarzes Kleid war tief ausgeschnitten, ohne unzüchtig zu wirken. Sie trug ein pechschwarzes Halsband und einen dazu passenden Armreif, schwarze Strümpfe und schwarze Stöckelschuhe. »Ihr seht auch nicht gerade übel aus«, meinte sie anerkennend. »Hier.« Angel reichte ihr eine kleine Cloisonnékugel, die Cordelia mit angewidertem Gesicht zur Kenntnis nahm. »Iih. Wozu soll das gut sein? Es stinkt.« »Es ist ein Talisman«, erklärte Angel nachsichtig. »Er soll das Böse abwehren, sofern meine Nachforschungen richtig waren. Ich brauche unbedingt die lateinische Originalausgabe.« »Hast du es schon bei Shopping.com versucht?«, fragte Cordelia. »Ich habe den halben Tag – die halbe Mittagspause – damit verbracht. Sie haben lauter tolle Sachen. Die ich mir allerdings nicht mehr leisten kann.« »Es kommen schon noch bessere Zeiten«, versicherte ihr Doyle. »Steck den Talisman in deine Handtasche«, forderte Angel sie auf. »Lieber nicht«, rief Cordelia und schauderte theatralisch. »Ich habe mehrere Stunden in der Gesellschaft der hygienisch Vernachlässigten verbracht und mich gerade mit teurem Parfüm im Wert von zwanzig Dollar besprüht. Außerdem ist das meine gute Handtasche für den 84
Abend, und ich kann mir keine neue leisten, wenn der Gestank nicht rausgeht.« Angel hielt ihr den Talisman weiter hin. »Möchtest du lieber zu Asche verbrennen?« »Nimm ihn«, drängte Doyle. Dann sah er Angel an. »Und wo ist meiner?« »Ich habe drei gemacht.« Angel wies zum Schreibtisch, auf dem die beiden anderen lagen. Er gab Doyle einen und steckte den anderen in die Tasche seines Anzugs. »Okay. Doyle, du hältst dich an Cordy, und ich folge euch«, sagte Angel. »Wenn sie dich abweisen, werden sie mich wahrscheinlich auch nicht reinlassen.« Er sah Cordelia an. »Und was machst du, wenn wir nicht reinkommen?« »Einen Anfall vortäuschen«, erklärte sie, »worin ich gut bin. Wie du weißt.« »Ja, das weiß ich«, bestätigte Angel. »Oder du sagst, dass es dir nicht gut geht«, schlug Doyle vor. »Egal, wie du es machst«, sagte Angel. »Hauptsache, du verschwindest von dort. Du gehst auf keinen Fall rein, ohne dass mindestens einer von uns dich begleitet.« »Okay.« Dann hatte sie offensichtlich einen Einfall und straffte sich. »Seid ihr sicher, dass ich kein Mikrofon tragen soll? Oder eine Perücke? Oder soll ich mir einen künstlich klingenden ausländischen Akzent wie Doyle zulegen?« »Cordy, du steigerst dich zu sehr da rein«, warnte Angel. »Schalt mal 'nen Gang runter, okay?« »Und zu deiner Information, mein Akzent klingt nicht >künstlich