Erstes Kapitel DER INSPEKTOR IST MISSTRAUISCHER DENN JE „Maßgebende Kreise haben mir versichert“, mit diesen Worten lie...
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Erstes Kapitel DER INSPEKTOR IST MISSTRAUISCHER DENN JE „Maßgebende Kreise haben mir versichert“, mit diesen Worten ließ sich Oliver Grimm händereibend seinem Freunde gegenüber in einen Sessel fallen, „daß wir uns demnächst, auf engstem Raum vereint, gegenseitig mehrere Tage werden ertragen müssen.“ „Auf der ‚Caribbian Queen’ etwa?“ fragte ihn Milton Drake, die Augenbrauen hebend. Sein Gegenüber bejahte kopfnickend. Der Oberkellner des Ballyrood-Klubs stellte unaufgefordert und schweigend eine Flasche Whisky und ein Glas auf den Tisch. Er kannte die Wünsche der Stammgäste genau, und so brauchte Grimm seinen gewohnten Whisky gar nicht erst zu verlangen. Milton wartete, bis der Mann wieder gegangen war; dann sagte er: „Ich muß doch den Eindruck gewinnen, hochzuverehrender Freund, daß Sie Ihre Amtspflichten ganz sträflich vernachlässigen!“ Worauf diesmal der Inspektor die Augenbrauen hob. „Und was, wenn ich fragen darf, berechtigt Sie zu dieser Meinung?“ „Weil ein Mann wie Sie“, und damit zündete sich der Multimillionär gemächlich eine Zigarette an, „ein Mann, dessen stadtbekannter Ehrgeiz nur darin besteht, solche gemeingefährlichen Individuen wie den ‚Mann mit der Kapuze’ und die ‚Rote Schlange’ dingfest zu machen, sich eine Vergnügungsreise eigentlich kaum leisten kann. Die beiden laufen bekanntlich immer noch frei herum; und ohne Fleiß kein Preis – wenn Sie mir das abgegriffene, deswegen aber noch ungemein zutreffende Sprichwort nicht verübeln wollen.“ 4
„Und doch“, sagte Grimm darauf, „läßt sich oft das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden.“ Nachdenklich stellte er sein Whiskyglas auf den Tisch zurück. „Auch hierbei, beispielsweise?“ fragte Drake. „Auch hierbei … beispielsweise!“ erwiderte Grimm mit besonderer Betonung und fuhr fort: „Meine Erfahrung lehrt mich, daß überall dort, wo der Mann mit der Kapuze auftaucht, auch die Rote Schlange zu erscheinen pflegt. Offenbar können die beiden voneinander nicht lassen.“ Milton meinte mit leiser Ironie: „Dann sind Sie also sicher, daß der Mann mit der Kapuze beschlossen hat, dieser Tage eine Urlaubsreise zu machen?“ „Wollen Sie etwa das Gegenteil behaupten?“ fragte der Polizeibeamte mit einem raschen Blick. „Beim Barte des Propheten! Nein! Wie käme ich dazu, etwas zu behaupten, wovon ich nichts weiß. Ich wäre aber recht neugierig zu erfahren, wie Sie selber zu Ihrer Annahme kommen?“ Hierauf blickte Grimm seinem Freunde in die Augen und meinte doppeldeutig: „Shandon hat mir gesagt, daß auch Sie sich unter seinen Gästen befinden werden … !“ „Ungemein überzeugend!“ schnaubte der nur. „Und weiter.?“ „Immerhin ist der Mann mit der Kapuze bisher immer dort aufgetaucht, wo Sie sich – ganz zufällig natürlich – gerade auch aufgehalten haben!“ „Ihre Gedankenverbindung macht Ihrem Scharfsinn Ehre, mein Guter. Ob sie aber auch stimmt, scheint mir zweifelhaft. Mit anderen Worten: Sie wollen damit sagen, daß ich der Mann mit der Kapuze bin, oder doch mindestens als eine Art Lotsenfisch für ihn arbeite?“ Mit einem Lächeln, das alles andere als gutgelaunt war, antwortete der Inspektor darauf: 5
„Der Vergleich ist treffend und originell. Er paßt auch zu unserem Fall, denn allgemein nimmt man doch an, daß der Lotsenfisch den großen Wal seiner Beute zuleitet. Hier ist es nur kein kapuzentragendes Säugetier des Meeres, sondern eine hübsche Frau, die, weiß der Teufel warum, immer mit einer roten Maske herumläuft – und der Lotse sind Sie, mein Freund!“ „Oh diese eintönigen Anschuldigungen!“ meinte Milton. „Ich verdanke es nur der Tatsache, daß sie mir in den letzten Wochen so beharrlich vorgetragen werden, daß meine Empfindsamkeit nicht stärker leidet. Mit der Zeit bekommt man halt ein dickes Fell.“ Er hob sein Glas zum Licht und betrachtete behaglich den Ölig schimmernden Benediktiner darin. „Es ist aber doch erstaunlich, wie selbst Leute von so ungewöhnlicher Intelligenz wie Sie, hochgeschätzter Freund, sich oft blind in den abseitigsten Aberglauben verrennen können.“ Mit diesen Worten trank er sein Glas genießerisch aus. „Mein lieber Oliver“, meinte er dann, „solange Sie sich darauf versteifen, in mir den ‚Mann mit der Kapuze’ zu sehen, wird Ihnen der Kerl immer wieder zwischen den Fingern durchrutschen; und an dem Tage, an dem Sie ihn wirklich fangen – sofern Ihnen das je gelingen sollte – werden Sie die größte Enttäuschung Ihres Lebens zu verzeichnen haben!“ Die Augen des Inspektors glitzerten zornig: „Soll mich freuen, Milton, wenn Sie recht behalten. Sie erinnern sich ja der Geschichte mit Sonja. Sie wissen auch, wie nahe ich mit dieser Frau befreundet war. Und doch habe ich sie dann verhaften müssen! Es wäre schon ein Schlag für mich, wenn ich nach der besten Freundin auch noch den besten Freund in Handschellen schließen und auf dem Revier abliefern müßte. Immerhin …“ Und indem er sein Glas austrank, machte er eine kleine, wirkungsvolle Pause. „… immerhin“, wiederholte er, ohne dabei den Blick von Miltons Gesicht zu lassen, 6
„würde ich es mir keinen Augenblick überlegen!“ Langsam erhob er sich: „Und damit … auf Wiedersehen, Milton!“ „Bis morgen, Oliver“, antwortete der Multimillionär mit hinterhältigem Lächeln. Er ließ sich wieder in seinen Sessel nieder, und rief dem Weggehenden nach: „… und Hals- und Beinbruch!“ *
* *
Zweites Kapitel EIN DIAMANTENCOLLIER VERSCHWINDET SPURLOS Wie eine in den Abgründen der Verdammnis irrende Seele, so tastet sich der Vergnügungsdampfer ‚Caribbian Queen’ durch die Finsternis der Nacht. Seit er seinen Liegeplatz am Patapsco, gegenüber der Stadt Baltimore, verlassen hat, wollte sich das Wetter nicht bessern. Man war die Chesapeake-Bucht hinabgefahren und auf den offenen Atlantik gekommen, aber immer noch hing der Himmel voll tiefer Wolken. Nicht die mindeste Brise rührte sich, und so wollte auch der langersehnte Regen nicht fallen. Der Mond konnte die Wolkendecke nicht durchbrechen. Nebelschwaden hingen bis auf die See herab. Die Positionslichter mit grünen Blitzen an Steuerbord, und mit roten Leuchten an Backbord, milderten die Dunkelheit nur wenig; die Lampen an Deck und im Steuerhaus konnte man nur wenige Meter weit wahrnehmen, und die Vorhänge vor den Bullaugen ließen kein Licht aus dem Innern des Schiffes dringen. Milton Drake blieb einen Augenblick an der Tür zum Promenadendeck stehen, und schaute den beiden Männern zu, die an den Flaschenzügen eines der Rettungsboote her7
umhantierten. Ein dritter Mann und ein Schiffsoffizier standen dabei. Der Multimillionär betrachtete das Schauspiel und wunderte sich etwas über die für eine Bootsrevision ungewöhnliche Stunde. Die Klänge eines Walzers drangen leise an sein Ohr. Im Salon vertrieben sich die Gäste Shandons die Zeit mit Tanz und Unterhaltung. Milton warf die halbgerauchte Zigarette weg, löschte sie mit dem Fuß, und öffnete die Tür. Der Raum war strahlend hell erleuchtet. Die jungen Leute tanzten, während die älteren an den seitlichen Tischen tranken, plauderten und spielten. In den Ecken saßen Kartenspieler, die sich durch die Unruhe um sie herum keinen Augenblick in ihrer Bridge-Partie stören ließen. Gerade mit den letzten Akkorden des Walzers kam eines der tanzenden Paare in Miltons Nähe zum Stehen, der eben die Tür hinter sich zugezogen hatte. Der Mann sagte zu ihm: „Ich dachte, Sie hätten sich schon hingelegt, Milton?“ „So faul bin ich nun wieder nicht, mein lieber Grimm“, sagte Milton. „Sie haben sich aber meine Abwesenheit gut zunutze gemacht, und haben sich die Königin des Schiffes erobert! Dabei habe ich mir eingebildet, selbst für diesen Abend der Prinzgemahl zu sein … !“ Die Angesprochene, eine wohlgestaltete, schlanke Blondine mit herrlichen blaugrauen Augen, lachte leise auf: „Armer Milton“, sagte sie, „wie haben sie dich verlassen!“ Dann wandte sie sich an den Inspektor: „Der Fall ist tragisch. Unser guter Drake hält sich wahrhaftig für unwiderstehlich, und er will es nicht begreifen, daß ihn eine Frau wegen eines anderen stehen lassen kann.“ „Mavis, es ist unerträglich, wie du mich verleumdest“, erwiderte der Multimillionär mit gespielter Bescheidenheit. „Ich bin zwar der unwürdigste unter deinen Dienern, und deine Wün8
sche sind mir Befehl. Aber gerade deswegen nährte ich in mir die Flamme der Hoffnung, daß du mir einen Blick deiner schönen Augen schenkst, dich meiner hoffnungslosen Vereinsamung erbarmst, und mir die Gunst dieses Tanzes schenkst.“ „Ein Tanz, mein Ritter, sei dir gewährt“, lächelte das Mädchen, „wenn du die Gnade auch nicht verdienst, du Schlingel. Ich habe alle Tänze vergeben. Nun muß ich einen anderen versetzen, um dir den Gefallen zu tun.“ „Ich will aber nicht der Geschädigte sein!“ warf Grimm ein. „Und was wären die möglichen Folgen in diesem Falle?“ forschte Mavis lachend. „Die schändlichsten Mittel würde ich gebrauchen, ihm die Freude zu versalzen“, versicherte der Inspektor. „Ich wäre sogar imstande, zu diesem Zweck Doris und Lilian zu mobilisieren … schau, schau“, fügte er hinzu, „da kommen sie ja schon, die lieben Mädchen! Der Himmel erhört alle meine Wünsche!“ Tatsächlich zwängten sich soeben in Richtung auf unsere Freunde, Doris Grading und Lilian Gordon durch die Menge der anderen Gäste. Grimm schaute sich händereibend nach einem Versteck um, und Mavis wandte sich lachend ab. Es gibt eine Art der Liebe, die tödlich auf den Betroffenen wirkt; derjenigen von Doris und Lilian konnte man sich nur durch Flucht entziehen. Lilian war schon auf wenige Schritte an Milton herangekommen, als dieser sich mangels besserer Ausflucht auf einen freien Stuhl am Tische der Clarksons niederließ. Die Familie Clarkson waren Verwandte und Pflegeeltern von Mavis. Am gleichen Tisch saßen außerdem der Eigentümer des Schiffes, Shandon, mit seiner Frau. Milton Drake hoffte, die beiden Mädchen würden sich an ihn nicht herantrauen, wenn sie ihn in solch seriöser Gesellschaft sitzen sähen. Leider half ihm alles nichts; von beiden Seiten fielen sie über ihn her. „Aber Milton, wo hast du nur den ganzen Abend gesteckt?“ fragte Lilian. Und auf der anderen Seite säuselte Doris: 9
„Und du hast mir doch versprochen, heute abend mit mir zu tanzen! Hast du das schon wieder vergessen?“ „Es tut mir furchtbar leid, Mädels“, sagte Milton, und zog ein recht jämmerliches Gesicht, „ich fühle mich schon den ganzen Abend nicht recht wohl; ich glaube, ich bin seekrank. Erlaßt mir das Tanzen für heute abend, ja?“ „Oh, Milty, soll ich dir irgendetwas bringen“, fragte Doris besorgt. „Wenn Sie seekrank sind, Herr Drake“, warf Frau Clarkson ein, „dann gehen Sie doch lieber ein wenig an die frische Luft; das tut Ihnen sicher gut. An Deck ist es auch nicht so furchtbar heiß, wie in diesem Saal. Kommen Sie mit, ich gehe gerade auch ein bißchen nach draußen!“ „Ich komme mit, mein Schatz“, fügte ihr Gemahl hinzu, und stand auf. „Solange das Gewitter nicht herunterkommt, werden wir die Hitze nicht los! Gehen wir!“ Die Shandons waren gleicher Absicht, und Milton wäre gerne mit an Deck gegangen, wenn er nicht hätte fürchten müssen, draußen seine beiden Plagen womöglich noch schwerer loszuwerden, als im Saale. Lilian ergriff seinen Arm; „Komm, Milton, laß uns rausgehen. Frau Clarkson hat ganz recht.“ Aber der Multimillionär schüttelte den Kopf: „Nein, Lilian. Ich bin nicht hergekommen, nur um wieder wegzulaufen. Wenn es nicht vorübergeht, lege ich mich lieber zu Bett … Hallo, Mavis!“ Das schöne Mädchen ging gerade am Tisch vorbei, und man konnte ihr die Absicht ansehen, daß sie gerne hätte entwischen wollen. Milton ließ sie aber nicht so leichten Kaufes davon. „Hallo, Milton“, erwiderte sie mit spitzbübischem Lächeln, „ich weiß noch immer nicht, welchen Tanz ich für dich freimachen kann.“ „Aber er will doch gar nicht tanzen“, rief Doris, „er ist doch seekrank! Und dabei will er um keinen Preis aus dieser schlechten Luft hier heraus! Es wäre doch wirklich besser für ihn …“ 10
„Besser?“ warf hier der Inspektor ein, dem man seine schlechten Absichten an der Nasenspitze ablesen konnte. „Ich weiß, was das Beste für ihn wäre!“ „Na, was denn?“ fragte Lilian. „Recht viel Liebe, Sympathie … und sorgsame Pflege.“ Mavis lachte laut heraus. Milton schickte ihm einen mörderischen Blick zu: „Oliver! …“ begann er, sprach aber seinen Satz nicht zu Ende. Von draußen drang ein angstvoller Schrei an sein Ohr. „Das war Frau Clarkson“, rief er und sprang auf. Der Inspektor sagte gar nichts; das Lächeln verschwand von seinen Lippen; er drehte sich auf dem Absatz herum und lief der Tür zu. Auf Deck lehnte Frau Clarkson schluchzend an einem der großen Ventilatoren. Frau Shandon war über sie gebeugt und versuchte offenbar, sie zu trösten. Etwas weiter weg, nach der Brücke hin, kniete Shandon neben dem bewegungslosen Körper des Steuermannes, während Clarkson über die Reeling hinweg mit geballten Fäusten in die Nacht hinaus schimpfte. Grimm ließ Milton sich um die beiden Frauen kümmern, und ging zu Shandon. „Was ist passiert?“ fragte er, „ist der Mann tot?“ „Nur besinnungslos“, antwortete er. „Er muß gleich wieder zu sich kommen. Er hat eben einen schweren Schlag auf den Kopf bekommen.“ „Von wem?“ „Der Mann mit der Kapuze war es.“ Überrascht blickte der Inspektor den andern an. Er konnte es nicht vermeiden, seinen Blick hinüber zu Milton wandern zu lassen. „Sind Sie ganz sicher?“ wollte er wissen. „Ganz bestimmt! Ich hab’ ihn selber gesehen.“ 11
Grimm verlor keine weitere Zeit mit unnützen Fragen. Die leer über die Reling nach unten hängenden Halteseile des Rettungsbootes, die Flaschenzüge und das Geräusch eines sich entfernenden Bootsmotors beschrieben genau genug den Fluchtweg des unbekannten Täters. Er eilte zu einem der anderen Boote hin, und rief über die Schulter hinweg zurück: „Helfen Sie mir, dieses Boot zu Wasser zu bringen, Clarkson! Wir müssen dem Kerl nach!“ „Weg da! Das Boot bleibt an seinem Platz!“ hörte man in diesem Augenblick aus dem Steuerhaus eine mächtige Stimme rufen. Der Kapitän kam mit großen Schritten herbeigestürzt. Grimm drehte sich um: „Einer Ihrer Offiziere ist angegriffen worden, Kapitän. Der Täter ist mit einem Boot geflohen. Ich muß dem Manne unter allen Umständen nach!“ Und Grimm begann, eines der Seile loszuwinden. „Ich habe Ihnen gesagt, daß das Boot an seinem Platz bleibt“, schrie der Kapitän wütend. „Rettungsboote werden nur bei Schiffbruch benutzt!“ „Das ist mir schnuppe“, erwiderte Grimm, „das Boot hat einen Motor, und das entscheidet! Im Übrigen bin ich Inspektor Grimm von der Staatlichen Kriminalbehörde! Meine Ausweise kann ich Ihnen zeigen!“ „Ihre Ausweise kümmern mich einen Dreck, Herr!“ schrie der immer wütender werdende Kapitän dagegen. „Das Boot kommt nicht zu Wasser, und wenn Sie der Präsident der Vereinigten Staaten selber wären. Wir sind auf hoher See, und da bin ich die einzige Autorität! Wenn Sie sich weigern, meinen Befehlen nachzukommen, dann werde ich Sie einsperren lassen!!!“ Grimm zuckte die Achseln, und ließ von dem Boote ab. „Wie Sie wollen, Kapitän“, sagte er mit erzwungener Ruhe. 12
„Jedenfalls lassen Sie damit einen der größten Verbrecher entkommen, den wir in den Staaten haben …“ Der Seemann hatte sich etwas beruhigt, als er seinen Befehl befolgt sah. „Es tut mir leid, Inspektor, daß ich in diesem Ton zu Ihnen sprechen mußte. Aber die Boote dürfen nun einmal nur für Lebensrettung verwendet werden. Übrigens hätten Sie mit Ihrem Versuch auch keinen Erfolg gehabt. Der Mann hat unsere Barkasse benutzt, unser bestes und schnellstes Boot, das wir bei Landungen nehmen. Von den Rettungsbooten ist keines imstande, es einzuholen. Aber was ist denn nun eigentlich vorgefallen?“ „Meine Frau ist beraubt worden“, antwortete Clarkson erregt. „Ihr Diamantenhalsband ist weg; stellen Sie sich den Schreck vor!“ „Beruhigen Sie sich, Clarkson“, sagte der Inspektor, „und erzählen Sie doch der Reihe nach. Aus dem Salon habe ich Sie noch hinausgehen sehen. Was geschah dann?“ Mühsam sich zur Ruhe zwingend, berichtete Clarkson: „Die Shandons gingen voran; meine Frau und ich folgten. Meine Frau blieb ein wenig zurück. Plötzlich höre ich sie laut aufschreien. Ich drehe mich um, und sehe, wie gerade ein Mann mit einer Kapuze über dem Kopf ihr das Halsband abreißt. Dann lief er auf die Brücke zu. Zuerst kümmerte ich mich um meine Frau. Als dann Frau Shandon dazu kam, blieb diese bei ihr, und ich machte mich mit Herrn Shandon auf die Verfolgung. An der leeren Aufhängevorrichtung sahen wir den Steuermann stehen. Shandon rief ihm zu, er solle den Mann mit der Kapuze festhalten. Wir hatten aber bis dahin nicht bemerkt, daß der Steuermann nicht alleine stand. Hinter ihm hob ein anderer Mann die Hand, und schlug ihm den Kolben einer Pistole schwer auf den Kopf. Der Steuermann fiel um; der Mann machte Front gegen uns und hielt uns mit der Waffe im Schach. Er würde schießen, wenn wir nur einen Schritt weitergingen. 13
Der Mann mit der Kapuze war unterdessen über die Reling gestiegen und kletterte an einem der Seile nach unten. Dann hörten wir den Motor der Barkasse. Sein Spießgeselle war ihm im letzten Augenblick auf dem gleichen Wege ins Boot gefolgt. Darauf liefen wir zur Reling. Aber das Boot war schon in der Dunkelheit verschwunden, und man hörte nur noch seinen Motor. Ich blieb an der Reling, Shandon kümmerte sich um den Steuermann … dann kamen Sie, Herr Grimm.“ Milton und die beiden Damen waren herangekommen und hatten den Bericht mitangehört. Der Inspektor wandte sich ihnen zu: „Haben Sie etwas hinzuzufügen, Frau Clarkson?“ fragte er. „Nur wenig“, antwortete die Dame, die inzwischen den ärgsten Schreck überwunden hatte. „Als ich aus dem Salon kam, spürte ich auf einmal, wie jemand an meinen Hals faßte. Beim Umschauen sah ich nur zwei glitzernde Augen hinter den Ausschnitten einer Kapuze. Da schrie ich. An mehr kann ich mich nicht erinnern.“ Unterdessen waren die andern Gäste auch auf Deck gekommen. Sie standen vor der Treppe zum Vordeck, wohin der Kapitän bereits einen Matrosen postiert hatte, um störende Neugierige fernzuhalten. Mit Shandons Hilfe hatte man den Steuermann aufgerichtet; er gab Lebenszeichen von sich. Ein Schluck Cognac brachte ihn vollends zur Besinnung. „Was ist Ihnen zugestoßen?“ fragte Grimm auch ihn. Der Mann warf einen Blick auf seinen Kapitän, las dessen Einverständnis in seinem Blick, und sagt stockend, unter der Nachwirkung des erhaltenen Schlages: „Vor einer ganzen Weile sah ich, wie sich zwei Männer an der Barkasse zu schaffen machten Ich ging hin, um nachzusehen und ihnen zu befehlen, sich da wegzuscheren. Der eine von ihnen hielt mir aber eine Pistole vor. ,Keine auffällige Bewegung’, sagte er, ,oder du hast eine Explosivkugel in deiner Fi14
gur!’ Ich mußte also stehenbleiben und zuschauen; auch der Versuch zu schreien, hätte mir das Leben gekostet. Was tun? Jede Bewegung wäre Selbstmord gewesen, und gegen solche Geschosse ist kein Kraut gewachsen. Früher oder später würde sich schon eine Gelegenheit geben, den Spieß herumzudrehen, jemand von der Besatzung würde vorüberkommen und eingreifen, hoffte ich. Die beiden Männer ließen die Barkasse zu Wasser. Der Dritte blieb mit der Pistole neben mir stehen. Er stellte sich aber in einer Weise hin, die es schwer machte zu sehen, daß er mich unter Zwang hielt. Alle drei trugen Masken. Sie sprachen kein Wort. Als das Boot im Wasser war, stieg einer von ihnen hinein; der zweite zog eine Kapuze aus der Tasche und zog sie übers Gesicht, trotzdem er bereits eine Maske trug. Dann ging er zum Eingang des Salons und versteckte sich in der Nähe der Tür. Als die Herrschaften herauskamen, und ich den Schrei hörte, wußte ich sofort, daß irgendetwas passiert sein müsse. Ich konnte mich aber nicht bewegen. Mein Tod hätte auch niemanden etwas genützt; also wartete ich. Als ich dann den Mann mit der Kapuze zur Brücke rennen sah, wollte ich es aber doch drauf ankommen lassen. Das muß mein Wächter erraten haben, denn er versetzte mir sofort den Kolbenschlag.“ Der Kapitän wandte sich rasch um und rief einem der Matrosen zu: „Laufen Sie zur Funkbude und sagen Sie dem Funker, er solle eine Beschreibung unserer Barkasse ‚An Alle’ herausgeben. Das nächste Schiff soll das Boot an Bord nehmen und die Besatzung verhaften. Man soll uns Bescheid geben, wenn das Boot aufgefunden wird.“ Der Matrose ging. Der Steuermann bemerkte: „Die Leute werden mit der Barkasse nicht weit kommen, Kapitän.“ „Wieso?“ 15
„Weil fast kein Benzin mehr im Tank war! Morgen früh wollte ich nachfüllen lassen, für alle Fälle.“ „Das will nicht viel heißen“, meinte Grimm skeptisch. „Möglicherweise werden die Drei von einem anderen Fahrzeug aufgenommen, das irgendwo in der Nähe auf sie wartet. Außerdem müssen sie ja irgendwie an Bord gekommen sein. Haben Sie heute nacht irgendein Geräusch einer Bootsannäherung gehört?“ Kapitän und Steuermann verneinten. „Ich will mal die Besatzung befragen“, sagte der Kapitän. „Und wenn sich unsere Freunde schon in Baltimore an Bord geschlichen hätten … ?“ warf Milton Drake ein. „Das ist natürlich auch nicht ausgeschlossen“, stimmte Grimm bei. „Haben Sie eine komplette Liste der Schiffsgäste, Shandon“, fragte er dann den Schiffseigner. „Natürlich“, antwortete dieser, „warum?“ „Weil die Kerle gewußt haben müssen, daß Frau Clarkson das Collier heute abend trägt. Offenbar haben sie damit gerechnet, daß sie im Laufe des Abends einmal an Deck kommen würde, und bereiteten sich entsprechend darauf vor. Waren sie schon länger an Bord, dann konnten sie leicht herauskriegen, daß sich Frau Clarkson nicht gerne längere Zeit in geschlossenen Räumen aufhält. Aber unter den Eingeladenen waren sie nicht. Außerdem sind sie jetzt nicht mehr an Bord. Wir müßten gleich mal die Namen aller aufrufen!“ „Richtig!“ meinte Shandon. „Der Kapitän soll sich die Besatzung vornehmen, ich übernehme die Gäste. Machen wir’s gleich!“ Das Ergebnis der Unternehmung war kläglich. Die Besatzung war vollzählig, und alle Gäste befanden sich an Bord des Schiffes. Niemand wollte sich erinnern können, irgendwelche Personen gesehen zu haben, die er nicht wenigstens von Angesicht kannte. Und Milton, der Einzige, der die drei Männer beim Losmachen des Bootes beobachtet hatte, war ihnen nicht 16
nahe genug gekommen, um ihre Masken oder sonstige Einzelheiten erkennen zu können. Kein Anzeichen ließ sich finden, das einen Schluß auf die Personen der Täter erlaubt hätte. Darum auch das Bedauern Grimms, als er später mit Mavis über den Vorfall sprach: „Ich muß leider zugeben, liebe Mavis, daß Ihre Frau Tante das schöne Kollier vorerst abschreiben muß. Ja, wenn ein Wunder geschähe … !“ *
* *
Drittes Kapitel SCHÜSSE IN DER NACHT Die Gaste Shandons konnten nicht gerade Frühaufsteher genannt werden. Als Milton Drake nämlich am nächsten Morgen gegen neun Uhr das Deck betrat, war weit und breit keine Menschenseele zu erblicken, außer Inspektor Grimm, der mißvergnügt über die Reling ins Wasser starrte. Milton bot ihm eine Zigarette aus seinem Etui, und begann das Gespräch mit unverbindlichen Redensarten: „Schauen Sie sich doch nur einmal diese blaugrauen Wolken an, Oliver! Diese Ruhe … diese Windstille … ‚ verdächtig, finden Sie nicht auch? Glauben Sie, daß es heute ein Gewitter gibt?“ Der Inspektor wählte umständlich zwischen den angebotenen Zigaretten, steckte sie nach vielem Lecken und Beschauen ebenso umständlich in den Mund und schaute den Frager mit einem schrägen Blick an: „Sie werden sicherlich nicht hergekommen sein, Milton, um mit mir Wetterkunde zu treiben. Dazu haben wir klügere Leute an Bord, meinen Sie nicht auch?“ 17
Milton lachte: „Warum sind Sie nur so empfindlich, verehrter Gönner? Irgendwie muß man die Zeit doch totschlagen, oder … ? Außerdem fühle ich mich seit kurzer Zeit in Ihrer Gesellschaft geradezu wohl, denn angesichts der letzten Ereignisse dürften Sie Ihre Theorien zur Identität des Mannes mit der Kapuze wohl einigermaßen berichtigt haben. Stimmt’s?“ Über die Streichholzflamme hinweg musterte Grimm seinen Freund nachdenklich. „Milton …“, sagte er langsam, warf das Hölzchen ins Wasser und blies genußvoll den Rauch in die Luft, „ein wirklich guter Detektiv vertraut niemals dem Augenschein, ohne ihn zuvor nach allen Seiten hin geprüft zu haben.“ „Was wollen Sie damit sagen?“ fragte der Multimillionär. „Hätten Sie nicht in dem Augenblick neben mir gestanden, als die Frau schrie, dann würde ich Sie unbedingt für den Halsbandräuber gehalten haben …“ „Tja …“ erwiderte Drake, „unglücklicherweise stand ich aber neben Ihnen. Und damit ist bewiesen, daß ich der Mann mit der Kapuze nicht sein kann.“ „Nicht so voreilig, mein Lieber; warum nur diese Hast?“ hielt ihm Grimm entgegen. „Wir haben ja gar nicht von dem ‚Mann mit der Kapuze’ gesprochen, sondern nur von dem Raub des Diamantenhalsbandes.“ „Das kommt doch auf dasselbe heraus!“ „Meinen Sie wirklich?“ Worauf Milton zurückfragte: „Zweifeln Sie etwa daran?“ „Ganz entschieden“, war die Antwort Grimms. „Aber die Zeugen stimmen doch alle überein .,“ „… stimmen darin überein“, unterbrach Grimm, „daß der Mann sich vor dem Raub eine Kapuze überzog. Gewiß! Und gerade das ist einer der Hauptgründe, weswegen ich zweifle.“ „Das verstehe ich nicht!“ 18
„Dann beantworten Sie mir einmal eine einfache Frage: warum – wenn der Räuber unser berühmter Kapuzenträger war – trug er dann seine Kapuze nicht von Anbeginn?“ „Leicht zu beantworten: weil er dann damit rechnen müßte, bereits Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ich habe die drei Männer ja ebenfalls gesehen; Besonderes ist mir nicht aufgefallen. Ein Kapuzenträger hätte mich sicherlich veranlaßt, Lärm zu schlagen!“ „Wollen wir mal annehmen, Ihre Erklärung sei richtig. Warum hat er sich dann überhaupt eine Kapuze übergezogen? Welche Notwendigkeit bestand dazu? Konnte er den Überfall nicht ebensogut nur mit seiner Halbmaske ausführen? Wozu erst die Wurstelei mit einer umständlichen Kapuze?“ „Diese Fragen, lieber Grimm, sollte man einem erfahrenen Detektiv eigentlich nicht zutrauen. Haben denn nicht alle Verbrecher ihre besonderen kleinen Eitelkeiten, ihren ‚persönlichen Stil’, auf den sie stolz sind, und den sie auch immer wieder zu erkennen geben, damit man von ihnen spricht. Das schmeichelt ihnen doch!“ „Da ist schon was dran“, gab Oliver widerwillig zu, „aber in unserem Falle stimmt es doch nicht so ganz. Die Frage der Kapuze ist auch nur eine der Einzelheiten, die mich nachdenklich machen. Wenn es nur um die Kapuze ginge, würde ich selbst auch an den ‚Mann mit der Kapuze’ als an den Attentäter glauben. Ich denke aber an noch so allerlei anderes …“ „Zum Beispiel?“ „An die Tatsache, daß er in Begleitung von zwei anderen Männern war, bis jetzt hat er immer alleine gearbeitet; allenfalls mit der Roten Schlange zusammen, dem öffentlichen Feind Nummer eins. Gewohnheiten legt man nicht so bald ab.“ Grimm schaute Milton scharf ins Gesicht und fragte dann mit einiger Absichtlichkeit: „Sie können mich natürlich gerne davon überzeugen und mir beweisen, daß eben der Kapuzenträger doch mit einer Bande zusammenarbeitet!“ Milton lachte frei heraus: 19
„Sie sind doch ein unverbesserlicher alter Dickschädel, Oliver. Wenn Sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt haben, dann kann es Ihnen kein Gott mehr ausreden. Eigentlich sollte ich mich jetzt ärgern – ich kann aber Ihre komischen Verdächtigungen beim besten Willen nicht mehr ernst nehmen. Und was den Beweis angeht, den brauche ich gar nicht erst zu erbringen, denn die Ereignisse der letzten Nacht beweisen klar genug, daß der ‚Mann mit der Kapuze’ auch die Hilfe anderer in Anspruch nimmt, wenn er sie braucht.“ „Der ‚Mann mit der Kapuze’“, rief der Inspektor, „was wollen Sie denn immer mit dem? Das Kollier hat ein anderer gestohlen, aber nicht er; ich glaube einfach nicht daran … ! Wir wollen doch die Personen hübsch auseinanderhalten!“ Milton zuckte die Schultern und sah seinen Begleiter mit überlegener Ironie an: „Daß Sie den ‚Mann mit der Kapuze’ auch noch verteidigen würden, habe ich mir nie träumen lassen!“ „Ich denke nicht daran, ihn zu verteidigen“, erwiderte Grimm. „Aber ich bin gerecht und mag nicht den einen einer Tat beschuldigen, die ein anderer begangen hat.“ Grimm schaute plötzlich nach der Kiellinie. „Was ist los?“ rief er; „ich glaube, wir wechseln Kurs!“ Es war in der Tat so. Der Bug des Schiffes hatte eine scharfe Kurve beschrieben, die niemandem entgangen sein konnte. „Guten Morgen, meine Herren!“ sagte da eine Stimme, und Shandon blieb bei ihnen stehen. Er bemerkte, daß Grimm das Schiffsmanöver beobachtete. Erklärend sagte er: „Wir holen jetzt die Barkasse zurück, die wir vorige Nacht verloren haben.“ „Hat man sie angehalten?“ fragte Grimm lebhaft. „Aufgefunden hat man sie, was nicht dasselbe ist“, antwortete der Schiffseigentümer. „Ungefähr hundert Meilen von hier. Gerade ist der Funkspruch durchgekommen.“ 20
„Und hat man die Besatzung des Bootes verhaftet?“ Shandon schüttelte den Kopf: „Es war verlassen!“ Mit einem mißgelaunten Seufzer wandte sich der Inspektor wieder dem Wasser zu und knurrte: „Es war beinahe zu erwarten. Ein anderes Schiff hat die drei Männer aufgenommen.“ „So sieht es aus“, stimmte Shandon bei; „aber trotzdem ist etwas Eigentümliches zu berichten, denn das Ruder der Barkasse war mit einem Seil festgezurrt.“ „Sieh’ mal einer an“, meinte Grimm, „das beweist erst einmal, daß man das Boot bald nach dem Abstoßen von unserem Schiff verlassen hat. Die Ruderstange hat man angebunden, damit es geradeaus fährt, solange noch Benzin im Tank ist. Ist ja klar: die Verbrecher fürchteten ihre Verfolger; in der Dunkelheit konnte man das Boot nicht sehen, wohl aber hören. So würden sich die Verfolger vom Motorgeräusch leiten lassen. Bis sie merkten, an der Nase herumgeführt zu sein, waren unsere lieben Freunde schon längst über alle Berge, wollte sagen, über alle Wasser.“ „So wird es sein“, meinte Shannon. „Und was tun wir jetzt?“ „Wir geben erst einmal einen Funkspruch an die Polizei auf mit einem ausführlichen Bericht und einer genauen Beschreibung des Diamantenkolliers. Viel werden wir damit zwar nicht gewinnen, denn die Drei werden das Halsband auch nicht gleich verkaufen; und wenn, dann verscherbeln sie es an einen Hehler, der es nicht so bald auftauchen läßt. Was anderes können wir aber im Augenblick nicht unternehmen! Und jetzt geh’ ich frühstücken! Kommen Sie mit, Drake?“ Shandon ging zur Funkbude, die beiden Freunde zum Speisesaal. Kaum hatten sie sich hingesetzt, als auch die ersten Langschläfer auf der Bildfläche erschienen, unter ihnen Mavis Donovan, die ungekrönte Schönheitskönigin der ‚Caribbian Queen’. 21
Milton fragte sie nach dem Wohlergehen ihrer Tante und Pflegemutter. „Ich glaube, sie hat besser geschlafen, als mein Onkel“, meinte das Mädchen. „Sie werden übrigens beide bald erscheinen.“ „Der Verlust ist ja auch keine Kleinigkeit“, meinte Grimm. „Sie hatte das Kollier hoch versichert“, sagte Mavis, darauf. „Im Vertrauen, es war viel höher versichert als sein wirklicher Wert. Der Verlust ist also kein sehr schmerzlicher.“ Der Rest des Tages verlief ohne weitere Ereignisse. Am frühen Nachmittag nahm man die Barkasse an Bord, die man fast genau an der im Funkspruch nach Länge und Breite angegebenen Stelle angefunden hatte. Der andere Dampfer hatte inzwischen seinen Weg fortgesetzt. Als man das Boot an Bord hievte, verbrachte Grimm eine lange Zeit damit, es nach irgendwelchen Anhaltspunkten zu durchsuchen. Die Stunde des Abendessens kam heran, und wie gewöhnlich, wurde anschließend getanzt. Milton hatte keine Lust, sich bei der schrecklichen Hitze in den rauchigen Salon zu zwängen und nahm daher an der Unterhaltung nicht teil. Er blieb an Deck und betrachtete die geheimnisvoll phosphoreszierenden Wellenkämme, die längs des Schiffskörpers enteilten. Er beschäftigte seine Gedanken mit den Ereignissen des letzten Tages und mit den verschiedenen Theorien Grimms, die ihn nicht zu befriedigen vermochten. Er konnte auch nicht mehr daran glauben, daß die Täter schon in Baltimore aufs Schiff gekommen waren, denn alles wies darauf hin, daß sie erst unterwegs zugestiegen waren. Wie aber die anderen Widersprüche lösen? Als er gerade bei diesem widerspenstigen Knotenpunkt seines Gedankenknäuels angelangt war, ließ ihn ein entferntes „bumm“ auffahren. Alle seine Sinne spannten sich. Noch einmal tönte es „buuummm!“ Der Laut war ziemlich gedämpft; trotzdem konnte er ihn sogleich als das erkennen, was er war. Ein Schuß war gefallen und sogleich ein zweiter! 22
Eine schreckliche Vorahnung ergriff ihn, die er mit Worten nur schwer hätte erklären können. Den Laut hören, die Pistole ziehen und sich im Laufschritt in Richtung auf die Kabinen auf den Weg machen, war für ihn eins! *
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Viertes Kapitel DIE ROTE SCHLANGE TRITT AUF Nach wenigen Metern sah Milton bereits, daß er nicht als einziger die Detonationen vernommen hatte. Eine Person, die dem Orte näher gewesen sein mußte, drang nämlich vor ihm in den Korridor ein und wies ihm so den Weg. Im schwachen Licht der einzigen Birne glaubte er seinen Freund Oliver zu erkennen. Seine Vermutung sollte sich gleich bestätigen. Die dritte Tür stand offen; das aus der Kabine nach außen fallende Licht warf den Schatten eines Mannes auf den Boden des Korridors. Schon wollte er sich in die Kabine stürzen, für den Fall, daß der Inspektor seiner Hilfe bedürfte, als ihn dessen triumphierender Ausruf einhalten ließ: „Endlich!“ klang es, „endlich haben wir das rote Schlänglein gefangen!! Keine Bewegung weiter! Durch das Bullauge können Sie nicht raus, und über mich wegspringen, hat auch keinen Zweck!“ Die ‚Rote Schlange’ war an Bord! Und gefangen! Für ein paar Augenblicke war der Multimillionär ratlos. Bald aber raffte er sich zusammen. Die Rote Schlange brauchte seine Hilfe! Und schnell mußte es gehen, wenn es nicht zu spät sein sollte. Sicherlich würde Grimm ihr als erstes die Maske abreißen. Wenn ihm das gelang, dann war die Frau auf die Dauer verloren, selbst wenn ihr jetzt die Flucht auch noch gelingen 23
sollte. Aus seiner Geheimtasche zog er eine Kapuze aus schwarzer Seide und zog sie über den Kopf. Langsam, ohne jedes Geräusch, näherte er sich der Tür. Eine junge blonde Frau, im scharlachroten Kleid, mit einer Gesichtsmaske von gleicher Farbe, stand vor dem Bullauge. In der Rechten hielt sie eine Pistole, aber der Arm hing an ihrer Seite herab. Ihr gegenüber, mit dem Rücken zur Tür, stand Oliver Grimm und hielt seine Dienstpistole auf sie gerichtet. Zwischen den beiden, in einer Blutlache, lag auf dem Boden die Gestalt eines halbbekleideten Mannes. Milton übersah die Einzelheiten des Bildes wie mit der Linse einer Fotokamera. Mit der gleichen Deutlichkeit, als ob sein Gehirn eine fotographische Platte sei, gruben sich die Dinge in sein Gedächtnis ein. Alles ging viel schneller, als es sich beschreiben läßt. Grimm tat einen Schritt vorwärts, als ob er über den Körper des Mannes hinweg auf die rätselhafte Frau in Rot zuschreiten wolle. Die Rote Schlange beobachtete ihn aufmerksam, um die leiseste Unvorsichtigkeit zu ihrem Vorteil auszunutzen. Man sah ihr an, dass alle ihre Nerven in unerträglicher Spannung waren, und daß die kleine Hand, die den Revolver umspannte, nur den Bruchteil einer Sekunde benötigen würde, sich zu heben und den Hahn abzuziehen. Den Mann mit der Kapuze mußte sie sehen – sie ließ sich aber nichts anmerken. Nun aber war für den Multimillionär der Augenblick gekommen. Grimm fühlte plötzlich, wie ein harter Gegenstand zwischen seine Schulterblätter gedrückt wurde, und wie ihm eine tiefe, unbekannte Stimme befahl: „Machen Sie keinerlei Bewegung, Inspektor!“ Der Polizist blieb unbeweglich stehen. Der drohende Ton der unheimlichen Stimme ließ keinen Zweifel aufkommen, daß man dem Befehl am besten nachzukommen hatte, wenn einem das Leben lieb war. 24
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„Hand öffnen! Revolver fallen lassen“, hieß es weiter. Er gehorchte. „Gehen Sie in die rechte Ecke!“ Grimm setzte sich in Bewegung. Um sein Ziel zu erreichen, hatte er einen Winkel auszugehen. Er nahm den Augenblick der Wendung wahr, sich umzuschauen, um herauszubekommen, wer ihn da überrascht hatte. „Der Mann mit der Kapuze!“ rief er aus. „Jawohl, mein Lieber“, bestätigte der andere, „wieder einmal der Mann mit der Kapuze! Und Sie haben gleich ein Loch im Kopf, wenn Sie sich nochmal umdrehen!“ Der Inspektor nahm sich nicht die Mühe, hierauf zu antworten, denn er wußte, wie wenig damit zu gewinnen war. Der Mann mit der Kapuze sprach abermals: „Schlange! Der Weg ist frei! Mach schnell!“ Die Aufforderung war unnötig. Das Mädchen hatte sich bereits in Bewegung gesetzt, sorgfältig vermeidend, in die Schußlinie Miltons zu kommen. An der Tür blieb sie stehen und nahm den Schlüssel aus dem Schloß. Ihre Absicht war leicht zu erraten. „Nochmals, Inspektor“, sagte Milton hinter seiner Kapuze, „keine unnützen Bewegungen machen! Wir lassen Sie jetzt für eine Weile alleine. Gestört werden Sie nicht. Untersuchen Sie den Fall gründlich. Recht gute Nacht!“ Nach diesen herzlichen Worten verließ der Multimillionär mit einer raschen Bewegung den Raum und schloß die Tür. Die Rote Schlange hatte den Schlüssel bereits außen eingesteckt. Milton schloß ab, steckte Pistole und Kapuze ein. Die Frau in Rot hatte aber nicht auf ihn gewartet; sie war bereits am anderen Ende des Korridors. Das war nicht nach Miltons Geschmack. Sie sollte ihm nicht wiederum auf so leichte Art entschlüpfen. Schließlich hatte er sie soeben aus einer großen Gefahr errettet, und das sollte ihn doch berechtigen, endlich zu erfahren, wer sich hinter jener ro26
ten Larve eigentlich verbarg. Daß er sterblich in die gutgewachsene Fremde im roten Kleid verliebt war, wagte er sich seit langem nicht mehr zu verheimlichen – unablässig sah er den geschmeidigen Körper, das weizenblonde glänzende Haar der Unbekannten vor sich, den aufreizend roten Mund unter der Halbmaske. Er begann, hinter der Geheimnisvollen herzurennen. Ihr Ziel war leicht zu erraten, denn sie eilte einem Teil des Schiffes zu, der vielerlei Deckaufbauten aufwies, wie Ventilatoren, Ladeluken, Hebebäume, Kabeltrommeln und ähnliches ; dazwischen könnte sie sich am ehesten der Verfolgung entziehen und sich unsichtbar machen. Mehrere Korridore waren noch zu durcheilen; sie hatte aber schon einen zu großen Vorsprung. Milton konnte sie nicht mehr einholen. Gerade sah er den Saum ihres roten Gewandes aus einem der Ausgänge verschwinden. Er verlor sie kurz darauf einen Augenblick lang aus dem Gesicht und stand unentschlossen, ob er sich nach rechts oder links wenden solle. Eine leichte Bewegung in Richtung der Treppe zur Brücke setzte ihn neuerlich in Marsch. Er lief hin, da verschwand die Frau im letzten der Korridore. Als er hinkam, war der Gang leer. Er versuchte die Klinken der beiden einzigen Türen, die es dort gab. Sie waren abgeschlossen. Er horchte, konnte aber im Innern der Kabinen kein Geräusch vernehmen. Am andern Ende des Ganges gelangte er wieder an Deck. Keine Menschenseele war zu sehen. Zur Rechten war die Tür zum Salon – einziges Schlupfloch an dieser Stelle des Schiffes. Er warf einen Blick hinein. Drinnen hatte offenbar niemand etwas Außergewöhnliches bemerkt, denn die Paare tanzten ruhig zu den Klängen der Musik. Keine der anwesenden Frauen trug ein rotes Kleidungsstück von jener auffälligen Scharlachfarbe, welche die schöne Unbekannte bevorzugte. Mavis Donovan erblickte Milton, der mit ratlosem Ge27
sicht an der Tür stehengeblieben war. Tanzend dirigierte sie ihren Partner zu ihm hin. Sie fragte: „Suchst du wen, Milton?“ „Ja. Eine Frau suche ich, mit einem ganz und gar scharlachroten Kleid. Sie muß eben gerade hier hereingekommen sein!“ antwortete der Multimillionär. Das Mädchen machte große Augen. Auf dem Grunde der strahlenden blaugrauen Pupillen konnte man spöttische Lichter tanzen sehen, als sie versetzte: „Junge, Junge, mußt du blau sein! Eine Frau in Scharlachrot! Sowas von schlechtem Geschmack sollte bestraft werden! Was hast du denn getrunken?“ „Ich spreche völlig im Ernst, Mavis, ich bitte dich! Gib mir doch eine vernünftige Antwort.“ „Also, ich verkehre nicht mit scharlachroten Frauen, daß du’s weißt. Und ich habe auch keine gesehen, so lange ich auf der ‚Carribian Queen’ bin! Genügt dir das?“ Der Partner des Mädchens schüttelte den Kopf: „Ich auch nicht“, sagte er. „Ist dir irgendwas passiert, Milton?“ fragte Mavis noch. „Was soll denn das nur für eine Frau sein? Hat sie dir war getan, die böse Hexe? Pfui, das schlechte Weib!“ „Laß nur, Mavis, wenn du schon nicht ernst sein kannst. Danke dir schön … bis später!“ Mit diesen nichtssagenden Worten ließ er die beiden verwirrt zurück, und ging wieder an Deck. Es war nun aber schon zu spät, noch herauszubekommen, wohin die Rote Schlange verschwunden sein könnte. Daß sie in ihrem Aufzug nicht den Salon betreten würde, hätte er sich eigentlich vorher sagen können; sie war doch eine Frau! Wahrscheinlich hatte sie sich stattdessen in einen der vielen Winkel zwischen den Deckaufbauten gedrückt, und ihn ruhig vorbeilaufen lassen. Während er im Salon kostbare Zeit verlor, war sie längst verschwunden. 28
Aber nun mußte er erst einmal den armen Grimm aus seiner Gefangenschaft erlösen. Das dort Geschehene war ernst genug. Wenn aber auch die Rote Schlange jene beiden Schüsse abgegeben hatte, dann war es sicherlich nicht ohne ausreichenden Grund geschehen; dessen war sich Milton Drake aus der Überfülle seines verliebten Herzens bewußt. Ein vorsätzliches Verbrechen? Nein, das konnte seine rote Freundin nicht getan haben! Nochmals rüttelte er an den Türen des benachbarten Ganges. Sie waren nach wie vor abgeschlossen. Nichts zu machen. Also suchte er jetzt die Kabine auf, in welche er den Inspektor eingesperrt hatte. Schon von weitem hörte er die dumpfen Schläge gegen die Türfüllung, mit denen der arme Grimm die Aufmerksamkeit Vorübergehender auf sich zu ziehen versuchte. Sonderbar eigentlich, daß niemand ihn bisher gehört hatte. „Ist dort jemand drinnen?“ rief er, „Wollen Sie etwas?“ Ein wutverzerrtes Geheul war die Antwort: „Ob hier jemand drinnen ist?!! Machen Sie auf! Aufmachen! Der Schlüssel steckt!“ Milton drehte umständlich den Schlüssel herum, und bereitete sich kunstvoll auf die Rolle vor, die er jetzt zu spielen hatte: „Grimm!!“ rief er in den höchsten Tönen des Erstaunens, „man soll’s nicht für möglich halten! Wie konnte Ihnen das nur passieren?“ „Und das fragen Sie mich auch noch?“ antwortete der in höchster Wut. „Aber, Oliver, was habe ich Ihnen denn getan?“ Der Inspektor war einem Schlaganfall nahe und beherrschte sich nur mit Mühe. „Gerade hatte ich die Rote Schlange fest in der Hand …“ sagte er, „und ich will ihr gerade die Maske abreißen …“ „Die Rote Schlange?“ unterbrach ihn Milton Drake, „die wirkliche ‚Rote Schlange’? Das glaube ich nicht! Das ist unmöglich!“ 29
Grimm strafte ihn mit einem Blick abgrundtiefer Verachtung. „Gerade will ich ihr die Maske abreißen“, wiederholte er schweratmend vor Erregung, „da kommen Sie mir dazwischen!“ „Iiiich?“ flötete der Multimillionär. „Jawohl, Sie!“ fauchte der Inspektor. „Glauben Sie denn im Ernst, ich hätte Sie nicht wiedererkannt, nur weil Sie sich den armseligen Fetzen von einer Kapuze vor die Visage hängen?“ Milton brach in Lachen aus. „Natürlich! Der Mann mit der Kapuze“, rief er; „unser berühmter Kapuzenmann! Ihre fixe Idee und Ihr Spleen! Wie können Sie denn jetzt noch an dieses Märchen glauben, wo doch der Mann gestern in der Barkasse geflohen ist? Es ist doch ein heller Unsinn, zu meinen, daß ich dieser Mann sein solle!“ „Der Mann ist zwar gestern geflohen, ganz recht; mit Kapuze und allem Drum und Dran“, sagte der Inspektor. „Der angebliche Kapuzenmann ist geflohen … und vor zehn Minuten hat mir sein Geist oder ein anderer Kapuzenträger eine Pistole in den Rücken gebohrt. Wie erklären Sie sich das, Drake?“ Milton lachte abermals. „Vorläufig Überhaupt nicht. Jedenfalls muß hier herum ein größerer Ausverkauf in Kapuzen stattgefunden haben, denn sie sind Mode geworden! Soll mich gar nicht wundern, Oliver, wenn die Besatzung Mann für Mann Kapuzen in den Taschen hat.“ „Mich auch nicht“, stimmte der Polizist bei, „die Besatzung und vielleicht auch einige der Passagiere …“ Wiederum quittierte der Multimillionär mit amüsiertem Lachen, worauf ihn der Inspektor anknurrte: „Dieses widerlich wohlgelaunte Lachen, mein Lieber, überzeugt mich noch lange nicht. Es wird Ihnen überhaupt bald genug vergehen! Schauen Sie mal hier rein!“ 30
Mit diesen Worten trat er zur Seite und gab Milton den Blick in die Kabine frei; genau beobachtete er die Gesichtszüge seines Freundes, als dieser sich vorbeugte, um auf ihnen den Widerschein der Schuld zu entdecken. „Leading!“ rief Milton, und er spielte das Entsetzen so wahrhaftig, daß Grimm wiederum in Zweifel geriet, ob er es hier wirklich mit dem gleichen Manne zu tun habe, der ihn vorhin bedroht hatte. Deswegen ließ er jedoch noch nicht von seiner Theorie ab. Wenn der gestrige Täter die Kapuze übergezogen hätte, um damit dem echten ‚Mann mit der Kapuze’ zu gleichen, und auf diese Art dessen ‚Berufsrenommée’ zu benutzen? Alles war möglich! „Ist der Mann tot?“ fragte Drake. Der Inspektor nickte: „Herzschuß!“ „Wer war’s?“ „Die Rote Schlange!“ „Ausgeschlossen?“ „Wieso ausgeschlossen?“ „Weil wir nichts von ihr wissen, um sie einer solchen kaltblütigen Schlächterei fähig zu halten.“ „Sie war’s aber; ich habe sie doch überrascht, als sie noch mit der Pistole neben der Leiche stand. Warum Sie diese Frau nur immer verteidigen wollen!“ „Sie haben sie also bei der Tat überrascht?“ „Das nicht.“ „Also können Sie auch nicht behaupten, daß sie es war, die geschossen hat“, stellte Milton mit Nachdruck fest. „Aber wer, beim Beelzebub, solls denn sonst gewesen sein? Ich war doch gleich hier, als die Schüsse fielen!“ „Die Schüsse … !“ Milton schaute, wie von einem plötzlich auftauchenden Gedanken gezwungen, nach der Leiche hin, die aus der Brustwunde stark geblutet hatte; andere Verletzungen waren keine zu sehen. 31
Grimm hob den Kopf, kniff die Augen wägend zusammen, und warf seinem Freunde einen sonderbaren Blick zu: „Sie haben recht“, sagte er, „die Schüsse … ! Ein blindes Huhn findet manchmal auch ein Korn, Milton. Diese verfluchte Schweinerei, daß man mich einsperrte, hat mich zu sehr aufgeregt. Ich habe das Detail tatsächlich übersehen. Machen Sie doch bitte mal die Tür zu, damit wir nicht gestört werden. Ich will mir alles einmal in Ruhe ansehen.“ Er beugte sich über den Toten. Die Weste Leadings war aufgeknöpft, das Hemd zerrissen. Grimm, nach einer Weile des Überlegens, riß es vollends auf, legte dessen blutdurchtränkten Teil zur Seite, schlitzte mit einem Ruck auch das Unterhemd auf, so daß nun die Brust des Mannes freilag. Der Anblick war wenig schön. In der Gegend der linken Brustwarze war das Fleisch weithin zerfetzt. Grimm lächelte sein berühmtes Lächeln, in dem von Humor keine Spur zu entdecken war: „Ein Explosivgeschoß“, sagte er nur. Darauf Milton: „Der Steuermann ist gestern abend auch mit Explosivgeschossen bedroht worden; erinnern Sie sich?“ Grimm nickte. „Nur eine einzige Wunde ist zu sehen“, meinte er dann. Er bedeckte den Toten und begann, die Taschen der Kleidungsstücke zu durchsuchen. Er fand eine Brieftasche, ein Päckchen Zigaretten und ein Taschentuch. Die Hosentaschen waren leer. „Sie haben zwei vergessen“, machte ihn Milton aufmerksam. „Die Innentasche der Weste und die Gesäßtasche.“ Grimm fuhr mit der Hand in die Weste, und zog sie überrascht wieder zurück. Mit sonderbarer Betonung fragte er Milton: „Sie haben diese Überraschung wohl beabsichtigt, wie?“ Und an einem Zipfel zog er vollends heraus, was er gefaßt hielt. Es war eine Kapuze aus schwarzer Seide! Milton stieß einen leisen Pfiff aus. 32
„Sieh’ an, eine Kapuze!“ rief er. „War es vielleicht Ihre Absicht, daß ich in dieser Tasche eine Kapuze finden soll?“ fragte der Inspektor mit besonderem Tonfall. „Komische Frage“, erwiderte Milton. „.Woher soll ich denn das wissen? Ich habe nur bemerkt, wie Sie die beiden Taschen übergingen. Mit dem gleichen Recht könnte ich Sie fragen, ob Sie die beiden Taschen absichtlich übergangen haben.“ „Helfen Sie mir mal, den Toten herumdrehen“, sagte Grimm statt einer anderen Antwort, „wenn Sie schon so … so überraschende Bemerkungen machen!“ Milton lachte nur über die Ratlosigkeit seines Freundes und half ihm. In der Gesäßtasche fand sich nichts. Beim Umdrehen des Körpers ergab sich aber eine andere wichtige Entdeckung, denn der Tote lag auf einem jener Hohlgürtel, die man am bloßen Leibe trägt, um in ihnen Dokumente, Geld oder Juwelen zu verstecken. Der Gürtel war leer. Vorsichtig erfaßte ihn Grimm mit seinem Taschentuch und wickelte ihn ein. „Zwei Schüsse sind gefallen“, sagte er dann. „Der eine traf Leading. Fragt sich nur, wo der zweite hingegangen ist!“ Er untersuchte abermals den Toten, und schloß dann: „Nach der Lage des Körpers zu urteilen, muß der Mann mit dem Gesicht zur Tür gestanden haben, als der Schuß auf ihn abgegeben wurde. Das ist auch logisch. Denn die Rote Schlange muß ihn erschossen haben, gleich als sie zur Tür hereinkam. Logisch ., und doch falsch. Grundfalsch, jawohl.“ „Falsch?“ „Klar; den Gürtel hat man ihm doch abgenommen, als er noch stand.“ „Sind Sie sicher?“ „Es wäre ein bißchen unwahrscheinlich, daß man einen Toten hochhebt, nur um ihm einen Gürtel unterzulegen, meinen Sie nicht auch?“ 33
„Sie sind doch ein kluges Kind, Grimm! Und weiter?“ „Wenn Sie einem anderen einen Gürtel abnehmen, und dann leermachen, wohin werfen Sie ihn nachher?“ „In irgend einen Winkel vermutlich.“ „Aber doch nicht hinter Ihr Opfer, nicht wahr?“ „Kaum, wenn ich es mir nicht vorher so ausgedacht hatte. Nein, ich hätte ihn wahrscheinlich irgendwo vorne fallen lassen.“ „Na eben, das glaube ich auch. Und vorausbedacht war das nicht, denn ich könnte mir keinen vernünftigen Grund dafür vorstellen. Also müssen wir annehmen, daß der Gürtel nach vorne oder seitlich fallen gelassen wurde.“ „Und was wollen Sie damit beweisen?“ „Jedenfalls soviel, daß Leading trotz seiner schweren Wunde nicht augenblicklich tot war, denn er muß noch Zeit gehabt haben, sich umzudrehen. Und er hat sich auch nochmals umgedreht. Dann fiel er auf den Gürtel.“ „Hört sich ziemlich gut an, was sie da sagen, Oliver.“ „Damit entsteht aber ein anderes Problem. Nehmen wir einmal an, daß Leading mit dem Rücken zur Tür stand, als auf ihn geschossen wurde – wie kann dann der Täter nach der anderen Kabinenseite gelangt sein, ohne von Leading, der ihm ja im Wege stand, ebenfalls ergriffen zu werden?“ „Dafür gibt es verschiedene Erklärungen“, meinte Milton, „aber die eins genügt schon, daß Leading den Täter eben genau kannte und ihn ohne Mißtrauen in die Kabine ließ. Die Erklärung genügt aus zwei Gründen: erstens weil sie die nächstliegende ist, und zweitens, weil sich alle an Bord befindlichen Personen ja ohnedies kannten, und wenn es auch nur dem Namen nach war.“ „Gut spricht der junge Mann“, stimmte der Detektiv zu. „Und damit haben Sie“, schloß der Multimillionär strahlend vor Befriedigung seine Rede, „zugegeben, daß die Rote Schlan34
ge das Verbrechen nickt begangen haben kann, das Sie ihr nachsagen!!“ Der Inspektor lachte trocken. „Meinen Glückwunsch, Drake. Da haben Sie mich ganz schön in die Falle gehen lassen. Aber Sie haben recht; wenn es sich um eine bekannte Person handelte, dann kann es die Frau in Rot nicht gewesen sein; wenigstens …“ und er vervollständigte zögernd seinen Gedankengang, „… wenn Leading nicht bereits vorher mit ihr in Verbindung gestanden hat und sie daher kannte.“ „Halt, halt, halt“, rief da Milton, „trennen Sie sich doch endlich einmal von Ihrer fixen Idee. Haben Sie denn noch nicht bemerkt, schätzenswerter Meister, daß diese Ausnahme keineswegs schmeichelhaft für Leading wäre?“ „Na, wissen Sie, Milton, das beunruhigt mich wenig“, meinte Grimm zweiflerisch, „denn nach all den Entdeckungen von heute nachmittag wüßte ich nicht mehr recht, warum man dem Ruf Leadings schmeicheln müßte.“ „Haben Sie da etwas Bestimmtes im Auge?“ „Ja; ist aber jetzt noch nicht so wichtig. Erst müssen wir einmal die Kugeln finden, vor allem die zweite. Wenn Leading beim Fallen eine ganze Kehrtwendung machte, dann müßte die Kugel ungefähr bei der Tür eingeschlagen sein. Hat er nur eine halbe gemacht, dann sollte sie dort im Winkel zu finden sein. Wollen Sie da gleich mal nachsehen, Milton?“ Trotz allen Suchens, konnten sie jedoch die zweite Kugel nicht finden. „Ich begreife das nicht“, meinte Grimm ratlos. „Ein Explosivgeschoß reißt doch beim Aufprall ein ziemliches Loch!“ „Tja“, sagte der Multimillionär, „ich versteh’s auch nicht. Aber wollen wir doch auch einmal die anderen Wände absuchen!“ Gesagt, getan. Und sie hatten auch noch nicht lange begonnen, als Milton rief: „Ich hab’ sie, Oliver!“ 35
Grimm kam herbei und Milton zeigte ihm. nahe am Boden, ein kleines Loch. Mit einem Taschenmesser gruben sie die Kugel aus, die Grimm auf ein Stück Papier rollen ließ, ohne sie mit den Fingern zu berühren. „Schau’n Sie mal, Drake! Das ist gar keine Explosivkugel“, sagte Grimm, nachdem er sie von allen Seiten untersucht hatte. „Mit Ihrem Fund haben wir, glaube ich, den geheimnisvollsten Teil des Verbrechens schon so ziemlich aufgeklärt!“ „Das müssen Sie mir näher erklären“, bat Milton Drake. „Das geht über meinen bescheidenen Horizont.“ „Jetzt nicht, später, mein Lieber. Jetzt habe ich keine Zeit für lange Geschichten. Soviel ist mir auf jeden Fall klar: wenn wir nicht schnellstens die Identität verschiedener Schiffsinsassen – aufklären, dann haben wir bald noch ein paar Tote mehr an Bord. Und jetzt, Milton, tun Sie mir bitte den Gefallen, den Kapitän herbeizurufen. Der Arzt soll gleich mitkommen. Sagen Sie ihm es sei eilig. Ich warte hier. Und … daß niemand was merkt!“ „Natürlich nicht“, sagte Milton, und er wollte schon gehen, als ihn der Inspektor nochmals zurückhielt: „Einen Augenblick, bitte! Sie müssen mir noch einen anderen Gefallen tun.“ „Gerne, was soll’s sein?“ „Vor allen Dingen sagen Sie niemand, was hier los ist. Und dann, nachdem Sie den Kapitän gesprochen haben … aber nein, da sind Sie vielleicht doch nicht der richtige Mann dafür .“ „Wofür denn?“ „Ich wollte Sie gerade bitten, mit aller Vorsicht herauszubringen, ob niemand die Rote Schlange heute nacht gesehen hat. Aber da Sie nun mal diesen verdammten Narren an dem Weibsbild gefressen haben, laufe ich Gefahr, daß Sie alles, was Sie hierüber erfahren, mir umso eher verschweigen. Die Frau muß Sie völlig behext haben, mein Lieber; kaum würden Sie sie 36
sonst derart in Schutz nehmen, wie Sie das bei jeder Gelegenheit tun.“ „Ich glaube“, sagte Milton darauf langsam, „daß es außer Ihnen nur noch eine Person gibt auf dem Schiff, welche die Rote Schlange gesehen hat.“ „Und wen meinen Sie damit?“ „Mich selbst“, sagte Milton einfach. Als ob in seinem Vorgarten eine Bombe eingeschlagen hätte, sprang Grimm auf und schrie: „Was??? Sie haben die Frau gesehen, Mann, – und spielen mir dieses scheinheilige Theater vor? Und warum sagten Sie dann, Sie glaubten nicht, daß die Rote Schlange auf dem Schiff sei? Können Sie mir das vielleicht beantworten?“ „Ich habe es eben einfach nicht fassen können!“ Grimm bezwang seine Wut mit Mühe, bevor er fortfuhr zu schimpfen: „Sie sehen das Weib mit Ihren eigenen Augen, und dann erklären Sie mir eiskalt, Sie hätten es nicht fassen können? Sind Sie denn bei Trost, Milton?“ „Wozu die Aufregung, Grimm? Detektive von Ihrer Bedeutung sollten sich überhaupt nicht aufregen; das wissen Sie doch!“ Das war zuviel. Grimm brachte in seiner Wut nur noch ein unzusammenhängendes Gestammel über die Lippen, währenddessen Milton fortfuhr: „Hören Sie mal vernünftig zu, Oliver! Erstens konnte ich ja wirklich nicht vermuten, daß die Rote Schlange wirklich auf dem Schiffe ist, auch trotz Ihrer hartnäckigen Behauptung, daß der Mann mit der Kapuze und die Frau in Rot immer an der gleichen Stelle aufzutauchen pflegen …“ „Zweitens aber habe ich das Mädchen von vorne nicht zu sehen bekommen, und somit bin ich bis jetzt noch nicht völlig sicher, ob es auch die Rote Schlange war, die ich da gesehen habe. Ein rotes Kleid allein ist schließlich noch kein Beweis.“ „Wo war denn das?“ wollte der Inspektor wissen. 37
„Backbords. Ich stand gerade an der Reling und schaute auf das Wasser hinaus, als ich hinter mir ein Geräusch höre. Ich drehe mich herum. Im Schatten bewegt sich etwas. Wie ich darauf zugehe, verschwindet ein Etwas hinter einem der Ventilatoren, die da stehen. Kurz darauf wieder eine Bewegung im Halbdunkel – dann geht jemand in der Nähe einer Lampe vorbei nach hinten. Es war eine Frau in einem roten Kleid. Aus der Nähe habe ich sie nicht zu sehen bekommen.“ „Und was haben Sie dann getan?“ „Ich ging ihr nach. Sie war aber schon zu weit weg. Sie betrat einen der Korridore. Bis ich hinkam, war niemand mehr drinnen. Auf der Steuerbordseite konnte ich auch nichts entdecken.“ „Sie wissen auch genau, daß die Frau nicht etwa in eine der Kabinen verschwunden ist?“ „Es gibt dort nur zwei: die eine gehört Shandon, die andere ist von Clarksons belegt. Beide waren abgeschlossen, und drinnen war kein Geräusch zu hören. Schließlich habe ich noch in den Salon geschaut. Ich fragte Mavis, ob sie nicht die rotgekleidete Frau gesehen hätte. Sie hat mich für betrunken gehalten.“ „Haben Sie sich davon überzeugt, daß sich die Frau nicht irgendwo im Schatten versteckt hielt?“ „Selbstverständlich – aber ohne Erfolg.“ „Vielleicht wäre es gescheiter gewesen, erst das Deck abzusuchen, und dann in den Salon zu gehen.“ „Das habe ich mir nachher auch gesagt, da hatte ich den Fehler aber schon begangen. Wir könnten aber jetzt noch einmal gründlich nachsehen!“ Aber Grimm sagte mißmutig: „Hat ja doch keinen Zweck mehr. Gehen Sie jetzt lieber zum Kapitän. Shandon sollten Sie auch gleich aufsuchen. Wir müssen die Sache unbedingt klar kriegen, der Teufel soll’s holen!“
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Fünftes Kapitel DRAMA AUF HOHER SEE Der Arzt erhob sich vom Boden, klopfte sich den Staub vom Hosenbein und schaute Grimm an: „Das Geschoß ist auf das Brustbein aufgeschlagen; es wurde abgelenkt und explodierte im Brustkorb. Der Tod muß auf der Stelle eingetreten sein.“ Der Inspektor bestätigte die Untersuchung des Mediziners: „Das war auch mein Eindruck. Glauben Sie denn, daß man die Kugel herausholen kann?“ „Die Kugelsplitter, wollen Sie wohl sagen? Man kann sie schon herausschneiden; es ist aber keine schöne Arbeit. Die Stücke werden im Herzen zu finden sein, in der Lunge, in der Halsschlagader und an tausend anderen Stellen des Körpers. Ich nehme an, daß Sie eine ballistische Untersuchung anstellen wollen. Ich zweifle aber, ob Ihnen die vielen Splitterchen viel sagen können. Soll ich sie herausschneiden?“ Grimm zögerte ein wenig mit der Antwort. Dann sagte er: „Nein … lieber nicht. Ich bin entgegen Ihrer Ansicht zwar der Meinung, daß sich aus ihnen doch noch allerlei entnehmen ließe; die Umstände lassen es aber ratsam erscheinen, den Versuch zu unterlassen. Bestatten wir den Toten lieber so schnell wie möglich.“ „Ich rate dazu“, wandte er sich an den Kapitän, „das Geschehene so geheim wie möglich zu halten, damit unter den übrigen Fahrgästen keine Panik entsteht. Das wird auch unsere weitere Suche nach dem Täter nur erleichtern können.“ „Einverstanden“, meinte der Kapitän. „Für jetzt mache ich 39
einen Bericht ins Schiffstagebuch. Mit den Behörden gibt’s an Land ohnehin genug zu tun. Wann werden Sie übrigens die Leiche zur Bestattung freigeben?“ „Ich bin fertig“, sagte Grimm; „das letzte Wort hat der Arzt.“ „Wenn Inspektor Grimm auf die Extraktion der Kugelsplitter verzichtet, dann hätte ich nur noch den Totenschein auszustellen. Das ist schnell gemacht.“ „Dann gestatten Sie, daß ich mich jetzt um die Bestattung kümmere. Ich hole zwei vertrauenswürdige Leute herbei und schärfe ihnen ein, daß sie vor allem den Mund zu halten haben.“ Als nach diesen Worten der Kapitän gegangen war, wandte sich Grimm an den Arzt: „Wie ist eigentlich Ihr Schiffsrevier eingerichtet, Doktor?“ „Ganz gut“, sagte der. „Besser, als man sonst auf Schiffen dieser Art die Krankenstation ausrüstet.“ „Können Sie mir sofort eine qualitative Analyse machen?“ „Freilich kann ich das.“ „Ist auch ein Mikroskop da?“ „Auch das.“ Darauf zog der Polizist ein Papierknäuel aus der Tasche und gab es dem Arzt. „Hier ist eine Kugel drin“, sagte er, „die einen recht eigentümlichen Flecken aufweist. Nehmen Sie den doch bitte einmal unter die Lupe und analysieren Sie mir die Substanz. Geben Sie mir bitte recht bald Nachricht, wenn Sie fertig damit sind.“ Der Arzt steckte das Papierchen zu sich. „Ich mache Ihnen die Analyse noch heute abend“, versicherte er. Der Kapitän kehrte mit zwei älteren Matrosen zurück, die ein Brett trugen, Segelleinen, Schnüre und Gewichte. Der Leichnam wurde eingeschlagen, und schnell war er auf das beschwerte Brett festgebunden. „Ich gehe voraus und halte das Deck frei“, sagte Grimm. 40
„Der Wachoffizier weiß Bescheid“, erklärte der Kapitän. „Er paßt auf, daß keine Neugierigen in der Gegend herumlaufen. Wir gehen besser nach Backbord – der Salon hat den Ausgang nach Steuerbord; also kann uns dort niemand so leicht überraschen.“ Mit diesen Worten setzten sie sich in Bewegung, Grimm voran, dann die beiden Matrosen, schließlich der Arzt und Milton. An der Reling angekommen, legten die beiden Matrosen das eine Ende des Brettes auf das Gestänge auf und warteten. Der Kapitän zog ein Buch aus der Tasche und las im Scheine der Taschenlampe Milton Drakes die Totengebete, während die anderen gebeugten Hauptes zuhörten. Nach diesem Akt hoben die beiden Matrosen das Brett an einem Ende hoch und ließen es über die Reling ins Wasser rutschen. Die Gewichte ließen es rasch sinken. Mit leisem Gurgeln verschwand der Tote in den glitzernden Wellen. Nachdem der Kapitän noch für die Säuberung der Kabine Leadings Sorge getragen hatte, verabschiedete er sich, ebenso empfahl sich der Arzt. Milton Drake und Oliver Grimm blieben allein zurück. Einige Minuten betrachteten sie schweigend die Oberfläche der See. Die einfache Zeremonie hatte ihren Eindruck auch auf die beiden Männer nicht verfehlt, die gewiß gewohnt waren, dem Tod ins Auge zu schauen. Der Gedanke an den letzten Richter mochte sie bewegen, der das endgültige Urteil über Schuld und Sühne fällt und vollzieht. Während der letzten Stunde war eine böige Brise aufgekommen, und in der Ferne sah man von Zeit zu Zeit ein schwaches Wetterleuchten aufzucken, das den Horizont auf Sekundenfrist in Flammen setzte. „Das Gewitter wird näher kommen“, sagte Milton. Und wie zur Bestätigung seiner Worte vernahm man gleich darauf das erste schwache Donnergrollen. „Höchste Zeit, daß sich das Wetter endlich einmal austobt“, 41
antwortete der Inspektor darauf. Dann aber wechselte er sofort wieder das Thema: „Haben Sie eigentlich diesen Leading genauer gekannt, Milton?“ „Ich weiß sehr wenig von ihm“, antwortete er. „Ein paar Mal habe ich ihn in Gesellschaft getroffen, aber sonst weiß ich kaum etwas von ihm. Ich denke, daß uns darüber Shandon bessere Auskunft geben kann.“ Grimm nickte: „Morgen früh wollte ich ihn sowieso danach fragen. Sie wissen auch nicht, welchen Verkehr er hier auf dem Schiff vorzugsweise hatte?“ „Leider habe ich ihn nicht genau genug beachtet. Ich hatte allerdings den allgemeinen Eindruck, daß er mit aller Welt gut Freundschaft hielt.“ „Ja, diesen Eindruck hatte ich auch“, bekannte Grimm. „Immerhin möchte ich …“ Er sprach seinen Satz nicht zu Ende, denn mit den nun stärker vernehmbaren Blitzen und Donnern begannen nun auch die ersten dicken Tropfen zu fallen. „Mir scheint“, murmelte Milton gedankenverloren, „daß wir hier eine ausnehmend feuchte Gegend ansteuern.“ „Na ja …“ ließ sich Grimm mit einem etwas krampfigen Lachen vernehmen, „es wird klüger sein, wenn wir jetzt unter Dach und unter Menschen gehen.“ Damit machte er sich auf den Weng zu den Kabinen; Milton folgte ihm wortlos. Wenige Schritte hatten die beiden Männer erst zurückgelegt als sie auch schon beide wie auf ein Kommando stehen blieben. Zwischen zwei Donnern hatten sie ein Geräusch vernommen, das für geübte Ohren keine Verwechslung zuließ. Es war der Knall einer Feuerwaffe gewesen! Der Laut mußte aus einem der Korridore gekommen sein. Sie wechselten nur einen raschen Blick und begannen dann in Richtung auf die Kabinen zu laufen. 42
Als sie in den ersten Korridor stürzten, sahen sie vor der offenen Tür einer Kabine eine Frau stehen. Ihr Kleid war scharlachrot, und vor dem Gesicht trug sie eine rote Halbmaske!!! „Die Rote Schlange!“ rief Grimm. „Na warte, mein Mädchen!“ Und er fuhr mit der Hand in die Tasche nach seiner Pistole. Die Frau in Rot wandte sich um und sah den beiden Männern entgegen. Sie hob aber die Pistole nicht. die sie in der Hand trug, sondern lief den Korridor hinunter. Der Inspektor bekam während des Laufens seine in der Tasche verfangene Pistole nicht frei und fluchte leise zwischen den Zähnen. Milton war indessen der Frau ebenfalls nachgerannt, weniger, um sie einzuholen, als sich vor allem zwischen sie und den Inspektor zu bringen, so daß dieser nicht schießen konnte. Sie kamen auf Deck; der Polizist hatte seine Pistole nun in der Hand. „Halt!“ schrie er, „oder ich schieße!“ Im Lärm des inzwischen losgebrochenen Unwetters konnte man seine Stimme kaum hören; seine Gebärde aber war deutlich genug. Die Rote Schlange fand ihren Weg verstellt, denn von der einen Seite kamen die beiden Matrosen aus der Kabine Leadings, die sie reinigen sollten. In den Händen trugen sie volle Wassereimer. Auf der anderen Seite stand eine Gruppe von Passagieren unter dem Vordach des Promenadendecks, die den Salon verlassen hatten, um die Kühle des Regens zu genießen. „Haltet die Frau fest!“ brüllte Grimm. Die Matrosen ließen ihre Eimer fahren und stürzten auf die Rote Schlange zu; die Passagiere näherten sich ihr im Halbkreis aus verschiedenen Richtungen. Zu allem Überfluß verkündete ein lauter Ruf von der Brücke, daß auch der Wachoffizier auf den Vorgang aufmerksam geworden war und zu Hilfe kam. Ohne auch nur für einen Augenblick die Fassung zu verlieren, schaute das Mädchen im roten Kleid um sich. Zum zweiten Male in dieser Nacht befand sie sich in Todesgefahr. Aber sie ließ 43
sich nicht einschüchtern, obwohl die Situation verzweifelt war und sich ihrem Auge kein Fluchtweg mehr bot. Milton fragte sich schon, warum sie in dieser bedrängten Lage nicht von ihrer Pistole Gebrauch mache, um sich einen Weg zu öffnen; sie trug sie noch immer in der Hand. Der Kreis um sie verengte sich. Grimm rief abermals: „Halt!“ – Da aber schien die rote Frau einen Entschluß zu fassen und lief auf die Reling zu. Der Multimillionär sah, wie Grimm im Begriff war zu schießen. Alle Zurückhaltung aufgebend, rief er ihr zu: „Ergib dich! Ergib dich doch!“ Gleichzeitig berechnete er seinen Weg so, daß er im Moment des Abdrückens mit dem Inspektor zusammenstieß und der Schuß fehlging. Grimm stieß einen lauten Fluch aus; Milton lief weiter, sich mit Absicht in der Schußlinie des Polizisten haltend. Seine Taktik brachte aber keinen Erfolg. Die Rote Schlange hatte die Reling erreicht und war mit einem Satz darüber gesprungen. Während einer Sekunde konnte man sie hochaufgerichtet sehen, der Wind zerrte an ihrem scharlachroten Kleid: dann … ! Krach!!! Der Inspektor hatte geschossen. Die Frau taumelte, hob die Hand zur Brust, und fiel nach hinten über Bord … *
* *
Sechstes Kapitel KRISE DES HERZENS Milton stieß einen Schrei aus, als er die Rote Schlange fallen sah. Nur die eiserne Faust Grimms hinderte ihn daran, der Verschwundenen nachzuspringen. 44
„Sind Sie denn wahnsinnig geworden?“ fauchte ihn der Inspektor an. „Wollen Sie sich wegen dieser Frau um jeden Preis unglücklich machen?“ Drake war vor Schmerz wie von Sinnen; er wußte kaum noch, was er sprach: „Das Mädchen war anständiger als Sie“, erwiderte er heftig, „denn sie hätte ebensogut schießen können wie Sie. Unbeteiligte wären zu Schaden gekommen. Sie dagegen schießen drauf los, ohne sich zu überlegen, ob zu Recht oder Unrecht!“ „Das war meine Pflicht“, sagte der andere rauh. „Ich hätte sie auch lieber lebendig gefangen; bevor ich sie aber entfliehen lasse …“ Die Wellen gingen infolge des Unwetters nun sehr hoch, und ließen das Schiff stark schlingern und stampfen. Milton mußte sich bereits an den Laufstangen festhalten, um nicht zu fallen. Unterdessen hatte eine eigentümliche Ruhe auf dem Schiffe Platz gegriffen, obwohl das Gewitter noch in voller Stärke tobte, und erst nach einer Weile wurden die an Deck Versammelten sich der Tatsache bewußt, daß die Schiffsmaschinen nicht mehr liefen. In diesem Moment sah man einige Matrosen an eines der Rettungsboote herantreten, um es zu Wasser zu lassen. Als Milton das Manöver bemerkte, rief er sofort: „Ich gehe mit!“ Wiederum hielt Grimm ihn fest. „Das werden Sie gefälligst bleiben lassen“, sagte er hart. „Die Leute haben bei diesem Wetter mit sich selbst genug zu tun, um noch einen Ballast mitzuschleppen.“ Es war nicht leicht, das Boot bei der rauhen See zu Wasser zu bringen, es gelang aber nach einigen Manövern gut – das Boot wurde flott. Eine Stunde lang lag die ‚Caribbian Queen’ vor dem Schleppanker an der gleichen Stelle, während die Seeleute unter Lebensgefahr die Wasseroberfläche nach der verschwundenen 45
Frau im roten Kleide absuchten, die sie doch nicht finden konnten. Endlich, als man alle Hoffnung aufgeben mußte, kehrten sie zum Schiff zurück. Die Maschinen nahmen ihre eintönige Melodie wieder auf, und die ‚Caribbian Queen’ setzte ihren Weg fort. „Leb’ wohl, Rote Schlange!“ sagte der Inspektor ironisch, „ruhe in Frieden!“ Dann wechselte er unvermittelt den Ton seiner Rede: „Und trotzdem tut sie mir leid! Jetzt, nachdem alles vorüber ist, kann ich es ja sagen: ich habe sie bewundert!“ „Bewundert!“ stieß Milton Drake mit Bitterkeit hervor. „Und das wagen Sie auszusprechen, nachdem Sie die Frau wie einen tollen Hund zusammengeschossen haben … !“ „Und was hätte ich nach Ihrer Meinung in diesem Falle anderes tun sollen?“ verteidigte sich der Inspektor achselzuckend. „Sie hatten es doch überhaupt nicht nötig, zu schießen!“ versetzte Milton heftig. „Sie hätten sie ruhig ins Wasser springen lassen sollen. Dem Boot konnte sie nicht entfliehen, und damit war Ihnen Ihre Beute auf jeden Fall sicher. Warum also schießen?“ Auf diesen Vorwurf fand Oliver Grimm keine Antwort. Verkniffen wandte er sich ab, und ging schweigend auf den Korridor zu, aus dem soeben das bleiche und verängstigte Gesicht Shandons auftauchte. „Wir müssen sogleich nochmals die Gästeliste verlesen, Shandon“, rief ihm Grimm zu. „Jetzt gleich?“ fragte der Angerufene. „Jawohl, jetzt gleich!“ erwiderte Grimm. „Es ist ja wohl kein Zweifel mehr möglich, daß sich die Rote Schlange unter den Gästen befunden haben muß. Auf diese Weise werden wir endlich herauskriegen, wer sie eigentlich war.“ Sofort wurden die Passagiere zusammengerufen und nach 46
der Liste aufgerufen. Es war rätselhaft! Alle Frauen waren vollzählig versammelt. Dagegen fehlten zwei Männer: Paul Leading und Robert Rothing. Grimm verbarg seine Enttäuschung über das magere Resultat, so gut er konnte; für das Rätsel selbst hatte er keine Erklärung. Leading war tot … aber Rothing? Wie mit einem Schlage erinnerte er sich in diesem Augenblick jenes anderen Schusses, der vorher die Veranlassung zur Jagd nach der Roten Schlange gewesen war. Im Wirbel der Aufregung war der Vorfall versunken. Der Schuß … die rote Frau vor der Kabinentür … da mußte man doch gleich … „Wo ist die Kabine von Rothing?“ fragte er den Schiffseigner. Seine Spannung war so stark, daß ihm seine eigene Stimme fremd vorkam. „In Gang B, Kabine vier“, war die Antwort. „Die Passagiere können jetzt gehen, ich brauche sie nicht mehr.“ Grimm machte sich damit auf den Weg, und Milton folgte ihm mechanisch. Er war noch so benommen, daß er kaum wußte, was er tat. Der Gang B war der gleiche, wo sie vorher die Rote Schlange angetroffen hatten. Die Tür der Kabine vier noch immer offen. Das Kabineninnere lag im Dunkel. Grimm verhielt unbeweglich einige Augenblicke, bevor er eintrat. Sein sicherer Instinkt sagte ihm, welchen Anblick er zu erwarten hatte. Mit einem Seufzer drehte er am Lichtschalter. Da lag Rothing – oder das, was Rothings sterbliche Hülle war! Der Körper lag halb auf dem Bett, halb auf dem Boden. Vor dem Bette eine grausige Blutlache. Der Hals des Mannes war in Fetzen gerissen, er mußte innerhalb weniger Sekunden verblutet sein, so furchtbar war die Wunde. Wiederum ein Explosivgeschoß! Die Kabine war in Ordnung; nichts schien zu fehlen. Der Tote war mit einem Pyjama bekleidet. 47
Langsam wandte sich Grimm um, Dann sagte er, mit einem an diesem Manne ungewohnten, schweren Ernst: „Und Sie trauern dieser Frau auch noch nach, Milton! Schauen Sie sich das an! Zwei Verbrechen in einer Nacht! Und was für Verbrechen! Und dabei war es nur eine Schicksalsfügung, daß sie nicht noch ein drittes Verbrechen begehen konnte. Ein Glück für die Menschheit, daß die Rote Schlange nun endlich hinüber ist!“ Milton schaute verwirrt drein; ihm fehlte jede Kraft, die Anklage Grimms zu beantworten. Der Inspektor sah, in welchem Zustand sein Freund sich befand, und etwas weniger hart fügte er hinzu: „Gehen Sie jetzt zu Bett, Drake. Das war ein wenig viel auf einmal. Die schrecklichen Eindrücke werden sich verwischen, wenn Sie jetzt erst ruhen.“ Damit löschte er das Licht und wollte Milton am Ärmel aus der Kabine ziehen. Der aber schüttelte den Kopf und machte sich aus dem Griff seines Freundes frei; mit müder Stimme sagte er: „Handeln Sie, wie Sie es für Ihre Pflicht halten. Aber ich kann jetzt unmöglich zu Bett gehen.“ Damit verließ er den Inspektor und entfernte sich über den Gang. Der Inspektor folgte ihm langsam … Das Gewitter war auf seinem Höhepunkt angelangt. Schwere Brecher schlugen über das Deck; der Wind fegte die Wassermassen bis in die letzten Winkel der Aufbauten. Aber Milton schien das alles nicht zu bemerken. Er blieb an der Reling stehen. Ein Wasserschwall überströmte ihn, so daß er sich mit aller Kraft festhalten mußte, um nicht fortgespült zu werden. Er ließ aber nicht los – in schwere Gedanken versunken blieb er an der Reling stehen. Oliver Grimm wandte sich achselzuckend ab. Er ging zur Kabine zurück, um dort eine genaue Untersuchung anzustellen. Als er sie beendet hatte, schloß er den Raum ab und machte 48
sich auf die Suche nach dem Kapitän. Noch ein Begräbnis auf hoher See, das man möglichst lange geheimhalten mußte! Als er am Salon vorbeiging, rief ihn Mavis Donovan an: „Was ist eigentlich mit Milton los, Oliver? Der Mann ist ja völlig außer sich! Ich habe ihn vorhin beim Listenverlesen beobachtet.“ „Tja, das ist so eine Sache“, antwortete der Inspektor. „Sehen Sie Mavis, da hat er einige Zusammentreffen mit dieser geheimnisvollen Roten Schlange gehabt, mit der Frau im scharlachroten Kleid, und nun ist er völlig aus dem Häuschen. Ich weiß nicht, ob diese Frau eine Hexe war oder was sonst; jedenfalls ist er ganz und gar von ihr besessen. Urteilen Sie bitte selber: der Zusammenstoß vorhin, als ich auf sie schießen wollte, war von ihm beabsichtigt, um sie zu schützen; er wollte meinen Schuß verhindern oder ableiten. Ich habe es ihm aber nicht weiter übelgenommen … Von allen Menschen, die ich kenne, sind Sie der einzige, Mavis, der einigen Einfluß auf ihn hat. Kümmern Sie sich doch einmal um ihn. Wenn Sie ihn nicht trösten können, dann kann es niemand.“ „Wo ist er denn jetzt?“ fragte Mavis. „Dort drüben, an der Reling steht er. Er muß naß sein bis auf die Knochen – es macht ihm aber offenbar nichts aus. Gehen Sie lieber jetzt nicht zu ihm, sonst bleibt kein trockener Faden an Ihnen.“ „Ach, ich habe mich vorhin schon einmal umgezogen, als man das Wasser absuchte, ich kann mich genau so gut auch ein zweites Mal umziehen. Bis gleich, Grimm!“ Grimm stieg zur Brücke hinauf. Das tapfere Mädchen aber balancierte über das spiegelglatte und schlüpfrige Dock, sich an der Reling festhaltend, bis sie den Platz erreichte, wo Milton, noch immer in tiefes Brüten versunken, stand. „Störe ich dich, Milton?“ fragte sie ihn. Er hob den Kopf: „Nein“, sagte er. 49
Nach dieser lakonischen Rede schaute er wiederum auf das Wasser hinaus und schien das Mädchen an seiner Seite vergessen zu haben. Während einiger Minuten fiel zwischen den beiden kein weiteres Wort. Da stampfte der Dampfer einmal besonders stark. Mavis schwankte und suchte sich mit einem unterdrückten „Oh!“ an Milton festzuhalten. Instinktiv legte der Mann den Arm um sie. „Geh’ lieber in deine Kabine“, sagte er, „du holst dir sonst eine Erkältung.“ „Ach laß nur“, antwortete sie darauf. „Warum willst du denn hier draußen bleiben?“ „Ich halte es in der Kabine nicht aus“, war die Antwort, „ich muß nachdenken. Aber du …“ „Ich werde dich doch mit all deinen schwarzen Gedanken jetzt nicht allein lassen“, erwiderte das Mädchen. „Schwarzen Gedanken?“ fragte Milton, „warum schwarz?“ „Jawohl, ich weiß schon, was ich sage … Du darfst es aber Grimm nicht übelnehmen … !“ Der Multimillionär öffnete den Mund zu einer Antwort, sprach aber dann doch nicht und schwieg weiter. „Du weißt doch, wie Oliver ist“, fuhr Mavis fort, „er tut doch nur das, was er für seine Pflicht hält, und was er darunter versteht. Es fiel ihm eben keine andere Lösung ein, als zu schießen, Milton … Es tut mir wirklich leid, hörst du, Milton?“ Auf diese teilnahmsvolle Ansprache mußte er antworten, und nun sagte er: „Die Rote Schlange hat das nicht verdient, Mavis!“ „Sie stand aber doch außerhalb des Gesetzes“, meinte das Mädchen ohne jede Schärfe. „Sie war aber trotzdem keine Verbrecherin“, hielt ihr der Mann entgegen, und seine Miene wurde lebhafter. „Beweisen kann ich es zwar noch nicht, aber hier drinnen …“ und damit 50
griff er an seine Brust, „hier drinnen weiß ich es ganz gewiß, daß diese Frau niemals ein Verbrechen begangen hat, und am wenigsten die von heute nacht.“ „Die von heute nacht?“ fragte die erschreckte Mavis. „Was willst du damit sagen?“ Milton biß sich auf die Lippen, denn er begriff, daß er in seinem Eifer für die Sache der Roten Schlange zu weit gegangen war. Er wollte seinen Fehler rasch wieder gutmachen: „Ich wollte sagen, von gestern nacht. Die Sache mit dem Diamantenhalsband deiner Tante.“ „Aber das soll doch der Mann mit der Kapuze gewesen sein, und nicht die Rote Schlange“, berichtigte ihn das Mädchen. Milton erwiderte mit gemachter Leichtigkeit darauf: „Na ja, weil Grimm doch immer sagt, daß der Mann mit der Kapuze und die Rote Schlange meist zusammen arbeiten.“ Mavis warf ihm nur einen verwunderten Blick zu, sagte aber nichts. In diesem Augenblick raste ein wahrer Berg von einer Woge auf die beiden zu. „Vorsicht!“ schrie Mavis und verbarg angstvoll ihr Gesicht an der Brust Miltons. Der Multimillionär preßte die schlanke Gestalt fest an sich. Das Wasser überströmte die beiden. Triefend von oben bis unten standen sie da. Sie hob den Blick zu ihm; sie waren sich sehr nah in diesem Augenblick. Er ließ sie nicht los und zog sie schützend näher an sich. „Mavis …“, sagte er stockend. „Ja, Milton …“, erwiderte sie leise und weich. „Ich muß dir etwas sagen.“ „Sag’s mir!“ raunte ihm das Mädchen zu. „Es ist . ich weiß nicht recht, wie ich anfangen soll; dazu noch unter diesen Begleitumständen. Du wirst mir keinen Glauben schenken. Ich kann mich auch selber nicht verstehen …“ „Versuche es doch ruhig einmal …“ 51
Einige Augenblicke blieb es still zwischen den beiden. Die wilden Bewegungen des Schiffes zwangen Milton immer wieder, sich von neuem anzuklammern. Nun wechselte er den müden Arm und hielt Mavis mit dem anderen fest. Dabei vermied er es, dem Mädchen in das schöne Gesicht zu schauen, wie um sich vor dem allzugroßen Einfluß dieser blaugrauen Augen zu schützen, die gütig und mitleidvoll zu ihm aufschauten. Man sah Milton den Aufruhr seiner Seele an, als er nun mit ruckendem Gesicht zu sprechen anfing: „Ich habe dich immer sehr lieb gehabt, Mavis …“ Da sie stumm blieb, fuhr er fort: „… niemand und nichts hat dich bis jetzt aus meinem Herzen verdrängen können.“ Und er schaute der Frau mit einem schweren Blick in die Augen, um sich gleich darauf wieder dem Wasser zuzuwenden. „… bis ich dieser Frau im scharlachroten Kleid begegnete … ihren wirklichen Namen weiß ich nicht …“ „Und Sie kann, was ich nicht vermag …“ beendete mit leiser Trauer das Mädchen den Satz. Ihre Stimme verriet wie schmerzlich bewegt sie war. „Ja … . nein … . ach, ich weiß selber nicht mehr, was ich eigentlich will“, sagte Milton. „Was hast du denn nur?“ fragte Mavis zutraulich. „Es ist wie ein Verhängnis“, antwortete Milton. „Solange du in meiner Nähe bist, habe ich keinen anderen Gedanken als immer nur dich. Sowie ich aber dieser Frau begegne, verschwindest du aus meinem Sinn, als ob du nie existiert hättest. Komme ich dann wieder zu dir, ist die andere Frau wie ausgelöscht. Immer kann nur die von euch beiden Gegenwärtige ein Gefühl in mir erwecken … die Abwesende ist ausgelöscht … Lange habe ich über diese Erscheinung nachgedacht, habe mich gewehrt und habe mich entscheiden wollen … ich vermochte es nicht. Nur ein Mittel gäbe es: euch beide zusammen52
zuführen, zur gleichen Zeit, und dann zu wählen zwischen euch, wer die stärkere Macht über mich hat. Aber das ist nun nicht mehr möglich, denn die Rote Schlange ist nicht mehr. Die Sehnsucht verzehrt mich – ich habe ein Gewicht auf der Seele, das mich nicht atmen läßt. Und wenn du anstelle der Roten Schlange den Tod erlitten hättest, so wäre meine Sehnsucht nach dir die gleiche, die mich jetzt nach der Unbekannten verzehrt.“ „Milton! Schau mich einmal an!“ bat Mavis leise. „Ich kann nicht …“ antwortete der Multimillionär. „Denn wenn ich dich jetzt ansehe, dann hast du gesiegt. So leicht aber darfst du nicht siegen … liebste Mavis.“ Er ließ das Mädchen los und schob sie von sich, „Geh’ hinein, Mavis“, bat er sie. „Noch nie haben wir so lange und ernst miteinander gesprochen. Du hast mir aber geholfen; die Krisis ist vorbei. Laß’ mich aber nun allein, ich bitte dich darum!“ „Gute Nacht, Milton“, sagte das Mädchen nur. Mit einer stummen und rührenden Einladung hob sie innig das Gesicht zu ihm auf … Aber er beachtete sie nicht. Nur ein nachdenkliches „Auf Wiedersehen“ nahm sie als Abschiedsgruß mit auf den Weg in ihre Kabine. *
* *
Siebentes Kapitel TRAUM ODER WIRKLICHKEIT In den späten Morgenstunden des nächsten Tages war Milton gerade dabei sich zu waschen, als Oliver Grimm in seine Kabine trat. „Na“, fragte er, „wie haben Sie die Nacht verbracht?“ 53
„Danke“, erhielt er die Antwort, „so gut als man es bei diesem Wetter überhaupt kann!“ Und als ob er die Frage erriete, die der Polizist auf den Lippen hatte, fügte er hinzu: „Machen Sie sich bitte um mich keine Sorgen mehr, Oliver. Ich habe meinen Kummer so einigermaßen überstanden. Im übrigen wollen wir nicht mehr reden, wenn es Ihnen recht ist …“ „Das freut mich wirklich“, meinte Grimm, „und zwar hauptsächlich deswegen, weil ich Ihre Hilfe nochmals in Anspruch nehmen möchte.“ „Worum handelt es sich denn?“ „Nichts Besonderes! Sie sollen sich im Lauf des Tages an die Schiffsgäste heranmachen und sie in Gespräche verwickeln, bis ich jeweils ein Zeichen gebe. Dann machen Sie sich an den nächsten heran … und so weiter. Natürlich trennen Sie sich immer zwanglos von ihnen, und ohne jede Unhöflichkeit von Ihrer Seite.“ „Das ist wirklich nicht besonders viel, was Sie da wollen. Darf man auch wissen, welchem Zweck dieses freundliche Gesellschaftsspiel dienen soll?“ „Da Sie Ihren guten Humor anscheinend wiedergefunden haben, will ich Ihnen das Geheimnis gerne anvertrauen. Sie sollen die Leute jeweils für die Zeit festhalten, die ich brauche, um ihre Kabinen gründlich zu besichtigen.“ „Ich höre wohl nicht recht?“ „O doch … das Diamantenhalsband ist noch immer nicht aufgetaucht“, sagte der Inspektor statt anderer Erklärung. „Da eben liegt der weltberühmte Hase im Pfeffer …“ „Glauben Sie denn, daß das Collier noch auf dem Schiff ist?“ „Ich bin fest davon überzeugt; übrigens habe ich nun auch genug Daten beisammen, um den Ablauf der Ereignisse mit einiger Sicherheit rekonstruieren zu können.“ „… der angebliche ‚Mann mit der Kapuze’ muß Leading gewesen sein und Rothing war sein Helfershelfer. Den Dritten 54
kennen wir noch nicht; und eben der hat das Halsband – er muß es haben! Als einziges wissen wir von ihm lediglich, daß er ebenso wie seine Gesellen die ganze Zeit unter Todesdrohung gestanden haben muß.“ Milton war zwar zu ähnlichen Schlußfolgerungen gelangt. Er hielt es aber für klüger, seinen Freund in dem Glauben zu lassen, daß er nicht so klug sei wie dieser; daher sagte er nur: „Für Sie scheint das klar zu sein, Oliver, ich für meinen Teil muß bekennen, daß ich da geistig nicht ganz Schritt halten kann …“ „Sie werden’s gleich verstehen“, unterbrach Grimm lebhaft. „Es ist doch ganz einfach! Der Tod Leadings klärte alles auf! Die folgenden Ereignisse bestätigen es Schritt für Schritt – und alles stimmt, was ich mir vorher zusammengereimt hatte und erraten konnte. Leading, Rothing und ein Dritter, dessen wir unbedingt noch habhaft werden müssen, haben den Raub miteinander verabredet. Leading spielte den Kapuzenmann, einer der beiden anderen erledigte die Sache mit dem Steuermann, und der dritte wartete derweil im Boot.“ „Aber die Flucht …“, warf Milton ein. „Das ist es ja“, triumphierte Grimm. „Die Flucht hat nie stattgefunden! War eine glatte Finte! Und fein säuberlich ausgeknobelt war sie auch! Als nämlich die beiden Männer von Deck an der Bordwand hinunterkletterten, ließ der Dritte den Motor der Barkasse an. Das Ruder hatte man schon vorher festgebunden. Dann stieß er das unbemannte Boot ab, und unsere Drei schwammen wie muntere Fischlein um das Schiff herum zum Heck, wo sie ein paar Seile ins Wasser gehängt hatten. Die Barkasse fuhr geradeaus, so lang Benzin im Tank war, und die Dunkelheit machte die Flucht im Boot glaubhaft. Mittlerweile stiegen aber die Drei ganz gemütlich wieder an Deck. Wir andern waren ja alle an der Brücke zusammengelaufen; so blieben sie unbeachtet.“ 55
„Dann sind sie in ihre Kabinen gegangen, haben sich umgezogen, und als wir später die Namen der Passagiere verlasen, standen sie, frisch gewaschen und gekämmt, mitten unter der Gemeinde. Auf diese Weise konnte auch nicht der Schatten eines Verdachtes auf sie fallen. Eine Zeitlang haben wir ja sogar mit dem Gedanken gespielt, sie könnten sich schon in Baltimore an Bord versteckt haben.“ „Und wenn die Barkasse gesunken wäre … umso besser für sie. Man hätte angenommen, daß ihre Flucht vollständig gelungen sei, und daß sie schon über alle Berge wären. Als das Boot mit dem festgebundenen Steuerruder aufgefunden wurde, glaubte ich erst für eine Weile, sie seien auf ein anderes Fahrzeug umgestiegen. Aber das Licht ist mir dann doch bald aufgegangen.“ „Wie aber erklären Sie sich die Vorgänge von gestern abend?“ wollte Milton Drake wissen. „Hierfür kann ich mir vorläufig nur mit Schlußfolgerungen helfen – von denen ich aber stark annehme, daß sie stimmen: Die Rote Schlange war eben ein bißchen schlauer als wir. Sie wußte auf jeden Fall, wer die Verbrecher waren, und hat sie vielleicht auch schon vorher gekannt. Sie beschloß sich in den Besitz des Halsbandes zu setzen.“ „Zu diesem Zweck besuchte sie Leading und überraschte ihn mit ihrer Drohung. Den Gürtel riß sie ihm ab, und nahm das Collier heraus. Vielleicht hat Leading auch versucht, sie anzugreifen – vielleicht hielt sie ihn nur als Mitwisser für gefährlich. Deswegen brachte sie ihn um die Ecke. Aber Leading hat geschossen, bevor er starb – und er hat sie auch leicht verwundet, und zwar aller Wahrscheinlichkeit nach am Bein.“ „Die rote Frau hatte aber doch keinerlei Wunden am Körper“, gab der Multimillionär zu bedenken, „und wieso kommen Sie darauf, daß Leading auf sie geschossen haben soll? Er hatte doch keinerlei Waffe bei sich?“ 56
„Die Frau ist natürlich so schlau gewesen, die Waffe sofort verschwinden zu lassen; sie brauchte sie nur durchs Bullauge zu werfen. Leading war aber ganz sicher bewaffnet. Sie erinnern sich doch an die Kugel, die Sie selber in der Wand, nahe am Boden, gefunden haben? Die konnte nur von ihm stammen. Die Gründe sind einfach: erstens war es im Gegensatz zu der anderen eine gewöhnliche Kugel, zweitens geht das aus der Einschlagstelle und -richtung klar hervor.“ „Alles zugegeben“, meinte Milton „wie aber wollen Sie wissen, daß er die Rote Schlange ausgerechnet ins Bein getroffen hat?“ „Ich habe das Untersuchungsergebnis des Arztes. Die Kugel trug Spuren menschlichen Blutes, ferner eine weitere Substanz, die der Doktor noch nicht ganz klar hat festlegen können; sehr wahrscheinlich handelt es sich aber um Strumpffasern. Das Geschoß war nahe am Boden in die Wand eingedrungen, das beweist, daß Leading nicht einmal Zeit hatte, den Arm zu heben – oder daß er dazu nicht mehr Kraft genug besaß. Wenn die Kugel also getroffen hat, dann konnte es nur am Bein gewesen sein.“ „Alles was Sie da sagen, Oliver, paßt wunderschön eines ins andere. Nur das mit der Roten Schlinge nicht. Wenn sie nämlich verwundet war, dann mußten ihr Strumpf oder ihr Kleid blutig werden. Davon haben wir aber beide an ihr nichts entdecken können, als die Jagd übers Deck ging.“ „Das will gar nichts heißen! Wir wußten nichts von ihrer Verwundung, und schauten ihr infolgedessen immer nur ins Gesicht. Außerdem soll man ja auch Damen nicht andauernd auf die Beine sehn.“ „Bleiben Sie ernst, Oliver! So sind nach Ihrer Überzeugung Leading und Rothing von der gleichen Hand gefallen?“ „Ohne Zweifel. Beide fielen durch Explosivgeschosse – und beide Male trafen wir doch die Rote Schlange bei den Leichen an.“ 57
„Welches Interesse soll sie daran haben, auch Rothing noch umzulegen, wenn sie das Collier doch schon hatte?“ „Das kann man schwer sagen. Vielleicht glaubte sie sich ihres Lebens nicht sicher, solange die beiden andern noch herumliefen. Aus diesem Grund habe ich die ganze Zeit auf einen dritten Mord gewartet.“ „Und ich glaube trotzdem noch, daß Sie sich irren, und daß die Rote Schlange an den Verbrechen unschuldig ist, die Sie ihr zur Last legen. Aber streiten wir uns nicht deswegen … wann wollen Sie nun mit der Arbeit in den Kabinen anfangen?“ „Am besten gleich! Es sind eine ganze Menge Kabinen, und ich werde eine gute Weile für die Arbeit brauchen. Wen wollen Sie als erstes Opfer mit Ihren geselligen Talenten umgarnen?“ „Weiß noch nicht! Der erste, der mir über den Weg läuft, muß dran glauben. Kommen Sie mit an Deck, dann werden Sie selber sehen.“ Die beiden gingen hinauf. Das Gewitter der letzten Nacht hatte sich ausgetobt, und in der gereinigten Luft glitzerte die Sonne im Widerschein der Wellen. Das erste Opfer des Multimillionärs war Peter Slight, der große Lust hatte, unseren Freund in ein Gespräch über die Aufregungen zu vorwickeln, denen sein asthmatisches Herz ausgesetzt gewesen war. Da er nun einen aufmerksamen Zuhörer gefunden hatte, konnte er seinem bedrängten Herzen hemmungslos Luft machen, was ihm über die Maßen gut gefiel. Grimm wartete eine Weile, bis er sah, daß der Fisch angebissen hatte, und verschwand dann aus dem Blickfeld. Mit Engelsgeduld verbrachte Milton den Rest des Tages damit, sich immer wieder dieselben Meinungen anzuhören, und immer wieder dieselben beruhigenden Geschichten zum Besten zu geben. Bis zum Abend hatte Grimm jedoch in keiner der Kabinen etwas Verdächtiges finden können, und ziemlich ab58
gekämpft riet er seinem Freunde, er solle doch noch ein wenig tanzen gehen. Milton aber meinte: „Ich habe keine besondere Lust dazu. Ich bin auch zu müde und lege mich lieber aufs Ohr.“ Damit verabschiedete er sich von dem Inspektor und zog sich zurück. Er hatte vor, in Ruhe noch eine Weile über all das Geschehene nachzudenken, aber seine Müdigkeit war doch übermächtig. Kaum war er in seine Koje gekrochen, als er auch schon in bleiernen Schlaf fiel. Jedoch nicht für lange … Eine unbestimmte Warnung seines Instinktes ließ ihn auffahren und alle seine Sinne wach werden. Er stützte sich auf den Ellbogen und versuchte vergeblich, mit Auge und Ohr die Dunkelheit der Kabine zu durchdringen. Tiefe Ruhe überall. Und doch war Milton Drake sicher, nicht alleine im Raum zu sein. Ein lebendes Wesen mußte dicht bei ihm stehen … Er segnete den Einfall, der ihn am Abend vorher seine Pistole hatte unter das Kopfkissen schieben lassen. Nun tastete er geräuschlos und vorsichtig nach ihr, bis endlich zwischen den Laken seine Hand die beruhigende Kühle des Stahles spürte. Langsam … langsam zog er sie hervor, sein ganzer Körper war in unerträglicher Spannung … vorsichtig hob er den Arm, um den Lichtschalter über dem Bett zu erreichen, denn im Dunkeln war er wehrlos … und wie ein Schlag durchzuckte ihn die Überraschung, als in diesem Augenblick eine Stimme in seiner unmittelbaren Nähe sagte: „Mach’ doch endlich einmal Licht an, Milton! Du brauchst gar nicht so übervorsichtig zu sein! Der Schalter ist gleich neben dir!“ Diese Stimme! … sie elektrisierte ihn, und das die Worte begleitende Lachen ließ sein Herz wie rasend schlagen. Er machte Licht … Die plötzliche Helle blendete ihn zunächst. Dann aber glaubte er seinen Augen nicht zu trauen … war es ein Traum oder Wirklichkeit, was er da vor sich sah? 59
Auf dem Drehstuhl, der unweit des Lagers am Boden festgeschraubt war, saß eine Frau im scharlachroten Gewand, mit einer roten Maske vor dem Gesicht … !! Das war die Rote Schlange, oder war es ihr Geist?! *
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Achtes Kapitel WENN DIE TOTEN REDEN Mit offenem Munde starrte der Multimillionär seine Besucherin an; es dauerte lange, bis er die Fassung wiedergewann. „Die Rote …“ sagte er nur, denn die Freude ließ seine Stimme versagen. „Die Rote …“ Schon wollte er aus dem Bett springen und auf das zauberhafte Wesen zueilen, als ihn auch schon die kleine Pistole seiner maskierten Freundin zur Ruhe wies: „Schön brav im Bettchen bleiben, mein Freund!“ rief sie. „Wo bleibt dein Respekt im Umgang mit Gespenstern, die eigens dem Meeresgrund entsteigen, um dir einen Nachtbesuch zu machen?“ „Ein Gespenst! Hach!“ rief er. „Wenn ich abergläubisch wäre, möchte ich’s fast glauben.“ Er setzte sich auf die Kante des Bettes und schaute sie unentwegt an. „Habe ich dich denn nicht selbst gesehen, wie du in die Brust getroffen über Bord gingst? Eine geschlagene Stunde haben sie nach dir gesucht – und da sitzt du nun munter und gesund vor mir, um mir zuzuschauen, wie ich in meinem einsamen Bett liege. Da soll einer nicht abergläubisch werden!“ Sanft lachte die Frau auf. „Im Dunkeln“, sagte sie, „kann man zwar niemandem beim 60
Schlafen zusehen, aber ein gutes Gehör habe ich, und daß ist auch was wert. Als ich nämlich den Wechsel im Rhythmus deines Atems bemerkte, wußte ich, daß du wach geworden warst. Danach hast du den Atem angehalten. Das verriet mir, daß du horchtest, und nach dem Lichtschalter fühltest. Das Übrige weißt du selber …“ „Nun sage mir aber doch erst, wie du aus dem Wasser herausgekommen bist“, unterbrach Milton, „das interessiert mich doch viel mehr.“ Unbewußt hatte er mit seinen Blicken die wohlgeformte Brust und die schlanken Beine des Mädchens abgesucht, ohne aber die Anzeichen einer Verwundung entdecken zu können. „Und wo sind deine Verletzungen?“ fragte er daher. „Gib dir keine Mühe“, lachte sie. „Wenn ein Schiff so stark schwankt, wie dies gestern abend die gute ‚Caribbian Queen’ tat, dann kann wohl niemand einen sicheren Pistolenschuß abgeben, auch unser Freund Grimm nicht! Seine Kugel hat mich nicht einmal gestreift. Ich tat nur so, als ob ich getroffen sei – und abzuspringen brauchte ich erst recht nicht, denn die Bewegung des Schiffes warf mich von der Reeling. Ich tauchte unter, und wurde vom Wasser unter dem Schiff hindurch auf die andere Seite des Schiffskörpers gedrückt. Backbord hing kein Seil herab. Daß dein Zusammenstoß mit Grimm Absicht war, habe ich übrigens gesehen. So haben das Unwetter und du mir das Leben gerettet. Wenigstens für den Augenblick … Im Übrigen war ich fest entschlossen, einem feuchten Begräbnis zu entrinnen. Die Wellen schlugen von Zeit zu Zeit über die Deckaufbauten des Schiffes hinweg. Das war meine Rettung, denn als ich gerade auf dem Kamm einer Welle schwamm, legte das Schiff stark nach Backbord über, und ich ließ mich, auf die Gefahr hin an irgendeine Wand geschlagen zu werden, von der Woge auf das Schiff tragen. Ich hatte Glück. Euer Rettungsboot war noch nicht im Wasser, als ich schon längst wieder auf der 61
anderen Seite an Deck stand. Kein Kratzerchen habe ich dabei davongetragen. Und da bin ich nun wieder, wie du siehst.“ „Hast du Leading umgebracht?“ unterbrach Milton schroff. „Nein!“ „Auch Rothing nicht?“ „Auch ihn nicht!“ „Wer aber war es dann?“ „Grimm ist nicht dumm. Hat er die Wahrheit noch immer nicht erraten?“ „Bis jetzt nur zum Teil.“ „Erzähle du mir erst einmal!“ Der Multimillionär berichtete seiner geheimnisvollen Freundin nun mit allen Einzelheiten, was Grimm ihm am Morgen auseinandergesetzt hatte. „Und was“, so fragte ihn die Maskierte, als er seine Erzählung beendet hatte, „ist nun deine eigene Meinung zur Sache?“ „Tja“, meinte Milton Drake, „ich bin mit Grimm in allem einer Meinung, was den Raub des Diamantenschmucks angeht. Aber sonst bin ich es nicht. Auf der anderen Seite weiß ich aber nicht mit Sicherheit, welche Rolle du selber in der ganzen Sache gespielt hast, wenn ich mir auch so meine Gedanken schon darüber gemacht habe. Ich meine folgendes: Einer der Täter – und es war nicht der Klügste von den dreien – muß zu der Ansicht gekommen sein, daß es doch eine Eselei sondergleichen sei, sich mit den andern beiden in die Beute zu teilen. Also faßte er den Entschluß sich selber in den Besitz des Colliers zu bringen, und wenn nötig, die beiden Helfer umzubringen. Er fing mit Leading an, der das Halsband bei sich trug. Er nahm es ihm ab, und schoß ihn nieder. Das Gleiche tat er mit Rothing, den er als Mitwisser loswerden wollte. Du hast natürlich gewußt, wer die Räuber des Schmuckes waren, und du bist wegen des Halsbandes ebenfalls in Leadings Kabine gegangen. Du kamst aber zu spät, wenn auch noch früh 62
genug, um unserem lieben Oliver in die Arme zu laufen. Genau das Gleiche passierte dir in der Kabine von Rothing – und das hat dich beinahe das Leben gekostet. Sind meine Vermutungen richtig?“ „Im großen und ganzen schon“, sagte das schöne Mädchen im roten Kleid. „Warum aber glaubst du, daß der Mörder der Dümmste von den dreien war?“ „Weil seine Handlungen darauf hindeuten. Besonders deswegen, weil er die Unvorsichtigkeit besaß, das Collier im Gürtel ständig bei sich zu tragen – aber auch die vorgetäuschte Flucht war ungeschickt genug. Blieb er an Bord, mußte er immer der peinlichen Nachsuche gegenwärtig sein – wozu das alles?“ „Du hast schon recht“, pflichtete ihm die Rote Schlange bei. „Ich kannte die Täter tatsächlich mit Namen, weil ich sie an Bord steigen sah, als ihr noch an der Brücke herumstandet. Ich ging auch in Leadings Kabine, um ihm den Schmuck abzujagen. Aber leider kam ich zu spät, wie du ganz richtig annimmst. Ich sah einen Mann den Gang hinunterlaufen, kam ihm aber nicht mehr nach. Trotzdem begriff ich sofort, was hier gespielt wurde: einer der Täter wollte seine beiden Spießgesellen umbringen, um die Beute für sich alleine zu behalten. Leider wußte ich nicht, welcher von den beiden der Mörder Leadings war. Das konnte ich nur herausbringen, wenn ich wußte, wer nun das Halsband hatte. Ich durchstöberte die Kabine dos Dritten und fand das Halsband. Damit wußte ich auch, daß von nun an Rothing in Todesgefahr schwebte. Ich glaubte noch genug Zeit zu haben, um Rothing zu warnen. Seinen künftigen Mörder hatte ich gerade im Salon stehen sehen. Ich wagte mich also in seine Kabine, in der Annahme, der andere sei noch im Salon verblieben. Das war ein Irrtum. Als ich zu Rothings Kabine kam, hörte ich auch schon den 63
Schuß – nur wenige Sekunden vor dir und Grimm hatte ich die Kabinentür erreicht. Der Mörder war noch drinnen. Nun lief ich wieder zurück, woher ich gekommen war, und hoffte, ihr würdet zuerst die Kabine untersuchen. Da hättet ihr den Mörder gleich gehabt, der bis dahin zur Flucht keine Zeit hatte. Leider war das mein zweiter Irrtum in dieser Nacht, der mich beinahe teuer zu stehen gekommen wäre. Ihr verfolgtet mich – und ich verschaffte dem wirklichen Mörder damit ungewollt die schönste Fluchtmöglichkeit, die er sich hatte wünschen können.“ „Aber wer, um Gottes Willen, ist nun dieser geheimnisvolle Mörder, nun sage es doch endlich!“ „Johnny Seldon ist’s“, antwortete die Rote Schlange. „Er hat die Kabine nebenan.“ „Unmöglich!“ rief Milton erstaunt und überrascht. „Da staunst du, nicht wahr?“ lächelte das Mädchen in Rot. „Johnny, der elegante und allseits beliebte Johnny! Das ungetrübteste Wässerchen auf dem ganzen Schiff, und aller Welt bester Freund … der war’s!“ „Da sieht man wieder einmal, wie wenig man im Grunde von seinen Mitmenschen weiß. Ich habe“, wunderte sich Milton, „noch nie in meinem Leben einen Menschen gekannt, der soviel sprach, und dabei von sich selber doch so wenig zu sagen verstand, wie dieser Seldon. Und ausgerechnet den habe ich für unintelligent gehalten!!!“ „Und das ist er auch wirklich, Milton. Der Mann mag schlau sein, vielleicht auch gerissen, aber wirklich klug ist er nicht.“ „Hast du ihm nun eigentlich das Collier abgenommen?“ „Nein“, antwortete die Rote Dame. „Grimm muß es in die Hand bekommen, denn ohne diesen Beweis kann er Johnny nicht verhaften.“ „Und wer soll ihn auf die Fährte setzen?“ „Wer denn sonst, als der berühmte ‚Mann mit der Kapuze’?“ 64
lächelte das Mädchen. „Die Rote Schlange ist nun einmal ‚tot’, und für den Moment wollen wir ihr die Grabesruhe lassen, um den Passagieren Unannehmlichkeiten zu ersparen. Wenn Grimm erfährt, daß ich noch lebe, dann stellt er das ganze Schiff auf den Kopf und kein Mensch kommt mehr zur Ruhe – ohne daß damit der Sache gedient wäre.“ „Gut also: der Mann mit der Kapuze wird sich darum, dem hohen Befehl gehorchend, um Grimm kümmern.“ „Übrigens“, sagte die Geheimnisvolle, „hast du mir doch erzählt, daß Grimm die zweite Kugel hat mikroskopisch untersuchen lassen, die ihr in Leadings Kabine gefunden habt?“ „Ja, das hat er.“ „Dann wird er auch die Wunde finden, die dazu paßt … an Johnny’s Bein. Die zugehörige durchlöcherte Hose muß in seinem Koffer sein. Schließlich wird er auch die Waffe dort finden … mit Explosivgeschossen.“ Mit diesen Worten erhob sich die Rote Schlange von ihrem Stuhl. „Leb’ wohl, Milton“, sagte sie. „Mach’s gut!“ Der Multimillionär war ihr aber mit einem Satz in den Weg gesprungen und legte ihr beide Hände auf die Schultern: „Nein“, sagte er, „so kannst du nicht davongehen, meine Liebe! Wenn du wüßtest, wie ich in den letzten Stunden um dich gelitten habe, so lange ich dich tot glauben müßte … das kannst du mir nicht antun, wiederum sang- und klanglos zu verschwinden!“ „Es ist schlimm mit dir, Milton“, lächelte ihn das Mädchen hinter ihrer Maske an. „Ein fürchterlicher Quälgeist bist du, und schrecklich verliebt dazu! Es quält dich, daß du nicht weißt, wer ich bin – das regt dich auf, und darum bildest du dir ein, in mich verliebt zu sein …“ „Ich gebe alles zu, leider aber ist meine Verliebtheit mehr als eine Laune. Leider … denn meine Liebe scheint auf dich keinen 65
Eindruck zu machen. Und nun mach’ mich nicht wahnsinnig, Mädchen! Nimm endlich diese dumme Maske ab, damit ich dich wenigstens einmal einen Augenblick lang sehen kann. Ich kann dir doch tausendmal besser helfen, wenn ich weiß, wer du bist!“ „Die Maske abnehmen? Das kommt unter keinen Umständen in Frage“, war die Antwort, die er von ihr erhielt. „Ich möchte dir deine Illusionen nicht rauben“, ergänzte sie spöttisch. „Das kannst du nicht“, erwiderte Milton, „auch dann nicht, wenn du es wolltest. Vom ersten Augenblick habe ich dich für eine gute Seele gehalten, für eine selbstlose Frau, die den Schwachen vor dem Gesetz zur ihrem Recht verhilft. Und ich habe mich in diese Seele verliebt, und nicht in irgendein Gesicht, das ich dazu noch nie habe zu sehen bekommen. Deine Demaskierung könnte mich nicht abschrecken, denn dein Gesicht kann den Wert deiner Taten nicht wandeln. Um deiner Seele willen liebe ich dich! Du! Stelle mich doch auf die Probe! Nimm die Maske ab, und du wirst dich überzeugen … !“ Aber sie schüttelte nur ihr Haupt. „Unmögliches verlangst du von mir, mein Freund“, sagte sie weich. „So soll ich dich niemals sehen, wie du wirklich bist?“ war die fassungslose Frage des Multimillionärs. „Niemals … !“ lachte die Frau in Rot. „Das ist ein zu großes Wort, Lieber. Nein – irgendwann wird einmal der Tag kommen, da in deiner Gegenwart die Maske fällt“, ein verheißungsvoller Blick machte bei diesen Worten den Mann erschauern, „aber noch habe ich meine Aufgabe nicht erfüllt – und die muß erst vollbracht werden!“ Mit einer raschen Bewegung hatte sie sich den Händen Miltons entwunden und war zur Tür hinausgeschlüpft, bevor er sie hatte halten können … *
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* Neuntes Kapitel DAS DIAMANTENCOLLIER WIRD GEFUNDEN Milton war gerade aufgestanden, hatte sich gewaschen und rasiert. Als er seine Uhr vom Nachttisch nahm, entdeckte er darunter einen Zettel, den er sich nicht erinnerte, vorher dort gesehen zu haben. Er nahm ihn auf und las das einzige Wort, das darauf stand „Bullauge“. Sonst nichts. Das Wort war mit roter Tinte geschrieben, darunter eine kleine rote Schlange gezeichnet. Verblüfft betrachtete er den Zettel. Was wollte sie mit diesem Wort wohl sagen? Er entzündete nachdenklich das Papier an einem Streichholz und ließ es zu Asche verbrennen. Bullauge … Bullauge … warum sie wohl so mysteriös schrieb? Auf dem Gang ließen sich Schritte vernehmen; man klopfte an der Tür. „Herein!“ Es war der Inspektor. „Sie sind aber früh auf den Beinen“, begrüßte ihn der Multimillionär. „Und wenn ich erst an andere Leute denke“, antwortete der, „die sich ganze Nächte um die Ohren schlagen, um geheimnisvolle Briefe zu schreiben … Lesen Sie mal den Wisch da!“ Mit diesen Worten warf er einen anderen Zettel auf den Tisch, den Milton aufnahm, um ihn laut vorzulesen, obwohl er auf den Inhalt der Botschaft bereits vorbereitet war. Die Worte standen im Telegrammstil abgefaßt und lauteten: JOHNNY SELDON WURDE AM BEIN VERLETZT STOP DURCHLÖCHERTE HOSE IM KOFFER STOP ERMORDETE 67
ROTHING STOP ROTE SCHLANGE WUSSTE ALLES WOLLTE HALSBAND RETTEN UND OPFER VERMEIDEN STOP ZU SPÄT Als Unterschrift trug der Zettel eine schwarze Kapuze. „Na“, sagte Grimm, „was halten Sie davon?“ „Jedenfalls muß man der Sache gleich nachgehen. Die Erklärung zur Rolle der Roten Schlange leuchtet mir ein, sie überzeugt mich mehr als Ihre Theorien zusammengenommen, Oliver“, antwortet Drake. „Eine andere Antwort konnte man von Ihnen auch nicht gut erwarten“, entgegnete der Kriminalist geringschätzig. „Haben Sie eine Pistole?“ „Ich denke doch.“ „Wo ist sie?“ „Unterm Kopfkissen, wo die Pistole eines ehrbaren jungen Mannes hingehört“, antwortete Milton lachend, und beugte sich über die Koje, um sie hervorzuholen. „Haben Sie auch eine Kapuze in der Tasche?“ fragte Grimm mit eigentümlicher Betonung und beobachtete dabei aufmerksam das Gesicht seines Freundes. „Pech gehabt, Oliver“, antwortete der. „Da müssen Sie mir schon eine leihen, wenn Sie mich unbedingt als ‚Mann mit der Kapuze’ erleben wollen.“ Die Antwort Grimms bestand in einem wenig freundlichen Grunzen. „Stecken Sie mal Ihre Knarre in die Tasche und kommen Sie mit“, sagte er dann. „Wohin?“ „In die Kabine nebenan.“ „Ist’s dazu nicht zu früh? Wenn der liebe Johnny noch schläft?“ „Keine Angst! Ich habe ihn gerade im Frühstückszimmer mit Shandon gesehen.“ 68
Grimm ging voran. Die Tür der nebenanliegenden Kabine war aber abgeschlossen, weshalb Milton murmelte: „Immerhin ist er mißtrauisch, der gute Junge. Genau so, als ob er Dreck am Stecken hatte.“ „Ich hab’ schon einen Duplikatschlüssel vom Kapitän bekommen“, sagte der Kriminalist und schloß auf. In der Kabine angelangt, schloß er von innen zu und erklärte: „Nur damit unser Liebling keinen Schreck bekommt, wenn er seine Tür offen findet; sonst könnte er uns scheu werden. Wenn er uns in der Kabine antrifft, soll’s mir gleich sein, der Rückzug wird ihm nicht leicht gelingen. Fangen wir jetzt an!“ Sie begannen die Kabine genau zu durchsuchen, und hatten auch nach wenigen Augenblicken zwei der gesuchten Gegenstände gefunden: die durchlöcherte Hose und eine Schachtel mit Explosivgeschossen; die Pistole mußte Johnny in der Tasche haben. „Wo ist aber bloß der Schmuck?“ fragte Grimm. „Ich kann mir nicht vorstellen, daß er den ständig mit sich herumschleift. Ich fange an zu glauben, daß unser liebenswürdiger Kollege, der Mann mit der Kapuze, uns zuvorgekommen ist, und das Collier schon für sich selbst gefischt hat. Wir haben doch alles abgesucht! Was meinen Sie, Milton? Machen Sie doch mal einen vernünftigen Vorschlag!“ Milton schaute sich schweigend um, bevor er antwortete. Wenn die Kote Schlange das Halsband hier gesehen hatte, warum sagte sie dann nicht, wo? Da aber durchfuhr ihn der Gedanke an den sonderbaren Zettel. Das Bullauge! Er hätte früher draufkommen können! Natürlich hatte sie in der Eile das Versteck nicht angegeben, und ihm deswegen den zweiten Zettel zugesteckt. „Was ist denn das?“ rief er nun, und zeigte auf das Bullauge der Kabine. Grimm folgte der Richtung seines Fingers. 69
„Eine Schnur“, rief er. In der Tat, da hing eine dünne Schnur, besser ein Faden, den man gerade noch sehen konnte. „Sie glauben doch nicht … ?“ Aber der Inspektor hörte nicht auf ihn. Mit einem Satz war er am Bullauge, schraubte es auf und klappte die Scheibe nach innen. Dann zog er an der Schnur. Am andern Ende erschien ein Netzbeutel mit einem zweifarbigen Badeanzug – von verdächtigem Gewicht! Er nahm das Badetrikot aus dem Beutel; darin eingewickelt fand er ein kleines Paket. Er brauchte es nur an einer Ecke anzureißen, um jeder weiteren Suche enthoben zu sein: in seinen Händen hielt er das Diamantenhalsband der Mrs. Clarkson!!! „Sieh mal einer an!!!“ rief er, „schau, schau! Ein Beutel mit Badezeug hängt zum Trocknen auf dem Balkon!!! Nicht schlecht, die Idee! Kein Mensch denkt sich was dabei! Ei, ei, ei … jetzt möchte ich nur noch …“ Seiner wortreichen Verwunderung über das genial ausgedachte Versteck vermochte er keinen weiteren Ausdruck mehr zu verleihen, denn soeben hörte man Schritte auf dem Gang. Vor der Tür kamen sie zum Stehen. Ein Schlüssel drehte sich im Schloß. Blitzschnell stellte sich Milton mit einem Sprung neben der Tür an die Wand. Die Tür öffnete sich und Johnny Seldon betrat die Kabine. Als er den Inspektor sah, erriet er sofort, daß er entdeckt war. Mit erstaunlicher Besonnenheit stieß er ruhig die Tür hinter sich mit dem Fuße zu. „Wollen Sie mir erklären, was Sie hier zu suchen haben, Grimm?“ Gleichzeitig hatte er seine Pistole mit solcher Geschwindigkeit in Anschlag gebracht, daß Grimm ihm nicht mehr zuvorkommen konnte. „Ich habe nur einige Erinnerungsstücke gesammelt“, antwortete der Kriminalist mit Seelenruhe; „hübsche Erinnerungsstü70
cke an Ihre buntbewegte Laufbahn als erfolgreicher Verbrecher, lieber Johnny! Haben Sie irgendetwas zu sagen, bevor ich Ihnen die Handschellen anlege?“ „Mir Handschellen anlegen?“ lachte der elegante Johnny, der freilich die Anwesenheit Miltons noch nicht bemerkt hatte. „Ich glaube, Sie überschätzen Ihre Lage ein wenig, Inspektor! Sie erinnern sich doch noch an die Wunde in Leadings Brust, oder nicht … ?“ „Doch, doch“, nickte der Inspektor, „ich kann mich des unerfreulichen Anblicks noch recht gut entsinnen.“ „Sie werden gleich noch viel häßlichere Erfahrungen machen, wenn Sie nicht mit mir verhandeln wollen … diese Pistole ist nämlich mit acht wunderschönen Explosivkügelchen geladen … das gibt so prächtige Löcher in dicke Köpfe … !“ „Sie geben also zu, Leading und auch Rothing erschossen zu haben?“ war die schnelle Gegenfrage Oliver Grimms. „Aber sicher! Von meinem Geständnis werden Sie ohnehin keinen Gebrauch machen können – wenn Sie nicht vorziehen, schleunigst zu vergessen, was Sie hier gesehen haben.“ „Was habe ich denn davon, wenn ich es vergesse?“ „Das Leben ist einmalig und kostbar, lieber Grimm; Sie sollten es nicht leichtfertig wegwerfen. Aber Sie sollen auch ein paar schöne Diamanten zum Andenken an Ihren dankbaren Johnny kriegen! Na, wie ist’s?“ „Darauf ließe sich vielerlei antworten. Zunächst aber einen selbstlosen Rat eines älteren Freundes: wenn Sie das nächste Mal in ein Zimmer kommen, schauen Sie lieber erst hinter die Tür, bevor Sie Ihr Liedchen singen!!“ „Diese Pistole nämlich …“ sagte eine drohende Stimme an Johnny’s Ohr, und ein kühles Eisen an seinem Nacken jagte ihm einen Schauer übers Rückgrat, „diese Pistole ist nicht mit Explosivgeschossen geladen. Aber das macht fast gar nichts, wenn ich jetzt losdrücke, dann ist der Effekt fast genau der gleiche!“ 71
Die Überraschung traf den Mann wie ein Schlag. Er wurde blaß und begann zu taumeln. „Lassen Sie Ihre Pistole los!“ befahl der Inspektor. Johnny’s Finger öffneten sich, die Pistole fiel zu Boden. Die Beine versagten ihm, und er fiel hin. Ebenso unerwartet war er aber auch wieder auf den Beinen, und hatte die Pistole in der Hand. Er feuerte sofort. Der Trick der gespielten Schwächeanwandlung hatte ihn richtig der Drohung Miltons entzogen. Es gelang ihm, die beiden Männer so zu verwirren, daß er sich wieder zum Herrn der Situation machen konnte. Milton hörte die Kugel dicht an seinem Ohr vorbeifliegen und in der Wand zerkrachen. Er warf sich zu Boden. Im nächsten Augenblick hatte Seldon die Kabinentür hinter sich zugeschlagen und von draußen verschlossen. „Jetzt sprenge ich das Schiff in die Luft“, schrie er höhnisch. „Mit Johnny Seldon werdet ihr nicht so leicht fertig, ihr nicht!“ Inspektor Grimm und Milton Drake donnerten gemeinsam gegen die Tür, aber ihre Bemühungen führten zu keinem Erfolg. „Meinen Sie, daß der Kerl Ernst macht?“ fragte der Inspektor zweifelnd. „Das Schiff in die Luft sprengt?“ meinte Milton. „Woher will er denn soviel Sprengstoff nehmen?“ Der Inspektor rieb sich unbehaglich das Kinn. „Man kann Schiffe auch auf andere Art und Weise in die Luft jagen – mein Lieber – auch ohne Sprengstoff. Beispielsweise mit Dampf!“ „Na, das sind ja schöne Aussichten! Aber Freund Seldon fliegt dann schließlich mit.“ „Vorausgesetzt, daß er sich nicht vorher ein Boot zu Wasser läßt und – – ach, du liebe Güte! Sie haben sich ja das Diamantenhalsband wieder fortnehmen lassen!“ stellte der Inspektor erschrocken fest. Milton nickte betrübt. „Ich dachte, es sei besser, keine Dia72
manten und einen heilen Schädel zu haben – als umgekehrt. Sehen Sie nur das Loch, das das Explosivgeschoß in die Wand gerissen hat!“ „Beachtlich“, gab Grimm zu. Er grinste in seiner humorvollen Art. „Wollen wir mal wieder trommeln? Vielleicht hört uns doch jemand …“ Die beiden Männer trommelten aus Leibeskräften an der Kabinentür, und diesmal hatten sie Glück. Ein Matrose erschien und ließ die Gefangenen heraus. „Wo ist der Kapitän?“ brüllte der Inspektor. „Es müssen sofort Sicherheitsmaßnahmen ergriffen werden. Johnny Seldon will das Schiff in die Luft sprengen. Er hat es jedenfalls angedroht, Und der Kerl ist bewaffnet – also, Vorsicht!“ Als der Matrose noch nach Luft rang und die Antwort zu lange auf sich warten ließ, versetzte ihm der Inspektor einen ungeduldigen Stoß und lief den Kajütengang entlang. Der Kapitän kam gerade aus seiner Kabine und machte Miene, vor dem aufgeregten Polizeimenschen davonzulaufen. „He, – Kapitän, – zum Teufel, bleiben Sie doch stehen.“ „Was ist denn los?“ brummte der Seebär. „Wieder jemand erschossen? Ich muß Ihnen sagen, Inspektor – dieses Schiff war bisher ein ruhiges, ein friedliches Schiff. Aber seit die Polizei an Bord ist – –“ „Erzählen Sie’s Ihrer Großmutter“, schnappte der Inspektor. „Johnny Seldon ist der Mann, den wir suchten – der Mörder, verstehen Sie?“ „Nein“, sagte der Kapitän. Milton Drake schaltete sich ein. „Seldon hat Leading und Rothing erschossen. Er ist der Dieb des Diamantencolliers. Und er entwischte uns eben, nachdem er ein Explosivgeschoß auf mich abgefeuert hatte.“ „Sie sehen aber noch ganz gesund aus“, meinte der Kapitän und blickte Milton aufmerksam an. 73
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Inspektor Grimm war fast am Explodieren. Sein Sicherheitsventil zischte schon. „Herrr …“, fauchte er. „Uns kann es ja gleichgültig sein, was aus Ihrem dreckigen Kasten, diesem Schiff, wird. Aber es sind Passagiere darauf. Und für diese – –“ „Wie haben Sie mein Schiff genannt?“ „Für diese“, fuhr Grimm mit erhobener Stimme fort, „tragen auch wir die Verantwortung. Jeden Augenblick –“ „Dreckiger Kasten?“ wiederholte der Kapitän finster. „Sagten Sie ‚Dreckiger Kasten’?“ Der Inspektor kapitulierte. „Dieses schöne, saubere, stolze Luxusschiff“, sagte er mit ansteigendem Crescendo, „diese funkelnagelneue, blitzende Perle, dieses Juwel der Schifffahrt –“, er holte tief Luft, „– wird vielleicht schon in der nächsten Minute von einem wahnsinnigen Mörder in die Luft gesprengt!“ „Von Johnny Seldon?“ erkundigte sich der Kapitän, ohne im mindesten die Ruhe zu verlieren. „Von ihm – ja, zum Henker!“ Der Kapitän schüttelte verwundert den Kopf. „Das wundert mich aber sehr“, sagte er trocken. „Denn Johnny Seldon sitzt seit dreißig Minuten auf dem Achterschiff und singt Seemannslieder …“ „Und wo“, fragte der Inspektor rasch, „wo befindet sich die Waffenkammer?“ „Auf dem Achterschiff“, erklärte der Kapitän verwundert. Inspektor Grimm räusperte sich. „Dann ist mir alles klar – und Sie brauchen sich nicht zu wundern, wenn Sie Seldon nicht mehr singen, sondern ‚Attacke’ blasen hören!“
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Zehntes Kapitel JOHNNY WILL SICH RÄCHEN Mister Clarkson war gerade im Begriff, seiner Gattin zum soundsovielten Male zu erklären, daß ein so intelligenter und tüchtiger Mann wie der Inspektor zweifellos besondere Befähigung für seinen Beruf besitze und auch das Diamantencollier wiederbringen werde. Er wollte sich noch über moderne Ermittlungsmethoden der Kriminalistik im allgemeinen und über die Erfolge der Polizeiabteilung von Baltimore im besonderen auslassen, kam aber nicht dazu. Die Tür flog auf und Johnny Seldon wirbelte herein. Er schloß die Kabinentür keuchend hinter sich, lehnte sich wie gehetzt gegen die Füllung und blickte sich in der Kabine um. „Ist er hier?“ fragte er. „Hat er sich hier versteckt?“ „Wer denn?“ fragte Clarkson zurückhaltend. „Ich muß schon sagen, junger Mann, daß mir Ihre Art, so einfach hier hereinzuplatzen, nicht besonders –“ „Den Verrückten, meine ich!“ sagte Johnny mit Grabesstimme. „Er ist also nicht hier?“ „Welcher Verrückte denn, um Himmels willen?“ fragte die ängstliche Mrs. Clarkson. Johnny Seldon blickte wie verblüfft von einem zum anderen. „Ja – hat man Ihnen denn noch nichts davon erzählt?“ sagte er wie verdutzt? „Wissen Sie gar nicht, was sich vor kurzem an Bord dieses verhexten Schiffes zugetragen hat?“ „Wir – wir hörten Schüsse fallen“, stotterte Clarkson. „Aber die Seekrankheit meldete sich heute wieder, und daher haben wir noch keinen Schritt auf Deck gesetzt.“ „Ich sterbe vor Angst, wenn es wirklich ein Verrückter ist“, seufzte Mrs. Clarkson. Johnny dämpfte geheimnisvoll seine Stimme. „Wissen Sie, 76
wer die beiden Morde verübt hat? Wer Ihr Diamantenhalsband stahl, Mrs. Clarkson? – Kein anderer als dieser sogenannte Inspektor Grimm!“ „Der Inspektor? Aber das ist doch unmöglich …“ widersprach der Millionär. „Nichts ist unmöglich – und Grimm ist überhaupt kein Inspektor. Er ist ein aus dem Irrenhaus von, Baltimore entsprungener Mörder und rast jetzt durch das ganze Schiff, um die Diamantenkette wiederzubekommen, die ich ihm abgenommen habe. Der Kerl ist darum so gefährlich, weil jeder ihn auf den ersten Augenschein hin für normal halten muß. Niemand außer mir weiß bisher, daß Grimm der Mörder ist – und er lauert jetzt überall, um mich zu fassen. Er will mich umbringen, noch ehe ich irgendjemanden meinen Verdacht mitteilen kann.“ „Um Himmels willen“, stöhnte Clarkson. „Ist das wahr?“ Seldon griff in die Tasche und zog die Diamantenkette hervor. „Genügt dies vielleicht als Beweis? Ich hatte Grimm schon lange im Verdacht. Vorhin konnte ich ihm auflauern, gerade als er die Kette aus seinem Versteck geholt hatte und mit irrem Kichern betrachtete. Ich entriß ihm die Juwelen und wollte ihn niederschlagen. Doch diese Wahnsinnigen können furchtbare Kräfte entwickeln.“ Clarkson nahm die Kette zitternd entgegen. „Was sollen wir denn tun? Man müßte dem Kapitän Bescheid geben –“ „Jetzt noch nicht“, widersprach Seldon ängstlich. „Überall schleicht dieser wahnsinnige Mörder herum. Er darf nicht wissen, daß Sie die Kette wiederhaben, Clarkson – es wäre Ihr Tod. Und wenn er mich irgendwo auf diesem Schiff trifft, ehe ich die Schiffsbesatzung alarmieren kann, bin ich ebenfalls erledigt …“ „Wie schrecklich“, hauchte Mrs. Clarkson und schickte sich an, in Ohnmacht zu fallen. Da sie in diesem Augenblick aber die schweren Schritte ei77
nes offenbar wütenden Mannes auf dem Kabinenfang und dann ein hartes Pochen an der Tür hörte, beschloß sie, die Ohnmacht zu verzögern, Sie wollte doch erst sehen, wer weiter kam. „Aufmachen, sofort aufmachen“, scholl die grimmige Stimme des Inspektors von draußen herein. „Hier ist Inspektor Grimm – Mister Clarkson, machen Sie rasch auf!“ „Er ist’s – der Wahnsinnige“, seufzte Frau Clarkson und schielte auf Johnny Seldon, um abzuschätzen, ob er nahe genug war, sie aufzufangen, wenn sie jetzt in Ohnmacht fiel. Johnny aber hatte andere Sorgen. Er wisperte Clarkson zu, er solle öffnen und völlig unbefangen tun. Nur völlige Unbefangenheit könne jetzt noch das Leben retten. Dann kroch er unter das Bett und kauerte sich so zusammen, daß er nur bei genauer Durchsuchung der Kabine gefunden werden konnte. Clarkson öffnete und fuhr zurück. Der Mann, der jetzt, mit wutrotem Gesicht, funkelnden Augen und geschwollenen Schläfenadern hereinstürmte, sah wirklich einem Verrückten nicht unähnlich. Inspektor Grimm war am Ende seiner Geduld. Die Begriffsstutzigkeit des Kapitäns und die Langsamkeit, mit der die Suche nach Seldon endlich aufgenommen wurde, erbosten ihn ebenso wie die Mitteilung, daß jemand die Waffenkammer aufgebrochen und alle Munition entwendet hatte. Wenn dieser Jemand – nämlich Seldon – diese Munition nun etwa unter die Kohlen im Schiffsbunker mischte, so gab das im Heizraum eine ansehnliche Knallerei. Wenn aber die drei Dynamitstangen, die fehlten, ebenfalls unter die Kohlen gemogelt wurden, gab es nicht nur eine Knallerei, sondern eine Himmelfahrt. „Dies ist die einzige Kabine, die ich noch nicht durchsucht habe“, schrie der Inspektor. „Er muß also hier sein!“ Einerseits hatte Clarkson einmal irgendwo gelesen, daß man Verrückten niemals widersprechen durfte. Anderseits aber wollte er diesen unglücklichen Johnny Seldon nicht an den 78
Wahnsinnigen ausliefern. Er entschied sich daher, eine diplomatische Gegenfrage zu stellen: „Wen suchen Sie denn?“ fragte er unschuldig. „Johnny Seldon – den Mann, der sich rächen will. Er will … nun, das geht Sie vorläufig nichts an. Jedenfalls ist der Kerl nicht ganz normal.“ „So jung – und schon verrückt“, sagte Clarkson, dem nichts Besseres einfiel. „Das ist die letzte Kabine, die Sie durchsuchen?“ „Die letzte.“ „Dann“, seufzte Clarkson, „müssen Sie eben noch einmal von vorn beginnen, Inspektor. Denn hier befindet sich der Mann, den Sie suchen, auch nicht.“ „Bestimmt nicht?“ fauchte Grimm. „Ich dachte, er würde vielleicht zu Ihnen kommen, um irgendein Märchen zu erzählen.“ Clarkson lächelte gezwungen. „Ich kenne meine Märchenerzähler“, sagte er doppelsinnig. „Verrückte können eine unheimliche Schlauheit entwickeln, nicht wahr, Inspektor? Und sie halten meistens andere, völlig normale Menschen für verrückt?“ Der Inspektor blickte den Millionär scharf an, räusperte sich kurz und wendete sich auf dem Absatz um. In der Tür drehte er sich noch einmal um. „Schließen Sie Ihre Kabinentür sorgfältig ab“, befahl er. „Nur wenn die Sirene dreimal ertönt, begeben Sie sich sofort auf Deck. Dann besteht nämlich Gefahr für das Schiff …“ Auf dem ganzen weiteren Rundgang durch das Schiff überlegte Inspektor Grimm, warum Frau Clarkson während ihrer Unterhaltung so krampfhaft die Hand auf dem Rücken gehalten hatte. Daß die würdige Dame das so heftig gesuchte Diamantencollier in dieser Hand hielt und ausgerechnet vor ihm, Inspektor Grimm, verbarg, hätte sich der Vertreter von Recht und Ordnung natürlich nicht im Traume einfallen lassen … Eines stand fest: Johnny Seldon war trotz eingehendster Un79
tersuchung des gesamten Schiffes spurlos verschwunden! Ein zweifacher, skrupelloser Mörder lauerte irgendwo im Ungewissen und wartete den Zeitpunkt ab, wo er sich rächen konnte. Der Tod fuhr an Bord der ‚Caribbean Queen’ … Am Spätnachmittag fand eine ernste Besprechung der Lage statt. Der Kapitän hatte seine Deckoffiziere versammelt. Inspektor Grimm und Milton Drake, als diejenigen, welche Johnny Seldon offiziell entlarvt hatten – von der Roten Schlange war nicht die Rede – wohnten der Unterredung bei. „Es besteht kein Zweifel“, sagte der Kapitän, der nun ernstlich beunruhigt war, „daß Johnny verschiedene Möglichkeiten hat, Sabotage zu üben, zum Beispiel Brandstiftung, sprengen, die Schottventile öffnen – und so weiter. Aber es wäre gelacht, wenn wir einen einzelnen Mann, der noch dazu jedem Besatzungsmitglied bekannt ist, nicht fangen könnten.“ „Es i s t gelacht“, bemerkte der Inspektor. „Denn bisher haben wir ihn ja nicht finden können, nicht wahr? In unseren Händen befinden sich eine Menge Waffen – leider keine Munition. Die einzigen, die wirklich gegen Seldon vorgehen können, sind mein Freund Milton Drake, Sie und Ihr Steuermann, Kapitän, und meine bescheidene Wenigkeit – vier Revolver gegen einen verrückten Mörder, der ein wandelndes Waffenarsenal ist.“ „Wobei“, meinte Milton, „noch nicht sicher ist, daß er wirklich verrückt ist.“ Er dachte an eine fünfte Persönlichkeit, die ebenfalls einen Revolver hatte, hütete sich aber, davon zu sprechen. „Auf alle Fälle müssen wir eine Panik unter den Passagieren vermeiden. Ich schlage daher vor, daß der Kapitän diesen geheimnisvollen ‚Kabinenarrest’ sofort aufhebt. Die Leute ängstigen sich ja zu Tode. Niemand weiß, warum er seine Kabine nicht verlassen soll.“ „Vielleicht“, brummte der Kapitän, „sagen wir, die Masern waren ausgebrochen? Oder der Keuchhusten? Oder – –“ „Nichts von allem“, wehrte der Inspektor ab. „Mister Drake 80
hat recht. Wir kriegen die schönste Panik an Bord, wenn das so weiter geht. Können Sie nicht ein Fest starten, Kapitän?“ „Während jeden Augenblick“, fuhr dieser wütend hoch, „in jeder Ecke irgendjemand abgemurkst wird, sollen wir auch noch Feste feiern?“ „Natürlich nur zum Schein – und um die Panik zu verhindern“, erklärte der Inspektor. „Wir müssen alle Passagiere unter Kontrolle haben, alle an einem Ort, wo wir sie besser beschützen können – und das ist nur im Rahmen eines Festes möglich. Inzwischen können wir das Schiff und sämtliche Kabinen nochmals gründlich durchsuchen. Vielleicht hat Seldon Komplizen, die ihn bei sich verstecken? Haben wir wirklich jede Kabine ganz genau untersucht?“ „Nein, – das haben wir mit Rücksicht auf die Passagiere natürlich nicht so gründlich getan, wie es eine gewisse Polizei manchmal für richtig hält“, sagte der Kapitän boshaft. „Aber, immerhin, – Seldon muß gefangen werden, ehe der Kerl noch weiteres Unheil anrichten kann. Ich werde die entsprechenden Anweisungen geben. Wie soll denn dieses, ha, Fest eigentlich heißen?“ „Die ‚Nacht der langen Messer’ –“, meinte der Inspektor, „wäre gewiß sehr passend und effektvoll. Aber ich bin für ruhige Titel.“ Milton Drake räusperte sich. „Wie wäre es mit ‚Bahama-Expreß’?“ schlug er vor. „Soviel ich weiß, erreichen wir heute die Inselgruppe von Bahama. Man könnte den Leuten ein Feuerwerk versprechen – nun, und wenn es wirklich knallt, dann ist der Schrecken nicht gar so groß. Wir sagen einfach, daß heute nacht auf einer der Inseln, die wir anlaufen, die Eingeborenen eines ihrer mysteriösen Kultfeste feiern, bei denen magische Feuer brennen. Die Schwammtaucher von Abaco sind meines Wissens Abkömmlinge der haitanischen Urneger – huldigen mithin dem Woodoo-Kult.“ Der Vorschlag wurde einstimmig angenommen. 81
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Elftes Kapitel GEFÄHRLICHE ZWISCHENFÄLLE Das Fest war in vollem Gange, als die letzten glutroten Strahlen der sterbenden Sonne über den Ozean huschten. Auf dem Promenadendeck brannten die bunten Lampions, Die Kapelle spielte ihre heiteren Weisen. Niemand hatte sich ausgeschlossen; denn die von Inspektor Grimm gut instruierten Deckoffiziere hatten das Blaue vom Himmel herunter geschwindelt, um auch dem zurückhaltendsten Passagier das Fest schmackhaft zu machen. Die tollsten Attraktionen und Überraschungen waren versprochen worden. Gleichzeitig aber standen an den Rettungsbooten grimmige Leute bereit, um im Augenblick der Gefahr rasch handeln zu können. Die Niedergänge waren von Matrosen bewacht, Heizraum und Kohlenbunker abgeriegelt, das Ruderhaus doppelt besetzt. Während der Tanz begann und sich die fröhlichen Menschen in den Sälen tummelten, ahnte niemand, daß eine Abteilung Matrosen Kabine für Kabine durchsuchte, daß das ganze Schiff Winkel für Winkel nach dem versteckten Mörder überprüft wurde. Milton Drake hatte die Aufgabe übernommen, die Vollzähligkeit der auf dem Fest erschienenen Passagiere zu überprüfen. Er fand, daß – mit Ausnahme der alten Mrs. Valvers, die seit Beginn der Reise seekrank war – nur drei Personen fehlten: Das Ehepaar Clarkson und deren Nichte Mavis Donovan! Die letzten Nachzügler hatten sich eben erst eingefunden. Eine so kleine Verspätung bedeutete an sich nichts Schlimmes. 82
Milton war aber doch beunruhigt und beschloß, nach dem Rechten zu sehen. Als er den Niedergang hinter sich hatte, fand er den Kabinenflur verlassen. Das Suchkommando befand sich noch in einem anderen Teil des Schiffes. Milton legte gerade die Hand auf den Türgriff, als er ein stählernes Klingen dicht neben seinem Ohr hörte. Ein harter Gegenstand klatschte gegen die Wand, riß etwas von dem Lack weg, so daß das blanke Stahlblech darunter zum Vorschein kam, und klirrte dann auf den Boden. Ein kleines Wurfmesser! Jemand hatte ein Wurfmesser auf ihn geworfen. Die Klinge war dicht neben seinem Ohr vom harten Stahl der Gangwand abgeprallt und zu Boden gefallen. Milton fuhr herum, riß den Revolver hervor und entsicherte … Der Kabinengang lag tot und verlassen. Nirgends war eine offene, oder nur angelehnte Tür. Aber hinter einer dieser Türen mußte Johnny Seldon stecken – der offenbar nach dem heimtückischen Angriff sofort den Rückzug angetreten hatte. Langsam, Schritt für Schritt, schlich sich Milton den Gang zurück. Der Finger am Abzugsbügel seiner Schußwaffe, prüfte er jede Tür. Bis er auf eine Tür stieß, die nicht verschlossen war – und diese Tür führte in die Kabine Mavis Donovans! Milton war überzeugt, daß Johnny Seldon sich in dieser Kabine versteckt hatte. Vielleicht hatte der Schurke das unglückliche Mädchen umgebracht? Dieser Gedanke peinigte Milton so sehr, daß er keine langen Überlegungen anstellte und die Tür einfach aufstieß. Dann stand er einen Augenblick erschrocken und beschämt. „Huch“, sagte eine helle, nette Stimme. „Ach, du bist es, Milton. Pfui – eine junge Dame beim Ankleiden zu überraschen!“ Milton stand sekundenlang, wie eine Pagode. Dann verdeckte er schamhaft seine Augen, und wendete sich ab. „Entschuldi83
ge, Mavis – ich fürchtete, ein Verbrecher wäre hier eingedrungen.“ Sie sah, daß er ganz rote Ohren hatte und lachte silberhell. „Du kannst dich ja schämen!“ rief sie fröhlich. „An dir macht man immer neue Entdeckungen. Nun also, du siehst, daß ich noch am Leben bin. Ich habe mich nur verspätet. Ehe ich fertig bin, vergeht mindestens eine halbe Stunde. Du kannst in der Bar auf mich warten, wenn du willst?“ „Gern“, sagte Milton. „Nur tu mir den Gefallen und riegele wenigstens die Tür ab. Ich warte also auf dich …“ Er überlegte kurz. „Nein – ich werde dich hier abholen. Versprich mir, daß du nicht allein deine Kabine verläßt?“ „Wegen des Verbrechers? Ich habe keine Angst“, lachte sie fröhlich. „Trotzdem wirst du abgeholt“, entschied Milton. Er verschwieg, daß er sich um die Clarksons immer stärkere Sorgen machte, winkte ihr noch zu und verließ die Kabine. Er wartete, bis er das Geräusch des vorgelegten Riegels hörte. Während er über den Gang schlich, hörte er das feine Zirpen der Morsezeichen aus der Funkkabine. Eine Tür, an der er rüttelte, war verschlossen. Er wendete sich um und wollte wieder zur Kabine der Clarksons gehen, als er einen leichten Tritt hinter sich hörte. Ehe er sich herumwerfen konnte, traf ihn ein wuchtiger Hieb auf den Hinterkopf und er stürzte zu Boden. Johnny Seldon holte mit mörderischem Grinsen zum zweiten, tödlichen Hieb aus, als von der Mitte des Ganges her ein Schuß knallte. Die Kugel zog eine blutige Schramme über die Kopfhaut Seldons. Der Mörder feuerte zurück. Als aber die unheimliche Erscheinung nicht getroffen schien, zielte er auf die beiden Lampen in dem Kabinengang … krachkrach … zwei rasche Schüsse ließen die elektrischen Birnen zerspringen und der Gang lag im Finstern. 84
Milton Drake lag nur kurze Zeit bewußtlos. Der Schlag hatte seinen Kopf nur seitlich getroffen. Er hatte eine gehörige Anschwellung, konnte aber klar denken, als er erwachte. Er blickte in die rätselhaften Augen der Roten Schlange –! Die geheimnisvolle Frau war wieder in dem scharlachroten, hochgeschlossenen Kleid und trug die übliche Maske. Sie hielt den Lichtkegel einer elektrischen Lampe auf ihn gerichtet. „Wie fühlst du dich, Milton?“ fragte ihre sanfte Stimme. Milton richtete sich vom Boden auf und schnitt ein Gesicht. „Etwas angeknickt – aber sonst ganz normal“, meinte er verdrießlich. „Wo ist der Bursche geblieben?“ „Keine Ahnung. Er zerschoß die Lampen und verschwand wie ein Gespenst – –“ Sie unterbrach sich. Vom Ende des Ganges her tönte eiliges Laufen und Keuchen. Das Suchkommando kam auf die Schüsse hin herbeigeeilt. Die Rote Schlange löschte die Lampe und drückte Miltons Hand. Dann glitt sie in der Finsternis davon, kurz, ehe die Lichtkegel der näherkommenden Sucher den Kabinengang erhellten. „Ich glaube, ich sehe Gespenster“, keuchte Inspektor Grimm. „Eben noch hätte ich darauf geschworen, daß die Rote Schlange hier gewesen ist – und nun liegt da Milton Drake und macht ein wenig geistreiches Gesicht. Was ist in Sie gefahren? Wer hat geschossen?“ Milton erklärte die Zusammenhänge, verschwieg aber, daß die Rote Schlange dagewesen war. Zusammen mit Inspektor Grimm suchte er zuerst die Kabine von Mavis Donovan auf. Nach einigem Klopfen öffnete Mavis. Sie war noch immer nicht angezogen und hatte einen Morgenrock übergeworfen. „Was ist denn los?“ fragte sie erschrocken. „Ich hörte Schüsse fallen und starb beinahe vor Angst.“ Inspektor Grimm blickte sie durchbohrend an. 85
„Haben Sie zufällig die Rote Schlange gesehen, Miss Donovan?“ fragte er kühl. „Aber nein, – ich denke, die Rote Schlange ist tot?“ erwiderte sie verdutzt. Der Inspektor ließ einen langgezogenen Seufzer hören. „Schön, – dann ist wieder eine meiner Theorien zu Wasser geworden“, meinte er. „Ich dachte nur … weil Sie und Milton … ich meine … ich, es ist Unsinn! Ich lasse Sie nachher abholen, Mavis! Gehen Sie, bitte, nicht allein über den Kabinengang.“ In der Kabine der Clarksons war alles still. Die Tür war verschlossen, aber der Schlüssel steckte nicht von innen, so daß der Kapitän seinen Paß-Schlüssel anwenden konnte. Man erwartete nicht, daß sich Johnny Seldon in dieser Kabine befinden würde, hielt Vorsicht aber für angebracht. Als das Licht angeknipst wurde, schrien die Eindringlinge überrascht auf. Clarkson und seine Frau saßen gefesselt und hilflos auf Stühlen. Knebel hinderten sie am Schreien. Sie brauchten lange Zeit, ehe sie ihren Atem so weit wiedergefunden hatten, daß sie schildern konnten, was ihnen zugestoßen war. „Das hat Seldon von mir behauptet – ich wäre verrückt?“ wiederholte Inspektor Grimm ungläubig. „Und Sie haben ihm das geglaubt?“ „Trösten Sie sich“, bemerkte der Kapitän trockenen Tones, „Als ich Sie das erste Mal sah, Inspektor, da – –“, er begegnete dem wütenden Blick Grimm’s und unterbrach sich. Der Inspektor rannte eine Weile mit einem wutverzerrten Gesicht auf und ab. „Nun rennen Sie nicht herum wie ein Amokläufer“, versetzte der Kapitän. „Tun Sie etwas, Inspektor. Sie sind doch schließlich von der Polizei – nicht wir.“ Aber auch dem Inspektor fiel weiter nichts ein, als das ganze Schiff nochmals durchsuchen zu lassen – eine Maßnahme, die leider nicht den gewünschten Erfolg brachte; denn Johnny Sel86
don, der sich einen schwarzen Schnurrbart angeklebt und eine Brille aufgesetzt hatte, tanzte um diese Zeit gerade mit einer bildhübschen New-Yorkerin in einem dunklen Winkel des Promenadendecks Tango … Als dann Milton Drake überraschend in seine Nähe kam, ließ der tollkühne Bursche seine Tänzerin schnöde im Stich und drängte sich rücksichtslos durch die erschrockenen Festteilnehmer. „Aufhalten“, rief Milton. Er wiederholte aber den Ruf nicht mehr, weil er sich überlegte, daß es keinen Sinn hatte, den im Gewühl versteckten Mörder zum Äußersten zu treiben. Seldon würde sich nicht scheuen, blindlings in die Menge zu feuern. Es dauerte eine gewisse Zeit, bis Milton Drake Inspektor Grimm davon verständigen konnte, daß sich der Gesuchte mitten unter den Festteilnehmern befand. Sofort wurde eine List ausgedacht: „Wir kommen jetzt zur großen Tombola“, rief der Kapitän über das Promenadendeck. „Bitte die Paare einzeln, – einzeln, bitte – den großen Saal betreten und die Lose ziehen!“ Unter Scherz und Gelächter leerte sich das Deck zusehends, während an den Saaltüren und Niedergängen grimmige Posten bereitstanden, um Seldon zu packen, sobald er in Sicht käme. Nur ein einziger Mann blieb nach diesem ‚Fischzug’ auf Deck zurück – Inspektor Grimm, der ein ziemlich dummes Gesicht machte, als er von zwei übereifrigen Matrosen gepackt wurde, die ihn mit Seldon verwechselten. Johnny Seldon saß um diese Zeit längst in einem sicheren Schlupfwinkel und dachte sich eine Überraschung für den Kapitän aus. Aber auch die Rote Schlange, mit der Milton Drake soeben einige Worte gewechselt hatte, ohne zu wissen, wen er wirklich vor sich hatte, hatte ihren Plan – einen Plan, mit dem sie den flüchtigen Mörder zu vernichten gedachte … 87
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Zwölftes Kapitel GEHEIMNISVOLLE WARNUNGEN „Man ist tatsächlich seines Lebens nicht mehr sicher“, klagte der Kapitän. „Sehen Sie sich das an, Inspektor! Dieses Messer flog plötzlich herein und auf meinen Tisch. Dabei hatte ich die Tür verschlossen …“ Inspektor Grimm warf einen Blick auf die Tür und auf das offenstehende Bullenauge der Kapitänskajüte, das auf das Deck hinausmündete. „Nun, Messerwerfer brauchen nicht unbedingt eine offene Tür – ein offenes Fenster, wie dieses hier, genügt auch, um ein so winziges Wurfmesser zu schleudern. Wenn ich daran denke, daß wir uns die ganze Nacht um die Ohren geschlagen haben, daß wir dieses blödsinnige Fest feierten und die Passagiere an der Nase herumführen mußten – ohne unseren Zweck zu erreichen, dann ., dann …“ „Dann?“ fragte Milton Drake von der halb offenen Tür her. „Dann könnte ich Ihnen den Hals umdrehen, Milton“, vollendete der Inspektor seinen Satz. Milton lachte. „Das besorgen Sie besser mit Johnny Seldon. Ich weiß nämlich, wo er sich versteckt hält.“ Die beiden Männer sprangen auf. „Wo?“ fragten sie gleichzeitig. „Lesen Sie selbst …“, reichte Milton ihnen einen kleinen Zettel, auf dem mit einer eigenwilligen Handschrift nur wenige Worte offenbar sehr eilig hingekritzelt waren. Inspektor Grimm las laut vor: 88
„Johnny Seldon ist im Schraubenschaft des Schiffes verborgen …“ „Der Schraubenschaft?“ schrie der Kapitän. „Alle Wetter – das wäre eine Möglichkeit. Da haben wir natürlich nicht nachgesehen. Das ist nämlich ein recht ungemütlicher Aufenthaltsort, den sich blinde Passagiere manchmal wählen. Die Leute legen sich flach unter die rotierende Schiffswelle in den Schraubenschaft. Bleiben sie mit einem Kleiderzipfel in der rasend sich drehenden Welle hängen – dann sind sie natürlich hinüber. Außerdem liegen sie die ganze Zeit über in ekligem Brackwasser.“ „Das sieht dem vornehmen Johnny so gar nicht ähnlich“, meinte der Inspektor mißtrauisch. Er blickte Milton düster an. „Warum haben Sie die Unterschrift abgerissen, Milton?“ Er hob die Stimme. „Wie war diese Warnung unterschrieben?“ Milton Drake gähnte verstohlen. „Man soll am frühen Morgen keine Gewissensfragen stellen“, sagte er verweisend. „Vor allen Dingen sollte man einen anständigen Menschen niemals zwingen, sich eine Unwahrheit auszudenken. Lassen Sie mir meine kleinen Geheimnisse, Inspektorchen.“ „Sagen Sie nicht ‚Inspektorchen’ zu mir“, schnaubte Grimm. „Und was den Schraubenschaft anbetrifft …“ P e n g ., ein leichter Knall und dumpfes Rollen über den Boden. Der Inspektor unterbrach sich mitten im Wort und sprang entsetzt in die Höhe, als die kleine Stahlkugel beinahe seinen Fuß berührte. Es war aber keine Höllenmaschine – nur eine Stahlkugel, die mit einem Zettel umwickelt war. Wieder las der verdutzte Inspektor ab, nachdem er vergeblich auf Deck nach dem Kugelwerfer Ausschau gehalten hatte. Nur Mavis Donovan saß in der Nahe in einem Deckstuhl und las in einem Buch. „Das ist doch die Höhe“, sagte der Inspektor und las die Mitteilung vor: „Johnny Seldon hat die Warnung Nr. 1 selbst geschrieben. 89
Will Ihre Aufmerksamkeit auf das Schiffsinnere ablenken. Plant offenbar, sich der Kommandobrücke zu bemächtigen und Schiff in die Klippen zu jagen.“ Der Inspektor blickte auf und starrte. Milton verwundert an. Der Kapitän schüttelte nur den Kopf. „Warum“, fragte Milton, der es sich nicht verkneifen konnte, „warum haben Sie die Unterschrift abgerissen, Inspektor?“ Inspektor Grimm zeigte unfreundlich die Zähne. „Damit Sie mich danach fragen können, Sie langweiliger Millionär … Sie wissen ganz gut, daß der Zettel keine Unterschrift hatte.“ Milton prüfte den Zettel und erkannte, kaum sichtbar, die winzige Schlangenlinie – das Zeichen der Roten Schlange. Aber er hütete sich, den Inspektor auf seinen Irrtum aufmerksam zu machen. „Fassen wir also zusammen“, erklärte Milton. „Seldon ist im Schraubenschaft – und er ist nicht im Schraubenschaft. Aber die Kommandobrücke ist in Gefahr.“ „Ich werde sofort die entsprechenden Befehle geben“, brummte der Kapitän. Er eilte aus der Kajüte, und die beiden Männer folgten ihm. Ehe der Kapitän die Freiwache alarmieren lassen konnte, gab es im Heizraum eine kleine Explosion, die vorübergehend die Schiffsmaschinen stilllegte. Es war ein klarer Akt von Sabotage, hinter der nur Seldon stecken konnte. Nach einigem Durcheinander stellte es sich heraus, daß unter den verfeuerten Kohlen ein kleinerer Sprengkörper gewesen war, der jedoch keinen wesentlichen Schaden angerichtet hatte. Der Maschinist hatte auf Befehl des Leitenden Ingenieurs die Maschine nur angehalten, um sicher zu gehen. Der Zwischenfall hatte jedoch genügt, um das Deck eine Weile von Leuten zu säubern. In der Zwischenzeit versuchte Johnny Seldon wirklich den Angriff auf die Kommandobrücke. Milton Drake hörte die Schüsse und erreichte als erster das 90
Deck. Er sah den Gangster über das Deck fliehen – eine dämonische Gestalt in Rot ihm auf den Fersen. Die Rote Schlange hatte Seldon, noch ehe er die Treppe des Ruderhauses erreicht hatte, mit einem Hagel von Revolverkugeln überschüttet und zurückgetrieben. Auch Milton mußte vor den Kugeln der Roten Schlange Deckung nehmen, da er sich in der Feuerlinie befand. Dann versuchte er, Seldon aufzuhalten, der an ihm vorbeikeuchte und im Niedergang verschwinden wollte. Seldon erkannte die Gefahr und versetzte Milton einen blitzschnellen Kinnhaken, der den Millionär vorübergehend ins Traumland warf. Als ei wieder hochtaumelte, sah er Inspektor Grimm über Deck rennen. „Er ist uns wieder entwischt – zum Kuckuck“, fluchte Grimm. „Und die ‚Dame in Rot’ ebenfalls.“ „Welche Dame in Rot?“ stellte sich Milton dumm. „Ach, fragen Sie nicht – die Leute auf der Kommandobrücke haben sie deutlich gesehen. Ich …“, der Inspektor unterbrach sich. Sein Auge wurde starr. Er sah ein schlankes Bein, das hinter einem Ventilator hervorschaute. „Da ist sie ja!“ schrie er triumphierend. Milton schrak tödlich zusammen, Sollte die Rote Schlange bei dem Feuerkampf mit Seldon verwundet worden sein? Er begleitete den Inspektor zu dem Ventilator – und staunte dann ebenso wie der wackere Polizeimann. Hinter dem Ventilator lag mit bleichem Gesicht – Mavis Donovan. Sie mußte irgendwie gerade dazwischen gekommen sein, als die Knallerei begann – und war prompt in Ohnmacht gefallen. Eine kühle Stirnkompresse brachte sie wieder zu sich. Mavis richtete ihre wunderschönen blaugrauen Augen in die Miltons. „Ich … ich fürchtete … der Verbrecher habe dich erschossen, als ich dich stürzen sah, Milton … da wurde ich ohnmächtig …“ Sie raffte ihre große Handtasche, Buch und Sonnenbrille 91
vom Deck auf und lächelte Inspektor Grimm müde zu. „Es wird Zeit, daß Sie diesen schrecklichen Verbrecher endlich unschädlich machen, Inspektor. Stellen Sie sich vor, der Mensch hätte tatsächlich die Kommandobrücke erobern und auch nur für fünf Minuten neuen Kurs steuern können …“ Ihre ausgestreckte Hand wies auf das Meer hinaus und die Männer verstanden sofort, was sie meinte. – Eine winzige Kursänderung hatte das Schiff in die Korallenkette des YanamiAtolls, deren äußersten Zipfel man gerade umsteuerte getrieben. Der auf die Katastrophe vorbereitete Johnny Seldon hätte sich vielleicht retten können – aber viele der Passagiere, die nicht schwimmen konnten, wären bei dem unvermeidlichen Schiffbruch zu Tode gekommen. Den Kapitän erwartete bereits eine neue Nervenprobe. Der Schiffsfunker schickte ihm einen Roten mit einer Depesche, die soeben von der Leitfunkstelle Miami aufgefangen worden war. Inspektor Grimm setzte sich erst einmal, um diese neue Hiobsbotschaft zu verdauen. Milton Drake zog es vor, einen Kognak zu trinken. Mit tremulierender Stimme las der Kapitän vor: „An Caribbean Queen von Leitfunk-Miami … Dringend … dringend … Polizeifunk Baltimore meldet Verhaftung eines gewissen Velasquez, STOP Komplize Johnny Seldons gesteht Höllenmaschine auf ihrem Schiff angebracht zu haben STOP Seldon soll Zündung betätigen und weiß nicht, daß Schiff sofort in die Luft fliegt STOP Glaubt an Zeitzünder STOP Steuern Sie sofort nächstes Festland an und gehen Sie mit allen Passagieren von Bord STOP Sprengung soll heute nachmittag siebzehn Uhr fünf Minuten ausgelöst werden STOP Vermittelt durch XQHLeitfunk Polizeidirektion Baltimore.“ Nach Verlesung dieses wahrhaft niederschmetternden Funkspruches herrschte eine Weile beklommenes Schweigen. Dann räusperte sich der Kapitän und warf einen Blick auf die Karte. 92
„Das nächste Festland, beziehungsweise die nächste größere Insel, ist Bahama“, stellte er fest. „Wenn wir tüchtig Dampf aufmachen, sind wir vor sechzehn Uhr im Hafen.“ Inspektor Grimm rieb sich gedankenvoll die Nase. „Bahama ist britisch“, meinte er. „Mithin für uns und, vielleicht auch für Freund Seldon, Ausland. Das wäre der geeignete Ort für ihn, auf Nimmerwiedersehen unterzutauchen.“ „Sie halten die Depesche für eine Finte?“ erkundigte sich Milton. Der Kapitän wehrte diesen Gedanken sofort ab. „Auf meinen Funker ist Verlaß, meine Herren. Sie müssen sich schon etwas Besseres ausknobeln. Ich bin jedenfalls für das Leben der Passagiere und aller Leute, die sich auf diesem Schiff befinden, verantwortlich. Kann es mir daher nicht erlauben, Theorien zu bilden.“ „Wer“, so kombinierte der Inspektor unbehaglich, „wer sollte ein Interesse daran haben, ausgerechnet auf der ‚Caribbean Queen’ eine Höllenmaschine unterzubringen? Und warum? Und wieso sagt man Seldon, dem armen Attentäter, nicht, daß das Ding keinen Zeitzünder hat, sondern gleich in die Luft geht … ?“ „Um einen unbequemen Mitwisser aus dem Wege zu räumen“, riet Milton. „Es hat schon Leute gegeben, die vierstöckige Wohnhäuser in Brand steckten und Dutzende von Menschenleben auf ihr Gewissen luden, nur, um die Feuerversicherungs-Prämie einzukassieren.“ „Mit Ihrer Phantasie“, brummte Grimm, „gehören Sie glatt verhaftet, Milton. Ich will mir jedenfalls die Funkbude mal ansehen. Kommen Sie mit?“ „Vorausgesetzt, daß Sie meine Phantasie wieder rehabilitieren und die Verhaftung rückgängig machen – gern“, schmunzelte Milton. „Als ‚Kapuzenmann außer Dienst’ kann ich Ihnen vielleicht wertvolle Tips aufgrund meines verbrecherischen Vorlebens geben.“ 93
„Danke – ich bin ein Mann der Praxis. Mit Millionären streite ich prinzipiell erst dann, wenn ich genügend Beweismaterial in der Hand habe. Besonders, wenn besagte Millionäre eine Vorliebe für Schlangen haben – für rote Schlangen“, setzte er bedeutungsvoll hinzu. Milton lachte. „Verschwenden Sie Ihren Geist nicht unnötig, Inspektorchen. Sie müssen vielleicht heute noch irgendein Problem lösen – und dann reicht’s nicht mehr, mit dem Grips, meine ich.“ Sie betreten zusammen die Funk-Kabine und sahen sich in dem engen Raum um. Überall an den Wänden standen Batterien aufgestapelt, Transformatoren summten in ihren Gehäusen, Kabel führten von einem Kasten zum anderen. Inspektor Grimm, der einiges von diesen Dingen verstand, machte Milton auf die verschiedenen Geräte aufmerksam. Da war der Peilsender mit dem Peilempfänger – ein nur auf die Wellenlänge der internationalen Peilstationen geeichtes Spezialgerät mit einer schwenkbaren Antenne – einem Peilrahmen – der sich allerdings außerhalb der Funkkabine auf freiem Dach befand und durch eine kreisförmige Öffnung in der Decke dirigiert wurde. Mit diesem wunderbaren Gerät ließ sich überall auf den Weltmeeren, wo Funkempfang möglich war, binnen kürzester Frist die genaue Position des Schiffes feststellen. Das eigentliche Funkgerät war bedeutend größer und arbeitete mit einer anderen Frequenz. Hier mußte der Funker – ein magerer, kleiner Mann, der eine spitze Nase und ängstliche Augen hatte – schon lange suchen, ehe er die richtige Gegenstelle unter den vielen zirpenden Morsegeräuschen heraushören konnte. „Etwas Neues?“ fragte der Inspektor. Der Funker blickte ihn scheu an, feuchtete mit der Zunge die trockenen Lippen und schüttelte den Kopf. „Wovor haben Sie Angst?“ fragte Grimm geradezu und der Mann zuckte zusammen. 94
„Angst? Ich?“ stotterte der Funker. „Nun – Sie verstehen, – es ist wegen der Höllenmaschine – –“ „Ach – dieser sogenannte Funkspruch?“, tat Grimm uninteressiert. „Das ist natürlich nur ein Trick dieses verdammten Seldon gewesen. Da machen Sie sich nur keine Sorgen.“ Auch Milton blickte den Funker scharf an und wunderte sich innerlich. Die Angst des Mannes nahm zusehends zu. Er schien an allen Gliedern zu zittern. „Ich bin ein verheirateter Mann“, klagte er. „Habe Frau und Kinder . . da ist man etwas … nervös …“ Inspektor Grimm lachte herzlos. „Na, und wenn schon, – Hauptsache, Sie sind wieder normal, wenn wir die Depesche über die Verhaftung Seldons durchzugeben haben. Haben Sie nicht vielleicht eine Ahnung, wo der Kerl stecken könnte?“ Milton, der ein sehr guter Beobachter war, sah ebenso wie der Funker, daß sich die Tür eines Kleiderschrankes in der Ecke um ein Weniges öffnete. Inspektor Grimm, der mit dem Rücken zur Tür stand, hörte nur das kaum wahrnehmbare Knarren und wußte ebenfalls Bescheid. „Bei mir“, sagte der Funker furchtsam, „hat sich der Verbrecher noch nicht blicken lassen.“ Inspektor Grimm lachte jovial. „Na, das wäre ja wohl auch etwas gewagt, wie?“ Er blinzelte Milton bedeutungsvoll zu. „Wo Sie doch jederzeit die Nachricht in den Äther funken können . hahaha … Na, nichts für ungut. Was ist denn das für ein komischer Apparat?“ Der Inspektor näherte sich einem Umformer, von dem er genau wußte, warum es sich handelte. Während er den Erklärungen des Funkers lauschte, behielt er Milton im Auge, der scheinbar gleichgültig die Bilder an der Wand betrachtete und dabei dem Kleiderschrank immer näher kam. Jetzt stand der Inspektor links – Milton rechts von dem Schrank. 95
„Nun ja – dann los!“ schrie Grimm plötzlich. Die beiden Männer packten gleichzeitig an und wuchteten den schweren Schrank so herum, daß er auf die Tür fiel. Dann sprangen sie zurück; denn es war damit zu rechnen, daß der überraschte Gangster durch die Schrankwände hindurch schießen würde. „Ergeben Sie sich Seldon – das Spiel ist aus“, rief Inspektor Grimm. „Wenn Sie Geschichten machen, dann schießen wir ihren famosen Schrank zu einem Sieb …“ Es kam eine unerwartete Antwort. Der Deckel einer Kiste, auf der bis dahin der angsterfüllte Funker gesessen hatte, hob sich und Seldons spöttische Stimme ließ keinen Zweifel aufkommen, daß das Leben seiner Widersacher nur an einem seidenen Faden hing. „Keine Bewegung – Revolver fallen lassen – Hände hoch und umgedreht!“ kommandierte Seldon eiskalt. „Sie haben mich am falschen Ort vermutet, meine Herren. Die Schranktür ging wirklich ganz versehentlich auf. Nein, ich zog es vor, dem einzigen Manne, der mich verraten konnte, recht nahe zu sein. Genau gesagt: Der Funker saß genau auf meiner Revolvermündung – wie auf einem Pulverfaß, haha.“ „Haha“, machte der Inspektor. „Und was nun, haha?“ „Einmal“, redete Milton dem Verbrecher wie einem Kranken zu, „müssen Sie diesen Zirkus ja doch aufgeben, Seldon. Der Trick mit der Depesche war ja nicht schlecht ausgedacht – leider aber vergeblich. Wir steuern nicht auf die Bahama-Insel los.“
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Milton sagte dies, um Seldon zu täuschen. In Wirklichkeit steuerte die ‚Caribbean Queen’ doch auf die Bahama-Insel zu. Und zwar mit Volldampf. Natürlich hatte Seldon den Funker bedroht und gezwungen, jenen angeblichen Funkspruch an den Kapitän weiterzugeben. Jetzt galt es Zeit zu gewinnen. „Nun sehen Sie, Seldon“, redete Milton munter weiter. „Sie haben eine Menge Sprengstoffe an Bord versteckt. Sagen Sie uns, wo Sie diese versteckt haben – und auch wir wollen mit uns reden lassen. Das Ganze war ja so etwas wie ein Sport, nicht wahr, um zu sehen, wer der Stärkere ist …“ Johnny Seldon grinste breit. „Mit Ihrer Rednergabe“, sagte er trocken, „hätten Sie Vertreter oder Rechtsanwalt werden sollen. Wenn Sie glauben, mich durch dieses Gewäsch einlullen zu können, sind Sie auf dem Holzwege, Bruderherz. Erst schieß ich Sie … piff … und dann schieß ich den Inspektor … paff … und dann sind wir quitt.“ „Was mich anbetrifft“, sagte der Inspektor, „möchte ich mit ‚puff’ und nicht mit ‚paff’ erschossen werden. Vielleicht läßt sich das einrichten. Wo sind die Sprengstoffe, du Lümmel?“ Seldon schüttelte sich vor Lachen. „In der Kapitänskajüte – unter dem Bett“, kicherte er. „Das ist nämlich das sicherste Versteck, das ich mir denken konnte.“ „Allerdings“, sagten Milton und Grimm wie aus einem Munde und sahen sich betroffen gegenseitig an. „Aber“, fügte der Gangster sofort hinzu, „leider könnt ihr diese interessante Kenntnis nicht mehr verwerten. Weil ich euch jetzt dahin schicke, wo es sehr heiß ist …“ „In den Maschinenraum?“ stellte sich der Inspektor dumm. „In die Hölle, du Tintenfisch“, knurrte Seldon. „Aber ihr könnt euch trösten – die anderen kommen euch sehr bald nach.“ „Das ist fein“, meinte Milton, „dann haben wir zwei wenigstens Gesellschaft. Sollen wir einen Platz für dich reservieren, Seldon?“ 98
„Danke, vorläufig nicht nötig. Ich habe auf Erden noch einiges vor.“ Er kicherte selbstgefällig. „Soll ich euch in den Kopf schießen?“ fragte er. Inspektor Grimm war ganz entrüstet. „In den Kopf?“ fauchte er. „Du bist wohl dumm – das gibt ja ein Loch.“ „Vielleicht“, schlug Milton gelassen vor, „vielleicht probieren Sie’s erst einmal an sich, um ganz sicher zu gehen, Seldon?“ Der Gangster war völlig perplex über soviel Frechheit. Er hatte geglaubt, zwei zitternde Männer vor sich zu sehen, die mehr oder weniger verbissen dem Unvermeidlichen ins Auge blicken würden. Aber Milton Drake und Inspektor Grimm scherzten mit einer derartigen Unbekümmertheit, daß ihm die Sache unheimlich wurde. Befand er sich etwa in einer Falle? Er blickte vorsichtig über seine Schulter zurück und – erstarrte vor Grauen. Auf der Türschwelle stand eine dämonische, rotgekleidete Frauengestalt – dieselbe, die ihn von der Kommandobrücke zurückgetrieben hatte. Ein Mensch? Eine Spukerscheinung? „Johnny Seldon“, sagte die Rote Schlange dumpf. „Mach dich bereit, vor deinen höchsten Richter zu treten …“ Der Gangster ließ die Waffe fallen und taumelte zurück, der tödlichen Kugel entgegensehend – aber die geheimnisvolle Frau lachte nur spöttisch auf und war spukhaft, wie sie gekommen war, wieder verschwunden. Inspektor Grimm und Milton Drake umklammerten den verdutzten Banditen, der nun keine Chancen mehr hatte und gefesselt wurde. Dann wollte der Inspektor hinauseilen, um nach der Roten Schlange zu suchen, aber Milton hielt ihn am Arm zurück. „Können Sie nicht einmal vernünftig sein?“ fragte Milton. 99
Der Inspektor zögerte und kämpfte einen schweren inneren Kampf. „Meinetwegen“, gab er dann widerwillig zu, um sofort zu betonen: „Aber nur für fünf Minuten, – nur fünf Minuten, sage ich Ihnen!“ Diese fünf Minuten, die sich Inspektor Grimm abrang, hatte die geheimnisvolle Frau, die sich die ROTE SCHLANGE nannte, allerdings nicht nötig. Sie brauchte nicht so lange, um sich wieder zu verwandeln. Als Johnny Seldon im Hafen von Miami unter starker Polizeibewachung von Bord geführt wurde, sah er plötzlich die Rote Schlange vor sich stehen. Sie war nicht maskiert – er erkannte sie lediglich an dem leicht spöttischen Lächeln und dem merkwürdigen Ausdruck ihrer Augen. Seldon wollte sich in letzter Minute an ihr rächen und hinausschreien, daß er sie erkannt hätte … aber dann sah er den kleinen Browning, dessen runde Mündung unter ihrem Taschentuch hervorschaute und verschluckte sich vor Angst. Milton Drake stand um die gleiche Minute nur einige Schritte abseits an der Reeling. Der Millionär war in tiefes Nachdenken versunken. Seine Gedanken beschäftigten sich mit der ,Dame in Rot’. Würde er die Rote Schlange jemals wiedersehen –? Er wußte nicht, daß sie in diesem Augenblick dicht hinter ihm stand und eine ganze Weile dort stehen blieb – gleichsam, um stumm von ihm Abschied zu nehmen. Für immer? Das rätselvolle Lächeln der schönen Frau gab keine Antwort auf diese Frage … *
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