Der Stachel im Fleisch, von dem Paulus 2 Kor 12,7 spricht, ist in bezug auf die Kirche er selbst; denn das Ringen des A...
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Der Stachel im Fleisch, von dem Paulus 2 Kor 12,7 spricht, ist in bezug auf die Kirche er selbst; denn das Ringen des Apostels um die Anerkennung seiner Christusverkündigung setzte sich fort in der Auseinandersetzung um Geltung und Verständnis seiner Theologie in den folg.3nden Generationen. Ob man Paulus verschwieg oder tradierte, seine Gedanken weiterführte oder nur seine Autorität beanspruchte, für alle frühchristlichen Schriften . innerhalb und außerhalb des neutestamentlichen Kanons steilt ·, sich die Frage ihrer Beziehung zu Paulus. Den Leser arn roten Faden der Paulusrezeption mit einem span~ :' nungsreichen, wenngleich weithin noch ungeschriebenen Kapitel der frühesten Kirchen- und Theologiegeschichte bekannt zu machen, ist das Ziel dieser Untersuchung. Beschränkung des wis- , senschaftlichen Apparates, weitgehender Verzicht auf fremdsprachige Zitate, dafür aber die Anführung der wichtigsten Quellentexte im Wortlaut wollen auch dem Nichtfachmann, dem keine ' theologische Bücherei zur Verfügung steht, eine fruchtbare Lek~ türe ermöglichen. .
Der Autor: Ernst Dassmann, geboren 1931, Priester der Diözese Münster, seit 1969 Professor für Alte Kirchengeschichte an der Universität Bonn, Direktor des F. J. Dölger-Instituts zur Erforschung der Spätantike.
ERNST DASSMANN
DER STACHEL IM FLEISCH PAULUS IN DER FRÜHCHRISTLICHEN LITERATUR BIS IRENÄUS
ASCHENDORFF MüNSTER
©
AschendorfF, MOnster Westfalen, 1979 • Printed in Germany
Alle Reehie vorbehalten, insbesondere die des Nachdruc:b, der fotomechanischen oder tonteclmilchen Wiedergabe und der Obenetzuog. Ohne schriftliche Zustimmung des Verlages ist es auch nicht gestattet, aUl diesem urheberreehtlich geschützten Werk einzelne Textabschnitte, Zeichnungen oder BUder mittels aller Verfahren wie Speicherung und Obertragung auf Papier, TraDlpal'ellte, Filme, BAllder, Platten und andere Medien zu verbreiten und zu vervielflltigen. Ausgenommen Bind die in den §§ 53 und 54 URG genannten SonderlIlIe. Alchendorflilche Bucb.druckerei, MOnster Westfalen, 1979
ISBN s-402..()!US5-X
INHALTSVERZEICHNIS
I. Paulus und die Mitte des Evangeliums ..............
11. Paulus im Neuen Testament und bei den Apostolischen Vätern......................................... 1. Paulus in der Apostelgeschichte .................... 2. Paulus im Lichte des Johannes? .................... 3. Neutestamentliche Schriften in paulinischer Tradition. . . a) Kolosser- und Epheserbrief ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Hebräerbrief ................................ c) Erster Petrusbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der erste Kleinensbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Didache und Matthäusevangelium .................. 6. Antipaulinische Tendenzen im Neuen Testament? . . . . .. a) Jakobusbrief ............................... " b) Zweiter Petrusbrief ........................... 7. Ignatius von Antiochien .......................... 8. Polykarp von Smyma ............................ 9. Pastoralbriefe ..................................
1
22 22 34 45 45
57 68 77
98 108 108 118
126 149 158
IH. Das Ringen um Paulus im zweiten" Jahrhundert ...... 174 1. Markions häretischer Paulinismus. . . . . . . . . . . . . . . . . .. 176 2. Gnostisches Interesse an Paulus ....................
192
3. Verschweigen des Paulus ......................... 222 a) Tatsächliches Verschweigen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 223 b) Absichtliches Verschweigen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 236 4. Apologeten .................................. " 5. Paulus in der apokryphen Literatur ................. a) Paulusfreundliche Apokryphen ................ " b) Judenchristlicher Antipaulinismus und paulusfeindliche Apokryphen ........................... " 6. Meliton von Sardes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 7. Irenäus von Lyon ....................... ~ . . . . . ..
244
260 261
279 286 292
IV. Ergebnis...................................... .. 316 Register .......... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 321 V
BERNHARD
KÖTTING
dem Lehrer und Freund
VORWORT
über Paulus und seine Theologie ist unüberschaubar viel geschrieben worden. Erstaunlicherweise gibt es nur wenige zuverlässig zusammenfassende, wohl kritische, aber durch Vorurteile nicht von vornherein belastete Darstellungen seiner Wirkungsgeschichte. Das gilt auch für den Zeitraum der frühen Kirche. Die hier vorliegende Untersuchung, die - mit etlichen durch die berufliche Beanspruchung in Universität und F. J. DölgerInstitut bedingten Unterbrechungen - in den Jahren 1974/78 entstanden ist, vermag das Thema ebenfalls nicht erschöpfend zu behandeln. Schon der Versuch scheint zur Zeit angesichts der Komplexität einzelner Forschungsbereiche (es sei nur auf die "Gnosis" verwiesen, nachdem die Nag-Hammadi-Texte für die wissenschaftliche Diskussion zur Verfügung stehen) zum Scheitern verurteilt zu sein. Im selbstgesteckten Rahmen kann nur ein überblick geboten werden, der die wichtigsten Stationen der Paulustradierung, aber auch des Ringens um Einfluß und Autorität des Apostels sichtbar werden läßt. Aus dieser Absicht erklären sich die äußeren Merkmale der Arbeit: Beschränkung des wissenschaftlichen Apparates, Auswahl der angegebenen Literatur, weitgehender Verzicht auf fremdsprachige Texte, dafür wörtliche Zitation der Quellen auch im größeren Zusammenhang. Verbunden mit dem Bemühen, die Seitenzahl insgesamt nicht zu sehr anschwellen zu lassen, sollen sie die Lektüre erleichtern und es ~em Leser ermöglichen, sich am roten Faden der Paulusrezeption mit einem wichtigen und die Folgezeit prägenden Abschnitt der Kirchen- und Theologiegeschichte vertraut zu machen. VII
Für wertvolle Mitarbeit bei der Erstellung des Manuskriptes sowie beim Lesen der Korrekturen sei Frau Helen MariäLarbig, Frau Ursula Keuthen, Herrn Studiendirektor Carl Kloppenburg und Herrn Dip!. Theo!. Clemens Scholten herzlich gedankt. Aufrichtiger Dank gilt auch dem Verlag Aschendorff für die sorgfältige und zeitsparende Drucklegung der Arbeit. Bonn, den 20. August 1979
Ernst Dassmann
ABKÜRZUNGEN 1. Sigel für Zeitschriften, Reihen und Sammelwerke sind dem Lexikon für Theologie und Kirche2 , Bd. I (Freiburg 1957) 16*/48* entnommen. 2. Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur: ALEITH, E. ALEITH, Paulusverständnis in der alten Kirche = Paulusverständnis Beihefte ZNW 18 (Berlin 1937). B. ALTANER - A. S'ruIBER, Patrologie. Leben, ALTANER - S'ruIBER, Patrologie Schriften und Lehre der Kirchenväter" (Freiburg 1978). BARNARD, L. W. BARNARD, Studies in the Apostolic Fathers Apostolic Fathers and their Background (Oxford 1966). BARNETI, A. E. BARNETI, Paul Becomes a Liteiary Influence Literary Influence (Chicago 1941). BAUER, Rechtgläubigkeit BoRNKÄMM, Paulus VON CAMl'ENHAUSEN, Kirchliches Amt
W. BAUER, Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum2 = BHTh 10 (Tübingen 1964).
VON CAMl'ENHAUSEN, Bibel
H. VON CAMl'ENHAUSEN. Die Entstehung der christlichen Bibel = BHTh 39 (Tübingen 1968). H. CONZElMANN, Grundriß der Theologie des Neuen Testaments3 = Einführung in die Evangelische Theologie 2 (München 1976). E. DASSMANN, Sündenvergebung durch Taufe, Buße und Martyrerfürbitte in den Zeugnissen frühchristlicher Frömmigkeit und Kunst = MBTh 36 (Münster 1973). Die Apostolischen Väter. Eingeleitet, herausgegeben, übertragen und erläutert von J. A. F'IscHER3 = Schriften des Urchristentums 1 (Darmstadt 1959). D. A. HAGNER, The Use of the Old and New Testaments in Clement of Rome = Supplements to Novum Testamentum 34 (Leiden 1973).
CONZELMANN, Grundriß DASSMANN, Sündenvergebung
FIscHER, Apostolische Väter HAGNER,
Use of the Testaments
G. BORNKAMM. Paulus = Urban Bücher 119 (Stuttgart 1969). H. VON CAMl'ENHAUSEN. Kirchliches Amt und geistliche Vollmacht in den ersten drei Jahrhunderten2 = BlITh 14 (Tübingen 1963).
IX
VON HARNACK, Marcion
KÄSEMANN,
Kanon KOS1ER, Synoptische überlieferung KOS1ER - ROBINSON, Entwicklungslinien Kuss, Paulus lmTzMANN,
Geschichte VON LoEWENICH, Johannes-Verständnis MAssAUX, Influence
MOiiER, 1rheologjegeschichte
ScHENKE, Weiterwirken 8cHNEEMELCHER,
Paulus in der griechischen Kirche
ScHuLz, Mitte der Schrift VERWEUS, Evangelium und neues Gesetz
x
A. VON HARNACK, Marcion. Das Evangelium vom fremden Gott. Eine Monographie zur Geschichte der Grundlegung der katholischen Kirche. Neue Studien zu Marcion(Darmstadt 1960). E. KÄSBMANN, Das Neue Testament als Kanon. Dokumentation und kritische Analyse zur gegenwärtigen Diskussion (Göttingen 1970). H. KOSTER, Synoptische überlieferung bei den Apostolischen Vätern = TU 65 (Berlin 1957). H. KOSTER' - J. M. ROBINSON, Entwicklungslinien durch die Welt des frühen Christentums (Tübingen 1971). O. Kuss, Paulus. Die RoUe des Apostels in der theologischen Entwicklung der Urkirche (Regensburg 1971). H. Lm1ZMANN, Geschichte der Alten Kirche 14 ; 2-4 3(Berlin 1961). W. VON LoEWENICH, Das Johannes-Verständnis im zweiten Jahrhundert = Beihefte ZNW 13 (Gießen 1932). E. MAsSAUX, Influence de I'Evangjle de saint Matthieu sur la litterature chretienne avant saint lrenee = Universitas Catholica Lovaniensis 11,42 (Louvain - Gembloux 1950). U. B. MOiLER, Zur frühchristlichen 1rheologjegeschichte. Judenchristentum und Paulinismus in Kleinasien an der Wende vom ersten zum zweiten Jahrhundert n. Chr. (Gütersloh 1976). H.-M. SCHENKE, Das Weiterwirken des Paulus und die Pflege seines Erbes durch die Paulusschule: NI'S 21 (1975) 505/18. W. 8cHNEEMELCHER, Paulus in der griechischen Kirche des zweiten Jahrhunderts: ZKG 75 (1964) 1/20 (wiederabgedruckt in: DERS., Gesammelte Aufsätze zum Neuen Testament und zur Patristik. Hrsg. von W. BIENERT u. K. ScHÄFERDIEK = Analecta Vlatadon 22 (Thessaloniki 1974) 154/81. S. ScHuLz, Die Mitte der Schrift. Der Frühkatbolizismus im. Neuen Testament als Herausforderung an den Protestantismus (Stuttgart 1976). P. G. VERWEUS, Evangelium und Neues Gesetz in der Ältesten Christenheit bis auf Marcion = Studia 1rheologjca Rbeno-TraiectiIia 5 (Utrecht 1960).
VIELHAUER, Urchristliche Uteratur
PR. VIELHAUER, Geschichte der urchristlichen Uteratur. Einleitung in das Neue Testament, die Apokryphen und die Apostolischen Väter (Berlin 1975). WAGENMANN, J. WAGENMANN, Die Stellung des Apostels Paulus Stellung des Paulus neben den Zwölf in den ersten zwei Jahrhunderten = Beihefte ZNW 3 (Gießen 1926). WIKENHAUSER - SCHMID, A. WIKENilAUSER - J. ScHMIDT, Einleitung in das Einleitung Neue Testament6 (Freiburg 1973). ZAHN, TH. ZAHN, Geschichte des Neutestamentlichen Kanon Kanons, 1. Bd.: Das Neue Testament vor Origenes (Erlangen 1888/89). 3. Alle übrigen Titel werden im jeweiligen Abschnitt beim ersten Vorkommen mit allen bibliographischen Angaben, bei Wiederholungen mit Verfassernamen bzw. Verfassernamen und zusätzlichem Stichwort zitiert.
I. PAULUS UND DIE MITTE DES EVANGELIUMS Paulus allein? Hinter der Aufnahme der Paulusbriefe in den neutestamentlichen Kanon und der nach Intensität und Auswahl ungleich verlaufenen Tradierung paulinischer Gedanken verbirgt sich ein spannendes, folgenreiches, wenngleich auch noch weithin ungeschriebenes1 Kapitel der frühesten Kirchen- und Theologiegeschichte. Die Rezeption des Paulus verlief nicht glatt und widerstandslos; das Ringen des Apostels um die Anerkennung seiner Christusverkündigung setzte sich fort in der Auseinandersetzung um Geltung und Verständnis seiner Theologie in den nachfolgenden Generationen. Paulus konnte nicht verschwiegen werden; er ließ sich auch nicht tradieren, indem man ihn lediglich zitierte. Er hat Prediger und Theologen zu einer Stellungnahme herausgefordert, die auf die überlieferung des paulinischen Erbes verkürzend oder verwischend, zuspitzend oder verhannlosend zurückwirken konnte. Wichtige kirchliche Entscheidungen doktrinärer und disziplinärer Art haben sich an der Auslegung paulinischer Sätze entzündet; Höhepunkte theologischer Entwicklung in der Alten Kirche bei Irenäus, Origenes und Augustinus fallen zusammen mit einem intensiven Bemühen um Paulus. überragende Bedeutung gewann ein bestimmtes Paulusverständnis dann in der refonnatorischen Theologie, für die die paulinische Rechtfertigungslehre zum Mittelpunkt jeglicher Verkündigung und Maßstab theologischer Gültigkeit überhaupt wurde. Wobei es auch hier letztlich nicht um Paulus ging, sondern um Jesus, der aber ohne Paulus nicht verkündigt werden kann, denn "alles wahrhaft sachliche und lebendige Denken über Jesus kreist von selber um
1
Vgl. den Titel eines Buches von St. MEANs, Saint Paul and the Ante-Nicene Church. An Unwritten Chapter of Church History (London 1903).
1
das Seine"2, wie umgekehrt die geschichtliche Wirksamkeit des Paulus darauf zurückgeführt werden muß, daß er das innerste Anliegen der Botschaft Jesu mit sicherem Gespür erkannt und zur Sprache gebracht haf. über rhetorische Lobsprüche und tatsächliche Wirkung hinaus stellt sich aber die Frage, in welchem Maß Paulus für das Ergreifen und Verstehen der Botschaft Jesu unumgänglich ist. Wenn wirklich Paulus oder sogar Paulus allein den unverfälschten Kern und die entscheidende Mitte, das allein Unaufgebbare, aber auch Ausreichende der Christusbotschaft enthält - wobei hier offenbleiben kann, in welchen Briefen oder auch nur Kapiteln von Briefen der echte Paulus spricht -, dann bemißt sich an der Treue zu Paulus und der unverkürzten Tradierung seines "Evangeliums" die Legitimität der kirchlichen Entwicklung, dann kann an Paulus die Zuverlässigkeit jeder frühchristlichen Schrift (einschließlich der neutestamentlich-kanonischen) und die Relevanz eines jeden Kirchenvaters abgelesen werden, falls man nicht schon in den "urpaulinischen" Briefen selbst zwischen zentralen und peripheren, ursprünglichen und abgeleiteten Aussagen unterscheiden will. Doch abgesehen von den exegetischen Problemen, die hier anklingen: garantiert Paulus wirklich allein und ausreichend Maß und Mitte aller kirchlichen Verkündigung? Es gibt, abhängig von der geschichtlichen Situation und nicht unbeeinflußt von dogmatisch-konfessionellen Vorverständnissen, verschiedene Antworten auf diese Frage, die jede für sich ein besonderes Paulusverständnis und damit verbunden eine Vorentscheidung über die theologische Bewertung des Paulus enthält. So ist bekannt, daß der innertheologische reformatorische Anstoß für Luther von einem neuen Verständnis grundlegender Römerbrieftexte ausging. BoEHMER schildert die entscheidende Einsicht des jungen Reformators anband von Luthers Vorrede zum ersten Band seiner lateinischen Werke aus dem Jahr 1545 2
A. ScHwEn:zBR, Die Mystik des Apostels Paulus2 (Tübingen 1954) 384.
3
BoRNKAMM, Paulus 242f; W. G. KOMMEL, Die Theologie des Neuen Testa-
ments nach seinen Hauptzeugen Jesus. Paulus. Johannes2 = Grundrisse zum Neuen Testament 3 (Göttingen 1972) 218/27.
2
wie folgt: Bei der Vorbereitung seiner Psalmenvorlesung (1513/14) stößt Luther "auf eine ihm längst bekannte Stelle, ... die auch jetzt wieder wie ein Faustschlag auf seine wunde Seele wirkte: in iustitia tua libera me (Ps 30,2). Er war gewohnt, bei dieser in den Psalmen und in den Paulinischen Briefen so häufig vorkommenden Wendung an die richterliche Gerechtigkeit Gottes zu denken, vor der er sich im Gefühle seiner Unwürdigkeit so sehr fürchtete. Er haßte daher geradezu das Wort ,Gerechtigkeit', ja er floh förmlich davor und hatte es daher bisher nicht über sich bringen können, den Römerbrief des Apostels Paulus genau zu studieren, weil darin der Begriff Gerechtigkeit Gottes eine so große Rolle spielt. Aber er hatte doch das dunkle Gefühl, daß jener Begriff in der Sprache der Bibel vielleicht einen anderen Sinn haben könne als in der Sprache der Philosophen und empfand den lebhaften Drang, hierüber endlich ins klare zu kommen. Er schlug daher die berühmte Stelle Röm 1,16/17 auf, in der das Evangelium als eine seligmachende Kraft Gottes bezeichnet wird für alle, die es gläubig annehmen, weil darin die Gerechtigkeit Gottes geoffenbart wird aus Glauben zu Glauben. Allein es wurde ihm beim Studium dieser Stelle zunächst nur noch dunkler vor den Augen und schwerer ums Herz. ,Also auch das Evangelium', sagte er sich, ,ist nur eine Offenbarung der strafenden Gerechtigkeit Gottes, nur ein Mittel, die durch die Erbsünde und die zehn Gebote ohnehin schon so furchtbar belasteten Menschen zu martern und zu quälen'. Und wie so oft schon, wenn er dies erwog, regte sich in ihm auch jetzt wieder ein Gefühl leidenschaftlichen Hasses· gegen diesen grausamen Gott, der immer Liebe, Liebe fordert und doch seinen Geschöpfen es geradezu unmöglich machte, ihn zu lieben. ,So raste er' in seinem Stüblein im Turme des Schwarzen Klosters ,mit verwundetem und verwirrtem Gemüt und klopfte doch immer wieder in heißem Erkenntnisdrang bei Paulus an, um herauszubringen, was er an dieser Stelle eigentlich meine, bis er nach tage- und nächtelangem Sinnen endlich einmal auf den Gedanken kam, den Zusammenhang genauer ins Auge zu fassen'. Die Gerechtigkeit Gottes wird in dem Evangelium geoffenbart. ,Der Gerechte lebt aus Glauben', also, schloß er, kann hier nicht die strafende, sondern nur 3
die schenkende Gerechtigkeit Gottes gemeint sein, durch die er uns in seiner Barmherzigkeit gerecht macht, wie geschrieben steht: iustus ex fide vivit. ,Da war es mir, als wäre ich ganz von neuem geboren und durch geöffnete Türen i~ das Paradies eingetreten. Die ganze Bibel hatte für mich auf einmal ein anderes Gesicht erhalten. Ich durchlief sie, soweit ich sie im Gedächtnis hatte, und sammelte eine Menge ähnlicher Wendungen, wie ,Werk Gottes', d. h. das, was Gott in uns wirkt, Kraft Gottes, d. h. die Kraft, durch die er uns kräftig macht, Weisheit Gottes, d. h. die Weisheit, durch die er uns weise macht ... Je mehr ich bisher das Wort Gerechtigkeit Gottes gehaßt hatte, um so lieber und süßer war es mir jetzt. So ist mir jene Stelle des Paulus in Wahrheit die Pforte zum Paradiese geworden ".4. Ob Luther wirklich nach langem Nachsinnen zu einer blitzartigen Entdeckung der richtigen Auslegung von Röm 1,17 gekommen ist und wann das bier beschriebene sogenannte Turmerlebnis stattgefunden hat, bleibt unsicher5. Fest steht, daß Luthers Entdeckung nicht neu war. Viele Exegeten des Mittelalters hatten sie vorgetragen6 , ebenso Augustinus, bei dem sie auch Luther begegnet sein wird. In den Vorträgen über das Johannesevangelium schreibt Augustinus: "So waren diejenigen beschaffen, welche das vom Himmel herabkommende Brot nicht verstanden, weil sie, von der eigenen Gerechtigkeit satt, nach der Gerechtigkeit Gottes nicht hungerten. Was aber ist die Gerechtigkeit Gottes und die Gerechtigkeit des Menschen? Unter der Gerechtigkeit Gottes ist hier nicht jene gemeint, wodurch Gott selbst gerecht ist, sondern die Gott dem Menschen gibt, damit der Mensch durch Gott H. BOEHMER, Der junge Luther4 (Stuttgart 1951) 99f.; Nachtrag BORNKAMM, ebd. 362/4; ScHNEEMELCHER, Paulus in der griechischen Kirche 1/3 .. 5 Vgl. dazu E. IsERLoH, Reformation, katholische Reform und Gegenreformation = HdbKirchGesch 4 (Freiburg 1967) 36/41; H. A. OBERMAN, "Iustitia Christi" and "Iustitia Dei". Luther and the Scholastic Doctrines of Justification: lIThR 59 (1966) 9f.; M. BRECHI', Iustitia Christi. Die Entdeckung Martin Luthers: ZThK 74 (1977) 179/223. 6 H. DENIFLE, Die abendländischen Schriftausleger bis Luther über Justitia Dei (Röm 1, 17) und Justificatio (Mainz 1905); weitere Literatur bei OBERMAN 8/26. 4
4
gerecht sei. Welches aber war die Gerechtigkeit jener? Diejenige, durch welche sie auf ihre eigenen Kräfte vertrauten und gleichsam sich selbst als Erfüller des Gesetzes durch eigene Kraft erklärten" (Tract. in loh. Ev. 26,1)1. Ist somit die Deutung der iustitia Dei als eine den Menschen gerechtmachende Gerechtigkeit an sich durchaus keine Entdeckung Luthers, wird man sie, subjektiv gesehen, für ihn doch als eine solche gelten lassen müssen, insofern er sie für sich neu erkannte und damit einen geschichtlichen Prozeß in Gang setzte, der die nachfolgende protestantische Theologie zutiefst geprägt hat. Denn seit der Reformation gilt, daß die Lehre von der Rechtfertigung des Sünders allein durch Glauben nicht nur das Zentrum der paulinischen Theologie bildet, sondern das der neutestamentlichen Botschaft überhaupt8 • "Die Reformation kämpfte und siegte im Namen des Paulus. Dadurch war die Lehre des Heidenapostels in den Vordergrund der protestantischen Forschung gerückt. Jedoch wird die geschichtliche Erkenntnis dieses Gedankengebildes durch die aufgewandte Mühe nicht gefördert. Man sucht darin Beweisstellen für lutherische oder reformierte Dogmatik und findet sie auch. Die Exegese der Reformation legt ihre Ideen in Paulus hinein, um sie mit apostolischer Autorität ausgestattet zurückzuempfangen"9. Andere Forscher urteilen milder (und wohl auch gerechter) über die protestantische Entwicklung als der hier zitierte ScHWEITZER. Die Zentrierung auf den einen paulinischen Kern hat jedenfalls nicht dazu geführt, die Paulusexegese Luthers einfach zu übernehmen und darauf zu verzichten, andere, über die Rechtfertigungslehre hinausgehende Aspekte der paulinischen Theologie zu bedenken. Luthers reformatorischer Ausgangspunkt konnte weiteres Fragen nicht verhindern. Da der Raum zwischen der Hl. Schrift und dem forschenden Theologen nach Vgl. dazu B. LoHSE, Die Bedeutung Augustins für den jungen Luther: KuD 11 (1965) 116/35. 8 CoNZELMANN, Grundriß 176. 9 A. ScHWEITZER, Geschichte der Paulinischen Forschung von der Reformation bis auf die Gegenwartl (Tübingen 1933) 1. 7
5
reformatorischem Verständnis leer bleiben muß und letztlich nicht durch Tradition, lehramtliche Zwischeninstanzen oder Bekenntnisformeln besetzt werden darf, mußte grundsätzlich jede Glaubensaussage und jede Lehre, die über eine explizite Schriftaussage hinausging, immer wieder an der Hl. Schrift selbst überprüft werden. Kuss hält es für einen Ruhmestitel der protestantischen Exegese, daß sie liebgewordene Traditionen verwarf, wenn ein zutreffenderes Verständnis der Hl. Schrift es erforderte, daß die theologische Reflexion nie zur Ruhe kam, weil das unaufgebbare Erbe der Reformation zugleich immer neu erworben werden mußte, weil der Schrift zugestanden wurde, ganz zu sagen, was sie zu sagen hatte 10 • Die weiterführende Forschungl l entdeckte bald, daß die Rechtfertigungslehre weder das Neue Testament beherrscht, noch den Hauptanteil der paulinischen Theologie ausmacht. F. eh. BAUR am Beginn der historisch-kritischen Forschung ging mit HegeIschen Begriffen an die Interpretation des Paulus: Der Geist steht in Antithese zum Fleisch, die aufgehoben wird in der Synthese der Versöhnung12• Einmal auf die Spur gebracht, ließ sich in den paulinischen Briefen eine Fülle antithetischer Begriffe auffinden: Gerechtigkeit und Sünde, Leben und Tod, Freiheit und Knechtschaft, Geist und Fleisch, Glaube und Werke, Gesetz und Gnade. Dabei entdeckte man, daß nicht alle Begriffe demselben Vorstellungsbereich angehören, vielmehr einer mehr juridischen Gruppe (Gesetz, Gerechtigkeit, Sünde) eine physische oder mystisch-ethische (Geist - Fleisch, Leben - Tod) gegen-
10
o. Kuss, Die Rolle des Apostels Paulus in der theologischen Entwicklung der
Urkirche: MThZ 14 (1963) 19f. Zur Geschichte der Paulusforschung vgl. Das Paulusbild in der neueren deutschen Forschung2. Hrsg. v. K. H. RENOSTORF = Wege der Forschung 24 (Darmstadt 1969), sowie die Literaturangaben bei BoRNKAMM, Paulus 2S1f.; KUSS, Paulus 16f. 1:1 F. Ch. BAUR, Paulus, der Apostel Jesu Christi. Sein Leben und Wirken, seine Briefe und seine Lehre. Ein Beitrag zu einer kritischen Geschichte des Urchristentums. Hrsg. v. E. ZELLER. Teil 12 (Osnabrück 1968 = 1866) Sf.; P. FEINE, Der Apostel Paulus = BFChTh 2, 12 (Gütersloh 1927) 14f. .
11
6
überstehtl3 . Die religionsgeschichtliehe Schule bemühte sich sodann, die Herkunft paulinischer Vorstellungen und Begriffe zu erhellen, wobei es wiederum zu scharfen Gegensätzen kam zwischen der überwiegend hellenistischen und jüdisch-apokalyptischen Interpretation des Paulus l4 . Wenn man von VeIZeichnungen absieht, haben aber die religionsgeschichtlichen Forschungen das sachlich-inhaltliche Spektrum des theologisch relevanten paulinischen Stoffes beträchtlich erweitert und die Herleitung theologischer Grundbegriffe erhellt. Insbesondere trat die Bedeutung der Eschatologie für die Interpretation der paulinischen Theologie ins Blickfeld15 • Da jedoch alle Herleitungen das Verstehen nicht ersetzen, ist die theologisch ausgerichtete Paulusforschung, deren vielfältig verschlungene Pfade hier nicht nachgezeichnet werden können, (fast ausschließlich) wieder zurückgekehrt zu der Frage nach der Botschaft des Apostels. Denn nicht die Bedeutung der Begriffe im Kontext ihrer zeitgeschichtlichen Entstehung, sondern die bleibende Autorität der Aussagen, die von dem vorgetragenen Inhalt selbst legitimiert werden muß, ist der Angelpunkt einer jeden Theologie, die nicht nur Erkenntnisse vermitteln, sondern zur Entscheidung auffordern Willl6 . Ebenso wird die Rechtfertigungslehre, die zeitweise aus dem Zentrum der paulinischen Verkündigung verdrängt und z. B. als eine untergeordnete antijüdische "Kampflehre"l7 oder als "Nebenkrater im Hauptkrater" der paulinischen Erlösungsmystik betrachtet worden war lS , verstärkt wieder als Mitte nicht nur der paulinischen Theologie, sondern der Hl. Schrift insgesamt herausgestellt. Wobei das Sprechen von der "Mitte der Schrift" fernab von metaphorischer Verunklärung einen sehr präzisen Inhalt bekommt.
Grundriß 176f. Ebd. 177. 15 Ebd. 178. 16 Ebd. 178f. 17 W. WREDE, Paulus (Halle 1904) 72 (wiederabgedruckt bei . Paulusbild 67)(vgl. S. 6 Anm. 11). 18 A. ScHWEITZER, Mystik 220; vgl. BORNKAMM, Paulus 127.
13 CoNZELMANN,
14
RENGSTORF,
7
Es fragt nach dem "Kanon im Kanon", d. h. danach, ob allen neutestamentlichen Schriften die gleiche Autorität zuerkannt werden muß oder ob sich die einzelnen Schriften erst durch ihre Treue zum Evangelium, zur Botschaft Jesu, zum Wort Gottes, das jn der Hl. Schrift enthalten, aber nicht mit ihr identisch ist, als Kanon des Glaube,ns legitimieren müssen. Eindeutig lautet die Antwort KAsEMANNS~ nach der die Rechtfertigung des Gottlosen jene Mitte aller christlichen Verkündigung und darum ebenfalls der Schrift darstellt, "auf welche unter keinen Umständen verzichtet werden darf. Denn sie ist nicht bloß eine Möglichkeit der Lehre und des Kerygmas unter anderen. Weil in ihr Jesu Botschaft und Werk als Botschaft und Werk des Gekreuzigten, seine Herrlichkeit und Herrschaft sich unverwechselbar von allen anderen religiösen Aussagen abheben, muß sie als Kanon im Kanon betrachtet werden ..."19. Damit gewinnt die paulinische Rechtfertigungslehre ihre Exklusivität zurück innerhalb miteinander konkurrierender Theologien im Neuen Testament; der Paulus des Römerbriefes wird zum "Kanon im Kanon" und zur "Mitte der Schrift"20. "Kanon im Kanon" Doch wie läßt sich eine solche Scheidung zwischen Mitte und Randzonen der Hl. Schrift begründen? Sie ist in jedem Fall ge-
19
KÄSBMANN, Kanon 405; vgl. W. G. KOMMEL, Notwendigkeit und Grenze des
neutestamentlichen Kanons: ebd. 96; H. BRAUN, Hebt die heutige neutestamentlich-exegetische Forschung den Kanon auf?: ebd. 231. 20 CoNZELMANN, Grundriß 179. Zur gegenwärtigen Kanondiskussion vgl. neben KÄSEMANN und den von ihm in der Dokumentation herausgegebenen Beiträ, gen noch I. FRANK, Der Sinn der Kanonbildung~ Eine historisch-the9logische Untersuchung. der Zeit vom 1. Clemensbrief bis Irenäus von Lyon = FreibThSt 90 (Freiburg 1971); I. LöNNING, "Kanon im Kanon". Zum dogmatischen Grundlagenproblem des ntl. Kanons (Oslo - München 1972); K.H. OHuG, Die theologische Begründung des neutestamentlichen Kanons in der alten Kirche (Düsseldorf 1972); DERS., Zur Theologie des Kanons der Heiligen Schrift: Theol. der Gegenwart 16 (1973) 74/83.
8
fäbrlich, weil allzu leicht dem subjektiven Urteil anheimgegeben. Um der Willkür zu entgehen, verlangt man daher Sachkriterien, die die Richtigkeit der Auswahl garantieren sollen. Wird auf diese Weise das Problem aber nicht nur verschoben, weil bei der zugegebenen Vielfalt, Uneinheitlichkeit, ja Widersprüchlichkeit üi den neutestamentlichen Aussagen die Festsetzung von Sachkriterien wiederum von subjektiven und situationsgebundenen Vorentscheidungen bestimmt ist? Das Problem des "Kanons im Kanon" ist zwar nicht dem Namen, wohl aber der Sache nach alt. Markions Verwerfung des Alten Testamentes und zahlreicher apostolischer Schriften um die Mitte des 2. Jahrhunderts, die mit der Sammlung und Umschreibung eines verbindlichen Kanons neutestamentlicher Schriften in den großkirchlichen Gemeinden im Zusammenhang gesehen werden muß, wird noch ausführlich zu erörtern sein. Auch Luther hat das Problem gesehen und auf seine Weise beantwortet. Für ihn ist kanonisch, was "Christum treibet". Von diesem Prinzip aus wird Jakobus zu einer strohernen Epistel, werden Hebräerbrief, Judas und Apokalypse abgewertet21 • Viel gewonnen· ist mit dem, was "Christum treibet", allerdings noch nicht;. denn es ist ein formales Prinzip, das zwar richtig sein mag, aber eben nicht beantwortet, was das ist, was Christus treibt; es bleibt so allgemein, daß weit mehr, als Luther tatsächlich gelten läßt, darunter subsumiert werden könnte. Ein ähnlich allgemeinesPrlnzip stellt Augustinus auf, wenn er erklärt, die ganze Schrift habe das Ziel, die Hörenden und Glaubenden zur Gottesund Nächstenliebe zu bewegen22 • Der fundamentale Unterschied zwischenbeiden besteht jedoch darin, daß Augustinus die Liebe zu einem Prinzip der Schrifterklärung macht, für Luther dagegen was "Christum treibet" zu einem Mittel der Schriftscheid u·ng wird, auch wenn er selbst es nicht dazu gebraucht hat . W. MAURER, Luthers Verständnis des neutestamentlichen Kanons: Fuldaer ·Hefte 12 (1960) 60/77; vgl. KOMMEL, Hauptzeugen 287. 22 De doctriria christ. I, 86; Expos. Gal. 19; vgl. G. STRAuss, Schriftgebrauch, Schriftauslegung und Schriftbeweis bei Augustin = Beitr. zur Geschichte der bibI. Hermeneutik 1 (Tübingen 1959) 29; 32/8.
. 21
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So schwierig das Geschäft der Schriftscheidung durchzuführen und in seinem Ergebnis zu legitimieren sein mag, begreiflich .wird das Verlangen danach vom reformatorischen Ansatz her. Die Frage nach dem "Kanon im Kanon" entstand nicht ohne den Druck der Ergebnisse der historischen Forschung. Trotz der innerkanonischen Kritik Luthers befanden sich die Reformatoren noch in übereinstimmung mit der Kirche des ersten Jahrtausends. Der Katholizismus als Abfall von der ursprünglichen Botschaft des Evangeliums begann für sie erst mit der mittelalterlichen Papstkirche. Nach ihnen behielten noch lange Zeit wenigstens die altkirchlichen Konzilien bzw. die Jahrhunderte bis zur konstantinischen Wende ihre Geltung. A. VON lIARNACK schob dann die Grenze zurück in das 2. Jahrhundert, als mit dem Einströmen des griechisch-hellenistischen Geistes die apostolische bzw. nachapostolische Periode der Kirchengeschichte zu Ende ging. Rechtliche Begründung des kirchlichen Amtes und gesetzliche Formierung des Kultes kennzeichnen für ihn den Umbruch; aus der Liebeskirche wurde eine Rechtskirche23 • Nachdem VON HARNACK den Beginn des Abfalls damit bereits in die Zeit der späten neutestamentlichen Schriften zurückdatiert hatte, war es nur logisch, daß man die Ansätze zum "Frühkatholizismus" nunmehr im Neuen Testament selbst suchte und fand. Nicht mehr nur dogmatisch (wie bei Luther), sondern nunmehr auch historisch begründet, stellte sich damit das Problem erneut in aller Schärfe. Ist z. B. die Kirchenordnung der Pastoralbriefe ein frühkatholischer Abfall von der im 1. Korintherbrief bezeugten geistgewirkten Struktur der Gemeinde, dann kann der neutestamentliche Kanon nicht in globo Maß und Richtschnur für den Glauben und die aktuelle Gestalt der Kirche sein, dann muß die Trennungslinie zwischen Ursprung und Folge - wobei Folge zugleich Abfall bedeutet - durch den Kanon selbst hindurchgehen.
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H. KONG, Der Frühkatholizismus im Neuen Testament als kontroverstheologisehes Problem: ThQ 142 (1962) 387f. (wiederabgedruckt: KÄSEMANN, Kanon 176f.); ScHuLz, Mitte der Schrift 7.
Das Zurückschieben der Normengrenze für den Glauben (über Papstkirche, altkirchliche Konzilien, Hellenismus hinein ins Neue Testament) war konsequent. Ist es aber auch richtig, d. h., stim.men die Voraussetzungen und vorgegebenen Werturteile über den Charakter der Entwicklung als Abfall zum "Frühkatholizismus" - ein Schlagwort, mit dem mancher Mißbrauch getrieben worden ist, indem man es leichtfertig anwandte, ohne sich über die Berechtigung und vor allem über die Folgen der damit verbundenen Qualifikation Rechenschaft zu geben 24 ? Gegen das Programm eines "Kanons im Kanon" sind etliche Bedenken erhoben worden, die nicht einseitig konfessionell gebunden sind und sowohl von Vertretern der exegetischen als auch der systematischen Theologie vorgebracht werden. Zu den Kritikern gehört der Dogmatiker DIEM. Mit vielen Exegeten ist er sich darin einig, daß die neutestamentlichen Schriften keine Lehreinheit bilden; es gibt verschiedene theologische Ansätze und Richtungen bereits im Neuen Testament. Erst die lutherischen und reformierten Kirchen nach Luther haben aus der Vielfalt der neutestamentlichen Schriften statt eines Predigttextes eine Summe von.Theologie gemacht, was die Annahme einer Verbalinspiration und Göttlichkeit des Schrifttextes einschloß. Wenn heute viele Neutestamentler mit Hilfe der Rechtfertigung als hermeneutischem Maßstab nach einem "Kanon im Kanon" suchen, wollen sie nichts Neues, sondern zu einem reformatorischen Schriftgebrauch vor dessen Entartung durch die altprotestantische Dogmatik zurückkehren. Sie berufen sich auf Luther, "der die Schrift daran gemessen haben wollte, was in ihr ,Christum treibet', womit er letztlich ja auch das sola gratia und sola fide verstanden hat"25.
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Grundriß 317f.; K. H. NEUFELD, "Friihkatholizismus" - Idee und Begriff: ZkTh 94 (1972) 1/28, bes. 22/7; K. BEYSCHLAG, Simon Magus und die christliche Gnosis = WUNT 16 (Tübingen 1974) 5, Anm. 9; neuestens die ausführliche Studie von H. J. ScHMITZ, Friihkatholizismus bei Adolf von Harnack, Rudolf Sohm und Ernst Käsemann (Düsseldorf 1977) bes. 9/46. H. DIEM, Theologie als kirchliche Wissenschaft, Bd. 2: Dogmatik. Ihr Weg zwischen Historismus und Existentialismus3 (München 1960) 202.
CoNZELMANN,
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Nun ist es zwar richtig, daß die Rechtfertigung des Sünders keine Lehre, sondern vielmehr ein Verkündigungsgeschehen ist, dem der Hörende sich stellt, wenn er sich diese Botschaft zusprechen läßt. (Und darum geht es der Kanonscheidung: nicht alle neutestamentlichen Lehren gleichrangig zu summieren, sondern den Ereignischarakter in der zentralen Botschaft des Neuen Testamentes lebendig werden zu lassen.) DIEM bezweifelt aber, ob man es noch ein Sich-dem- Verkündigungsgeschehenr-stellen nennen kann, wenn jemand durch einen Akt kritischer Sichtung und Zustimmung einen einzelnen Aspekt des durch die Verkündigung Zukommenden für sich als allein verbindlich betrachtet. Die Verkündigung wird nur dann zu einem verpflichtenden Geschehen, wenn der ganze, von der Kirche faktisch angenommene Kanon ernstgenommen wird. DIEM schreibt: "Dieses uns verpflichtende Geschehen der Verkündigungsgeschichte besteht darin, daß die Kirche exklusiv in der Verkündigung dieser Zeugnisse das Wort Gottes gehört hat und wir es darum ebenfalls exklusiv durch diese Zeugnisse weiterverkündigen und hören sollen". Hier spricht der Dogmatiker, nicht der Historiker. Das ist auch DIEM klar, wenn er fortfährt: "Dieses Faktum kann man nur anerkennen, aber auf keine Weise prinzipiell rechtfertigen. Die einzige hier mögliche theologische Rechtfertigung besteht darin, daß man von dem Schriftkanon sachgemäß Gebrauch macht, indem man ihn im Vertrauen auf seine Selbstevidenz predigt. In diesem faktischen Gebrauch der Schrift liegt auch ihre theologisch einzig mögliche Abgrenzung gegen die kirchliche Tradition"26. DIEM beruft sich in einem dogmatischen Rückgriff auf die Kirche, um die Geltung des Kanons sicherzustellen. Er kritisiert damit das Programm der Kanonscheidung bei KÄSEMANN , ohne ihn jedoch überzeugen zu können. KONG drückt den Gegensatz zwischen beiden so aus: "Wie für KÄSEMANN DIEMS ,Kanon' nie zum ,Evangelium' werden wird, so für DIEM KÄSEMANNS ,Evangelium' nie zum ,Kanon"'27. Liegt die Unversöhnbarkeit darin, daß 26 27
Ebd. 204; vgl. DERS., Das Problem des Schriftkanons: KÄSEMANN, Kanon 174. KONG, Frühkatholizismus: KÄSEMANN, Kanon 186.
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beide nicht auf gleicher Ebene diskutieren, weil dogmatische und historisch-exegetische Argumentationen sich gegenüberstehen? Ist die Anerkennung des gesamten Kanons eine prinzipielle, dogmatisch-kirchlich gebundene, die Kanonscheidung dagegen eine pragmatische, historisch-exegetisch freie Entscheidung? KASEMANN bestreitet diese Alternative. Eine kritische Exegese, die auf die Zusammenfügung der heterogenen Aussagen im ~euen Testament mit Hilfe dogmatischer Kategorien (Inspiration, Wort Gottes) verzichten muß, verlangt zwar die Kanonscheidung, vermag ihre Normen trotzdem nicht aus sich heraus anzugeben28 . Denn Firmierungen wie ursprüngliches oder abgeleitetes Christuszeugnis klären genausowenig wie das Prinzip des "Christum Treibens", welcher Christus der Maßgebende ist: der mit jüdischer Apokalyptik wiederkommende Weltenrichter, der Kultgott hellenistischer Mysterienfrömmigkeit, der Gekreuzigte des Paulus oder der mit Johannes über die Erde schreitende Logos29 . "Christologisch unverwechselbar und unvermeidbar sind (für KASEMANN) allein solche Aussagen, welche Botschaft und Werk des Nazareners nicht überspringen und die Herrschaft des Gekreuzigten bezeugen"3o. Sie sind umgekehrt ausreichend, um das, was "Christum treibet", klar herauszustellen. Damit trifft auch KASEMANN eine dogmatische Entscheidung, für die allerdings die Christologie, nicht die Ekklesiologie den Ausschlag gibt. Für ihn darf Christus weder von der Kirche noch vom Neuen Testament vereinnahmt werden; die sich widerstreitenden Christologien können weder von der Kirche noch vom Neuen Testament legitimiert werden31 . "Der Sünder Geselle und der Gekreuzigte"32 scheidet (mit Paulus) die Geister in Kirche und Kanon. Was nicht heißt, nur Paulus und nicht auch die Evangelien vermöchten die Rechtfertigung des Sünders zu verkündigen, wie umgekehrt eine verbale Präsenz der RechtfertigungsKÄSEMANN, Kanon 388. Ebd. 355. 30 Ebd. 405. 31 Darauf besteht KÄSEMANN, ebd. 370; 372; 37517; 405 mit allem Nachdruck. 32 Ebd. 378. 28
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lehre nicht ihre Mißdeutung durch kultische und institutionelle Ordnungen oder ihre Verengung im Sinne einer Rechtfertigung der Frommen verhindert33 • Darum bedeutet "Kanon im Kanon" auch nicht die Ausscheidung von einzelnen Schriften oder Teilen, sondern Kriterium der Auslegung; die tota scriptura ist keine Frage der literarischen Menge, sondern der sachlichen Mitte: sie ist die Christologie von der Rechtfertigung des Sünders34 • Der Gedanke, daß die Kanonscheidung neutestamentliche Schriften nicht eliminieren, sondern helfen will, sie sachgemäß auszulegen, kann durch einige überlegungen von W. lOEST ergänzt werden35 • Auch er geht davon aus, daß das Neue Testament kanonisch ist, sofern es Christus treibt, d. h., ihn als Grund und Träger desjenigen Geschehens verkündigt, das bei Paulus und den Reformatoren Rechtfertigung genannt wird. Da die Rechtfertigung aber keine Lehre, sondern ein Verkündigungsgeschehen ist, kann sich dieses nicht auf direkte Aussagen über Christus und die Rechtfertigung beschränken. Rechtfertigung kann verkündigt werden, indem verbaliter über etwas ganz anderes gesprochen wird. Andere Wahrheiten wie Sünde, Zorn Gottes, Gericht müssen mitverkündigt werden, wenn sie verdeutlichen, was Gnade, Rechtfertigung und neues Leben heißt. Die existentiellen Voraussetzungen und Folgerungen des Rechtfertigungsgeschehens sind nämlich nicht für alle Menschen gleich, sondern zeit- und situationsbedingt. Daß wir Sünder sind, betrifft alle Menschen; wie wir Sünder sind, ist jeweils anders. Darum gibt es die verschiedenen Aspekte in der neutestamentlichen Verkündigung, gibt es den Römerbrief und lakobus. lOEST rechnet innerhalb der neutestamentlichen Divergenzen mit sachbezogenen Paradoxien und Polaritäten, die logisch betrachtet Widersprüche bzw. Spannungen ausdrücken, im existentiellen Vollzug des auf Christus Zutreibens gleichwohl zusam33Ebd.407. 34 Ebd. 376. 35 W. JOBST, Die Frage des Kanons in der heutigen evangelischen Theologie: Was heißt Auslegung der Heiligen Schrift? (Regensburg 1966) 173/210.
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mengehören (z. B. Gott allein wirkt beim Glauben Wollen und Vollbringen - Glaube ist menschliche Entscheidung; Gericht über die Werke - Rechtfertigung aus Gnade; personale oder korporative Beschreibung des Heils). Sie enthalten Verkürzungen bzw. Akzentuierungen, die unvermeidlich sind, weil aktuelle Verkündigung immer ein konkretes Ziel verfolgt und nie in der Lage ist, ein nach allen Seiten abgerundetes Bild zu zeichnen. Die neutestamentliche Verkündigung verläuft nicht eingleisig, sondern in dialektischer Spannung; in ihr steht nicht nur Paulus gegen Jakobus, in ihr befindet sich auch Paulus selbst (vgl. die paulinische Spannung von Indikativ und Imperativ, von Sein und Sollen). "Dem Menschen, der in der inneren Lage steht, die Gnade zum Prinzip zu machen, muß das Gericht verkündigt werden. Dem Menschen, der unter diesem Gericht verzagt, d~rf der Weg der Gnade gezeigt werden, die das Gericht aufhebt. Dem Zuchtlosen muß die kirchliche Ordnung begegnen, dem Gesetzlichen muß die Freiheit und der Geist gezeigt werden, ohne den diese Ordnung totes Schema ist"36. Da die Hl. Schrift nicht mit dem Wort Gottes zusammenfällt, sondern dieses sich hinter jener verbirgt, ist es in ihr nicht wie in einem juristischen Kodex verfügbar. Apriori ist daher nicht zu entscheiden, welche Momente in der Schrift dem Ziel, Christus zu treiben, dienlich sein können und welche nicht. Da jeder neutestamentliche Schriftsteller sein Christusverständnis nur in einer notwendigen Enge besitzt, ist vor jeglichem Ausscheiden a~s dem Kanon zu warnen, weil nicht gewußt werden kann, welche Zeugnisse, die im Augenblick vielleicht keinen Bezug zur Mitte der Christusbotschaft zu haben scheinen, diesen Bezug gehabt haben oder wieder werden haben können. Was man leichtfertig auszuscheiden geneigt ist, kann im Sinne der Paradoxie oder Polarität gerade der Zugang werden, der die Mitte verstehen lehrt. Trotzdem will JOBST nicht behaupten, alle Elemente der Schrift müßten unter allen Umständen einen Bezug zur Mitte haben, allein aus dem Grund, weil sie sich innerhalb der Grenzen befin. 36
Ebd. 205.
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den, die von der Kirche als Kanon festgelegt worden sind. Es mag innerhalb der Grenzen des Kanons auch Elemente geben, die schweigen, weil sie Gott nie als Werkzeug seines Christum-Treibens gebraucht hat und gebrauchen wird. JOBST sieht es aber nicht als seine Aufgabe an, von irgendeinem theologischen Ansatz aus einen Katalog unkanonischer Elemente des Kanons aufzustellen. "Nur zu leicht könnte es sonst dazu kommen, daß das persönliche und zeitgeschichtlich bedingte System des Theologen (und sei es das System seines Christus-Treibens) der Lebendigkeit und Weite, in der durch die Schrift das Reden Gottes selbst Christum treiben will, prä judiziert"37. Die Mannigfaltigkeit der im Kanon zusammengeschlossenen theologischen Möglichkeiten bewahrt davor, das Selbstverständnis einer Zeit, einer Gruppe oder eines noch so großen Theologen mit der Offenbarung Gottes insgesamt gleichzusetzen38 . Folgerungen Für die nachfolgende Untersuchung der frühkirchlichen Paulusrezeption darf festgehalten werden: I. Die Hl. Schrift des Neuen Testamentes ist kein vom Himmel gefallenes Buch, das unbeeinflußt von Zeit 'und Ort entstanden wäre39 . Situationen und Absichten, von denen die neutestamentlichen Verfasser bestimmt waren, haben nicht nur Uneinheitlichkeit in bezug auf Stil, literarische Art und Auswahl der Überlieferungsinhalte in den kanonischen Schriften zur Folge gehabt, sondern auch zu unterschiedlichen, wenn nicht gar gegensätzlichen Positionen geführt. Ebenso läßt sich feststellen, daß nicht ·alle vom Neuen Testament ermöglichten Auslegungen von der Tradition aufgegriffen und entfaltet worden sind; einige sind für lange Zeit liegen geblieben, andere bald oder später ganz fallen gelassen worden. Daß der eine christologi!)che Strang zum Nicae37
Ebd. 209f.
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KUss, Paulus 457.
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Vgl. Vaticanum H, Constitutio Dei Verbum 12.
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num geführt hat, wogegen ein anderer untergegangen ist, beruht allerdings nicht auf Zufall. Die nachapostolische Kirche hat nicht nur den Kanon hervorgebracht, sie hat die in ihm enthaltenen Schriften auch ausgelegt. Gewiß lassen sich plausible und historisch faßbare Gründe für Tatsache und Umfang einer Sammlung der neutestamentlichen Schriften angeben (z. B. Markion, Gnosis). Hinter allen situationsbedingten Notwendigkeiten glaubt die Kirche aber, den Antrieb des Geistes Gottes erkennen zu können, der den Rahmen für die Weitergabe der Christusbotschaft geschaffen hat. Natürlich ist letzteres historisch nicht mehr beweisbar - genausowenig wie die Berechtigung, den Kanon zu teilen bzw. sich nur von einem bestimmten Aspekt seines Inhaltes betreffen zu lassen. Das ganze Neue Testament ist ernst zu nehmen; auf jede grundsätzliche oder faktische Eliminierung einzelner Teile ist zu verzichten. Es kommt nicht nur auf Paulus an; auch nicht nur ,,~uf jene drei großen Blöcke ... , welche durch die Namen Jesus, Paulus, Johannes gekennzeichnet sind"40. Gerade die sogenannten frühkatholischen Züge der späten Schriften des Neuen Testaments sind wichtig, weil sie die Kontinuität zwischen der apostolischen Verkündigung und der Gestalt der Kirche in späteren Jahrhunderten herstellen. Ein Rückzug auf das Urapostolische und die Ausmerzung alles "Frühkatholischen" erscheint zwar auf den ersten Blick als .sehr entschieden, führt aber zu der Konsequenz, die gesamte Entwicklung der Kirche seit dem letzten Drittel des ersten Jahrhunderts als Abfall zu disqualifizieren. Eine kritisch eindringende Erforschung der Geschichte der Kirche wird damit uninteressant, weil von vornherein feststeht, daß sie nur eine Geschichte des Abirrens, der Verfälschung und Verdunkelung ihres reinen Ursprungs sein kann41 • Läßt man dagegen BRAUN, Hebt die Forschung: KÄSEMANN, Kanon 228; das angeführte Zitat ebd. 382; ähnlich KOMMEL, Hauptzeugen 15; 286/95; DERS., Lukas in der Anklage der heutigen Theologie: ZNW 63 (1972) 163. 41 Vgl. den seltsam ahistorischen Ausgangspunkt von ScHuLz, Mitte der Schrift 430, für den der Kanon neben dem paulinischen Evangelium "gleichzeitig seine Verstehensgeschichte enthält", die als Geschichte der "Mißverständ40
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das ganze Neue Testament sprechen, auch seine "frühkatholischen" Teile, dann wird die Kritik zwar ungleich schwieriger (weil nicht alle Erscheinungen über einen fertigen apostolischpaulinischen Leisten geschlagen werden können), aber auch notwendiger, weil das Urteil über die nachfolgende Entwicklung nicht mehr vorgegeben ist. Es spricht für die "frühkatholische" Kirche, in der die Sammlung des Kanons in seinen wesentlichen Zügen vor sich gegangen ist, daß sie ihn in dieser Breite geschaffen und zugelassen hat. Wäre sie wirklich ein Abfall von ihrem Ursprung, wie er sich in den ältesten (oder wie anders als ursprünglich qualifizierten) Schriften des Kanons kundtut, dann ist nicht einzusehen, weshalb sie diese Schriften nicht ausschloß. Wäre der "Frühkatholizismus" ein Verrat an Paulus, dann ist nicht einzusehen, warum in frühkatholischer Zeit das Corpus Paulinum zusammengewachsen ist und die Briefe des Apostels nicht vielmehr ausgemerzt worden sind. Man sagt, die Amtsauffassung der Pastoralbriefe oder des 1. Klemensbriefes schlüge dem Amtsverständnis des 1. Korintherbriefes ins Gesicht. Und doch wird in den "frühkatholischen" Gemeinden der Apostolischen Väter Paulus gelesen und zu einem Autor der Hl. Schrift qualifiziert; trotzdem knüpfen die Pastoralbriefe an Paulus an, wollen sogar als Paulusbriefe gelten: Tatsachen, die bei der Beurteilung der inhaltlichen Paulusrezeption durch die spätneutestamentliche und "frühkatholische" Literatur nicht übersehen werden dürfen. 11. Die Respektierung des gesamten Kanöns bedeutet jedoch nicht, alle Schriften des Neuen Testamentes besäßen den gleichen Rang. Es gibt eine Mitte der Schrift, wenn damit nicht behauptet wird, diese Mitte sei die ganze Schrift im Sinne von Evangelium und alles andere sei in eben diesem Sinne keine Schrift. Man hat eingewandt, ein Geltenlassen der ganzen Schrift führe dazu, der letzten Schrift des Kanons als dem letzten Zeugnis der neutestanisse, Fehlentwicklungen und Irrwege" betrachtet wird. Ausgewogener in seinem Urteil ist U. WICKERT. Paulus, der erste Klemens und Stephan von Rom: drei Epochen der frühen Kirche aus ökumenischer Sicht: ZKG 79 (1968) 156/8.
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mentlichen Verkündigungsgeschichte das größte Gewicht 'zuzumessen, weil sie alles Voraufgegangene noch einmal authentisch interpretiere.. Damit würde der 2. Petrusbrief zum Schlüssel für das Verständnis des ganzen Neuen Testamentes42 • Doch eine solche Befürchtung ist unnötig, denn obgleich der 2. Petrusbrief zum. Kanon gehört und in seiner Weise die Botschaft des Evangeliums mitformt, ist er doch weniger ein ursprüngliches als vielmehr ein abgeleitetes Zeugnis. Er und andere neutestamentliche Schriften setzen schon frühere Stücke des' Neuen Testamentes voraus, die selbst wiederum auf Logien Jesu und die mündliche überlieferung zurückgehen. Die neutestamentlichen Schriften sind ja nicht einfachhin beschreibendes Zeugnis der Botschaft Jesu, sondern reflektieren diese Botschaft und ihre Anwendung auf gewandelte 'Situationen hin. Der Wert gerade der späteren Schriften besteht dabei nicht zuletzt darin, daß sie bereits im Neuen Testament eine Lehrentwicklung einleiten und durch ihre Eingliederung in den Kanon die Berechtigung einer theologischen Durchdringung der evangelischen Botschaft legitimieren. Das alles schließt nicht aus, daß über eine zeitliche Nähe zum Ursprung hinaus eine unterschiedlich große sachliche Nähe zur Mitte des Evangeliums möglich sein kann. Welche Faktoren auf die nachfolgende Verkündigung eingewirkt und wie sie die ursprüngliche Christusbotschaft akzentuierend entfaltet haben, muß im einzelnen geprüft werden. Daß am Ende dem Judasbrief oder dem Jakobusbrief ein größeres Gewicht zukommt als der Bergpredigt oder den Urpaulinen, ist nicht anzunehmen. 111. Eine Untersuchung des Einflusses, den die paulinische Theologie auf die Ausformung frühchristlicher Lehre, Disziplin, Organisation und Spiritualität ausgeübt hat, wird davon ausgehen düden, daß die Treue zu Paulus einen wertvollen Maßstab für die Beurteilung der eingetretenen' Entwicklungen darstellt. Daß Paulus sich zwischen Jesus von Nazareth und die Christenheit gedrängt hat, ist nicht zu befürchten43 , die Parole "Weg von Kanon 373f. E. STAurFBR, Jesus, Paulus und wir (Hamburg 1961) 77, mit Bezug auf das Verhältnis des Christen zur Obrigkeit.
42 KÄSEMANN, 43
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Paulus - zurück zu Jesus" daher unnötig44. In den echten Paulusbriefen ist ein wesentliches Moment der Christusbotschaft getroffen und eine Nähe zur Mitte der Schrift sichergestellt wenn auch nicht in Ausschließlichkeit. Eine Exklusivität und Allgegenwärtigkeit, wie sie die reformatorische Theologie für Paulus gefordert hat, stimmt mit der frühkirchlichen Wirklichkeit nicht überein45 . Für sie bleibt die paulinische Theologie "ein zeitweilig obendrein auffallend zurücktretender - Faktor unter anderen"46. Nach Kuss ist Paulus "in gewissem Sinne Anfang, Fundament; denn er ist einer der wichtigsten Offenbarungsträger des Neuen Testamentes. Paulus ist daiüber hinaus Fortschritt; denn er gibt sein Erbe nicht weiter, ohne es gemehrt zu haben. Aber Paulus ist nicht Ende, auch nicht schlechthin Vollendung"47. Er konnte nicht alle Probleme lösen und alle Fragen beantworten. Wenn schon der ganze Paulus nicht zum alleinigen Maßstab werden kann, so noch weniger ein purgierter oder reduzierter Paulus. Ohne bestreiten zu wollen, daß die Rechtfertigung der Sünder aus Gnade in hervorragender Weise der Sünderliebe Jesu in den Evangelien korrespondiert und die Mitte der Schrift berührt, so trifft es doch nicht zu, daß der Gegensatz von Gesetz und Evangelium bzw. Werke und Glaube den Apostel allezeit und aussc~eßlich bewegt hätte. Wenn sich nachweisen läßt, daß die Rechtfertigungsproblematik Paulus eindringlich "nur während der kurzen Periode am Ende der dritten· Missionsreise" beschäftigt hat48 , dann verbieten bereits historische Gründe, F. J. ScHmRSE, Abschied vom paulinischen Christentum: StdZ 189 (1972) 351/4; zur gegenwärtigen PauIusabwertung in christlichen und außerchristlichen Kreisen vgl. BoRNKAMM, Paulus 236/8; F.-J. STElNMET2:, Geht das pauIinische Christentum zu Ende?: GuL .45 (1972) 245/61; Kuss, Paulus 257/69; M. BARTH, Der gute Jude Paulus: Richte unsere Füße auf den Weg des Friedens. Festschrift H. Gollwitzer (München 1979) 107/37. 45 Vgl. C. ANDRESEN, Geschichte des Christentums I. Von den Anfängen bis zur Hochscholastik = Theologische Wissenschaft 6 (Stuttgart 1975) 3f. 46 Kuss, Paulus 439. 47 Ebd. 453; 18. 48 So U. BoRSE, Die geschichtliche und theologische Einordnung des Römerbriefes: BZ NP 16 (1972) 80. 44
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andere Komplexe (wie Christusmystik, Ethik, Kirche und Sakramente) an den Rand des paulinischen Denkens zu drängen49 • Nicht jedes Abrücken vom gesamten oder ausgewählten Paulus ist schon Korrumpierung der Botschaft Jesu und nicht jedes Zurückgehen auf nichtpaulinisehe Traditionen schon Abfall. Anders wäre die folgende Untersuchung uninteressant und unnötig. Den Weg des Abfalls zu beschreiben und das Ausmaß der Verirrungen zu konstatieren, mag vielleicht für den Historiker reizvoll sein, für den Theologen, der anband der geschichtlichen Gestalt der Kirche Einsicht in die sie prägenden Kräfte gewinnen will, blieben sie letztlich belanglos. Ihm würde die grundsätzliche Entscheidung genügen, die dann nur noch die Wahl ließe, alles Nachpaulinische wegzuschneiden und wieder am Anfang zu beginnen. Doch der Stachel im Fleisch des Paulus (2 Kor 12,7)50 ist in bezug auf die Kirche Paulus selbst51 • Wie er die Kirche der auf ihn folgenden Generationen immer wieder aufgeschreckt:ein nie erlahmendes Element der Unruhe in ihre Geschichte hineingetragen hat, dem sie sich häufig genug zu entziehen versuchte, dem sie aber nie entkommen konnte, gilt es aufzuspüren. Auf diese Weise mag es gelingen, Einsichten zu gewinnen, die dazu beitragen, die Geschichte der Kirche in den ersten beiden Jahrhunderten und die Entfaltung ihrer Theologie bis auf den heutigen Tag besser zu verstehen.
Vgl. die Aufzählung geradezu "frühkatholischer" Elemente in den paulinisehen Briefen bei O. KNOCH, Clemens Romanus und der Frühkatholizismus: JbAC 10 (1967) 207f. 50 J. ZMuBWSKI. Der Stil der paulinisehen "Narrenrede" = BBB 52 (1978) 370/2. 51 Vgl. E. KÄSBMANN. Paulus und der Frühkatholizismus: Exegetische Versuche und Besinnungen 23 (Göttingen 1970) 252.
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11. PAULUS IM NEUEN TESTAMENT UND BEI DEN APOSTOLISCHEN VÄTERN 1. Paulus in der Apostelgeschichte
Die Synoptiker und Johannes unterscheiden sich von Paulus nicht nur hinsichtlich des überlieferten Stoffes, sie setzen auch andere theologische Akzente. Da die schriftliche Fixierung der Evangelien später liegt als die Abfassung der Paulusbriefe, stellt sich bereits hier die Frage, ob in den Evangelien Beziehungen zur paulinischen Theologie - sei es in Weiterführung und Ergänzung oder auch in Auslassungen und Korrekturen - nicht nur tatsächlich vorliegen, sondern bewußt hergestellt worden sind. Für das Markusevangelium ist die Frage zwar kategorisch verneint worden: Ob Markus der Begleiter des Paulus gewesen ist oder nicht (vgl. Apg 15,37; 12,12)1, von einem paulinischen Einfluß im Markusevangelium "kann nicht im geringsten die Rede sein"2. Ungleich schwieriger zu entscheiden (und daher ausführlicher zu erörtern) ist das Verhältnis zwischen Paulus auf der einen, Matthäus und Johannes auf der anderen Seite sowie die unabhängig davon und zugleich auch wieder damit verknüpfte Frage nach dem Zusammenhang zwischen Paulus und der dem Evangelientext vorausliegenden Jesustradition, kurz gesagt, das vielverhandelte Problem Jesus und Paulus3 • Leichter läßt sich die Reaktion auf die Herausforderung der paulinischen Theologie dage1
WIKENHAUSER-ScHMID, Einleitung 214; VIElHAUER, Urchristliche Literatur
346f. M. WERNBR, Der Einfluß pauJinis'iilier Theologie iin Markusevangelium. Eine Studie zur neutestamentlichen Theologie = Beihefte ZNW 1 (Gießen 1923) 209. Ober ande-:e, auch entgegengesetzte Meinungen referiert J. C. F'ENToN, Paul and Mark: Studies in the Gospels. Essays in Memory of R. H. Lightfoot (Oxford 1955) 91; 111. 3 Vgi. die Skizzierung des Problems und die Literaturübersicht bei Kuss, Paulus 2
440/51.
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gen in der Apostelgeschichte fassen, denn sie enthält nicht nur versteckt, sondern ausdrücklich und ausführlich ein Echo auf Person und Werk des Paulus. Lukanische Verfälschung? Unabhängig davon, ob der Verfasser der Apostelgeschichte Lukas, der Arzt, ist oder ein Mann einer spateren Generation4, daß die Apostelgeschichte Paulus hochschätzt, muß nicht erst bewiesen werden; umfangmäßig ungefähr die halbe Schrift ist ihm gewidmet. Eine andere Frage ist es, ob das Bild, das die Apostelgeschichte von Paulus zeichnet, zutrifft, wenn man es an den Briefen des Apostels selbst mißt. Hier fällt das Urteil in einer bestimmten Phase der Apostelgeschichtsforschung überwiegend negativ aus. Lukas gerät auf die Anklagebank: Man wirft ihm vor, er habe die Person des Paulus verzeichnet und seine Wiedergabe der paulinischen Theologie enthalte "keinen einzigen spezifisch paulinischen Gedanken"; sein Paulus sei das Produkt einer "reflektierten Befangenheit"s. Für die Apostelgeschichte ist Paulus ein großer Wundertäter. Er blendet den Elymas (13,8/11), heilt einen Gelähmten in Lystra (14,8/10), steht nach seiner eigenen Steinigung wieder auf (14,19f.) und erweckt den toten Eutychus (20,9/12), indem er sich auf ihn legt wie die alttestamentlichen Propheten Elia und Elisa auf den toten Knaben (1 Kg 17,2lf.; 2 Kg 4,34); Schlan-
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E. HAENCHEN, Die Apostelgeschichte16 = MEYER K 3 (Göttingen 1977) 17/29; 102, Anm. 1; vgl. VIELHAUER, Urchristliche Literatur 391; 406f. HAENCHEN 124; Ph. VIELHAUER, Zum "Paulinismus" der Apostelgeschichte: EvTh 10 (1950) 15 (nachgedruckt in: Aufsätze zum Neuen Testament = Theologische Bücherei 31 [München 1965] 9/27); G. KLEIN, Die ZwöH Apostel. Ursprung und Gehalt einer Idee = FRLANT 77 (Göttingen 1961) 202; K. LöNlNG, Die Saulustradition in der Apostelgeschichte = NTA, NF 9 (Münster 1973) 11. Einen überblick über die Acta-Forschung seit F. Ch. BAUR versucht W. GASQUE, A Histoxy of the Criticism of the Acts of the Apostles = BGE 17 (Tübingen 1975). Vgl. auch Ch. BURCHARD, Paulus in der Apostelgeschichte: ThLZ 100 (1975) 881/95.
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gengift kann ihm nicht schaden (28,3/6), und seine Wunderkraft ist so groß, daß die Auflegung seines Schweißtuches genügt, um Krankheiten zu heilen und böse Geister zu vertreiben (19,12). Ganz anders präsentiert sich Paulus selbst in seinen Briefen. Er spricht zwar einmal von Wundem und Machttaten als Zeichen der Apostel (2 Kor 12,12); er hat das Wesentliche seines Aposto':' lates aber gerade nicht in solchen Demonstrationen gesehen. Er ist in Schwachheit aufgetreten und hat die Schwierigkeiten der Verkündigung nicht durch Wunder überspielt. Seine Predigt geschah nicht in überragender Redekunst und Weisheit, sondern zitternd und zagend, damit der Glaube nicht auf Menschenwitz gründe, sondern auf Gottes Kraft (1 Kor 2,114). Seine Gegner spotten: "Seine Briefe sind wuchtig und stark, aber seine leibliche Anwesenheit ist schwächlich und sein Wort ist nichts" (2 Kor 10,10). In der Apostelgeschichte dagegen ist Paulus der große Redner. Wütende Kontrahenten, tobende Volksmassen bringt er mit ausdrucksvoller Geste zum Schweigen, und vor, Juden, Heiden, Philosophen und Statthaltern findet er das rechte Wort (13,16/41; 14,1517; 24,10/21; 17,22/31). Hier ist nicht pur verklärende Schilderung am Werk, sondern die Auffassung einer späteren Generation, die meint, Paulus, der große Missionar, müsse auch ein großer Redner gewesen sein6 • Folgenschwerer wird die Verzeichnung, wenn Lukas trotz aller Hochschätzung den eigentlichen Anspruch des Paulus nicht erwähnt. Was Paulus nämlich mit allem Nachdruck fordert, Apostel zu sein wie die Zwölf in J erusalem, weil auch er den Herrn J esus gesehen und von keiner menschlichen Instanz, sondern von ihm allein den Auftrag bekommen habe, den Heiden das Evangelium zu verkünden (Gal 1,1; 2,7f.), übergeht Lukas. Für ihn sind Apostel nur die Zwölf, und Paulus erfüllt nicht die Voraussetzungen, die er für die Berufung zum Apostel fordert: beim Herrn gewesen zu sein, angefangen von der Taufe des Johannes bis zur
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de
HABNCHBN 122; vgl. E. RAsco, La teologia Lucas: Origen, Desarrollo, Orientaciones = Analecta Gregoriana 201 (Rom 1976) 147/55, bes. 153.
Himmelfahrt (1,2lf.). Als Abgesandter Antiochienswird Paulus zusammen mit Barnabas zwar einmal Apostel genannt (14,4.14), aber das besagt nichts, denn hier ist ein anderer (älterer) Apostelbegriff im Spiel'. Die Aberkennung des an den Apostelnamen geknüpften Anspruches beeinträchtigt aber nicht nur die Person des Paulus, sondern signalisiert vor allem "ein theologisches Problem: seine Einordnung in die apostolische Sukzession. Um den durch gnostischen Mißbrauch gefährdeten Paulus für die kirchliche Tradition zu retten, wird er domestiziert und nach Jesus und den Aposteln in das dritte Glied der Sukzessionskette abgedrängt; die Subordination unter die Zwölf rettet ihn für eine Supraordination über die nachgeordneten TraditionsträgerB . Was die lukanische Verzeichnung und Defizienz paulinischer Theologie in der Apostelgeschichte angeht, so erstreckt sie sich auf verschiedene Bereiche. VIELHAUER hat die zentralen Themen der Christologie, natürlichen Theologie, Eschatologie und des Gesetzesverständnisses untersucht mit dem Ergebnis, daß Lukas in der Christologie hinter Paulus zurückfällt, in den anderen drei Bereichen dagegen nachpaulinische, "frühkatholische" Lösungen aufnimmt9 • In der Frage der gesetzesfreien Heidenmission kommen zwar beide zu den;elben Lösung, aber auf verschiedenen Wegen. Paulus überwindet das Gesetz von innen her in einer grundsätzlichen Entscheidung über seine Vorläufigkeit und Heilsunwirksamkeit, Lukas dagegen argumentiert pragmatisch mit dem Unvermögen, das Gesetz zu halten. Wenn Petrus auf dem Apostelkonzil erklärt: "Was wollt ihr also jetzt Gott versuchen, indem ihr den Jüngern ein Joch auf den Nacken legt, das weder unsere Väter noch wir haben tragen können?" (15,10), scheint das aus der Sicht der Heiden, nicht des Pharisäers Paulus gesprochen. Das Gesetz wird als eine Unsumme von Vorschriften betrachtet, mit denen sowieso niemand zurechtkommt. Die gesetzesfreie Heidenmission ergibt sich für Lukas aus äußeren AnHAENCHEN 123. 202; 210/6; vgl. dazu LöNING 1. 9 VIEUlAUBR, "Paulinismus" 2/15; vgl. LöNING 3f. 7
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lässen, durch die Gott kundgetan hat, daß Unbeschnittene getauft werden und den Hl. Geist empfangen sollen (10,1/16). Der majestätische Wille Gottes ist undiskutabel, ähnelt in seiner inneren Uneinsichtigkeit aber dem Schicksalszwang, den auch die heidnische Religiösität kennt; er legitimiert sich durch Wunder und Zeichen, die nachprüfbar sind und der schnell wachsenden Heidenmission das gute Gewissen verleihen: Gott will es!10.Von der paulinischen Beweisnot, gegen Tradition und überzeugung einen beschneidungsfreien Zugang zum Heil zu rechtfertigen, ist bei Lukas nichts mehr zu spüren. Rehabilitierung Das Thema "Lukas in der Anklage der heutigen Theologie"11 ist mit diesen Ausstellungen nicht erschöpft, kann aber an dieser Stelle abgebrochen werden, weil man in jüngster Zeit zunehmend darauf verzichtet, Lukas "durch die Brille paulinischer Begrifflichkeit (zu) sehen"12. Statt dessen bemüht man sich, lukanische Theologie in ihrer Eigenständigkeit zu erkennen. Wie problematisch es nämlich ist, die Verzeichnungen des lukanischen Paulusbildes aus einem Vergleich Apostelgeschichte - Paulusbriefe zu gewinnen, zeigt bereits der Umstand, daß Lukas Paulusbriefe zwar gekannt haben wird, sie aber für seinen Paulusreport in der Apostelgeschichte nicht benutzt hat. über die Gründe ist viel gemutmaßt worden 13 . Sicher war es nicht ungewolltes Versäum121. So lautet der Titel eines Aufsatzes von W. G. KüMMELm: ZNW 63 (1972) 149/65. 12 H. FLENDER, Heil und Geschichte in der Theologie des Lukas: BEvTh 41 (1968) 11, Anm. 10; vgl. KOMMEL. Anklage 156. 13 Vgl. die Diskussion der in der neueren Literatur angeführten Gründe bei Ch. BURCHARD, Der dreizehnte Zeuge. Traditions- und kompositionsgeschichtliche Untersuchungen zu Lukas' Darstellung der Frühzeit des Paulus = FRLANT 103 (Göttingen 1970) 155/8; dazu V. SroLLE, Der Zeuge als Angeklagter. Untersuchungen zum Paulus-Bild des Lukas = BWANT 102 (Stuttgart 1973) 24. Für M. S. ENsuN, Once again, Luke and Paul: ZNW 61 (1970)
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nis oder historische Unbedarftheit, wenn Lukas darauf verzichtet hat, das historische Gerüst seiner Darstellung mit den Angaben der Briefe in Einklang zu bringen14 und die in die Apostelgeschichte eingefügten Paulusreden mit den theologischen Aussagen des Paulus selbst zu vergleichen. Wollte Lukas aber weder die Biographie des Paulus wiedergeben noch genuin paulinische Theologie bieten - wenigstens insoweit er sie verstanden hat15 -, wird man, um den Rang ennessen zu können, den Person und Werk des Paulus im zeitlichen und räumlichen Umkreis des Verfassers der Apostelgeschichte besessen haben, über den Briefvergleich und die Prüfung der historischen Richtigkeit des Erzählten hinaus nach den theologischen Absichen des lukanischen Paulusbildes fragen müssen - falls es überhaupt um Paulus als solchen geht und nicht vielmehr "um die Aussageabsicht des Lukas, der sich der Gestalt des Paulus bedient, um seiner Verkündigung Autorität zu verleihen"16. Lukas hat sein Paulusbild natürlich nicht frei erfunden. Auch wenn keine direkte Traditionslinie zwischen ihm und dem authentischen Paulus vorhanden sein sollte, so steht nach den formgeschichtlichen bzw. stilkritischen Untersuchungen von DmELIUS
253/71, steht fest, daß Lukas die Paulusbriefe gekannt und auch Gebrauch von ihnen gemacht hat. Daß er auf sie keinerlei Bezug nimmt, resultiert aus dem Umstand, daß sie bereits von Häretikern mißbraucht wurden. Auf die biographischen und theologischen Unstimmigkeiten zwischen Briefen und Apostelgeschichte geht ENSLIN nicht ein. 14 Vgl. BURCHARD 172: "Der Damaskusaufenthalt 9, 19b-25 etwa ist solidere historische Rekonstruktionsarbeit als zum Beispiel das Stück Hagiographie, das L.. GoPPELT in seiner Geschichte der apostolischen und nachapostolischen Zeit als Jugendbildnis des Apostels ausgibt". BURCHARD bezieht sich hier auf L.. GoPPELT, Die apostolische und nachapostolische Zeitl = Die Kirche in ihrer Geschichte 1 A (Göttingen 1966) 48f. 15 Vgl. die Korrektur der VIEUlAUERschen These von der in den Reden der Apg intendierten Wiedergabe der paulinischen Theologie bei LöNING 3/6. 16 K. OBERMEIBR, Die Gestalt des Paulus in der lukanischen Verkündigung. Das Paulusbild der Apostelgeschichte (Diss. Bonn 1975) 249. Noch schärfer formuliert Srou.E 273, allerdings im Hinblick auf den Prozeßbericht: "Die Paulusdarstellung ist so kein eigenständiges Ziel des Lukas, sondern seinem Bericht über Jesus zu- und sogar eingeordnet".
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doch fest, daß Lukas umlaufendes Material über Paulus gesammelt und sein Paulusbild auf dem Wege sorgfältiger Redaktion geformt hat. Er ist in der Apostelgeschichte mit dem vorgegebenen Stoff jedoch freier umgegangen als in seinem Evangelium, so daß es berechtigt bleibt, die im lukanischen Endresultat sichtbar werdenden theologischen Absichten vor allem aus der Apostelgeschichte zu erheben17 . Sorgfältige Untersuchungen einzelner Traditions- bzw. Kompositionskomplexe (Paulustradition, Frühzeit des paulinischen Wirkens, Prozeßbericht) haben gezeigt, daß in dem "Gefälle zwischen Tradition und Interpretation"18 die lukanische Pauluskonzeption gegenüber dem Paulusbild in den von Lukas aufgearbeiteten Überlieferungen Eigenständigkeit bewahrt - noch dazu in der Weise, daß durch die lukanische Redaktion der sachliche Abstand zwischen den in den Gemeinden umlaufenden Traditionen und den Aussagen des Paulus über seine Berufung und Sendung in seinen Briefen eher verringert als vergrößert worden· ist19 . In dieser Behandlung und Beurteilung traditions- und redaktionsgeschichtlicher Fragen ist sich die neueste Acta-Forschung erstaunlich einig; geringer wird das Maß an übereinstimmung allerdings, wenn es darum geht, die theologischen Absichten und Ziele des lukanischen Paulusbildes festzulegen. Nachdem KLEINS Domestizierungsthese von der Unterordnung des Paulus unter die Zwölf und seiner auf diese Weise ermöglichten Einordnung in die Lukas vorgegebene KirchenstrukturO zunehmend auf Kritik gestoßen isr1, versucht jede in letzter M. DmELIUs, Aufsätze zur Apostelgeschichte. Hrsg. von H. GREEVEN5 = FRLANT 60 (Göttingen 1968) 165; 128; vgl. SrOLLE 26/8; 260/71; LöNING 7. 18 LöNiNo 210. 19 Ebd. 214; vgl. BURCHARD 169/73. 20 KLEIN 215f.; ebenfalls vertreten von E. KÄSEMANN, Paulus und der Frühkatholizismus: Exegetische Versuche und Besinnungen 23 (Göttingen 1970) 243. 21 Vgl. BURCHARD 174; LöNlNO 215f; SroLLE 280; G. SCHNEIDER; I?ie Zwölf Apostel als Zeugen: Christuszeugnis der Kirche. Hrsg. von P. W. SCHEELE u. G. ScHNEIDER (Essen 1970) 41/65, bes. 62f. Lukas legitimiett die Verkündigung des Paulus durch seine Funktion als Zeuge; vgl. E. NELLESSEN, Zeugnis für Jesus und das Wort. Exegetische Untersuchungen zum lukanisch.en Zeug. nisbegriff = BBB 43 (Köln 1976) 278/80. 17
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Zeit erschienene Untersuchung, zumindest einen neuen Akzent zu setzen. Für ScHuLzE ist der lukanische Paulus der "Vater der Apologeten"22. Seine Auseinandersetzungen mit der Obrigkeit sollen stets aufs neue beweisen, daß die Christen gute Staatsbürger sind, die sich" politisch nichts zuschulden kommen lassen23 • Nach SToLLE liefert Paulus Lukas den Beweis dafür, "daß Jesus als der gegenwärtige Herr auch die gegenwärtige Situation trägt"24. Paulus setzt in seinem Prozeß das Schicksal Jesu fort; er ist direkter Zeuge Jesu, nicht Träger einer apostolischen Sukzession; er verteidigt nicht das Recht der kirchlichen Mission gegenüber Juden oder Römern, sondern die weitere Verkündigung Jesu als Messias. Alle mit der heilsgeschichtlichen Kontinuität, der apostolischen Tradition, der Trennung der christlichen Gemeinde von der Synagoge auftretenden Probleme sind für Lukas christologischer, nicht ekklesiologischer Art25 . Die" Mehrzahl der neuesten Acta-Arbeiten sieht aber gerade in den ekklesiologisch begründeten Fragen nach der heilsgeschichtlichen Qualität der Zeit nach Jesus, der Legitimität der heidenchristlichen Mission, der Kontinuität der Verkündigung nach der Ablösung der Kirche von den Juden - bei unterschiedlicher Bewertung" im einzelnen - das treibende Motiv der lukanischen Darstellung26 . Für BURCHARD ist Lukas vor allem an der Richtigkeit des Kerygmas interessiert. In der Apostelgeschichte schildert G. ScHuLzE, Das Paulusbild des Lukas. Ein historisch-exegetischer Versuch als Beitrag zur Erforschung der lukanischen Theologie (Diss. Kiel 1961) 207. 23 Ebd. 137; 123; 256. Als Nebenaspekt tauchen Römerproblem und politische Apologetik auch in anderen Arbeiten auf; vgl. HAENCHEN 662/4; H. CoNZELMANN, Die Apostelgeschichte = HNT 7 (Tübingen 1963) 10; 107; ENSLIN 269; kritisch urteilen BURCHARD 184 und besonders SToLLE 278/84. 24 SToLLE 283. 25 Ebd. 275/9. 26 Vgl. neben den ausführlicher angeführten Untersuchungen noch J. JERVELL, Paulus - der Lehrer Israels. Zu den apologetischen Paulusreden in der Apostelgeschichte: NovT 10 (1968) 165/87; VIEUIAUER, Urchristliche Literatur 396; W. ELTESTER, Lukas und Paulus: Eranion. Festschrift H. HOMMEL .(Tübingen 1961) 13/6 und bereits M. DmBLlUs, Aufsätze zur Apostelge" schichte 149. Es fehlt als Nebenmotiv auch nicht in anderen Untersuchungen, vgl. SCHuLzE 218/21. 22
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er, wie die Zeugen die Botschaft bis nach Rom verpflanzt haben, "so daß nicht nur ihr Inhalt nachprüfbar ist, sondern auch ihr Weg an die Orte, an denen gegenwärtig gläubige Gemeinden bestehen"27. An diesem Geschehen ist Paulus maßgeblich beteiligt. Er "predigte zuerst denen in Damaskus, dann in Jerusalem, im ganzen Lande Judäa und den Heiden" (Apg 26,20) und hat damit erfüllt, was Jesus vor seiner Himmelfahrt den Aposteln aufgetragen hat (Apg 1,8)28. Für LöNING steht hinter dem lukanischen Paulusbild kein wie auch immer geartetes Paulinismusoder Autoritätsproblem, sondern ein Identitätsproblem. "Das lukanische Grundanliegen ist die Frage nach der Legitimität des Heidenchristentums nachpaulinischer Prägung ,,29 , scheint doch die heidenchristliehe Gemeinde alle Bindungen an das Volk der Verheißung verloren zu haben. Die Schuldlosigkeit der Christen an dieser Entwicklung verbürgt Paulus, und dem Beweis dieser These dient das lukanische Paulusbild. Paulus, der "überall" zunächst den Juden und erst nach deren Ablehnung den Heiden gepredigt hat, der zuerst in blindem Gesetzeseifer die Christen verfolgte, um dann durch die Offenbarung vor Damaskus die Hoffnung der Väter (Apg 26,6) in Christus erfüllt zu sehen30, macht klar: Die faktische Diskontinuität des nachapostolischen Heidenchristentums gegenüber dem Judentum besagt nicht, "daß die Kirche den Zusammenhang mit der heilsgeschichtlichen Vergangenheit, sondern daß die Synagoge den Bezug zur verheißenen Erfüllung aufgegeben hat"31. Auch für OBERMEIER will die Apostelgeschichte die Frage beantworten, wie nach der Abwendung von den Juden die heilsgeschichtliche Einheit der Kirche mit dem Alten Testament erhalten werden konnte. Da nach dem Verständnis des Lukas Paulus diese Wende herbeigeführt hat, muß an seiner Person gezeigt werden, daß sie nicht im Brechen, sondern in übereinstimmung BURCHARD 185. Ebd. 177. 29 LöNJNG 204. 30 Ebd. 122f. 31 Ebd. 206. 27
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mit dem Heilshandeln Gottes geschehen ist32 . Lukas führt den Nachweis auf verschiedenen Ebenen. Als "Bürger zweier Welten"33 ist Paulus zunächst ein vorbildlicher Jude. Auch nach seiner Bekehrung hält er sich an das Gesetz (Apg 16,1/3; 18,18; 20,18), und Anschuldigungen, er lehre gegen Volk, Gesetz und Tempel, sind haltlos (24,10/21; 28,17). Er ist jedoch ebenso in der hellenistischen Welt zuhause. In der Areopagrede erbringt Lukas den Beweis für Pauli weltliche Bildung (Apg 17,22/31). Darum ist Paulus in besonderer Weise geeignet, das Evangelium nicht nur zu verkünden, sondern auch seine Übereinstimmung mit jüdischem Glauben, hellenistischem Denken und römischen Gesetzen zu beweisen34 . Diese persönlichen Umstände aber sind die Voraussetzung dafür, daß Paulus vom erhöhten Herrn zum Werkzeug erwählt wurde. Dreimal wird seine Beauftragung in der Apostelgeschichte erzählt (9,4/9; 22,6/16; 26,12/8) und ergänzt durch zahlreiche Berichte über göttliche Weisungen und wunderbare Begebenheiten, die Paulus widerfahren oder durch ihn geschehen sind. So wird deutlich, daß das paulinische Missionswerk an den Heiden Gottes Heilsplan nicht zuwiderläuft, sondern ihm entsprichtls . Paulus ist "Bindeglied der Kirche"36 in doppelter Hinsicht. Auf der einen Seite verbindet er juden- und heidenchristliche Gemeinden auf vielfältige Weise. Er lebt und lehrt in den Gemeinden von Damaskus (9,19/25) und Jerusalem (9,26/30). Die Hinwendung zur Heidenmission unternimmt er als Mitglied der Gemeinde von Antiochien (13,2/4), die die heimkehrenden Missionare wieder aufnimmt (14,27). Die Gemeinden in Phönizien und Samaria freuen sich über die Bekehrung der Heiden (15,3), und beim Apostelkonzil in Jerusalem wird sowohl die gesetzesfreie Heidenmission von den Aposteln ausdrücklich bestätigt als auch das Aposteldekret mit seinen Auflagen für die OBERMBIBR 249f. Bbd. 250; vgl. BURCHARD 37. 34 OBERMBIBR 250/4. 35 Bbd. 254/7. 36 Bbd. 257. 32 33
Heidenchristen von Paulus stillschweigend akzeptiert (15,23/29). Zum anderen bildet Paulus (wenn auch nicht im Sinne juristischer Sukzession) "die Brücke zwischen der Kirche der Apostel, die wiederum die Kontinuität mit dem irdischen Jesus verkörpern, und der Kirche der Ältesten (14, 23; 20,17), die die Kirche des Lukas ist,m. D. h. Paulus garantiert die Kontinuität der Heilsgeschichte nicht nur hinsichtlich des übergangs von der judenchristlichen zur heidenchristlichen, sondern ebenso von der apostolischen zur nachapostolischen Kirche 38 • Auch wenn in weiteren Untersuchungen die theologische Absicht des Lukas in der Apostelgeschichte noch andere Akzente erfahren sollte, so ändert das nichts an der Tatsache, daß der lukarusche Paulinismus mit Verdikten wie Nivellierung, Perhorreszierung, Mediatisierung und Subordinierung nicht zu treffen isf 9 . Lukas wollte Paulus nicht exzerpieren; er hat zugängliches Material über Paulus gesichtet und gesammelt, um es mit bestimmten Absichten, nicht unkritisch, selbständig zu verarbeiten. Die damit erbrachte theologische Leistung ist unbestreitbar, wenn man darauf verzichtet, den. Bewertungsmaßstab eines "authentischen Paulus" anzulegen, den Lukas selbst nicht anlegen wollte, weil es nicht der seine war.
Ebd. 259. Ebd. 257/9. Das vieldiskutierte Problem der Zeit und der heilsgeschichtlichen Epocheneinteilung bei Lukas braucht hier nicht weiter verfolgt zu werden. Erwähnt sei nur, daß die negativen Urteile über die Liquidation der N aherwartung und die Etablierung einer "Zeit der Kirche" bei Lukas durch seine theologische Rehabilitierung ebenfalls mannigfache Korrekturen erfahren; vgl. BURCHARD 180/3; LöNING 206/8; KOMMEL, Anklage 152/4; 156/9; W. RADL, Paulus und Jesus im lukanischen Doppelwerk. Untersuchungen zu Parallelmotiven im Lukasevangelium und in der Apostelgeschichte = Europäische Hochschulschriften 49 (Bem-Frankfurt 1975) 388/95, und die dort verarbeitete Literatur. 39 KLEIN 202. LöNING 11, Anm. 31 bietet Beispiele dafür, wie KLEINS Urteile sich in ihr Gegenteil verkehren, wenn man auf den Briefvergleich verzichtet.
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Warum Paulus? Und hier erst beginnt das Paulinismusproblem der Apostelgeschichte. Es läßt sich in die Frage fassen: Warum benutzt ein Theologe der dritten Generation in einem solchen Umfang Paulus und über Paulus umlaufende Traditionen zur Darstellung seiner theologischen Ziele, obwohl er weder eine direkte Beziehung zum Heidenapostel noch ein nachweisbares besonderes Verständnis seiner Theologie besessen hat40 ? Den negativen Teil der Antwort, daß es Lukas nicht um eine Rettung des Paulus aus den Händen der Häretiker und seine Bewahrung für die kirchliche Tradition ging, daß Paulus für Lukas weder problematisch noch anfechtbar war, vielmehr ein "schützender Name, an dessen Größe die Waffen der Gegner stumpf werden"4t, hat die neuere Acta-Forschung einsichtig gemacht. Weniger einleuchtend wird die positive Seite beantwortet. Vage bleibt S'roLLES Hinweis, Lukas spreche in eine Zeit, der die Paulusgestalt in ihren augenblicklichen Entscheidungen eine Hilfe sein solle; Paulus werde zur klärenden Figur, weil sich sein Jesuszeugnis auf Offenbarungen des Erhöhten stütze42 . Für LöNING ist Paulus die "katalysatorische Figur im christlich-jüdischen Konflikt"43. Bleibt Paulus dabei aber nicht eine von den theologischen Zielen des Lukas ablösbare Figur, die durch eine andere ausgetauscht werden könnte? Vi~lleicht hat die Paulusliebe des Lukas einen ganz einfachen äußeren Grund: Vielleicht hat Lukas "zu Recht oder Unrecht in den Gemeinden seines Horizonts paulinische Gründungen" gesehen, so daß sich ein Rückgriff auf die Autorität des Gründers nahelegte44 . Eine noch präzisere Antwort gibt ÜBERMEIER. Da mit großer Wahrscheinlichkeit Lukas die Apostelgeschichte für die Gemeinde von Ephesus geschrieben hat - sie ist die Ge40 41
Vgl. LöNlNG 6; LöNING 204.
OBERMEIER 259/62.
SroLLE 283. 194. 44 BURCHARD 175.
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meinde, in der Paulus (wie Lukas in der Interpolation Apg 18,19b/21b besonders hervorhebt) der Erstverkündiger war, die in der Apostelgeschichte den meisten Platz einnimmt (19,120,1.17), deren Presbytern ohne Rücksicht auf das Itinerar die Abschiedsrede des Paulus gilt (20,18/35) -, ist Paulus als Gründer der Gemeinde "für Lukas die geeignete Gestalt, der Gemeinde von Ephesus die Kontinuität der Heilsgeschichte, ihre Verbindung zum Alten Testament aufzuzeigen"45. Doch auch wenn diese überlegungen nicht zutreffen sollten und die Gründe für die Bevorzugung des Paulus durch Lukas nicht mehr angegeben werden können, bleibt bestehen, daß in der Apostelgeschichte eine lebhafte paulinische Tradition faßbar wird, die allerdings andere Wege geht und andere Inhalte aufgreift, als ein am "authentischen" Paulus geschultes Paulusverständnis sie zu akzeptieren geneigt ist. Schreibt man Lukas jedoch nicht vor, wie sein Pauluszeugnis auszusehen habe, dann zeigt sich, welcher Paulus abseits der Zuspitzung auf Gesetz und Apostelamt durch Lukas weiterlebte46 und zur Lösung theologischer Fragen herangezogen werden konnte. 2. Paulus im Lichte des Johannes?
Bevor auf unbestreitbar in paulinischer Tradition stehende späte Schriften des Neuen Testamentes eingegangen wird, seien ein paar überlegungen zu dem Verhältnis Paulus - Johannes angedeutet1 • Es kann sich dabei tatsächlich nur um Andeutungen handeln, denn die an sich wichtige Frage, ob und welche Bezie263f.; für ELTESTER 10; 17 ist Lukas ein Paulusschüler. P. BORGEN, Von Lukas zu Paulus. Beobachtungen zur Erhellung der Theologie der Lukasschriften: StTh 20 (1966) 150; 157; U. WILCKBNS, Lukas und Paulus unter dem Aspekt dialektisch-theologisch beeinflußter Exegese: Rechtfertigung als Freiheit (Neukirchen 1974) 202. 1 Das verkürzte Sprechen von "Iohannes" soll kein Urteil über den Verfasser des Iohannesevangeliums bzw. der Iohannesbriefe und der Apokalypse präjudizieren; vgl. dazu VIELHAUER, Urchristliche Literatur 481/4 und die übrigen Einleitungen.
45 OBERMEIBR 46
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hungen zwischen den beiden großen Theologen des Neuen Testamentes bestehen, ist überraschenderweise kaum behaDdelt worden. Monographische Untersuchungen fehlen ganz. Auch neuere neutestamentliche "Einleitungen" und "Theologien" verzichten so gut wie vollständig auf einen Vergleich zwischen den paulinisehen und johanneischen Schriften2 • Bei Paulus interessiert vornehmlich sein Verhältnis zu Jesus und der Urgemeinde, bei Johannes sein Verhältnis zu den Synoptikern. Ähnliches gilt für die großen Johanneskommentare3 sowie für Untersuchungen über die Rezeption der johanneischen Theologie in der Alten Kirche4 ; gelegentliche Hinweise auf paulinisehe Parallelen werden nicht zusammengefaßt und ausgewertet. Allein einige ältere Arbeiten schenken dem Einfluß des Paulus auf das johanneisehe Schrifttum größere Beachtung. Sie kommen dabei z. T. zu sehr positiv klingenden Ergebnissen: Johannes hat ein Corpus von zehn Paulusbriefen gekannt und benutztS , und in fast allen wichtigen theoAls Beispiel sei auf die wenigen Bemerkungen in dem Buch von W. G. KOMMEL, Die Theologie des Neuen Testaments nach seinen Hauptzeugen Jesus. Paulus. Johannes2 = Grundrisse zum NT 3 (Göttingen 1972) 286/95, verwiesen, dessen Titel die Erwartung auf einen ausführlichen Vergleich wecken könnte. Ebensowenig wird untersucht, ob und warum Beziehungen zwischen Paulus und Johannes nicht vorliegen. Vgl. wiederum als Beispiel die sorgfältige Behandlung des johanneischen Schrütkomplexes bei VIELHAUER, Urchristliche Literatur 410/507, der weder im positiven noch im negativen Sinn Stellung nimmt. O. CllLLMANN, Der johanneische Kreis. Zum Ursprung des Johannesevangeliums (Tübingen 1975) 58f., vermerkt nur einige Gemeinsamkeiten mit dem Hebräerbrief. Hilfreich sind die Bemerkungen bei H. CoNZElMANN, Grundriß 356/60. 3 Vgl. z. B. die Register bei R. BULTMANN, Das Evangelium des Johannes 17 = MEYER K 2 (Göttingen 1962) 563; R. ScHNACKBNBURG, Das Johannesevangelium 3 = lIThK 4 (Freiburg 1975) 473, wo ein eigenes Stichwort Paulus ganz fehlt. 4 Vgl. VON LoEWENICH, Johannes-Verständnis; J.-N. SANDERS, The Fourth Gospel in the Early Church. Its Origin and Influence on Cbristian Theology up to Irenaeus (Cambridge 1943); F.-M. BRAUN, Jean le Theologien et son evangile dans l'eglise ancienne 1 (Paris 1959); M. F. Wll.ES, The Spiritual Gospel: The Interpretation of the Fourth Gospel in the Early Church (Cambridge 1960). sB. H. STREETER, The Four Gospelss (London 1936) 371; B. W. BACON, Pauline Elements in the Fourth Gospel: AThR 11 (1929) 199/223; 305/20.
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logischen Lehrpunkten ist Johannes mehr oder weniger direkt von Paulus abhängig6. BARNETI notiert sieben sichere und eine Fülle . wahrscheinlicher literarischer übereinstimmungen zwischen Apostel und Evangelisten, die den "Gebrauch" des Rö.mer-, Galater- und Epheserbriefes durch Johannes zu einer "practical certainty" erheben7 • Nachdem - vor allem in der reformatorischen Literatur -lange . Zeit die Neigung bestanden hatte, Johannes im Lichte des Paulus zu beurteilen, ist spätestens seit A. ScHWEITZERS Untersuchungen über die Mystik des Apostels Paulus klar geworden, daß Johannes und Paulus in verschiedenen Welten zuhause sind, wenngleich man den Unterschied mit dem Gegensatz hellenistischjüdisch nicht mehr präzis genug umschreiben kann, nicht nur weil der hellenistische Einfluß bei Paulus inzwischen ebenso deutlich nachgewiesen worden ist wie der jüdisch-palästinensische im Johannesevangelium 8 , sondern weil jenseits dieses Gegensatzes ein orientalisch-hellenistischer Synkretismus im palästinensischsyrischen Judentum schon vor der Ausbildung neutestamentlicher Theologien bestanden hat9 • Entsprechend gibt es vereinzelte Versuche, die Eigenart der johanneischen Theologie nicht nur zu beschreiben, sondern sie auch von der paulinischen abzuheben; aber auch diese sind entweder eigenartig essayistisch10 oder behandeln Detailfragen 11. E. F. Scorr, The Fourth Gospel2 (Edinburgh 1923) 49. BARNETI', Literary Influence 104/42, bes. 142. 8 Vgl. VON LoEWENICH, Johannes-Verständnis 2; F. MUSSNER, zeH. Die Anschauung vom "Leben" im vierten Evangelium unter Berücksichtigung der lohannesbriefe = MthSt (H) 5 (München 1952) 183. 9 O. CULLMANN, Wandlungen in der neueren Forschungsgeschichte des Urchristentums. Zugleich ein Beitrag zum Problem: Theologie und Geschichtswissenschaft: Discordia concors. Festschrift E. Bonjour 1 (Basel-Stuttgart 1968) 58/60; vgl. KöSTER-RoBINSON, Entwicklungslinien 242/8. 10 Der Aufsatz von M. GoOUEL, Paulinisme et johannisme: RHPhR 10 (1930) 504/26; 11 (1931) 1/19; 129/56 fußt auf Vorlesungen und führt die Unterschiede beider Theologien auf "deux formes d'experience religieuse" zurück. Die geistreichen Ausführungen von P. BENorr, Pauünisme et johannisme: NTS 9 (1962/63) 193/207 geben ebenfalls unter Verzicht auf wissenschaftliche Anmerkungen einen Vortrag wieder und erklären die unterschiedliche Bedeu6
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übereinstimmungen und Unterschiede Dabei lassen sich bei aller Verschiedenheit, die neben Temperament und Erfahrung auf der fortgeschrittenen Zeit und veränderten Situation beruhen, Gemeinsamkeiten vermuten im Sinne johanneischer Ausfonnung und Weiterführung paulinischer Ansätze. In der Beurteilung des mosaischen Gesetzes z. B. ist das Johannesevangelium schroff ablehnend. Der Kampf des Paulus gegen seine Heilsnotwendigkeit ist für Johannes längst entschieden. Das Sabbatgebot etwa wird bei den Wunderheilungsberichten angeführt, um zu zeigen, daß Jesus ihm nicht unterworfen ist (5,9/11). Nur einmal beruft sich Johannes im Sinne der Synoptiker auf das Gesetz, um Jesu Handeln zu rechtfertigen: Wenn Moses gebot, die Beschneidung gegebenenfalls auch am Sabbat zu vollziehen, um wieviel mehr muß es dann erlaubt sein, am Sabbat einen ganzen Menschen gesund zu machen (7,22f.). Insgesamt aber gilt: Das Gesetz, Inbegriff der jüdischen Heilshoffnung und Maß aller Frömmigkeit, führt nicht zu Gott. Wenn Johannes schreibt: "Das Gesetz ist durchMoses gegeben worden, die Gnade und die Wahrheit ward durch Jesus Christus" (1,17), so ist das kein synthetischer Parallelismus, sondern programmatisch betonte Antithetik 12 • Der Johannes sonst fremde und paulinischer Tradition entstammende Gegensatz von Gesetz und Gnade entwertet das Gesetz an dieser Stelle kompromißloser, als es in den schärfsten Aussagen der Paulusbriefe jemals geschieht.
tung gleicher neutestamentlicher Grundbegriffe und Sachverhalte (Präexistenz
Christi, Sünde, Gesetz, Rechtfertigung, Dämonen, Glaube, Sakramente, Eschatologie) damit, daß Paulus die Offenbarung Gottes in Jesus unter dem Gesichtspunkt der creation, Johannes aber der revelation gesehen habe, wobei hinter den konvergierenden Divergenzen (ebd. 194) zwei "temperaments et finalement deux experiences" stünden (ebd. 206). 11 J. DE LA PoTrERIE, XO:QL!; pauIinienne et XclQL!; johaimique: Jesus und Paulus. Festschrift W. G. Kümmel (Göttingen 1975) 256/82. . 12 BULTMANN 53; E. GRÄSSER, Die antijüdische Polemik ini Johannesevangeüum: NI'S 11 (1964/65) 8lf.; anders DE LA PolTERIE 281; R. ScHNACKENBURG, Johannesevangeüum 1 = HrhK 4 (Freiburg 1965) 252f.; W. JOBST, Gesetz und Freiheif (Göttingen 1961) 143/5.
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Nicht Gott wird als Ursprung des Gesetzes angegeben, sondern Moses. Alle relative Werthaftigkeit des Gesetzes, Vorbehalte und Unterscheidungen, um die Paulus sich noch müht, verschwinden vor dem hellen Licht der in Christus erschienenen Wahrheit. Geradezu Absurdität offenbart das Gesetz, wenn es zur Legitimierung der Verurteilung Jesu herangezogen wird: "Wir haben ein Gesetz, und nach dem Gesetz muß er sterben" (19,7). Der theologischen Abwertung des Gesetzes entspricht eine Geringschätzung des Alten Testamentes: Johannes verwendet es vergleichsweise spärlich für den christologischen Schriftbeweis - am ausführlichsten noch in der Passionsgeschichte (vgl. 19,24.28.36f.), wo er ja seinen ursprünglichen Ort hatte 13 • Auch zur Begründung einer neuen Ethik ist das Alte Testament ungeeignet, zumal das Hauptgebot der Liebe und die mit ihm geforderte Gesinnung Einzelbestimmungen überhaupt überflüssig zu machen scheint (1 Jo 3,23; Jo 13,34f.; 15,12). Mit diesem Verzicht auf eine detaillierte Ethik geht Johannes wiederum über Paulus hinaus14 • Dabei kann jedoch eine Rolle gespielt haben, daß die johanneischen Schriften an einen esoterischen Christenkreis gerichtet sind und weniger ·die Frömmigkeit breiterer Schichten vertreten15. Wie das frühchristliche Schrifttum durchweg bezeugt, scheint sich das Gemeindechristentum, nachdem das mosaische Gesetz grundsätzlich überwunden war und der jüdische Druck nachzulassen begann, mit um so größerem Interesse der sittlichen Weisung des Alten Testamentes wieder zugewandt zu haben16 • Einen weiteren Hinweis auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede ergibt ein Blick auf das Verständnis und die Bewertung
Bibel 67f. R. ScHNACKBNBURG, Die sittliche Botschaft des Neuen Testamentes = Handbuch der Moraltheologie 6 (München 1954) 224/9. 15 VON CAMPENHAUSEN, Bibel 63; VIELHAUER, Urchristliche Literatur 452. Im einzelnen wäre hier noch zu unterscheiden zwischen dem Johannesevangelium und dem 1. Johannesbrief; vgi. DmEuus: RG<J2 3, 347. 16 VONCAMl'ENHAUSEN, Bibel 75.
13 VON CAMl'ENHAUSEN, 14
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des Glaubens. Welches Gewicht Johannes ihm beimißt, erhellt bereits die Statistik. Das Johannesevangelium spricht 98mal vom Glauben gegenüber 11mal bei Matthäus, 14mal bei Markus und 9mal bei Lukas. Einen dem Johannes entsprechenden Rang besitzt der Glaube nur bei Paulus. In seinen Schriften findet sich das Verbum 54mal, das Substantiv sogar 142ma117 . Aber nicht nur der Zahl nach, auch in seiner Verständnis tiefe ist Glauben bei Johannes über die Synoptiker hinausgewachsen. War es bei diesen an eine bestimmte Situation gebunden (z. B. bei Heilungswundern) oder als charismatische Kraft verstanden worden (vgl. Mk 11,22), so wird es bei Johannes die grundlegende, umfassende Entscheidung und Haltung des Menschen gegenüber dem endzeitlichen Gesandten Gottes und seiner heilbringenden Offenbarung 18. "Das johanneische Glauben hat ein ausgesprochen theologisches Ansehen erlangt und steht darin Paulus nahe"19. Während es Paulus aber auf den Glauben an den Gekreuzigten und Auferstandenen ankommt, ereignet sich Glauben bei Johannes bereits in Kontakt mit dem irdischen Wirken Jesu als die der Offenbarung allein entsprechende und zum Heil führende Antwort. Ohne die Heilsnotwendigkeit des Glaubens im geringsten in Frage zu stellen, legt Johannes auf die paulinisehe Antithetik von Glauben und Gesetzeswerken allerdings kein Gewicht mehr; sie klingt in Jo 6,28f. höchstens noch an20 . Die Verwandtschaft des paulinischen und johanneisehen Denkens im Bereich des Glaubens sieht ScHNACKENBURG darin gegeben, "daß die beiden führenden urchristlichen Theologen die in der Predigt des synoptischen Jesus so stark hervortretende Forderung der Metanoia nicht mehr eigens nennen, sondern offensichtlich in die des Glaubens aufgenommen haben"21. Als zweite Grundforderung christlicher Existenz lassen beide aus dem Glauben die Liebe hervorgehen. Für Paulus wird der Glaube in der Liebe wirksam Johannesevangeüum 1, 508. Urchristliche Literatur 442f. 19 ScuNACKBNBURG, Johannesevangeüum 1, 508. 20 Ebd. 508; 517f. 21 Ebd. 509. 17 ScuNACKBNBURG, 18
VIELHAUBR,
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(Gal 5,6), für Johannes ist die Bruderliebe das neue Gebot (Jo 13,34f.; 15,12f.). Vor allem der 1. Johannesbrief entfaltet dieses Thema; er verbindet auch ausdrücklich Glaube und Liebe, denn "das ist sein (Gottes) Gebot: Wir sollen dem Namen seines Sohnes Jesus Christus glauben und einander lieben, wie er uns ein Gebot gegeben hat" (1 Jo 3,23)22. Weitere Gemeinsamkeiten drängen sich auf. Mit Paulus teilt Johannes die Betonung der göttlichen Präexistenz Christi. Von ihr nimmt die Selbstentäußerung in der Menschwerdung ihren Ausgang, sie ist das Ziel der Rückkehr in der Erhöhung von Kreuz und Auferstehung (Phil2,6/11; Jo 3,13; 16,28) und Voraussetzung für Christi Erlösungswerk23 . Desgleichen stimmen beide darin überein, daß mit dem Kommen Christi das entscheidende eschatologische Ereignis eingetreten ist24 • Wiederum bestehen aber auch beachtliche Unterschiede. Während für Paulus wichtige eschatologische Ereignisse noch ausstehen (Wiederkunft Christi, Auferstehung der Toten, letztes Gericht), ereignet sich in einer bestimmten Schicht des Johannesevangeliums die eschatologische Zukunft bereits in der gegenwärtigen Entscheidung für oder gegen Jesus (3,17f.; 5,24/7; 14,18/24), wenn auch die radikale präsentische Sicht durch einige futuristische Züge (z. B. 5,28f.), die nach einigen Auslegern allerdings durch die kirchliche Redaktion angebracht worden -sein sollen, wieder gemildert erscheint25 . In der Christologie dagegen verbindet
Ebd. 509. Allerdings entfaltet Paulus stärker als Johannes die Liebe in konkrete Einzelgebote; vgl. P. SrUln.MACHER, Christliche Verantwortung bei Paulus und seinen Schülern: EvTh 28 (1968) 169. 23 E. ScHwElTZER, Erniedrigung und Erhöhung bei Jesus und seinen Nachfolgem2 == AThANT 28 (Zürich 1962) 119; ScHNACKENBURG, JohanD.esevangelium 1, 30lf.; VIELHAUER, Urchristliche Literatur 438. 24 BULTMANN 112; VIELHAUER, Urchristliche Literatur 444. 25 C. H. DoDD, The Interpretation of the Fourth Gospel (Cambridge 1955) 147f.; 364/6; ScHNACKENBURG, Johannesevangelium 2 = HIbK 4 (Freiburg 1971) 147/9; VIELHAUER, Urchristliche Literatur 444; KÖSTER-RoBINSON, Entwicklungslinien 37f.; übersicht über weitere Literatur bei R. ScHNACKENBURG, Neutestamentliche Theologie. Der Stand der Forschung = Biblische Handbibliothek 1 (München 1963) 123f. 22
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Johannes Präexistenz- und Inkarnationstheologie mit der Vorstellung eines gottmenschlichen Wundertäters, die aus der Leben-Jesu-Tradition stammt und nach VIELHAUERS Meinung zu "unauflöslichen Spannungen" innerhalb des vierten Evangeliums geführt hat26 • Genügen die im vorhergehenden kurz stizzierten Berührungen -. die durch weitere vennehrt, insgesamt und im einzelnen aber ebenso anders beurteilt werden könnten -, um eine wie auch immer geartete Verbindung zwischen Paulus und Johannes näher beschreiben zu können? Erstaunlich positiv urteilt LIETZMANN. Nach ihm ist deutlich zu erkennen, daß die paulinische Gedankenwelt von Johannes in weitem Umfang übernommen, gleich in völlig selbständiger Weise weiterentwickelt worden ist. Dabei soll es sich jedoch nicht um eine Weiterentwicklung im Sinne einer Vertiefung innerchristlicher Erkenntnisse handeln, sondern um Anstöße, die, von außen gekommen, kritisch überprüft und assimiliert worden sind. "So wie Paulus alle ihm dienlich erscheinenden Elemente des hellenistischen Judentums und der religiösen Strömungen des erwachenden Ostens zusammenballt und sie in den Bann seines Christuserlebens zwingt, so haben auch seine Schüler und Nachfolger in ständiger Berührung mit der Welt gelebt, die sie bekehren wollten, und von ihr gelernt, den eigenen Reichtum in immer neuen Fonnen zu gestalten: und der Größte unter ihnen ist ,Johannes"c27. Der johanneische Schritt über Paulus hinaus geschieht hiernach als Antwort auf Fragen und Impulse von außen. Verallgemeinert steht hinter dieser Auffassung die grundsätzliche Bedeutung beanspruchende überzeugung, daß theologischer Fortschritt nicht allein auf innertheologischer Reflexion beruht, sondern vom Erkenntnisstand und Einfluß der Umwelt herausgefordert wird. Tatsächlich zeigt eine vertiefte Einsicht in die Theologie des Neuen Testamentes, welche Bandbreite von Vorstellungen und Inhalten die Auseinandersetzung mit der religiös-philosophischen Umwelt in der Verkündigung derselben Botschaft hervorgebracht hat. Dem
zu-
26
VIEUIAUER, Urchristliche Literatur 437/41. Geschichte 1,248.
27~,
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alternden Paulus, meint LmTZMANN, erschien die Gnosis nur in der Feme als ein unheimliches Etwas, die Pastoralbriefe wehren sie ab als schlechthin Fremdes; auf den kleinasiatischen Kreis dagegen, dem das johanneisehe Schrifttum entstaIilmt, wirkt sie stimulierend; sie wird nicht verständnislos zurückgestoßen, sondern zur Bereicherung"des überkommenen Glaubens herangezogen. Die Ausweitung des synoptischen Christusbildes, die Steigerung der Wundergeschichten, die Weiterbildung der paulinischen Christusmystik zur Gottesmystik gehen auf sie zurück28. Das johanneische Glaubensverständnis gründet in der Überlieferung paulinisch geprägter Gemeinden, erfährt zugleich starke Anstöße von der anschwellenden Gnosis; beide hat ein "überlegener Geist" im vierten Evangelium zur Einheit verbunden. "Wenn unter den Epigonen der nachapostolischen Zeit keiner war, der den Meister Paulus recht verstand: hier ist ein Mann, der mit gleicher Vollmacht die palllinische Gedankenwelt in ihrer kosmischen Weite wie in ihrer religiösen Tiefe ergriffen, aber ihre stünnische Leidenschaft zu beseligter Gottinnigkeit verklärt hat"29. UETZMANNS Urteil klingt ein wenig überschwenglich: Johannes steht - bewußt oder unbewußt - auf den Schultern des Paulus. Vielleicht ist Ephesus bzw. Kleinasien die geographische Klammer, die beide verbindetl°. Der zeitliche Abstand trennt sie aber auch. Was Paulus erkämpft hat (Gesetzesfreiheit), ist für Johannes selbstverständlicher Besitz; dafür drohen neue Gefahren (vgl. 1 Jo). Mit Paulus im Rücken kann Johannes daran gehen, das Denken seiner Generation und Umgebung in die Theologie ein" zuführen.
Ebd. 248f.; zum Verhältnis Jobannes - Gnosis vgl. ScHNACKENBURG, Johannesevangeüum 1, 433/47; DBRs., Neutestamentliche Theologie 107f.; KOSTER-RoBINSON, Entwicklungsünien 242/8. 29 UETzMANN, Geschichte 1, 250. " 30 VIELHAUER, Urchristliche literatur 460; 482, entscheidet sich für "das griechische Syrien". ScHNACKENBURG, Johannesevangeüum 1, 134, differenziert. Er läßt die johanneiscbe Tradition in Palästina wurzeln, durch das Medium des syrischen Einflusses gehen, ehe sie in Kleinasien in Epbesus Fuß faßt.
28
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Ist Johannes ein glückliches Beispiel dafür, wie die Rezeption der paulinischen Theologie auch ohne literarische Anlehnung aussehen kann, wenn ein kongenialer Geist sich ihrer annimmt? Oder ist" vorsichtige Skepsis doch angemessener? Gedankliche Zusammenhänge bedeuten nicht schon Abhängigkeiten; übereinstimmungen können auch ohne direkten Einfluß vorliegen und in qer verkündigten Sache selbst ihren Grund haben. Vor allem ist nachweisbar damit zu rechnen, daß Paulus und Johannes auf dieselben - teils schon geprägten - urchristlichen Traditionen zurückgreifen, in der Christologie z. B. auf Hymnen, wie sie in PhiI2,6/11, Koll, l5ff oder 1 Tim 3,16 "erhalten sind31 . So wenig die johanneische Christusbotschaft allein von der Verkündigung Jesu gefonnt ist, so wenig ist sie nur eine Fortbildung der paulinischen Theologie32 • Nach VIELHAUER lassen sich keine durchgehenden Verbindungslinien nach rückwärts aufweisen trotz mancher gemeinsamer Motive und Theologumena, wobei offenbleiben muß, "ob das nur an der Trümmerhaftigkeit unserer überlieferung liegt oder an der schöpferischen Selbständigkeit des Verfassers, den man Johannes nennt"33. Sonderfall Apokalypse Die Lage wird noch vielschichtiger, wenn man die Apokalypse in das johanneische Schrifttum mit einbezieht. Denn wendet man auf sie die Kriterien an, mit denen nonnalerweise die "frühE. LoHSE. Entstehung des Neuen Testaments = Theologische Wissenschaft 4 (Stuttgart 1972) 110. SCHNACKENBURO. Johannesevangelium 1. 302. betont. daß in der Christologie des Johannes nicht unmittelbar auf Paulus unter Außerachtlassung gemeinsamer Traditionen rekurriert werden darf. Vgl. noch H. HEOERMANN. Die Vorstellung vom Schöpfungsmittler im hellenistischen Judentum und Urchristentum = TU 82 (Berlin 1961) 114/6; R. P. MARTIN. Carmen Christi = Society for New Testament Studies 4 (Cambridge 1967) 52/55. 32 KOMMEL. Theologie des NT 291; 294. Stärker betont den Entwicklungsgedanken MUSSNER 185f.; vgl. dazu die kritische Bemerkung von VmLHAUER. Urchristliche Literatur 452f. 33 VIELHAUER. Urchristliche Literatur 452.
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katholischen" Neigungen einer Schrift gemessen werden, so zeigt die Apokalypse in manchen Punkten eine Frühform der Entwicklung. Ihre Eschatologie ist nicht johanneisch-präsentisch, sondern streng futurisch, dje Naherwartung nicht abgeschwächt, sondern paulinisch lebendig. Nimmt man andere Momente hinzu - geringe Ausformung der hierarchischen Gemeindestruktur, keine Betonung der Sakramente -, dann läßt sich nach LoHSE eine Entwicklung von der paulinischen zur nachpaulinischen Theologie aufzeigen, in die sich die Apokalypse nicht einfügen läßt34 • Wegen der Andersartigkeit der literarischen Gattung wird man aber trotz der an sich wichtigen Übereinstimmungen mit Paulus, die durch literarische Anklänge unterstrichen werden könnten35 , dennoch auf keine gewollte Nähe zur paulinischen Theologie schließen dürfen36 • Aus den vorangegangenen Überlegungen läßt sich kaum ein sicheres Ergebnis über das Verhältnis Johannes - Paulus ableiten, wohl aber ein methodischer Hinweis. Wie es für die Paulusbriefe und das Joharinesevangelium sachliche Übereinstimmungen gibt, die nicht auf gegenseitige Beeinflussung zurückgehen müssen, sondern auf Quellen oder unabhängig nebeneinander herlaufenden Traditionen beruhen können, die beiden vorausliegen, so ist auch bei nachfolgenden Schriften nicht immer eindeutig zu entscheiden, ob sie paulinische oder johanneische Überlieferung weitergeben, wenn nicht der sachliche Zusammenhang durch literarische Abhängigkeit (z. B. durch Zitate) im Sinne der paulinisehen oder johanneisehen Beeinflussung präzisiert werden kann. Bei einer Untersuchung der Paulusrezeption muß das Weiterwirken der johanneisehen Theologie häufig mitberücksichtigt
E. LoHSE, Apokalyptik und Christologie: Die Einheit des Neuen Testaments. Exegetische Studien zur Theologie des Neuen Testaments (Göttingen 1973) 143; zum theologiegeschichtlichen Standort vgl. MOiLER, Theologiegeschichte 13/5; 46/50; 92. 35 BÄRNETr, Literary Influence 41/51. 36 Allerdings ist aus der Erwähnung der Urapostel ohne Paulus in Apk 21,12 auch keine Ablehnung des Paulus abzuleiten; so bei MOiLER, Theologiegeschichte 82. 34
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werden (z. B. Ignatiusbriefe37). Läßt sich eine literarische Abhängigkeit nicht sicher nachweisen, wird man sich mit der Auf~ deckung sachlicher übereinstimmungen begnügen und die Frage nach der Person des Verniittlers offenlassen müssen. 3. Neutestamentliche Schriften in paulinischer Tradition
Neben den unbestreitbar echten Paulusbriefen gibt es weitere neutestamentliche Schriften, die Paulus und seiner Theologie nahestehen, und zwar in unterschiedlicher Weise. a)' Kolosser- und Epheserbrief Die Frage der Verfasserschaft Als erste sind der Kolosser- und der Epheserbrief zu nennen. Beide geben sich nicht nur als Paulusbriefe aus, sondern stehen auch zeitlich und gedanklich dem Apostel so nahe, daß die Frage nach ihrem authentischen oder deuteropaulinischen Charakter bis heute mit Sicherheit nicht gelöst ist. Während die paulinische Verfasserschaft des Kolosserbriefes von etlichen Exegeten mit guten Gründen immer noch lebhaft verteidigt wird 1 , neigt das Urteil hinsichtlich des Epheserbriefes mehrheitlich einer nachpaulinischen Entstehung zu2 • Diejenigen, die die paulinische Vgl. s. 127f. Das Problem stellt sich nicht erst für die Ignatiusbriefe, sondern wird z. B. bereits für den Hebräerbrief diskutiert; vgl. G. SPICQ, L'origine johannique de la conception du Christ-pretre dans l'Epitre aux Hebreux: Aux sources de la tradition chretienne. Melanges offerts a M. Goguel (NeuchätelParis 1950) 258/69; DERS., L'Epitre aux Hebreux 1 = EtB (Paris 1952}.: .. 109/38; B. RIGAUX, Paulus und seine Briefe. Der Stand der Forschung =' .... Biblische Handbibliothek 2 (München 1964) 219. . 1 Vgl. WIKENHAUSER - ScHMID, Einleitung 468/70; P. F'EINE - J. BEHM W. G. KüMMEL, Einleitung in das Neue Testament16 (Heidelberg 1970) 245/9. 2 Vgl. den überblick bei J. GNILKA, Der EpheserbrieF =H.ThK 10,2 (Freiburg 1977) 17, Anm. 2. Doch wird auch an der Echtheit des Epheserbriefes weiterhin festgehalten; vgl. H. SCInJER, Der Brief an die Ephese~ (Düsseldorf 1968) 22/8, vor allem die Aufzählung 23, Anm. 1; E. PERCY, Die Probleme der Kolosser- und Epheserbriefe (Lund 1946) 248/51; 352/6; 444/8.
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Authentizität der heiden Briefe bestreiten, berufen sich neben sprachlichen und stilistischen Besonderheiten auf neue, über die sogenannten urpaulinischen Briefe hinausgehende Inhalte, die Verteidiger erklären das Neue mit einer theologischen Weiterentwicklung des alternden Apostels selbst bzw. mit neuen Gegnern und ihren Lehren, denen Paulus begegnen mußte. Beiden Gruppen ist also gemeinsam, daß sie eine Fortentwicklung der Gedanken und neue theologische Elemente in beiden Briefen gegenüber den frühen Paulusbriefen annehmen. Die Kontroverse um die Verfasserschaft von Epheser- und Kolosserbrief braucht hier nicht weiter diskutiert zu werden. Ob paulinisch oder deuteropaulinisch, ob mit oder ohne Sekretär verfaßt, ändert nichts an der kanonischen Geltung und dem theologischen Einfluß, der von beiden Briefen ausgegangen ist. Eine Entscheidung wäre gleichwohl für die Aufhellung der Paulusrezeption in doppelter Hinsicht von Belang. Zum ersten bedeutete der deuteropaulinische Ursprung der beiden Briefe einen Beweis für die zeitlich bruchlose und bewußte Weiterführung der paulinischen Theologie. Sind sie keine Paulusbriefe, so doch Briefe von Schülern, die einen engen Kontakt vielleicht noch mit der Person, jedenfalls aber mit der theologischen Gedankenwelt des Apostels gehabt haben müssen3 • Sie stellten damit die frühe-
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J. SCHMID, Der Epheserbrief des Apostels Paulus = BSt 22 (Freiburg 1928) bes. 456f. A. VAN ROON, The Authenticity of Ephesians = Suppl. to Novum Test. 39 (Leiden 1974) 205/12, verteidigt die Echtheit zumindest in dem Sinne, daß der Epheserbrief und die paulinischen Hauptbriefe "are products of the same circle. The dominant figure in this circle was Paul. It is Paul, therefore, whom we may call the author of all these epistles" (ebd. 436f.); vgl. dazu K. M. FIsCHER, Tendenz und Absicht des Epheserbriefes = FRLANT 111 (Göttingen 1973) 13/20. W. L .. KNox, St. Paul and the Church of the Gentiles (Cambridge 1939; Wiederabdruck 1961) 184f.; vgl. G. F. Hall: JBL 69 (1950) 81; SCHLIER, Epheser 25; E. LoHSE, Die Briefe an die Kolosser und an Philemon:Z = MaYER K 9,2 (Göttingen 1977) 254. Eine "Schule des Paulus" postuliert H. CoNZELMANN, Paulus und die Weisheit: NTS 12 (1965/66) 233f.; vgl. P. S'ruHLMACHER, Christliche Verantwortung bei Paulus und seinen Schülern: EvTh 28(1968) 173/81; H. MERKLEIN, Das kirchliche Amt nach dem Epheserbrief = Stud. z. Alten U. Neuen Test. 33 (München 1973) 4Of.
sten neutestamentlichen Zeugen für das Weiterwirken der paulinischen Theologie dar., Zum anderen wäre eine Entscheidung über die Verfasserschaft aufschlußreich im Hinblick auf eine Reihe nachfolgender außerkanonischer Schriften, die sich, angefangen von den Ignatiusbriefen bis hin zum Diognetbrief und dem 2. Klemensbrief, in bevorzugter Weise auf die entwickelten christologischen und ekklesiologischen Aspekte des Kolosserund Epheserbriefes und damit auf einen besonderen Strang der paulinischen Theologie bzw. ihrer frühesten Tradierung stützen4 • Der Kolosserbrief Bei Annahme eines deuteropaulinischen Ursprungs ist der Kolosserbrief charakterisiert durch eine enge Vertrautheit mit der paulinischen Theologie, die mit mancherlei Traditionsgut aus den' hellenistischen Christengemeinden verbunden und in Anpassung an die veränderte Lage der Gemeinde und ihrer Gefährdung durch die Irrlehrer weitergeführt wirds . Diese scheinen die Welt auch nach der Auferstehung Christi von dämonischen Kräften erfüllt gesehen zu haben, denen sie mit EnthaltsamkeitsvorschrifKolosser- und Epheserbrief ungefähr gleich einzuordnen wäre der 2, Thessalonicherbrief, dessen deuteropaulinischer Charakter ebenfalls diskutiert wird. Vgl. W. ThnLING, Untersuchungen zum 2. Thessalonicherbrief (Leipzig 1972) 11/45; 133/58. FBINE-BEHM-KOMMEL, Einleitung 186/9, referiert sorgfältig die Gegner der Echtheit und ihre Gründe, vertritt selbst aber die Authentizität des' Briefes. Die paulinische Verfasserschaft wird u. a. bestritten wegen der auffallenden und eigentümlichen übereinstimmungen mit dem 1. Thessalonicherbrief, die den Eindruck erwecken, als habe Paulus sich selbst abgeschrieben. Man erwägt deshalb, ob es sich beim 2. Thessalonicherbrief nicht um eine Gegenfälschung handeln könnte, die einen "angeblichen Brief von uns" (Paulus in 2 Thess 2,2) unschädlich machen soll, indem sie bewußt den paulinischen 1. Thessalonicherbrief nachahmt und nur an wenigen Stellen die eschatologischen Irrtümer des Falschbriefes korrigiert. Vgl. N. BROX, Falsche Verfasserangaben. Zur Erklärung der frühchristlichen Pseudepigraphie= Stuttgarter Bibelstudien 79 (Stuttgart 1975) 24f.; J. A. BAILEY, Who wrote 11. Thessalonians: NfS 25 (1979) 131/45. 5 E. LoHSE, Die Briefe an die Kolosser und an Philemon2 = MEYER K 9,2 (Göttingen 1977) 256.
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ten und besonderen religiösen Praktiken beizukommen suchten6 • Stärker als in Phil2,9/11 und 1 Kor 8,6 wird daher im Anschluß an einen Christushymnus, der als Tauflied gedient haben mag, die Herrschaft Christi in Schöpfung und Erlösung auf den gesamten Kosmos und seine Kräfte ausgeweitet. In Christus "wurde alles geschaffen, was im Himmel und auf Erden ist, das Sichtbare und das Unsichtbare, Throne, Hoheiten, Herrschaften aller Mächte ... Denn es hat Gott gefallen, in ihm die ganze Fülle Wohnung nehmen zu lassen und durch ihn alles zu versöhnen auf ihn hin, indem er durch das Blut seines Kreuzes Frieden stiftete, durch ihn alles zu versöhnen, was auf Erden und was im Himmel ist" (1,16.19f.). Auch in der Ekklesiologie geht der Kolosserbrief über Paulus (vgl. 1 Kor 12,12; Röin 12,4f.) hinaus, insofern Christus nicht mehr als Leib der Kirche selbst bezeichnet wird, sondern als das Haupt des kosmischen Leibes, der wiederum auf die Kirche gedeutet wird, wodurch eine geschichtliche Konkretisierung der mythologischen Aussage erfolgt (1,18)'. Wenn auf diese Weise die kosmische Dimension von Schöpfung und Erlösung herausgestellt wird, so geht es dem Verfasser doch keineswegs darum, kosmologische Aussagen über Christus und die Kirche zu entwickeln; diese sind vielmehr vorgegeben und werden, sofern gnostisierende Irrtümer damit verbunden werden konnten, korrigiert, indem sie christologisiert und durch die Kirche dem Herrschaftsbereich Christi unterstellt werden. Das geschieht weniger durch Abwehr und Widerlegung als durch die christianisierende überhöhung mißdeutbarer Vorstellungen. Nachdem auf diese Weise die kosmologischen Spekulationen grundsätzlich entschärft worden sind, wendet sich der Kolosserbrief direkt gegen die die Gemeinde bedrohenden Irrlehrer. "Gebt acht, daß euch nicht einer mit Philosophie und leerem
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STuHLMACHBR 174. LoHSE, Kolosserbrief 95; Zusammenfassung der Forschung bei J. ERNST, Pleioma und Pleroma Christi. Geschichte und Deutung eines Begriffs der paulinischen Antilegomena = BibI. Untersuchungen 5 (Regensburg 1970) 87/94.
Trug erbeute nach Menschenüberlieferung, nach den Elementen der Welt und nicht nach Christus" (2,8). Der Dienst der Elemente rettet nicht, weder Speisevorschriften noch Gestirnenkult noch Engelsdienst. Es rettet allein Christus, in dem die "ganze Fülle der Gottheit leibhaftig wohnt" (2,9). "In ihm' seid ihr auch beschnitten worden mit einer Beschneidung, die nicht mit Händen gemacht ist, durch das Ausziehen des fleischlichen Leibes, durch die Beschneidung Christi, als ihr mit ihm in der Taufe begraben wurdet; in ihm seid ihr auferweckt durch den Glauben an die Kraft Gottes, die ihn von den Toten erweckt hat" (2,Hf.). Auch dieser Text zeigt gegenüber den frühen paulinischen Briefen charakteristische Veränderungen. War dort der Christ durch die Taufe der Sünde und dem Gesetz gestorben, so hier den "Elementen der Welt". Hinwiederum schenkt die Taufe den Gläubigen nicht nur die Hoffnung, daß sie mit Christus auferstehen werden, sondern daß sie bereits mit ihm auferweckt sind. "Wenn ihr nun mit Christus auferweckt seid, dann suchet, was droben ist!" (3,1). Die Naherwartung schwindet, die Eschatologie gewinnt johanneische Züge in der Betonung des bereits gegenwärtigen "Lebens", ohne allerdings zu unterschlagen, daß die endgültige Epiphanie Christi noch aussteht (3,4)8. . Erhellend ist die Erinnerung an die Taufe noch in anderer Hinsicht. Der Verfasser geht aus von der jüdischen Beschneidung, die aber nicht eigentlich mehr bekämpft wird, sondern schon zu einem Bild geworden ist, das auf die Taufe hin ausgelegt werden kaJl!l. Handelt es sich bei den bekämpften Irrlehrem um Judenchristen Galatiens, die auf menschliche Leistung pochende Gesetzlichkeit mit gnostisch infiziertem kosmologischem und astralem Kult verbinden (vgl. 2,16/23), dann zeigt ein Vergleich mit dem' Galaterbrief, mit der Weise, wie dort Beschneidung und Werkgerechtigkeit bekämpft werden, den Fortgang der theologischen Entwicklung9 • 8
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J. STEINMETz, Protologische Heils-Zuversicht. Die Strukturen des soteriologischen und christologischen Denkens im. Kolosser- und Epheserbrief = Frankfurter Theol. Studien 2 (Frankfurt 1969) 143f. VIELHAUER., Urchristliche Literatur 197.
LoHSE, Kolosserbrief 257; 195. F.
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Der sich ihm stellenden Aufgabe - die Abwehr irriger Meinungen in der Gemeinde - begegnet der Kolosserbrief in doppelter Weise: Auf der einen Seite bindet er seine Aussagen an die kirchliche Lehrtradition (1,23) und das Zeugnis des Apostels (1,24/9); letzteres erfährt sogar durch den Gedanken vom stellvertretenden und ergänzenden Leiden des Apostels eine Steigerung über Paulus hinaus 10. Auf der anderen Seite übernimmt er mit erstaunlicher Unbefangenheit gnostische Vorstellungen, mit denen die kosmologischen Dimensionen des Schöpfungs- und Heilswerkes ausgeleuchtet werden. Natürlich geht es dem Verfasser nicht eigentlich um diese Spekulationen, aber er vermeidet sie auch nicht - wie später die Pastoralbriefe -, sondern akzeptiert sie, indem er sie als mit dem kirchlichen Credo übereinstimmend erklärtl l . Daß er dabei "nicht zu einer wirklichen überwindung (sondern nur zu einer verchristlichenden Usurpierung) der Irrlehre gelangt, zeigt die Grenze und das letztlich Unzureichende der Auseinandersetzung" 12 . Theologiegeschichtlich betrachtet, nimmt der Kolosserbrief nach Meinung VIELHAUERS eine Zwischenstellung ein und bereitet verschiedene Ausprägungen des Paulinismus vor: Im Epheserbrief wird das spekulative Moment des Kolosserbriefes ausgebaut, in den Pastoralbriefen wird es ausgeschaltet; Epheserbrief und: Pastoralbriefe verbindet dagegen ein (untereinander noch einmal unterschiedlich starker) Rekurs auf die kirchlichen Ämter, auf die der Kolosserbrief ganz verzichtet. In der Abwehr gnostisierender Verfremdung des Glaubens schließlich "präludiert [er] den Kampf des Ignatius von Antiochien"13. Noch schärfer akzentuiert ROBINSON, der den einen Zweig einer paulinischen Schule über den Epheserbrief, den 1. Petrusbrief, die Apostelgeschichte und die Pastoralbriefe sich zur Orthodoxie hin entwikkeIn sieht, während der andere Zweig :vom Kolosserbrief über LoHSE, Kolosserbrief 112/7. H. CoNZELMANN, Der Brief an die Kolosser14 = NTD 8 (Göttingen 1976) 149. 12 W. MARxsEN, Einleitung in das Neue Testament (Gütersloh 1969) 158. 13 VIELHAUER, Urchristliche Literatur 202f. 10
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Valentin, Basilides und Markion in die Häresie führt 14 • Das unbefangene Eingehen des Kolosserbriefes auf die gnostische Interpretation der Erlösung, eine "verchristlichende Usurpierung" ohne argumentierende überwindung, hätte damit stark negative Folgen gehabt - ob 'allein faktisch oder notwendig, bleibt dabei eine offene Frage. Der Epheserbrief Daß die Macht der ludaisten in der innerchristlichen Diskussion überwunden ist - auch wenn ihre Angriffe von außen noch nicht aufgehört haben -, zeigt der, verglichen mit dem Kolosserbrief, etwas jüngere Epheserbrief15 • "Jetzt aber in Christus Jesus seid ihr, die ihr einst ,fern' wart, ,nahe' geworden durch das Blut Christi. Denn er ist unser Friede, der beide Teile vereinigt und die trennende Zwischenwand, die Feindschaft, niedergerissen hat. Durch sein Fleisch hat er das Gesetz der Gebote und Satzungen aufgehoben, um in seiner Person die beiden Teile zu vereinen zu dem neuen Menschen, da er Frieden stiftete, und um beide in einem Leib mit Gott zu versöhnen durch das Kreuz, da er durch diesen die Feindschaft getötet hat" (2,13/6). Die Beseitigung des Gesetzes ist nicht mehr nur der Sieg "über eine fast dämonische, unmittelbar die Sünde stärkende Gewalt", sondern eine Tat geistlicher Befriedung, die, indem sie die Scheidemauer zwischen Gott und Mensch niedergerissen hat, "die Einigung der J udenund Heidenvölker" in der einen Kirche möglich macht16 • Auch
KoSTER-RoBINSON, Entwicklungslinien 10; vgl. W. RADER, Tbe Church and Racial Hostility = Beitr. zur Geschichte der bibI. Exeg. 20 (Tübingen 1978) 8f. 15 Die Datierungen lauten, die deuteropaulinische Herkunft vorausgesetzt, für den Kol: um 80 und früher als der Eph (LoHSE, Kolosserbrief 256, Anm. 2), für den Eph: Wende vom 1./2. Jh., zwischen Kol und Ignatiusbriefe (VIELHAUER, Urchristliche Literatur 215); 80-100 (FEINE - BEHM - KOMMEL, Einleitung 264); vor'96 (VAN ROON 43); Beginn der neunziger Jahre (GNILKA 20). 16 VON CAMPENHAUSEN, Bibel 45; vgl. BORNKAMM, Paulus 244.
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hier werden paulinische Gedanken nicht nur wiederholt, sondern weitergedacht und ausgelegt. Insgesamt ist der Epheserbrief eine vertiefende Einführung in das Mysterium der Una sancta17• Die Kirche, die schön in den frühen Briefen den Apostel beschäftigt hatte im Hinblick auf die Einzelgemeinde, die im Kolosserbrief einbezogen wird in kosmologische Spekulationen (Koll,18)18, wird nunmehr zum Hauptgegenstand theologischer Reflexion und meditierender Versenkung. Christologie und Soteriologie werden ebenso wie die ethischen Unterweisungen auf die universale, über alle Zeit und Geschichte hinausgreifende Kirche hin ausgelegt. Anders als bei Paulus, aber im Anschluß an den Kolosserbrief (vgl. 1 Kor 12,12; Röm 12,4f.; Koll,18) bildet im Epheserbrief die aus Juden und Heiden bestehende Gesamtkirche den Leib Christi mit dem erhöhten Herrn als Haupt ül?er sich. Diese ekklesiologische Funktion Christi wird zum Hauptakzent der Christologie. Entsprechend hat in der Soteriologie Christi Erlösungswerk das Ziel, die beiden Menschengruppen, Israel, das Volk der Verheißung, und die gottfeme Heidenwelt, zu dem einen neuen Gottesbau der Kirche zusammenzufügen. Christus ist der Retter seines Leibes, der Kirche; er hat sie geliebt und sich für sie hingegeben; noch die Ehe ist ein Geheimnis im Hinblick auf Christus und die Kirche (5,24.32). Aus dieser engen Verschränkung zwischen Christologie und Ekidesiologie erwachsen schließlich auch die paränetisehen Stücke: "Seid besorgt, die EiDheit des Geistes durch das Band des Friedens zu bewahren. Ein Leib und ein Geist, wie ihr auch berufen seid in einer Hoffnung eurer Berufung. Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater aller, der über allen und durch alle und in allen ist" (4,3/6). Das Epheser-Lehrstück über die pneumatische Kirche hat in der Folgezeit in Gnosis und Orthodoxie gleicherniaßen eine starke Wirkung ausgeübt; ja man E. IQsEMANN, Exegetische Versuche und Besinnungen 23 (Göttingen 1970) 253/5. . 18 Die Einfügung von 't'iJ~ ixxÄ.'1o~ (Kol 1,ISa) in den Christushymnus geht nach CoNZELMANN, Kolosser 137, auf die bearbeitende Hand des Briefschreibers zuriick. 17
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darf sagen, daß kein anderes paulinisches Theologumenon die nachfolgende Theologie bis hin zu Ethik und Askese so sehr beeinflußt hat wie der Leib-Christi-Gedanke in seiner deuteropaulinischen Entfaltung. Nicht nur durch hierarchische Festigung, auch durch theologische Vertiefung, durch ihre präexistente und eschatologische Ausweitung sollte die Kirche Autorität und Strahlkraft gewinnen, den unsichtbaren Christus verleiblichen, der weiterlebt in seiner Braut, der Kirche (vgl. z. B. Didache 11,1; Ignatius, Polyk. 5,1; Hermas, Vis. 1,1,6; 3,4; 2,4,1; 2 Klem 14, 114; 2,1; Papias, Frgm. 6; Irenäus, Adv.haer. ~~11,1 über Valentin). Schwierigkeiten bereiten die theologiegeschichtliche Einordnung sowie die zuverlässige Bestimmung von Anlaß und Zweck des Briefes, denn der Epheserbrief scheint sich weder an eine konkrete Gemeinde zu richten, noch wendet er sich gegen eine erkennbare Irrlehre19 ; sein Paulusbild weicht - trotz einer verstärkten Betonung des stellvertretenden Leidens des Apostels (3,1.13; 4,1; vgl. Kol 1,24) - kaum von dem der echten Briefe ab20 • Auch die eine bereits fortgeschrittene Form der Gemeindeverfassung bezeugende Reduktion der Charismen auf die kirchlichen Ämter (4,11), während das kirchliche "Fundament" der Apostel und Propheten (2,20) schon der Vergangenheit anzugehören scheinet, geschieht so unprätentiös, daß schwer zu erklären ist, warum und für wen ein anonymer Verfasser auf pseudepigraphischem Wege die Paulusautorität bemüht, obwohl- anders als im Kolosserbrief oder in den Pastoralbriefen - häretische Gefahr allem Anschein nach nicht in Verzug ist22 •
VIELHAUER, Urchristliche Literatur 204/7; 212f.; FEINE - BEHM - KüMMEL, Einleitung 253/7; GNU..KA 45/9. 20 Vgl. den geringen Ertrag der Untersuchung bei FISCHER 95/108. 21 VIELHAUER, Urchristliche Literatur 211; MERKLEIN 142f. 22 Der fehlende bzw. nicht erkennbare Anlaß für die pseudepigraphische Verbreitung wird darum auch als Beweis für die Authentizität des Briefes ausgewertet; vgl. ScHLIER, Epheserbrief 25/7. Allgemeiner Inhalt, unpolemische Form und stilistische Verwandtschaft mit dem Römerbrief veranlassen VAN 19
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Oder täuscht der feierlich-liturgische Stil von Weisheitsrede darüber hinweg, daß der Epheserbrief sehr. wohl ein ebenso dringliches wie allgemeines Anliegen verfolgt? Unbestritten gilt als Hauptthema des Briefes die Einheit der Kirche aus Juden und Heiden23 • Doch dürfte er - anders als die Apostelgeschichte nicht das Ziel verfolgen, den Heidenchristen die Unsicherheit über die Kontinuität ihrer heilsgeschichtlichen Herkunft und die Legitimität ihrer Erwählung außerhalb von Beschneidung und Gesetz zu nehmen, sondern umgekehrt darauf bedacht sein, die Heidenchristen an ihre gottferne Herkunft zu erinnern, damit sie das Lebensrecht ihrer judenchristlichen Brüder in der einen Kirche nicht vergessen24 • Wie Paulus, mit dessen Namen und Wirken sich die Hinwendung der Heilsverkündigung zu den Heiden verband, in der Apostelgeschichte die heilsgeschichtliche Legitimität dieser Neuorientierung verbürgen mußte, so wirbt der Epheserbrief mit demselben Paulus, der ja nicht nur als Vorkämpfer der Heidenmission weiterlebte, sondern sich auch als Anwalt der Juden für die Würde seines Volkes als Volk der Verheißung eingesetzt hatte (vgl. Röm 11,11/32)25, für die Zugehörigkeit der Judenchristen zum einen Kirchenleib. Unmöglich dürfen diejenigen, die fern von Christus waren, als Fremde und Beisassen ausgeschlossen von der Gemeinschaft mit Israel und fremd den Bündnissen der Verheißung, allein als Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes übrigbleiben (2,12/9). Es gibt RooN 64; 71; 438, zu der Vermutung, der Epheserbrief sei wie der Römerbrief von Paulus als Einführung an eine Gemeinde gerichtet, der der Apostel noch nicht peISÖnlich bekannt war. 23 Vgl. R. P. MEYBR, Kirche und Mission im Epheserbrief = Stuttgarter Bibelstudien 86 (Stuttgart 1977) 79. Eine Ausnahme macht A. LINDEMANN, Die Aufhebung der Zeit. Geschichtsverständnis und Eschatologie im Epheserbrief = Studien zum Neuen Testament 12 (Gütersloh 1975). Nach ihm wirkt "der ganze Epheserbrief beinahe wie eine gezielte ,Zurücknahme' von Röm 9-11" (ebd. 253) und läßt kein Interesse am Verhältnis Judenchristen und Heidenchristen erkennen (ebd. 72; 80; 89). 24 Trotz einip,er "Übertreibungen dürfte FISCHER 79/94, hier auf einen wichtigen Gesichtspunkt aufmerksam gemacht haben. 2S VAN ROoN 438; 7Of., spricht von einer besonderen Nähe des Epheserbriefes zum Römerbrief.
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keine Heidenkirche ohne jüdische Vergangenheit, weil die Kirche in jedem Sinne universale Kirche ist, die "zum ausgewachsenen Maß der Christusfülle" noch unterwegs ist26 • Apostelgeschichte und Epheserbrief würden damit - wenngleich in verschiedener Absicht - eine ähnlich gelagerte Problematik verfolgen und auf je eigene Weise demonstrieren, wie stark die wachsende Entfremdung der Kirche von der Synagoge und (im Hinblick auf den Epheserbrief) noch mehr das sich ankündigende Absterben des judenchristlichen Zweiges der Kirche bei den Theologen der nachapostolischen Zeit doch stärkere Erschütterungen hervorgerufen hat, als es die Quellen anzuzeigen scheinen. Wie aktuell und dringlich das Plädoyer des Epheserbriefes für die judenchristlichen Teile in den Gemeinden war, beweistdie Richtigkeit der hier vorgetragenen Interpretation vorausgesetzt - die weitere missionarische En~icklung der Kirche, die sehr bald des "älteren Bruders" vergaß27 • Folgerungen Diese wenigen Andeutungen müssen hier genügen; denn gerade im Kolosser- und Epheserbrief führt jedes auch nur etwas detailliertere Eingehen auf einzelne Stellen in ein Dickicht exegetisch-religionsgeschichtlicher Einzeluntersuchungen, von dem die großen Kommentare einen Eindruck vermitteln können. Trotz dieser Einschränkung darf als Ergebnis festgehalten werden: In direkter Anknüpfung an die Theologie der paulinischen Hauptbriefe wird durch die Nachfolger und Schüler des Paulus oder - je nachdem wie man die Frage der Authentizität zu beantworten
H. CHADWICK, Die Absicht des Epheserbriefes: ZNW 51 (1960) 145/53; vgl. MERKLEIN 46f.; FEINE - BEHM - KOMMBL, Einleitung 263. Anders H. GoLDSTEIN, Paulinis~e Gemeinde im Ersten Petrusbrief = Stuttgarter Bibelstudien 80 (Stuttgart 1975) 68; 109, für den das Verhältnis Juden - Heiden im Epheserbrief keine heilsgeschichtliche Relevanz besitzt, vielmehr als Modell dient für die neue Einheit zwischen Gott und Menschheit. 27l.IETzMANN, Geschichte 1, 199.
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geneigt ist - im Rahmen der Weiterentwicklung theologischer Ansätze durch den Apostel selbst in beiden Briefen urpaulinisches Material aufgegriffen und konkreten Anliegen dienstbar gemacht. Im Kolosserbrief geht es um die Auseinandersetzung mit irrigen Spekulationen innerhalb der christlichen Gemeinde, im Epheserbrief um die theologische Durchdringung der christologischen, soteriologischen und ethischen Aspekte der Kirche, hier jedoch nicht als konkreter Gemeinde, sondern als der Verwirklichung des universalen Heilsratschlusses Gottes für Juden und Heiden. Daß dabei in keiner Weise paulinische Gedanken unterdrückt oder korrigiert werden sollen, ist sicher; streiten kann man darüber, ob durch Auswahl und Verarbeitung des übernommenen Gutes nicht doch Verzeichnungen paulinischer Anliegen vorgekommen bzw. initiiert worden sind. Wenn die paulinische Schärfe in der Ablehnung von Beschneidung und Gesetz nicht beibehalten worden ist, braucht darin noch kein Abweichen von paulinischen Positionen gesehen zu werden. Die Forderung des Paulus nach Freiheit vom Gesetz ist akzeptiert, ohne daß die Argumente der Kampfzeit wiederholt werden und die Rechtfertigungslehre weiterhin im Zentrum allen theologischen Denkens steht28 • Auch die Eschatologie kann der gewandelten Situation entsprechend nicht mehr an der paulinischen Naherwartung festhalten. Wenn der "eschatologische Vorbehalt" im Epheserbrief radikal aufgegeben zu sein scheint29 , so brin~en spätere Schriften (vgl. Jo 5,28f.; 2 Tim 2,18; Tit 1,2f.) wiederum eine Korrektur an und behaupten erneut die Zukünftigkeit der noch ausstehenden "letzten Dinge". Schwierig bleibt trotzdem die Beurteilung der theologischen Defizienz deuteropauIinischer Briefe im Vergleich mit den paulinisehen Hauptbriefen. Da jedoch die beiden Briefe kein Kompendium paulinischer Theologie bieten wollen, muß nicht jeder fehlende Gedanke auf absichtsvolles Verschweigen oder inzwischen eingetretenes Unverständnis zurückgeführt werden. Wohl handelt es sich um Interpretationen des paulinischen Erbes, die, wenn sie ohne Kennt28
MOILER, TheoloiPegeschichte 86; vgl. S. 75.
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So eindringlich lJNDEMANN 125; 137.
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nis des Ursprungs weiterverfolgt werden, zu falschen Ergebnissen führen können30 • Insgesamt halten sich Bewahrung und Weiterführung paulinischer Traditionen im Epheser- und Kolosserbrief die Waage, und beide Briefe können als glückliches Beispiel dafür gelten, wie fruchtbarer Paulinismus aussieht, wenn er, durch konkrete Fragen seiner Zeit herausgefordert, das Erbe des Apostels weiterträgt, ohne sich darauf zu beschränken, die Theologie des Paulus nur repristinierend nachzusprechen. b) Hebräerbrief Nicht ohne Bedenken und nur mit Vorbehalten wird man den Hebräerbrief unter die in paulinischer Tradition stehenden neutestamentlichen Schriften einreihen dürfen, auch wenn er sich selbst als Paulusbrief verstanden wissen wollte31 , jedenfalls in der alten und mittelalterlichen Kirche weithin als solcher gegolten hae2 • Umgekehrt stand ebenfalls bereits früh fest, daß er nicht vom Apostel selbst verfaßt worden wa~3. Schon Origenes war der Meinung, "daß die Gedanken vom Apostel stammen, Ausdruck und Stil dagegen einem Manne angehören, der die Worte des Apostels im Gedächtnis hatte und die Lehren des Meisters umschrieb. Wenn daher eine Gemeinde diesen Brief für paulinisch erklärt, so mag man ihr hierin zustimmen. Denn es hatte
30
SruHl.MACHER 180.
VON CAMPENHAUSEN, Bibel 169, Anm. 181. 32 H. ~, Das Bekenntnis der Hoffnung. 31
Tradition und Redaktion im Hebräerbrief = BBB 47 (Köln-Bonn 1977) 8/11; 15. 33 Neben den zahlreichen Stellungnahmen in Einleitungen und Kommentaren sei aUf einige Zusammenfassungen eigens verwiesen: F. RENNER, "An die Hebräer" - ein pseudepigraphischer Brief = Münsterschwarzacher Studien 14 (Münsterschwarzach 1970); E. GRAsSER, Der Glaube im Hebräerbrief = Marburger theol. Stud. f (Marburg 1965) 5f.; LIETzMANN, Geschichte 1, 222f.; o. MICHEL, Der Brief an die Hebräer12 = MEYER K 13 (Göttingen 1966) 36; 4Of.; C. P. ANoERSON, Tbe Epistle to the Hebrews and the Pauline Letter Collection: HfhR 59 (1968) 437f.; A. VANHOYE, Situation du Christ. Epitre aux Hebreux 1 et 2= Lectio Divina 58 (Paris 1969) 36. Engere Beziehungen zu Paulus verneint MARxsEN,' Einleitung 19Of.
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seinen Grund, wenn die Alten ihn als paulinisch. überliefert haben. Wer indes tatsächlich den Brief geschrieben hat, weiß Gott. Soviel wir aber erfahren haben, soll entweder Klemens, der römische Bischof, oder Lukas, der Verfasser des Evangeliums und der Apostelgeschichte, den Brief geschrieben haben"34. Die Namen, die hier fallen, sind insofern nicht aus der Luft gegriffen, als zum einen die enge Verbindung zwischen dem Hebräerbrief und dem 1. Klemensbrief feststeht - was allgemein als Benutzung des ersten durch den letzteren oder als das Zurückgehen beider auf gemeinsame (liturgische) Traditionen verstanden wird35 -, zum anderen auch heute noch versucht wird, das Christusbild des Hebräerbriefes zusammen mit dem der lukanischen Schriften von demjenigen der übrigen Synoptiker, des Paulus und des johanneischen Schrifttums abzusetzen36 . Am besten wird man darauf verzichten, den Verfasser namentlich dingfest machen zu wollen. Es genügt festzustellen, daß er ganz gleich, ob überhaupt und wenn ja, in welchem Maße man ihn als in der paulinischen Tradition stehend betrachtet - kein bloßer Nachahmer oder Ausleger des Paulus ist, sondern ein selbständiger Geist, der die Tradition weiterzuführen und aus Eigenem zu bereichern imstande ist. Nach dem Urteil LIETZMANNS finden sich im Hebräerbrief allerdings auch Zeichen von Epigonentum, was nicht zu verwundern braucht, denn im Vergleich mit einer so überragend schöpferischen Persönlichkeit, wie Paulus sie darstellt, "müssen notwendig alle, die nach ihm kommen, als schwächer erscheinen"37. Mit diesem Urteil steht Bei Eusebius, Hist. eccl. 6,25,11/4. LIBTZMANN, Geschichte 1,222; K. BEYSCHLAG, Clemens Romanus und der Frühkatholizismus = BHTh 35 (Tübingen 1966) 30; MICHEL. 29; G. 'IHEISSEN, Untersuchungen zum Hebräerbrief = Studien zum NT 2 (Gütersloh 1969) 3417; O. KNOCH, Eigenart und Bedeutung der Eschatologie im theologischen Aufriß des ersten Oemensbriefes = Tbeophaneia 17 (Bonn 1964) 89/92. 36 Vgl. C. P. M. JONES, Tbe Episde to the Hebrews and the Lucan Writings: Studies in the Gospels. Essays in Memory of R. H. Lightfoot (Oxford 1955) 113/43, bes. 142f.. 37 LIETzMANN, Geschichte 1,216. 34 3S
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UETZMANN nicht allein. Allgemeiner formuliert und auf alle nachpaulinischen Schriften ausgeweitet, findet man es häufige~8. Vermißt wird bei den Nachfolgern vor allem die Universalität des Apostels. Ein richtiger Kern mag in solchen Behauptungen stekken. Man wird aber bedenken müssen, daß die nach- und deuteropaulinischen Schriften nicht nur aus Unvermögen den paulinischen Universalismus vermissen lassen, sondern sich mit Absicht auf die Entfaltung bestimmter Aspekte beschränken. Eine Weiterführung des Paulus war eben nur möglich, wenn man die Fragestellungen reduzierte und die ganze Kraft auf die Entfaltung von situationsgeforderten Einzelzügen legte. Paulus steht in einer Reihe mit anderen großen Theologen, die immer ein Heer von Nacharbeitern im Gefolge haben. Auch wenn diese nicht die ganze Durchschlagskraft ihrer theologischen Vorbilder erreichen, sie mühen sich nicht vergeblich, wenn sie bei aller Beschränkung entfalten, vervollständigen, belegen und absichern, was in den bahnbrechenden Gedanken der Großen angeklungen oder auch nur implizit enthalten ist. Das Urteil über die paulinischen Epigonen braucht daher nicht unbedingt einen negativen Klang zu haben. In bezug auf den Hebräerbrief findet die Qualifizierung als "Epigonismus" jedoch durchaus keine ungeteilte Zustimmung39 • Am weitesten geht VIELHAUER, der·im Hebräerbrief die "gesammelte Tradition" so souverän verarbeitet sieht, "daß eine ganz eigenständige theologische Konzeption entstanden ist, eine Konzeption, die den Verfasser des Hebräerbriefes neben Paulus und dem Johannesevangelisten als den dritten großen Theologen des NT ausweist"40. Andere betonen die Eigenständigkeit der im Hebräerbrief ausgebreiteten Verkündigung, "die der des Paulus in nichts nacbsteht"41, und fordern für ihn, was bereits der sachVgl. E. BENZ, Das Paulusverständnis in der morgenländischen und abendländischen Kirche: ZRGG 3 (1951) 289f.; ALErIH, Paulusverständnis 122. 39 Vgl. ZIMMERMANN, Bekenntnis der Hoffnung 223. 40 VIELHAUER, Urchristliche Literatur 245. 41 GRAssER, Glaube im Hebräerbrief 3"; ebd. 5; MICHEL 41; E. FuCHS, Die Theologie und Jesus: Zur Frage nach dem historischen Jesus. Gesammelte Aufsätze 2 (Tübingen 1960) 397. 38
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gerechten Würdigung der lukanischen Theologie zugute gekommen ist und ebenso auf andere nachpaulinische Schriften angewandt werden sollte: daß man sie nicht sofort 'in den mächtigen Schatten des Paulus rückt und sie nicht nach Gesichtspunkten verhört, die ihnen fremd sind oder doch hinter ihren eigenständigen zurücktreten42 • Da es an dieser Stelle nicht um eine theologische Würdigung des Hebräerbriefes an sich geht, sondern um seine Einordnung in die nachpaulinische Entwicklung, soll seine Theologie trotzdem im Vergleich mit der paulinischen unter den Stichworten Christus und das Gesetz, Sündenvergebung sowie Glaube betrachtet werden.
Christus und das Gesetz Während Paulus im Kenosisabschnitt des Philipperbriefes (2,5/11) noch mit einer gewissen Scheu und Zurückhaltung voIIi präexistenten Christus redet, bietet der Hebräerbrief einige kräftige Formulierungen, die für die künftige Dogmatik wegweisend geworden sind. Christus ist "der Abglanz der Herrlichkeit [Gottes] und das Gepräge seines Wesens" (1,3)43. Wie Johannes betont der Hebräerbrief die kosmische Bedeutung der Menschwerdung des Sohnes, unterstreicht aber nachdrücklich die Realität dieser Menschwerdung. Christus hat menschliche Schwachheit gefühlt und ist versucht worden wie wir; das hat ihn Mitleid mit uns gelehrt und ihn befähigt, uns in der Gefahr der Versuchung zu helfen (2,18; 4,15)44. In eindrucksvoller Weise wird das paulinisehe Gehorsamsmotiv (Phil 2,8) durch l:Iinzufügung evangelischer Züge (Ölbergmotiv) gleichsam psychologisch vertieft: "Er hat in den Tagen seines Fleisches Bitten und Flehen mit lauten Rufen und unter Tränen dem .dargebracht, der ihn aus dem Tode erretten kann, und ist aus seiner Angst erhört worden. Und So bereits W. WREDE im Hinblick auf den 1. Klemensbrief; vgl. GRÄSSER, Glaube im Hebräerbrief 6, Anm. 37. 43 Vgl. ZIMMERMANN, Bekenntnis der Hoffnung 56/60. 44 Ebd. 169.
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obschon er Sohn war, hat er aus seinem Leiden Gehorsam gelernt und wurde nach seiner Vollendung für alle, die ihm gehorchen, Urheber des ewigen Heiles und wurde von Gott als Hoherpriester nach der Ordnung des Melchisedech bezeichnet" (5,7/10)45. Damit ist der Brief bei seinem Hauptthema angelangt: der theologischen Deutung des Todes Christi als idealer Verwirklichung des hohepriesterlichen Opfers. Wie Paulus zwingt die aus dem Vergleich mit alttestamentlichen Vorstellungen46 erarbeitete These dabei den Verfasser zu einer ausführlichen Auseinandersetzungmit der Heiligen Schrift und dem Gesetz des Alten Bundes. Das führt wegen der Entwicklung, die kirchliche Theologie und Gemeindepraxis inzwischen durchgemacht haben, zwar zu einem Abstand von paulinischen Positionen, der aber keine Entfremdung bedeutet. Wie für Paulus besitzt für den Hebräerbrief das Gesetz nur eine zeitlich begrenzte Geltung und war von Anfang an dazu bestimmt, durch Christus überholt zu werden. Folglich betont der Hebräerbrief die Vorläufigkeit und Unzulänglichkeit des Gesetzes (7). Es enthält "den Schatten der künftigen Güter, nicht die Gestalt der Dinge selbst" (10,1). Allerdings wird unter dem Gesetz nicht das Gesamt aller mosaischen Gebote und Forderungen verstanden, sondern vor allem das Zeremonialgesetz mit seinem priesterlichen Kult- und Tempeldienst; das unter dem Gesichtspunkt der erstrebten lind nicht erreichten Sühne und Heiligung betrachtet wird47 • Abgesehen von den im Gesetz enthaltenen sittlich-religiösen Gehalten ist aber auch sein zeremonialer Teil nicht ganz nutzlos. "Die alten überholten Veranstaltungen enthalten gerade in ihrer UnvollEbd. 180; 75f. bezweifelt ZIMMERMANN allerdings einen Rekurs auf das Geschehen in Gethsemane. 46 Vor einer vorschnellen Erklärung der Christologie des Hebräerbriefes mit Hilfe des gnostischen Erlösermythos warnt H. ZIMMERMANN, Die Hohepriester-Christologie des Hebräerbriefes (Paderbom 1964) 33. Zur weiteren religionsgeschichtlichen Einordnung vgl. "DmISSEN 115/23; H.-M. ScHENKE, Erwägungen zum Rätsel des Hebräerbriefes: Neues Testament und christliche Existeoz. Festschrift H. Braun (Tübingen 1973) 421/37. 47 Vgl. VON CAMl'ENHAUSEN, Bibel 83; dazu MICHEL .285. 45
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kommenheit einen ständigen Hinweis auf die künftige wahre Versöhnung in Christus, die jetzt vexwirklicht ist. In dieser das christliche Heil im voraus bezeugenden, prophetischen Funktion haben sie ihren einzigen, wesentlichen Sinn; das Gesetz wird gleichsam zur Vorform dessen, was der Glaube verkündigt"48. Hier zeigt sich die fortgeschrittene Situation des Hebräerbriefes. Nachdem die Botschaft des Christusglaubens in der Kirche selbst legitimiert ist und vor dem Anspruch des Gesetzes nicht mehr verteidigt werden muß, kann man darangehen, zur Paradigmatisierung und Vertiefung des Evangeliums das Alte Testament wieder heranzuziehen. Wo Paulus noch echte Gegensätze gesehen hatte, kann der Hebräerbrief auf Analogien hinweisen. Das Alte Testament bekommt auf diese Weise einen verheißenden "evangelischen" Sinn, es umgibt die Christen auf ihrem Glaubensweg mit einer "Wolke von Zeugen" (12,1) und spricht zu ihnen .tröstlich "wie zu Söhnen" (12,5). Das Alte Testament gewinnt Vorbildcharakter. Die typologische Allegorese bekommt eine neue Funktion; sie dient nicht mehr nur der geistigen überwindung, sondern der Fruchtbarmachung der biblischen Vergangenheit49 • Das ist nicht unbedingt paulinisch, liegt aber ebensowenig außerhalb der Konsequenz einer vom Apostel initiierten Entwicklung50 • Sündenvergebung Die Betonung des Opfertodes Christi und seine theologische Vertiefung durch die Konfrontierung mit alttestamentlichen Vorbildern verfolgt in erster Linie nicht einen apologetisch gegen 48 VON CAMPENHAUSEN,
Bibel 83. Vgl. ebd. 84. Daß dieser Vorgang im Hebräerbrief Schule gemacht hat und in der Folgezeit kirchliche Wirklichkeiten mit alttestamentlichen Vorstellungen zunächst verglichen und dann angereichert werden, läßt sich an vielen Stellen zeigen. Für das kirchliche Amt etwa vgl. E. DASSMANN, Die Bedeutung des Alten Testamentes für das Verständnis des kirchlichen Amtes in der frühpatri. stischen Theologie: Bibel u. Leben 11 (1970) 198/214. so W. JOEST, Gesetz und Freiheitl (Göttingen 1961) 143.
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die Juden gerichteten Zweck, sie entspringt auch nicht allein dem innerkrrchlichen VVunsch nach dogmatischer Einordnung, sondern dient vor allem einem paränetischen, auf die Nöte der angesprochenen Gemeinde ausgerichteten Bedürfnis51 • Vom Enthusiasmus der Anfangszeit ist in dieser Gemeinde nicht mehr viel zu spüren; das Ideal vom sündenlosen Christenleben - falls es das jemals gegeben hat - ist durch die Praxis längst widerlegt52 • Schon Paulus rechnete mit der Sünde und mahnte zum ständigen Kampf wider sie53 ; der Hebräerbrief bemüht sich darüber hinaus um Unterscheidungen, die die Grenzen möglicher und unmöglicher Sündenvergebung aufzuzeigen versuchen. Viele tatsächlich geschehene Sünden werden als Ausfluß menschlicher Schwachheit und unfreiwilligen Ausgleitens bewertet, die es zu überwinden gilt54 • Unmöglich aber ist es, die, "welche einmal erleuchtet worden sind, die himmlische Gabe gekostet haben und des Heiligen Geistes teilhaftig geworden sind, das gute VVort Gottes und die Kräfte der künftigen VVeltzeit gekostet haben und dann abgefallen sind, wiederum zur Umkehr zu erneuern, da sie für ihre Person den Sohn Gottes (aufs neue) ans Kreuz schlagen und zum Gespött machen" (6,4/6). "Denn wenn wir freiwillig sündigen, nachdem wrr die Erkenntnis der VVahrheit empfangen haben, gibt es kein Opfer für Sünden mehr, wohl aber eine furchtbare Erwartung des Gerichtes und zehrendes Feuer, das die VVidersacher verzehren wrrd" (lO,26f.). Die Exegese dieser Texte macht viele Schwierigkeiten; sie sind in Untersuchungen über die frühkkchliche Bußentwicklung völlig gegensätzlich ausgewertet worden. Für die einen vertritt der Hebräerbrief einen sittlichen Rigorismus, der bei schweren freiwilligen Sünden keine Vergebung gestattet, für die anderen warnt er in paränetischer Zuspitzung vor der Gefahr des Abfalls, wobei
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ZIMMERMANN, Bekenntnis der Hoffnung 3; 215f.
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GRÄSSER, Glaube im Hebräerbrief 195f.
A. KIRCHGÄSSNER, Erlösung und Sünde im Neuen Testament (Freiburg 1950) 53; 135f. 54 B. PosCHMANN, Paenitentia secunda. Die kirchliche Buße im ältesten Christentum bis Cyprian und Origenes = Theophaneia 1 (Bonn 1940) 43.
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die grundsätzliche Vergebbarkeit aller Sünden keinesfalls bestritten, wohl aber beim Glaubensabfall die psychologische Unmöglichkeit einer erneuten Bekehrung befürchtet wird ss • Die Frage, ob die entsprechenden Texte dogmatisch-disziplinäre Entscheidungen oder paränetische Mahnungen enthalten, läßt sich mit Sicherheit wohl niemals entscheidens6 ; dazu müßte die im Umkreis des Hebräerbriefes tatsächlich geübte Bußpraxis bekannt sein. Doch auch wenn man davon ausgeht, daß der Hebräerbrief vor allem warnen und nicht eigentlich regeln will, wird man damit rechnen müssen, daß es sich bei der Sünde des Abfalls (vgl. 6,6) nicht nur um eine formelle Leugnung des Glaubens, sondern auch um sittliches Fehlverhalten handelt, von dem aus auf einen inneren, nicht zurückgenommenen Abfall vom Glauben geschlossen werden mußS7 • In Hebr 6,7f. heißt es nämlich: "Denn ein Land, das den reichlich auf es herabströmenden Regen getrunken hat und für die nützliches Gewächs hervorbringt, für die es bebaut wird, empfängt Segen von Gott. Bringt es aber Domen und Disteln hervor, so ist es verworfen und dem Fluch nahe, und sein Ende ist Verbrennung". Und Hebr 12,16f. erklärt: "Gebt acht, daß niemand ein Unzüchtiger sei oder ein Unheiliger wie Esau, der für eine einzige Speise seine Erstgeburtsrechte fortgab. Wißt ihr doch, daß er auch später, als er den Segen zu erben wünschte, verworfen wurde, denn er fand keinen Raum für die Reue, obschon er sie unter Tränen suchte". Auch wenn diese Sätze noch nicht die spätere Unterscheidung von läßlichen Sünden und Todsünden treffen wollens8 , genauso wenig wie sie eine Differenzierung zwischen vergebbaren und unvergebbaren Sünden beabsichtigenS9 , so deutet sich doch eine Trennungslinie an, die es gestattet, auf der einen Seite am Ideal der Heiligkeit christ-
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Belege bei DASSMANN, Sündenvergebung 129f., Anm. 353.
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MrCHEL247.
Vgl. dagegen die Abschwächung bei POSCHMANN 45. Anders LIETZMANN, Geschichte 1, 221. 59 Unvergebbare Sünden werden, außer der ihrer Natur nach unvergebbaren Sünde der Unbußfertigkeit (Sünde wider den m. Geist), im ganzen NT nicht gelehrt; vgl. vON CAMPENHAUSEN; Kirchliches Amt 244/6, Anm. 4.
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Iicher Lebensführung festzuhalten, auf der anderen Seite jedoch ein· Verhalten zu beschreiben, das die weitere Zugehörigkeit zur Gemeinde unmöglich macht. lmTZMANN hat in der Sündenauffassung des Hebräerbriefes einen Rückschritt zum judaisierenden Moralismus gesehen, gibt aber gleichzeitig zu bedenken, daß dieser als Versuch gewürdigt werden muß, "die wesenhafte Paradoxie der paulinischen,l..ehre von der Rechtfertigung und Heiligung ins Rationale zu übersetzen, das Unmögliche möglich zu machen"60. Man sollte darum besser nicht von Rückschritt sprechen, sondern von Anpassung an die Wirklichkeit der Gemeinde. Die paulinische Forderung nach Heiligkeit war umfassend; die Kraft zur Durchsetzung empfing sie zum nicht geringen Teil aus der Naherwartung der Parusie. Spätere Gemeinden blieben notgedrungen hinter den pauIinisehen Erwartungen zurück; sie waren daher gezwungen, genauer. zu umschreiben, welches Maß an Heiligkeit, Sündenlosigkeit oder auch Bußbereitschaft erforderlich war, um eine Bewahrung der Taufgnade annehmen zu können, die in völliger Fleckenlosigkeit sich kaum jemand zu erhalten vermochte. Die ~t dem Komplex der Sündenvergebung zusammenhängenden Fragen haben die Kirche noch lange (fruchtbar) beunruhigt. Der Hebräerbrief ist unter diesem Aspekt nicht mehr als ein früher Versuch, eine Antwort zu finden, die die paulinischen Ansätze teilweise verläßt, um ihren Kern bewahren zu können: die Endgültigkeit des Heils, das auch dann angenommen werden darf, wenn Verfehlungen sich eingeschlichen haben, solange nur der Glaube durch Abfall bzw. durch Sünden, die als Verleugnung des Glaubens betrachtet werden müssen, nicht preisgegeben wird. Glaube Ein Abweichen von den scharfen linien des echten Paulinismus will man des weiteren iIp. Glaubensverständnis des Hebräerbriefes bemerkt haben. Man sagt, der Glaube, der bei Paulus an 60
LmTZMANN, Geschichte 1,221.
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die Person Christi gebunden sei, mit dem der Gläubige leidet, stirbt und aufersteht, werde im Hebräerbrief monotheisiert (11,6)6\ intellektualisiert (11,1.3) und, was noch schlimmer ist, ethisiert62 ; er werde zu einer moralischen Kategorie und gehöre mit der Liebe zu den "guten Werken"63. überlegungen LIETZMANNS nacherzählend und noch stärker zuspitzend, schreibt ALEITH: "Glaube und Gerechtigkeit werden in eine Verbindung gebracht, die der paulinischen nicht ganz entspricht. Der Glaube, eben jenes Fürwahrhalten der aufs Künftige weisenden Verheißungen, schließt in dieser Funktion ein gottgefälliges Handeln ein ... Und damit gleitet der Hebräer-Brief in das Fahrwassser der Moraltheologie, so daß er versichert, Gott werde in seiner Gerechtigkeit die Werke, die im Namen Gottes an den Heiligen vollbracht wurden, nicht vergessen (6,10). Glauben und Handeln werden zusammen genannt, aber der Glaube ist nicht paulinisch, und der Akzent liegt auf den Werken"64. Inzwischen hat sich die exegetische Forschung auch in diesem Punkt bemüht, dem Anliegen des Hebräerbriefes gerechter zu werden. Gewiß ist richtig, daß Paulus das Verhältnis von Glaube und Werken anders bestimmt als der Hebräerbrief. Der Unterschied liegt aber mehr in den Begriffen als in der Sache. Was der Hebräerbrief unter "Werken" versteht, ist auch Paulus nicht fremd, wenn er von der "Frucht des Geistes" spricht (Ga15,22; vgl. Röm 8,5)65. Sollte die im Hebräerbrief konstatierte fehlende paulinische Alternative Gesetz - Glaube nicht andere Gründe haben als ein Vergessen oder Abschwächen des paulinischen Anliegens? GRÄSSER ist dieser Meinung, wenn er - LoimMANN zufolge - "die Aussagen des Hebräerbriefes als Umwandlung 61 Belege bei GRAsSER, Glaube im Hebräerbrief 9/12; vgl. D. UliiRMANN, Glaube im frühen Christentum (Gütersloh 1976) 70. 62 ScHuLz, Mitte der Schrift 26lf. 63Ebd.262. 64 ALBrrH, Paulusverständnis 10; vgl. LmTDIANN, Geschichte 1,22lf. 65 E. GRÄSSER, Christologie des Hebräerbriefes: Neues Testament und christliche ExisteDZ. Festschrift H. Braun (Tübingen 1973) 205; vgl. auch die ausführlichere Behandlung des Problems im Zusammenhang mit dem Jakobusbrief s. 113/6.
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eines aus Paulus gewonnenen urchristlichen Glaubensverständnisses deutet,· die sich aus der Parusieverzögerung" erklärt66 . Wenn die fortgeschrittene Zeit neben der Bekehrung zum Glauben eine Bewährung des Glaubens erfordert, bekommt der Glaube selbst eine ethische Qualität, ohne dem Voraus der Gnade Gottes Abbruch zu tun67. Was die dem Hebräerbrief zur Last gelegte monotheistische Verengung des Glaubens angeht, so weist LOimMANN auf jüdische Traditionen hin, für die Philo als Hauptzeuge gelten kann, die ein auch in der paulinischen Theologie nie aufgegebenes Bekenntnis zu Gott dem Schöpfer und endzeitlichen Richter der Welt bekunden (vgl. Röm 4,17 und Hebr 11,6)68. Christus aber ist als Hoherpriester der erste, der die Verheißungen dieses Glaubens erlangt hat, und dem die Christen im Glauben; d. h. in Geduld und Standhaftigkeit, nachgehen angesichts der eigenen Leidenserfahrung. Durch die Neubestimmung des Glaubens vom Leidensgeschick Jesu her wird aber "bei aller nicht zu bestreitenden Differenz eine erstaunliche Nähe zu Paulus deutlich"69. So wenig es bisher gelungen ist, den religionsgeschichtlichen Ort des Hebräerbriefes mit letzter Sicherheit festzulegen, so unbestimmt bleibt seine theologiegeschichtliche Stellung70 • Da die Bestimmung des geistig-religiösen Hintergrundes, auf dem Verfasser und Adressaten sich austauschen, nicht ohne Vermutungen auskommt, ebensowenig die Situation von Lehrer und Hörern eindeutig klar wird, lassen sich wohl Kongruenzen mit der paulinischen Theologie und das Fehlen antipaulinischer Tendenzen feststellen, nicht aber die Gründe für Gemeinsamkeiten, 66
LoimMANN 71 mit Hinweis auf GRÄSSBR, Glaube im Hebräerbrief 146/92; vgl. dazu MICHEL 376f.
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GRÄSSER, Christologie 205f.
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LoimMANN 73f.
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Ebd. 77. VIELHAUER, Urchristliche Lite13tur 238; 248150. Verschiedentlich ist auf die Gemeinsamkeiten zwischen Hebräerbrief und Jobannesevangelium hingewiesen worden; vgl. O. CuLl.MANN, Der johanneische Kreis. Zum Ursprung des Johannesevangeliums (Tübingen 1975) 58f.; LOimMANN 77; SPICQ (vgl. S. 45, Anm. 37).
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Unterscheidungen und Weiterentwicklungen restlos aufdecken. Unter diesen Vorbehalten sei aber doch auf eine Vermutung hingewiesen, die MICHEL .vorgetragen hat. ·Nach ihm geht es dem Hebräerbrief nicht um eine Antithese zum Judentum, sondern um das Problem der Ablösung des Alten Bundes durch den Neuen71. Im Hebräerbrief artikuliert sich ein judenchristlicher Hellenismus, der aus der Enge jüdischer Denkkategorien und der Sicherheit der Synagoge herausführen will72 • Sind seine Adressaten eine judenchristliche Gruppe im Raum der hellenistischrömischen Diaspora, dann will er ihnen helfen, ihre ererbte Glaubensgeschichte und die Tradition der Väter durch die Jesusverkündigung lebendig zu erhalten73. Die endgültige Scheidung von der Synagoge, die immer unabweislicher droht, trennt nicht von den Verheißungen der Väter, sondern erfüllt sie erst iIil Hohen:' priester Jesus. Trifft diese Vermutung zu, dann artikuliert sich im Hebräerbrief ein Anliegen, das auch in anderen nach- bzw. deuteropaulinischen Schriften aufzuspüren war. Apostelgeschichte, Kolosser- und Epheserbrief verfolgen es auf je eigene Weise. Es ist ein eminent paulinisches Problem, das aber in der zweiten und dritten Generation- neue Antworten erforderte. c) Erster Petrusbrief Ebenfalls in paulinischer Tradition steht der 1. Petrusbrief7\ auch wenn in 1,1 Petrus ausdrücklich als Verfasser genannt und damit die neutestamentliche Pseudepigraphie um eine weitere Nuance bereichert wird. Aber weder Inhalt, Charakter noch historische Umstände des Briefes lassen eine Nähe zur historischen Gestalt -des Petrus erkennen75; allein die Ortsangabe in 71 MICHEL 43. 72Ebd.45. 73 Ebd. 48. 74 VIELHAUER, Urchristliche Litemtur 584; F. MUSSNER, Petrus und Paulus Pole der Einheit = Quaestiones disputatae 76 (Freiburg 1976) 49f. 75 Vgl. BROX, Falsche Verfasserangaben 17 (S.47, Anm.4). Entgegen der weithin 'übereinstimmenden Auffassung der Exegeten versucht C. SPICQ, La I"
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5,13 BabyIon = Rom greift die petrinische Verfasserfiktion auf, obwohl manches dafür spricht, daß das Schreiben nicht in Rom entstanden ist, sondern in einer der paulinischen Gemeinden Kleinasiens, an die es die Grußadresse ja auch gerichtet sein läßt'6. Die in 5,12f. genannten Begleitpersonen Silvanus und Markus führen dagegen wiederum eherin die Nähe des Paulus als des Petrus77. Der Inhalt des Schreibens - um einen Brief handelt es sich schwerlich, eher um eine Taufpredigt oder eine auf die Taufe zurückblickende Ansprache mit angefügter Mahnrede78 braucht hier nicht ausführlich dargestellt zu werden, denn wenn der 1. Petrusbrief auch materialiter etliches Neue bringt (in der Christologie z. B. die Höllenfahrt Jesu in 3,19), so bleiben die im Vergleich mit dem echten Paulus spürbar werdenden weiterführenden Tendenzen doch annähernd dieselben wie in den bereits behandelten Schriften: Ethisierung des Glaubens und der Gemeinschaft mit Christus, Wandlungen im Parusieverständnis und Ausweitung der Ekklesiologie, Fehlen der Gesetzes-Problematik in paulinischer Zuspitzung79 •
Petri et le tcSmoignage evangelique de saint Pierre: Studia Theologica 20 (1966) 37/61, nachzuweisen, daß der 1. Petrusbrief "independamment d'une influence paulinienne" die petrinische Verkündigung wiedergibt, "refletant la meme theologie que les sermons des Actes aux hierosolymites et au centu. rion Comeille" (61); vgl. dazu N. BROX, Zur pseudepigraphischen Rahmung des ersten Petrusbriefes: BZ NF 19 (1975) 78/96, bes. 78f. 76 Vgl. K. H. ScHELKLE, Die Petrusbriefe, der Judasbrief4 = HThK 13,2 (Freiburg 1976) 7/11; VIEUIAUER, Urchristliche Literatur 588. E. LoHSE, Paränese und Kerygma im 1. Petrusbrief: Die Einheit des Neuen Testaments (Göttingen 1973) 322/4, tritt dagegen vorbehaltlos für die Entstehung in Rom ein wegen der Verwandtschaft mit dem 1. Klemensbrief; desgleichen MUSSNER 5317. 77 BROX. Rahmung 82f. . 78 Vgl. ScHELKLE 4f.; VIELHAUER. Urchristliche Literatur 584f. 7' Vgl.dazu GRÄSSER.Glaube im Hebräerbrief 149154(S. 57, Anm. 33); ScHUlZ. Mitte der Schrift 272181; G. DEILlNG. Der Bezug der christlichen Existenz auf das Heilshandeln Gottes nach dem ersten Petrusbrief: Neues Testament und christliche Existenz. Festschrift H. Braun (Tübingen 1973) 95/113, bes. Illf.; H. GolDSTEIN. Paulinische Gemeinde im Ersten Petrusbrief = Stuttgarter Bibelstudien 80 (Stuttgart 1975) 106.
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Die dem Verfasser vor Augen stehende Situation ist bestimmt durch die Leiden, "die sich an eurer Bruderschaft in der ganzen Welt vollziehen" (5,9). Drohende oder schon ausgebrochene Verfolgungen machen ein Wort des Trostes und der Mahnung zur Standhaftigkeit notwendig, um Unsicherheit und Verzagtheit abzuwehren. "Geliebte, seid nicht befremdet über den Brand, der unter euch zur Prüfung ausgebrochen ist, als sei euch etwas Befremdliches zugestoßen. Freut euch vielmehr, daß ihr an den Leiden Christi teilnehmen könnt, damit ihr auch bei der Offenbarung seiner Herrlichkeit euch freuen und jubeln könnt" (4,12f.). Gewiß wird hier der von Paulus häufig ausgesprochene mystische Gedanke von der geistgewirkten Gemeinschaft des Christen mit dem Leiden Christi (vgl. Röm 6,2/11; Gal 3,27f.; 1 Kor 12,13; 2 Kor 5,17; Röm 8,9/11) nicht durchgehalten, vielmehr das Leiden als Versuchung und Prüfung des Glaubens, darüber hinaus noch als Nachfolge des Christusvorbildes verstanden, aber diese Verschiebung ist begreiflich in einer Zeit, in der das Leiden um Christi willen nicht mehr nur die Bewältigung und Fruchtbarmachung der mit jedem menschlichen Dasein verbundenen Unzuträglichkeiten einschließt, sondern zu einer furchtbaren, lebensbedrohenden Realität zu werden beginntso. Zugleich wird das in Geduld ertragene Leiden in Schicksalsgemeinschaft mit dem leidenden Herrn zu einem Merkmal der Kirche81 . Auch das von Paulus beschriebene, durch die Taufe gewirkte neue Leben wird vom 1. Petrusbrief nüchtern umgesetzt in "die Vorstellung von der Christenheit als dem auf Christus als Grundstein aufgebauten, geistdurchwalteten Tempel Gottes, als dem ,heiligen Volk', das sich hier in dieser Welt fremd fühlt und im Kampf gegen den Teufel und die Lüste des Fleisches sich müht, den Willen Gottes zu tun" (2,5.11)82. Unbeschadet der in Christus Für die Frage, in welchem Maß der erste Petrusbrief sich auf wirkliche Verfolgungen bezieht, vgl. VIELHAUER, Urchristliche literatur 582; ablehnend H. MnLAUER, Leiden als Gnade. Eine traditionsgeschichtliche Untersuchung, zur Leidenstheologie des ersten Petrusbriefes = Europäische Hochschulschriften 23,56 (Frankfurt/Main 1976) 190. 81 GoLDSTEIN 112. . 82 LIETZMANN, Geschichte I, 225. 80
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geschehenen endgültigen Berufung zum Heil (1,3/12) weiß der Schreiber um die weiterhin drohende Gefahr des Bösen: "Der Teufel geht umher wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er verschlinge" . (5,8). Eschatologische Gedanken klingen vergleichsweise stark an und unterstreichen eindringlich den ethischen Grundzug des Schreibens. Neben Mahnungen an einzelne Stände (2,18-3,7) sind erwähnenswert die "beschwörenden" Vorhaltungen an die Adresse der kirchlichen Vorsteher, die Herde Gottes uneigennützig, nicht schnöder Gewinnsucht willen, zu weiden (5,1/4). Solche Mahnungen ergehen selten ohne Grund; sie lassen auf Mißstände schließen, die bei der fortschreitenden Ausbreitung der Gemeinden nicht ausbleiben konnten neben dem Hinweis auf die weltweiten Verfolgungen (5,9) ein beachtliches Indiz für die Datierung des Schreibens in nachapostolische ZeitB3 • Der Nachweis aller Übereinstimmungen mit Paulus, die z. T. literarische Anklänge an eine Reihe von Paulusbriefen enthalten sollen, ist schon häufig geführt worden und braucht hier ebensowenig wiederholt zu werden wie eine Aufzählung aller unabhängig von Paulus vermittelten Einflüsse84 • ScHELKLE gibt mit Berufung auf SELWYN und LoHSE aber auch zu bedenken, daß die neutestamentlichen Briefe aus einer breiten und verhältnismäßig festen Tradition schöpfen, daß Ähnlichkeiten darum nicht unbedingt als literarische Abhängigkeiten verstanden werden müssen, sondern als Übereinstimmung mit einer allen gemeinsam. vorausliegenden, geformten Überlieferung erklärt werden können85 , was eine weitgehende Abschwächung des deuteropaulinischen Der 1. Petrusbrief wird an das Ende des 1., möglicherweise sogar an den Anfang des 2. Jahrhunderts datiert; vgl. BROX, Rahmung 88; SCHELKLE 10f. L. GoPPELT. Der Erste PetrusbriefS = MEYER K 12.1 (Göttingen 1978) 64f.• datiert früher in die Zeit zwischen 65-80. 84 Vgl. SCHELKLE 6; SOIUIZ. Mitte der Schrift 272; VIBUIAUER, Urchristliche Literatur 384; LaUSE. Paränese 309f.; 322; GoLDSTEIN 12/24; 50/4; 104/13; weitere Angaben in dem kritischen Referat von N. BROX. Der erste Petrusbrief in der literarischen Tradition des Urchristentums: Kairos 20 (1978) 182/92. 85 SCHELKLE 6f.; noch bestimmter vertritt diese Meinung BROX. Literarische Tradition 190/2.
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Charakters der Schrift zur Folge hätte. Wenn jedoch unbeschadet dieser Einschränkung - auch nach Ansicht ScHELKLES - bestehen bleiben soll, "daß 1 Petr unter dem Einfluß der in der Kirche offenbar bereits mächtigen paulinisehen Theologie steht, die ihrerseits von Tag zu Tag immer mehr in die Tradition der Kirche einging ,,86 , stellt sich eindringlich die Frage, warum dann Petrus und nicht Paulus als Autor dieser paulinisch gefärbten Schrift vorgestellt wird. Verständlicherweise hat diese Verfasserangabe zu allerlei Spekulationen Anlaß gegeben, wobei - je nachdem wie man die Akzente zu setzen geneigt ist - entweder Petrus die Rechtgläubigkeit der pauIinischen Theologie retten oder diese die theologische Bedeutung des literarisch sonst unfruchtbaren Petrus aufwerten soll: Nach BAUER stellt die pseudepigraphische Rahmung des 1. Petrusbriefes einen dem 1. Klemensbrief analogen Versuch der römischen Gemeinde dar, kirchenpolitischen Einfluß auf kleinasiatische Gemeinden zu gewinnen87 . VIELHAUER, der den 1. Petrusbrief in Kleinasien entstanden sein läßt, modifiziert die These und sieht in dem Schreiben den Versuch eines kleinasiatischen Kirchenmannes, "seinen Adressaten ihre Verbundenheit mit Rom im gleichen Glauben ... zum Bewußtsein zu bringen"88. Indem zwar nicht der Heidenapostel selbst, wohl aber dessen Missionsgefährten Silvanus und Markus in den Schluß grüßen (5,12f.) dem Petrus unterstellt werden, ergibt sich als Tendenz des Schreibens "die Aufrichtung der Autorität Petri auch über die pauIinischen Missionsgebiete"89. Für ScHULZ kann die "Tarnung mit der Maske des Apostels Petrus" nur den Sinn haben, "die gefährdeten paulinischen Gemeinden Kleinasiens unter die rechtgläubige Autorität und kirchliche Lehrtradition zu stellen", die sich für den Verfasser des Schreibens allein mit dem Namen
86 87
8cHEua.B 7. BAUER, Rechtgläubigkeit HOf.; 125.
88 89
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VIELHAUER, Urchristliche Literatur 589. Ebd. 589. VIELHAUER betont allerdings,
daß die Tendenz des Briefrahmens nicht diejenige des gesamten Schreibens ist.
des Petrus verbindet90 . GoLDSTEIN schließlich sieht die kirchengeschichtliche Landkarte Kleinasiens durchschimmern, wo nach der Vertreibung des Jahres 70 zunehmend palästinensisehe Judenchristen ansässig wurden, denen die Autorität des Petrus wichtiger war als die des Paulus, falls nicht sogar eine antipaulinische Werbung für Petrus als Heidenmissionar anzunehmen ist91 . Weniger konfliktreich hatte schon PFLEIDERER den Namenswechsel beurteilt. Für ihn vertritt der 1. Petrusbrief einen verblaßten Paulinismus, der überhaupt keine "Parteifarbe" mehr trägt und - ohne daß damit kirchenpolitische Geheimabsichten verbunden gewesen sein müßten - ohne Anstoß mit dem Namen des Apostels verbupden werden konnte, "den damals schon die römische Kirche vor Paulus, aber in intimem Bunde mit diesem liebte"92. PFLEIDERER hat damit bereits den Weg gewiesen, auf dem auch BROX der Lösung des Problems nachgegangen ist. BROX unterstreicht, daß nicht vorausgesetzt werden dürfe, ein nachapostolischer Autor habe eine präzise und historisch zutreffende Vorstellung von der Theologie eines bestimmten Apostels gehabt, wenn er sich dessen Namen zur Verbreitung seiner eigenen Lehrtradition bediente. Das dogmatische Interesse der Zeit suche in den Aposteln nicht verschiedene theologische Profile, sondern im Gegenteil völlige übereinstimmung zwischen allen. Hinter dem Zusammentreffen einer "zufälligen" kirchlichen überlieferung mit einem "beliebigen" Apostelnamen sollte darum in der frühchristlichen Pseudepigraphie viel weniger Absicht und Tendenz vermutet werden, als modeme Kritiker zu unterstellen geneigt sind93 ; die Verbindung des Namens Petrus im Briefnamen mit dem "paulinischen" Inhalt sei daher "ganz arglos zu nehmen"94. 90
ScHuLz, Mitte der Schrift 271f.
105f.; Hinweise auf weitere, hier nicht angeführte Varianten bei N. BROX, Situation und Sprache der Minderheit im ersten Petrusbrief: Kairos 19 (1977) 1f.; MUSSNER 53/5. 92 O. PFLEIDERER, Der Paulinismus. Ein Beitrag zur Geschichte der urchristlichen Theologie2 (Leipzig 1890) 432f. 93 BROX, Rahmung 92/4; DERS., Falsche Verfasserangaben 116; 94 BROX, Rahmung 95. 91 GoLDSTEIN
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Warum der Brief des anonymen nachapostolischen Autors mit dem Namen des Petrus überschrieben ist, läßt sich unter diesen Voraussetzungen natürlich nicht mehr definitiv entscheiden. Mit der römischen Petrustradition verbindet den Brief zwar die Angabe des Absendeortes "BabyIon" in 5,13; es darf nämlich als gesichert gelten, daß mit BabyIon Rom gemeint ist95 . Diese Identifizierung klärt aber nicht, ob der gewählte Autorenname den Absendeort oder die Ortsangabe den Verfasser nach sich gezogen hat. BROX läßt vemünftigerweise die Antwort in der Schwebe: "Weil der Autor tatsächlich oder fiktiv von Rom aus schreibt, schreibt er unter der apostolischen Autorität, deren Namen sich durch die Geschichte an Rom geheftet hat. Oder: weil er seine Mahn- und Trostschrift mit dem Namen Petrus wirkungsvoll stilisieren will, lokalisiert er sie nach Rom"96. Daß die römische Gemeinde, wenn sie angefochtenen Christen in Kleinasien Trost zusprechen will, dies unter der Autorität des "Felsenapostels" tut, bleibt gleichwohl bemerkenswert. Ausblick Die zuletzt besprochenen Schriften stimmen darin überein, daß sie bewußt oder de facto paulinisches Gedankengut weitertragen. Hinzuzurechnen wäre dieser Gruppe noch der 2. Thessalonicherbrief, falls sich seine nichtpaulinische Verfasserschaft nachweisen ließe97 . Hinzuzurechnen sind mit Sicherheit die Pastoralbriefe, die aber wegen ihrer besonderen Thematik und späteren Entstehung erst weiter unten behandelt werden sollen. Nimmt man noch die Pauluskapitel der Apostelgeschichte und die Sammlung der Paulusbriefe zu einem Corpus hinzu, dann ergibt sich, daß auch nach dem Tode des Apostels das Interesse an seiner Person vgl. G. H. HUNZINGER, Babyion als Deckname für Rom und die Datierung des 1. Petrusbriefes: Gottes Wort und Gottes Land. Festschrift H. W. Hertzberg (Göttingen 1965) 67177, bes. 71f. 96 BROX, Rahmung 96. 97 Vgl. S. 47, Anm. 4. 9S
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und an seiner Theologie - möglicherweise unterstützt durch eine regelrechte "paulinische Schule"98 - in starkem Maße lebendig . geblieben ist99 . Schwieriger zu beantworten ist die bereits zuvor angeschnittene Frage100, ob das Bemühen der Paulustradenten auch zum Ziel geführt hat, d. h., ob die paulinisehe Theologie unverkürzt und unverfälscht nicht nur durch die Bewahrung und Sammlung der echten Paulusbriefe, sondern ebenso durch ihre Weiterbildung im paulinisch beeinflußten Schrifttum tradiert worden ist. Die Antwort hängt verständlicherweise nicht allein von objektiven Kriterien ab, sondern auch von der Einstellung des Beurteilers, von seinem eigenen Paulusverständnis und von dem, was er für wesentlich und zur Vollständigkeit der paulinisehen Theologie gehörend ansieht. Ebenfalls eine Rolle spielt, was einer unter Traditionstreue versteht. So ist zu bedenken, daß das Zurücktreten eines paulinisehen Zentralgedankens kein Versäumnis zu sein braucht, wenn die von Paulus gemeinte Sache entschieden ist und so sehr in das allgemeine Glaubensbewußtsein der Gemeinden Eingang gefunden hat, daß eine erneute Hervorhebung unterbleiben kann. Die paulinische Rechtfertigungslehre z. B. ist nicht schon verraten, wenn sie nicht im Stil des Galaterbriefes verfochten wird 101 • Neuzubekehrenden der ersten Stunde ist die Unverdienbarkeit der Heilsgnade anders zu verkünden als im Glauben müde werdenden Christen die Notwendigkeit ihrer Bewahrung. Darum ist in den nachpaulinisehen Schriften nicht mit einer sklavischen übernahme, sondern mit einer situationsbedingten Weiterbildung und Akzentuierung der paulinischen Theologie zu rechnen, wobei bedrängende Irrlehren, drohende Verfolgung,
Vgl. H. CoNZELMANN, Paulus und die Weisheit 233f.; GNILKA 21; SCHENKE, Weiterwirken 505/18; LoHSE, Kolosserbrief 254/6; S'I'UHLMACHER 173/86; KNox 184f. (vgl. S. 46, Anm. 3). 99 Vgl. auch die übersicht bei CONZELMANN, Grundriß 317/24. 100 Vgl. S. 59. 101 Vgl. die treffenden Überlegungen bei GRÄSSER, Christologie 195/206, bes. 202/6; ebenSo S. 56, Anm. 28. 98
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Verzögerung der Parusie, zunehmende Sündenerfahrung, aber auch die bewußte Beschränkung auf bestimmte theologische Aspekte zu einer Auswahl einerseits und zur Vermischung mit anderen Traditionen andererseits geführt haben. Daß eine solche Auswahl auf die Dauer zu einer Verzeichnung und Verschiebung des paulinischen Zentrums führen kann, läßt sich nicht ausschließen. Ebenfalls muß zugegeben werden, daß nicht alle Nachfolger des P~lUlus die religiöse und theologische Kraft des Apostels besessen haben. Die "Fremdheit"102 des Paulus ist zugleich seine Unerreichbarkeit. Dies alles mitbedacht, bleibt doch anzuerkennen, daß Person und Werk des Paulus in nachapostolischer Zeit in erheblichem Umfang weitergewirkt haben, wenn auch das Bild, das man sich vom Apostel selbst und seiner theologischen Position machte, verschiedene Ausprägungen erfuhr103 . D.h., diese generelle Aussage bedarf einer wichtigen Präzisierung. Zu fragen ist, in welchem geographischen Raum die paulinische Tradition weitergewirkt hat. Die meisten der bisher behandelten Schriften dürften in Kleinasien ihre Heimat haben, mithin im Einflußgebiet der frühen paulinischen Gemeinden. Wie sieht es in Syrien und in Palästina aus, wie im Westen? Wenn einer der zuvor besprochenen Briefe nach Rom gehörte, wäre letzterer Punkt leicht zu beantworten. Aber eben der römische Ursprung ist unsicher und für den 1. Petrusbrief nicht zweifelsfrei zu beweisen. Daher muß also noch einmal zurückgefragt werden, ob in Gemeinden außerhalb Kleinasiens ebenfalls das Nachwirken paulinischer Traditionen festzustellen ist oder ob sie dort fehlen, vielleicht sogar durch antipaulinische Tendenzen ersetzt werden. Das würde das Urteil über den Einfluß der paulinischen Theologie in der nachapostolischen Zeit zwar nicht aufheben, aber doch erheblich modifizieren. Mit dem 1. Klemensbrief, der Didache und dem Jakobusbrief gibt es literarische Zeugnisse für die soeben genannten Räume, die alle noch in das Ende des 1. Jahrhunderts reichen, 102.
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Kuss, Paulus 282. W. WREDE, Die Echtheit des zweiten Thessalonicherbriefes untersucht = TU NP 9,2 (Leipzig 1903) 103; 70f.; Kuss, Paulus 105.
wobei die ersten beidenzugleich die Ausweitung der Untersuchung auf die nichtkanonische frühchristliche Literatur bedeuten. Leider gibt es für diese frühe Zeit keine vergleichbaren Schriftstücke aus Nordafrika, dem eigentlichen "lateinischen" Westen der Kirche104. Eines der frühesten Dokumente aus diesem Gebiet, die Akten der Martyrer von Scili in Numidien (um 180), bezeugt lediglich, daß um diese Zeit Paulusbriefe bereits in einer abgelegenen Gemeinde auf dem Lande bekannt waren105 . 4. Der erste Klemensbrief
Der 1. Klemensbrief ist ein um 96 von Rom nach Korinth gerichtetes Schreiben, welches vermitteln und die korinthische Gemeinde zum Frieden mahnen will. In Korinth hatten sich junge Leute gegen langbewährte Presbyter erhoben und sie aus ihren Stellungen verdrängt. Demgegenüber fordert der Brief die Wiedereinsetzung der Presbyter und legt den Aufrührern nahe, ein Schuldbekenntnis abzulegen, die Gemeinde zu verlassen und auszuwandern (44,3f.6; 47,6; 1,1; 3,3; 46,9; 51,1; 54,2; 57,1)1. Der Brief, der einen geschlossenen, gut lesbaren Eindruck erweckt, wirft dennoch eine Fülle von Fragen auf, die sowohl den Verfasser und seinen Auftrag, den Anlaß und die Begründung des Eingreifens, als auch den Briefinhalt betreffen. Wer schreibt? Ist Klemens der Leiter oder ein angesehenes Mitglied des römischen Presbyterkollegiums? Wer sind die Empfänger? Stehen
104 105
KÖSTER-RoBINSON, Entwicklungslinien 257f. Passio Sanctorum Scilitanorum 12 (KNOPF - KRUEGER - RUHBACH2 29):
Saturninus proconsul dixit: Quae sunt Tes in capsa vestra? Speratus dixit: Libri et epistulae Pauli viri iusti. Es handelt sich um einen Behälter mit Evangelienschriften und Paulusbriefen, die wegen Verdachts auf magische Zauberpapyri beschlagnahint worden waren. Vgl. G. BONNER, The Scillitan Saints and the Pauline Epistles: JEH 7 (1956) 141/6. . 1 Vgl. die Einführungen bei O. KNOCH, Eigenart und Bedeutung der Eschatologie im theologischen Aufriß des ersten Clemeosbriefes = Theophaneia 17 (Bonn 1964) 31/8; VIELHAUER, Urchristliche literatur 530f.; 535/40.
sich in Korinth zwei rivalisierende Presbytergruppen gegenüber, oder haben sich Laien gegen Kleriker, Pneumatiker gegen Amtsträger, Gnostiker gegen Orthodoxe, Unabhängige gegen Romhörige empört2 ? Die inhaltlichen Probleme sind theologischer und liturgischer Art; sie berühren spezielle (Petrus- und Paulusmartyrium in Rom) und grundsätzliche (Etablierung der Rechtskirche anstelle der Liebeskirche) Fragen. Kontroverstheologisch brisant ist vor allem die theologisch begründete Sukzession der kirchlichenÄmter. ., Seit A. VON HARNACK3 ist der 1. Klemensbrief durch alle konfessionellen und wissenschaftlichen Richtungen der Kirchengeschichtsschreibung hindurchgefiltert worden, so daß inzwischen fast alles behauptet und bestritten worden ist4 • Das große Interesse wird verständlich, wenn man davon ausgeht, daß Klemens nicht als Privatmann in persönlicher Verantwortung die Initiative ergriffen und passende Argumente zur Befriedung des korinthischen Streitfalles ausgewählt hat, sondern als Exponent der römischen Gemeinde deren Theologie und Frömmigkeit samt ihren überlieferungen und religionsgeschichtlichen Hintergründen wiedergibt. Der 1. Klemensbrief wird damit zu einem Dokument, das über die Anfänge der römischen Gemeindetheologie Auskunft gibt, über die sonst so wenig bekannt ists. Eine neue Lösung des vielverhandelten Problems schlägt vor B. WEISS, Amt und Eschatologie im 1. Clemensbrief: ThPh 50 (1975) 70/83. Nach ihm sind die Gegner des 1. Klemensbriefes die Nachfahren der bereits von Paulus in Korinth bekämpften Vertreter einer extrem präsentisch-enthusiastischen Eschatologie. Noch überrraschender ist die Interpretation von A. E. WILHELMHOOUBERGH, A Different View of Oemens Romanus: Heythrop Journal 16 (1975) 266/88, allerdings unter der Voraussetzung, daß der Brief bereits 69 verfaßt ist. 3 A. VON HARNACK, Das Schreiben der römischen Kirche an die korinthische aus der Zeit Domitians (1. Oemensbrief): Einführung in die Alte Kirchengeschichte (Leipzig 1929). 4 Zu den Kontroversen vor HARNACK vgl. V. ScHwEITZER, Glaube und Werke bei Klemens Romanus: ThQ 85 (1903) 419f.; zum Paulinismus-Problem speziell O. PFLEmERER, Der Paulinismus. Ein Beitrag zur Geschichte der urchristlichen Theologie2 (Leipzig 1890) 408/19. 5 LrE'I7MANN, Geschichte 1, 201. 2
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Die verschlungenen Wege der bisherigen KIemensforschung brauchen an dieser Stelle nicht nachgezeichnet zu werden6 ; hier interessiert nur das religionsgeschichtliche Problem und aus diesem wiederum der paulinische Einfluß auf den Brief an sich und in Relation zu anderen Einflüssen. Aber auch dieser Ausschnitt ist noch verwickelt genug und hat die sich widersprechendsten Antworten erfahren, seitdem VON HARNACK den Brief einen "Dreüarbendruck" genannt hat, in dem spätjüdisches Verständnis der alttestamentlichen Religion, hellenistisch-moralistischer Idealismus und die mit dem Erscheinen Christi gekommene neue Lebensordnung einander überlagem7 • Gibt es auf dieser Palette auch paulinische Töne? Literarische Kenntnis und Verwertung der Paulusbriefe Fest steht, daß Klemens Paulus und etliche seiner Briefe gekannt hat. Daß er in einem Schreiben nach Korinth auf den 1. Korintherbrief zurückgriff, in dem Paulus ebenfalls mit Parteienzwistigkeiten zu tun hatte, lag nahe (vgl. 1 Klem 47,3f. und 1 Kor 1,12f.). Doch auch die Kenntnis der Briefe an die Römer, Galater und Philipper ist sicher, die Benutzung des 2. Korintherbriefes und der deuteropaulinischen Epheser-, Kolosser- und Pastoralbriefe möglich8 • Die Beziehungen zum Hebräerbrief sind so auffällig, daß Klemens in der Alten Kirche als Verfasser oder übersetzer dieses Schriftstückes vermutet werden konnte9 • Schließlich ist noch auf mögliche übereinstimmungen mit dem
Einen faszinierenden Einblick in die Forschung seit HARNACK bietet K. BEYSCHLAG, Oemens Romanus und der Frühkatholizismus = BHTh 35 (Tübingen 1966) 1/47; eine kritische Reflexion über die Methoden.der bisherigen Klemensforschung stellt an G. BRUNNER, Die theologische Mitte des Ersten Klemensbriefes. Ein Beitrag zur Hermeneutik frühchristlicher Texte = Frankf. Theol. Stud. 11 (Frankfurt 1972) 4/26. 7 VON HARNACK, Das Schreiben der römischen Kirche 85f.; vgl. BEYSCHLAG 1. 8 Vgl: S. 82f., Anm. 18. 9 Eusebius, Hist. eccl. 6,25,14; vgl. ibid. 3,38,3.
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1. Petrusbrief hingewiesen worden10• Eine sichere Entscheidung darüber, ob es sich bei gleichlautenden Stellen um bewußte übernahmen oder zufällige Wortanklänge handelt, ist dennoch nicht möglich, da direkte Pauluszitate fehlen. Was wiederum nicht verwundert, denn die Paulusbriefe bildeten zur Zeit des Klemens weder ein festumschriebenes Corpusl l, noch besaßen sie einen besonderen kanonischen Rang, der nur eine streng wörtliche übernahme erlaubt hätte. Selbst die Evangelien waren im technisch-rechtlichen Sinn noch nicht "Heilige Schrift", so daß auch Anklänge an synoptische Wendungen im 1. Klemensbrief nicht notwendig die Kenntnis oder Verwertung eines geschriebenen Evangeliums voraussetzen, sondern auf lebendige mündliche überlieferung zurückgehen können12• Wendungen, mit denen Klemens die allgemeine Auferstehung beschreibt, spiegeln sowohl den 1. Korintherbrief und den Kolosserbrief als auch die Apostelgeschichte wider. "Bedenken wir, Geliebte, wie der Herr uns fortWährend anzeigt, daß die künftige Auferstehung stattfinden wird, zu deren Anfang er den Herrn Jesus Christus machte, den er von den Toten auferweckte" (vgl. 1 Klem 24,1 und 1 Kor 15,20.23; Kol 1,18; Apg 2,24)13. Im folgenden führt Klemens dann etliche Gründe an, die den Glauben an die Auferstehung zu stützen vermögen. "Nehmen wir die Früchte; wie und auf welche Weise geschieht die Aussaat? Es ging der Sämann aus und warf jedes Samenkorn auf die Erde; diese fallen trocken und nackt auf die Erde und lösen sich auf; aus der Auflösung läßt sie dann die großartige Fürsorge des Herrn auferstehen, und aus dem einen erwachsen viele und bringen Frucht" (24,4f.). Das Samen-Bild ist ·in Anlehnung an
E. LoHSE, Paränese u. Kerygma im 1. Petrusbrief: Die Einheit des Neuen Testaments (Göttingen 1973) 32214; vgl. S. 69, Anm. 76. 11 über tv llQXn 'tOÜ eilayyeMov in 1 Klem 47,2 als möglichen Hinweis· auf eine Sammlung von Paulusbriefen vgl. KNoaI 83f.; R. KNOPF, Die Lehre der zwöH Apostel. Die zwei Oemensbriefe = HNT Erg. Bd. (Tübingen 1920) 122f. 12 VON CAMPENHAUSEN, Bibel 173f.; KNoCH 83. 13 Weitere Anklänge notieren FIsCHER, Apostolische Väter 57 (dem auch die übersetzungen entnommen sind) und KNOPF 87.
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1 Kor 15,35/8 gestaltet: "Aber, wird einer sagen, wie stehen denn die Toten auf? In welchem Leib werden sie erscheinen? Du Unverständiger, der Same, den du säst, wird nicht lebendig, wenn er nicht gestorben ist. Und was du säst - du säst nicht den zukünftigen Leib, sondern das nackte Samenkorn, vielleicht Weizen oder eine von den anderen Fruchtarten. Gott aber gibt ihm einen Leib, wie er will, einem jeden Samenkorn den eigenen Leib.·" Unbestreitbar sind in die Darstellung des Klemens aber auch Anklänge an das synoptische Sämannsgleichnis eingeflossen (Mk 4,3.8)14; ebenso die Erinnerung an Jo 12,24 "Wenn das Weizenkorn-Ilicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein. Wenn es aber stirbt, bringt es viel Frucht" drängt sich auf. Viele übereinstimmungen, aber kein deutliches Zitat! Zu einem ähnlichen Ergebnis führt der Vergleich von 1 Klem 35,5f. mit dem Lasterkatalog von Röm 1,28/32. Klemens zählt auf, unter welchen Bedingungen den Gläubigen die" verheißenen Gaben" zuteil werden: "Wenn unser Sinn gläubig fest auf Gott gerichtet ist, wenn wir suchen, was ihm wohlgefällig und angenehm ist, wenn wir vollführen, was seinem untadeligen Willen entspricht, dem Weg der Wahrheit folgen und von uns werfen alle Ungerechtigkeit und Schlechtigkeit, Habsucht, Streitsucht, Bosheit und Hinterlist, Ohrenbläserei und Verleumdungen, Gottesfeindschaft, überheblichkeit· und Prahlerei, Ruhmsucht und Ungastlichkeit. Denn die diese Dinge tun, sind. Gott verhaßt; nicht nur, die ~s tun, sondern auch die, die damit einverstanden sind." Wiederum sind die Anklänge an Paulus nicht zu überhören. Die sprachliche Verwandtschaft der letzten Bemerkung über die Täter und ihre Sympathisanten1S ist so groß, daß man vennuten könnte, Klemens habe hier nach dem Gedächtnis zitiert; der übrige Text zeigt aber Abweichungen, die mit schlechtem Gedächtnis allein nicht erklärt werden können. Man muß damit L.. SANDERS, L'HeUenisme de saint element de Rome et le Paulinisme == Studia HeUenistica 2 (Louvain 1943) 70f. lS Vgl. 1 Klem 35, 6b: oü !J.6vov öe o[ :ltQaooOV't~ au'tclJ, aUcl "at ol O'UVEUÖO)(()ÜvtE!; au'toi;s und Röm 1,32: ou !JOvov au't& :ltOLOÜOLV, aUcl.xat auvEUÖOXOÜOLV 'toi;s :ltQoo(J()Umv.
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rechnen,· daß neben dem paulinischen Lasterkatalog neutestamentliche Aufzählungen ähnlicher Art sowie Wendungen aus jüdischen und popularphilosophischen Diatriben zusammengeflossen sind.·Solche Lasterkataloge waren - unabhängig von ihrer literarischen Herkunft - allgemeiner Bestandteil der urchristlichen Katechese 16 • SANDERS hat versucht, Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Paulus und Klemens an dieser Stelle auf die Formel zu bringen, letzterer habe mit Exaktheit und Sympathie den Katalog des Apostels übernommen, sich aber zugleich bemüht, dessen griechisch-stoischen Charakter herauszustellen17 • Man könnte genauso gut umgekehrt schließen und sagen, Klemens folge in seiner Aufzählung der eigenständigen gemeinderömischen Katechese, in die möglicherweise Reminiszenzen aus dem Römerbrief eingeflossen sind. D.h. aber, welches Gewicht den übereinstimmungen des Klemenstextes mit paulinischen Gedanken oder Wortanklängen an paulinische Briefe beigemessen wird, ist philologisch isoliert nicht zu entscheiden. Wenn man der Versuchung widersteht, literarische Analogie mit Genealogie zu verwechseln und aus Ähnlichkeiten Abhängigkeiten zu machen, müssen dann aber Texte, in denen paulinische, synoptische und johanneische ebenso wie jüdische und hellenistisch-stoische Parallelen aufgespürt werden können, nicht dazu führen, auf die Behauptung jeder direkten Abhängigkeit ganz zu verzichten und dafür eine übereinstimmung anzunehmen mit einer (allen schriftlichen Fixierungen vorausliegenden) jüdisch-christlich-römischen Tradition, die Gleichklang und. Unterschiede im Verhältnis zu den literarischen Traditionen erklärt? Die Frage kann an dieser Stelle nicht entschieden werden; sie erklärt aber, warum es trotz zahlreicher und minuziös durchgeführter philologischer Untersuchungen18 zu keinem einhelligen Urteil über den Schriftgebrauch A. VÖOUE, Die Tugend- und Lasterkataloge im Neuen Testament, exegetisch, religions- und formgeschichtlich untersucht = NTA 16,4/5 (Münster 1936) 117f. 17 SANDERS 78. 18 An neueren Untetsuchungen sind zu n~nnen: BARNElT, Literary Influence 88/
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im 1. Klemensbrief gekommen ist und auch nicht kommen wird. Der Verweis auf eine Paulus und Klemens gemeinsam vorausliegende Tradition ist nicht zu widerlegen und vermag die Beweiskraft jeder literarischen Verwandtschaft zu entkräften. Inhaltlicher Paulinismus Wichtiger als das Problem der literarischen Abhängigkeit ist daher die Frage, ob inhaltliche übereinstimmungen zwischen Paulus und Klemens bestehen, mehr noch, ob Klemens zentrale Anliegen des Paulus richtig wiedergibt, selbst wenn dieser weder zitiert wird noch Anklänge an seine Terminologie nachzuweisen sind. Die Treue zur paulinischen Theologie muß sich ja nicht in verbaler übereinstimmung kundtun, sie kann ebenso gut in der Bewahrung der theologischen Absichten des Apostels bestehen. Ein so verstandener Paulinismus des Klemens wird von einigen Forschern positiv beurteilt. MEINHOLD hält Klemens für einen stoisierenden Pauliner19, und auch VON HARNACK, der die jüdischalttestamentlichen Bindungen des Briefes hervorgehoben und zusammen mit hellenistischen Einflüssen für die frühkatholischen Abweichungen von Paulus verantwortlich gemacht hat, sieht Klemens mit seiner vulgären Rechtfertigungslehre "in der paulinischen Tradition stehend ,,20 • Ausführlich und mit einer Fülle von Material ist - nachdem schon die Kommentare von KNOPF urid DIBELIUS in diese Richtung gewiesen hatten - vor allem SANDERS dem Paulinismus im 1. Klemensbrief nachgegangen. 104; MAsSAUX, Influence 45/65; KNOCH 82/6 und die Literaturangaben 69, Anm. 1; BEYSCHLAG 29f.; 131/4; 200/2; HAGNER, Use of the Testaments 1951237; 314; ALElTH, Paulusverständnis 116; Tbe New Testament in the Apostolic Fathers. Ed. by Committee of the Oxford Society of Historical Tbeology (Oxford 1905) 37/55. 19 P. MEINHOlD, Geschehen und Deutung im Ersten Clemensbrief: ZKG (1939) 90/2; 117f.; 128; vgl. A. W. ZlEGLER, Neue Studien zum ersten Clemensbrief (München 1958) 55/7; 69. 20 A. VON HARNACK, Die Lehre von der Seligkeit allein durch den Glauben in der alten Kirche: ZThK 1 (1891) 100; vgl. BEYSCHLAG 16f., Anm. 5.
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Zunächst versucht SANDERS den Beweis zu erbringen, Klemens sei bis in fonnale, stilistische Einzelheiten hinein von heidnischen Vorbildern abhängig, deren Anschauungen, Beispiele und Ausdrucksweise er direkt und nicht etwa auf dem Umweg über die spätjüdische Umfonnung hellenistischer Inhalte übernomme'n habe21 • Die Nichtbeachtung des Hellenismus habe dazu geführt, den 1. Klemensbrief aus dem Judenchristentum der griechischen Bibel abzuleiten. In Wirklichkeit beschränkten sich die Rückgriffe auf die Septuaginta jedoch auf solche Gedanken und Zitate, wie sie jedem kultivierten Christen jener Zeit geläufig gewesen seien. Der persönliche Anteil des Klemens zeichne sich dagegen durch eine profunde Kenntnis des Hellenismus aus. Materie und Stil der klementinischen Gedanken entstammten der stoischen Rhetorik, durchsetzt mit platonischen und pythagoreischen Elementen, soweit sie im literarischen Milieu Roms am Ende des 1. Jahrhunderts Verwendung gefunden hätten. Und doch sei Klemens Christ und Paulinist. Sowohl in fonnaler und literarischer als auch in inhaltlicher und doktrinärer Hinsicht interferierten im 1. Klemensbrief Hellenismus und Paulinismus. Das ausgeprägt stoizistische Idiom sei lediglich das Mittel, um ein im Grunde paulinisches Christentum in neuer Sprache verständlich zu machen. Der 1. Klemensbrief verrate, wie das Christentum am Ende des 1. Jahrhunderts begonnen habe, die gebildeten Kreise Roms zu durchdringen. Nach Paulus und mit Paulus sei Klemens der älteste Zeuge für eine progressive Assimilation der griechischen Kultur durch das Christentum; er habe das Tor geöffnet, durch das die Apologeten den Weg weiterer Durchdringung hätten beschreiten können 22 • Um ein Beispiel zu nennen: Wie Paulus bemühe sich Klemens, den Glauben an die Auferstehung der Toten mit rationalen Beweisen zu untennauern (vgl. 1 Klem 24f.); in deren Auswahl jedoch gehe er ohne Bedenken über Paulus hinaus, wenn er neben dem paulinisch gefärbten Samenvergleich und dem Hinweis auf den Wechsel von Tag und Nacht ohne spürbare kritische Reserve den hellenistischen My21 22
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SANDERS SANDERS
160; 38; vgl. 162f.
BEYSCHLAG
15f.
thos vom Vogel Phoenix anführe23 • Als· Fazit ergibt sich für SANDERS: Klemens bietet übersetzte paulinische Theologie, Übersetzt nicht nur den Worten, sondern den inneren Antrieben nach, zugleich erweitert um die Erfordernisse der gewandelten Situation. Der weithin vorherrschenden Meinung, daß die Apostolischen Väter - allen voran Klemens - Paulus nur noch unvollkommen verstanden hätten, wird damit kategorisch widersprochen. Doch ist SANDERS' Interpretation zu halten? Nachdem inzwischen der spätjüdische Hintergrund einiger noch von SANDERS als typisch stoisch-hellenistisch geprägter Kapitel im 1. Klemensbrief erneut nachgewiesen worden ist24 , liegt es nahe, mit Rücksicht auf die Thematik des an die Gemeinde des Klemens gerichteten Römerbriefes näher zu prüfen, welche Ausformung die um Gesetz und Gerechtigkeit, Glaube und Werke kreisenden Gedanken des Apostels im Brief des Klemens erfahren haben. Schaut man auf 1 Klem 32,4, scheint jeder Zweifel behoben. Dort heißt es: "Die wir durch seinen [Gottes] Willen in Christus Jesus berufen wurden, werden also nicht durch uns selbst gerechtfertigt, noch durch unsere Weisheit, Einsicht, Frömmigkeit oder durch Werke, die wir in der Heiligkeit des Herzens vollbrachten, sondern durch den Glauben, durch den der allmächtige Gott alle von Anbeginn an gerechtfertigt hat; ihm sei die Ehre von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen." Das ist unzweideutig paulinischer Solafideismus ohne Abstriche, selbst ·wenn keine paulinisehen Formulierungen im Wortlaut angeführt werden könnten2s • Um so überraschender klingt die unmittelbare Fortsetzung in 1 Klem 33,1: "Was sollen wir demnach tun, Brüder? Sollen wir nachlassen mit den guten Werken und die Liebe aufgeben? Möge der Herr dies doch bei uns ja nicht geschehen lassen; vielmehr wollen wir uns beeilen, mit beharrlicher Bereitwilligkeit jedes gute Werk zu vollbrinEbd. 72f. Vgl. w. C. VAN UNNIK, Is 1 Clement 20 Purely Stoic?: VigChr 4 (1950) 181/9 (Weltordnung); A. JAUBERT, Les sources de la conception militaire de l'eglise en 1 Clement 37: VigChr 18 (1964) 74/84; DERS., Thcmes levitiques dans la prima Clementis: ebd. 193/203. zs An Anklängen yermerkt FISCHER, Apostolische Väter 63/5: 1 Kor 1,19; Röm 3,28.30; Gal2,16; 3,8; Röm 16,27; 11,36.
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gen." Und mit dem Hinweis, auch Gott schmücke sich mit den guten Werken seiner Schöpfung, wird die Forderung in 1 Klem 33,8 noch einmal unterstrichen: "Da wir aber dieses Beispiel haben, wollen wir ungesäumt seinem Willen nachkommen; aus unserer ganzen Kraft wollen wir das Werk der Gerechtigkeit wirken. " Die religions- und traditionsgeschichtliche Untersuchung der hier zitierten Texte ergibt mannigfache Anklänge an jüdischchristliches und stoisch-hellenistisches Gedankengut nebst zahlreichen Anklängen an die Heilige Schrift26 • Unmittelbare Quelle für den Schöpfungslobpreis in 1 Klem 33,2/6 könnte die Gemeindeliturgie gewesen sein27 • Wichtiger ist jedoch die Frage, wie der Paulinismus dieser Zentralstellen zu beurteilen ist. Bildet 1 Klem 32,4 mit der Rechtfertigung durch Glauben ohne Werke die Spitze der Aussage, der sich dann im Sinne der paulinischen Forderung nach den Früchten des Geistes die Mahnung nach guten Werken anschließt? Oder ist die Wendung "mcht durch Werke, sondern durch Glauben" pflichtschuldige Erinnerung an ein paulinisches Anliegen, das dann durch die Betonung der Werke in Kap. 33 sofort neutralisiert wird? (Wobei zu beachten ist, daß nicht nur hier, sondern bereits in 1 Klem 30,3 und 31,2, also schon vor der paulinischen Formulierung der Rechtfertigungslehre in 1 Klem 32,4, und an weiteren Stellen auf die Notwendigkeit der Werke hingewiesen wird.) Oder stehen beide Aussagen, Glauben und Werke, Solafideismus und Synergismus, disharmonisch, aber gleichberechtigt nebeneinanders? SANDERS 143/51; FIsCHER, Apostolische Väter 6517; O. ANoRbl, Rättfärdighet och Frid. En studie i det första Clemensbrevet (Stockholm 1960) bes. 65177. 27 KNOPF 102f.; FISCHER, Apostolische Väter 67; KNOCH 56. 28 Dieser Auffassung scheint FISCHER, Apostolische Väter 14; 65, zuzuneigen. ANoRbl71 schließt sich KNOPF an, wenn er 1 Klem 30,3 und 31,2 in 32,4 zur paulinischen Konzeption einer Rechtfertigung aus Glauben umgebogen sieht. C. ANoRESEN betont die Homogenität der Gerechtigkeitskonzeption von 1 Klem 30/32 auf andere Weise, indem er ö(a 'tijs n«nero~ (32,4) durch den Genitivus subjectivus iteoii im Sinne einer göttlichen Verhaltensweise ergänzt sehen will (vgl. ZKG 75 [1964] 367); für die dogmatisch interessierte Diskussion des klementinischen Rechtfertigungsverständnisses vgl. ScHwErrzER 547/75 (S. 78, Anm. 4.) 26
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Die betont feierliche Formulierung mit dem bekräftigenden "Amen" in 1 Klem 32,4 schließt die Interpretation aus, Klemens habe sich mit einer Werkgerechtigkeit im. pharisäisch-mosaischen oder auch popularphilosophischen Sinn begnügt29 ; sie beinhaltet mehr als nur eine rhetorische Verbeugung vor Paulus ohne sachliche Konsequenzen30. Andererseits ist nicht zu übersehen, daß die Mahnung zu einem Leben nach den Geboten den ganzen Brief durchzieht. KNOPF sieht in der Zusammenfügung von Glauben (Gnade) und guten Werken "die neue Formel, die die frühe Kirche prägt und mit der sie sich auf den Weg der Entwicklung zur altkatholischen [die Vokabel ,Frühkatholizismus' war noch nicht erfunden] Kirche hinbegibt"31. Dabei steht der Glaube in bezug auf die Rechtfertigung nicht in Gegensatz zu den Werken; die Werke sind Auswirkungen des Glaubens; sie erfüllen die neue Gerechtigkeit des christlichen Liebesgebotes aufgrund der Erlösungsgnade Christi. KNOPF weist in diesem Zusainmenhang auf die Sünden hin, die vor der Bekehrung begangen wurden und von der Taufe getilgt werden im Gegensatz zu der Zeit danach, in der der Christ neben dem Glauben an die göttliche Gnade gute Taten aufweisen muß. Auf dieses Leben nach der Taufe scheint sich aber das Hauptaugenmerk des 1. Klemensbriefes zu richten, während der Römerbrief des Paulus über die Rettung aus den Verirrungen des Heidentums und der mosaischen Gesetzhaftigkeit des Judentums spricht. Der 1. Klemensbrief bedeutet dem151/4; A. SrumER, Clemens Romanus I: RAC 3,193.. Anders ALErm, Paulusverständnis 4: "Das klingt wie eine Verbeugung gegen Paulus, und es ist auch nicht mehr". Die Untersuchung ALErms krankt daran, daß die Väter in das Prokrustesbett eines reformatorischen Rechtfertigungsverständnisses gezwungen werden und an ihm, ohne Berücksichtigung des religionsgeschichtlichen Hintergrundes, ihr Paulinismus gemessen wird; zur Kritik an ALErm vgl. K. H. ScHEl..KLE, Paulus, Lehrer der Väter. Die altkirchliche Auslegung von Römer 1-11 (Düsseldorf 1956) 440; BEYSCHLAG 17; R. BULTMANN, Ignatiusund Paulus: Studia Paulina. Festschrift J. de Zwaan (Haarlem 1953) 37. M. WERNER, Die Entstehung des christlichen Dogmas problemgeschichtlich dargestellt (Bem-Leipzig 1941) 140; 8cHNEEMELcHER, Paulus in der griechischen Kirche 4, Anm. 6; VERWEUS, Evangelium und neues Gesetz 2f. 31 KNOPF 98.
29 SANDERS 30
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entsprechend keinen Bruch mit der Rechtfertigungslehre des Apostels, wohl aber eine Akzentverschiebung wegen der·gewandelten Situation: Paulus spricht zu Neubekehrten, noch dazu unter dem Eindruck der Naherwartung, Klemens zu Gläubigen, die sich als solche in der Gemeinde zu bewähren haben, in der sie· zum Teil schon als Christen aufgewachsen sind. Der 1. Klemensbrief ist in dieser Entwicklung, die den Glauben auch zu einer Tugend und der Ergänzung durch die Tat bedürftig macht, kein Einzelgänger. Unabhängig von der Frage gegenseitiger Beeinfluss~ng und literarischer Abhängigkeit und unbeschadet ihrer unterschiedlichen Nähe zu Paulus läßt sich in vielen spätneutestamentlichen (Hebr, 1 Petr, Jak, Mt) und frühchristlichen (Bamabas, Didache) Schriften ein "Typus frühchristlicher Theologie" feststellen, der ein ähnliches Anliegen verfolgf 2 • Im Schrifttum des beginnenden 2. Jahrhunderts läßt sich gerade in Rom gut beobachten, wie sich die Bekehrungspredigt zur' Bußpredigt wandelt, ohne daß immer genau angegeben werden könnte, wer im Moment die Angesprochenen sind: Heiden, die sich bekehren, oder Bekehrte, die sich bewähren sollen; denn Motive, die bisher der Heidenbekehrung dienten, werden benutzt, um Christen zu bleibender Umkehr, d. h. zur Buße zu ermahnen. Neben der sich ausweitenden Mission stellen jetzt ebenso die schon bestehenden Gemeinden die Predigt vor neue Aufgaben. Ihre Adressaten sind nicht mehr nur Neubekehrte, sondern des christlichen Ethos müde werdende Gemeindemitglieder33 • Diese Verschiebung, die sich im 1. Klemensbrief ankündigt und in den Schriften des Hermas, vielleicht auch im sogenannten 2. Klemensbrief fortgesetzt wird34 , versuchte, den Be-
32
u. LuCK, Der Jakobusbrief und die Theologie des Paulus: ThGI61(1971) 176.
E. LoHSE, Glaube und Werke - zur Theologie des lakobusbriefes: Die Einheit des Neuen Testaments (Göttingen 1973) 301, weist auf die Äbnlichkeit alttestamentlich inspirierter Weisheitstheologie in Jak 3,13 und 1 Klem 38,2 hin. 33 DASSMANN, Sündenvergebung 9lf.; 13lf.; 147f.; vgl. H. WINDISCH, Taufe und Sünde im ältesten Christentum bis auf Origenes. Ein Beitrag zur altchristlichen Dogmengeschichte (1übingen 1908) 325f.; 383; 471. 34 Auf beide Schriften wird ausführlicher eingegangen S. 226/36.
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dürfnissen einer im Sog der Weltstadt Rom sich schnell ausbreitenden Gemeinde Rechnung zu tragen. Zugleich wurde durch sie der Boden bereitet, auf dem dann im 3. Jahrhundert die für die Kirche lebenswichtige Frage nach der postbaptismalen Sündenvergebung und dem Verbleiben von Sündern in der Kirche gegen alle Widerstände von innen (Novatian) und außen (KarthagoMontanismus) gelöst werden konnte. Daß der 1. Klemensbrief - wie SANDERS meinte - paulinische Rechtfertigungslehre im stoischen Gewande, bietet, wird, man nicht sagen können3s ; ebensowenig vertritt er eine antipaulinische Werkgerechtigkeit. In ihm ist vielmehr eine theologische Entwicklung zu bemerken, die der sich wandelnden Situation in der Gemeinde entspricht. Sie kann sich auf Ansätze bei Paulus berufen, ist in ihren Formulierungen mit Paulus allein aber nicht mehr abzudecken. Unübersehbar macht sich der wachsende Einfluß der alttestamentlichen und stoischen Moralität bemerkbar36 • Für beide aber hat wiederum Paulus den Weg geöffnet, einmal durch die grundsätzliche theologische überwindung der Heilsnotwendigkeit des mosaischen Gesetzes, wodurch eine Rückkehr zu den religiösen Lebenswerten der alttestamentlichen ,Schrift möglich wurde - ein Vorgang, der sich im geistig benachbarten Hebräerbrief noch deutlicher beobachten läßt37 - , zum anderen durch die Benutzung von Elementen stoischer Ethik ebenfalls durch den Apostel selbst. Daß - wenngleich erheblich später (4. Jahrhundert) ~ die Legende von einem Briefwechsel zwischen Paulus und Seneca aufkommen konnte, zeigt, wie stark die Verwandtschaft zwischen paulinischer und stoischer Ethik empfunden wurde38 • Dieselbe Betonung der sittlichen Verpflichtung, die der Christ mit der Rechtfertigung durch Glauben übernommen hat, findet sich in den Pastoralbriefen (1 Tim 2,10;
35
SANDERS 161; vgl. dazu W. C. VAN UNNIK: VigCbr 4 (1950) 255.
36
SrumER 193.
Bibel 8214; vgl. S. 62. R. SYME, Fälschung und Betrug: Pseudepigraphie in der heidnischen und jüdisch-christlichen Antike = Wege der Forschung 484 (Darmstadt 1977) 301.
37 VON CAMPENHAUSEN,
38
ALTANER-SrumER, Patrologie 140;
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5,10; 5,26; 6,18; 2 Tim 2,21; 3,17; Tit 1,16; 2,7; 3,1.8.11), die sicb bewußt paulinisch geben, indem sie den Namen des Apostels als fiktiven Verfasser an den Briefeingang stellen. Die im Bereich der Thematik Glaube - Werke gemachten Beobachtungen lassen sich bei anderen theologischen Aussagen (z. B. Lobpreis der Liebe, Einheit des Leibes) wiederholen: Anklänge an Paulus, z. T. bewußtes Zurückgreifen auf paulinisches Material, keine Spur antipaulinischen Ressentiments, gleichwohl nicht aus paulinischer Tradition geboren39 - allerdings auch nicht aus der Theologie eines anderen neutestamentlichen Schriftstellers. Für Johannes hat VON LoEWENICH den Nachweis geführt40 • Bei Klemens fehlt ganz und gar das mystisch-kontemplative Element, das die Eigenart der johanneischen Gnosis ausmacht; der 1. Klemensbrief ist auf einen viel rationaleren Ton gestimmt. Für Matthäus hat MASSAUX zwar einen erheblichen - auch literarischen - Einfluß behauptet, der über den des Paulus noch hinausgehen so1141 , die Beweise sind jedoch nicht überzeugend. Das zeigt schon die an sich deutlichste Stelle in 1 Klem 13,2: "Denn so hat er [Jesus] gesagt: Erbarmt euch, damit ihr Barmherzigkeit findet, verzeiht, damit euch verziehen wird! Wie ihr tut, so wird an euch getan werden; wie ihr gebt, so wird euch gegeben werden; wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden; wie ihr euch gütig erweist, so wird euch Güte erwiesen werden; mit demselben Maß, mit dem ihr meßt, wird euch gemessen werden". Die übereinstimmungen mit der Bergpredigt sind unüberhörbar; doch sie
1 Klem 49f. verwertet in seinem Lobpreis der liebe pythagoreische und stoische Elemente (vgl. SANDERS 961108), greift aber ebenso auf 1 Kor 13 zurück (vgl. HAGNER, Use of the Testaments 200; KNOCH 285/90). 1 Klem 37,5 bezieht sein Bild von der Einheit des Leibes von stoischen Vorbildern (vgl. fiSCHER, Apostolische Väter 73; SANDERS 85/91), ohne den Zusammenhang mit 1 Kor 12,12/26 und Röm 12,4f. aufzugeben (vgl. SrumER 196; HAGNER, Use of the Testaments 198). Der paulinische Vergleich XE<paÄi](JOOJUl fehlt wiederum (vgl. KNOCH 66; SrumER 196f.). 40 VON LoEWENICH, Johannes-Verständnis 5f. Positiver urteilt M. E. BoISMARD, Oement de Rome et I'Evangile de Jean: RevBibl 55 (1948) 386f.; vgl. HAGNER, Use of the Testaments 263/71. 41 MAsSAUX, Influence 7127; 65. 39
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wird nicht zitiert; die Anklänge sind von Klemens vielmehr in freier Fonn aneinandergefügt worden, wenn er nicht bereits entsprechende Zusammenstellungen einer katechetisch-homiletischen Vorlage benutzt hat42 • Grundsätzlich könnte man MASSAUX fragen, warum Klemens - wenn er schon auf ein bestimmtes Evangelium zurückgegriffen haben soll - dann nicht das "rö~i sche" Markusevangelium anstelle des Matthäus bevorzugt hat43 , wenngleich die Frage nach dem Einfluß des Matthäusevangeliums an sich nicht unöegründet erscheint. Sollten sich nämlich irgendwo bewußt antipaulinische Bedenken gegen ein gesetzesfreies Christentum artikuliert haben, dann lag eine Berufung auf das als gesetzlich geltende Matthäusevangelium nahe.
Römische Gemeindetheologie Alle Einzelbeobachtungen nähern sich demselben Schluß: Der
1.. Klemensbrief steht nicht in der erkennbaren Tradition einer bestimmten neutestamentlichen Theologie; er ist auch nicht einseitig hellenistisch, spät jüdisch-alttestamentlich oder judenchristlich orientiert, sondern enthält viele Einflüsse, die im Detail nachzuweisen nicht schwerfällt. Was die verschiedenen Elemente verbindet, scheint die Theologie der römischen Gemeinde zu sein, als deren Exponent der 1. Klemensbrief betrachtet werden darf. Lassen sich aus dem Duktus des Schreibens die besonderen Akzente dieser Theologie und ihre Unterschiede zur Theologie des Paulus erkennen - wobei selbstverständlich nicht vergessen werden darf, daß es sich beim 1. Klemensbrief um ein Gelegenheitsschreiben handelt, bei dem keine theologische Vollständigkeit vorausgesetzt werden darf?
41
FisCHER, Apostolische Väter 41.
43
Für die tatsächliche Nichtbenutzung des Markusevangeliums vgl. E. BARNIKOL, Die Nichtkenntnis des Markusevangeliums in der römischen Clemensgemeinde um 100: ThJ 4/5 (1936/37) 142f.; vgl. BEYSCHLAG 31.
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Allgemein fällt auf, daß Klemens im Vergleich zu Paulus (oder auch dem Hebräerbrief) das theologische Hauptgewicht wieder stärker auf den ersten Glaubensartikel legt. "Gott, der Schöpfer, und sein Gesetz, das hellenistisch-moralistisch interpretierte Alte Testament, der (gemäßigt eschatologische) Gerichtsgedanke und eine dem Paulus fremde Weltoffenheit, ja Weltlichkeit, sind die eigentlichen· Fundamente des frührömischen Kirchentums"44. Auch wenn man alle extremen Urteile vermeidet - weder hat Paulus die Theozentrik durch eine Christozentrik ersetzt45 , noch bezeugt Klemens lediglich ein "entschränktes Diasporajudentum"46 bzw. ein "Christentum ohne Christus"47 -, im 1. Klemensbrief tritt die paulinisehe Hervorhebung der soteriologischen Bedeutung Christi gegenüber der Gotteslehre tatsächlich zurück. Christi Blut hat nicht die Welt erlöst, sondern ihr "die Gnade der Buße" gebracht (7,4), desgleichen die Zuversicht, daß allen, "die an Gott glauben und auf ihn hoffen, Erlösung zuteil werden wird" (12,7). Christi Auferstehung ist nicht schon das Wirksamwerden des neuen Äons, vielmehr hoffnungsvoller Hinweis darauf, "daß die .künftige Auferstehung stattfinden wird" (24,1). Christus bringt nicht das Reich Gottes, er verkündet es nur und bereitet "gnadenhaft ausrüstend und Anwartschaft verleihend sowie ethisch und beispielhaft wegweisend darauf vor"48. Leben und Lehre, Tod und Auferstehung J esu versichern, daß Gott seinem mit der Schöpfung beginnenden Heilsplan treu bleiBEYSCHLAG 340; vgl. O. MICHEL, Der Brief an die Hebräer12 = MEYER K 13 (Göttingen 1966) 50f. 45 W. 'I'HOSING, Per Christum in Deum = NTA, NP 1 (Münster 1965) 62/114. 46 W. BoUSSET, Kyrios Christos. Geschichte des Christusglaubens von den Anfängen des Christentums bis Irenäus6 (Göttingen 1967) 289. 47 D. VÖLTER, Die älteste Predigt aus Rom (Der sogenannte zweite Clemensbrief): Die Apostolischen Väter neu untersucht 2,1 (Leiden 1908) V. 48 KNOCH 451; vgl. H. B. BUMPUS, The Christological Awareness of Clement of Rome and its Sources (Cambridge 1972) 183, der durch eine Analyse der christologischen Titel und Funktionen im 1. Klemensbrief zu demselben Resultat kommt wie KNOCH aufgrund seiner Untersuchung der klementinisehen Eschatologie. E. W. FIsHER, Soteriology. in First Clement (Qaremont 1974) betont dagegen stärker den genuin "christlichen" Charakter der klementinischen Soteriologie. 44
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ben wird. Dies alles sind Akzentuierungen, die aber Paulus nicht unbedingt widersprechen müssen, wenn nicht ein verkürzter Paulinismus zugrunde gelegt wird49 • Spürbar bleibt im ersten KIemensbrief eine Nähe gerade zum Römerbrief50 , so daß BEYSClß.AG die Frage stellt: "Ist dieser geschichtsmächtigste und zugleich ,am spürbarsten alttestamentlich gefärbte' (W. BAUER) Paulusbrief ... mit seiner Hochschätzung des Gesetzes (Röm 2,15; 7,12; anders GaI3,19ff.) im Verhältnis zur Sünde, mit seinen Hinweisen auf die Weltmission (vgl. Ps 18,5 in Röm 10,18; 15,9 ...) und die Loyalität weltlicher Obrigkeit (Röm 13,lff.; vgl. aber Phil3,20), schließlich auch mit seiner Empfehlung des ,vernünftigen Gottesdienstes' (Röm 12,lff.; vgl. dagegen 1 Kor 14) .. ; wirklich der genuine Paulinismus, ohne jede Konzession? Oder könnte nicht in dem ,Sondergut' des Römerbriefes auch eine leise Akkommodation in bezug auf die theologischen Voraussetzungen einer Gemeinde sichtbar werden, die eine andersartige, unpaulinische Tradition bewahrte, deren Abbild uns dreißig Jahre später der römische Clemensbrief präsentiert?"sl. Die Frage überrascht insofern, als hier ausgerechnet derjenige Paulusbrief, der normalerweise als Kronzeuge für die Mitte der paulinisehen Theologie gilt, mit einem leisen Zweifel bedacht wird, und zwar in der Absicht, dem 1. KIemensbrief jeglichen Paulinismus abzusprechen. Wenn sich ein unpaulinischer klementinischer "Frühkatholizismus" aber nur ergibt, wenn der Römerbrief keinen genuinen Paulinismus vertritt, sollte man besser auf solche willkürlichen Fixierungen verzichten und Paulus, der allen alles werden wollte (1 Kor 9,22), eine gewisse Variationsbreite in der theologischen Argumentation zugestehen.
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o. KNOCH, Clemens Romanus und der Frühkatho1izismus: JbAC 10 (1967)
207f., weist darauf hin, daß viele der als "frühkatholisch" abgewerteten Elemente bereits in den paulinischen Hauptbriefen vorkommen. 50 H.-W. BARTSCH, Röm. 9,5 und 1. Clem. 32,4. Eine notwendige Konjektur im Römerbrief: ThZ 21 (1965) 401/9 schlägt sogar aufgrund der Doxologie bei Klemens eine Konjektur vor, die auch die Doxologie im Römerbrief auf Gott, den Vater, statt auf Christus beziehen würde. 51 BEYSCm...AG 349.
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Für die römische Gemeinde ergibt sich aus diesen überlegungen ein Ergebnis von größter Wichtigkeit. So wenig über ihre Anfänge und die Quellen ihrer Theologie bekannt ist, so viel ist sicher: Sie besaß eine eigenständige Form der christlichen Verkündigung, eine profilierte, wenn auch mit zahlreichen Fäden an andere Traditionen geknüpfte Theologie, die nicht einfach mit der des Paulus oder des Petrus oder einer anderen neutestamentlichen Tradition gleichzusetzen ist. Die römische Gemeinde hat Paulus gekannt, den Apostel, der in ihrer Mitte sein Zeugnis vollendet hatte; sie hat seine Verkündigung aufgenommen und weitergegeben und ist dennoch nicht zu einer paulinischen Gemeinde im engeren Sinn geworden. In ihr bildete sich eine die Tradition wahrende und doch zugleich weiterformende nach apostolisch-frühkatholische Theologie, die um so bedeutsamer ist, als die Gemeinde des hauptstädtischen Rom in der Folgezeit zunehmend Geltung beanspruchte, Gefolgschaft fand und ihre eigenen theologischen Anschauungen verbreitete, ohne daß diese sofort in den Schriften römischer Theologen faßbar würden. Schon früh beginnt, was zum Merkmal der römischen Kirche geworden ist: daß sie Theologien aufnimmt und absorbiert, mit eigenen Traditionen verbindet und weitergibt, was als Maß und Gestalt des Glaubens gelten kann, ohne jemals selbst einer bestimmten Theologie, Schule oder Richtung ganz zu gehören. Nicht Originalität ist ihre starke Seite, sondern Ausgleich und Anpassungsfähigkeit, wobei der nüchternen Einschätzung praktischer Durchführbarkeit und seelsorglichen Nutzens großes Gewicht zukommt. Insofern mag es zutreffen, daß der 1. Klemensbrief und die von ihm vertretene Theologie weder im strengen noch im ausschließlichen Sinn paulinisch ist. Die Behauptung, der wirkliche Paulinismus gehöre wegen seiner theologischen Tiefe nur zur Peripherie des frühkatholischen Ganzen und bereits die klementinische Interpretation breche ihm sachlich das Genick52 , enthält jedoch eine Verurteilung, die grundlos ist, weil sie ihre Berechtigung aus einer unbeweisbar vorausgesetzten Minderwertigkeit
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Ebd. 340; vgl. auch S. 97f., Anm. 63.
der gesamten frühkatholischen Theologie von Lukas über sämtliche spätneutestamentlichen Schriften bis hin zu den Apostolischen Vätern und Apologeten zieht53 •
Das Paulusbild In etwa kehrt beim 1. Klemensbrief das Methodenproblem wieder, das lange Zeit die Bewertung des lukanischen Paulusbildes belastet hat: Man mißt - ohne nach den literarischen, theologischen und situationsbedingten Absichten des Verfassers zu fragen - ausgewählte Aussagen an einem als authentisch erklärten Paulus und setzt Fehlendes und Abweichendes auf das Konto des Nichtkönnens oder Nichtwollens des betreffenden Autors, auch wenn die Hochschätzung des Apostels bei beiden, Lukas und Klemens, offenkundig isf4 • So verweist 1 Klem 47,1/3 die Korinther eindringlich auf die Mahnungen, die der Apostel selbst wegen der Spaltungen an die korinthische Gemeinde gerichtet hat: "Nehmt den Brief des seligen Apostels Paulus! Was schrieb er euch zuerst am Anfang des Evangeliums? Wahrhaftig im Geiste sandte er eine Weisung hinsichtlich seiner eigenen Person sowie des Kephas und Apollo, weil ihr auch damals Parteien gebildet hattet." Eine ungebrochene und von keiner anderen kirchlichen Instanz abgeleitete Autorität kommt Paulus in Rom und Korinth zu. Zwischen Kephas und Paulus wird nicht unterschieden, beide sind "bezeugte Apostel", nur Apollo gilt weniger, er ist lediglich ein nach dem Urteil der Apostel erprobter Mann (47,4)55. Klemens kann die Berechtigung eines römischen Mahnschreibens an eine paulinisehe Gemeinde (Korinth) nicht besser legitimieren als mit dei" Erinnerung an das Eingreifen des Apostels selbst56 •
Vgl. dazu die kritischen Bemerkungen von KNOCH, Frühkatholizismus 203f. Für Klemens vgl. noch ZlEGLER 107. 55 KNOPF 123f. 56 KNOCH 4lf. 53 54
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Gestärkt wird die paulinische Autorität vornehmlich durch den Zeugentod des Apostels. Petrus und Paulus sind die prominentesten Beispiele dafür, welche Verheerungen Eifersucht und Neid anzurichten vermögen. Thretwegen "wurden die größten und gerechtesten Säulen verfolgt und kämpften bis zum Tode" (5,3). Klemens berichtet nicht ohne Absicht ausführlich über die Martyrien von Petrus und Paulus, wobei - wohl wegen der korinthischen Adressaten - der Paulus betreffende Teil noch breiter ausgeführt wird. "Wegen Eifersucht und Streit zeigte Paulus den Kampfpreis der Geduld; siebenmal in Ketten, vertrieben, gesteinigt, Herold im Osten wie im Westen empfing er den echten Ruhm für seinen Glauben; er lehrte die ganze Welt Gerechtigkeit, kam bis an die Grenze des Westens und legte vor den Machthabern Zeugnis ab; so schied er aus der Welt und gelangte an den heiligen Ort, das größte Beispiel der Geduld" (5,5/7). Anstelle der hellenistischen Ableitung etlicher Wendungen in dieser Passage (z. B. Kampfpreis der Geduld; Herold im Osten wie im Westen)S7 und der Erinnerung an die aus 2 Kor 11,23/33 und anderen Schriftstellen geschöpften Ergänzungen der hellenistischen Topois8 konnte BEYSCHLAG mit einer Fülle motivgeschichtlicher Parallelen nachweisen, daß 1 Klem 5f. Ausdrücke verwendet, "deren terminologische Heimat ausschließlich die jüdisch-christliche Märtyrer~teratur ist"; sie sind von Klemens einem wohl bereits schriftlich vorliegenden Bericht über das Martyrium der beiden Apostel entnommen worden59 • Das gängige ("frühkatholische") und allgemein verbreitete Paulusbild, welches Klemens dabei ohne größere Korrekturen übernimmt, ist das des leidensbereiten Apostels und großen Missionars. Irgendeine erkennbare Absicht, Paulus den Apostelrang zu verweigern und ihn nur mit untergeordneten Verkündigungsaufgaben zu betrauen, fehlt. Selbst ein Vergleich zwischen Petrus und Paulus wird nicht versucht. In 1 Klem 5,3 werden beide zusammen die "tapferen Apostel" genannt. Daß Petrus an erster Stelle genannt 57
SANDERS 2/34.
58 SrumER 196; FISCHER, Apostolische Väter 31/3. 59 BEYSCHLAG 343f.; 267/99; 333/9; vgl. KNOCH 206.
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wird, ist ohne Belang60 ; in der oben erwähnten Stelle 1 Klem 47,3 wird genauso unprätentiös zuerst auf den Schreiber des 1. Korintherbriefes und dann auf Kephas verwiesen. Ebenso schließt die 1 Klem 42,4 berichtete Einsetzung von "Erstlingen" durch die Apostel die Mitwirkung des Paulus ein, geht doch der Hinweis auf den Gemeindedienst und den Autoritätsanspruch solcher "Erstbekehrter" auf eine paulinische Nachricht zurück (vgl. 1 Kor 16,15; Röm 16,5)61. Die Verkündigung des Evangeliums als Zeugen und Beauftragte des Auferstandenen, Gemeindegründungen und Sorge für die Gemeindeführung gehören nach dem Ausweis der spätneutestamentlichen und frühkirchlichen Schriften zu den Aufgaben aller Apostel, Paulus eingeschlossen62 • Wieso (nach BEYSCHLAG ) Paulus in 1 Klem 5,7 nicht der paulinische Paulus ist, vielmehr Exponent einer von allen Aposteln betriebenen WeitIhission, und wieso dieses Bild des missionierenden Paulus dem wirklichen Paulus widerstreitet63 , ist schwer einzusehen. Wohl haben die Daß der Name des Petrus "in 1 aem. 5 dem des Paulus betont vorangestellt ist", ist entgegen der Behauptung BEYSCHLAGS 280, weder der Stelle noch BEYSCHLAGs Argumentation zu entnehmen. 61 L. HERTI..JNG, 1 Kor 16,15 und 1 Clem 42: BibI 20 (1939) 276/8; vgl. O. KNOCH, Die "Testamente" des Petrus und Paulus. Die Sicherung der apostolischen überlieferung in der spätneutestamentlichen Zeit = Stuttgarter Bibelstudien 62 (Stuttgart 1973) 9Of. 6Z Zur Apostelgeschichte, die Paulus den Aposteltitel nicht zuerkennt (eine Lösung, die kaum Anhänger gefunden hat; zu den Apokryphen siehe S. 266; 278), vgl. J. ROLOFF, ApostoIat-Verkündigung-Kirche. Ursprung, Inhalt und Funktion des' kirchlichen Apostelamtes nach Paulus, Lukas und den Pastoralbriefen (Gütersloh 1965) 232f.; KNOCH, Testamente 16/9. 63 BEYSCHLAG 280. KNOCH 206f. beklagt die Diskrepanz zwischen den wertvollen Analysen BEYSCHLAGs gerade hinsichtlich von 1 Klem 5/7 und seiner generalisierenden "Abfal1stheorie". Tatsächlich stehen die vorsichtigen Formulierungen in den überzeugenden analytischen Partien (vgl. 266; 297/9) in Gegensatz zu den Pauschalurteilen über eine frühkatholische Verzeichnung des Paulus von Lukas bis zum 1. Klemensbrief (280; 340/2). Um so mehr Respekt verdient die Kritik, die BEYSCHLAG in seiner neuesten Arbeit selbst an seinem früheren Urteil übt, indem er erklärt, er habe "zwischen Paulus und 1 Clem. einen exklusiven Gegensatz konstruiert, wo - jedenfalls im 1. Jh. lediglich von theologischen Unterschieden hätte die Rede sein dürfen". Vgl.
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frühkirchliche Betonung des Weltmissionsgedankens und die Freude über die Erfolge der Verkündigung wesentlich dazu beigetragen, die Wertschätzung des Paulus zu steigern. Er "kam bis an die Grenze des Westens und legte vor den Machthabern Zeugnis ab" (5,7). Von keinem anderen Apostel waren so viele Nachrichten im Umlauf wie von ihm; kein anderer Apostel wurde von so vielen Gemeinden als Gründer in der Erinnerung hochgehalten wie er. Sein missionarischer Eifer widersprach weder den historischen Tatsachen noch dem Selbstverständnis des Apostels, wie man es aus seinen Briefen kannte64 • Daß die missionarischen Tätigkeiten und Erfolge, die Erinnerung an sein Wirken und Sterben in Rom das Paulusbild des 1. Klemensbriefes prägen, verfälscht nicht die Wirklichkeit. Gewiß war Paulus nicht nur Missionar, sondern auch Theologe. Daß Klemens den - übrigens in missionarisch-seelsorglich motivierten Gelegenheitsschriften niedergelegten - Reichtum der paulinischen Theologie im Rahmen seines - ebenfalls eine konkrete Situation anvisierenden Schreibens nicht auszuschöpfen verstand und in starkem Maß auch auf eingeübte, lang bekannte alttestamentlich-judenchristliehe Ordnungsfaktoren zurückgriff, ist verständlich und tut seinem Paulinismus keinen Abbruch, wenn man nicht losgelöst von Zeit und Situation dekretiert, welche Seite im vielgestaltigen Bild von Person und Werk des Apostels über Paulusnähe und -treue eines Autors entscheidet. 5. Didache und Matthäusevangelium
Auf die schwierigen Einleitungsfragen zur Didache kann hier nicht näher eingegangen werden1. Sie betreffen Zeit und Ort der K. BBYSCHLAG, Simon Magus und die christliche Gnosis = WUNT 16 (Tübingen 1974) 5f., Anm. 9; DBRS., Zur EIPHNH BA9BIA (1 Oem. 2,2): VigChr 26 (1972) 18. 64 Kuss, Paulus 270/3. 1 Vgl. VIBWAUBR, Urchristliche Literatur 719/37; dazu J.-P. AUDBT, La Didaehe. Instructions des Apötres (Paris 1958) 91/210.
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Entstehung, das Verhältnis von Quellen, Kompilator und Redaktor sowie im argumentativen Zusammenhang damit das Problem, auf welche Form der überlieferung - schriftlich fixiertes Evangelium, Spruchsammlungen oder mündliche Traditionen - das synoptische Gut in dieser kurzgefaßten Kirchenordnung zurückgeführt werden muß. Auch wenn ein Konsens in der Lösung dieser einander bedingenden Fragen nicht vorhanden ist, läßt sich doch sagen, daß mit der Didache nicht nur geographisch - man lokalisiert die Schrift nach Syrien/Palästina oder Ägypten -, sondern auch theologie geschichtlich der Bannkreis der paulinischen Gemeinden verlassen ist. Was an Paulus erinnert, geht nicht über Wortanklänge hinaus, die keinerlei Rückschlüsse auf die Kenntnis oder Verwertung paulinischer Schriften zulassen2 • Dafür tritt die Theologie des Matthäus deutlicher in Erscheinung, nicht so sehr in Form von wörtlichen Zitaten aus dem ersten Evangelium - dafür ist die Zeit am Beginn des 2. Jahrhunderts, der meist angenommenen Entstehungszeit der Didache, noch zu früh -, wohl aber in Form einer Abhängigkeit, die das synoptische Traditionsgut vornehmlich in seiner matthäischen, daneben in geringerem Maße auch in seiner lukanischen Ausprägung wiedergibtl, vor allem aber durch die übereinstimmung der Mentalität in beiden Schriften. Anliegen und Inhalt der Didache Die Didache beginnt in den Kapiteln 1/6 mit einer katechetischen Unterweisung, die auf dem jüdischen Formular einer ZweiWege--Lehre aufbaut; sie wurde in der hellenistischen Synagoge BARNE'IT, Literary Influence 207/12, bes. 212; MASSAUX, Influence 643f.; HAGNER, Use of the Testaments 284f. 3 So vor allem MAsSAUX, Influence 604/41; 644f. Den lukanischen Anteil neben Matthäus berücksichtigt stärker, ohne allerdings auf MAssAUX einzugehen, KÖSTER, Synoptische überlieferung 159/241, bes. 239/41. F. E. VOKES, The Didache and the Canon of the New Testament: Studia Evangelica 111,2 = TU 88 (Berlin 1964) 431/3 setzt für den Kompilator der Didache ein schriftlich fixiertes Evangelium voraus, datiert die Schrift aber auch erst nach 150.
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zur Belehrung der Proselyten gebraucht und ist auch außerhalb der Didache im frühchristlichen Schrifttum bezeugt4 • Die Unterweisung eröffnet das bereits im Alten Testament bekannte Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe (1,2; vgl. Mt 22,37/9; Dt 6,5; Lev 19,18; Sir 7,30); es folgt die sogenannte Goldene Regel, die jedoch nicht wie in den Evangelien positiv gewendet, sondern negativ formuliert vorgetragen wird: "Alles, was du nicht willst; daß es dir geschieht, das füge auch keinem anderen zu" (vgl. Mt 7,12; Lk 6,31)5. Der jüdischen Vorlage vorangestellt werden in 1,3/5 noch frei vorgetragene Ermahnungen im Anschluß an die Bergpredigt. Im Zwei- Wege.-Abschnitt insgesamt (1/6) findet ScHULZ ohne die Spur einer Erinnerung an die paulinische Rechtfertigung des Gottlosen allein aus Glauben nur noch die Forderung nach Gesetzesfrömmigkeit und Werkgerechtigkeit enthalten, ebenso das Verständnis der Vollkommenheit als überverdienstlicher Leistung bzw. im Rahmen einet:. Zweistufenethik als Beobachtung geschlechtlicher Askese (6,2)6. Milder beurteilt LIETzMANN den Tenor dieses Abschnitts. "Der Weg des Lebens ist ein sittliches Ringen um ein hochgestecktes Ziel, und die Kasteiung des Ich ein wertvolles Mittel, das freilich nicht jeder anwenden kann. So lesen wir denn am Ende die tröstlichen Worte: ,Wenn du das ganze Joch des Herrn auf dich nehmen kannst, wirst du vollkommen sein. Wenn du das aber nicht kannst, so tu so viel, als du kannst'" (6,2)'. In den folgenden Kapiteln 7/15 finden sich dann in knapper Form eine Reihe von Vorschriften liturgischer und disziplinärer Art, die für die Ordnung einer frühchristlichen Gemeinde von Bedeutung sind. Es beginnt mit Anweisungen für Taufe, Fasten, Gebet und Herrenmahl (7/10). Dann folgen Anordnungen für das Verhalten gegenüber durchreisenden Charismatikern, Apo4 Bamabasbrief 18/20. Vgl. ALTANER-SrumBR, Patrologie 80. s A. DIHLB, Die Goldene Regel. Eine Einführung in die Geschichte der antiken und frühchristlichen Vulgärethik = Studienhefte zur Altertumswissenschaft 7 (Göttingen 1962) 9f.; 107/9. 6 ScHuLz, Mitte der Schrift 329. 7 1.JETzMANN, Geschichte 1,215.
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steIn, Propheten und Lehrern (1113), für die sonntägliche Eucharistiefeier (14) und über die Stellung der ortsansässigen Amtsträger, der Bischöfe und Diakone (15,1f.). Den Abschluß bildet eine wiederum aus älteren Vorlagen gespeiste eschatologische Mahnung zu christlichem Wandel im Hinblick auf die bevorstehende Wiederkunft des Herrn (16). Alles in allem: das kompilatorische Werk nicht eines überragenden Theologen, aber eines nüchternen, klugen Praktikers. Neben den Jesusworten aus der Bergpredigt in 1,3/5 finden sich vor allem im zweiten, genuin christlichen Teil (7/15) übereinstimmungen mit dem Matthäusevangelium. In 8,113 heißt es: "Euere ,Fasten' weiter sollen ,nicht' mit denen der ,Heuchler' [d. h. der Juden] stattfinden; denn die fasten am Montag und Donnerstag; ihr aber sollt am Mittwoch und Freitag fasten. Ihr sollt auch ,nicht beten' wie die ,Heuchler', sondern wie es der Herr in seinem Evangelium befohlen hat, sollt ihr beten: ,Unser Vater in dem Himmel, geheiligt werde dein Name, dein Reich komme, dein Wille geschehe wie im Himmel so auch auf Erden, unser Brot für morgen gib uns heute, und erlaß uns unsere Schuld wie auch wir erlassen unseren Schuldigem, und führe uns nicht in Versuchung, sondern rette uns von dem Bösen ... " (vgl. Mt 6,9/ 13). In 14,2 mahnt die Didache: "Und jeder, der einen Streit mit seinem Nächsten hat, soll nicht mit euch zusammenkommen, bis sie sich versöhnt haben, damit euer Opfer nicht entweiht werde" (vgl. Mt 5,23f.)8. Der von MAssAUX sorgfältig geführte Einzelnachweis, aufgrund welcher charakteristischen Wortwendungen an diesen Stellen Matthäus und nicht ein anderes synoptisches Evangelium anklingt, braucht hier ebensowenig wiederholt zu werden wie die Aufzählung aller von MAsSAUX analysierten matthäisierenden Stellen9 • Zu fragen ist aber, was die Anlehnung der Didache an das Matthäusevangelium und dessen Interpretation der Jesusverkündigung grundsätzlich bedeutet und wie sie im
übersetzung nach R. KNOPF, Die Lehre der zwölf Apostel. Die zwei Clemensbriefe = HNT, Erg. Bd. (Tübingen 1920) 23; 36. 9 Vgl. S. 99, Anm. 3.
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Hinblick auf das Weiterwirken der paulinischen Theologie zu beurteilen ist.
Gesetzeserfüllung und Christusnachfolge im Matthäusevangelium Nach VON CAMPENHAUSEN hat die Frage, welchen Platz das alte, gültige Gesetz der Väter neben der Vollmacht des Herrn zu beanspruchen hat, im Rahmen eines Evangeliums und mit Hilfe der überlieferten Worte Jesu bei Matthäus noch einmal eine Antwort erfahren, von der angenommen werden darf, daß sie bewußt erfolgt ist1o . Ob sie auch antipaulinisch ist, ob sie neben Paulus einen "eigenen Weg zum Evangelium" für den syrisch-palästinensischen Grenzbereich beschreiben will, wo Judenchristen und Heidenkirche weiterhin zusammenstießen, mag hier offen bleibenl l . VON CAMPENHAUSEN meint, Matthäus wolle keiner kirchlichen Richtung ausschließlich dienen und vertrete weder judennoch heidenchristliche Interessen um ihrer selbst willen; er wolle vielmehr "in gewissenhafter Überlegung das wahre, geistliche Verhältnis herausarbeiten, in dem die Freiheit der Nachfolge auch jetzt noch zur alten Ordnung des biblischen Gesetzes steht";12.
10 VON CAMl'ENHAUSEN,
Bibel 16. Die folgenden Bemerkungen zur theologischen Einordnung des Matthäusevangeliums schließen sich - wenn nicht anders vermerkt - den Ausführungen VON CAMPENHAUSENS, Bibel 16/23 an. 11 Für den kirchengeschichtlichen Standort des Matthäusevangeliums und die von ihm anvisierten Gegner vgl. G. EICHHOLZ, Die Aufgabe einer Auslegung der Bergpredigt: Tradition und Interpretation = Theologische Bücherei 29 (München 1965) 5lf.; DERS., Auslegung der Bergpredigr = BSt 46 (Neukirchen 1970) 64/8; CoNZELMANN, Grundriß 169, Anm. 16; A. SANDT, Die Polemik gegen .. Gesetzlosigkeit" im Evangelium nach Matthäus und bei Paulus: BZ NF 14 (1970) 124f.; DERS., Das Gesetz und die Propheten. Untersuchungen zur Theologie des Evangeliums nach Matthäus = BibI. Untersuchungen 11 (Regensburg 1974) 99/105. 12 VON CAMl'ENHAUSEN, Bibel 16f.
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Darum betont Matthäus den Zusammenhang der Verkündigung Jesu mit der alten Heilsgeschichte. Die Weissagungsbeweise zeigen, daß alles geschehen ist, damit das Gesetz erfüllt werde. D. h. die große matthäisehe Komposition der Bergpredigt (Mt 5/7), der neuen, christlichen Thora, vom Berge erlassen wie die alte vom Sinai, überwindet und überbietet grundsätzlich die äußerlich begrenzte Gerechtigkeit der Pharisäer. "Es ist kein Zweifel möglich: das Gesetz als formelle Instanz kann gegen Jesu höhere Vollmacht schlechterdings nicht mehr ins Feld geführt werden. Und gleichzeitig wird deutlich, daß diese neue JesusNorm ihrem Wesen nach nicht mehr in Regeln und Vorschriften zu erschöpfen ist; sie besteht in der Preisgabe des ichhaften Willens schlechthin" 13 • Die Bergpredigt zielt auf keinen neuen Nomismus; auch die Antithesen (5,21/47) schaffen keinen neuen Gesetzesinhalt oder quantitativ bestimmbare Ausführungsbestimmungen, sondern fordern eine Vollkommenheit, die der des himmlischen Vaters entspricht (5,48) und allein in der Nachfolge Jesu verwirklicht werden kann14 , Dennoch bedeutet die Erfüllung des Gesetzes nicht seine Au~ hebung, sondern seine Bestätigung. Entsprechend hat Matthäus Traditionen, die die Geltung des Gesetzes betonen, nicht getilgt, sondern im Gegenteil feierlich bekräftigt. Kein Jota und kein Häkchen vom Gesetz sollen vergehen, solange die Erde steht (5,18). Was die, die auf dem Stuhl des Moses sitzen, lehren, ist gut; schlimm sind nur ihre Heuchelei und Eitelkeit (23,2/12). Vor einer hohlen Gesetzespraxis muß die Gemeinde sich hüten, nicht vor dem Gesetz selbst. Noch immer gilt: "Willst du in das Leben eingehen, so halte die Gebote" (19,17). "Wer also eines dieser geringsten Gebote außer Kraft setzt und die Leute so lehrt, der wird in der Herrschaft der Himmel der Geringste heißen. Wer es aber tut und so lehrt, der wird groß heißen in der Herr-
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Ebd.19. CoNZELMANN, Grundriß 165f.; G. BoRNKAMM, Enderwartung und Kirche im Matthäus-Evangelium: überlieferung und Auslegung im Matthäusevangelium4 = Wissensch. Untersuch. zum A und NT 1 (Neukirchen 1965) 26.
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schaft der Himmel" (5,19). Nicht alle diese Sätze mit ihren gegenüber Paulus reaktionär klingenden Forderungen sind vom Evangelisten selbst geschaffen worden; er hat sie vielmehr aus älteren, judenchrlstlich geprägten Traditionen übernommen lS • Er hat sie aber nicht unterdrückt, sondern aufgegriffen und seiner Auffassung angepaßt, indem er ihre Verwirklichung in den Kontext der Gottes- und Nächstenliebe gestellt hat. Das Gesetz ist nicht in einer mechanischen, am Buchstaben klebenden Erfüllung zu leben. Wer sich gegen Gottes Willen hinter formellen Einzelbestimmungen - etwa das Sabbatgebot -lieblos verschanzt, handelt dem Gesetz entgegen. Sinn des Gesetzes ist nicht die Gesetzlichkeit, sondern es sind die Grundforderungen des Rechtes, der Barmherzigkeit und der Treue. "Wehe über euch, Schriftgelehrte und heuchlerische Pharisäer, ihr verzehntet Minze, Dill und Kümmel, aber das Schwerere im Gesetz, das Recht, das Erbarmen und die Treue laßt ihr dahinten. Das solltet ihr tun und das andere nicht lassen" (23,23)16. Das Anliegen des Matthäus ist kein Entweder - Oder, nicht die Ablösung des Gesetzesbuchstabens durch die Gesinnung, sondern die Verwirklichung des einen im anderen, so wie J esus gekommen ist, nicht um das Gesetz aufzulösen, sondern um es zu erfüllenl7 • Das ist eine andere, aber nicht weniger verantwortete theologische Interpretation des Gesetzes, als Paulus sie gibt. Ein Urteil über sie hat die Situation zu berücksichtigen, in der Matthäus nach der Beendigung des jüdischen Krieges, der Zerstörung des Tempels und einer lebhaften Restaurationsbewegung des pharisäischen Rabbinats stehtl8 • Die christlichen Gemeinden haben
H. ScHORMANN, "Wer daher eines dieser geringsten Gebote auflöst ... " Wo fand Matthäus das Logion Mt 5,19?: BZ NF 4 (1960) 238/50; EICHHOLZ, Bergpredigt 61/4. 16 VON CAMl'ENHAUSEN, Bibel 21f. Die von der Liebe gelenkte Anwendung des Gesetzes scheint der matthäischen Auffassung besser zu entsprechen als die von SCHULZ, Mitte der Schrift 179/83, schematisierte Unterteilung zwischen abrogiertem Kult- und beibehaltenem Sozialgesetz. 17 Vgl. CoNZELMANN, Grundriß 166. 18 Ebd. 165. 15
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den Zusammenhang mit dem Judentum als religiösem Verband noch nicht endgültig aufgegeben~ Darum stellen' sie ihr christliches Gesetzesverständnis bewußt in die schriftgelehrte jüdische Tradition hinein, damit niemand sie der Leichtfertigkeit zeihe, wenn sie die Forderung der Gerechtigkeit besser zu verstehen behaupten als die Schriftgelehrten und Pharisäer. Der Glaube an Jesus soll ja kein Vorwand sein, die Last des Gesetzes abzuwerfen. Am Vollmachtsanspruch Jesu allerdings lassen auch die matthäischen Gemeinden nicht rütteln; sein sanftes Joch, den Frieden, die Sündenvergebung, die Seligkeit, die Jesus bringt, lassen sie sich nicht nehmen. VON CAMPENHAUSEN meint,Matthäus habe in einer großen und eindrucksvollen Weise das Verhältnis zwischen Gesetzesgehorsam und Christusnachfolge zu klären versucht. Man frage sich nur unwillkürlich, wie eine solche leidensbereite, demütig strenge Haltung unter den jüdischen Anfeindungen und vollends in den veränderten Verhältnissen der hellenistischen Umwelt sich würde behaupten können. Matthäus "ist der letzte Zeuge eines Christusglaubens, der wirklich Jesus nachfolgen und von seinen Verheißungen leben und doch dem alten Gesetz aufrichtig treu sein möchte. So kann es nicht bleiben. Einmal werden sich die Christen doch entscheiden müssen: zwischen den alten Geboten des biblischen Gesetzes und der neuen Gemeinschaft der Kirche, die es genug sein läßt mit dem Bekenntnis zum einen, die Gläubigen aus allen Völkern berufenden und rettenden Herm"19. Matthäus ist der letz te; er steht am Ende einer EQ.twicklung, die andernorts - in den paulinischen Gemeinden Kleinasiens etwa - längst zu einer abweichenden und radikaleren Lösung in der Frage des Gesetzes geführt hatte. Diese durch VON CAMPENHAUSEN betonte Sicht scheint aber nur einen Aspekt des matthäischen Anliegens zu treffen. Ein anderer wird sichtbar, wenn man beachtet, daß Matthäus als das "kirchliche" Evangelium gilf10 • In 19
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Bibel 24. R. HUMMEL, Die Auseinandersetzung zwischen Kirche und Judentum im Matthäusevangelium1 = BEvTh 33 (München 1966) 154; W. TRIu.ING, Das wahre Israel3 = StANf 10 (Müochen 1964) 212/4.
VON CAMPENHAUSEN,
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dieser Hinsicht aber ist Matthäus eher Anfang als Ende einer Entwicklung. Die Kirche war auf die Dauer nicht in der Lage, sich auf das Bekenntnis zu dem "einen rettenden Herrn" zu beschränken; als sichtbar verfaßte Gemeinschaft konnte sie nicht umhin, eine Ordnung zu schaffen, die die Bedingungen der Zugehörigkeit zur Kirche, die Pflichten ihrer Glieder, die Form des Gottesdienstes festlegte. ScHULZ karikiert, wenn er unterstellt: "Matthäus hat die Frommen noch frommer machen wollen mehr ist bei allem Pathos dabei nicht herausgekommen!"21. Er übergeht die konkrete Situation, in der die matthäische Theologie Gestalt gewinnt. Schon Paulus hatte von Fall zu Fall in das Leben der Gemeinden eingegriffen, Sünder zurechtgewiesen, damit nicht Gesetzlosigkeit einreiße (Röm 6,19; 2 Kor 6,14)22. Was bei Paulus, aus der Notwendigkeit des Augenblicks geboren und durch apostolische Autorität legitimiert, geschieht, beginnt sich im Gefolge des Matthäus dauerhaft zu institutionalisieren (vgl. 18,15/8). Wobei wiederum Paulus dazu beigetragen hat, daß die sich abzeichnende kirchliche Ordnung nicht einen Bruch mit dem Alten Testament bedeutete, sondern in Kontinuität mit diesem Gestalt gewinnen konnte. Denn eine völlige Verwerfung des Alten Testamentes wegen seines Gesetzes war nicht mehr nötig, nachdem die Relativität des Gesetzes, sein Unvermögen, das Heil zu vermitteln, gegen den vollmächtigen Anspruch der Erlösung Christi einmal klargestellt war. Daß Jesus rettet und nicht das Gesetz, war in den matthäischen Gemeinden ebenso überzeugung wie das Gericht nach den Werken in den paulinischen23 . Was lebensmächtig und religiös wertvoll am Gesetze war, konnte in die Ordnung der Kirche miteingehen. Scmn.z, Mitte der Schrift 188. SANDT, Polemik 120/3. 23 G. BORNKAMM, Der Auferstandene und der Irdische: überlieferung und Auslegung im Matthäusevaogelium 310. Gemeinsamkeiten zwischen Paulus und Matthäus in wichtigen theologischen Fragen sind häufiger festgestellt worden; vgl. W. D. DAVIES, Die Bergpredigt. Exegetische Untersuchung ihrer jüdischen und frühchristlichen Elemente (München 1970) 113/6; CoNZEL-. MANN, Gruodriß 167f.; vielleicht zu weitgehend C. H. DoDD, Matthew aod Paul: New Testament Studies3 (Manchester 1967) 53/66, bes. 5417. 21 22
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" Folgerungen für die Didache An dieser Stelle muß die Aufmerksamkeit noch einmal auf die Didache zurückgelenkt werden; denn das Bemühen um Ordnung in der Gemeinde und im Christenleben ist der Punkt, an dem sich Didache und Matthäusevangelium berühren. Dabei dürfte die Didache weniger wegen der tatsächlich oder vermeintlich judenchristlich gefärbten Lösung des Gesetzesproblems matthäisch ausgerichtet gewesen sein als vielmehr wegen der charakteristischen Schwierigkeiten, denen sich die nachapostolischen Missionsgemeinden gegenübersahen. Die Gemeinde der Didache besaß nicht mehr Ch~matiker, Apostel, Propheten und Lehrer dauernd in ihrer Mitte; sie mußte sich bereits mit amtlich Beauftragten, Bischöfen und Diakonen, begnügen (15,lf.)24. Das bedeutete, "konkrete Fragen des Gemeindelebens konnten nicht mehr im Handumdrehen aus der Vollmacht charismatischen Geistbesitzes heraus beantwortet werden, sondern bedurften der "gesetzlichen" Regelung, auf die sich ein schlichter Gemeindevorsteher berufen konnte, auch wenn er nicht augenscheinlich und nachweisbar Charismatiker war. Die Kirchenordnung der Didache ist daher nicht antipaulinisch, weil sie versucht, die Lebensweise der Gemeindeglieder und ihr Zusammentreffen im Gottesdienst in Vorschriften zu fassen. Wohl ist sie unpaulinisch, weil das, was sie einschärfen wollte, nicht bei Paulus, sondern "eher bei Matthäus zu finden wars , wobei selbstverständlich der Einfluß, den die mögliche geographische Nähe zwischen Didache und Evangelium ausgeübt hat, nicht übersehen werden darf. Beide Momente, die Situation der Gemeinde und die landschaftlichen Beziehungen, legten den Rückgriff auf die matthäische Tradition nahe, die sich für die zu treffenden Entscheidungen räumlich-zeitlich und theologisch a~bot. G. SASS, Die Apostel in der Didache: In memoriam E. Lohmeyer (Stuttgart 1951) 233/9, bes. 238. 25 Auf den Einfluß, den Matthäus, insbesondere die Bergpredigt, auf die Sehriften der 2. und 3. Generation ausgeübt hat, die darangehen mußten, die Alltagsfragen der Christen zu lösen, weist im Zusammenhang mit Jakobus hin E. LoHSE, Glaube und Werke - zur Theologie des Jakobusbriefes: Die Einheit " des Neuen Testaments (Göttingen 1973) 295f.
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6. Antipaulinisehe Tendenzen im Neuen Testament?
Die Betrachtung des Matthäusevangeliums hat gezeigt, daß die unpaulinische Lösung einer theologischen Frage (Gesetzesfrömmigkeit) nicht gegen Paulus gerichtet zu sein braucht Geographische Lage, verwertete Traditionen, veränderte Zeitverhältnisse können im frühchristlichen Schrifttum zu Ergebnissen führen, die Paulus nicht widerstreiten, auch wo sie nicht paulinisch ausgerichtet sind (vgl. 1 Klem, Did). Die gesamte synoptische Tradition ist unpaulinisch und doch zusammen mit Paulus wesentlicher Bestandteil des neutestamentlichen Kanons1 • Gibt es daneben im kanonischen Schrifttum der nachapostolischen Zeit Äußerungen, die nicht nur unpaulinisch-neutral sind, sondern antipaulinisehe Tendenzen bezeugen oder vermuten lassen? a) Jakobusbrief Auf den ersten Blick könnte man vermuten, daß der Jakobusbrief direkt gegen Paulus zielt, heißt es doch Jak 2,24: "Ihr seht, daß ein Mensch durch Werke get;'echtfertigt wird und nicht aus Glauben allein." Das widerspricht dem Wortlaut nach einem Satz des Römerbriefes, der nach lutherischem Verständnis geradezu als Kernsatz der paulinisehen Theologie zu gelten hat: "Denn wir halten dafür, daß der Mensch durch Glauben gerechtfertigt wird ohne die Werke des Gesetzes" (Röm 3,28). Im Jakobusbrief kommt - wenn auch in negativer Wendungdas reformatorische sola fide vor, das der Intention nach aber auch für den Römerbriefvers angenommen werden darf2. Beide Sätze scheinen damit nicht nur verschiedene, sondern gegensätzliche, einander ausschließende Anschauungen über das Wesen der Rechtfertigung zu vertreten; die sich auf keine Weise harmonisieren lassen.
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W. ScHMmIALs, PauIus und Jakobus = FRLANT 85 (Göttingen 1963) 98f. O. Kuss, Der Römerbrief 1 (Röm.1,1-6,1l) (Regensburg 1957) 177.
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Eine stroherne Epistel? So jedenfalls hat es Luther gesehen. In seinen Tischreden aus dem Frühjahr 1533 sagt er: "Multi valde sudant, ut concordent Iacobum cum Paulo ... Pugnantia sunt: Fides iustificat, fides non iustificat. Wer die zusamenreymen kan, dem wil ich mein pirreth auffsetzen und wil mich yhn einen narren lassen schelten"3. Wenig später, vermutlich 1542, begründet Luther seine Kritik deutlicher: "Epistolam Iacobi eiciemus ex hac schola, denn sie soll nichts. Nullam syllabam habet de Christo. Er nennet auch Christum nicht eins, nisi in principio. Ich halt, das sie irgents ein Jude gemacht hatt, welcher wol hat horen von Christo leuten, abr nit zusamschlagen; und dieweil er hat gehört, das die Christen also sehr auff den glauben in Christum dringen, hat er gedacht: Halt, du wilst in begegnen und schlecht die opera treiben! Wie er denn thut. De passione et resurrectione Christi sagt er nicht ein wort, das doch allr apostell predigt ist gewest. Dazu ist da kein ordo noch methodus. Jtzt sagt er von kleidern, bald von zorn, feIlet imer von einem auff das ander. Er gibet ein gleichnus: Sicut corpus non vivit sine anima, ita fides nihil est sine operibus. Ei Maria, Gotts mutter! wie ein arme similitudo ist das! Confert fidem corpori, cum potius fides animae fuisset comparanda! Das haben auch die alten gesehen4, ideo non pro catholica habita"s. '"Darumb ist sanct Jacobs Epistel", heißt es in der allgemeinen Vorrede zur Septemberbibel (1522), "eyn rechte stroern Epistel, ... denn sie doch keyn Euangelisch art an yhr hat"6. Scharfsinnig hat Luther kritisiert, daß Jakobus von Tod und Auferstehung schweigt, die für ihn - wie für Paulus - Mitte aller Verkündigung sein müssen, daß dem Brief überhaupt ein theologisches
Dr. M. Luthers Werke, Tischreden 3 (Weimar 1914) 253 . Das Muratorische Fragment, Tertullian u. Cyprian z. B. kennen den Jakobusbrief nicht. Vgl. F. MUSSNER, Der Jakobusbrief3 = HThK 13,1 (Freiburg 1975) 33/42, bes. 41. 5 Dr. M. Luthers Werke, TISChreden 5 (Weimar 1919) 157. 6 Dr. M. Luthers Werke, Die Deutsche Bibel 6 (Weimar 1929) 10. Weitere Stellungnahmen Luthers bei MUSSNER 42/6. 3
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Konzept fehlt und er sich mit der (paränetischen) Reihung von Einzelmahnungen begnügt, eine Kritik, die bis heute beständig wiederholt wird7 • ~ Der theologiegeschichtliche Hintergrund Um das Verhältnis Jakobus - Paulus näher bestimmen zu können, sei noch einmal auf die bereits zitierten Stellen Jak 2,24 und Röm 3,28 zurückgegriffen. Weil in beiden Briefen mit Berufung auf dieselbe Stelle Gn 15,6 Abraham herangezogen wird, um die Richtigkeit der eigenen Position zu beweisen, ist geschlossen worden, daß Jak 2,24 und Röm 3,28 nicht unabhängig voneinander formuliert worden sind, vielmehr als Rede und Gegenrede verstanden werden müssen. In Röm 4,2f. wird erklärt: "Wenn Abraham aus Werken gerechtfertigt worden ist, hat er Grund sich zu rühmen, aber nicht vor Gott. Was sagt nämlich die Schrift: Abraham glaubte Gott, und das wurde ihm zur Gerechtigkeit angerechnet." Dagegen argumentiert Jak 2,21/3: "Ist unser Vater Abraham nicht aus Werken gerechtfertigt worden, als er seinen Sohn Isaak auf dem Altar darbrachte? Da siehst du, daß der Glaube durch die Werke vollendet wird. So erfüllte sich das Schriftwort: Abraham glaubte Gott, und· es wurde ihm zur Gerechtigkeit angerechnet, und er wurde ,Freund Gottes' genannt". MUSSNER hält es schwerlich für einen Zufall, daß beide mit derselben Schriftstelle operieren, "zumal dafür bis jetzt keine von den beiden unabhängig verarbeitete Tradition nachgewiesen werden kann"s. Auch BUL1MANN meint, die Behandlung des TheVgl. die Hinweise bei E. LoHSE, Glaube und Werke - zur Theologie des Jakobusbriefes: Die Einheit des Neuen Testaments (Göttingen 1973) 285/306, bes. 285/7. Scharfe Kritik an Luthers Urteil übt MUSSNER 52f. Der Behauptung einer fehlenden theologischen Konzeption des Jakobusbriefes wird jedoch zunehmend widersprochen; vgl. R. HoPPE, Der theologische Hintergrund des Jakobusbriefes: Forschungen zur Bibel 23 (Würzburg 1977) 146. 8 MUSSNER 13; vgl. D. LOiIRMANN, Glaube im frühen Christentum (Gütersloh 1976) 82f.
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mas "Glaube und Werke" in Jak 2,14/26 sei nicht "anders versfändlich denn als eine Auseinandersetzung mit einem mißverstandenen Paulus"9. Man hat zwar nicht unterlassen zu fragen, ob die Polemik des Jakobus nicht doch ohne paulinisehen Hintergrund zu begreifen ist10, und Überlegungen von LuCK., der den lakobusbrief im Rahmen einer vorgegebenen spätjüdischen Weisheitstheologie interpretiert, in der der Glaube durch Anfechtung (1,2/8) oder durch gute Werke (2,14/26) zur Vollkommenheit gelangt, ähnlich wie es spätjüdisch (Sap 7,22/9; 6,17/20) und auch im lakobusbrief (3,13/8) von der Weisheit selbst ausgesagt werden kann, könnten die Auffassung verstärken, daß Jakobus zusammen mit anderen kanonischen und außerkanonischen Schriften in einer Tradition frühchristlicher Theologie steht, die sich unabhängig von der paulinischen Th~ologie entwickelt hatl t • Da es im lakobusbrief aber nicht um die leidenschaftslose Darlegung weisheitlicher Vollkommenheitslehre geht, sondern um die betonte Ablehnung einer ebenso scharf zugespitzten These vom "Glauben allein", dürfte die Annahme, Paulus sei Kontrahent und Gesprächspartner des Jakobus, die wahrscheinlichere sein12• Die Entscheidung für Paulus klärt allerdings noch nicht, ob die mündliche Predigt des Apostels oder seine Briefe, ob ein vorliterarischer Frühpaulinismus oder ein häretischer Spätpaulinismus des 2. Jahrhunderts von Jakobus attackiert wird. Eine Antwort hängt davon ab, wer den Jakobusbrief geschrieben hat und wann
R. BULTMANN, Theologie des Neuen Testamentes6 (Tübingen 1968) 484; vgl. auch M. DmELlus, Der Brief des Jakobustl. Hrsg. u. ergänzt von H. GREEVEN = MEYER K 15 (Göttingen 1964) 220; H. BRAUN, Hebt die heutige neutestamentlich-exegetische Forschung den Kanon auf?: KÄSEMANN, Kanon 224; LoHSE 290f.; weitere Literatur bei E. GAAssER, Der Glaube im Hebräerbrief: Marburger theol. Stud. 2 (1965) 186, Anm. 204. 10 H. WINDISCH, Die Katholischen Briefe = HNT 4,2 (Tübingen 1911) 2Of.; A. MEYER, Das Rätsel des Jacobusbriefes = Beiheft ZNW 10 (Gießen 1930) 97. 11 U. LuCK, Der Jakobusbrief und die Theologie des Paulus: ThGI 61(1971) 164/8; 176; vgl. S. 117, Anm. 29/31. 12 MUSSNER 17; LoHSE 291; vgl. dagegen ScHRENK, ÖtxQt6ro: ThW2,223; MEYER 861108. HoPPE 113f. geht auf das Verhältnis Jakobus-Paulus kaum ein. 9
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er entstanden ist. Hält man den Herrenbruder Jakobus für den Verfasser - MussNER entscheidet sich für diese Lösung13 - , dann ergibt sich für die Frontstellung der Briefe eine Fülle von Möglichkeiten. Von Paulus her gesehen könnte man sagen, der Apostel polemisiert gegen den judenchristlich orientierten Jakobus von Jerusalem oder direkt gegen den Brief des Herrenbruders oder aber gegen Leute, die mit Jakobus in Verbindung standen und seine Predigt von der Glaubensgerechtigkeit entstellten. Von Jakobus her gesehen könnte man sagen, der Jerusalemer wendet sich gegen Anschauungen, die mit der frühen Predigt des Paulus in Antiochien zusammenhingen und die - vielleicht in verzerrter Form - nach Jerusalem gedrungen waren. Diese Ansicht vertritt (u. a.) KrrrEL, der meint, Jakobus habe sich gezwungen gesehen, zu gewissen, mit der paulinischen Verkündigung zusammenhängenden Diskussionen und Schlagworten Stellung zu nehmen, oiine jedoch in der Lage zu sein, gegenüber Verfälschungen auf den richtigen Paulus hinweisen zu können - eben weil er dessen wirkliche Predigt erst später, in der Stunde, von der Gal 2,2 berichtet, authentisch kennenlernte 14 • KrITELS These setzt allerdings voraus, daß der Jakobusbrief die älteste Schrift des neutestamentlichen Kanons überhaupt ist. Eine andere Möglichkeit bestünde darin, daß Jakobus nicht einen vom Hörensagen bekannten Frühpaulinismus, sondern Paulus selbst und vornehmlich den Römerbrief bekämpft. Doch auch das ist wenig wahrscheinlich, weil sich der Angriff des J akobus im Grunde nicht gegen das richtig verstandene paulinische Gesetzesverständnis richtet. Mit Recht bemerkt VERWEUS: "Wäre der Jakobusbrief wirklich ein Zeugnis des Antipaulinismus, dann hätte er das Gesetz in einer ganz anderen Weise zum Ausgangspunkt der Polemik gemacht. Als Front wird höchstens 13 14
MusSNER 19/23. G. KrrrEL, Der geschichtliche Ort des· Jakobusbriefes: ZNW 41(1942) 71/105; 101. KrrrEL hatte seine Auffassung bereits früher entwickelt (vgl. Die Stellung des Jakobus zu Judentum und Heidenchristentum: 'ZNW 30 [1931] 145/56) und hielt auch später gegen kritische Einwände daran fest (vgl. Der Jakobusbrief und die Apostolischen Väter: ZNW 43 [1950/51] 55/112). Weitere Vertreter dieser Ansicht bei MUSSNER 15.
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ein falscher, entleerter Paulinismus sichtbar, dem jedes Verständnis der tätsächlichen paulinischen Theologie fehlt"15. Dieser Einwand führt zu einer weiteren Alternative, die von einer späteren Abfassungszeit des Briefes ausgeht und annimmt, daß im Jakobusbrief gegen ein "weichwerdendes und nur ,kultisch' orientiertes Christentum" polemisiert wird, "das sich zu seiner Rechtfertigung auf einen als Schlagwort mißbrauchten ,Paulinismus' berufen zu dürfen glaubt, d. h. auf einen Paulinismus, der verzerrt, vergröbert und mißverstanden war"16. MussNER gibt demgegenüber allerdings zu bedenken, daß ein solcher Paulinismus, der nach Ansicht vieler erst der Mitte des 2. Jahrhunderts angehört, nur in der verzerrten Form des Markionismus bestanden habe, dessen Theologie wiederum mit der im Jakobusbrief bekämpften nicht gemeint sein könne17 . Doch muß man, um auf Mißverständnisse des Paulus - vor allem im Sinn eines ethischen Libertinismus - zu stoßen, wirklich bis in die Mitte des 2. Jahrhunderts hinaufgehen? Beginnt nicht schon zu Paulus' Zeiten und in der Generation nach ihm der Versuch, falsche Schlüsse aus der paulinischen Gesetzesfreiheit zu ziehen (vgl. 1 Kor 10,23; 2 Petr 2,19; Jud 4)18? So werden paulinische Sätzemißverstanden von ihren Verfechtern oder (wenn auch weniger wahrscheinlich) vom Verfasser des Jakobusbriefes -, selbst wenn sie sich nicht auf ein Jahrzehnt genau zeitlich fixieren lassen, der Hintergrund 'sein, auf dem die Polemik des Jakobusbriefes zu verstehen ist19 . Der Zusammenhang von Glaube, Werk und Weisheit Wie auch immer die Entscheidung über den Verfasser und den theologiegeschichtlichen Ort des Jakobusbriefes ausfallen mag, VERWEUS, Evangelium und neues Gesetz 11Of. MUSSNER 16. 17 Ebd. 18 M01.LER, Theologiegeschichte 21/6; 67/74. 19 VIELHAUER, Urchristliche Literatur 575; LoHSE 291f. 15 16
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ein sachlicher Gegensatz zwischen dem echten Paulus und Jakobus besteht nicht. Jakobus geht es ja nicht um die Alternative Glaube oder Werke, sondern um eine lebendige Synthese von Glauben und Werken; dabei veranlassen ihn die Anschauungen gewisser Leute, das eine Glied dieser Synthese, die Werke, besonders zu betonen. Jakobus leugnet nicht die Rechtfertigung aus dem Glauben, sondern nur die Rechtfertigung aus dem Glauben allein ohne die Fruchtbarkeit der Werke (paulinisch gesprochen: ohne wirksam zu werden durch die Liebe; vgl. GaI5,6). Wobei nachdrücklich zu betonen ist, daß die Werke, die Jakobus fordert, nicht die Werke des jüdischen Gesetzes - etwa das Beschneidungsgebot - sind, sondern Nächstenliebe (1,25.27; 3,17) und vertrauensvoller Gehorsam (1,2/§; 2,21), die auch Paulus unermüdlich fordert2°. Jakobus ist nicht antipaulinisch; selbst wo er dem Wortlaut nach dem paulinischen Glaubensverständnis widerspricht, bleibt er im Anziehungsbereich der paulinischen Theologie. Was Paulus ein für allemal der Kirche geschenkt hat, das Wissen um die Rechtfertigung aus dem Glauben und nicht durch die Werke des Gesetzes, erkennt auch Jakobus an; nur muß er das Verhältnis von Glauben und Werken neu bestimmen, wenn anders die paulinische Gesetzesfreiheit nicht entarten soll. Fragen kann man allerdings, ob die These Glaube und Werke, so wenig sie dem recht verstandenen Paulus widersprechen muß, in ihrer Konsequenz nicht doch eine Verlagerung der Gewichte zur Folge gehabt hat. Die paulinisehe Theologie konnte auf die Doppelung von Glauben und Werken verzichten, weil Handeln nach dem Glauben immer schon mit dem Glauben selbst gegeben war. "Glauben impliziert bei Paulus immer den Gehorsam. Der Glaube an Christus führt den Christen nicht nur in eine neue Existenz hinein, sondern (nicht als zweites, sondern unmittelbar damit zusammenhängend) auch in ein neues Existieren, d. h. in ein aus dem Glauben resultierendes Verhalten. Nur 20
Für KÄSEMANN, Kanon 364 kann "keine Interpretation darüber hinwegtäuschen, daß für Paulus das Werk eine Konsequenz, für Jakobus aber eine Vorbedingung der Rechtfertigung ist." Vgl. SCHRENK 223; anders LoHSE 291; 298; 305; ausführlich HOPPE 108/18, bes. 114.
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unter dieser Voraussetzung gilt Röm 3,28"21. Sobald sich dieser umfassende Glaubensbegriff verengt, Glaube nur mehr die Anerkenntnis von Lehrsätzen meint, genügt die pauIinische Formulierung natürlich nicht mehr. Rechtfertigung aus einem intellektualistisch verengten Glauben hätte einen ethischen Indüferentismus, wenn nicht gar Libertinismus zur Folge22 • Vertritt lakobus einen solchen verkürzten Glaubensbegruf? Im Kernstück des Briefes 2,14/9 heißt es: "Was nützt es, meine Brüder, wenn einer sagt, er habe den Glauben, hat aber keine Werke? Kann ihn denn der Glaube retten? Wenn ein Bruder oder eine Schwester keine Kleidung besitzen oder der täglichen Nahrung entbehren, es sagt aber einer aus euch zu ihnen: Geht hiIl in Frieden, erwärmt und sättigt euch, ihr gebt ihnen aber nicht, was sie für ihren Körper brauchen, was nützt das? So ist auch der Glaube, wenn er keine Werke hat, in sich selbst tot. Aber wird einer entgegnen: du hast Glauben, und ich habe Werke: Zeige mir deinen Glauben ohne die Werke, und ich werde dir aus meinen Werken den Glauben zeigen. Du glaubst, daß es nur einen Gott gibt, und du tust recht; aber auch die bösen Geister glauben und zittern." Sieht man einmal ab von dem sozial-kritischen Pathos dieser Stelle, dann zeigt sich, daß lakobus nicht unbedingt selbst einen verkürzten Glaubensbegriff besessen haben muß, aber doch gegen einen solchen polemisiert und ihn zu korrigieren sucht durch die Forderung nach Werken, durch die sich die Fruchtbarkeit des Glaubens zu erweisen hat. Der Glaube, den er voraussetzt, scheint ein "Fürwahrhalten" zu sein, wie es auch den Dämonen zu eigen sein kann. MARxsEN meint, lakobus habe mit seiner Kritik eines Glaubens ohne Werke an sich recht, nur habe er einen falschen Weg gewählt. "Der Verfasser hätte den Glaubensbegriff korrigieren können, oder aber er mußte die ,Sache' korrigieren, indem er den GlaubensbegrHf seiner Zeit stehenließ und ihn in seiner Verkürzung ad absurdum führte (2,19). Der Verfasser geht den zweiten Weg und stellt das, was Paulus unter Glauben versteht, gleichsam durch Addition her. 21
w. MARxsEN, Einleitung in das Neue Testament (Gütersloh 1963) 196f.
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Ebd.197.
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Das heißt, was bei Paulus durch ,Glaube' bezeichnet wird, kann nur noch durch ,9laube und Werke' ausgedrückt werden. Anders formuliert: Das Moment des Gehorsams, das der paulinisehe Glaubensbegriff impliziert, ist aus dem Glaubensbegriff ausgewandert und bleibt auch draußen, wird aber nun als selbständige Größe durch den Verfasser hinzugefügt - als Werk"23. MARxSEN sieht hier die Gefahr einer isolierten Ethik, eines reinen Nomismus auftauchen. Er vermißt den paulinischen Indikativ, der den sittlichen Imperativ aus der Sache selbst begründet, während durch reine Addition von Glaube und Werk keine innere Beziehung beider Größen zueinander entsteht. Wenn das Tun aber nicht mehr im Glauben selbst verankert ist, sondern von außen hinzukommen muß, ist die Ethik "in der Gefahr - Moral zu werden "24. Falls diese Gefahr besteht, sollte man ihre" möglichen Folgen, das Auseinanderklaffen von Glauben und Werken, von Dogmatik und Moral, nicht Jakobus anlasten. Nicht allein, weil damit von einem nur wenige Seiten umfassenden Schriftstück25 etwas verlangt würde, was es weder leisten konnte noch wollte 26 , sondern vor allem, weil Jakobus, falls er auf der bereits erwähnten spätjüdisch vorgeformten christlichen Weisheitstheologie fußt2 7 , ähnlich wie die Bergpredigt des Matthäusevangeliums oder der Hebräerbrief den Zusammenhang zwischen "Werken", "Gerechtigkeit" und "Werken der Gerechtigkeit" positiver beurteilen konnte, als Paulus es getan hat. LUCK, der im Jakobusbrief nicht eine lose zusammenhängende Folge paränetischer Sätze sieht, sondern ihm eine theologische Konzeption zubilligt, charakterisiert diese so: "Durch den Glauben kommt der Mensch auf den Weg der Vollkommenheit und Weisheit. Er erreicht sie, wenn er wie Jesus in nichtzweifelndem Vertrauen diesen Weg Ebd. Ebd. 25 Ober den literarischen Charakter des Jakobusbriefes vgl. MUSSNER 23/6; VIELHAUER, Urchristliche Literatur 568/73; LoHSE 30116. 26 Vgl. DmEUUS 19f.; 24 u. öfter; den Rang der theologischen Argumentation betont dagegen LoHSE 305. 27 LuCK 173f. 23
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durch das Leiden und die Anfechtungen durchhält. Der Glaube hilft ihm auf diesem Weg - aber dieser Glaube ,rettet' selbst noch nicht, Erst wenn er zur Vollkommenheit und so zur Weisheit geführt wird, dann wird der Mensch gerettet"28, Da in dieser Theologie der Glaube der Weisheit untergeordnet bleibt, kann "Glaube allein" nur unvollkommen sein. Der Glaube wird erst durch die Werke vollendet, denn zur Weisheit gehört, daß sie wirkt und durch Werke gerechtfertigt wird (vgl. Jak 2,22 u. Mt 11,19)29, Diese weitverbreitete verchristlichte Weisheitstheologie, die ebenfalls in nichtkanonischen Schriften (1 Klem, Barnabas, Didache und Hermas) nachgewirkt hat30, war auch Paulus bekannt31 . Doch Paulus zerreißt den Zusammenhang von Glauben und WeisheIt (Vollkommenheit). Für ihn wird der Glaube nicht wie die Weisheit erst durch Werke vollkommen. Zwar ist der Glaube nicht unfruchtbar; er wird wirksam durch die Liebe (GaI5,6). Damit "kommt aber "nichts zum Glauben hinzu, sondern in der Liebe ist er eben das, was er als Glaube ist", denn Glaube und Liebe sind im Vollzug identisch32 . Zusammenfassend läßt sich sagen: Der Jakobusbrief ist nicht antipaulinisch; er bekämpft nicht die authentische paulinische Theologie, sondern korrigiert einen falschen Paulinismus, der die vom Apostel verkündete Gesetzesfreiheit mißdeutet hatte. Um die Gefahr eines fruchtlosen Glaubens abzuwehren, kann (oder will) Jakobus die spannungsvolle paulinisehe Einheit christlichen Seins und Handelns jedoch nicht wiederherstellen, sondern ersetzt in der Tradition einer verchristlichten Weisheitstheologie die umfassende paulinische Konzeption des Glaubens durch die leichter verständliche Synthese von "Glauben und Werken." Auf indirektem Wege ist damit"noch der Jakobusbrief ein Zeuge für LuCK 163; 175. Neustens bat HoPPE 18/11 den weisheitstheologischen Hintergrund im Jakobusorief weiter ausgeführt. 29 LuCK 175; vgl. auch LoHSE 304, mit Berufung auf Jak 3,13.18. 30 Vgl. G. KnTEL, Jakobusbrief und Apostolische Väter 54/111; MUSSNER 35/8; LuCK 176. 31 H. CoNZELMANN, Paulus und die Weisheit: NI'S 12 (1965/66) 231/44; LUCK 17& " 3 2 Luqc 178.
" 28
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das Weiterwirken paulinischer Gedanken in den nachfolgenden Generationen33, nicht nur bei denen, die sich darum bemühten, die paulinische Theologie weiterzudenken und zu spezialisieren (vgl. Eph, Kol, 1 Petr), sondern ebenso bei denen, die nicht immer ehrenhafte Schlüsse aus dem Ethos der paulinischen Freiheit zogen bzw. diese falschen Pauliner - wie Jakobus - bekämpften. b) Zweiter Petrusbrief Daß Paulus mißverstanden werden konnte und dann mit einem verfälschten Paulus sittliche Freizügigkeit propagiert wurde, bezeugt der 2. Petrusbrief. In ihm begegnet zugleich - zwar respektvoll verhüllt, doch unüberhörbar anklingend - Kritik am paulinischen Schrifttum. Der 2. Petrusbrief ist wahrscheinlich die jüngste Schrift des neutestamentlichen Kanons34 ; er will die Gemeinden vor dem Treiben der Häretiker schützen, die über das Ausbleiben der Parusie spotteten (3,3f.). Mit diesem Irrtum hingen andere zusammen. Falschlehrer verleugneten Christus, "den Herrscher, der sie erkauft hat" (2,1), und gaben mit der Erwartung des Gerichtes auch die sittliche Ordnung preis. Im zweiten Kapitel wird ihre Zuchtlosigkeit breit geschildert, wobei fast der ganze Judasbrief (4/13) nahezu im Wortlaut übernommen wird35 • Auffallend ist das Interesse, das der 2. Petrusbrief der Heiligen Schrift entgegenbringt. Es hängt ebenfalls mit der irrigen Auffassung und der Zuchtlosigkeit der Häretiker zusammen (3,17). Das Wort der Schrift bedarf der richtigen Auslegung, Eine genauere Datierung des Briefes gelingt nach VIELHAUER, Urchristliche Literatur 580, ebensowenig wie eine geographische Einordnung. Die von ScInJiz, Mitte der Schrift 285, vorgenommene Identifizierung des Verfassers mit einem "römischen Lehrer" erfolgt ohne Gründe. 34 Für die Einleitungsfragen vgl K. H. ScHEua.E; Die Pcatrusbriefe. Der Judasbrief = HThK 13,2 (Freiburg 1961) 177/83; VIEi.HAUER, Urchristliche Literatur 594/9; O. KNOCH, Die ,Testamente' des Petrus und Paulus = Stuttgarter Bibeistudien 62 (Stuttgart 1973) 65f.; F. MVSSNER, Petrus und PaulusPole der Einheit = Quaestiones disputatae 76 (Freiburg 1976) 58/68. 35 M01.LER, Theologiegeschichte 23/5; 84. 33
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wenn es nicht zum Verderben gereichen soll (1,19/21). Neben der Schrift des Alten Testamentes beginnt sich bereits eine Sammlung neutestamentlicher Schriften abzuzeichnen (3,16), die gegen Vedälschungen und das unkontrollierte Anhäufen von Offenbarungsquellen verteidigt werden muß.
Der "geliebte Bruder Paulus" Im KQntext dieser Reflexionen über Schrift, überlieferung und Auslegung kommt der 2. Petrusbrief auf Paulus zu sprechen: "Darum, Geliebte, weil ihr das erwartet, ereifert euch, unbefleckt und ohne Tadel vor ihm in Frieden erfunden zu werden. Haltet die Langmut unseres Herrn für Rettung, wie auch unser geliebter Bruder Paulus nach der ihm verliehenen Weisheit euch geschrieben hat, ebenso in allen Briefen, in denen er über diese Dinge spricht. Darunter gibt es einiges schwer Verständliche, das die Unerfahrenen und Ungefestigten zu ihrem eigenen Verderben verdrehen, wie (sie es) auch mit den übrigen Schriften (machen). Thr nun, Geliebte, die ihr es im voraus wißt, seid wachsam, damit ihr nicht durch den Irrtum der Zuchtlosen mit fortgerissen werdet und aus der eigenen Festigkeit herausfallt" (3,1417). Wie schon erwähnt, geht es dem 2. Petrusbrief um die Bewältigung der Parusieverzögerung. Daß der Herr noch ausbleibt, ist Zeichen seiner Langmut, nicht etwa Schwäche, wie manche zu glauben meinen (3,9). In dieser Einschätzung ist sich der Brief mit dem "geliebten Bruder Paulus" einig. Bruder meint hier nicht mehr nur den Glaubensbruder, sondern bereits den Amtsbruderl 6 bzw. den MitaposteP7. Von Spannungen, wie sie in Gal 2,11/6 berichtet werden, weiß oder will der 2. Petrusbrief nichts mehr wissen. Beide Apostel stimmen überein, sei es in der Beurteilung der Parusieverzögerung, sei es in der Mahnung zu einem die Langmut Gottes nicht mißbrauchenden untadeligen Leben38 • 36
Samua..E 235. 67.
37KNocH
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Für beide Auffassungen lasSen sich in der Tat etliche Stellen aus den Paulusbriefen 8.Jlfiihren39 • Petrus beruft sich allerdings auf einen konkreten Brief des Paulus, den die Adressaten seines Schreibens bekommen haben. Bei der unbestimmten Anrede in 2 Petr 1,1 "an die, welche den gleich kostbaren Glauben in Gerechtigkeit unseres Gottes und unseres Heilandes Jesus Christus erlangt haben", ist es jedoch unmöglich zu entscheiden, welcher Paulusbrief gemeint sein könnte. Wenn es heißt, Paulus sei Weisheit verliehen, kündigt sich vielleicht schon das spätere Urteil der Kirche von der Inspiration der Paulusbriefe an40 • Weiterhin verweist Petrus auf "alle Briefe", in denen Paulus "über diese Dinge spricht". Welche Briefe damit gemeint sind, braucht hier nicht näher erörtert zu werden. Anzunehmen ist, "daß die Paulusbriefe aus den Archiven der Gemeinden, bei denen sie zunächst lagen, schon gesammelt werden" und dabei sind, zu einem Corpus Paulinum zusammenzuwachsen41 • Die Wertung, die Paulus im 2. Petrusbrief erfährt, wird von ScHELKLE sehr positiv beurteilt: "Paulus ist für 2 Petr der unbestrittene und überragende Lehrer der ganzen Kirche. Seine Briefe sind bereits gesammelt und wirken in der Kirche als lebendiges Wort weiter. Seine Wertung wächst dadurch, daß die Gemeinden des Ostens nach der Zerstörung Jerusalems und der Katastrophe des jüdischen Volkes ihr Gewicht verlieren, während die zahlreichen und meist bedeutenden Gemeinden des Westens Paulus alS Gründer verehren, dessen Gedächtnis noch MUSSNBR, Petrus und Paulus 64f. Daß nicht nur im. Lichte des 2. Petrusbriefes, sondern auch in Wirklichkeit Petrus dem Paulus sehr nahe gestanden haben dürfte, betont O. CuLl.MANN, Petrus. Jünger, Apostel, Märtyrer = Siebenstern:-Taschenbuch 9Of. (München 1967) 69/73. 39 Nachweise bei ScHELIcLB 236. BARNETr, Literary InfIuence 222/8, zählt den 2. Petrusbrief zu den Schreiben, die im..2. Jahrhundert "tbe return to popularity" des Paulus bezeugen, und notiert zahlreiche Anklänge der Schrift an die paulinischen Briefe. Von einer "antipaulinischen Theologie" (vgl. ScHuLz, Mitte der Schrift 306) wird man in diesem Brief daher nicht sprechen können, allerdings auch nicht von paulinischem Einfluß (vgl. MUSSNER, Petrus und Paulus 63). 40 ScHBl.KLE 236; KNOCH 67. 41 ScHEI.KLE 236f.
38
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mächtig wirkt. Die Lehre des Paulus, des Petrus und aller Altapostel ist im Urteil der Kirche eine und die gleiche"42. Der 2. Petrusbrief gibt vor, wie der 1. Petrusbrief in Rom geschrieben und an zahlreiche Christengemeinden gerichtet zu sein (vgl. 1 Petr 1,1; 5,13; 2 Petr 1,1; 3,1)43. In Rom aber gehören Petrus und Paulus am Anfang des 2. Jahrhunderts selbstverständlich zusammen (vgl. 1 Klem 5,3/7; Ignatius, Röm. 4,3)44 ~ In dieser Stadt waren beide "im Werk wie im Tod vereint, und dies gibt der römischen Kirche überragendes Ansehen. Von Rom aus sprechen beide in 2 Petr wie dann im Selbstverständnis der Kirche überhaupt zur Welt. Sie werden bereits als Apostelfürsten geachtet"45. Ähnlich bewertet MusSNER das Ergebnis des 2. Petrusbriefes: "Um das Jahr 120 n. Chr. herum galten Petrus und Paulus bereits als brüderliches ,Zweigespann"'46. Die Exegese von 2 Petr 3,15 erscheint jedoch in einem weniger günstigen Licht, wenn man die Bemerkung in 3,16 ernst nimmt, in den Briefen des Paulus sei einiges schwer verständlich, das von den Unerfahrenen und Ungefestigten zu ihrem eigenen Verderben verdreht werde. In der Mahnung zu geduldigem Warten und untadeligem Leben stimmt der 2. Petrusbrief mit Paulus zwar überein, "aber im selben Atemzug - und es sieht beinahe aus, als sollte das Lob im Grunde nur die Warnung einleiten, die ja bei dem fortgeschrittenen Stadium der Anerkennung der paulinischen Briefe in den Gemeinden nicht mehr als eine runde Ablehnung formuliert werden kann - warnt er vor einem Mißbrauch der Paulusbriefe"47. Selbstverständlich ist es zu allererst die Ebd. 237. Wo der Brief tatsächlich entstanden ist, ist unbekannt; vgl. VIEUIAUBR, Urchristliche Literatur 599; ScHELKLE 179. J. BLANK, Petms und Paulus im Neuen Testament: Kirchlicher Anzeiger 86 (1977) 294, hält dagegen Rom nicht nur als fiktiven, sondern auch als tatsächlichen Abfassungsort für wahrscheinlich. 44 Vgl. S. 95/7; 148f. 4S ScHEl.KLE 237, mit Berufung auf WAGENMANN, Stellung des Paulus 170/2, der allerdings die extreme Gegenposition zu ScHELKLE einnimmt. 46 MUSSNER, Petrus und Paulus 67. 47 Kuss, Paulus 232; vgl. VON CAMPENHAUSEN, Bibel 209; M. GRANT, Saint Paul (London 1976) 190. 42
43
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Schuld der Häretiker selbst, wenn sie Falsches aus den Paulusbriefen herauslesen; andererseits sind die Briefe doch auch derart, daß sie leicht zu irrigen Schlußfolgerungen mißbraucht werden können. Die Inanspruchnahme des Paulus durch (gnostische) Irrlehrer im weiteren Verlauf des 2. Jahrhunderts zeigte diese Gefahr in aller Deutlichkeit. Paulus mußte durch die kirchlichen Lehrer erst wieder umfassend entdeckt und verstanden werden, ehe man daran gehen konnte, das häretische Mißverständnis des Paulus mit Paulus selbst zu widerlegen. Der 2. Petrusbrief versucht es noch nicht; er verteidigt Paulus von außen, nicht von innen. Das Mittel, das er zur Verteidigung des Paulus wählt, ist dies: Er läßt Petrus selbst erklären, das richtige Verständnis des Paulus sei zwar schwer und schließe Falschauslegungen nicht aus, im Grunde sage Paulus aber nichts anderes, als was auch er, Petrus, einschärfe. WAGENMANN hat daraus weitreichende, allerdings in eine ganz andere Richtung als bei ScHELKLE laufende Schlüsse gezogen: nach ihm dokumentiert und yerfestigt der 2. Petrusbrief die Unterordnung des Paulus unter die zwölf Apostel. Man weiß mit Paulus nichts mehr anzufangen, die Zwölf haben ihn bereits verdrängt. Trotzdem will man ihn nicht missen. Darum verbürgt sich der Urapostel Petrus für ihn, und Paulus ist gerettet. Seine Schriften bleiben der Kirche erhalten, aber um welchen Preis? Die Legitimierung Pauli durch die Autorität der Urapostel "klingt nicht mehr danach, als ob beide Größen gleichberechtigt nebeneinander hergehen. Petrus und mit ihm die anderen Zwölf erscheinen vielmehr als die oberste Instanz, die auch über Paulus zu entscheiden hat! Hatte Paulus einst selbst im Kampfe gegen seine judaistischen Gegner sich darauf berufen, daß die Apostel in Jerusalem sein Evangelium und seinen Heidenapostolat anerkannt haben - hier war es ihm zum Verhängnis geworden: keine Anerkennung als die eines Gleichberechtigten, sondern Legitimierung eines Untergeordneten durch eine Oberinstanz. Aber er war gerettet für die Großkirche und die Lehreinheit zwischen den Zwölf und Paulus hergestellt"48. Diese Domestizierungsthese, 48
WAGENMANN,
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Stellung des Paulus 172.
nach der Paulus in nachapostolischer Zeit aus durchsichtigen Gründen Apostelrang und Gleichberechtigung abgesprochen werden49 , ist jedoch eine Konstruktion, die sich schon gegenüber dem Paulusbild der Apostelgeschichte nicht bewährt hat50 • Sie läßt sich auch mit Hilfe des 2. Petrusbriefes nicht aufrecht erhalten, in dem von Uraposteln und Zwölfen und deren Vorrang überhaupt nicht die Rede ist. Der Brief bekräftigt vielmehr die Lehrautorität des Paulus und stellt seine eigene Bewertung der verzögerten Parusie unter dessen Schutz; denn recht verstanden hat schon Paulus gelehrt, was der Verfasser gegen die Verfälschung durch die Häretiker von neuem einschärfen muß. Allerdings schreibt der Anonymus unter dem Namen des Petrus, nicht des Paulus, und hält diese pseudepigraphische Fiktion, die nicht nur - wie im 1. Petrusbrief - beiläufig in der Grußadresse erwähnt wird, bewußt im ganzen Schreiben durch (vgl. 3,1; 1,14.16/8)51. Das muß aber nicht gegen Paulus gerichtet sein; man wird darin vielmehr einen Hinweis sehen dürfen auf Wertschätzung und Autorität, die Petrus, wie schon der 1. Petrusbrief bezeugt, zunehmend in weiten Teilen der Kirche genoS und die auch in den paulinischen Gemeinden Geltung gewinnen sollten52 • KNOCH geht noch einen Schritt weiter, wenn er durch die Aufnahme des 2. Petrusbriefes in den Kanon den exklusiven Paulinismus der Pastoralbriefe ausbalanciert sieht, insofern die Auffassung, daß alle Apostel (einschließlich des Paulus) die kirchliche Verkündigung mitgeprägt haben, der geschichtlichen Wirklichkeit mehr entspricht als die einseitig pauluslastige Ausrichtung der Pastoralbriefe53 •
G. KLEIN, Die Zwölf Apostel. Ursprung und Gehalt einer Idee = FRLANT 77 (Göttingen 1961) 103. 50 Vgl. S. 25, Anm. 8. 51 VIELHAUER, Urchristliche literatur 595. 52 Zur Stellung des Petrus in der nachapostolischen Kirche vgl. die Ausführungen und literaturhinweise bei KNOCH 68f.; MUSSNER, Petrus und Paulus 69/75. 53 KNOCH 68f.; vgl. CUu.MANN 73.
49
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Die Sicherung der Schriftauslegung ,
Noch eine andere Problematik eröffnet sich im 2. Petrusbrief, die in ihrem Ernst nicht weniger gewichtig ist als die Frage nach der apostolischen Autorität. Die Kirche hat aufgehört, aus der aktuellen Verkündigung der Zeugen zu leben; mit fortschreitender Zeit muß sie sich auf die Tradition beziehen in dem zur Schrift gewordenen Wort. Sofort entstehen Last und Notwendigkeit der Auslegung, denn es gibt nicht wenige" Unerfahrene" und" Ungefestigte", die sich die exegetische Not zunutze machen und die Schrift - hier die paulinischen Briefe - verdrehen54 . Welche Lösung bietet der 2. Petrusbrief in bezug auf Paulus und die richtige Exegese seiner Briefe an? Zunächst argumentiert er mit dem bekannten Inspirationswort 1,21: "Denn niemals ist durch menschlichen Willen eine Weissagung erfolgt, sondern getrieben vom Heiligen Geiste haben heilige Menschen Gottes gesprochen." Darum darf keine Weissagung der Schrift eine eigenmächtige Lösung erfahren (1,20). Das geistgewirkte Wort kann allein im Geiste ausgelegt werden. Nur - auf den Geist berufen sich auch und gerade die Häretiker, und so steht dann wieder Auslegung gegen Auslegung. In dieser Situation begründet Petrus die Zuverlässigkeit des eigenen Geistbesitzes mit dem Verweis auf die Tradition, die durch ihn gesichert wird. Er hat kurz vor seinem Tod ein Testament abgefaßt, auf das man sich in den gegenwärtigen Schwierigkeiten berufen kann (1,13/5). Damit die Behauptung, in der Tradition zu stehen, nicht nur formal ergeht, wird sie auch inhaltlich gefüllt. Petrus war Zeuge der Verklärung, als er mit Jesus auf dem heiligen Berge weilte (1,18). Diese Augen- und Ohrenzeugenschaft aber garantiert, daß Petrus, die anderen Zeugen und die Gemeinden, die nun in dieser Traditi9n stehen, die schriftgemäße Auffassung von der Wiederkunft Christi besitzen und nicht als Anhänger ausgeklügelter Fabeln in die Irre gehen (1,16)55. Damit das paulinische Kerygma von der
54 55
MARxsBN 206. Ebd. 207.
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Wiederkunft nicht zum bloßen Mythos wird, bestätigt Petrus es aus seiner Kenntnis der Worte des irdischen J esus56 • Für Paulus ergibt sich daraus: Auch wenn er nicht zu den Zeugen vom Berge Tabor gehört, Petrus bezeugt, daß Paulus in derselben Tradition steht wie er selbst. Das bedeutet keine Unterordnung des Paulus unter die urapostolische Autorität, wohl die Eingliederung des paulinischen Kerygmas in die Gesamtverkündigung. Pauli Briefe sind nicht bequem, sie geben sogar Anlaß zu Mißverständnissen, doch damit steht er nicht allein. Auch das Johannesevangelium war um die Mitte des 2. Jahrhunderts nicht unangefochten57 • Dennoch ist die Kirche nicht gewillt, diese hervorragenden Zeugnisse der Verkündigung aufzugeben. Sie zu sichern, abzugrenzen und ihr authentisches Verständnis festzulegen ist die Aufgabe, die mit fortschreitender Zeit immer dringlicher wird. Der 2. Petrusbrief gehört zu den Schriften, die das Ringen um das richtige Schriftverständnis und den Anspruch der Kirche auf die Schriften des werdenden neutestamentlichen Kanons deutlich markieren. Man kann in dieser Entwicklung die Bindung des Geistes an Tradition und Amt sehen58 und sie als frühkatholischen Abfall von der geistgewirkten Selbstevidenz des Wortes beklagen; aber sie hat Paulus der Kirche erhalten und den Briefen des Apostels eine hervorragende Stellimg im Kanon gesichert. Daß die Kanonisierung des Paulus geschehen sei, um ihn unschädlich zu machen, ist eine Behauptung, die auch durch zahllose Wiederholungen nicht richtiger wird59 • Sie beantwortet vor allem nicht die Frage, warum man Briefe nicht missen wollte, deren Inhalt man angeblich ablehnte. 56
MUSSNER, Petrus und Paulus 67; vgl. VON CAMl'ENHAUSEN, Bibel 140f. VON LoEWENICH, Johannes-Verständnis 4; 141; R. ScHNACKENBURG,
Das Joharuiesevangelium 1 = HThK 4 (Freiburg 1965) 171/82. 58 So MARxsEN 208, obwohl gerade der 2. Petrusbrief darauf verzichtet - ganz im. Gegensatz zu den Pastoralbriefen -, "amtliche" Autoritäten für die Sicherung der Wahrheit namhaft zu machen; vgl. KNOCH 69f. 59 Nach SCHUIZ, Mitte der Schrift 306f., wird Paulus vom 2. Petrusbrief den Gnostikern entrissen und zum Vorläufer und Begründer der frühkatholischen Großkirche, er wird für die Laien auf den "Index" gesetzt und der nicht verständliche Rest in seinen Briefen zum Reservat für den elitären Klerus erklärt. Ähnlich KLEIN 103f. 57
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7. Ignatius von Antiochien Mit Ignatius' von Antiochien tritt nach vielen anonymen Schriftstellern aus nachapostolischer Zeit zum ersten Mal wieder eine faßbare und eigenwillig geprägte Persönlichkeit in das Blickfeld der Untersuchung1 . Etwas mit Paulus Verwandtes sticht sofort in die Augen - nicht nur wegen der Fonn der Briefe, die überwiegend an Gemeinden der paulinischen Missionsgebiete gerichtet sind2 • Eine alte Bischofsliste nennt Ignatius nach Evodius als zweiten Bischof von Antiochien3 , der Stadt also, die als die Wiege des Heidenchristentums angesehen werden darf und in der Paulus längere Zeit gewirkt hat (Apg 11,19/26)4. Hier muß zuerst das gesetzesfreie Christentum hellenistischer Judenchristen aufgeblüht sein; hier haben hellenistische Einflüsse vieHacher Art auf die Christusverkündigung eingewirkt; sie haben die paulinische Theologie .mitgefärbt- und sind später neben der mächtigen paulinischen Strömung in den hellenistischen Gemeinden weiter spürbar geblieben. Beachtet man, daß die antiochenisehe Theologie nicht von Paulus allein geschaffen worden ist, sondern auf Paulus selbst anregend gewirkt hat, Ignatius also in einer paulinischen Tradition steht, in der einzelne Elemente der paulinischen Theologie bereits vorausgehen, Ignatius selbst wieZur Person und zum Werk des Antiochener Bischofs vgl. die knappe Skizze bei I.JETZMANN, Geschichte 1,251/64; Hinweise zur neueren Ignatiusliteratur bei K. BOMMES, Weizen Gottes. Untersuchungen zur Theologie des Martyriums bei Ignatius von Antiochien = Theophaneia 27 (Köln-Boon 1976) 16/9; K. NIEDERWIMMER, Grundriß der Theologie des Ignatius von Antiochien (Diss. Wien 1956) 95/7, Anm. 11. . 2 Zur Frage der Authentizität der 19oatiusbriefe vgl. neuestens J. RIUs-CAMPs, Las Cartas autenticas de Ignacio, el obispo de Siria: Revista Catalania de Teologia 2 (1977) 311149; bezügl. epistolographischer Übereinstimmungen zwischen Paulus und Ignatius vgl. H. J. SIEBEN, Die Ignatianen als Briefe. Einige formkritische Bemerkungen: VigChr 32 (1978) 1/18. 3 Eusebius, Hist. eccl. 3,22; ibid. 3,36,2 bezeichnet er ihn als den zweiten Nachfolger des Petrus. . 4 Allerdings scheint Paulus bald nach seiner Reise nach Jerusalem (Gal2,1) die Stadt für immer verlassen zu haben; vgl. Kuss, Paulus 48/50; 60; V. CORWIN, St. Ignatius and Christianity in Antioch = Yale Publications in Religion 1 (New Haven 1960) 48. 1
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derum eine impulsiv-schöpferische Persönlichkeit ist und nicht als: bloßes Sprachrohr der antiochenischen Gemeindetheologie angesehen werden kann (weniger jedenfalls als der Verfasser des 1. Klemensbriefes), dann wird deutlich, daß die Beurteilung des Paulinismus bei Ignatius nicht leicht ist und in der wissenschaftlichen Literatur auch sehr gegensätzliche Antworten gefunden
hat.
Paulus und Johannes Hinzu kommt etwas anderes. Auffällig und unbestreitbar besteht neben dem Einfluß von gemeindetheologischen und gnostisch-mysterienhaften Elementen6 - unabhängig von einer Entscheidung über Tatsächlichkeit und Ausmaß literarischer Beziehungen' - eine "geistige" VelWandtschaft zwischen Ignatius und Johannes8 • Zwar gibt es auch Unterschiede, aber die liegen H. RATHKE, Ignatius von Antiochien und die Paulusbriefe = TU 99 (Berlin 1967) 5/11. _. 6 H. W. BARTSCH, Gnostisches,taut und Gemeindetradition bei Ignatius von Antiochien = BFChTh 2,44 (Gütersloh 1940). 7 Die Auffassung von H. ScHLffiR, Religionsgeschichtliche UntersucHungen zu den Ignatiusbriefen = Beiheft 'ZNW 8' (Gießen 1929) ~ 77, für den paulinischen Epheserbrief und das Johannesevangelium könne eine Abhängigkeit des Ignatius "weder im Sinne der Kenntnis jener, geschweige" denn einer literarischen Beriihrung mit ihnen" angenommen werden, scheint auch durch die Behauptung von .eh. MAURER, Ignatius von Antiochien und das Johannesevangelium = AThANT 18 (Zürich 1949) 100, Ignatius habe das 4. Evangelium gelesen und zumindest drei johanneische Zitate - wenn auch sinnentstellend - verwendet, nicht widerlegt zu sein. Vgl. H. KÖSTER, Geschichte und Kultus im Johannesevangelium und bei Ignatius von Antiochien: ZThK 54 (1957) 56f. 8 R. BUL1MANN, Ignatius und Paulus: Studia Paulina. Festschrift J. de Zwaan (Haarlem 1953) 37/51 (nachgedruckt in: R. BUL1MANN, Exegetica, hrsg. v. E. DlNKLER [Tübingen 1967] 400/11); K. BBYSCHLAG, Clemens Romanus und der Frühkatholizismus = BHTh 35 (Tübingen 1966) 44, Anm. 1; E. VON DER GoLTZ, Ignatius von Antiochien als Christ und Theologe. Eine dogmengeschichtliche Untersuchung = TU 12,3 (Leipzig 1894) 119/44; BARTSCH 67/9; BoMMBS 17f.; 2Of.; 114; H. PAULSBN, Studien zur Theologie des ·Ignatius von Antiochien = FKDG 29 (Göttingen 1978) 36f.
5
127
stärker im Charakter der Schriften, der Personen und Situationen als in den theologischen Grundpositionen. VON LoEWENICH beschreibt sie ein wenig verklärend so: "Die Ignatianen sind im besten Sinne Gelegenheitsschriften, das Joh-Ev ist trotz seiner Polemik zeitlos, wie der Christus, den es verkündet ... Bei Ignatius drängt die Zeit auf die Ewigkeit, bei Joh ist die Zeit in der Ewigkeit und die Ewigkeit in der Zeit ... In Ignatius brennt das göttliche Feuer, in Joh leuchtet das göttliche Licht. Ignatius reißt seine Leser mit, Joh bannt sie. Bei Ignatius haben wir es mit Enthusiasmus zu tun, bei Joh mit Kontemplation"9. Demgegenüber stehen eindeutig inhaltliche Parallelen: in der Christologie die Betonung der Gottheit Christi und ein betont antidoketisches Interesse, in der Soteriologie die Beschreibung des von Christus gebrachten Heiles als Leben (auch als Wirkung der Eucharistie) und eine Konzentration auf die Einheit der Gläubigen mit dem Vater und dem Sohn, des weiteren eine Erweiterung der Frömmigkeit von der Christusmystik (bei Paulus) zur GottesmystiklO . Bezogen auf das früher angedeutete Verhältnis zwischen Paulus und Johannes ist an dieser Stelle zu fragen, ob sich der ignatianisehe Paulinismus nochmals verbirgt, indem einzelne Gedanken im johanneischen Gewande auftauchen - vorsichtig formuliert und um extreme Positionen zu vermeiden, die entweder einen Gegensatz von paulinisehen und johanneischen Elementen bei Ignatius konstatieren oder aber den paulinischen Einfluß doppelt sehen, einmal durch die Paulusbriefe selbst, "zum anderen durch seinen [Paulus] größten Schüler, den Evangelisten Johannes" 11.
Johannes-Verständnis 26f. und weitere übereinstimmungen bei VON LoEWENICH, Johannes-Verständnis 27/32. MAURER 100/2 betont bei aller inhaltlichen übereinstimmung stärker die sachlichen Unterschiede. Vgl. KOSTER 69. 11 So ALEITH, Paulusverständnis 22; vgl. ebd. 24f.: "paulinisch empfunden und johanneisch ausgesprochen".
51 VON LoEWENICH, 10 Einzelnachweise
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Literarische Kenntnis und VelWertung der Paulusbriefe t., "
Daß Ignatius Paulusbriefe gekannt hat, ist nie ernsthaft bestritten worden; äußerst kontrovers dagegen ist bis in die neueste Zeit das angenommene Ausmaß dieser Kenntnis. Vorsichtig skeptisch rirte~t ScHNEEMELCHER. In Eph. 12,H. schreibt Ignatius: "Ich weiß~ wer ich bin und wem ich schreibe. Ich bin ein Verurteilter, ihr habt Erbarmen gefunden; ich bin in Gefahr, ihr seid gefestigt. Ihr seid Durchgangspunkt für die, die zu Gott befördert werden, Miteingeweihte von Paulus, des Geheiligten, des Wohlbezeugten, Preiswürdigen - in dessen Spuren ich erfunden werden möge, wenn ich zu Gott gelange -, der in jedem Brief euer gedenkt in Christus Jesus"12 . Bei allem Paulusenthusiasmus dieser Stelle, ScHNEEMELCHER stößt sich an der letzten Bemerkung: " ... der in jedem Brief euer gedenkt", denn, so wendet er ein, "die Gemeinde von Ephesus wird bei Paulus nur in 1 Kor 15,32 und 16,8 elWähnt; dazu kommt die ElWähnung in den Pastoralbriefen" (1 Tim 1,3; 2 Tim 1,18; 4,12), die ScHNEEMELCHER jedoch nicht für paulinisch hält und bei denen es fraglich ist, ob sie zur Zeit des Ignatius überhaupt schon existierten13 • Dann wird die Gemeinde von Ephesus noch in der Grußadresse des paulinisehen Epheserbriefes genannt, aber auch hier ist unsicher, ob die Anschrift ursprünglich und der Brief von Paulus ist. Aus alledem folgert ScHNEEMELCHER : "Man kann also für die Aussage des Ignatius, Paulus elWähne die Epheser in jedem seiner Briefe, keinen ausreichenden Beleg beibringen und muß dann wohl vermuten, daß Ignatius kaum eine größere Kenntnis der Paulusbriefe gehabt hat"14. Vielleicht ist das zu scharfsinnig beobachtet. Gemessen an der Genauigkeit des Historikers und Philologen hat Ignatius mit seiner Formulierung natürlich unrecht. Man hat versucht, die Unstimmigkeit mittels einer anderen übersetzung von Eph 12,2 zu beheben: Paulus, der nicht in jedem, aber "in einem ganzen übersetzung nach FIscHER, Apostolische Väter 151/3. ScHNEEMELCHER, Paulus in der griechischen Kirche 5. 14Ebd. 12 13
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Brief (d. h .. dem paulinischen I Epheserbrief) euer gedenkt" 15. Diese Lösung hat jedoch als Schwierigkeit gegen sich, daß Ignatius dann einen echten pauIinischen Epheserbrief gekannt haben müßte. Nun werden zwar von vielen Forschern Beziehungen zwischen dem deuteropaulinischen Epheserbrief und den ignatianischen Briefen angenommen, die Art der Abhängigkeit läßt aber nach SCmJER eher vermuten, "daß der neutestamentliche Epheserbrief von Ignatius geschrieben ist, als daß Ignatius ihn literarisch oder gedanklich benützt hat"16. Hinzu kommt die Unsicherheit, ob der deuteropaulinische Brief zur Zeit des Ignatius überhaupt schon als Brief an die "Epheser" bekannt war17• RATHKE geht daher einen anderen Weg und interpretiert das der Epheser "in Christus gedenken" als das unablässig betende Gedenken des Apostels für alle Gemeinden, in das die ephesinisehe Gemeinde immer miteingeschlossen istl8 • Daß "gedenken" bei Ignatius so viel wie "beten" heißen kann, sei unbestritten, ebenso das unablässige Gebet des Apostels, die Sorgen um alle Gemeinden (Röm 1,9; 2 Kor 11,28; 1 Thess 1,2f.). Dieses Beten beschränkt sich aber nicht auf ein Gedenken in den Briefen. Daß Paulus der Epheser beständig betend gedenkt, stimmt somit an sich, erklärt aber nicht die Formulierung im ignatianischen Eph 12,2. Wahrscheinlich ist das "in jedem Brief" nichts anderes als eine Übertreibung, die Ignatius häufiger unterläuft (vgl. Röm 4,1)19. Ausdruck und Stil des Bischofs sind überschwenglich; besonders gegenüber der Gemeinde von Ephesus bekundet er ehrerbietige Hochschätzung und zugleich herzliche Zuneigung 15
FIsCHER, Apostolische Väter 153, Anm. 53 greift diese Möglichkeit wieder
16
auf. ScmJER 172; ergänzend vgl. E. KÄSEMANN, Das Integrationsproblem des Epheserbriefes: Exegetische Versuche und Besinnungen 23 (Göttingen 1970) 261.
ScHNEEMELCHER, Paulus in der griechischen Kirche 5; vgl. VmUlAUER, Urchristliche Literatur 215, Anm. 22. 18 RAnIKE 2lf. 19 W. BAUER, Die Briefe des Ignatius von Antiochien und der Polykarpbrief = H:NT Erg. Bd. (Tübingen 1920) 212; VON CAMl'ENHAUSEN, Bibel 170, Anm.188. . 17
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(vgl. Eph. Praescr.; 2,2; 8,1; 9,2). BoMMES führt sie auf die enge Beziehung zurück, die zwischen der Kirche von Ephesus und dem Apostel-Martyrer Paulus bestand, seinem großen Vorbild, wie Ignatius Eph. 12,2 eigens betonfO, und die sich im Gedenken des Apostels "in jedem Brief" ausdrückt. Sachlich falsch, paßt die Bemerkung gleichwohl vortrefflich in den Lobpreis der ephesinischen Gemeinde durch Ignatius. über die unklare Stelle Eph. 12,lf. hinaus hält SCHNEEMELCHER auch die übrigen übereinstimmungen, die als Beweis für eine literarische Kenntnis und Benutzung der Paulusbriefe durch Ignatius angegeben werden, für wenig überzeugend. Sie sind in seinen Augen nicht mehr als Anklänge, die keine literarische Abhängigkeit voraussetzen. Wenn Ignatius z. B. sagt, Jesus Christus stamme "aus dem Samen Davids" oder "dem Fleische nach aus dem Geschlechte Davids" (Eph. 18,2; 20,2), dann muß das kein Zitat aus Röm 1,3 sein, sondern kann auf eine in der Kirche weit verbreitete, schon vorpaulinische Formel zurückgehen21 . Wenn Ignatius den Polykarp mahnt: "Ertrage alle in liebe, wie du ja auch tust" (Polyk. 1,2), so scheint es ScHNEEMELCHER "an den Haaren herbeigezogen zu sein, hier ein Zitat aus dem paulinischen Epheserbrief (4,2: ,Ertraget einander mit aller Demut und Sanftmut, mit Geduld und in liebe') zu sehen"22. Wenn überhaupt, dann hat Ignatius höchstens einen einzigen Paulusbrief gekannt, und zwar den 1. Korintherbrief. Aber selbst das erscheint SCHNEEMELCHER nicht über allen Zweifel erhaben; denn die fünf Korintherbriefstellen, die Ignatius an sechs Stellen seiner Briefe zitiert, enthalten wiederum nur Formulierungen, die traditionell sein können. Sie bestärken ScHNEEMELCHER in seiner Vermutung aus der Falschmeldung in Eph. 12,lf., "daß Ignatius gar keine Paulusbriefe gekannt oder gelesen hat. Es braucht kaum betont zu werden, daß er, wenn er doch Briefe des Apostels je gesehen haben sollte, diese nicht als Heilige Schrift gelesen hat. Denn einen Kanon des Neuen Testaments hat es zur Zeit des BoMMES 201, Anm. 379. ScIiNEEMELCHER, Paulus in der griechischen Kirche 5. 22 Ebd. 5f. 20
21
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Ignatius noch nicht gegeben"23. Wenn ein fehlender Kanon die mögliche Existenz einer paulinisehen Briefsammlung und ihre Kenntnis seitens des Ignatius auch nicht grundsätzlich ausschließt, ScHNEEMBLCHER bleibt dabei: "Es ist nicht beweisbar, ja es ist unwahrscheinlich, daß Ignatius eine solche Briefsammlung der paulinisehen Briefe gekannt hat"24. Andere Forscher sind weniger skeptisch in der Beurteilung eines literarischen Paulinismus bei Ignatius. Neben Bekundungen allgemeiner Art, "daß Ignatius die Paulusbriefe kennt und gedächtnismäßig benutzt"25, gibt es genauere Untersuchungen über Umfang und Intensität der Kenntnis der paulinisehen Briefe durch den Antiochener Bischof, die bei Unterschieden im Detail insgesamt zu dem Schluß kommen, Ignatius habe mit Sicherheit den 1. Korinther-, Römer- und Epheserbrief gekannt, vielleicht auch die Briefe an die Galater, Philipper und Kolosser und möglicherweise noch den 2. Korintherbrief, die Thessalonicherbriefe und den Brief an Philemon26 • RATHKE, der ein eigenes Kapitel der "literarkritische(n) Untersuchung der Beziehungen zwischen Ignatiusbriefen und Paulusbriefen" widmet, auf die Argumente und Folgerungen ScHNEEMELCHERS dabei leider nicht eingeht27 , vermerkt neben kürzeren Anklängen28 drei deutliche Zitate aus dem 1. Korintherbrief. Im ignatianischen Röm. 5,1 ist es die im Zusammenhang mit den Mißhandlungen durch die Wachmannschaft stehende Wendung: "Dadurch bin ich aber noch nicht gerechtfertigt", die auf 1 Kor 4,4 verweist29 ; die Fragen im igna23Ebd.6. 24Ebd. 25 ScHl..mR 177; vgl. BARNARD, Apostolic Fathers 28; MAURER 22. 26 VON DER GoLTZ 178/84; MAssAux, Influence 117/30; M. RACKL, Die Christologie des heiligen Ignatius von Antiochien = FreibThSt 14 (Freiburg 1914) 312/4; BARNBTf, literary Influence 152/70, HAGNBR, Use of the Testaments 283f.; zu Philemon vgl. noch J. H. CRBHAN, A New Fragment of Ignatius' Ad Polycarpum: Studia Patristica 1 = TU 63 (Berlin 1957) 24/6; PAULSEN 32/4. 27 Die einzige und dazu noch unzutreffende Erwähnung bei RA1HKE 6, Anm. 4, läßt vermuten, daß er SCHNBMBLCHERs Aufsatz nicht hat einsehen können. 28 Ebd. 38f. 29 Ebd. 28/30.
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tianischen Eph. 18,1 "Wo ist ein Weiser? Wo ein Forscher? Wo der Ruhm derer, die man Verständige nennt?" erkennt RATHKE in 1 Kor 1,20 wiedero; und die Mahnung 1 Kor 6,9 "Täuscht euch nicht. Weder Unzüchtige noch Götzendiener noch Ehebrecher ... werden das Reich Gottes erben" kommt zwar nicht wörtlich, aber doch literarisch eindeutig identifizierbar gleich zweimal bei Ignatius in Eph. 16,1 und Philad. 3,3 vor 1 • Um wirkliche Zitate handelt es sich allerdings auch hier nicht, eher um Erinnerungen, bei denen dann Wendungen bzw. Satzteile zufällig oder gewollt mit paulinischen Formulierungen übereinstimmen. In welchem Umfang man solche mehr oder weniger deutlichen Anklänge als einen bewußten Rückgriff auf paulinische Briefe gelten läßt, muß verständlicherweise unentschieden bleiben; daß bei der Vielzahl von Formeln, Schemata und Wortspielen, die paulinische Eigentümlichkeiten aufweisen, und angesichts von 70 Wörtern im ignatianischen Wortschatz, die sich innerhalb des Neuen Testaments ausschließlich, sowie weiteren 173, die sich überwiegend bei Paulus vorfinden32 , Ignatius Paulusbriefe gekannt haben muß, läßt sich aber nicht bestreiten. So charakteristische Vokabeln wie Fehlgeburt (EX"q~roJ.«l) oder Unrat (3tEQhl'TJIUl) werden schwerlich anders als aus dem 1. Korintherbrief in den ignatianischen Sprachgebrauch geflossen sein33 . Die Wortstatistik bestätigt somit, daß Ignatius sicher mit dem 1. Korinthersowie dem Römer- und Epheserbrief vertraut war, daneben "bis in kleinste Stilfeinheiten Spuren fast aller paulinischen Briefe festzustellen sind"34. Braucht ScHNEEMm..CHERS Skepsis, was die Kenntnis von Paulusbriefen durch Ignatius angeht, auch nicht in vollem Umfang geteilt zu werden, so trifft natürlich seine Feststellung zu, daß die Paulusbriefe zur Zeit des Ignatius im kanontechnischen Sinn
Ebd. 30/3. Ebd. 33/7. 3Z Ebd. 53/64, bes. 60. 33 Vgl. Ignatius, Röm 9,2 mit 1 Kor 15,8; Ignatius, Eph. 8,1; 18,1 mit 1 Kor 4, 13. 34 RA1HKE 65. 30
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noch nicht zur Heiligen Schrift gehören, ja Ignatius schreibt, bevor es eine als solche geltende Schrift des Neuen Testaments überhaupt gegeben hat. Die Auswirkungen dieser Tatsache auf die Beurteilung der Bibel- bzw. Paulusnähe einer urchristlichen Schrift sind von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Die Verkündigung - auch die schriftlich formulierte - kann zur Zeit des Ignatius noch ganz aus der mündlichen überlieferung der Jesusereignisse und -worte durch die Zeugen und ihre Nachfolger leben. Man ist noch nicht genötigt, sich auf schriftliche Dokumente zu berufen, wenn man, in dieser lebendigen überlieferung stehend, predigt. Kann sich Ignatius mit seinen Gegnern über den christlichen Sinn des Alten Testaments nicht einigen, zieht er sich auf Christus, sein Kreuz, seinen Tod und seine Auferstehung direkt zurück. Die Ereignisse selbst, nich+ Texte, sind die "Urkunden", auf denen sein Glaube gründet (Philad. 8,2)35. Daß es um dieselbe Zeit angesichts der Gefahr häretischer Verfälschung bereits dringlich wird, sich auf den überlieferungsbestand im schriftlich niedergelegten Wort zurückzuziehen, beweist der 2. Petrusbrief. Dieses Bemühen setzt aber nicht gleichzeitig und bei allen Schriftstellern in gleichem Maß ein. Vi~lleicht darf man vermuten, je selbstbewußter, schöpferischer, autoritativ begabter ein Schriftsteller wa~6, um so weniger fühlte er sich veranlaßt, seine Verkündigung durch Zitate abzusichern, zumal wenn sie noch keine kanonische Unantastbarkeit besaßen. Daß sich im ignatianischen Schrifttum keine längeren wörtlichen Pauluszitate finden, braucht daher nicht zu befremden. Nicht nur die Eile, in der die Briefe geschrieben worden sind auf der Reise nach Rom, "Tag und Nacht an zehn Leoparden gefesselt" (Röm 5,1)37, die Erregung der Stunde unter dem Anhauch des Geistes angesichts VON CAMPENHAUSEN, Bibel 86f. Ober die geistgewirkte Autorität des Ignatius im Zusammenhang mit seinem Martyrium vgl. BOMMES 208/13; über das gnostische Verständnis der Apostel, deren Worte sich der Pneumatiker "freimütiger bedienen darf", vgl. H. ScHLIER, Christus und die Kirche im Epheserbrief = BHTh 6 (Tübingen 1930) 47; RA'IHKE 40. 37 St. L. DAVIES, Tbe Predicament of Ignatius of Antioch: VigChr 30 (1976) 175/80.
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des bevorstehenden Martyriums, haben Ignatius gehindert, einen Codex paulinischer Briefe mit sich zu führen und nachzuschlagen38. Er ist grundsätzlich nicht der Typ des Schriftgelehrten; seine charismatisch bewegte Verkündigung fußt nicht auf Dokumenten. Außer einigen wenigen alttestamentlichen Zitaten (z. B. in Eph. 5,3; Mgn. 12 und Trall. 8,2)39 sowie einem (ausgerechnet) apokryphen Herrenwort in Smym. 3,240 finden sich bei Ignatius auch keine wörtlichen Anführungen aus den Evangelien oder den übrigen neutestamentlichen Schriften41 . Angesichts dieser Beobachtungen darf das Fehlen von wörtlich zitierten Paulustexten nicht dazu führen, Ignatius mangelnde Kenntnis oder fehlendes Interesse an Paulus zu unterstellen, ehe nicht der Umfang inhaltlicher theologischer übereinstimmungen geprüft ist. Inhaltlicher Paulinismus Am deutlichsten paulinisch geprägt ist nach dem Urteil aller Erklärer die ignatianische Christologie. RATIIKE spricht von einem "Christuspathos" , in dem Ignatius Paulus noch zu übertreffen vermag42 , VON LoEWENICH von einer christozentrischen Haltung und Christusmystik im Sinne von Gal 2,2043 , BUL1MANN davon, "daß Ignatius die Todes- und Lebensgemeinschaft mit Christus wie Paulus in ihrem existentiellen Sinne verstanden hat"44. Das für Paulus charakteristische "in Christus" wiederholt sich in auffälliger Häufung in den ignatianischen Briefen4s ;, das Vgl. RATHKE 40; BARNARD, Apostolic Fathers 19. Vgl. VON CAMPENHAUSEN, Bibel 88, Anm. 64; dazu KöSTER, Synoptische überlieferung 25. Die Zahl der angenommenen wirklichen Zitate schwankt zwischen 1 und 10; vgl. BOMMES 114f., Anm. 223. 40 FIsCHER, Apostolische Väter 207, Anm. 19. 41 KÖSTER, Synoptische überlieferung 60f.; RATHKE 26. 42 RATHKE 9lf. 43 VON LoEWENICH, Johannes-Verständnis 27, Anm. 1. 44 BULTMANN 49. 45 Vgl. die umfassenden Quellen- und Literaturnachweise bei BOMMES 122/32; RACKL317.
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Ärgernis des Kreuzes ist für Ignatius wie für Paulus entgegen dem Urteil der Weisen und Verständigen dieser Welt Rettung und Leben (Eph. 18,1 und 1 Kor 1,18/24). In der Beschreibung der gott-menschlichen Wirklichkeit Jesu begnügt sich Ignatius allerdings nicht mit paulinischen Andeutungen oder dem feierlichen Klang johanneischer Formulierungen, sondern schreitet zu präzisen theologischen Definitionen vor, die den nachfolgenden Theologen - ob des Ansehens des Antiochener Bischofs - nicht selten Schwierigkeiten gemacht haben46 . Die Lehre von der Idiomenkommunikation vorwegnehmend, schreibt Ignatius: "Einer ist Arzt, aus Fleisch zugleich und aus Geist, gezeugt und ungezeugt, im Fleische erschienener Gott, im Tode wahrhaftiges Leben, aus Maria sowohl wie aus Gott, zuerst leidensfähig und dann leidensunfähig, Jesus Christus, unser Herr" (Eph. 7,2)47. Was Paulus nur hymnisch überhöht auszusprechen wagt, die Gottgleichheit Jesu, des Herrn (Phil2,2), wird von Ignatius unbedenklich formuliert und ohne Scheu kontrastiert mit massiven Aussagen, die, antidoketisch zugespitzt, die wahre Menschheit, das Leiden und Sterben des Gottes Jesus betonen: "Denn unser Gott, Jesus, der Christus, wurde von Maria im Schoße getragen, nach Gottes Heilsplan aus Davids Samen und doch aus heiligem Geiste; er wurde geboren und getauft, um durch sein Leiden das Wasser zu reinigen" (Eph. 18,2)48. Unüberhörbar ist der antignostische Akzent, wenn der Bischof die Magnesier mahnt, nicht in die Angeln leeren Wahns zu geraten, vielmehr vollkommen überzeugt zu sein von der Geburt, dem Leiden und der Auferstehung, die während der Regierungszeit von Pontius Pilatus erfolgte (Magn. 11). Christus wurde wirklich geboren, er aß und trank, wurde verfolgt und gekreuzigt und starb vor den Augen derer, die im Himmel, auf Erden und unter der Erde sind, er wurde wirklich von den Toten auferweckt, "indem sein Vater ihn auferweckte; dementsprechend wird sein Vater auch uns, die an ihn glauben, ebenso auferwecken in Chri46
LmrzMA.NN, Geschichte 1, 257/9.
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übersetzung nach FISCHER, Apostolische Väter 147/9. Ebd. 157.
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stus Jesus, ohne den wir das wahre Leben nicht haben" (Trall. 9)49. In Gnade zusammenkommen sollen die Epheser "in einem Glauben und in Jesus Christus, der dem Fleische nach aus dem Geschlechte Davids stammt, dem Menschensohn und Gottessohn, um dem Bischof und dem Presbyterium mit ungeteiltem Sinn Gehorsam zu bezeugen und ein Brot zu brechen, das Unsterblichkeitsarznei ist, Gegengift, daß man nicht stirbt, sondern lebt in Jesus Christus immerdar" (Eph. 20,2)50. Manche Wendungen werden schon formelhaft wiederholt; sie lassen auf Glaubensbekenntnisse und Hymnen schließen, die Ignatius aufgreift und in Einzelzügen variiert51 • Unüberhörbar sind aber auch die paulinischen Reminiszenzen: die Geburt aus Davids Samen (Röm 1,3) nach Gottes Heilsplan (Eph 1,10; 3,9), die Zeugenschaft derer, die im Himmel, auf Erden und unter der Erde sind (Phil 2,10), die Auferweckung Jesu durch den Vater, die Auferweckung derer, die an Christus glauben (Röm 6,4f. u.a.m.). Auch die betonte Unterordnung des Sohnes unter den Vater und sein vorbildlicher Gehorsam sind an sich gut paulinisch, bekommen allerdings ein typisch ignatianisches Gefälle, wenn das Verhältnis des Sohnes zum Vater in Parallele gesetzt wird zur Unterordnung der Gemeinde unter den Bischof (Smyrn. 8,1; Magn. 7,1). Auf die ebenfalls beigemischten johanneischen Züge soll nicht eigens eingegangen werden; wenigstens paradigmatisch hingewiesen sei auf die bekannte Stelle in Eph. 19,1/3, in der mythische Vorstellungen die Ausführungen mitbestimmen. Im Anschluß an das Bekenntnis der wirklichen Menschwerdung Jesu schreibt Ignatius: "Und es blieb dem Fürsten dieser Welt die Jungfrauschaft Marias und ihre Niederkunft verborgen, ebenso auch der Tod des Herrn - drei laut rufende Geheimnisse, die in Gottes Stille vollbracht wurden." Den Äonen sind sie geoffenbart worden durch einen hell leuchtenden Stern, der Staunen erregte Ebd.179. Ebd. 159/61. 51 Vgl. ebd. 149, Anm. 32 zu Ignatius, Eph. 7,2; ebd. 169, Anm. 44 zu Magn. 11; ebd. 179, Anm. 37 zu Trall. 9,2.
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und Befremden.über seine Neuheit. Diese Offenbarung Gottes in Menschengestalt hatte zur Folge "die Auflösung aller Zauberei und das Verschwinden jeglicher Fessel der Bosheit; die Unwissenheit wurde beseitigt, die alte Herrschaft ausgerottet ..., als seinen Anfang nahm, was bei Gott bereitet war"S2. Alle diese mythischen Bilder in poetischer Sprache verlangen danach, auf ihren religionsgeschichtlichen Hintergrund hin untersucht zu werden53 ; hier muß es genügen, auf die Unbefangenheit aufmerksam zu machen, mit der gnostisches Gut zum Sprachkleid und Vorstellungsmaterial der christlichen Verkündigung wird. Vermuten möchte man eine natürliche Verwandtschaft des Geistes zwischen der religiösen Begabung des Ignatius. und der Mentalität gnostischer Religiosität mit der Glut ihrer Hymnen. Die Faszination, die diese Bewegung auf die mystisch begabten Gläubigen in der Kirche ausüben konnte, ist deutlich spürbar. Ober die deuteropaulinischen Briefe ist aber noch diese gnostisch gefärbte Soteriologie mit Paulus selbst verbunden. Der Gedanke der göttlichen Geheimhaltung des Heilsplanes und der dadurch erreichten Oberlistung der Dämonen findet sich bereits beim Apostel, wenn er von der Weisheit spricht, die er verkündet unter den Vollkommenen. Freilich ist es nicht irdische Weisheit, vielmehr "die geheimnisvolle Gottesweisheit, die verborgen war, die Gott vor, den Weltzeiten zu unserer Verherrlichung vorherbestimmt hat. Die hat keiner von den Herrschern dieser Weltzeit erkannt; denn wenn sie sie erkannt hätten, würden sie den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt haben" (1 Kor 2,6/8). Aufgegriffen wird dieser Gedanke im Kolosser- und Epheserbrief (Kol 1,26; Eph 3,4/11) und weiterhin dann von Ignatius, der das ganze Erlösungswerk bis hin zum Abstieg Christi in den Hades (Philad. 5,2; Magn. 9,2) als göttlichen Heilsplan auf den neuen Menschen Jesus Christus hin betrachtet, weil in Jesus als dem fleischgewordenen Gott ein neuer Mensch erschienen ist, der die Menschheit mit neuem Leben beschenkt hat (Eph. 20,1). Die 52 53
Ebd. 157/9. Vgl. ScHLIER 5/32; in anderer Verhältnisbestimmung von gnostischem Mythos und Gemeindetheologie interpretiert BARTSCH 140/59.
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Vorstellung von dem neuen Menschen ist ebenfalls aus den Erörterungen des Paulus über den neuen Adam bekannt (Röm 5,12/21) und wird in den deuteropaulinischen Briefen weitergeführt (Kol 3,9; Eph 4,24), wie ja auch der deuteropaulinische Epheserbrief für den die paulinische Theologie bestimmenden Gedanken vom Heilsplan Gottes den Namen Oikonomia geprägt hat, der ebenso den ignatianischen Epheserbrief durchzieht (vgl. 6,1; 18,2; 20,1)54. Weitere unverkennbar paulinische Gedankengänge finden sich bei Ignatius. In. Eph. 8,2 schreibt der Bischof: "Die Fleischlichen können das Geistliche nicht tun und die Geistlichen nicht das Fleischliche, wie auch der Glaube nicht die Werke des Unglaubens und der Unglaube nicht die des Glaubens." Röm 8,5.8 und 1 Kor 2,14 wären hier zu vergleichen - aber auch Jo 3,6. Die paulinische Mahnung, den Leib als Glied des Leibes Christi und Tempel des Heiligen Geistes nicht durch Unzucht zu beflecken, sowie der apostolische Rat zu jungfräulicher Lebensweise (1 Kor 6f.) werden von Ignatius weitergeführt, wenn er völlige Enthaltsamkeit für wünschenswert hält, sofern sie geübt wird "zur Ehre des Fleisches des Herrn" (Polyk. 5,2)55. In zahlreichen ethischen Einzelanweisungen, bei den sogenannten Haustafeln, in der Betonung von Glaube und Liebe als Anfang und Ziel christlichen Lebens, wobei die Liebe wie in 1 Kor 13,13 den Glauben noch hinter sich läßt56 , stimmt Ignatius mit Paulus - einschließlich des deuteropaulinischen Kolosser- und Epheserbriefes - überein57 • Bei alledem darf jedoch nicht übersehen werden, daß gleiche Worte und ähnliche Satzteile Hand in Hand gehen können mit unpaulinischer Anwendung bzw. Auswertung58 • Ignatius überMICHEL, olxovO!'ta: ThW 5,155. Vgl. ALElTH, Paulusverständnis 25f., die bier eine Entwicklung sehen zu können glaubt, die von Paulus über Ignatius zu Irenäus führt, der die Vergottung des Leibes als Ideal vertritt. 56 R. SrAATS, Die martyrologische Begründung des Romprimats bei Ignatius von Antiocbien: ZThK. 73(1976) 468f. 57 Belege bei RA'IHKE 76f. 58 ScHLIER 177 spricht davon, daß Ignatius den Paulus "nachsprechend gedanklich umbiegt". Noch negativer urteilt - allerdi~ aufgrund eines fragwürdigen 54 55
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nimmt zwar so charakteristische Ausdrücke wie "Fehlgeburt" (E'K't'Qro"a) oder "Unrat" (";EQL1PTJ,...a)S9, verwendet sie dann aber in einem Paulus fremden Sinn60 . Auch in seiner Ethik hindern Ignatius vielfältig zu spürende paulinisehe Impulse61 nicht, andere Quellen auszuschöpfen62 . Für den Komplex Fleisch und Geist hat BUL1MANN die paulinischen und unpaulinischen Komponenten gegeneinander abgewogen. Nach ihm kann "Ignatius wie Paulus den Gegensatz zwischen dem Alten und dem Neuen als den Gegensatz zwischen Fleisch und Geist bezeichnen. Die Christen stehen als die ";VE'UJ'Ut'L7GOL [Geistlichen] den oaQ'KL'KOL [Fleischlichen] gegenüber (Eph. 8,2), und auch wenn Ignatius den Gegensatz aV{}Qromvo~ ";VE'UJ'U't'L'X6~ [menschlich-geistlich] bildet (Eph. 5,1; TraU. 2,1; Röm 8,1), so redet er wie Paulus (1 Kor 3,1.3). Der große Unterschied von Paulus ist der, daß für Ignatius das Fleisch nicht primär die Sphäre der Sünde, sondern die der Vergänglichkeit, des Todes ist"63. Auch die Erlösung beschreibt Ignatius weniger als Rechtfertigung von der Sünde - ci"aQ't'L(!l bzw. ci"aQt'Owro kommen überhaupt nur zweimal (Smyrn. 7,1 und Eph. 24,2) vor, ähnlich selten erscheint ÖL'KaLOoUvr) selbst und in den entsprechenden Abwandlungen64 - denn als Rettung aus der Vergänglichkeit. Das ignatianische Gegensatzpaar lautet nicht Sünde und Gerechtigkeit oder Gesetz und Gnade, sondern - an diesem Punkt Johannes mehr verwandt als Paulus - Leben (bzw. Wahrheit) und Tod65 . methodischen Ansatzes; vgl. dazu H. E. W. TuRNER: IThSt NS 1 (1950) 96/9Th. F. TORRANCE, The Doctrine of Grace in the Apostolic Fathers (London 1948) 57/77. Dagegen warnt KÖSTER, Synoptische überlieferung 57, Anm. 2 davor, die Diskrepanz zwischen literarischer Kenntnis und sachlichem Mißverstehen des Paulus durch Ignatius überzubetonen. 59 Vgl. S. 133, Anm. 33. 60 BoMMES 204; SCHuER 178. 61 P. MEINHOLD, Die Ethik des Ignatius von Antiochien: HJ 77 (1958) 50/62. 62 Vgl. die Verbindung von Glaube und Liebe mit der griechischen xaMmäyaiHa in Eph. 14,1; dazu RATHKE 77. 63 BULTMANN 45; vgl. ToRRANCE 63. 64 Vgl. Oavis Patrum Apostolicorum, ed. H. KRAFT (Darmstadt 1963) 27f.; l1Of. 65 BULTMANN 40/3; dazu SCHuER 179; BOMMES 253; RATHKE 70.
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Allerdings konstruiert BUL1MANN aus den terminologischen Unterschieden keinen sachlich-theOlogischen Gegensatz zwischen Ignatius und Paulus. Gewiß erwächst die ignatianische Theologie nicht aus der paulinischen Frontstellung des Römeroder Galaterbriefes, sie hat deswegen das Zentrum der paulinischen Soteriologie aber genausowenig aufgegeben wie die johan-" neische. Insofern die Vergänglichkeit des Fleisches von Ignatius "wirklich als Machtsphäre gedacht ist, ... die, obwohl sie primär die des Todes ist, doch nicht einfach undialektisch als eine dem Menschen gegenüber fremde und ihn vergewaltigende Naturmacht gedacht ist, sondern als eine Sphäre, die er selbst zur Macht über sich werden lassen kann (und vor Christus hat werden lassen)", hat Ignatius einen wesentlichen paulinischen Gedanken festgehalten66 • Die Paradoxie christlichen Seins zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Schon und Noch-nicht bleibt gewahrt67 • Dieses Zwischen ist konstitutiv für die christliche Existenz, aus der Glaube und Handeln wie aus einer Wurzel hervorgehen. Ignatius mahnt die Trallianer, "nicht nach Menschenart zu leben, sondern nach Jesus Christus, der unseretwegen gestorben ist, damit wir im Glauben an seinen Tod dem Sterben entrinnen" (2,1). D. h., der Glaube wird anders als in vielen nachapostolischen Schriften - selbst wenn sie paulinisch orientiert sind oder über den Glauben direkt reflektieren (vgl. Jak, Hebr) - nicht als Werk oder Tugend verstanden, sondern als die neue Weise christlichen Seins, die allein rettet68 • Ignatius ist in der Soteriologie bzw. in der theologischen A~ thropologie der paulinisehen Konzeption im Vergleich zu anderen nachapostolischen Schriften nahe geblieben. Allerdings wirkt auch Johannes nach, etwa in dem Gedanken, das Fleisch sei dadurch überwunden worden, daß es zur Einheit mit dem Pneuma befähigt wurde, indem Christus Fleisch angenommen 66
BULTMANN 45f.
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NIEDERWIMMER
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61/3. E. GRAsSER, Der Glaube im. Hebräerbrief = Marburger theol. Stud. 2 (Marburg 1965) 192; weitere Belege bei BULTMANN 48; NJEDERWlMMER 64/6; anders ToRRANCE 68.
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hat69 • Hier überlagert die johanneisch-inkamatorische Sicht die paulinisch-staurologische. Christi Auferstehung ist zugleich sarkisch und pneumatisch (Smym. ~2,2), Christus ist auch als Auferstandener "im Fleische" - ein für Paulus wohl unvollziehbarer Gedanke. Ignatius war er dagegen wichtig zur Abwehr doketischer Vorstellungen7o •. In Smym. 3,1/3 bekennt Ignatius: "Ich nämlich weiß und glaube, daß er auch nach der Auferstehung im Fleische ist. Und als er zu Petrus und seinen Gefährten kam, sprach er zu ihnen: Faßt, betastet mich und seht, daß ich kein leibloser Dämon bin!,l. Und sogleich berührten sie ihn und glaubten, da sie mit seinem Fleisch und Geist in enge Verbindung gekommen waren ... Nach der Auferstehung aber aß und trank er mit ihnen als Leibhaftiger, wenn er auch geistlich mit dem Vater vereinigt war." Daß das Fleisch als Sündenmacht durch Christus überwunden ist, entspricht paulinischer Auffassung (Röm 8,2/9). Bei Ignatius gewinnt sie die "merkwürdige Form, daß das Fleisch selbst in die Gemeinschaft mit dem Geist gebracht worden ist"n. Martyrium und Heil BUL1MANNs grundsätzliches Plädoyer für die Paulusnähe der ignatianischen Soteriologie gilt nicht unangefochten. Immer wieder ist gefragt worden, ob Ignatius im Zentrum seiner Theologie, d. h. bei der Bewertung des. Martyriums, nicht eigene Wege geht, die sich mit Paulus schwerlich in Einklang bringen lassen. Hat es doch den Anschein, als betrachte der Bischof das (sein) Martyrium in direkter Analogie zum Leiden Christi. Wie Christus durch sein Leiden zu Gott gelangt, so auch der Martyrer. Christus ist dann aber nicht mehr eigentlich "der Erlöser von der Sünde, BULTMANN 46. Zum paulinischen Anteil am ignatianischen Antidoketismus vgl. RA1HKE 88f. 71 Das hier angeführte Herrenwort steht in keinem kanonischen Evangelium; zur Herkunft vgl. FIsCHER, Apostolische Väter 207, Anm. 19. 72 BULTMANN 47.
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sondern Vorbild für den Weg zu Gott'c73. Das Martyrium wird zur Nachahmung (11(11T)O'L~), damit zu einem verdienstvollen Werk und, indem es vom Bischof stellvertretend geleistet wird, zum Sühnopfer für die Gemeinde, die gerettet wird in Gemeinschaft mit dem das Heil vermittelnden Bischof14 • Dieser hier sehr gerafft vorgetragene Gedanke ließe sich allerdings mit Paulus ebensowenig in Einklang bringen wie das dem Ignatius hin und wieder zugesprochene Verständnis von Kult, Sakrament und Amt, nicht weil Ignatius sie entsprechend der fortgeschrittenen Situation seiner Gemeinde am Beginn des 2. Jahrhunderts stärker betont als Paulus, sondern weil sie im ignatianischen Verständnis das in Christus gekommene Heil in einer Weise geschichtslos machen 7S und die Heilsunmittelbarkeit des einzelnen Gläubigen in einem Maße einschränken würden, wie es nicht nur mit Paulus, sondern mit dem gesamten Neuen Testament nicht mehr in Einklang zu bringen wäre 76. Gegen diese Vorwürfe lassen sich aber wiederum etliche Einwände erheben. Der erste ist allgemeiner Art und warnt davor, aus den pointierten und eine bestimmte Absicht verfolgenden Sätzen der ignatianischen Briefe Schlüsse zu ziehen, die Ignatius selbst nicht gezogen hat. Konsequent zu Ende gedacht, mögen RATIIKE 72; 95; vgl. Th. PRElss, La Mystique de I'imitation du Christ et de l'unite chez Ignace d'Antioche: RHPhR 18(1938) 207; 238; H. VON CAAfPENHAUSEN, Die Idee des Martyriums in der alten Kirche2 (Göttingen 1964) 65178; N. BROX, Zeuge und Märtyrer. Untersuchungen zur frühchristlichen Zeugnis-Terminologie = StANT 5 (München 1961) 217/22; dazu die kritische Besprechung der hier erwähnten Autoren bei BoMMES 961105. 74 E. LoHSE, Märtyrer und Gottesknecht. Untersuchungen zur urchristlichen Verkündigung vom Sühnetod Jesu Christi2 = FRLANT NF 46 (Göttingen 1963) 206/8; RATIIKE 75; anders VON CAMPENHAUSEN, Idee des Martyriums 78. 75 KÖSTER, Synoptische überlieferung 68f. 76 J. VON WALTER, Ignatius von Antiochien und die Entstehung des Frühkatholizismus: R. Seeberg-Festschrift 2 (Leipzig 1929) 105/18; die Diskussion weiterer Stellungnahmen bei J. ROHDE, Urchristliche und frühkatholische Ämter. Eine Untersuchung zur frühchristlichen Amtsentwicklung im Neuen Testament und bei den Apostolischen Vätern = Theologische Arbeiten 33 (Berlin 1976) 135/9.
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manche Formulierungen des Ignatius zu den oben referierten Vorwürfen Anlaß geben, sie resultieren aber weniger aus der ignatianischen Theologie an sich, als vielmehr aus einer Mißachtung des Charakters der Briefe und der Umstände ihrer Abfassung. Neben die hermeneutischen Bedenken treten sachliche Korrekturen. Sorgfältige Wortuntersuchungen haben ergeben, daß nicht die Nachahmung an sich der Schlüssel zur ignatianischen Theologie ist, sondern das Verhältnis zwischen der Jüngerschaft des Bischofs und der Einheit der Kirche. Nicht sein Nachahmen spendet Gnade und schafft Einheit, sondern die einige (und einmütig) Eucharistie feiernde Kirche (in Syrien) erweist das Martyrium des Bischofs als von Gott angenommene Jüngerschaft (Eph. 11,2; Magn. 1,2; Smym. 11,1)77. Außerhalb von Glaube und Liebe und ohne Bezug zur Kirche wäre das Martyrium ohne jeden Werfs. Es ist auch nicht heilsvermittelnd wie die Passion Jesu. Zwar betrachtet Ignatius sein Martyrium als "Lösegeld" (Eph. 21,1), "Sühnopfer" (Eph. 8,1) oder ein "Sich-Weihen" (Eph. 8,1; TraU. 13,3) für die Kirche, aber dieses Anbieten des eigenen Lebens als Opfer für die Gemeinde bedarf der Annahme durch Gott, der über die Wirkung befindet. Das Martyrium und was es den Gemeinden schenkt, bleibt Gottes Gabe. Ignatius hütet sich, das Gut, das aus seinem Martyrium der Kirche erwächst, in irgendeiner Weise inhaltlich festzulegen. Es ist kein Heilswerk wie die Passion Christi, sondern besitzt "den Charakter einer im Einsatz des eigenen Lebens vorgetragenen und der Erhörung sicheren Fürbitte"79. Auch gegenüber dem Vorwurf der Entgeschichtlichung des Heils und der unpaulinischen Etablierung einer zeitlosen sakramentalen Mystik ist Vorsicht geboten. Auf der einen Seite hält Ignatius an einer geschichtstheologischen Deutung der Vergangenheit, der Verbindung der Kirche mit Patriarchen und PropheVgl. W. M. SwARTI.EY, The Imitatio Christi in the Ignatian Letten: VigChr 27(1973) 81/103, bes. 102f. 78 Vgl. BOMMES 49. 79 BoMMES 221; vgl. 105/7. 77
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ten fest (Philad. 5,2; 9,1)80, auf der anderen Seite gibt es sowohl einen sakramentalen Aspekt in der Mystik des Paulus81 als auch einen ethisch-asketischen im Sakramentsverständnis des Ignatius82 • Ohne die Akzentverlagerungen, die durch die fortgeschrittene Zeit im Verständnis von Amt und Gemeinde verursacht worden sind, abschwächen zu wollen, bleibt doch anzumerken, daß gerade im charismatischen Verständnis des bischöflichen Amtes oder in der Auffassung der Kirche als Christusleib pauli~~he Anliegen im ignatianischen Briefcorpus nachklingen83 • Zusammenfassend darf festgehalten werden, daß Ignatius mit Paulus vor allem gemeinsam hat eine Christozentrik und Christusmystik im Sinne von Gal 2,20. Hinzu kommt die Betonung des Charismatisch-Pneumatischen und das Fehlen moralisierender Tendenzen. Unterschiede bestehen im Fehlen einer alttestamentlich-rabbinischen Grundlage der paulinischen Theologie und in der Vernachlässigung der paulinischen Rechtfertigungslehre, die selbstverständlich nicht durch etwas Gegenteiliges ersetzt wird, sondern in ihrem Ergebnis akzeptiert ist und nicht mehr unterstrichen zu werden braucht84 • Der Zeit entsprechend verändert ist auch die Eschatologie. Die Naherwartung fehlt ganz85 ; das Leben des Christen ist echte Zwischenzeit, ohne daß sie im gleichen Ausmaß moralisch gesteuert würde wie bei andeP. MElNHOLD, Die geschichtstheo!ogische Konzeption des Ignatius von Antiochien: Kyriakon. Festschrift J. Quasten 1 (Münster 1970) 182/91, bes. 186f. 81 A. ScHwEITZER, Die Mystik des Apostels Paulus2 (Tübingen 1954) 222/84; A. WIKENHAUSER, Die Chriustusmystik des hl. Paulus: BZfr 12,8/10 (1928) 64/17. 82 E. J. TINsLEY, The imitatio Christi in the Mysticism of St. Ignatius of Antioch: Studia Patristica 2,2 = TU 64 (Berlin 1957) 553/60; BULTMANN 41/9. 83 J. lJERMANs, Bisschopsambt en eredienst in de ecclesiologie van Ignatius van Antiochie: Tijdschrift voor Liturgie 59 (1975) 138/41; R. GRANT, Early episcopal succession = TU 108 (Berlin 1972) 179/84, bes. 180f.; O. PERLER, Eucharistie et unite de !'Eglise d'apres Saint Ignace d'Antioche: XXXV Congresso eucaristico internacional1952, 2 (Barcelona 1953) 424/9; R. PADBERG, Das Amtsverständnis der Ignatiusbriefe (ca. 110 n. Chr.): ThOI 62 (1972) 47/54. 84 VON LoEWENlCH, Johannes-Verständnis 27, Anm. 1. 85 RATHKE 8lf.
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ren ignatianischen Zeitgenossen. Die moralischen Imperative werden vielmehr von ekklesial-sakramentalen Notwendigkeiten gefordert. ScHNEEMELCHER war der Meinung, daß die Theologie des Ignatius nicht paulinisch sei, weil er das paulinische Schrifttum nachweislich nicht gekannt habe und aus völlig anderen Traditionen herkomme86 . Dieser Eindruck hängt vielleicht damit zusammen, daß ScHNEEMELCHER seine Untersuchung mit Ignatius beginnt (um dann weiter ins 2. Jahrhundert hinaufzugehen). Vergleicht man Ignatius mit den Urpaulinen, springen natürlich die Unterschiede in die Augen. Wie weit man die noch verbleibenden übereinstimmungen dann auf Gemeindetraditionen zurückführt, die beiden vorausliegen, bleibt bis zu einem gewissen Grad Ermessenssache. Der tatsächliche Paulinismus des Ignatius ergibt sich deutlicher, wenn man nicht nur Paulus mit Ignatius, sondern Ignatius mit den übrigen spätneutestamentlichen und nachapostolisch-frühchristlichen Schriftstellern vergleicht und deren Treue zur paulinischen Tradition abwägt. Dann zeigt sich, um wieviel näher Ignatius dem Paulus steht als alle anderen Schriften seiner Zeit (die Deuteropaulinen einmal ausgenommen)87. Ob Paulus und Ignatius zum Teil aus denselben Quellen schöpfen (Gemeindetheologie Antiochiens), ob Ignatius auf den authentischen Paulus zurückgeht oder bereits den entwickelteren Gedanken des Epheserbriefes mit seinen gnostisch-antignostisehen Fragestellungen nähersteht, verschlägt insofern nicht allzuviel, als auch dann die Briefe des Antiochener Bischofs ein wichtiges Glied sind im Weiterwirken der paulinischen Theologie im syrisch-kleinasiatischen Raum bzw. Anknüpfungspunkt für paulinisehe Gedanken in Schriften späterer Theologen. Die zuvor gemachte Einschränkung allerdings bleibt voll bestehen: Es ist 86
8cHNEEMELcHER, Paulus in der griechischen Kirche 16. Bibel 140 u. Anm. 47, macht darauf aufmerksam, daß überall dort, "wo die paulinische Tradition fehlt oder verdorrt, die Spruchtradition [d. h. Herrenworte) an Bedeutung gewinnt. Andererseits: der Pauliner Ignatius, der auf den groBen Heilstaten in legendarischer Ausschmückung (Eph. 19; Smym. 3,2) und in festen Formeln besteht, scheint von der Tradition der Herrensprüche kaum Gebrauch zu machen". Vgl. S. 125, Arlm. 56.
87 VON CAMPENHAUSEN,
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nicht der ganze Paulus, der in Ignatius weiterwirkt; es sind vornehmlich Aspekte der Christologie und Soteriologie und einiger damit zusammenhängender Gedanken über Kirche, Sakramente und christliche Ethik. Es fehlt der Paulus der Rechtfertigungslehre, der überhaupt in Zukunft in der ös tlichen Kirche kaum noch eine Rolle spielt. Den Paulus des Gesetzes und überwinder des Gesetzes entdecken erst viel später wieder die stärker in rechtlichen Kategorien denkenden abendländischen Theologen88 • Das Paulusbild In Eph. 12,2 wünscht sich Ignatius, daß er in den "Spuren (des Paulus) erfunden werden möge, des Geheiligten, des Wohlbezeugten, des Preiswürdigen". Ist mit den "Spuren" die Leidensund Martyriumsbereitschaft gemeint, dann ist Ignatius gewiß in die Fußstapfen des Apostels getreten, wenngleich in persönlich geprägter Weise. Beide kennzeichnet, wiederum in je eigener Akzentuierung, ein deutlich ausgesprochenes Bewußtsein von Niedrigkeit und Würde89 • Zwar unterscheidet sich der Martyriumsenthusiasmus des Bischofs von dem selbstlosen Gleichmut des Apostels (Phil 1,20/4), vergleicht man aber das Schweigen der paulinischen Gefangenschaftsbriefe und die ausführlichen Berichte der Apostelgeschichte über Festnahme und Prozeß des Apostels mit den entsprechenden Bemerkungen des Ignatius über seine eigene Haft, so gehört letzterer eindeutig auf die Seite des Paulus90 • Natürlich fühlt sich der Bischof dem Apostel nicht ebenbürtig. Im Brief an die Römer schreibt Ignatius: "Nicht wie Petrus und Paulus befehle ich euch. Jene sind Apostel, ich bin ein VerurteilE. BENZ, Das Paulus-Verständnis in der Morgenländischen und Abendländischen Kirche: ZRGG 3 (1951) 290f. 89 F. X. FuNK, Die Echtheit der ignatianischen Briefe (Tübingen 1883) 116f.; vgl. RATHKE 71f. 90 Vgl. BOMMES 26; 141, Anm. 225. 88
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ter, jene sind frei, ich bin bis jetzt ein Sklave. Aber wenn ich gelitten habe, werde ich ein Freigelassener Jesu Christi werden und als Freier in ihm auferstehen" (4,3). Ähnlich bekennt Ignatius, TraU. 3,3: "Ich habe mich nicht so hoch eingeschätzt, daß ich als Verurteilter wie ein Apostel euch befehlen dürfte." D. h., die Apostel besitzen eine unantastbare Autorität, die auch durch Ketten und Gefangenschaft keine Einschränkung erfahren hat und inzwischen längst durch ihr vollendetes Martyrium bestätigt worden ist. Ignatius fühlt sich alsgeisterfüllter Bischof und Märtyrer auf dem Wege zwar durchaus befähigt und berechtigt, zu lehren und mahnend zu beschwören (vgl. Trall.5; Eph. 3), doch er ist kein Apostel und noch nicht frei der ihn gefährdenden und demütigenden Fesseln (vgl. 1 Kor 9,1)91. In diesem Zusammenhang ist noch bemerkenswerter die Erwähnung von Petrus und Paulus. Ignatius scheint hier eine mit 1 Klem Sf. beginnende92 und von Dionysius von Korinth (vgl. Eusebius, Hist.eccl. 2,25,8) und Irenäus (Adv. haer. 3,1,1) fortgeführte Tradition zu bezeugen, nach der Petrus und Paulus nicht nur in Rom gewirkt, sondern dort auch das Martyrium erlitten haben. Ob Ignatius vom Sterben der beiden Apostel in Rom gewußt hat, geht aus dem Wortlaut in Röm 4,3 allein nicht hervor; unzweideutig ist dagegen die Gleichstellung von Petrus und Paulus. Beide sind Apostel und gehören zusammen. Von Gegensätzen oder Unterordnung des Paulus unter die "Urapostel" oder Petrus ist nichts zu spüren. Es gibt keine Rang- oder Autoritätsunterschiede93 . Zwei Generationen nach den Ereignissen selbst hat sich der Anspruch des Paulus, "den ,Säulen' der Urgemeinde gleichgeachtet zu werden, erfüllt"94. Aus dem Umstand, daß Petrus vor Paulus genannt wird, wird man keine überlegenheit des ersteren ableiten können; höchstens macht sich der schon vorpaulinisch überlieferte Vorrang des Petrus, als erster BOMMES 206/8. Eine Kenntnis oder Abhängigkeit des Ignatius soll damit nicht behauptet werden; vgl. BEYScm.AG 299/306. 93 Das gibt sogar WAGENMANN, Stellung des Paulus 9Of., zu. 94 MEINHOLD, Geschichtstheologie 190.
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den Auferstandenen gesehen zu haben (1 Kor 15,5), in der Beachtung einer bestimmten Reihenfolge bemerkbar. Daß umgekehrt nur Paulus und nicht auch Petrus mit den schmückenden Epitheta "geheiligt", "wohlbezeugt" und "preiswürdig" belegt wird, verrät ebenfalls keine Absicht, sondern entspringt dem Umstand, daß Ignatius auf seiner Reise und bei seinen Adressaten auf die Spuren der paulinischen Mission stößt. Vor allem die Epheser sind "Durchgangspunkt für die, die zu Gott· befördert werden und Miteingeweihte des Paulus" (Eph. 12,2)95. Im Gegensatz zu manchen anderen frühchristlichen Schriften prägt weniger der erfolgreiche Missionar als vielmehr der leidens'bereite und sich nach Christus sehnende Apostel das Paulusbild des Antiochener Bischofs. "Paulu~ hat den Weg gelehrt, wie man Gottes und Christi teilhaftig wird, denn dieses Leben bedeutet Sterben, und Sterben ist Leben"96. Ignatius hat damit einen wichtigen Zug erkannt, der dem authentischen Paufus in diesem Punkt gewiß näherkommt als das üblicherweise tradierte Paulusbild von Lukas bis zum 1. Klemensbrief.
8. Polykarp von Smyma Polykarp und die Pastoralbriefe Leider ist die literarische Hipterlassenschaft des Smyrnäer Bischofs, von der Irenäus berichtet1 , größtenteils verlorengegangen. Erhalten geblieben sind lediglich ein nur wenige Zeilen umfassendes Begleitschreiben, das Polykarp zusammen mit Ignatiusbriefen nach Philippi gesandt hat (1 Phil), und ein später (um
Die Briefe des Ignatius 211, übersetzt, da weder Ignatius noch Paulus auf ihrer Reise nach Rom durch Ephesus direkt gekommen sind: "An euch vorbei führt der Weg ..." 96 MElNHOLD, Geschichtstheologie 190. 1 Eusebius, Hist. eccl. 5,20,8; vgl. FISCHER, Apostolische Väter 233.
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BAUER,
149 6 Dassmann, Der Stachel
135) verfaßter längerer Brief an die dortige Gemeinde (2 Phil)2. Bedeutsamer als diese inzwischen allgemein akzeptierte Aufteilung des Philipperbriefes wäre es, wenn eine andere Vermutung verifiziert werden könnte, die in Polykarp den Verfasser der Pastoralbriefe sieht. Bisher hat diese Zuweisung, die zu erhärten VON CAMPENHAUSEN sich bemüht hatl, allerdings wenig Zustimmung gefunden, auch nicht in der abgeschwächten Form, daß die Pastoralbriefe, wenn sie schon nicht vom Bischof selbst geschrieben sind, so doch von seinem Schrifttum abhängen, stammt ihr Verfasser "doch zweifellos aus dem gleichen Kreis der Rechtgläubigkeit wie Polykarp auch"4. VON CAMl'ENHAUSEN selbst gibt zu, daß den historischen Gründen, die eine Verfasserschaft Polykarps nahelegen, andere, literarisch-philologische Beobachtungen entgegenstehen, die nicht so recht erlauben, dem Bischof das Urheberrecht an den Pastoralbriefen zuzutrauen. Die literarischen Bedenken ergeben sich aus der mangelnden Qualität von Polykarps Brief: Er ist blaß, ertrinkt in Zitaten und literarischen Reminiszenzen und enthält kaum einen originellen GedankenS. Mit ihm verglichen besitzen die Pastoralbriefe eine ganz andere sprachliche und theologische Höhe. Natürlich können verschiedene Schriften desselben Autors von unterschiedlichem Wert sein, besonders wenn ein größerer zeitlicher Abstand zwischen ihrer Abfassung liegt oder es sich in dem einen Fall um ein schnell konzipiertes Schriftstück, im anderen Fall um ein Vgl. die Zusammenfassung der Einleitungsfragen bei VIELHAUER, Urchristliche Literatur 552/66, bes. 558f.; W. BAUER, Die Briefe des Ignatius von Antiochia und der Polykarpbrief = HNT, Erg. Bd. (Tübingen 1920) 282f.; BARNARD, Apostolic Fathers 31/9. 3 H. VON CAMPENHAUSEN, Polykarp von Smyrna und die Pastoralbriefe: SAH, Phil.-hist. Klasse (1951) 5/51 (wiederabgedruckt: DERS., Aus der Frühzeit des Christentums. Studien zur Kirchengeschichte des ersten und zweiten Jahrl].underts (Tübingen 1963] 196/252). 4 BAUER, Rechtgläubigkeit 226; VON CAMPENHAUSEN, Polykarp 25Of.; vgl. VIELHAUER, Urchristliche Literatur 237. 5 Vgl. A. BoVON-1HURNEvSEN, Ethik und Eschatologie im Philipperbrief des Polycarp von Smyma: ThZ 29 (1973) 241; Ch. M. NIELSEN, Polycarp, Paul and the Scriptures: AThR 47 (1965) 199. VIELHAUER, Urchristliche Literatur 563, nennt Polycarp einen zitierfreudigen, unselbständigen Geist.
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sorgfältig durchdachtes Lehrschreiben handelt. Aber auch solche Einwände ändern nichts an dem Eindruck, daß der Polykarpbrief qualitätsmäßig erheblich hinter den Pastoralbriefen zurückbleibt6 • Historische überlegungen könnten dagegen für eine Verfasserschaft des Polykarp sprechen. Die Zeit würde passen, denn ganz gleich, ob man das Ende Polykarps in die Jahre 155/6, 177 oder irgendwann dazwischen datiere, ob man die Pastoralbriefe am Anfang oder gegen die Mitte des 2. Jahrhunderts entstanden sein läßt8 , der bei seinem Tode sechsundachtzigjährige Bischof war schon am Beginn des 2. Jahrhunderts im schreibfähigen Alter. Natürlich wäre bei einer Verfasserschaft des Polykarp die Datierung der Pastoralbriefe gegen Mitte des Jahrhunderts passender, denn ihre Verbreitung und Anerkennung würden verständlicher, wenn sie von einem Manne stammten, der Autorität und Hochachtung in der Kirche besaß, was in zunehmendem Maße von Polykarp gegen Ende seines Lebens angenommen werden darf. Eben dieses außerordentliche Ansehen, das Polykarp schon zu Lebzeiten genoß, ist für VON CAMPENHAUSEN vor allem der Grund, an Polykarp als Verfasser der Pastoralbriefe zu denken. Es erscheint ihm nämlich durch den mageren literarischen Nachlaß der beiden Philipperbriefe ungenügend motiviert. Wenn schon Ignatius, der Bischof des bedeutenden Antiochien, nur durch seine Briefe bekannt ist, sonst aber auffallend blaß bleibt, wie ist dann die scharfe Profilierung des von seinem Bischofssitz her weniger bedeutenden Polykarp verständlich, wenn er nicht mit einem weitverbreiteten literarischen Nachlaß hervorgetreten ist, eben den Pastoralbriefen? VON CAMPENHAUSEN meint, "daß der Polykarpbrief, für sich allein genommen, niemals ausgereicht hätte, um den Ruhm zu rechtfertigen, den sein Verfassser als theologi6
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8
VON CAMPENHAUSEN, Polycarp 246/8. ALTANER-SruIBER, Patrologie 52; VIELHAUER, Urchristliche Literatur 554. H. VON CAMPENHAUSEN, Bearbeitungen und Interpolationen des Polykarpmartyriums: SAH, Phil.-hist. Klasse (1957) 5f. (wiederabgedruckt: DERS., Aus der Frühzeit des Christentums [Tübingen 1963] 253f.). Vgl. VIELHAUER, Urchristliche Literatur 237; N. BRox, Die Pastoralbriefe4 = Regensburger NT 7,2 (Regensburg 1969) 57f.
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scher Lehrer allgemein besessen· und gewiß zu Recht besessen hat. Niemand stößt sich an dieser Unstimmigkeit, und die früheren Versuche, den Polykarpbrief als unecht zu verwerfen, nehmen wir heute nicht mehr ernst. Wir haben auf der einen Seite einen zweifellos echten Brief, der der wahren Bedeutung seines Verfassers, der Polykarps, nachweislich nicht entspricht; und auf der ander~n Seite stehen drei, für uns namenlose Schriftstücke, die geistig, theologisch, geographisch und chronologisch auf Polykarp und nur auf Polykarp wirklich zu passen scheinen und überdies im ganzen und im einzelnen dem echten Polykarpbrief auch noch ähnlich sehen - nur daß sie ihn eben geistig und literarisch überragen "9. Es wird VON CAMPENHAUSEN nicht entgangen sein, daß seine Argumentation sich im Kreise bewegt. Auf der einen Seite sollen die Pastoralbriefe den (literarischen) Ruhm Polykarps begründen, auf der anderen Seite soll der Ruhm (Einfluß) Polykarps dafür gesorgt haben, daß sie kirchliche Anerkennung fanden. Ein schweres Handicap für eine Verfasserschaft des Polykarp dürfte in beiden Fällen der pseudepigraphische Charakter der Pastoralbriefe sein10 • Von welcher Voraussetzung aus man sie auch mit Polykarp in Verbindung bringt, es bleibt die Frage, wie sie als Paulusbriefe Aufnahme in den Kanon zu finden vermochten. Nur ein unbekannter Autor konnte pseudonyme Paulusbriefe in Umlauf setzen, die als solche dann aber nicht seinen eigenen Ruhm verbreitet hätten; Briefe des profilierten Polykarp wären dagegen kaum unter dem Namen des Paulus, sondern unter seinem eigenen Namen bekannt geworden. Ein anderes Bedenken richtet sich gegen die Verbindung von bischöflichem Ansehen und literarischen Fertigkeiten. In einer Zeit, da viele Gemeindemitglieder nicht lesen und schreiben konnten, dürften andere als literarische Qualitäten wirksam gewesen sein, um Bekanntheit und Ansehen eines Bischofs zu verbreiten. Sollten die Pastoralbriefe wirklich ,von Polykarp stammen, wäre dieser Sachverhalt für die Beurteilung des Paulinismus in 9
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VON CAMPENHAUSEN,
Polykarp 25lf.
BROX, Pastoralbriefe 32; 57.
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der ersten. HäUte des 2. Jahrhunderts natürlich von unschätzbarem Wert; dann hätte sich der profilierte Bischof und "Lehrer Asiens"11 ~indeutig und ausschließlich zu Paulus bekannt; dann wäre äuch die Kontinuität des Paulinismus im 2. Jahrhundert bruchlos gesichert durch den wenig jüngeren Irenäus, der sich erklärtermaßen auf Polykarp als seinen Lehrer gestützt hat12 • Da sich die Vedasserschaft der Pastoralbriefe aber nicht zweifeIsfrei auf Polykarp einengen läßt, wird man sich für eine Beurteilung der Stellung des Smyrnäer Bischofs zu Paulus auf den echten Brief Polykarps an die Philipper beschränken müssen.
Paulus im zweiten Philipperbrief Das Ergebnis fällt auch ohne die Pastoralbriefe positiv aus, denn im 2. Philipperbrief bezeugt Polykarp die Hochschätzung des Paulus gleich an mehreren Stellen. In 2 Phil 9,1 erinnert er die Gemeinde an Beispiele der Geduld, die sie vor Augen gehabt haben, an Ignatius, Zosimus, Rufus und:'liildere, sowie "an Paulus selbst" und die übrigen Apostel. Noch deutlicher wird er in 2 Phil3,lf.:"Dies, Brüder, schreibe ich euch über die Gerechtigkeit nicht aus eigener Machtvollkommenheit, sondern nachdem ihr mich aufgefordert habt. Denn weder ich noch ein anderer meinesgleichen vermag der Weisheit des seligen und berühmten Paulus nachzukommen, der bei euch war, persönlich unter den damaligen Menschen, und genau und zuverlässig das Wort von der Wahrheit lehrte, der euch auch in der Feme Briefe schrieb, durch die ihr, wenn. ihr euch darein vertieft, erbaut werden könnt zu dem Glauben, der euch verliehen wurde"13. Die Stelle erinnert an 2 Petr 3,16: Paulus ist treu und zuverlässig; man muß sich nur in seine Briefe vertiefen, dann festigen sie de~ Glauben, wie Martyrium Polykarps 12,2; vgl. Irenäus, Adv.haer. 3,3,4; Eusebius, Hist.eccl. 4,14,1/8. 1:1 Eusebius, Hist.eccl. 5,20,417. 13 übersetzung nach FIsCHER, Apostolische Väter 251/3.
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er der Gemeinde überkommen ist. Nur fehlt bei Polykarp der kritische Beiklang, der im 2. Petrusbrief vermutet werden konnte. ScHNEEMELCHER macht verständlicherweise wieder darauf aufmerksam, daß Polykarp im Plural von Briefen des Paulus an die Philipper spricht. Daß es zur Zeit des Polykarp jedoch mehrere Paulusbriefe nach Philippi gegeben habe, hält er für ebenso unwahrscheinlich wie die Vermutung, 'der Plural "Briefe" beziehe sich auf alle Schreiben, die Paulus nach Makedonien gesandt habe, also neben dem Philipperbrief noch auf die Thessalonicherbriefe14 • Eher hält er es mit BAUER15 für möglich, daß Polykarp die Bemerkung im paulinischen Philipperbrief 3,1: "Euch dasselbe zu schreiben, habe ich keine B~denken, und ihr (wißt es) dann um so sicherer" so verstanden habe, als ob Paulus mehrere Briefe an die makedonische Gemeinde gerichtet hätte 16 • Wie dem auch sei, mit 2 Phi13,1 ist zumindest erwiesen, daß Polykarp den Philipperbrief des Paulus gekannt hat. Darüber hinaus gilt noch die Benutzung des Römerbriefes und des 1. Korintherbriefes durch Polykarp als ziemlich sicher, die Kenntnis des Galaterund Epheserbriefes als wahrscheinlich. Sieht man allerdings näher hin, so zeigt sich nach ScHNEEMELCHER, "wie wenig bedeutungsvoll die aus dem Paulusbrief herausgerissenen Fetzen meist nur Teile von Sätzen - sind. Es ist keine Stelle darunter, die theologisch - sei es für Paulus, sei es für Polykarp - irgendwie relevant wäre. Vielmehr sind es allerhöchstens literarische ReVgl. K. M. FIsCHER, Tendenz und Absicht des Epheserbriefes = FRLANf 111 (Göttingen 1973) 253, Anm. 36; BARNETr, Literary Influence 172; dagegen E. ScHwEIZER, Der zweite Thessalonicherbrief ein Philipperbrief? = ThZ 1 (1945) 90/105. 15 BAUER, Polykarpbrief 287. 16 ScHNEEMELCHER, Paulus in der griechischen Kirche 7. Die dem Wortlaut nach eindeutigere Stelle 2 Phil. 11,3: "Ich habe jedoch nichts Derartiges bei euch wahrgenommen oder gehört, unter denen der selige Paulus gewirkt hat, die ihr am Anfang eines Briefes von ihm steht" (qui estis in principio epistulae eius), son wegen ihrer überlieferungsgeschichtlichen Schwierigkeiten in die Argumentation hier nicht einbezogen werden. Vgl. BAUER, Polykarpbrief 295; FISCHER, Apostolische Väter 26lf.
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miniszenzen, nie aber sachlich wichtige Zitate aus kanonischen Dokumenten"17. Diese Beurteilung entspricht der kritischen Bewertung, die ScHNEEMELCHER schon bei Ignatius zu erkennen gegeben hat; sie ist in diesem Fall wohl auch zutreffend. Andererseits reicht die von ScHNEEMELCHER festgestellte Kenntnis paulinischer Briefe durch Polykarp doch recht weit. Die Forschung insgesamt hat zwar bisher keine einhelligen Ergebnisse geliefert, geht aber in der Regel noch über ScHNEEMELCHERS Zuweisungen hinaus. Bereits VON HARNACK setzte bei Polykarp das Vorhandensein eines dreizehn Briefe umfassenden Corpus Paulinum voraus 18 ; LEIPOLDT gestand ihm neben den bereits namentlich genannten Briefen noch Kenntnis und Gebrauch des 2. Thessalonicherbriefes, der beiden Timotheusbriefe und des 2. Briefes an die Korinther ZU 19 • BARNETT, die vorhergehende Forschung sorgfältig beachtend, schließt eigentlich von den paulinischen Briefen, die Spuren in Polykarps Schreiben hinterlassen haben, nur den Philemonbrief aus; er wendet sich allerdings "gegen den Einschluß der Pastoralbriefe in Polykarps Corpus der paulinischen Briefe"20. Die Verwendung der Pastoralbriefe bei Polykarp wird auch von BROX eindeutig abgelehnt; tatsächlich vorliegende inhaltliche und terminologische Übereinstimmungen weisen auf die verwandte kirchliche Situation, nicht aber auf literarische Abhängigkeit hin2l . NIELSEN schließlich ist der Meinung, Polykarp habe die Briefe des Paulus als Heilige Schrift betrachtet, die um 120 auf der Grundlage des Corpus Paulinum im Entstehen begriffen sei22 . ScHNEEMELcHER, Paulus in der griechischen Kirche 7. A. VON HARNACK, Die Briefsammlung des Apostels Paulus und die anderen vorkonstantinischen christlichen Briefsammlungen (Leipzig 1926) 6; ähnlich FISCHER, Apostolische Väter 238. 19 J.lEIPOLDT, Geschichte des neutestamentlichen Kanons 1 (Leipzig 1907) 189. 20 BARNETI, Literary Influence 170/85, bes. 184; vgl. HAGNER, Use of the Testaments 284. 21 BROX, Pastoralbriefe 26/8. 22 NIELSEN 216; DERS., Tbe Epistle to Diognetus: Its Date and Relationship to Marcion: AThR 52(1970) 88f. 17
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Ob neben der KenntniS etlicher Paulusbriefe auch von einer Beeinflussung Polykarps durch die paulinisehe Theologie gesprochen werden darf, ist angesichts des Umfangs und Charakters von 2 'Phil viel schwieriger zu e~tscheiden. Daß der Brief typisch paulinische Positionen bekämpft oder dezidiert verteidigt, wird man nicht sagen können. Gleichwohl läßt eine genauere Betrachtung einzelner theologischer Aussagen (etwa über das Verhältnis von Ethik und Eschatologie, das Glaubensverständnis oder die Auferstehungshoffnung) erkennen, daß neben Verschiebungenwie sie für die nachapostolische Zeit charakteristisch und z. B. ähnlich in dem von Polykarp fleißig benutzten 1. Klemensbrief23 oder noch deutlicher im 2. Klemensbrief und anderen zeitlich benachbarten Schriften mit ihrer Forderung nach beständiger, lebenslanger Buße anzutreffen sind24 - nicht nur wörtliche25 , sondern auch gedankliche Anklänge an Paulus aufgedeckt werden können26 • So stellt Polykarp sofort nach dem Lobpreis der Philipper wegen ihrer gastfreundlichen Hilfsbereitschaft und ihres lebendigen Glaubens gleichsam als Leitmotiv den paulinisehen Kernsatz von der Errettung aus Gnade "nicht auf Grund von Werken, sondern nach dem Willen Gottes durch Jesus Christus" (1,3; vgl. 1 Klem 32,4) an den Anfang seines Briefes27 • An anderen Stellen tritt der Glaube als alleinige Bedingung für Erlösung und Auferstehung nicht so hervorgehoben in Erscheinung, er wird vielmehr parallel gesehen mit einem Gott wohlgefälligen Wandel (5,2) oder dem Gehorsam gegenüber Gottes Willen (2,2). Dadurch wird der Glaube aber nicht zum paulinischen Anhängsel einer im vgl. A. SnJmER, C1emens Romanus I: RAe 3,190; FISCHER, Apostolische Väter 242f.; P. MEINHOLD, Polykarpos: PW 42, 1689. ~ Vgl. S. 88f.; 226/36. .. 25 Vgl. die Tugend- und Lasterkataloge in 2 Phil. 2,2; 4,3; 5,2; 6,1; 12; dazu FIsCHER, Apostolische Väter 243. 26VgI. die eindringende Untersuchung von BoVON-THuRNEYSEN 241/56, die zwar herausstellen will, in welchem Maße sich Polykarp bereits von der urchristlichen Verkündigung entfemt hat, die verbliebenen paulinischen Impulse gleichwohl deutlich erkennen läßt. 27 BoVON-1"Hl1RNEYSEN 253f.
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übrigen vorherrschenden Werkgerechtigkeit28 • Der Verzicht auf ein Festhalten an der Naherwartung der Parusie29 machte ebenso wie die Abwehr präsentischer Eschatologievorstellungen30 neue Motivationen in der Verkündigung notwendig. Die Mahnung zur Bereitschaft kann nicht mehr allein von der bevorstehenden Wiederkunft ausgehen; sie verbindet sich mit dem Appell, Gott zu dienen in Furcht und Aufrichtigkeit (2,1). Ähnlich wird das Bild vom Anlegen der Waffen der Gerechtigkeit, das im paulinischen Schrifttum immer in einem eschatologischen Kontext gebraucht wird (vgl. Röm 6,13; 13,12; 2 Kor 6,7; 1 Thess 5,8; Eph 6, 11), von Polykarp zusammengebracht mit der Warnung vor Geldgier und der Aufforderung, "im Gebot des Herrn zu wandeln" (4,1). Für Polykarp ist Christus unsere Hoffnung, in der wir das Leben haben; er ist zugleich das Angeld (ciQQaßrov) unserer Gerechtigkeit (8,1). Muß letzterer Ausdruck-wie BOVON-THURNEYSEN meint - wirklich bedeuten, "daß Christus mit seinem Tod ,nur' die erste Anzahlung für unsere Gerechtigkeit geleistet hat" , so daß die Auferstehungshoffnung in der Gefahr steht, "ein Objekt zu werden, das vom ethischen Verhalten des Gläubigen abhängig ist"?31. Löst man den Brief aus seiner geschichtlichen Situation und vergleicht man ihn mit ebenfalls abstrakt betrachteten paulinischen Aussagen, lassen sich solche Folgerungen vielleicht ziehen. Aber auf soteriologische Konsequenzen, die sich aus einzelnen ethischen Forderungen ergeben könnten, ist Polykarp keineswegs aus. Christus als "Angeld" soll nicht unsere Hoffnung teilen und sie halb und halb auf ihn und unsere eigene Gerechtigkeit stellen. Was Polykarp will, ist, davor zu warnen, das "Angeld" zu verlieren durch Habsucht und Geiz, eine durchaus berechtigte Sorge, war doch sogar ein Presbyter der Versuchung des Geldes erlegen (vgl. 11,1/4). Ob Christi Heilswerk nur 28 29 30 31
Ebd. 247f. Ebd. 254f. Kös'rER-ROBINSON, Entwicklungslinien 35. BOVON-THuRNEYSEN 251; 248; ebenso Tb.
F. TORRANCE, Tbe Doctrine of Grace in the Apostolic Fathers (London 1948) 92f.
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zur Hälfte rettet, die andere auf das Konto der Leistung des Menschen geht, ist eine Frage, auf die man von Polykarp eine dogmatisch relevante Antwort erst erwarten könnte, wenn sie ihm expressis verbis gestellt würde. Nicht die pastoralen Ausweitungen charakterisieren das Verhältnis Polykarps zu Paulus, sondern daß er festhält - auch wenn manche Aussagen (ähnlich wie im 1. Klemensbrief) unverbunden und nicht ganz vereinbar nebeneinander stehen - an einer Rettung "durch Gnade, nicht auf Grund von Werken" (1,3), und an einer Auferstehung, die Gott wirkt, der auch Christus von den Toten auferweckt hat (2,2; 12,2). Gewiß nicht in kongenialer Weise, aber doch entsprechend seinen Möglichkeiten hat Polykarp auch theologisch Paulus als Autorität der Kirche proklamiert in einer Zeit, in der der Apostel auch in rechtgläubigen Kreisen nicht unangefochten war, und hat so dazu beigetragen, daß ihn die kirchliche Verkündigung nicht vergessen hat3 2 •
9. Pastoralbriefe
Die Erörterung der seit dem 18. Jahrhundert als Pastoralbriefe bezeichneten beiden Timotheusbriefe sowie des Titusbriefes nach den Ignatianen und dem 2. Philipperbrief Polykarps impliziert keine Entscheidung über die zeitliche Reihenfolge der Entstehung. Nahezu einhellig wird heute die Auffassung vertreten, daß die vom Anfang kirchlicher Bezeugung an unbestritten als Briefe des Paulus an seine hervorragendsten Schüler geltenden drei Schreiben weder von Paulus selbst noch von einem Sekretär oder Mitarbeiter des Paulus verlaßt worden, sondern späteren Ursprungs sind. Kontrovers ist bis heute die genauere Datierung; sie schwankt 2;wischen einer Entstehung um die Wende vom 1. zum 2. Jahrhundert bis nach dem Auftreten Markions (d. h. nach
3:l
VIELHAUER, Urchristliche Literatur 566; vgl. VON CAMPENHAUSEN, Polykarp 240/4; MEINHOLD 1689.
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140)1. Als Argument für den späteren Ansatz wird ins Feld geführt, daß weder Markion noch Polykarp die Pastoralbriefe gekannt hätten2 , für die frühere EntstehuQ.g "das noch ganz unentfaltete Stadium der gnostischen Häresie, außerdem die Eigenart -der Verarbeitung des paulinischen Erbes"3. Doch unabhängig davon, ob die Pastoralbriefe jahrgangsmäßig vor oder hinter die Abfassung des 2. Philipperbriefes einzuordnen sind, zeitlich, räumlich und mentalitätsmäßig gehören sie unbestritten in die Nähe Polykarps und damit in den Umkreis kirchlicher Kreise, die betont darauf aus sind, "Paulus, den Apostel;' als Kronzeugen im Kampf der Rechtgläubigkeit gegen die Ketzerei zu beschwören"4. Noch deutlicher als Polykarp beweisen sie, nicht nur einschlußweise durch den vermittelten paulinischen Inhalt, sondern expressis verbis durch die kenntnisreich durchgeführte Fiktion ihrer paulinischen VerfasserschaftS , daß Paulus nicht leichtfertig VIELHAUER, Urchristliche Literatur 237; für die Einleitungsfragen insgesamt vgl. ebd. 215/37; N. BROX, Die Pastoralbriefe4 = Regensburger NT 7,2 (Regensburg 1969) 9/77 und die Literaturangaben 78/95. 2 BAUER, Rechtgläubigkeit 225/7. 3 BROX, Pastoralbriefe 58. Jedenfalls sind die Pastoralbriefe keine Antwort auf die markionitische Häresie, die sie in keiner Weise widerspiegeln; vgl. M. DIBELlUS - H. CoNZELMANN, Die Pastoralbriefe4 = HNT 13 (Tübingen 1966) 2. 4 VIEUlAUER, Urchristliche Literatur 237; BAUER, Rechtgläubigkeit 88. 5 N. BROX, Falsche Verfasserangaben. Zur Erklärung der frühchristlichen Pseudepigraphie = Stuttgarter Bibelstudien 79 (Stuttgart 1975) 19/24. BROX (ebd. 13/5; 62/7) warnt zugleich davor, nach der exegetisch-dogmatischen Erleichterung über die Intaktheit pseudepigraphischer neutestamentlicher Schriften hinsichtlich Inspiration und Kanonizität, die Pseudepigraphie als eine alltägliche Selbstverständlichkeit ohne moralische Implikation zu betrachten. Nur besondere Gründe vermögen die Zuflucht zu pseudepigraphischer Darstellung zu erklären und zu rechtfertigen. K. ALANo, Falsche Verfasserangaben? Zur Pseudonyinität im frühchristlichen Schrifttum: ThRv 75 (1979) 3, mutet die Betrachtungsweise von BROX dagegen "unhistorisch" an. Al.AND zeigt, daß vor 150 die gesamte frühchristliche Literatur - falls es sich nicht um wirkliche Briefe oder Apokalypsen handelt - anonym ist, denn in Evangelien oder Apostelbriefen "redet ja nicht der Schreiber, sondern er ist nur Werkzeug für das, ,was der Geist den Gemeinden sagt'" (ebd. 9). Kategorien wie "Fälschung" oder "Lüge" hält er daher für unzutreffend. Vgl. auch P. TRUMMER, Die Paulustradition der Pastoralbriefe = Beiträge zur bibi. Exegese u. Theol. 8 (Frankfurt/M. 1978) 57/77. . 1
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vergessen wurde, sondern sein Andenken und - was mehr ist seine Verkündigung in den kleinasiatischen Gemeinden des frühen 2. Jahrhunderts gepflegt worden sind und man auf ihn zurückgriff in den auftauchenden Schwierigkeiten fortschreitender Entwicklung. Offensichtlich ist im kleinasiatischen Raum die johanneische Verkündigung nicht als Konkurrenz der paulinisehen Tradition angesehen worden6 - wofür auch Ignatius als Zeuge angeführt werden kann. Wo immer man in dieser Zeit zwischen johanneischem und paulinischem Gut unterscheidet, scheint der Grund weniger in einer bewußten Eliminierung des einen oder anderen zu liegen als vielmehr in der mangelnden Kraft, die sich bei Johannes und Paulus in verschiedener Weise artikulierenden theologischen Anliegen zu verbinden bzw. hinter die johanneischen Formulierungen auf deren paulinischen Grundgehalt zurückzufragen.
Theologische Akzente Die Pastoralbriefe wollen bewußt paulinisch sein. Sind sie es auch, und in welchem Maße sind sie es? Betrachtet man die Behandlung wichtiger Themen (z. B. Ketzerbekämpfung, Gemeinde- und Ämterorganisation, Haustafeln moralischen Verhaltens) zusammen mit ihren stilistischen und terminologischen Eigentümlichkeiten, dann verrät sich in theologischer und disziplinärer Hinsicht eine kirchliche Situation, die, aus der Perspektive der Urpaulinen betrachtet, zahlreiche Anzeichen einer vorgerückten Zeit erkennen läßt, in der die Kirche sich gedrängt sieht, mit einer längeren Dauer ihres Verweilens hier auf Erden
6
Anders BAUER, Rechtgläubigkeit 87/9. Auch H. HEGERMANN, Der geschichtliche Ort der Pastoralbriefe: Theologische Versuche 2 (1970) 62f., bringt die Klage von 2 Tim 1,15 über die Abwendung aller aus Asien von Paulus mit dem Eindringen konkurrierender johanneischer Autoritäten in dieses Gebiet in Verbindung.
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zu rechnen und daraus die notwendigen Konsequenzen zu ziehen7 • Ein Schlüssel zum Verständnis der weiterentwickelten Verkündigung ist - wie für die meisten frühchristlichen Schriften so auch hier - der Wandel in den eschatologischen Vorstellungen. Für Paulus qualifizierte und relativierte der eschatologische Vorbehalt alles für die nächste Zukunft Notwendige; mit einer entfemter~n Zukunft rechnete er nicht. Die Pastoralbriefe dagegen konzentrieren sich nicht auf das flüchtig Vergehende, sondern auf das in Treue Festzuhaltende. Nicht als ob in ihnen die eschatologische Hoffnung erloschen sei; sie bekommt sogar - vielleicht in bewußter Frontstellung gegen die sich ebenfalls pau1inisch gebende präsentische Lösung des Epheserbriefes8 - wieder einen deutlich futurischen Akzent. Aber ein Mahnruf wie· 2 Tim 4,1: "Ich beschwöre dich vor Gott und Jesus Christus, der die Lebenden und Toten richten wird, bei seiner Erscheinung und bei seinem Reiche!" führt jetzt doch, wie die Fortsetzung in 2 Tim 4,2f. zeigt, zu anderen Folgerungen als zu Paulus' Zeiten, zu der Mahnung nämlich, an der gesunden Lehre festzuhalten gegen eigene Gelüste und Ohrenkitzel. Mit dem Ende "zur rechten Zeit" (1 Tim 6,15) wird unmittelbar nicht mehr gerechnet. Darum ist es nötig, nach einem dauerhaften Fundament auszuschauen, auf dem die Kirche weiter wachsen kann. Es wird gesehen im apostolischen Wort, das als Lehre fixiert und für Gegenwart und Zukunft gesichert werden muß. Bewahrung des überkommenen lautet daher das Programm der Pastoralbriefe (2 Tim 1,13f.; 2,2). Im Besitz der gesunden Lehre ist jede Diskussion über ihren Inhalt überflüssig und weiteres Spekulieren gefährlich (1 Tim 6,4; 2 Tim 2,23;
Für die folgende Skizze einer Theologie der Pastoralbriefe vgl. BROX, Pastoralbriefe 49152; ebenfalls VIELHAUER, Urchristliche Literatur 223/35. 8 So A. LINDEMANN, Die Aufhebung der Zeit. Geschichtsverständnis und Eschatologie im Epheserbrief = Studien zum Nr 12 (Gütersloh 1975) 255f., allerdings in der etwas modischen Formulierung, daß der "Rechtspaulinismus" der Pastoralbriefe den "Linkspaulinismus" der Deuteropaulinen insgesamt zu korrigieren sich bemühe. 7
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Tit 3,9). 2 Petr 1,16/21 akzentuiert hier anders: Für ihn bleibt die überlieferung in der Schrift nur verbindlich bei richtiger Auslegung, die auf apostolischer Zeugenschaft aufruht. In den Pastoralbriefen dagegen erscheint das Evangelium nach Inhalt und Deutung geklärt; um sein Verständnis muß nicht mehr gerungen werden. Christlicher Glaube ist entsprechend "zuerst die Rechtgläubigkeit bezüglich der grundlegenden, unaufgebbaren apostolischen Lehre, die angenommen und festgehalten sein will, oder gar diese Lehre selbst (1 Tim 3,9; 6,10; 2 Tim 4,7)"9. Als weitere Auswirkung aus dem Abklingen der Naherwartung ergibt sich die Forderung an die Gemeinden, sich in der Zeit zwischen den beiden Adventen Christi durch ruhiges Verhalten auszuzeichnen. Der von Paulus auf die Welt geführte eschatologische Angriff, der schon im Kolosser- und Epheserbrief dabei ist zu verebben, wird in den Pastoralbriefen transformiert in das Leitbild einer christlichen Bürgerlichkeit10 • Die Christen werden angehalten, "sich den obrigkeitlichen Gewalten zu unterwerfen, zu gehorchen, zu jedem guten Werk bereit zu sein, niemanden zu lästern, friedfertig zu sein, milde, jegliche Sanftmut gegenüber allen Menschen zu erzeigen" (Tit 3,lf.). Mit solchen Ermahnun·gen können echt paulinische Gedanken über die Rechtfertigung aus Gnade und nicht aus Werken, über die erlösende Kraft von Jesu Tod oder die Rettung und Erneuerung durch Taufe und Geist (Tit 2,14-3,5) durchaus verbunden sein. Von dem Drängenden paulinischer Paränese angesichts einer vergehenden Welt (1 Kor 7,31) ist in den Mahnreden der Pastoralbriefe dennoch nichts mehr zu spüren. Sie zeigen "eine Solidarität mit der Welt, in der sich die Kirche einzurichten beginnt und der sie die Möglichkeiten des Bestehens entlehnt"; sie "sehnen sich nach politischen Verhältnissen, unter denen die Christen,in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit ein stilles und ruhiges Leben führen können' (1 Tim 2,2)"11. Eine innere Folgerichtigkeit ist dieser ethisch9
BROX, Pastoralbriefe SO.
P. STuHudACHER, Christliche Verantwortung bei Paulus und seinen Schülern: EvTh 28 (1968) 182f.; DIBELWS-CoNZELMANN 7. 11 BROX, Pastoralbriefe 51.
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eschatologischen Transformation nicht abzusprechen. Als die Parusie Christi ausbliebt mußte die Naherwartung sich wandeln. Eine Möglichkeitt den unaufhaltsam breiter werdenden zeitlichen Abstand zum irdischen Jesus zu überbrückent lag in einer präsentischen Eschatologie (JOt Eph)t die aber immer die (gnostische) Gefahr in sich schloßt daß die Hoffnung auf Zukunft verblaßte. Dagegen betonen die Pastoralbriefe (und viele andere frühchristliche Schriften) die noch ausstehende zweite Ankunft Christi t die mit Wachsamkeit zu erwarten ist, weil niemand die Zeit und Stunde kennt. Zwangsläufig bekommt damit aber die Zeit zwischen Auferstehung und Wiederkunft zum Gericht auch soteriologisch ein stärkeres Gewicht; die lebenslange Bewährung des Glaubens tritt als Forderung neben die Bekehrung zum Glauben (vgl. 1 Klem). Das von Paulus in eins geschaute Schon-undnoch-nicht der Erlösung wird gleichsam in seine zeitlichen Bestandteile zerlegt. Auf 1 Kor 7,31 können sich die Pastoralbriefe gewiß nicht berufen; sie liegen eher in der Konsequenz von Phil 2,14/6 - somit doch wieder paulinische Gedanken aufgreifend. Das zeitbedingte Interesse an den politischen Verhältnissen hat auch die Terminologie in der Christologie beeinflußt; Christusattribute wie "Güte" und "Menschenfreundlichkeit" (vgl. ebenfalls das E:rtt,<pavLa-Wortfeld) stimmen mit zeitgenössischen Kaisertitulaturen und -akklamationen überein (Tit 2,13; 3,4; 1 Tim 6,14; 2 Tim 1,9f.)12. Gegenüber Paulus, der die Heilsbedeutsamkeit Christi auf Kreuz und Auferstehung konZentriert, legen die Pastoralbriefe großes Gewicht auf Menschwerdung und Leben Jesu (Tit 2,11; 3,4). Christi Epiphanie in der Inkarnation gilt als Vorwegnahme seiner Wiederkunft in Herrlichkeit (2 Tim 1,10)13. Vgl. zu dieser noch nicht ausreichend geklärten Frage K. PROMM, Herrscherkult und Neues Testament: BibI 9(1928) 3/25; 129/42; 289/301; F. HAHN, ChristOlogische Hoheitstitel. Ihre Geschichte im frühen Christentum4 = FRLANT 83 (Göttingen 1974) 69f.; C. SPICQ, La Philanthropie hellenistique, vertu divine et royale: StTh 12(1958) 169/91; B. KÖ1TING, Euergetes: RAC 6,848/60, bes. 857; VIELHAUER, Urchristliche Literatur 232. 13 L. CERFAUX, Christus in der paulinischen Theologie (Düsseldorf 1964) 50, Anm. 2; vgl. BROX, Pastoralbriefe 51.
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Machen sich hier johanneische Anliegen im ldeinasiatischen Raum bemerkbar? Oder handelt es sich um Auswirkungen der Evangelien, die in dieser Zeit vielerorts ein stärkeres Interesse am irdischen Leben Jesu bewirkt haben (vgl. 1 Klem)? Die Christologie der Pastoralbriefe insgesamt erscheint altertümlicher als die des Paulus, den sie niemals überbietet, hinter dem sie in vielen Fällen eher zurückbleibt14• Manche Formulierungen verraten antihäretische Tendenzen und wenden sich gegen gnostische Verfälschungen1s • Man wird allerdings nicht darin den Grund für eine sprachliche und sachliche Entfernung von Paulus sehen dürfen, denn die Auseinandersetzungmit den Häretikern geschieht nicht in der Form wirklicher Auseinandersetzung und Diskussion, die gegenüber Paulus weiterführende Argumente und theologische Vorstellungen heranziehen würden, sondern allein durch Ablehnung und den Verweis auf die "gesunde Lehre", die nicht entfaltet, angepaßt und neu formuliert, sondern bewahrt werden muß 16 • Paulus diskutiert in 1 Kor 15 des langen und breiten die irrigen Auffassungen über die Auferstehung in der Gemeinde; mit Hymenäus und Philetus, die bezüglich der Auferstehung irrig lehren, soll Timotheus hingegen nicht streiten (2 Tim 2, 17f.). Wortgefechte führen zu nichts, sie dienen nur dem Verderben der Hörer (ebd.14); törichten und zuchtlosen Grübeleien weicht man am besten aus, denn sie rufen nur Streitigkeiten hervor (ebd. 23). Im antihäretischen Bereich vertreten die Pastoralbriefe keine paulinische Theologie - natürlich auch keine antipaulinische. Zugespitzt könnte man sagen, sie verzichten ganz darauf, eine eigene Theologie zu entfalten, und begnügen sich mit dem Rückverweis auf eine nur wenig ausgeführte frühere. Selbständigkeit erreichen sie dagegen in den Anweisungen für ein praktisch gelebtes Christentum17. H. WINDISCH, Zur Christologie der Pastoralbriefe: ZNW 34 (1935) 213/38, . bes. 229f.; 236/8; vgl. BROX, Pastoralbriefe 51; 163. 15 Ober judenchristliche Wanderprediger und ~nthusiastische Pauliner als Gegner der Pastoralbriefe vgl. MOiLER, Tbeologiegeschichte 58/74. 16 Vgl. R. F. CoLUNS, Tbe Image of Paul in the Pastorals: Laval theologique et philosophique (Quebec 1975) 150; 165. 17 BROX, Pastoralbriefe 50; VIEUfAUER, Urchristliche Literatur 23lf.
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Das Paulusbild Zu dem bis hierher skizzierten Inhalt der Pastoralbriefe, dem neben andersartigen und hinter Paulus zurückbleibenden Elementen ebenso weiterführende und mit dem Gedankengut des Apostels in Verbindung stehende angehören, ließen sich noch weitere Gesichtspunkte hinzufügen18 . Sie würden jedoch nichts an dem Eindruck ändern, daß die Pastoralbriefe, auch wo sie es in Wirklichkeit nicht sind, bewußt und ausdrücklich paulinisch sein wollen. Das Unpaulinische in ihnen ist kein Zeichen einer wie auch immer zu verstehenden reservierten Haltung gegenüber dem Apostel, sondern nur Hinweis auf ihre nachpaulinische Entstehung. Dabei gibt es nach VON CAMPENHAUSEN im 2. Jahrhundert "kein zweites Dokument, das Paulus innerlich noch so nahestünde und bestimmte Tendenzen seiner Theologie so verhältnismäßig rein zum Ausdruck gebracht hätte, wie die Pastoralbriefe"19. Ihr Verfasser scheint über Paulus gut Bescheid gewußt zu haben, sonst hätte er ihn nicht so geschickt nachahmen können. Er kennt seine Briefe, deren Verbreitung in den Gemeinden des paulinischen Missionsgebietes mit großer Sicherheit vorausgesetzt werden darf. Die Vertrautheit mit Paulus geht aber über die bloße Kenntnis der Briefe hinaus und wird aus mündlichen überlieferungen über Person und Werk des Apostels gespeist, die in der kleinasiatischen Kirche lebendig geblieben sind2o • So gelingt es den Pastoralbriefen, unter Zuhilfenahme autobiogra-
In der theologischen Auffassung von Amt und Gemeindeordnung z. B. stehen die Pastoralbriefe in ähnlicher Tradition wie der Kolosser- pnd Epheserbrief mit Paulus in Verbindung (vgl. VIELHAUER, Urchristliche Literatur 202f.; 214). Auf der anderen Seite läßt sich die rechtlich und organisatorisch fortgeschrittene Stellung der Amtsträger in den Pastoralbriefen mit der "Christusunmittelbarkeit der Gemeinde" bei Paulus schwerlich noch vergleichen (vgl. VON CAMPENHAUSEN, Kirchliches Amt 127f.; BROX, Pastoralbriefe 42/6). 19 H. VON CAMPENHAUSEN, Polykarp von Smyma und die Pastoralbriefe 210f. (vgl. S. 150, Anm. 3). :10 Vgl. mit genauen Nachweisen BARNEIT, Literary Influence 251177, bes. 277. W. SrENGER, Timotheus und Titus als literarische Gestalten: Kairos 16 (1974) 18
261.
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phisch anmutender Notizen .ein Bild zu zeichnen, das deutliche Spuren einer beginnenden Paulushagiographie erkennen läßfl. CoLLINS hat versucht, dieses Bild auf. drei Grundzüge zu konzentrieren. Nach ihm ist Paulus für die Pastoralbriefe der Apostel, die kirchliche Autorität und das Ideal eines Christen schlechthin22 • . Im Unterschied zu den authentischen Briefen, in denen Paulus neben seinem eigenen Apostolatsanspruch einen differenzierten und auf verschiedene Personen und Gruppen anzuwendenden Apostelbegriff kennf3 , ist für die Pastoralbriefe Paulus der einzige Apostel. Sie erwähnen keine andere apostolische Autorität neben Paulus, ebensowenig irgendeine kirchliche Instanz, die Amt und Anspruch des Paulus garantieren oder. bestätigen müßte. Gott selbst und er allein verbürgt sich für den Apostel und die Glaubwürdigkeit seiner Botschaft, die Paulus in 2 Tim 2,8 "mein Evangelium" nennt (vgl. Röm 16,25). "Apostel Jesu Christi" ist Paulus "gemäß dem Auftrag Gottes" (1 Tim 1,1) "durch den Willen Gottes" (2 Tim 1,1) als "Knecht Gottes" (Tit 1,1), eingebunden in die Heilsgeschichte wie Moses, David, die Patriarchen und Propheten. Entsprechend seiner Einzigartigkeit besitzt Paulus den Apostolat in Fülle. 1 Tim 2,7 und 2 Tim 1,11 vermehren seine Titel: Als Apostel ist er Herold und· Lehrer der Heiden in Glauben und Wahrheit24 • Dieser Anspruch bleibt nicht abstrakt, sondern konkretisiert sich in der alleinigen Weisungsbefugnis des Paulus für die Kirche in Kreta und Ephesus. Der echte Paulus kennt und akzeptiert Praxis und Tradition anderer Kirchen; er steht in ihnen und gibt sie weiter. Der Paulus der Pastoralbriefe entscheidet souverän 147. Auf eine Steigerung in der Ausgestaltung eines "wlgär-christliehen Paulusbildes", ausgehend von 1 Kor 15,9 über Eph 3,8, 1 Tim 1,12ff. nach Bam 5,9, weist auch K. M. FIscHER, Tendenz und Absieht des Epheserbriefes = FRLANf 111 (Göttingen 1973) 98 hin. 22 ColLINS 147. 23 J. ROLOFF, Apostolat-Verkündigung-Kirche. Ursprung, Inhalt und Funktion des kirchlichen Apostelamtes nach Paulus, Lukas und den Pastoralbriefen (Gütersloh 1965) 57/82. 24 CollINS 147/56, bes. 156.
21
ColLINS
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(vgl. 1 Kor 11,2 und 1 Tim 2,8). Timotheus und Titus sind keine gleichberechtigten Autoritäten, eher seine Schüler und Kinder; sie vertreten den Apostel, solange er feme ist, und kehren nach vollbrachter Mission zu ihm zurück 25 ; von Paulus empfangen sie, was sie lehren und beobachten sollen (1 Tim 2,18; 4,6.11); er verbürgt ihren Auftrag; durch ihn haben sie das Charisma ihres Amtes erhalten (2 Tim 1,6)26. Keine Sparte des christlichen Lebens ist von diesem Autoritätsanspruch ausgenommen; Gottesdienst und Predigt, Gemeindeordnung und die Vielfalt moralischer Anweisungen bis hin zu den Verhaltensmaßregeln im Umgang mit Abtrünnigen, sie alle unterstehen der Weisung des Paulus. Von ihm stammt die "gesunde Lehre" (vgl. 2 Tim 1,13), von der in den Pastoralbriefen"so oft die Rede ise7 • CoLLINS betont mit Recht, daß die überragende Autorität Pauli nicht juristisch-amtlich begründet wird, sondern auf der überzeugungskraft .seiner Person beruht. Entsprechend zeichnen die Pastoralbriefe Paulus als exemplarischen Christen und Beispiel für alle, die in der Bedrängnis der Endzeit leben. In 1 Tim 1,13/6 wird ausgeführt, wie Paulus, der Sünder, Lästerer, Verfolger und Gewalttätige, aus Gnade gerettet wurde. Er als erster, damit an ihm "als dem ersten, Christus Jesus seine ganze Langmut zeige zum Vorbild für die, die künftig an ihn glauben". In 2 Tim 2,8/10 tritt der leidende und gefesselte Apostel hervor, der alles erträgt "um der Auserwählten willen, damit auch sie das Heil in Christus Jesus erlangen samt seiner Herrlichkeit". Wie es Paulus ergangen ist, wird es allen ergehen, "die fromm in Christus leben wollen"; sie werden Verfolgung erdulden müssen (2 Tim 3,12). Wenn sie aber wie Paulus den guten Kampf gekämpft und den Glauben Diesen Aspekt der Votläufigkeit und zeitlichen Begrenztheit des Auftrags der heiden Apostelschüler betont STENGER 252/67, bes. 264/1. Dagegen weist STuHLMACHER 181 vor allem auf den Charakter des 2. Timotheusbriefes als testamentarischer Willensverfügung hin. Vgl. auch DmEUus - CONZELMANN 3. 26 Doch vgl."1 Tim 4,14; dazu H. GoLDSTEIN, Paulinische Gemeinde im Ersten Petrusbrief = Stuttgarter Bibelstudien 80 (Stuttgart 1975) 94f. 27 Vgl. BROX, Pastoralbriefe 107f. Zum ganzen Abschnitt COlLlNS 156/65, hes. 165; zur "gesunden Lehre" vgl. DmELIUS - CONZELMANN 20f.
2S
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bewahrt haben, werden sie vom gerechten Richter den Kranz der Gerechtigkeit erhalten (2 Tim 4,7f.). Von Vorbild und Nachahmung spricht Paulus auch in seinen eigenen Briefen (vgl. 1 Thess 1,6; 1 Kor 11,1). Während er dort aber den Blick seiner Leser über sich hinaus auf Christus lenkt, bleiben die Pastoralbriefe beim Apostel stehen. In einer Art "paulinischer Reduktion"28 machen sie Paulus zum alleinigen Vorbild, so wie sie ihn auch zum alleinigen Träger des Apostolats und der kirchlichen Autorität gemacht haben. Alles zusammengenommen, zeichnen die Pastoralbriefe ein Paulusbild, welches den wirklichen Paulus noch über die Heroisierung in der Apostelgeschichte hinaus erhebt und in seiner Bedeutung (auch für den Bereich der kretischen und ephesinischen Kirche) überzeichnet29• CoLLINS hält sie für den Ausdruck einer anhebenden Paulushagiographie, den "ersten Entwurf von Paulus als einem Heiligen der christlichen Kirche"30. Pseudepigraphische Absicht Um seinen Ausführungen Nachdruck zu verleihen, führt der Verfasser der Pastoralbriefe alles, was er einzuschärfen hat, auf Paulus selbst zurück; ein in der nachapostolischen Zeit nicht gerade seltenes Verfahren, wie die frühchristliche Literaturgeschichte erweise t • Mit dem namentlichen Rückgriff auf Paulus COlLlNS 172. BAUER, Rechtgläubigkeit 80; 88f. (vgl. S. 160, Anm. 6). N. BROX, Zu den persönlichen Notizen der Pastoralbriefe: BZ NF 13 (1969) 76/94, bes. 83f. (wiederabgedruckt DERS., Pseudepigraphie [vgl. unten Anm.31] 272/94) warnt jedoch davor, exemplarisch und paränetisch verwertete Situationen allzu historisch zu verstehen. 30 ColLlNS 165/73, bes. 173. 31 Selbstverständlich ist Pseudepigraphie nicht nur ein frühchristliches ·Phänomen. Vgl. neben BROX die grundlegenden Arbeiten von W. SPEYER, Religiöse Pseudepigraphie und literarische Fälschung im Altertum: JbAC 8/9(1965/66) 88/125; DERS., Fälschung, literarische: RAC 7,236/77; DERS., Die literarische Fälschung im heidnischen und christlichen Altertum. Ein Versuch ihrer Deutung = Handb. Klass. Altertumswiss. 1,2 (München 1971); N. BROX, Pseudepigraphie in der heidnischen und jüdisch-christlichen Antike = Wege der Forschung 484 (Darmstadt 1977).
2.8
29
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wird die Hochschätzung seiner apostolischen Autorität bekräftigt und zugleich die Kontinuität der Verkündigung von Anfang an als sichergestellt behauptet32 . Damit bieten die Pastoralbriefe so etwas wie eine selbst wieder kanonisch gewordene Paulusexegese, die auf verschiedene Weise durchgeführt wird. "Es wird nicht nur paulinisches oder ,paulinisierendes' Lehrgut verwendet und darin der Anschluß an den Apostel gesucht, sondern in großer Freiheit werden recht disparate Dinge über dessen Namen zusammengestellt. So greifen der 1 Tim und Tit mancherlei vorgeformtes Traditionsgut (Hymnisches, Kirchenordnungen, Sprichwörter, Haustafeln, Pflichtenspiegel) auf, mit dessen Hilfe ordnend und weisend die Gemeindeverhältnisse geregelt werden. Der 2 Tim verfährt anders: In ihm spricht der leidende ,Paulus', an dessen Apostelgestalt das Entscheidende und Verpflichtende für den kirchlichen Amtsträger abzulesen ist"33. Doch warum binden sich die Pastoralbriefe an die Autorität gerade des Paulus, warum nicht an die des Petrus oder eines anderen Apostels, wofür es ja auch Beispiele gibt? Die Antwort ist schon mehrfach angeklungen: Weil ihr Verfasser in einer lebendigen paulinischen Überlieferung steht. Und wenn es gilt, die wie auch immer zu verstehenden "gesetzlichen" Häretike24 (vgl. 1 Tim 4,1/5; Tit 3,9) zu widerlegen, bietet sich Paulus dafür als kompetenter Helfer an. Man kann allerdings auch - und das ist verbreitet geschehen35 - umgekehrt argumentieren und sagen, die Pastoralbriefe wollten nicht mit dem Namen des Paulus den Briefinhalt apostolisch legitimieren, sondern mit Hilfe des rechtgläubigen Inhalts die kirchliche Anerkennung des Paulus durchsetzen. Wie kommt es zu dieser Umkehrung? Ausgangspunkt ist der häufig wiederholte Hinweis36 , Paulus sei um die Mitte des 2. Jahrhunderts im kirchlichen Schrifttum vernachlässigt, im 32 33
BROX, Falsche Verfasserangaben 113f. BROX, Pastoralbriefe 68f.
Vgl: MülLER, Theologiegeschichte 58/67. BARNETI, Literary Influence 251; VON CAMPENHAUSEN, Polykarp 24217; BAUER, Rechtgläubigkeit 227/30; weitere Stellungnahmen notiert BROX, Pastoralbriefe 70. 36 Vgl. S. 222, Arun. 2.
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3S
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häretischen dafür um so mehr herausgestrichen worden. Diese Reklamation des Paulus durch Häretiker wie Markion, Valentin, Basilides wird als Grund dafür angesehen, ..warum Papias, Justin und Hegesipp sich so zurückhaltend gegenüber dem Apostel verhalten. Ja vielleicht hätte man ihn am liebsten ganz ausgeschlossen und seine Schriften nicht zum Kanon gerechnet. Aber dazu war es zu spät. Er war nun einmal ein Hauptapostel, neben Petrus der Märtyrer Roms, und stand trotz der Unkenntnis von seiner Theologie in Rom in hohem Ansehen. So hat man versucht, den Ketzern diesen Zeugen zu entreißen und ihn in das kirchliche Bild von dem Urchristentum, der Mission und der Lehre einzufügen. In diesen Zusammenhang gehören die Pastoralbriefe, die man doch wohl recht spät ansetzen muß"37. Diese Deutung der pseudepigraphischen Entstehung der Pastoralbriefe ist jedoch nicht ohne Schwierigkeiten. Zunächst einmal lassen sie sich durchaus nicht mit Sicherheit so spät, praktisch in die 2. Hälfte des 2. Jahrhunderts, datieren. Gehören sie aber an den Beginn bzw. in die 1. Hälfte des 2. Jahrhunderts, dann heben sie das Schweigen über Paulus in kirchlichen Kreisen nicht auf, sondern setzen eine lebendige paulinische Tradition fort, die gerade im kleinasiatischen Raum von den Deuteropaulinen über den 1. Petrusbrief bis hin zu Ignatius und Polykarp kontinuierlich verfolgt werden kann. Des weiteren ist nicht zu beweisen, daß ein Abrücken von Paulus oder sein Verschweigen in irgendwelchen frühchristlichen Schriften aus antihäretischen Gründen bzw. aus Mißtrauen gegenüber Paulus erfolgt ist. 2 Petr 3,16 kennt zwar den häretischen Mißbrauch des Paulus, schließt deswegen die kirchliche Empfehlung einer rechten Benutzung seiner Schriften aber keineswegs aus. Die überwindung einer antihäretisch motivierten Distanz zu Paulus würde erst da notwendig, wo eine Entfremdung gegenüber dem Apostel und Unkenntnis seiner Theologie vorausgegangen wäre38. Dafür bieten die Pastoralbriefe aber keine Hinweise. Schließlich gibt BROX aufgrund seiner Kenntnis der antiken Pseudepigraphie noch zu bedenken, daß bei 37
38
8cHNEEMELCHER, Paulus BROX, Pastoralbriefe 70.
170
in der griechischen Kirche 11.
dem vermuteten Anlaß zur Abfassung der Briefe das pseudepigraphische Schrifttum nicht durch den prominenten Schreiber autorisiert, sondern der in Verdacht geratene Autor durch ihm unterschobene, untadelige Schriften rehabilitiert worden wäre. "DaS würde in der antiken Pseudepigraphie wahrscheinlich schwer seine Parallele finden und wäre vor allem innerhalb der altchristlichen Literaturgeschichte ein singulärer Vorgang"39. Daß Paulus durch die Pastoralbriefe de facto zugleich nach draußen als kirchlich-antignostischer Autor proklamiert wird, ist ein willkommener Nebeneffekt, nicht aber Hauptziel ihrer pseudepigraphischen Verfasserschaft40 • In diesem Zusammenhang sei noch einmal an den 1. Petrusbrief erinnert, der paulinisch spricht durch den Mund des Petrus41 • Ist der Brief in Kleinasien entstanden, stellt sich die Frage, warum nicht Paulus als Verfasser angegeben wird. Muß man es als Zeichen werten für ei~e wachsende Hochschätzung des Petrus, der als Erstzeuge der Auferstehung - auch nach Paulus (vgl. 1 Kor 15,5) - einen Vorrang besitzt? (Ist der Brief in Rom entstanden, läßt sich die Wahl des Petrus noch leichter verstehen.) Oder wird über die behauptete Verfasserschaft des Petrus an einem Brief paulinischen Inhalts eine Stärkung der paulinischen Theologie in Kleinasien angestrebt? Hat Paulus sie nötig und, falls ja, wem gegenüber? Wenn die Stellung des Paulus umstritten war, wäre es natürlich ein kluger Schachzug gewesen, paulinische Gedanken vorzutragen unter dem Namen eines anderen, unangefochtenen Apostels. Für die Pastoralbriefe ergibt sich daraus eine wichtige Folgerung, insofern sie diesen Weg nicht gehen. Sie glauben nicht, daß es nötig ist, .Paulus mit Petrus zu decken. Sie schreiben unter dem Pseudonym des Paulus, ohne zu fürchten, daß wegen dieses Namens die Briefe keine Aufnahme finden. Sie verbreiten auch nicht nur eine allgemeine Gemeindetheologie, die von keinem angegriffen werden kann, um auf diese Weise Paulus in den Kreis der Regeltheologen zurückzubringen, son39
Ebd. 7Of.
40
Ebd. 71. Vgl. S. 68.
41
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dem sie bemühen sich durchaus - mit an den Abstrichen, die hinsichtlich des Gelingens anzubringen sind -, auch spezifisch paulinische Gedanken über Gesetz und Rechtfertigung vorzutragen42 • Und sie hatten Erfolg, was ihre Rezeption als Briefe des Paulus angeht, nicht nur in den kleinasiatischen Gemeinden, sondern in der ganzen Ökumene durch ihre relativ frühe und unangefochtene Aufnahme in das Corpus PauIinum und den Kanon der neutestamentlichen Schriften43 • So dürfen die Pastoralbriefe als wichtiges Zeugnis für eine ungebrochene pauIinische Tradition und die große Autorität des Apostels in den ersten Dezennien des 2. Jahrhunderts zumindest in Kleinasien betrachtet werden: Sie erheben im kirchlichen Raum noch einmal vernehmlich die Stimme, um ausschließlich Paulus als Apostel und Lehrer der Kirche herauszustellen. Mag es in den folgenden Jahrzehnten um die Jahrhundertmitte (im Gegensatz zu häretischen Zirkeln, der christlich-gnostischen Literatur und gewissen apokryphen Schriften) in kirchlichen Kreisen um Paulus und seine Theologie auch stiller werden - eine oft wiederholte These, die weiter unten noch kritisch zu prüfen sein wird -, allzuweit brauchte der aus Kleinasien stammende Irenäus nicht zurückzugehen, wenn er die Fäden paulinischer Tradition wieder aufnehmen wollte44 • Auch wenn die Pastoralbriefe die paulinisehe Verkündigung nicht unverkürzt weitergegeben haben - und man wird zugeben müssen, daß ihr theologisches Niveau gegenüber dem echten Paulus eine abfallende Tendenz aufweist, die nicht nur aus der gewandelten Situation und den anders gelagerten Bedürfnissen der Gemeinde, sondern ebenso aus den (begrenzten) Möglichkeiten des Verfassers zu erklären sind4s -, sie als Produkte theologischen Abfalls zu verurBROX, Pastoralbriefe 72. WlKENHAUSER-ScHMID, Einleitung 515f.; E. LoHSE, Entstehung des Neuen Testaments = Theol. Wissenschaft 4 (Stuttgart 1972) 14; BROX, Pastoralbriefe 26/8. 44 Vgl. S. 126. 45 Vgl. BROX, Pastoralbriefe 53; vgl. F. MAlER, Die Hauptprobleme der Pastoralbriefe Pauli = BZfr 3,123 (Münster 1920) 27; K. H. ScHELKLE, Das Neue Testament. Eine Einführung (Kevelaer 1963) 184. 42 43
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teilen46 , wäre ungerechtfertigt. Sie schreiben und schärfen ein, was die Lage der Kirche erfordert, und zeichnen dabei ein so warmherziges, über die kargen autobiographischen Notizen der Paulusbriefe hinausgehendes, trotzdem nicht phantastisch-unwirkliches Bild des um die Gemeinde besorgten, leidensbereiten Apostels47 , der mit diesen Briefen der Kirche gleichsam sein Vermächtnis hinterlassen hat48 , daß sie als echte Paulusbriefe aufgenommen worden sind und als das vermeintlich letzte Wort des Apostels ihre Wirkung nicht verfehlt haben49 •
46 So Z.B. V. HAsLER, Das nomistische Verständnis des Evangeliums in den
Pastoralbriefen: Schweizerische theol. Umschau 28 (Bern 1958) 65177, bes. 75. Sehr zu Recht plädieren DIBELIUS - CoNZELMANN 7, dafür, die Wertung der Pastoralbriefe nicht in einseitiger Konfrontation mit Paulus, sondern im Hinblick auf das kirchliche Selbstverständnis der nachapostolischen Zeit zu treffen. Ebenso urteilt TRUMMER 248f. 47 DmELß)s - CoNZELMANN 8. 48 STum.MACHER 181; VIELHAUER, Urchristliche Literatur 236; vgl. S. 167, Anm. 25. 49 Vgl. SCHULZ, Mitte der Schrift 108f., der entsprechend seinem Vorverständnis allerdings fordert, diese Wirkung rückgängig zu machen.
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III. DAS RINGEN UM PAULUS IM ZWEITEN JAHRHUNDERT Einige der bisher behandelten Schriften haben bereits erkennen lassen, daß um die Jahrhundertwende ein Kampf um Paulus und seine Theologie im. Gange ist (vgl. Jak; 2 Petr; Past). Kamen bislang dazu nur kirchliche Schriftsteller zu Wort, so müssen die Fronten jetzt gewechselt werden, um zu sehen, wie Paulus in den aus der Kirche herauswachsenden bzw. herausgewachsenen Gruppen beurteilt worden ist. Dabei wird sich herausstellen, daß es beides gegeben hat: einen forcierten Paulinismus vor allem bei Markion, desgleichen bei manchen Gnostikern sowie in einigen apokryphen Schriften, auf der anderen Seite (literarisch ebenfalls faßbar im apokryphen Schrifttum) einen Antipaulinismus, wie er in dieser schroffen Form in der gesamten spätneutestamentlichen und frühkirchlichen Literatur nicht anzutreffen ist. Dort war wohl ein - manchmal geographisch bedingtes - Desinteresse an Paulus zu bemerken (vgl. Didache), das auch in der Folgezeit beobachtet werden kann. Ebenso mußte bei Schriften, die in paulinischer Tradition stehen (oder doch stehen wollen), festgestellt werden, daß sie hinter dem theologischen Reichtum und der existentiellen Tiefe des Paulus zurückbleiben (vgl. Deuteropaulinen; Ignatius; Polykarp). Mit der Treue zum Ursprung kann sich die Schwäche des Epigonenturns verbinden. Wird die theologisch-existentielle Meisterschaft des Apostels tatsächlich einmal erreicht, entsteht etwas Neues, das man nicht mehr als Paulinismus bezeichnen kann (vgl. Jo). Schließlich war nicht zu verkennen, daß veränderte Fragestellungen und neue Situationen die paulinischen Akzente ergänzt und modifiziert, andere inner- und außerkirchliche Traditionen den genuinen Paulus überdeckt haben (vgl. 1 Klem). Zu keiner Zeit hat Paulus die frühkirchliche Theologie so beherrscht, wie es nach der Vielzahl seiner kanonisch überlieferten Schriften den Anschein haben könnte; Paulus ist zwar immer ein Ferment in der theologischen Entwicklung, nie aber
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ihre alleinige Basis gewesen1 • Wie eingeschränkt und unzulänglich das Interesse an Paulus und die Vertrautheit mit seiner Theologie im einzelnen auch gewesen sein mag, eine Kenntnis entweder seiner Person oder seiner missionarischen Predigt war doch verbreitet anzutreffen, ebenso die meist gar nicht mehr reflektierte und inzwischen als selbstverständlich akzeptierte Bejahung der Freiheit vom Gesetz in seinem theologisch-grundsätzlichen, heilsschaffenden Sinn, unabhängig vom Anwachsen moralischer Forderungen und dem Betonen guter Werke. Dabei darf nicht übersehen werden, daß das explizite oder implizite Bekenntnis zu Paulus - mag es auch inhaltlich mit noch so vielen Schwächen behaftet gewesen sein - nicht selbstverständlich war. Durch häretische Inanspruchnahme war die paulinisehe Theologie tatsächlich kirchlicherseits zu einer Herausforderung geworden. Paulus konnte als Stachel im Fleisch empfunden werden, als eine gefährliche Waffe, die von den Häretikern glänzend geführt wurde. Es ist das Verdienst der kirchlichen Amtsträger und Lehrer dieser Zeit, daß sie Paulus nicht aufgegeben haben, auch wenn ihnen sein Verständnis schwerfiel und die glänzenderen Dialektiker, die mit der paulinischen Theologie zu argumentieren verstanden, nicht selten aus den Gemeinden herauswuchsen oder schon außerhalb standen. Die Kirche hat sich damals für einige Zeit damit begnügen müssen, Paulus zu bewahren, seine Briefe zu sammeln2 und kanonisch zu sichern3 , um auf diese Weise ihren OffenbarungschaVgl. U. LUCK, Der Jakobusbrief und die Theologie des Paulus: ThGl61 (1971) 176; VERWEIJS, Evangelium und neues Gesetz HOf. 2 Nach ZAHN, Kanon 1,829/35, geschieht das bereits vor 85, nach WIKENHAUSER-SCHMID, Einleitung 33f., gegen "Ende des 1. oder doch zu Anfang des 2., nach VIELHAUER, Urchristliche Literatur 783, zu Beginn des 2. Jahrhunderts. Faßbar wird eine Sammlung paulinischer Briefe bei Ignatius, Eph. 12,2; Polykarp, 2 Phil. 3,1 und 2 Petr 3,15f.; vgl. noch VON CAMl'ENHAUSEN, Bibel 17Ot.; SCHNEEMELCHER, Paulus in der griechischen Kirche 11. 3 Einen festumrissenen Kanon bietet als erster Markion; vgl. S. 185, Anm. 34. Das älteste kirchliche Kanonverzeichnis, der sog. Kanon Muratori vom Ende des 2. Jahrhunderts, führt bereits 13 Paulusbriefe an; vgl. WIKENHAUSERScJooD, Einleitung 41; MARxsEN, Einleitung in das Neue Testament (Gütersloh 1963) 235; VIELHAUER, Urchristliche Literatur 781/6. 1
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rakter zu garantieren und sie für die kirchlichen Lehrer bereitzuhalten, die nach unzulänglichen4 oder ungeeigneten5 Versuchen wieder in der Lage sein: würden, die Theologie des Apostels in die Verkündigung ihrer Zeit einzubringen. Die Jahre des geduldigen Bewahrens sind vielleicht nicht besonders ruhmvoll, aber sie sind in der Kirche immer wieder notwendig gewesen. Das 2. J ahrhundert, in dem die Zeugnisse großer kirchlicher Theologie insgesamt rar sind, ist eine solche Zeit der Verteidigung von Bekenntnis und Sitte gegenüber dem Ansturm der gnostischen Ideen gewesen; es ist zugleich die Zeit der Kanonwerdung der neutestamentlichen Schriften, Paulus nicht ausgeschlossen.
1. Markions häretischer Paulinismus
Der gnostisch-häretische Kampf um Paulus beginnt nicht erst mit Markion; Markion ist auch nicht im Vollsinn Gnostiker (wenngleich wohl stärker, als noch VON HARNACK es wahrhaben wollte)6. In seinem theologischen System ist aber das hier zu
BAUER, Rechtgläubigkeit 152, vennutet hinter der von Eusebius, Hist. eccl. 5,27 erwähnten Schrift Ets '(0\1 a1t6O'to~ov des Antignostikers Heraklit eine Schuwchrift zugunsten des Paulus, "die ihn gegen Mißdeutung oder auch Mißbrauch seitens der Häretiker verteidigen will". 5 So B. die Acta Pauli eines kleinasiatischen Presbyters; vgl. S. 27lf. 6 VON HARNACK, Marcion 19618, Anm. 1; ebenso, wenngleich weniger überzeugend, VERWEUS, Evangelium und neues Gesetz 292/346; dagegen U. BlANCHI, Marcion: theologien biblique ou docteur gnostique?: Studia Evangelica 5 = TU 103 (Berlin 1968) 234/41 (wiederabgedruckt: VigChr 21[1967] 141/9); BlANCHI wiederum abschwächend B. ALAND, Marcion. Versuch einer neuen Interpretation: ZThK 70 (1973) 424, Anm. 21; 429; 433f.; abwägend E. U. SCHULE, Der Ursprung des Bösen bei Marcion: ZRGG 16 (1964) 23/42, bes. 29/35. Eine'knappe übersicht über die gegensätzlichen Meinungen bietetJ. G. GAGER, Marcion and Philosophy: VigChr 26 (1972) 53f., der selber den philosophisch-epikureischen Anteil in Markions System hervorhebt (ebd. 54/59); ähnlich J. WOLTMANN, Der geschichtliche Hintergrund der Lehre Markions vom "fremden Gott": Wegzeichen. FS. H. Biedermann (Würzburg 1971) 15/42. 4
z.
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erörternde Problem, Paulus und die Besitzergreifung seiner Theologie in einer Antikirehe, am konsequentesten und extremsten ausgebildet, so daß eine Beschreibung der Auseinandersetzung um Paulus im 2. Jahrhundert am besten mit ihm beginnt. An Markion lassen sich dann die weiteren Spielarten des Paulinismus in anderen gnostisch-häretischen Gruppen leicht anschließen und messen.
Theologische Ausgangspunkte Markion wurde um das Jahr 85 in Sinope am Südufer des Schwarzen Meeres als Sohn des dortigen Bischofs geboren. Seine Familie war wohlhabend, er selbst wird als Schiffsreeder bezeichnet. Schon früh scheint er mit den Leitern der christlichen Gemeinde seiner Heimat über die Interpretation paulinischer Texte in Streit geraten zu sein. Auch in Kleinasien stieß er in den Gemeinden auf Ablehnung. Irenäus berichtet Polykarps schroffe Antwort an den Anerkennung suchenden Markion: "Ich erkenne dich als den Erstgeborenen des Satans!"7. Markion wandte sich nach Rom, wo er sich längere Zeit in der Gemeinde halten konnte. Erst im Juli 144 kam es zum Bruch. Sofort begann er mit Umsicht und Klugheit den Aufbau eigener Gemeinden und hatte damit großen Erfolgs. Da die Markioniten im Gottesdienst den Gebräuchen der Groß kirche weithin folgten, scheint vielen Christen, fasziniert von der überzeugungskraft der theologischen Thesen Markions, der übertritt nicht schwergefallen zu sein9 • Die straffe Organisation ließ die neuen Gemeinschaften im Gegensatz zu manchen verschwommenen gnostischen Gruppen für die Kirche nicht nur theologisch, sondern auch missionarisch zu einer ernsten Gefahr werden. Kaum ein orthodox-kirchlicher
7
Eusebius, Hist.eccl. 4,14,7.
vON HARNACK, Marcion 3 */30*. 9 Tertullian, Adv. Marcionem 3,22, 6f.; vgl. vONHARNACK, Marcion 144f.
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Schriftsteller seit lustin hat es versäumt, Markion oder die markionitische Kirche zu bekämpfen10 • Neben der Persönlichkeit Markions war es die theologische Kraft und Kompromißlosigkeit seiner Lehre, die sowohl Gefahr für die Kirche heraufbeschwor als auch positive Anstöße für die kirchliche Lehrentwicklung liefertell. VON HARNACK nennt sein bisher unerreichtes Buch über Markion im Untertitel "Das Evangelium vom fremden Gott". Er will damit Markions Grunderlebnis ansprechen, das zu seiner Reform geführt hat, eine religiöse Kraft, die es fertigbringt, Gott in seiner Fremdheit und Andersartigkeit zu belassen und ihn nicht in die Sphäre menschlicher Vorstellungen herabzuziehen, den Mut zu einer negativen Theologie, die immer notwendig ist, wenn Gott Gott bleiben soll, ein Anliegen, das stets aktuelle Züge trägt. Noch faßbarer ist eine andere Wirkung Markions: Er gilt als der Schöpfer eines Kanons der Hl. Schrift des Neuen Testamentes, der mit eben dieser Tat die Kirche ihrerseits gezwungen hat, einen neutestamentlichen Kanon auszubilden. VON CAMPENHAUSEN geht noch über VON HARNACK hinaus 12, wenn er feststellt: "Idee und Wirklichkeit einer christlichen Bibel sind von Markion geschaffen worden, und die Kirche, die sein Werk verwarf, ist ihm. hierin nicht vorangegangen, sondern - formal gesehen - seinem Vorbild nachgefolgt"13. Vgl. K. BAUS, Von der Urgemeinde zur frühchristlichen Großkirche = Handbuch der Kirchengeschichte 1 (Freiburg 1962) 221; VON HARNACK, Marcion 153/60; 314*/99'"; E. C. BLACKMAN, Marcion and bis Influence (London 1948) 3/14. 11 Vgl. VON HARNACK, Marcion 196/215. 12 Auch VON HARNACK, Marcion, schreibt die Schaffung der neutestamentlichen Bibel Markion zu (vgI. 72; 84f.; 115; 210; 215), rechnet aber, unterschiedlich klar formuliert, mit dem Bestehen eines Vierevangelienkanons bereits vor Markion (vgl. ebd. 73), was VON CAMPENHAUSEN, Bibel 184/7, Anm.39, ablehnt. Tatsächlich wird man unterscheiden müssen zwischen dem bloßen Bestehen bestimmter Gruppierungen von Schriften sowie ihrem faktischen Gebrauch und ihrer allgemeinen und ausschließlichen Geltung durch die Einbindung in einen "closed canon"; vgI. BLACKMAN 23; ZAHN, Kanon 1,586. 13 VON CAMPENHAUSEN, Bibel 174, ähnlich 189; 192f. Vgl. J. KNox, Marcionand the New Testament. An Essay in the Early History of the Canon (Chicago
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Welche Gründe haben Markion dazu geführt, in den bisher noch nicht in Schrift und Tradition getrennten und kanonisch fixierten Strom der überlieferung aussondernd und beschneidend einzugreifen14, und welche Rolle spielen dabei die Paulusbriefe? Markion ist von einem tiefen Mißtrauen gC?genüber der kirchlichen Verkündigung erfüllt, das allerdings nicht aus philologischhistorischen Erwägungen oder aus einer wissenschaftlich erregten Unsicherheit über die Zuverlässigkeit der überlieferung resultiert, die in einzelnen Teilen der Kirche und vor allem in den gnostischen Richtungen auseinanderzustreben beginnt, sondern aus einer gewiß in persönlichen Erfahrungen und Veranlagungen begründeten1S, letztlich aber doch theologischen Entscheidung16 • Sie umfaßt nach VON HARNACK folgende drei Momente: die Vorstellung vom unbekannten Gott, die Absage an jeglichen religiösen Synkretismus und das Verständnis von Religion ausschließlich als Erlösung 17 • Theologische Akzente Der Gedanke vom fremden, unbekannten Gott war der Zeit Markions vertraut. Die Philosophie hatte die Verbindung Gottes mit der Welt längst immer mehr gelöst und schließlich ganz auf1942) 19/26. Im Gegensatz zu VON HARNACK, KNox und VON CAMPENHAUSEN betrachten KOMMEL und andere die neutestamentliche Kanonbildung als "das notwendige Resultat einer innerkirchlichen Entwicklung" (vgl. VIEL.HAUER, Urchristliche Literatur 782). 14 H. ZIMMERMANN: JbAC 11/12 (1968/69) 186. 15 H. OlADWICK, Die Kirche in der antiken Welt = Sammlung Göschen 7002 (Berlin 1972) 39, erkennt in Markions Beurteilung des Alten Testamentes einen "antisemitischen Nebenton", WOLTMANN 38, mit Berufung auf SCHOEPS und QUISPEL, in Markions Aussagen über Ehe, Zeugung, Geburt usw. die Sprache eines Sexualneurotikers; weitere Hinweise bei ScHüLE 34, Anm. 33. Umgekehrt warnt YON CAMPENHAUSEN, Bibel 174, davor, von der Lehre Markions auf seinen Charakter zu schließen. 16 YON CAMPENHAUSEN, Bibel 175f.; vgl. VERWEUS, Evangelium und neues Gesetz 344. 17 YON HARNACK, Marcion IX; 1/35.
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gegeben. Wenn im ersten nachchristlichen Jahrhundert der Götterkult noch einmal eine Blüte erlebte, wenn der Kaiser selbst vergöttlicht wurde, so beschränkt sich das auf volksfromme Heroisierung und politische Aufwertung und hat mit der Gotteslehre der Philosophen, unter deren Einfluß auch die Gottesvorstellung christlicher Theologen gerät, nichts zu tun. Die Gefahr der philosophischen Gottesvorstellung bestand darin, daß sich am Ende das spekulativ gereinigte Gottesbild mit der Unvollkommenheit der Welt nicht mehr verbinden ließl8. Auch Paulus war dem unbekannten Gott auf der Agora von Athen begegnet; er machte aber aus dem unbekannten den verkannten Gott. Die Kirche ist ihm darin gefolgt. "Sie hat nur dann noch vom unbekannten Gott gesprochen, wenn sie die Blindheit des Heidentums ihm gegenüber ins Auge faßte oder wenn sie die Erhabenheit dieses Gottes über die menschliche Vernunft und ihre Erkenntnis zu betonen Grund hatte"l9. Auf der anderen Seite kannte sie Gott durch seine Offenbarung und nannte ihn bei seinem Namen. Die christlichen Gnostiker beharrten dagegen auf der Unbekanntheit Gottes. Sie isolierten Gott durch seine Erhabenheit, Güte, Reinheit so sehr, bis das Band zerriß und Gott nicht mehr der Schöpfer der Welt sein konnte. Damit sank sie ins Dunkel, wurde Gefängnis, Hölle oder bloßer Schein20 . Allerdings machten die Gnostiker einen wichtigen Vorbehalt: Durch seinen Geist besitzt der Mensch "einen Funken von dem Sein und Leben des unbekannten Gottes"21. D. h., in bezug auf den Menschen gibt es nur eine relative Fremdheit Gottes, die durch gnostische Erleuchtung in Vertrautheit umgewandelt werden kann. Wenn nämlich der unbekannte Gott sich dein mittels seines Geistes zutiefst verWandten Menschen zu erkennen gibt, ist das für die Gottheit ein fast notwendiger Akt, durch den das im vorzeitlichen Sündenfall verlorengegangene Pneuma wieder gesammelt wird. Erlösung 18
Vgl.
WOLTMANN 32/4. VON HARNACK, Marcion
2f. Ebd. 3; vgl. Al..AND 426. 11 VON HARNACK, Marcion 3. 19
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verliert damit den Charakter absoluter Freiwilligkeit auf seiten Gottes, sie gehört ebensosehr zur menschlichen Natur wie' zur Entscheidung Gottes aus Gnade22 • Neben den nur angedeuteten Positionen der Kirche und der Gnostiker steht Markion als derjenige, der mit der Vorstellung von der Fremdheit des unbekannten Gottes ganz Ernst gemacht hat. Unbekannt ist Gott, weil er durch keine Schöpfung erkannt werden kann, die er nicht hervorgebracht hat; fremd ist er, weil keine naturhafte Bindung zwischen ihm und der Welt besteht, auch nicht mit dem Menschen und seinem Geist2a• Unübersehbar steht Markion mit letzterem im Bannkreis der paulinischen Theo10gie24 • Den zweiten Schwerpunkt der markionitischen Lehre sieht VON HARNACK in der Absage an jeden Synkretismus. Demgegenüber trug die Kirche von Anfang an die Last der breiten alttestamentlichen überlieferung mit ihren vielfältigen Traditionen, noch nicht in das einheitliche System einer Theologie gebracht, sondern einfach bewahrt in ihrem materiellen Nebeneinander. Hinzu kamen Einflüsse aus dem reichhaltigen Strom des zeitgenössischen Judentums, bald ergänzt durch Vorstellungen aus der hellenistischen Umwelt, Mythisches und mysterienhaft Sakramentales25 • Selbst wenn man den frühchristlichen Synkretismus geringer veranschlagt, als VON HARNACK es tut, und die Entfaltung der frühchristlichen Theologie nicht nur als einen Assimilierungs-, sondern auch als einen Purgierungsprozeß betrachtet, bleibt bestehen, daß die Kirche bereit und fähig war, eine Vielzahl religiöser Vorstellungen und Praktiken in den Grundbestand ihrer' eigenen Verkündigung einzuschmelzen. Den Versuch einer theologischen Durchdringung, zugleich ihre Konfrontierung mit und Abhebung von den Vorstellungen des Alten Testamentes und der hellenistischen Umwelt unternimmt Paulus, an den Mar22 Ebd. 3f.; ALAND 434; 444f. 23 BIANCIß 235. 24 VON HARNACK, MarciOD 4; ALAND 435f. 25
VON ßARNACK, MarcioD
5/9.
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kion auch in diesem Punkt folgerichtig anknüpft. Er will den vieldeutigen Komplex der überlieferung aber nicht unterschiedslos bewahren, sondern ihn in eine einfache und eindeutige Botschaft ummünzen. So wie Jesus auf überlieferungen, Lehren und religiöse übungen verzichten konnte, wenn nur das Notwendige bewahrt blieb, der Vater erkannt und seinem Reich der Weg bereitet wurde, so soll auch die Kirche Jesu Botschaft von der Liebe des Vaters von religiösen Schnörkeln unverstellt zur Geltung bringen. Viele frühchristliche Lehrer sind ähnlich vorgegangen, sie haben ausgewählt und Akzente gesetzt. Allerdings haben sie im Raum der Kirche darauf verzichtet, das nicht Ausgewählte und Verschwiegene als falsch zu verwerfen. Nach VON HARNACK ist Markion hier wiederum der Konsequente. "Die wahre Religion muß ebenso eindeutig und transparent sein, wie ,sie fremd und absolut paradox sein muß"26. Was diesem Konzept widerspricht, wird eliminiert. Vor allem aber iSt Religion im Verständnis Markions Erlä.sunlf7, nicht zuletzt hierin mit Paulus übereinstimmend, der ja ebenfalls die Heilszusage Gottes in Christus zum Mittelpunkt seiner Verkündigung gemacht hatte. Doch blieb ein überhang im paulinischen Gottesbild. Gott ist nicht nur der Vater Jesu Christi, des Erlösers, er ist auch der Schöpfer der Welt (die so ist, wie sie ist). Er ist der Gott des mosaischen Gesetzes und der Lenker der Geschichte (auch mit ihren Anstößigkeiten). Er zürnt und straft und richtet. Gewiß ist in der Ve~kündigung Jesu eine Reinigung des Gottesbildes zu spüren; die Unterscheidung eines neutestamentlich gnädig-lieben Gottes gegenüber dem gerecht-strengen Gott des Alten Testamentes ist jedoch gerade bei Paulus nicht zu finden (vgl. Röm 9,20/3). Eine entlastende Vereinseitigung des Gottesbildes in Richtung auf.den Vater Jesu Christi und Gott allen Trostes (2 Kor 1,3), die Gottes Güte betont und seine Gerechtigkeit unterschlägf8, ist bei manchen christlichen Gnostikern anzutreffen. Wiederum bis Ebd. 18. Ebd. 18/21; 229. 28 ScHoi.E 41.
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zur äußersten Konsequenz darin fortgeschritten ist Markion. Gott ist nichts anderes als barmherzige, erlösende Liebe; alles andere, was das Gottesbild beschwert, wird ausgeschieden. Mit der Unvollkommenheit dieser Welt und der Ungerechtigkeit in ihr hat Gott nichts zu schaffen. Dafür ist ein anderer verantwortlich zu machen; Markion braucht keine Theodizee29 • Die Werbewirksamkeit eines so reduzierten theologischen Systems ist einleuchtend. Die Kehrseite war das dualistische Auseinanderfallen des Gottesbildes in den guten Erlösergott und den bösen, demiurgischen Schöpfergott, dein alles angelastet werden konnte, was den Glauben an Gott als den einen Ursprung von allem so schwer macht. Daß die hier im Anschluß an VON HARNACK kurz skizzierten theologischen Positionen Markions Auswirkungen auf die Feststellung der Urkunden des Glaubens haben mußten, liegt auf der Hand. So führte die Zerreißung des Gottesbildes zur Aufgabe des Alten Testamentes. Sein Verständnis hatte schon vorher Schwierigkeiten gemacht. Paulus hatte sie bewältigt mit Hilfe rabbinischer Auslegung, der Barnabasbrief durch Spiritualisierung und Eliminierung seiner historischen Grundlagen; wieder andere (Justin) hatten sich um Methoden der Scheidung und die differenzierte übertragung alttestamentlicher Sätze bemüht. Auch die Gnostiker handhabten im Bewußtsein ihrer höheren Erkenntnis alttestamentliche Worte und die dahinterstehenden inspirierenden Kräfte in freiem Verständnis, ohne an eine völlige Verwerfung des Alten Testamentes zu denken30 • Rettung aus sonst unüberwindlichen Schwierigkeiten bildete für alle die allegorische Auslegung, welche den buchstäblichen Sinn überhöhte, um hinter dem als überholt oder sogar als peinlich empfundenen Wortlaut die Tiefen geistiger Weisheit zu entdecken31 • Ganz anders Markion, der jede Allegorese und Typologisierung beiseite fegte und jede Form von Spiritualisierung verwarf. Ebd. 27; WOLlMANN41. Bibel 76/122. 31 WOLlMANN 34; vgl. J. C. JOOSEN-J. H. WASZINK, Allegorese: RAC 1 (1950) 288.
29
30
VON CAMPENHAUSEN,
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Hatte man bisher das Alte Testament idealisiert, um es zu retten, Markion versinnlicht, ja karikiert es, bis es "als Dokument des kleinlich-despotischen, grausam-strafenden Schöpfergottes" entlarvt wird. Mit dem unbekannten Gott und Vater Jesu Christi hat es jedenfalls nichts mehr zu tun32 • Bedenkt man, daß in der Kirche bis zu dieser Zeit allein das Alte Testament im strengen Sinne als Hl. Schrift gegolten hatte, die ihr das Bewußtsein hohen Alters und erfüllter Weissagungen verlieh, wird das Ausmaß der markionitischen Bedrohung deutlich. Diese Linie braucht hier jedoch nicht weiter verfolgt zu werden, denn wichtiger im Hinblick auf die Auseinandersetzung um Paulus war eine andere Entscheidung. Markion verwarf auch die Christusbotschaft in der Form, wie sie bisher in der lebendigen Verkündigung der Kirche weitergegeben worden war, samt ihrem schriftlichen Niederschlag. Sie erschien ihm von ihren frühesten Anfängen an judaistisch-nomistisch verfälscht, weil für ihn bereits die Apostel Jesu Worte mißverstanden und ahnungslos mit ihren alttestamentlichen Vorstellungen verquickt hatten. Mit dem reinen Evangelium, das seinen dogmatischen Vorstellungen genügte, war die aktuelle kirchliche Verkündigung jedenfalls nicht mehr in übereinstimmung zu bringen. Wenn aber Schrift (d. h. Altes Testament) und überlieferung unzuverlässig und korrumpiert waren, wie war das markionitische Verständnis des Evangeliums dann noch zu begründen? Nach VON CAMPENHAUSEN gab es (theoretisch) zwei Lösungen: die prophetische oder die reformatorische. Erstere wählten die Gnostiker, wenn sie sich zum Beweis ihrer Lehren auf Geheimüberlieferungen beriefen, die Christus angeblich einzelnen Jüngern mitgeteilt, anderen aber vorenthalten hatte und die allein ihren Schulhäuptern exklusiv zugekommen sein sollten. Diesen vielleicht leichteren Weg ist Markion als der Typ des konsequenten Reformators nicht gegangen33 • So verdorben die überlieferung auch sein mochte, legitimiert und auf die Dauer vor neuen Verfälschungen gesichert werden konnte das Evangelium - so 32 VON CAMPENHAUSEN, 33 VON CAMPENHAUSEN,
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Bibel 177; VON HARNACK, Marcion 66f., SCHOtE 27. Bibel 179.
wie er es verstand - nur, wenn es auf Texte bzw. Urkunden zurückgeführt wurde, die die Tradition bereithielt. Dazu mußten die ursprünglichen Zeugnisse aus einem Wust von abgeleiteten, falschen und gefälschten literarischen Produkten ausgesondert und in sich nochmals von Mißverständnissen bzw. irreführenden Zusätzen befreit werden. Dementsprechend stand Markion vor einer doppelten Aufgabe: der Schaffung eines Kanons zuverlässig-normativer Schriften und der Wiederherstellung ihres mög~ lichst unverfälschten Urzustands. Markions "Kanon" Wie sah Markions Bibelkanon aus? Er war zweiteilig und enthielt neben einem einzigen "Evangelium" das "Apostolikon", d. h. eine Sammlung von zehn paulinischen Briefen (Ga!, 1 u. 2 Kor, Röm, 1 u. 2 Thess, Laodiceerbrief [= Eph], Kol, Phil, Phlm)34. Daß Markion neben den Apostelbriefen ein Evangelium mit den Worten und Taten Christi brauchte, leuchtet ein, warum er Lukas wählte und nicht etwa Johannes35 , weniger: vielleicht hielt er das lukanische Evangelium - unhistorisch denkend - für das Evangelium des Paulus36 . Paulus aber war nach seiner überzeugung der einzige Apostel, der das wahre Evangelium verbürgte, anders als die übrigen Urapostel, die ihren Meister nicht verstanden hatten, und ganz zu schweigen von den Falschbrüdem und Lügenaposteln, gegen die Paulus bereits gekämpft hatte (vgl. Gal 2,4.14; 2 Kor 11,13)37. Dazu war er "vom Mutterleib aus" erwählt worden (Gal 1,15)38, war als "Apostel nicht 'von MenZAHN, Kanon 1,622f.; WIKENHAUSER-ScHMID, Einleitung 37; MARXSEN 234. Nach VON CAMPENHAUSEN, Bibel 188, wäre auch das Johaimesevangelium in Frage gekommen; ausführlicher behandelt die übereinstimmungen und Anstöße VON HARN"ACK, Marcion 4lf.; 20417, der ebd. 71, Arun. 1 eine "innere Verwandtschaft zwischen Johannes und Marcion" annimmt. 36 VON CAMPENHAUSEN, Bibel 187f.; VON HARNACK, Marcion 42; VIEUIAUER, Urchristliche Literatur 782. 37 VON HARN"ACK, Marcion 257*/59*; 96*, vgl. LIETZMANN, Geschichte 1,270. 38 VON HARNACK, Marcion 69*f. 34
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sehen und nicht durch einen Menschen" beauftragt worden (Gal 1,1) und hatte sein Evangelium, neben dem es kein anderes geben darf, von Christus selbst empfangen (Gall,7)39. VON HARNACK hat zahlreiche Belege für den Paulusenthusiasmus Markions gesammelt, der auch in der markionitischen Kirche weiter wirksam gewesen ist40 . Die übrigen Apostel werden entthront. Nach Origenes, In Luc. homo 25, behaupten die Markioniten, Paulus, nicht Petrus, sitze zur Rechten Christi und Markion zu seiner Linken. Eine solche Bewunderung ist nur verständlich, wenn eine entsprechende Lehre über die Bedeutung des Apostels bestand, die es gestattete, "von Paulus her alle anderen Apostel und die ganze kirchliche überlieferung zu verwerfen und zu bekämpfen"41. Mit der Auswahl der Texte war Markions Ziel aber noch nicht erreicht. Schwieriger und mühsamer war das Werk einer dogmatischen Revision, um die Interpolationen zu eliminieren, die die "Judaisten" nachträglich eingebracht hatten42 . Markion hat seine Eingriffe in einer eigenen Schrift, den "Antithesen", gerechtfertigt, die leider nicht erhalten geblieben ist. Das umfangreiche Material, das VON HARNACK aus der antimarkionitischen Polemik wiedergewinnen konnte, zeigt, auch wenn seine Zuweisungen zu großzügig erfolgt sein sollten43 , ausreichend deutlich, mit welcher Mühe und stellenweise sicherem Gespür für textkritische Lösungen Markion zu Werke gegangen ist. Die Forschung bescheinigt ihm, daß er mit verantwortungsvoller Vorsicht seine Arbeit ausgeführt habe; er habe den Text durchweg nur gekürzt,lcaum einmal erweitert, weder prophetische Erleuchtung für sich in Anspruch genommen, noch die endgültige Richtigkeit und Unveränderbarkeit des von ihm geschaffenen Textes behauptet44 . Dieses Vorgehen hängt natürlich mit Markions Absicht zusamEbd. 306*; 309*. Ebd. 339*f.; 377*; vgl. VON CAMPENHAUSEN, Bibel 18lf. 41 Ebd.182. 42 Ebd.188. 43 Dieses Bedenken äußert VON CAMPENHAUSEN, ebd. 189, Arun. 52. 44 Vgl. VON HARNACK, Marcion 61; 70; VON CAMl'ENHAUSEN, Bibel 189.
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men. ttWer eine verlorene Urkunde zurückgewinnen will t muß es mit Entfernen der Einschübe und winzigen Korrekturen notgedrungen genug sein lassen t will er nicht zum Fälscher werden"45. Dabei war Markions Vorgehen in damaliger Zeit nicht so befremdlich, wie es heute erscheinen könnte. Keiner der Texte besaß damals kanonische Unantastbarkeit, und hatten die Evangelisten nicht ähnliches getan (Matthäus und Lukas bezüglich des Markus, Johannes bezüglich der Synoptiker)? Waren zur Zeit Markions der Gnostiker Basilides und etwas späterTatian mit der Schaffung einer Evangelienharmonie nicht ähnlich verfahren46 ? Trotzdem darf Markions Eingreifen in den Bestand der Texte, der ihm schon in alter Zeit zum Vorwurf gemacht worden ist47 , nicht verharmlost werden. Wenn Markions These von der Trennung zwischen dem Schöpfergott und Gott, dem Vater Jesu Christi, wenn Markions modalistische Christologie und seine asketische Verneinungaller irdischen Werte durch kein Wort der neutestamentlichen Schriften widerlegt werden sollten, wenn weder Jesus noch der Apostel eine alttestamentliche Stelle autoritativ heranziehen oder einen Prophetenspruch geistig verstehen durften, dann konnte es nicht bei kleinen Auslassungen bleiben, sondern mußte zu erheblichen Streichungen kommen, die z. B. beim Römerbrief fast die Hälfte des Stoffes ausmachen48 . Das Lukasevangelium läßt Markion erst im 4. Kapitel beginnen; Taufe Jesu, die Versuchungsgeschichte, ebenso das Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,11132) und die Tempelreinigung (Lk 19,29/46) werden unterschlagen49 . Wenn auch - nicht zuletzt wegen der unsicheren Bezeugung - das Motiv für Markions Eingreifen nicht in allen Fällen angegeben werden kann, ja in Markions Bibeltext einige Verse stehen geblieben zu sein scheinen, deren Eliminierung nahegelegen hätte50, es bleibt doch un-
45
Ebd. 198.
Marcion 68/73. Tertullian, Adv. Marcionem 4,43. 48 VON HARNACK, Marcion 61; ALAND 437, Anm. 83. . 49 Vgl. die detaillierten Nachweise bei VON HARNACK, Marcion 48/68. 50 Ebd. 108/13; ALAND 425f.
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VON HARNACK,
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bestritten, daß nicht textkritische Anstöße, sondern dogmatische Vorentscheidungen das Ausmaß der Streichungen veranlaßt haben. Bewertung Daß Markions Versuch einer Rückgewinnung des reinen Evangeliums und eines unverfälschten Apostels mit zahlreichen historischen und philologischen Irrtümern belastet war, steht somit fest. War es der Sache nach aber nicht doch eine Erneuerung zentraler Anliegen der urchristlichen Verkündigung, eine wirkliche Wiederentdeckung des Paulus und die Reinigung der überlieferung von allem inzwischen aufgetragenen moralischen und philosophischen Verputz? Das Urteil der Forschung ist auch dort, wo Respekt oder sogar Sympathie für Markions Anliegen durchscheinen, von Anfang an durchweg negativ. Schon VON HARNACK muß zugeben: "Paulus hätte sich mit Entsetzen von diesem blasphemischen Lehrer abgewandt und ihn dem Satan übergeben"sl. LIETZMANN, der von der religiösen Glut und Unerbittlichkeit Markions offensichtlich beeindruckt ist, gesteht ein, daß Markion die Erfahrung des Paulus zwar zu lebendiger Wirkung gebracht habe, aber so einseitig, leidenschaftlich, "daß darüber alle anderen und vielleicht nicht minder bedeutsamen Werke der christlichen Religion in Trümmer gingen"s2. Auch KÄSEMANN, der Markion "theologisch einiges Verdienst nicht von vornherein und als undiskutierbar absprechen" möchte, insofern er Schüler des Paulus sein wollte, den er mit dem Evangelium geradezu identifizierte53 , verschweigt nicht, daß Markion, weil er um der reinen Lehre willen den geschichtlichen Entstehungsraum des Evangeliums nicht zu akzeptieren bereit war, in die Paulusüberlieferung selbst korrigierend eingreifen mußte54 • Nur ALEITH meint, daß Marcion 199. UETZMANN, Geschichte 1,281. 53 KÄSEMANN, Kanon 355. 54 Ebd. 408.
51 VON HARNACK, 52
188
Markion, auch wenn er den Bogen überspannt habe, Paulus doch wesentlich nähergekommen sei als die trockene Gesetzlichkeit nachapostolischer Zeit; denn "Markion hatte eine klare Vorstellung von dem, was seiner Meinung nach Paulus hätte sagen müssen"ss. Wenn sie dann anschließend zugesteht, daß Markion, wo er glaubte, dem Apostel zu lauschen, nur den Widerhall seiner eigenen Worte hörte, bestätigt sie (ungewollt) das Dilemma jedweden Suchens nach der "Mitte der Schrift" und dem "reinen Evangelium", welches alles, was nicht in das vorgefertigte Lehrschema paßt, "mit Andacht und Respekt liest", aber "ohne Verständnis als verehrungswürdiges Gut aus apostolischer Zeit säuberlich beiseite schiebt"s6. Uneingeschränkt negativ, sowohl in historisch-philologischer als auch in dogmatischer Hinsicht, urteilt VON CAMPENHAUSEN, Markion sei es nicht gelungen, das Evangelium und Paulus in ihrer ursprünglichen Form wiederherzustellen. über das Maß der Verfälschung und Verwilderung der überlieferung vor Markion köpne man streiten, aber ob Markion auch nur an einer einzigen Stelle das Richtige getroffen habe, erscheine mehr als fl"aglich. Aufs Ganze gesehen sei seine Bibel nicht die Wiederherstellung, sondern die Verwüstung des Ursprünglichen. Aus historischen Urkunden würden dogmatische Konstruktionen, denn das von Markion postulierte Urevangelium sei eine "fixe Idee", und ein Paulus, der Altes Testament, Schöpfung und Gericht verwirft, "ein Phantom". Markions Bibeltext ist für VON CAMPENHAUSEN "ein schlagendes Beispiel dafür, wohin ein sach- und geschichtsfremder Dogmatismus gerade dann zu führen vermag, wenn er sich mit der formalen philologischen Kritik verbündet und seinen Weg scheinbar logisch und konsequent von hier aus zu Ende geht"s7. Ganz gleich, ob gnostischer (iranischer) Dualismuss8 oder paulinischer Antinomismus als Grundlage von Markions
ALErm, Paulusverständnis 29. Ebd. 30. 57 VON CAMl'ENHAUSEN, Bibel 192f. 58 Vgl. ScHNEEMELCHER, Paulus in der griechischen Kirche 16f. 55
56
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Lehre vorausgesetzt wird, die Ablehnung der Ergebnisse bleibt dieselbe59 • Dabei hat Markions rigoroser Dogmatismu~ nicht einmal innerhalb seines Systems geleistet, was er leisten sollte: eine Erlösung zu beschreiben, die in keiner Weise irgendeine Hinordnung des Menschen auf Gott einschließt, die den Menschen nicht heimholt, sondern in die "Fremde" des unbekannten Gottes versetzt60 • ALAND hat nämlich überzeugend nachweisen können, daß Markion in seiner Erlösungslehre letztlich doch eine Verbindung zwichen Gott und Mensch schon vor der Weltschöpfung bestehen lassen mußte. "Wieso hat [Gott] vor den Weltzeiten des Schöpfergottes unsere Verherrlichung vorherbestimmt?" fragt Tertullian61 im Hinblick auf das Pauluswort in 1 Kor 2,7, das Markion - ebenso wie Eph 3,8/1062 - in seiner Bibel stehen gelassen hatte63 • Auch die totale Beziehungslosigkeit zwischen Erlösergott und Demiurgen konnte Markion nicht durchhalten, wenn er zugeben mußte, daß der Schöpfergott gemäß 1 Kor 15,27f. am Ende doch dem Willen des unbekannten Gottes unterworfen wird64 • Die literarhistorischen und dogmatischen Einwände sind berechtigt. Falsche Vorentscheidungen haben Markion mit anfechtbaren Methoden zu einem verkehrten Ziel geführt. Doch das ist nur die eine Seite der Betrachtung und berührt nicht die Kraft der markionitischen Bewegung. Auch fehlgegangene Reformen haben ihre Rückwirkungen auf die Kirche. Auf die Folgen, die Markions bohrende Fragen nach den verläßlichen Zeugnissen des ursprünglichen Evangeliums als Maßstab für die weitere'Verkündigung und für die Kanonbildung in der Kirche gehabt haben, wurde schon hingewiesen. Ähnlich bedeutsam war Markion für Vgl. noch das abgewogene Urteil bei BLACKMAN 103/12; zur unpaulinischen Gestalt der Soteriologie ebenfalls ALAND 438f., Anm. 89. 60 So VON HARNACK, Marcion 32f. 61 Adv. Marcionem 5,6,4. 62 Ibid. 5,18,H. 63 ALAND 442; vgl. ScHOLE 4H. 64 Vgl. BIANCHI 240f., der die bei VON HARNACK, Marcion 140f. geäußerte Vermutung weiter untermauert.
S9
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die Aufnahme der Paulusbriefe und das Paulusverständnis seiner Zeit, indem er um die Mitte des 2: Jahrhunderts den Apostel und seine Theologie vehement in den Blickpunkt rückte. Es ist häufig vermutet worden, daß die kirchlichen Schriftsteller dem nur ein Verschweigen des Apostels entgegenzusetzen gehabt hätten, vielleicht aus Ratlosigkeit, weil erst die Kräfte gesammelt werden mußten, ehe man daran gehen konnte; eine Antwort auf Markions Vereinnahmung des Paulus zu geben. Jedenfalls zwang seine Provokation zur Auseinandersetzung mit dem Apostel, wollte man ihn der kirchlichen Theologie erhalten. Sollten die Pastoralbriefe nach Markion entstanden sein, vielleicht sogar mit Polykarp zu tun haben - Vermutungen, die sich nicht beweisen lassen, die aber Gründe für sich haben65 ; es macht z. B. stutzig, daß die Pastoralbriefe in Markions Bibel fehlen, die der Paulusenthusiast bei seiner Suche nach paulinischen Urkunden gewiß nicht übergangen, sondern nach entsprechender Säuberung seinem Corpus Paulinum einverleibt hätte66 -, dann wäre es denk~ar, daß sich schon in den Pastoralbriefen eine Antwort auf Markion andeutet, zumindest in dem Sinne, daß sie nicht gewillt sind, sich durch diesen Irrlehrer die Autorität des Apostels entreißen zu lassen. Spätestens mit Irenäus ist dann die Auseinandersetzung auch um den inhaltlichen Paulinismus voll entbrannt67 • Ohne die Wirkung Markions abschwächen zu wollen, sie sollte auch nicht überdimensioniert werden68 • Ob - wie VIELHAUER meint69 - die Paulusbriefe ohne Markion literaturgeschichtlich bestenfalls das Schicksal der Pastoralbriefe, wenn nicht gar das Vgl. S. 150/3. BAUER, Rechtgläubigkeit 225; VON CAMPffimAUSEN, Polykarp von Smyma und die Pastoralbriefe: Aus der Frühzeit des Christentums (Tübingen 1963) 204f. 67 Vgl. ALAND 446, die meint, daß sich Irenäus viel intensiver mit Markion auseinandergesetzt habe, als es die geringe Zahl von Stellen in seinen-Schriften ahnen lasse, an denen Markion namentlich genannt wird. Ober ein bereits von Justingegen M8rkion verfaßtes, jedoch verlorengegangenes Werk vgl. S. 248. 68 Vgl. ALAND 447, die VON HARNACKS Markionenthusiasmus dämpft; ebenso VERWEUS, Evangelium und neues Gesetz 356(. 69 VIELHAUER, Urchristliche Literatur 786. 65
66
der apokryphen Evangelien geteilt hätten und Paulus nur durch den "Erzketzer" Markion mittels Augustinus zum Theologen des Abendlandes und durch Luther zum Theologen des Protestantismus werden konnte, ist nicht zu erweisen und im Lichte etwa des 1. Klemensbriefes oder des Ignatius eher zu bezweifeln. Paulus war nicht nur de facto, sondern ebenso im Bewußtsein der Gemeinden und unbeschadet der Geltung des Petrus der große Apostel, Missionar und Martyrer. Daß als paulinisch geltende Briefe im 2. Jahrhundert hätten vergessen oder in die Anonymität apokrypher Schriften hinabsinken können, ist nicht gut vorstellbar. Auch das übergewicht paulinischer Briefe im kirchlichen Kanon, das der Bedeutung der paulinischen Theologie im 2. Jahrhundert nicht entsprechen solfo, geht nicht auf Markion zurück. Die Stellung der Paulusbriefe "ist überragend, ja einzigartig und nicht erst durch Markion geschaffen"71; ihr zahlenmäßiges übergewicht im Kanon ergibt sich nicht aus antihäretischen überlegungen oder dogmatischen Prinzipien, sondern einfach aus der Zahl der bekannten und erhaltenen Stücke. Wohl wird zutreffen, daß sich die Kirche, "als ihr der Apostel von den Marcioniten entrissen werden sollte, energischer um das Erbe des Paulus gekümmert hat"n. Auch ohne übertreibungen bleibt die Gefahr, die von der markionitischen Bewegung ausgegangen ist, groß genug, zumal sie nicht isoliert betrachtet werden darf, sondern im Verein mit dem gnostischen Ansturm auf die kirchliche Theologie insgesamt gesehen werden muß. 2. Gnostisches Interesse an Paulus
Allerdings wird man sich gerade in diesem schwierigen Forschungskomplex hüten müssen, Urteile zu übernehmen, die durch zahlreiche Wiederholungen in der wissenschaftlichen Lite70
Zu dieser These von KNox vgl. die kritischen Bemerkungen bei W. F. Ho-
WARD: JThS 44 (1943) 221; BUCKMAN 38/41. 71 VON CAMl'ENHAUSEN, Bibel 169. 72 SCHNEEMELCHER, Paulus in der griechischen Kirche
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11.
ratur immer mehr abschleifen und zu guter Letzt zu der Behauptung zusammenschrumpfen, Paulus sei im 2. Jahrhundert zum Kronzeugen der gnostischen Lehrsysteme geworden und deshalb bei den kirchlichen Lehrern so sehr in Mißkredit geraten, daß sie ihn entweder verschwiegen oder - sofern nicht möglich oder angebracht - unter der Oberhoheit des Petrus und der übrigen Altapostel zwar zum Missionar und Martyrer hochgelobt, theologisch aber entschärft hätten1 • Nachdem die häufig als voreingenommen antignostisch verdächtigten Nachrichten der frühchristlichen Häresiologen des 2. und 3. Jahrhunderts (Irenäus, Hippolyt, Tertullian, Klemens von Alexandrien und Origenes) inzwischen durch gnostische Originaltexte aus den Funden von Nag-Hammadi ergänzt und überprüft werden können, lohnt eine erneute Überprüfung der meist herangezogenen Quellen. Insgesamt ist aus der Fülle gnostischer Literatur nur ein verschwindend kleiner Teil von einer solchen christlichen Richtung, daß er für paulinischen Einfluß theoretisch offensteht.
"Apostel der Häretiker" Angesichts der Charakterisierung des Paulus als "Apostel der Häretiker" durch Tertullian (Adv. Marc. 3,5,4) ist die namentliche Berufung auf ihn bei den gnostischen Lehrern nicht übermäßig stark. Basilides kann zwar, wenn er sich auf "denApostel" beruft, Paulus meinen (Klemens Alex., Strom. 3,2,1), aber er selbst und "sein echter Sohn und Schüler Isidor sagen, Matthias habe ihnen geheime Worte gesagt, die er vom Heiland gehört habe in einer Belehrung unter vier Augen" (Hippolyt, Ref. 7,20,1). D. h., nicht Paulus oder die "Zwölf" garantieren die Lehre des Basilides, sondern ausgerechnet der nachgewählte Apostel, der ursprünglich nicht dazu gehört hatte (vgl. Apg Weiterwirken 506; BAUER, Rechtgläubigkeit 227f.; VON CAMPENHAUSEN, Bibel 17lf.; M. HORNSCHUH, Studien zur Epistula Apostolorum = Patristische Texte und Studien 5 (Berlin 1965) 86f.; MotLER, Theologiegeschichte 83; WIKENHAUSER-ScHMIo, Einleitung 36; vgl. auch S. 25; 125; 170f.
1 ScHENKE,
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2,15/26)2. An anderer Stelle (Klemens Alex." Strom. 7,17,106) wird Basilides über den Zwischenträger Glaukias auch mit Petrus als dem Ursprung seiner Lehrüberlieferung verbunden. Daß Basilides Paulusbriefe jemals als "lD. Schrift" zitiert liabe, läßt sich trotz der Behauptung BLACKMANS nicht beweisen3 • . Von Val e n tin, dem vielleicht einflußreichsten Schulhaupt und gnostischen Lehrer um die Mitte des 2. Jahrhunderts, behaupten seine Anhänger, er habe einen gewissen Theodas gehört, der ein Schüler des Paulus gewesen sei (Klemens Alex., Strom. 7,17,106). Damit stünde Paulus zwar am Anfang einer esoterischen Tradition, die dann von Valentin an seine Schüler weitergegeben worden wäre, was aber nicht bedeutet, die gesamte gnostisch-valentinianische Lehrtradition fuße exklusiv auf dem Apostel. Apostolische Sukzession durch mündliche Tradition ist den Gnostikern durchaus wichtig4 , nicht aber die Einschränkung ihrer Überlieferung auf paulinischen Ursprung. Wenn Ptolemäus, ein Valentinschüler, in seinem "Brief an Flora" zur Legitimierung seiner Äonenlehre eigens hinweist "auf die apostolische Tradition, die auch wir durch Sukzession erhalten haben" (33,7,9), muß damit nicht unbedingt Paulus als erstes Glied dieser Überlieferungsreihe gemeint seins. Der "Apostel Paulus" wird zwar zweimal im "Brief an Flora" eigens erwähnt (33,5,15; 33,6,6), genauso selbstverständlich und ohne weitere Kennzeichnung aber auch ein "Apostel", der, wie sich aus dem Zusammenhang ergibt, Johannes sein muß (33,3,6). Ebenso steht Zitaten oder Anklängen aus paulinischen Briefen eine Fülle von Matthäusstellen (Bergpredigt) gegenüber, was sachlich nahegelegt ist durch das Thema des Briefes, eine Erörterung über die Weitergeltung des mosaischen Gesetzes. Daß Paulus, insbesondere die deuteropaulinischen Epheser- und Kolosserbriefe, für das valentinianische System - wie es Irenäus in der Ausgestaltung
2
WAGENMANN, Stellung des Paulus 115. Bibel 171, Anm. 195; ZAHN, Kanon 1,765, Anm. 4. Kirchliches Amt 172/4. Anders E. H. PAGELS, The Gnostic Paul. Gnostic Exegesis of the Pauline Letters (Philadelphia 1975) 2.
3 VON CAMPENHAUSEN, 4 VON CAMPENHAUSEN, 5
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durch Ptolemäus refe~rt - eine wichtige Rolle spielen, soll durchaus nicht geleugnet werden6 , nur läßt sich aus der Affinität zu Paulus keine Exklusivität herleiten. Gnostische Eigenart ist nicht paulinische Monotonie in der Ableitung ihrer spekulativen Systeme, sondern im Gegenteil überlieferungsvielfalt. Ähnlich verhält es sich bei einem weiteren Valentinschüler, Theodot, dessen Lehrmeinung Klemens von Alexandrien exzerptweise mitgeteilt hat. Ein paarmal scheint Theodot Paulus namentlich zu erwähnen (vgl. Excerpta ex Theod. 23,2; 44,2; 52,1)'. Wenn er ohne nähere Beiwortevom "Apostel" spricht, dürfte ebenfalls meistens Paulus gemeint sein (z. B. Excerpta ex Theod. 22,1; 35,1; 48,2; 49,1; 67,1; 85,3, 23,3). Aber auch Worte aus dem Johannesevangelium können als Apostelwort eingeleitet werden (Excerpta ex Theod. 41,3). Im übrigen werden Aussprüche des "Heilandes" aus den kanonischen Evangelien und andere, nicht näher gekennzeichnete Schriftworte aus dem Alten und Neuen Testament ähnlich unbefangen verwertet8 • Weniger zitierfreudig erscheint Herakleon, nach Klemens von Alexandrien "der angesehenste Vertreter der Schule des Valentin" (Strom. 4,9,71). Immerhin benutzt auch er in den von Origenes erhaltenen Erklärungen zum Johannesevangelium synoptische Sprüche und Paulusbriefe, wobei in Frgm. 24 zu Jo 4,24 unter dem Zusatz "wie auch der Apostel lehrte" auf den in Röm 12,1 erwähnten "vernünftigen Gottesdienst" hingewiesen wird (Origenes, Comm. in Joh. 13,25). Von den Anhängern des M a r k u s schließlich, ebenfalls Valentinianer, berichtet Irenäus (Adv.haer. 1,13,6), sie behaupteten, "niemand könne ihnen an Größe der Erkenntnis gleichkommen, kein Paulus, kein Petrus und keiner von den anderen Aposteln; sie wüßten mehr als alle und sie allein hätten die große, unsagbare Gnosis getrunken." Selbst wenn der Verzicht auf apostoli6 7
8
Belege bei ZAHN, Kanon 1,751/3. Clement d' Alexandrie, Extraits de Theodote. Hrsg. von F. SAGNARD = SourcesChr 23 (Paris 1970) 8f.; PAGELS, The Gnostic Pau150, Anm. 121. SAGNARD, Clement d'Alexandrie 241/50; PAGELS, The Gnostic Paul 2; 11, Anm.l0.
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sehe Vergewisserung in dieser krassen Fonn nicht zutrifft -laut Irenäus (Adv.haer.1,21,2) scheinen sich die Markusanhänger für ihre Erlösungslehre durchaus auf Paulus berufen zu haben9 - , zur gnostischen Offenbarung gab es viele Zugänge, und die Bindung gnostischer Erfahrung an die Autorität eines einzelnen Apostels, der Zwölf oder einer anderen Institution widersprach gnostischem Grundverständnis10. Einen ähnlichen Eindruck sparsamen Paulusgebrauchs vermitteln die original gnostischen Schriften aus dem Nag-Hammadi-Fund, s~)\veit sie nicht jüdisch-judenchristlich geprägt sind und für paulinischen Einfluß überhaupt offenstehen11. Direkte Erwähnungen des Paulus finden sich im sogenannten "Brief an Rheginus", der Schrift eines unbekannten valentinianischen Lehrers12, der unter der geläufigen Formel "wie der Apostel sagte" ein stark kontaminiertes Zitat aus dem Römer- und Epheserbrief bringt (Röm 8,17 und Eph 2,5f. in 45,25/8). Wenn sich ein solch deutlicher Hinweis auch nur an dieser Stelle findet, die Pauluskenntnis des Verfassers ist größer und umfaßt neben den schon genannten noch die beiden Korintherbriefe sowie den Philipper- und Kolosserbrief; vager sind Anspielungen auf die noch verbleibenden Paulusbriefe einschließlich des 2. Timotheus-, des Titus- und des Hebräerbriefes13 • In der kleinen Schrift über "Das Wesen der Archonten" (86) wird Eph 6,12 als ein Wort des "großen Apostels" zitiert: "Unser Kampf richtet sich nicht gegen Kirchliches Amt 173, Anm. 1. WAGENMANN, Stellung des Paulus 113/9. 11 Für überblick und Einleitungsfragen vgl. K. RUOOLPH, Die Gnosis. Wesen und Geschichte einer spätantiken Religion (Göttingen 1978) 39157; 417/9; als Beispiel für .gnostischen Antipaulinismus vgl. K. KOSCHORKE, Die Polemik der Gnostiker gegen das kirchliche Christentum. Unter besonderer Berücksichtigung der Nag:"Hammadi-Traktate "Apokalypse des Petrus" (NHC VII,3) und "Testimonium Veritatis (NHC IX,3) = Nag Hammadi Studies 12 (Leiden 1978) 39/42. 1Z M. L .. PEEL, Gnosis und Auferstehung. Der Brief an Rheginus von Nag Hammadi (Neukirchen 1974) 187. 13 Ebd. 34f. Daß Paulus ·was really par excellence, and in full truth, 'the apostIe'" • ergibt sich aus den von PAGELS, The Gnostic Paul 2, angeführten Texten nicht. 9 VON CAMPENHAUSEN,
10
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Fleisch und [Blut], sondern gegen die Mächte der Welt und die bösen Geister"14. Dasselbe Zitat erscheint in der Schrift "Exegese über die Seele" (131) zusammen mit 1 Kor 5,9f. als Pauluswort, aber ohne Paulus als Apostel zu bezeichnen oder ihn sonst mit einem schmückenden Beiwort zu versehen 15 . Etwas überschwenglicher äußern sich "Die Lehren des Silvanus" (180,3012), die einige Anklänge an den Römer-, den 1. Korinther- und den Kolosserbrief verraten, über "Paulus, der Christus ähnlich wurde" (vgl. 1 Kor 11,1)16. Die "Interpretation der Gnosis" aus dem Nag-Hammadi Codex XI,1 verwertet ausgiebig die Charismenlehre von 1 Kor 12 sowie weitere für die paulinisehe LeibChristi-Ekklesiologie wichtige Briefstellen aus dem 1.Korinther-, dem Philipper- und dem Kolosserbrief17 . Die "Apokalypse des Paulus" bietet eine eigenwillige Auslegung von Gal 1,1117 und 2,lf. Paulus' Bemerkung über seine Entrückung in 2 Kor 12,2/4 wird breit ausgeführt und zu einem Aufstieg bis in den zehnten Himmel gesteigert1 s. Die mit jüdischer Apokalyptik vertraute gnostisch-synkretistische Schrift ist aber trotz ihres Titelhelden an Paulus selbst und seiner Theologie nicht sonderlich interessiert. Auffällig häufig wird er an die Zwölf verwiesen (19f.; 21f.; 24), was seiner Unterordnung unter die Altapostel gleichkommt. Schließlich enthält der Codex I (Jung) neben Anspielungen auf paulinische Briefe im sogenannten "Tractatus Tripartitus" (54), noch ein "Gebet des Paulus", in dem der Apostel um Erlösung, die Fülle der Offenbarungen und um die Vereinigung mit dem "geliebten Erwählten" bittet19 • W. FOERSTER (u. a.), Die Gnosis 2: Koptische und mandäische Quellen = Bibliothek der Alten Welt (Zürich 1971) 46152; 53. lS Ebd. 125f.; 129f. 16 W.-P. FuNK, "Die Lehren des Silvanus". Die vierte Schrift aus Nag-HammadiCodex VII: ThLZ 100 (1975) 19; 8; 23. 17 K. KOSCHORKE, Eine neugefundene gnostische Gemeindeordnung. Zum Thema Geist und Amt im frühen Christentum: ZThK 76 (1979) 39. 18 The Nag Hammadi Library in English. Hrsg. von J. M. ROBINSON (Leiden 1977) 239. 19 Zur Neuordnung der Traktate im Codex I (Jung) vgl. C. CoLPE, Heidnische, jüdische und christliche überlieferung in den Schriften aus Nag Hammadi VII: JbAC 21 (1978) 12517; ROBINSON, The Nag Hammadi Library 55/97; 27f.; PAGELS, The Gnostic Paull; 11, Anm. 14.
14
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Das ist sch9n alles, denn die großen valentinianisch geprägten gnostischen Evangelien verraten zwar eine Kenntnis der paulinischen Briefe, nicht aber eine besondere (auch emotionale) Bindung an die Person des Apostels, wie sie von Markion und seiner Kirche bekannt ist. Das Evangelium Veritatis, das, wenn nicht von Valentin selbst, so doch vielleicht aus der valentinianischen Schule stammeo, nennt keine apostolische oder andere biblische Autorität mit Namen. Ob die Schrift in ihrer theologischen Grundtendenz der paulinischen Theologie, insbesondere dem Römerbrief nahesteht oder eine größere Affinität zum johanneisehen Schrifttum, insbesondere zum Johannesevangelium besitzt, ist bis heute strittig21 . Es verrät zwar einen hohen Stand theologischer Reflexion, aber keine eindeutig erkennbare Anlehnung an eine neutestamentliche Richtung; seine Tendenz ist gnostisch, nicht paulinisch oder johanneisch. Noch schwieriger ist die Einordnung des Philippus- und des Thomasevangeliums, denen beiden Verbindungen zur valentinianischen Gnosis nachgesagt werden. Ersteres, vielleicht noch aus der 2. Hälfte des 2. lahrhunderts22 , enthält neben einem Zitat aus Mt 3,10 in Spruch 123 23 sowie verschiedenen Anklängen an die Evangelien und die Apokalypse ebenfalls schwache paulinische Spuren, insofern einzelne Fomiulierungen an eine Reihe paulinischer Briefe erinnern (vor allem an den Römerbrief, die beiden Korintherbriefe sowie an den Galater- und Philipperbrief)24. Das Thomasevangelium aus der Mitte des 2. lahrhunderts25 läßt daRuoOLPH 341; H. JONAS, Gnosis und spätantiker Geist 13 (Göttingen 1964) 408; kritischer CoLPE, Überlieferung VII, 132; 144/6. 21 Vgl. die Übersicht bei S. ARAI, Die Christologie des Evangelium Veritatis (Leiden 1964) 16f.; J.-E. MENARD, L'Evangile de Verite = Nag Hammadi Studies 2 (Leiden 1972) 3/9. 22 H. GAFFRON, Studien zum koptischen Philippusevangelium unter besonderer Beriicksichtigung der Sakramente (Diss.Bonn 1969) 69f; J.-E. MENARD, L'Evangile selon Philippe (Paris 1967) 34, denkt an eine spätere Zeit. 23 Nach R. McL. V{ILSON, The Gospel of Philip (London 1962) 59. 24 MENARD, L'Evangile Phil. 29/33; positiver PAGELS, The Gnostic PauI2f.; 11, Anm. 15f., allerdings mit nicht ganz korrekter Berufung auf WILSON 7; 12. 2S VIEUIAUER, Urchristliche Literatur 621; CoLPE, überlieferung IV: JbAC 18 (1975) 15l. 20
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gegen jeden paulinischen Einfluß vermissen; seine "wahren Verwandten" sind noch unbekannt26 • Zusammenfassend läßt sich sagen: Paulus ist "Apostel der Häretiker" - abgesehen von den Markioniten - vornehmlich bei Valentin und seinen Schülern. An alle von ihnen als paulinisch angesehenen Briefe, d. h. an den Römerbrief, die beiden Korintherbriefe, den Galater-, Epheser-, Philipper-, Kolosser- und den ersten Thessalonicherbrief, lassen sich Anklänge nachweisen. Verwertet wird ebenso der Hebräerbrief, nicht akzeptiert werden dagegen die Pastoralbriefe27 • "Apostel der Häretiker" bedeutet anders als auf orthodoxer Seite bei den Pastoralbriefen - aber nicht, die Valentinianer betrachteten Paulus als einzige oder auch nur maßgebende Autorität. Zeugnisse, die eine irgendwie geartete Exklusivität des Apostels belegen könnten, fehlen. lohannesevangelium und johanneisches Denken haben nicht nur in Herakleons lohanneskommentar auf die Valentinianer eine gleich große Faszination ausgeübt; ebensowenig fehlt eine ungenierte Aneignung der synoptischen Evangelien, vornehmlich des Matthäus28 • Sich aufgrund unvereinbarer Schriftstellen in theologische Widersprüche zu verwickeln, war ihre geringste Sorge. Da sie nicht "Wissenschaft von der Offenbarung, sondern selbst Offenbarung"29 zu bieten hatten, war ihr gnostisches System alleiniges Prinzip aller Schriftauslegung. Ähnlich wie mit der Hl. Schrift konnten sie mit philosophischen Systemen und Traditionsströmen verfahren30 • Nach ZAHN behaupteten die Valentinianer zwar, "daß Paulus in seinen Briefen für jeden, der lesen kann, deutlich genug die Grundbegriffe ihres Systems zur Anwendung VIELHAUER, Urchristliche Literatur 635; J.-M. SEVRIN, L'Evangile selon Thomas. Paroles de Jesus et revelation gnostique: Revue theol. de Louvain 8 (1977) 277/80; 29-l. 27 PAGELS, The Gnostic Paul5. 28 MAsSAUX, Influence 425/34; 439/48; 455. 29 G. HENRlCI, Die Valentinianische Gnosis und die Heilige Schrift (Berlin 1871) 175. Vgl. N. BROX, Offenbarung, Gnosis und gnoslischer Mythos bei lrenäus von Lyon = Salzburger Patristische Studien 1 (Salzburg 1966) 29/3l. 30 B. ALAND, Gnosis und Philosophie: Proceedings of the International Colloquium on Gnosticism (Stockholm 1977) 34/73, bes. 73. 26
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gebracht habe"31, eine Bemerkung, die in der Literatur so häufig wiederholt worden ist, daß fast der Eindruck entsteht, valentinianische Gnosis sei zum guten Teil paulinisehe Theologie im fortgeschrittenen Zustand. ZAHN selber ist allerdings der Meinung, die Valentinianer seien nicht bemüht gewesen, sich von Paulus (und Johannes) die leitenden Gedanken anzueignen, sie hätten lediglich "Worte und Wortverbindungen ... den apostolischen Schriften entlehnt, um sie zum Aufputz und Aufbau ihrer mythologischen Spekulationen zu verwenden"32, ein Urteil, das in der Literatur meist nicht mitzitiert wird. Um zu einer begründeten Entscheidung zu kommen, ist daher genauer zu prüfen, in welchem Umfang Paulus für die valentinianische Gnosis nicht nur als Zierat und Füllmaterial gedient hat, sondern zur Substanz ihrer theologischen Verkündigung gehört, und welche thematischen Bereiche die Übereinstimmung zwischen paulinischer und gnostischer Theologie abdeckt.. Annäherungen und Unterschiede Eschatologie und Auferstehung Am naheliegendsten erscheint der gnostische Rückgriff auf Paulus, der nach Theodot der "Apostel der Auferstehung" schlechthin ist (Klemens Alex., Excerpta ex Theod. 23,2), im Bereich der Eschatologie, näherhin in der Lehre von der durch Glaube und Taufe bereits geschehenen Auferstehung. So heißt es im Philippusevangelium (Spruch 90): "Diejenigen, die sagen, man wird zuerst sterben und [danach] auferstehen, irren. Wenn man nicht zuerst, bei Lebzeiten, die Auferstehung erhält, wird man nichts erhalten, wenn man stirbt. So reden sie auch von der Taufe, wenn sie sagen: ,Groß ist die Taufe. Wenn man sie empfängt, wird man leben"'33. An anderen Stellen, an denen im Phi-
.
32
ZAHN, Kanon 1,751. Ebd. 1,755f.
33
übersetzung nach FOERSTER 2,113.
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lippusevangelium auf die Auferstehung angespielt wird (vgl. die Sprüche 4; 11; 21; 23; 63; 67; 91; 95), handelt es sich ebenfalls um die bereits geschehene geistige Auferstehung34 . Bemerkenswert ist die Verbindung von Auferstehung und Taufe, die mehrmals vorkommt. Im Philippusevangelium (Spruch 76) heißt es: "Die Taufe ist das ,heilige' Haus, die Erlösung ist das ,heilige des Heiligen', das ,heilige der Heiligen' ist das Brautgemach. Die Taufe hat die Auferstehung und die Erlösung"35. Ein ähnlicher Zusammenhang scheint im Brief an Rheginus auch "Abhandlung über die Auferstehung" genannt - zu bestehen: "Dann aber, wie der Apostel gesagt hat: ,Wir haben mit ihm gelitten, und wir sind mit ihm auferstanden, und wir sind mit ihm zum Himmel gefahren'. Wenn wir nun in dieser Welt offenbar sind als solche, die ihn tragen, sind wir Strahlen von jenen, und wir werden umfaßt von ihm bis zu unserem Versinken, d. h. unserem Tod in diesem Leben. Wir werden von ihm zum Himmel gezogen wie die Strahlen von der Sonne, ohne durch irgendetwas zurückgehalten zu werden" (45,24139)36. Es wurde schon erwähnt, daß Röm 8,17 und Eph 2,5f. in diesen Versen nachklingen37 • WEIS~ meint darüber hinaus, eine gedankliche, nicht ausdrucksmäßige Nähe bestehe auch zu Röm 6,3, d. h. zu dem paulinischen Gedanken vom Mitsterben mit Christus in der Taufe, das die Auferstehung zum Wandel in einem neuen Leben einschließt (vgl. Röm 6,4.11.13). Diese von Paulus allerdings ethisch verstandene bereits geschehene Auferstehung werde dann in den bekannten Stellen des Epheser- und Kolosserbriefes (Eph 2,5f.; Kol 2,12f.) zu einer präsentischen Eschatologie weitergeformt, deren Sachwalter im 2. Jahrhu,ndert
34
J.-E. MENARD, Das Evangelium des Philippus und der Gnostizismus: Christentum und Gnosis = Beihefte ZNW 37 (Berlin 1969) 50.
Zur übersetzung vgl. FOERSTER 2,110; 165, Anm. 52; H.-F. WEISS, Paulus und die Häretiker. Zum Paulusverständnis in der Gnosis: Christentum und Gnosis = Beihefte ZNW 37 (Berlin 1969) 122, Anm. 20. 36 übersetzung nach PEEL 41. 37 Vgl. S. 196; PEEL 29f.; 79/81. 35
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vornehmlich die christlichen Gnostiker gewesen seien38 • Nach VON CAMPENHAUSEN haben gnostische Theologen mit ihrem Reden von der geistlichen Auferstehung wirksam und lebendig einen Gedanken betont, der in der Gemeindefrömmigkeit zu kurz zu kommen drohte, wenn sie Auferstehung und Gericht - fast jüdisch - nur noch als Lock- und Drohmittel zu verwenden wußte39 • Ein wenig stört in dieser Argumentation allerdings der Umstand, daß die beiden wichtigen deuteropaulinischen Stellen, Eph 2,5f. und Kol 2,12f., die nach WEISS die Vermittlung vom paulinischen Taufkapitel (Röm 6) zur voll entfalteten präsentischen Eschatologie einer schon geschehenen Auferstehung übernommen haben könnten, in der gnostischen Exegese so gut wie keine Rolle spielen. Eph 2,5f. klingt lediglich in der obengenannten Stelle aus dem Brief an Rheginus (45,27f.) an, enthält jedoch keinen Hinweis auf die Taufe; Kol 2,12 erinnert zwar an die Taufe, fehlt dafür aber völlig in den gnostischen Quellen. übereinstimmungen zwischen Paulus und der Gnosis des 2. Jahrhunderts über die Auferstehungsthematik hinaus sind nicht sehr zahlreich. Jedenfalls behandelt WEISS, der ausdrücklich klären will, "in welcher sachlich-theologischen Hinsicht von einer Nachwirkung des Paulus im Bereich der frühchristlichen Gnosis die Rede sein kann"4o, allein die Auferstehung und die mit ihr zusammenhängenden eschatologischen und baptismalen Aspekte. Auch PAGELS nennt neben Auferstehung und Taufe nur noch das Verhältnis zwischen Gott und dem Erwählten sowie die Leib-Christir Lehre als gnostisch-paulinische Themen41 . Ergeben sich zusätzliche Berührungspunkte, wenn man die gnostische Theologie ihrer mythischen Sprache entkleidet und sie auf die hinter ihr liegende Wirklichkeitserfahrung reduziert? MOiILENBERG hat z. B. darauf hingewiesen, daß die Kosmologie WEISS, Paulus und die Häretiker 122/4; vgl. B. WEISS, Amt und Eschatologie im 1. Clemensbrief: ThPh 50 (1975) 78. 39 VON CAMPENHAUSEN, Bibel 171. 40 WEISS, Paulus und die Häretiker 118. 41 PAGELS, The Gnostic Paul 3. 38
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der Basilidianer "den paulinischen Satz von der allgemeinen SÜDdhaftigkeit des Menschen" ernster genommen habe als Irenäus und die nachfolgenden kirchlichen Theologen in Alexandrien. Allerdings bleiben auch hier Differenzen42 , genauso wie bei der Charismen-, Leib-Christi- und Pleroma-Lehre43 sowie bei dem Erwählungsthema, auf das noch näher eingegangen werden wird44 • Schließlich wird man sogar in puncto Auferstehung, zugeben müssen, daß die Reduzierung der Auferstehungshoffnung auf ein dem Pneumatiker schon widerfahrenes Ereignis der paulinischen Dialektik von der Gegenwärtigkeit und Zukünftigkeit des Heils strikt entgegensteht und eine Auffassung darstellt, die schon der Apostel selbst gegen die Irrlehrer in Korinth (1 Kor 4,8) bekämpft hat45 • Daß die Gnostiker die in das Leben weiterwirkende Bedeutung des Taufgeschehens betont haben, macht sie noch nicht zu Paulusschülern - jedenfalls nicht mehr als die frühkatholischen Lehrer ihrer Zeit (bis hin zum 2. Klemensbrief); die mythologische Enteschatologisierung des paulinischen Verständnisses von Heilsgeschichte46 bringt sie sogar in einen solchen Gegensatz zum Apostel, "daß man das gnostische PaulusVerständnis - jedenfalls hinsichtlich der paulinischen Aussagen über Taufe und Auferstehung - nur als ein Mißverständnis bezeichnen kann"47. Ultrapaulinisehes Ernstmachen mit paulinisehen Gedanken bis zur letzten Konsequenz48 ist we~~r Treue E. MüHLENBERG, Wirklichkeitserfahrung und Theologie bei dem Gnostiker Basilides: KuD 18 (1972) 161175, bes. 161. 43 KOSCHORKE, Gnostische Gmeindeordnung 4lf. (vgl. S.197, Anm. 17); J. ERNST, Pleroma und Pleroma Christi. Geschichte und Deutung eines Begriffs der paulinischen Antilegomena = Biblische Untersuchungen 5 (Regensburg 1970) 41165; weiterführende Literatur ebd. 44 Siehe S. 210/4. 45 WEISS, Paulus und die Häretiker 123; vgl. PEEL 129. 46 N. BROX, Offenbarung 29; H.-I. MARRou, Geschichtsphilosophie: RAC 10 (1977) 769f. 47 WEISS, Paulus und die Häretiker 123. 48 Ebd. mit Hinweisen auf VON CAMPENHAUSEN, Kirchliches Amt 120; E. KÄSEMANN, Neutestamentliche Fragen von heute: Exegetische· Versuche und Besinnungen 23 (Göttingen 1970) 27f.; G. QUISPEL, Neue Funde zur valentinianischen Gnosis: ZRGG 6 (1954) 301.
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zur Verkündigung des Apostels als vielmehr Mißbrauch seiner Autorität zur Absicherung eigener Ideen. Im Hinblick auf den Brief an Rheginus könnte es allerdings scheinen, als müsse dieses negative Urteil gemildert werden. Der Autor, konfrontiert mit dem kirchlichen Glauben an die leibliche Auferstehung, konstruiert nämlich für die Auferstehung des Geistes nach dem Tode einen Träger in Form "eines ,Auferstehungsleibes' oder einer Art ,geistigen Fleisches "'49. Entsprechend schreibt er an Rheginus: "Wenn du nämlich (einst noch) nicht im Fleische warst, sondern (erst) Fleisch annahmst als du in diese Welt gekommen bist, weshalb sollst du nicht (auch) das Fleisch wieder annehmen, wenn du zum Äon emporsteigst?" (47,4/8)50. Für RUDOLPH ist diese Anpassung an das offizielle Christentum - in Anlehnung an Paulus macht der Verfasser aus dem geistigen Leib in 1 Kor 15,44 ein geistiges Fleisch - ein Beispiel "für die Geschmeidigkeit gnostischen Denkens"51. Hinsichtlich des Zeitpunkts hält der Verfasser gegen Paulus' eschatologischen Vorbehalt einer Auferstehung erst bei der Parusie an der Auferstehung sofort nach dem Tode fest, hinsichtlich der Natur des Auferstehungsleibes dagegen nähert er sich weithin der paulinischen Vorstellung52. Hat die valentinianische Gnosis damit nicht doch einen erheblichen Schritt auf den christlichen Gemeindeglauben hin getan? Eine ähnlich kirchlich-orthodox anmutende Stelle, die ebenfalls von einer Auferstehung im Fleische spricht, findet sich im Philippusevangelium im zweiten Teil von Spruch 23 53 . Interessant in diesem Zusammenhang ist die von PEEL. aufgrund zahlreicher im Brief enthaltener Anhaltspunkte geäußerte Vermutung, der Brief sei von einem "ehrwürdigen, valentinianisch-christlichen Lehrer verfaßt" worden, der mit der valenti-
49 RuooLPH 209; vgl. PEEL .9lf.; 156f. so übersetzung nach RUOOLPH 209. 51 Ebd. 52 PEEL 156f.; 160. 53 H.-M. SCHENKE, Auferstehungsglaube und Gnosis: ZNW 59 (1968) 124.
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nianischen Schule orientalischer Präguilg wohlvertraut gewesen sei, mit der Zeit aber zunehmend unter den Einfluß des christlichen Glaubens und der Lehre des Neuen Testamentes, vor allem des Paulus, geraten sti mit dem Ergebnis einer "Rechristianisierung seines jValentinianischen Denkens"s4. Ganz ähnlich glaubt BRAENDLE bezüglich des Verfassers der nichtgnostischen Epistula ad Diognetum, die sich in ihrer präsentischen Eschatologie über den Epheser- und Kolosserbrief mit dem Brief an Rheginus berührt, er sei weder Valentin selbst55 , noch ein zuverlässiger Vertreter seiner Schule gewesen, sondern ein "von gnostischem Denken und Sprache beeinflußter Theologe", der sich aber bewußt von der Gnosis habe absetzen wollen56 • Und was das Philippusevangelium angeht, so kapituliert ScHENKE vor einem durchgehenden Verständnis von Spruch 23 und begnügt sich mit der Auskunft, daß es sich um zwei Exzerpte mit unterschiedlicher, ja entgegengesetzter Tendenz handeln müsse, "aus einer gnostischen oder gnostizierenden und aus einer kirchlich-orthodoxen" Schrift, die vom "Sammler des Florilegiums, das durch Zufall ,PhiIEv' heißt ... nach der Methode sic et non einander gegenübergestellt" worden seien57 • Es dürfte in der 2. Hälfte des 2. Jahrhunderts eine Grauzone zwischen kirchlicher und gnostisch-valentinianischer "Orthodoxie" gegeben haben, an der auffällig ist, daß sich theologische Schriftsteller in dem Maße einer zutreffenden Paulusinterpretation nähern, in dem sie sich von dezidiert gnostischen Auffassungen abwenden.
PEEL 187; zustimmend CoLPE, Überlieferung VIII: JbAC 22 (1979) 100. Gegen S. PETREMENT, Valentin est-ill'auteur de l'Epitre a Diognete?: RHPhR 46 (1966) 34/62. 56 R. BRAENDLE, pie Ethik der "Schrift an Diognet". Eine Wiederaufnahme pauliniscqer und johanneischer Theologie am Ausgang des zweiten Jahrhunderts = AThANT 64 (Zürich 1975) 63f.; 93f.; vgl. S. 255. 57 ScHENKE, Auferstehungsglaube 124; CoLPE, Überlieferung VIII, 103, Anm. 21. Es gibt auch eine innergnostische Kritik vor allem an Valentin und seinen Schülern wegen zu weitreichender übereinstimmung mit dem kirchlichen Gemeindeglauben; vgl. K. KOSCHORKE, Der gnostische Traktat "Testimonium Veritatis" aus dem Nag-Hammadi-Codex IX: ZNW 69 (1978) 93. 54
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Christologie Das ist verständlich, denn zwischen dem authentischen Paulus und dem nicht abgeschwächten systemtreuen Valentinianismus besteht eine unüberbrückbare Kluft. Sie klafft schon in der Gotteslehre, bei der sich die valentinianische Gnosis von anderen gnostischen Richtungen durch den kühnen Entschluß unterscheidet, ,;den Urspung des Dunklen und damit der dualistischen Entzweiung des Seins in die Gottheit selbst zu verlegen"S8. Unwissenheit, Leidenschaften und Übel, Wesen und Existenz der Materie in ihrem Gegensatz zum Geist sind nicht Folge des Mißbrauchs menschlicher Freiheit; sie haben ihren Grund· auch nicht wie bei Markion und anderen in einem bösen, demiurgischen Schöpfergott (Prinzip), sondern in Gott selbst (vgl. Philippusevangelium, Spruch 99; Evangelium Veritatis 17,6-18,11). Wie das mit Paulus zu vereinbaren ist, ist ebensowenig einzusehen wie die Möglichkeit, von einer solchen Voraussetzung aus die valentinianische Christologie oder Soteriologie mit der paulinischen in Einklang zu bringen. Über die valentinianische Christologie berichtet Irenäus (Adv.haer. 1,7,2), der Demiurg "habe Christus als einen eigenen Sohn hervorgebracht, wenn auch nur seelisch, und über diesen durch die Propheten geredet. Er war es aber, der durch Maria hindurchging, wie Wasser durch eine Röhre fließt, und auf diesen stieg bei der Taufe der aus dem Pleroma von allen (Äonen) gebildete Heiland in Gestalt einer Taube herab;-in ihm war auch der geistige Same der Achamoth. Unser Herr war also, wie sie sagen, aus diesen vier Teilen zusammengesetzt, um so das Urbild der ursprünglichen und ersten Vierheit zu bewahren: aus dem Geistigen, was von der Achamoth stammte, aus dem Sinnlichen, was vom Demiurgen kam, aus dem Heilsratschluß (Oixovo!-tLa), was mit unaussprechlicher Kunst gefertigt war, und aus dem Erlöser, was auf ihn als Taube herabgestiegen war." Nach Hippolyt (Ref. 6,36,4) lehren die Valentinianer drei Christusse: der vom Nus
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JONAS
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1,416f.; RUOOLPH 73f.
und der Aletheia mit dem Heiligen Geist hervorgebrachte, der Gemahl der außerhalb des Pleroma befindlichen Sophia und der aus Maria zu unserer Rettung geborene. Irenäus kennt ebenfalls diese Dreiteilung (vgl. Adv.haer. 3,16,1; 4,33,3), die auch im sogenannten "Gebet des Paulus" vorausgesetzt zu sein scheint59 • Überall dort, wo über die gnostisch-valentinianische Äonenlehre dualistische und doketische Spekulationen die Christologie bestimmen, läßt sich eine Brücke zum paulinischen Denken aber schwerlich schlagen. Nun gibt es - wie bei der Auferstehungslehre - im Anziehungsbereich valentinianischer Gnosis aus dem Kreis der Nag-Hammadi-Schriften ebenfalls Beispiele für eine Christologie, die die typisch gnostischen Spekulationen vermeidet und sich frühkirchlichen Vorstellungen nähert, vor allem, wenn man 4arauf verzichtet, den dogmatischen Maßstab späterer Zeit an die Texte zu legen und zugesteht, daß bis ins 2. Jahrhundert hinein ein milder Doketismus im christlichen Gemeindeglauben geherrscht haben dürfte, der entweder adoptianisch in Jesus einen auserwählten Menschen sah, der am Ende seines Werkes von Gott an Sohnes Statt angenommen und zu seiner Rechten erhöht wurde, oder umgekehrt ein himmlisches Geistwesen, das Fleisch angenommen hat und nach Vollendung seines Auftrags in den Himmel zurückgekehrt ist60 • .RUDOLPH verweist für diese Auffassung auf Stellen aus dem Evangelium Veritatis und dem Brief an Rheginus 61 • Im letzteren heißt es: "Der Sohn Gottes aber, Rheginus, war ein Menschensohn. Er umfaßte sie beide: er besaß die Menschheit und die Gottheit, damit einerseits er den Tod besiege dadurch, daß er Gottes Sohn ist, und andererseits durch den Menschensohn die Wiedereinbringung in das Pleroma geschehe, da er urspünglich von oben stammt, ein Same der Wahrheit, bevor dieses Gefüge überlieferung VII,127; vgl. ROBINSON, The Nag Hammadi Library 27f. 60 A. VON HARNACK, Lehrbuch der Dogmengeschichte 14 (Tübingen 1909 = Darmstadt 1964) 210/6; RUOOLPH 1nf. 61 RUOOLPH 175.
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CoLPE,
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entstanden war. In diesem [Gefüge] entstanden zahlreiche Herrschaften und Gottheiten" (44,21/38)62. Hier scheinen die zwei Naturen in dem einen Christus mit aller wünschenswerten Klarheit ausgesprochen zu sein, in einer bibelnahen Sprache, die paulinisch-deuteropaulinische (vgl. Röm 1,20; Kol 1,16; 1,19f.; 2,9) und johanneische Wendungen (vgl. Jo 5,25.27; 3,31; 8,23) einschließt63 . Stünde der Text in einer frühkirchlichen oder zumindest sich frühkirchlich-orthodox gebenden Schrift (vgl. etwa Epistula Apostolorum 13), niemand würde Anstoß nehmen64 . Macht sich hier wieder die schon erwähnte Neigung des Briefes bemerkbar, die ihn nach Meinung PEELS vom Valentinianismus abrücken läßt? Andererseits bleibt genügend übrig, was die Christologie des Briefes mit der des Paulus unvereinbar macht. So fehlt z. B. der Gedanke, daß Christus als Erlöser vom Vater gesandt ist. Nicht Gott ist es, "der die Menschen durch Christus rettet, sondern Christus rettet sie aus eigener Kraft. Das ist Christozentrismus unter Ausschluß der Theologie"6s - ein für Paulus wie Johannes gleichermaßen unmöglicher Gedanke. Für das Evangelium Veritatis verweist RuooLPH u. a. auf folgenden, auch soteriologisch wichtigen Text: "Keiner von denen, die an die Rettung glaubten, konnte in Erscheinung treten, bevor jenes Buch (des Lebens) nicht erschienen wäre. Daher war der barmherzige und treue Jesus geduldig, indem er die Leiden ertrug, bis er jenes Buch nahm, da er wußte, daß sein Tod ein Leben für viele ist· Wie bei einem Testament, das noch unveröffentlicht ist, das Vermögen des verstorbenen Hausherrn verborgen ist, so blieb das All verborgen, weil der Vater des Alls (noch) unsichtbar war.... Deshalb offenbarte sich Jesus. Er bekleidete sich mit jenem Buch [oder: er öffnete jenes Buch]66. Er wurde an ein Holz genagelt. Er schlug die Verfügung des Vaters an das übersetzung nach PEEL 40. Ebd. 69/73. 64 Vgl. S. 261; RUDOLPH 175f. 62
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PEEL135.
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Emendation von K. GROBEL, The Gospel of Truth (New York 1960) 65, Anm. 114; vgl. ARA! 101; O:>LPE, OberlieferungVII, 136, Anm. 51.
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Kreuz an. 0 welch große Lehre von solcher Größe! Er erniedrigt sich bis zum Tode, obgleich ihn das ewige Leben bekleidet. Nachdem er die völlig zerschlissenen Kleider [Körper] abgelegt hatte, bekleidete er sich mit der Unvergänglichkeit, die ihm niemand zu entreißen vermag" (20,6/34)67. Auch dieser Text überrascht in vielfacher Hinsicht: die Schriftnähe z. B. mit Apk 5 (Buch des Lebens) oder Ko12,14 (Annagelung der göttlichen Verfügung an das Kreuz), die völlig undoketische Betonung eines wirklichen Christusleidens, die Deutung des Todes Christi als "Leben für viele", die bis in das Zentrum der christlichen Verkündigung (vgl. Mk 10,45) vorzudringen scheint. Aber eben es scheint nur so, denn die Lebenshingabe Christi, die sowohl in judenchristlicher als auch in paulinischer Auffassung Sühnopfer für die Sünden ist, hat im Evangelium Veritatis die Aufgabe, das ÖUl1:01Vf.toten. Trifft das zu, dann enthielt Paulus, solange die Pastoralbriefe noch unbekannt waren, so gut wie nichts von dem, was Papias suchte. Der Grund, weshalb Papias Paulus verschweigt, kann folglich im mangelnden theologischen Interesse, wenn nicht gar in der Unfähigkeit bestehen, Wert und Tragweite der paulinisehen Theologie zu ermessen. In diesem Fall bekäme die "Absicht", mit der Paulus verschwiegen wird, mehr einen persönlichen als einen kirchlich-dogmatischen Hintergrund. Hegesipp Ein weiterer Schriftsteller, der in diesem Zusammenhang angeführt und dessen Schweigen als absichtsvoll deklariert wird, ist Hegesipp76, vielleicht ein Judenchrist77, der um die Mitte des 2. Jahrhunderts in den Westen reiste, um sich der Lehrtradition verschiedener Kirchen - namentlich aufgeführt werden Korinth und Rom - zu vergewissern. Spät~r (um 180) schrieb er seine fünf Bücher "Denkwürdigkeiten", von denen nur wenige Bruchstücke erhalten geblieben sind78 • Wenn es darum auch nicht Vgl. S. 236, Anm.. 61; dazu K. BEYSCIn.AG, Herkunft und Eigenart der Papiasfragmente: Studia Patristica 4,2 = TU 79 (Berlin 1961) 268/80. 16 ScHNEEMELCHER, Paulus in der griechischen Kirche 8f.; VON CAMPENHAUSEN, Bibel 209; BAUER, Rechtgläubigkeit 199f. 11 Die Auffassung, Hegesipp sei Jude oder Judenchrist gewesen, bezweüelt N. HYLDAHL, Hegesipps Hypomnemata: StTh 14 (1960) 109f.; 113. 18 Gesammelt bei E. PREUSCHEN, Antilegomena. Die Reste der außerkanonisehen Evangelien und urchristlichen OberiieferungenZ (Gießen 1905) 107/13. 15
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gelingt, den geschichtlichen Standort der wahrscheinlich apologetischen Zwecken dienenden Theologie Hegesipps genau zu fixieren79, so glaubt man doch aus kurzen Bemerkungen das Mißtrauen Hegesipps gegen Paulus und seine Verkündigung heraushören zu können. Man verweist z. B. auf den Schlußsatz in Hegesipps Bericht über die BischofsfolgeSO in Rom, in dem es heißt: "In jeder Stadt, in der ein Bischof auf den anderen folgte, entsprach das kirchliche Leben der Lehre des Gesetzes, der Propheten und des Herrn" (Eusebius, Hist. eccl. 4,22,3). Grundlage für die kirchliche Verkündigung bilden also die Bücher des Alten Testamentes (Gesetz und Propheten) und die lebendige Iesusüberlieferung der Gemeinden (der Herr). Mag letztere auch in der Regel in den schriftlich formulierten Herrenworten der Evangelien vorliegen, so meint "der Herr" doch nicht eine neutestamentliche Heilige Schrift, sondern eben die durch lückenlose Weitergabe gesicherte mündliche LehrüberlieferungS1 • Paulus fehlt, obwohl er, wie BAUER bemerkt, um 180 mit seiner Briefsammlung neben den genannten Autoritäten zweifellos schon eine feste Stelle eingenommen haben dürfte. Doch ",Altes Testament und Herr', das paßt offenbar besser zu den judenchristlichen Gemeinden Palästinas, von denen Hegesipp seinen Ausgang genommen, oder es lebt darin eine Formel fort, die ein Menschenalter zuvor den kirchlichen Standpunkt eines Iustin und Papias einigermaßen zutreffend beschrieben hatte"s2. Nun schreibt Hegesipp zwar um 180, berichtet aber von dem Zustand der Gemeinden "ein Menschenalter zuvor". Gleichwohl ist der Anstoß des unterschlagenen Paulus damit nicht ausgeräumt, denn auch um 150 dürften in Rom Paulusbriefe längst bekannt und gesammelt gewesen seins3 . Ob Hegesipp sie "ein Menschen-
Vgl. HYlDAHL 84/6; 100; 113. Die möglichen Bedeutungen von öLaöox~ btoLTJOUJ.l.TJV sollen hier nicht erörtert werden; vgl. HYLDAHL 100/3; VON CAMPENHAUSEN, Kirchliches Amt 18Of. 81 VON CAMPENHAUSEN, Bibel 196f. 82 BAUER, Rechtgläubigkeit 199f. 83 Vgl. S. 175, Anm. 2f.
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alter nach Markions Abfall" absichtlich "bei der Aufzählung der ,kanonischen' Autoritäten"84 beiseite gelassen hat, bleibt trotzdem fraglich, weil er an dieser Stelle ja nicht um eine Aufzählung aller kanonischen Schriften bemüht ist, sondern um den Nachweis, daß durch lückenlose und nachweisbare Aufeinanderfolge der Bischöfe Leben und Glauben der von ihm besuchten Gemeinden der Jesusüberlieferung entsprechen. Kanonische Autoritäten in Form von heiligen Schriften werden überhaupt nicht angegeben; es wird weder ein (bevorzugtes) Evangelium noch sonst eine neutestamentliche Schrift genannt8S . Das mag hinter dem Entwicklungsstand um 180 zurückbleiben86 , läßt sich aber schwerlich auf eine Aversion gegen Paulus einengen. Diese könnte schon eher an einer anderen durch Stephanus Gobarus überlieferten Stelle vermutet werden87 , bei der Hegesipp die maßgebliche überlieferung nicht nur erneut auf "die göttlichen Schriften" und den "Herrn" reduziert, sondern auch gegen eine Auffassung polemisiert, die von Paulus 1 Kor 2,9 ausgesprochen wird: "Was kein Auge gesehen, was kein Ohr gehört und in keines Menschen Herz gedrungen ist, hat Gott denen bereitet, die ihn lieben." Gegen diese Behauptung, die für Hegesipp nur die Verlogenheit und Schriftwidrigkeit der Häretiker dokumentiert88 , setzt er nämlich das Wort des Herrn: "Selig eure Augen, die da sehen, und eure Ohren, die da hören" (vgl. Mt 13,16). BAUER schließt aus dieser Gegenüberstellung, daß Hegesipp mit dem 1. Klemensbrief nach Korinth zwar vertraut gewesen sei (vgl. Eusebius, Hist.eccl. 4,22,1), den 1. Korintherbrief des Paulus jedoch nicht gekannt habe89 • Träfe diese nicht Bibel 196; 209. Eusebius, Hist.eccI. 4,22,8, berichtet lediglich, Hegesipp erwähne "einige Stellen aus dem Hebräerevangelium, aus dem Syrischen und aus dem Hebräischen ... ". 86 VON CAMPENHAUSEN, Bibel 196f., Anm. 90, bringt allerdings zahlreiche Belege dafür, daß im syrischen Raum noch im 3. Jahrhundert die Apostelbriefe bei der Aufzählung der kanonischen Schriften fehlen konnten. 87 Stephanus Gobarus bei Photius, BibI. cod. 232 (PREUSCHEN 113). 88 BAUER, Rechtgläubigkeit 216f. 89 Ebd. 216. 84
VON CAMPENHAUSEN,
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sehr wahrscheinliche Folgerung zu, dann wäre das Verschweigen des Paulus aus Unkenntnis geboren und darum wertfrei. Daß Hegesipp, der zumindest in Korinth und Rom eifrig Erkundigungen eingezogen hat, die Existenz von Paulusbriefen verborgen geblieben sein soll, ist allerdings schwer vorstellbar. Dennoch ist der Schluß, daß Hegesipp die Gnostiker bekämpft, indem er mit Mt 13,16 gegen 1 Kor 2,9 polemisiert, nicht zwingend; er setzt nämlich stillschweigend voraus, daß Hegesipp nicht nur Paulusbriefe gekannt, sondern präzis die Stelle 1 Kor 2,9 - sei es aus dem Paulusbrief selbst, sei es aus der Argumentation" de'r Häretiker - als paulinischen Ausspruch identifiziert hat90 • Bleiben bereits hier einige Fragen offen, so sind weitere Vermutungen völlig unbeweisbar wie z. B. BUONAIUfIS Ansicht, Hegesipp habe als Ausgleich gegen die Herausstellung des Paulus durch Markion die Petrusstelle Mt 16,18 in das Matthäusevangeli um eingeführt91 , oder die Behauptung EHRHARDTs, Hegesipps Idealisierung des Jakobus (vgl. Eusebius, Hist.eccl. 2,23,4/19) sei von einer scharfen Attacke gegen Paulus begleitet gewesen, die ihn in die Reihe der antipaulinischen judenchristlichen Sekten einreihe92 • Solche Vermutungen haben kein Fundament in Hegesipps Theologie, soweit sie sich aus den spärlichen Fragmenten erheben läßt; diese geben eher zu erkennen, daß Hegesipp gerade keine judenchristlieh bestimmten Tendenzen verfolgt hat. Wie bei allen Schlüssen ex silentio wird man auch im Hinblick auf Hegesipp vorsichtig in den Schlußfolgerungen sein müssen. Feststehen dürfte gleichwohl, daß Paulusbriefe für Hegesipp (und Papias und viele unbekannte Bischöfe und Lehrer dieser Zeit) noch nicht zu den neutestamentlichen Offenbarungsschriften gehören, die unvermeidlich genannt werden müssen, wenn man
Hingewiesen sei auf die Verwandtschaft von 1 Kor 2,9 mit ähnlichen Aussagen bei Is 52,15; 64,3; vgl. S. 232. 91 E. BUONAIUTI, Marcione ed Egesippo: Religio 12 (1936) 412f.; dagegen H. VON CAMPENHAUSEN, Die Nachfolge des Jakobus. Zur Frage eines urchristlichen ..Kalifats": ZKG 63 (1950) 139, Anm. 37a. 92 A. EHRHARDT, The Apostolic Succession in the first two Centuries of the Church (London 1953) 64; dagegen HYLDAHL 75. 90
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die verbindlichen Urkunden seines Glaubens benennt. Paulus dürfte ihnen weniger als Offenbarungszeuge denn als Theologe (und Missionar) gegolten haben. Um die überlieferung über Jesus lückenlos wiederzugeben, brauchte man ihn nicht, und einer theologischen Durchdringung der Offenbarung im paulinisehen Sinne stand man wenig interessiert, wenn nicht gar mißtrauisch gegenüber. Antipaulinische Tendenzen lassen sich aus solchem Schweigen nicht ableiten, wohl eine Abstinenz des Gemeindeglaubens von paulinisehen Impulsen. Paulus adäquat zu verstehen, dazu reichten die Kräfte nicht, ihn pragmatisch zu verwenden, erschien unzweckmäßig angesichts der wohl immer gespürten Dynamik der paulinischen Theologie und der Gefahr ihres häretischen Mißbrauchs. 4. Apologeten Zu den Verschweigem des Paulus werden zuweilen auch die Apologeten gezählt l . Tatsächlich enthält die noch vor der Jahrhundertinitte anzusetzende Apologie des Aristides 2 keinen eindeutigen Reflex der paulinischen Schriften. Geringfügige. Anklänge an das erste Kapitel des Römerbriefes und an Wendungen im Kolosserbrief lassen sich ohne Zwang mit der übereinstimmung im behandelten Gegenstand erklären3 . Justin Diese Sachlage ändert sich aber bereits im etwa zeitgleichen Schrifttum des römischen Philosophen und Martyrers Justin. Paulus in der griechischen Kirche 8. ,Patrologie 64. 3 BARNETf, Literary Influence 220f., vergleicht Wendungen in Aristides 1,5 mit Kol1,17; 3,1 mitRöm 1,25 und KoI2,8; 4,1 mitRöm 1,23; 7,4 mitRöm 1,24; 8,2 mit Röm 1,22; 11,7 mit Röm 7,8; 13,7 mit Röm 7,12; 15,7 mit KoI3,12, ohne sich jedoch auf einen bestimmten Gewißheitsgrad literarischer Abhängigkeit festzulegen. 1
ScHNEEMELCHER,
2
ALTANER - SrumER,
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Wenn er im Dialog 27,3 dieselben Psalm- und Isaiaszitate verwendet, und zwar in derselben Reihenfolge, wie sie Röm 3,12 vorkommen4, oder wenn er im Dialog 39,lf. die Klage des Elias gegen Israel und Gottes Antwort (vgl. 1 Kg 19,10/17) in einer Weise wiedergibt, die in mehreren Einzelheiten gegen die LXXVersion mit Röm 11,2/5 übereinstimmt, wird man die Kenntnis und Verwendung des paulinischen Römerbriefes nicht bestreiten können. Mit großer Sicherheit sind darüber hinaus Spuren des 1. Korintherbriefes, des Galaterbriefes sowie des Epheser- und Kolosserbriefes in Justins Schriften nachzuweisen; unsicher bleibt dagegen der Nachhall des 2. Korinther- und des 1. Thessalonicherbriefes. Keine Verbindungen lasssen sich zum kurzen Philemonbrief herstellen, und auch die Pastoralbriefe haben keinerlei Spuren hinterlassen6 • Was die inhaltliche Seite angeht, so kennt Justin wie Paulus die geistig-allegorische Auslegung einzelner alttestamentlicher Gesetze. Die Umdeutung der Beschneidung auf die Taufe, die bereits der Kolosserbrief (2,11/3) vornimmt, übernimmt Justin (Dialog 43,2) im gleichen sündenvergebenden Sinn. Vor allem aber findet Justin bei Paulus die heilsgeschichtliche Interpretation des alttestamentlichen Gesetzes insgesamt. Beide bezeugen eine Heilsordnung vor Moses, die noch ohne Gesetz auskam, und rechtfertigen mit dieser Tatsache die christliche Freiheit vom Gesetz. Christentum ist nicht Abfall vom Gesetz, sondern Erneuerung der vollkommenen vormosaischen Ordnung (Dialog 11,5; 23,lf.; 92,3). VON CAMPENHAUSEN weist darauf hin, daß nach
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Es handelt sich um Pss 14,3; 5,10; 140,4 und Is 59, 7f.; vgl. BARNETI, Literary Influence 236. Ebd. 237f. Ebd. 231/47; E. F. OSBORN, Justin Martyr = BHfh 47 (Tübingen 1973) 135f.; MAsSAUX, Influence 508/10; 562/8; weitere kritische oder zustimmende Beobachtungen bei R. JOLY, Christianisme et Philosophie. Etudes sur Justin et les Apologistes grecs du deuxieme siecle = Universite Libre de Bruxelles. Faculte de Philosophie et Lettres 52 (Bruxelles 1973) 50; 111; 122. Zu Dialog 35,3 vgl. A. LE BOUll.UEC, Remarques apropos du probleme de 1 Cor. 11,19 et du "logion" de Justin, Dialogue 35: Studia Patristica 12,1 = TU 115 (Berlin 1975) 328/31.
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Lukas' Apostelgeschichte Justin der erste ist, der versucht hat, auf die Frage nach der Geltung des alttestamentlichen Gesetzes eine Antwort zu geben. Obwohl diese Antwort paulinisch inspiriert war, konnte sie nicht im Namen des Apostels gegeben werden; denn die ebenfalls von Paulus vertretene Auffassung von der Mehrung der Sünde durch das Gesetz wäre zur Abwehr der gnostischen Angriffe gegen das Gesetz ein schlechter Helfer gewesen. So enthält denn die Durchführung der heilsgeschichtlichen Sicht bei Justin durchaus auch unpaulinische Momente7 • Überhaupt machen die von der Forschung aufgedeckten und in ihrem Sicherheitsgrad sorgfältig abgetönten Paulinismen Justin nicht zu einem paulinischen Theologen. Man wird sogar sagen müssen, daß ein Kernstück der justinischen Theologie, die Lehre vom samenhaft auftretenden Logos, dem Grundgedanken der paulinischen Theologie nicht gerade günstig ist. Pauli Auffassung von der Radikalität der Sünde harmoniert nur schwer mit dem a3t€QJ.la'tL'X6~-Denken, das weniger die Tiefe der Verlorenheit als vielmehr die Spuren des Göttlichen in der Schöpfung der Welt und des Menschen aufdecken möchte8 • Zwar will Justin die Offenbarung nicht in ein philosophisches System übersetzen; er unterschlägt - ohne Rücksicht auf Opportunitätsgründe - kein Stück der kirchlichen Überlieferung, mögen seine Ausführungen über den Kreuzestod Jesu, die Feier von Taufe und Eucharistie die apologetischen Überlegungen auch stören9 • Nur verweist das weder inhaltlich noch formal auf den Einfluß paulinischer Gedanken, sondern ist unaufgebbarer Bestandteil einer Gemeindetheologie, deren Wirksamkeit bereits im 1. Klemensbrief festgestellt werden konnte. Obwohl Justin Paulusbriefe, insbesondere 7 8
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VON CAMPENHAUSEN, Bibel 117. Vgl. H. CHAoWICK, The Beginning
of Christian Philosophy: The Cambridge History of Later Greek and Early Medieval Philosophy (Cambridge 1967) 166; OSBORN 140/53; U. WICKERT, Paulus, der erste Klemens und Stephan von Rom: drei Epochen der frühen Kirche aus ökumenischer Sicht: ZKG 79 (1968) 150. R. HOLTE, Logos spermatikos. Christianity and Ancient Philosophy according to St. Justin's Apologies: StTh 12 (1958) 109/68; H. VON CAMPENHAUSEN, Griechische Kirchenväter = Urban Bücher 14 (Stuttgart 1956) 18.
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den Römerbrief, gekannt hat, folgt er Paulus nur bedingt. Bei dem Nachweis, die Christen zahlten staatstreu ihre Steuern (Apologie 1,17), unterbleibt jeder Hinweis auf Röm 13; in den Ausführungen über die Auferstehung spielt 1 Kor 15 keine Rolle; bei der Erörterung über die Bekehrung der Heiden und die Verwerfung der Juden (Apologie 1,49) findet sich kein erkennbares Eingehen auf Röm 9/11, obwohl beide, Justin und Paulus, sich für die Verstockung Israels auf Is 65,2 berufen10 • Nimmt man alle Beobachtungen zusammen, dann ergibt sich auf der einen Seite, daß Justin - auch bei Anlegen kritischer Maßstäbe an die Konstatierung literarischer Abhängigkeiten eine Anzahl paulinischer Schriften gekannt haben muß l l • Andererseits ist Justin von der paulinischen Theologie nicht eigentlich beeinflußt. Im Gegensatz zum Gebrauch des Alten Testamentes und der Evangelien (einschließlich der Johannesapokalypse) werden von ihm paulinische Gedanken niemals zitiert oder auch nur als solche kenntlich gemacht;. nicht einmal der Name des Paulus, des eminent römischen Apostels, wird im erhaltenen Schrifttum auch nur ein einziges Mal erwähnt12 , Gibt es für dieses Verschweigen einen plausiblen Grund, oder läßt es auf feindseliges Ignorieren schließen?13 Letzteres wohl kaum, denn Justin beruft sich auch nicht auf die Autorität anderer Apostel. Paulus besitzt für ihn noch nicht die Autorität der Schriften des Alten Testamentes oder der Denkwürdigkeiten der Apostel-Evangelien (Apologie 1,67). Er bemüht Paulus, ohne ihn jedoch - auch wenn er ihn als Interpretationshilfe im Rahmen des alttestamentlichen Schriftbeweises heranzieht - verbindlich übernehmen und zitieren zu müssen. Was das Verschweigen des Paulusnamens angeht, so trifft vielleicht BAUERS Vermutung zu, daß die nament-
BAUER, Rechtgläubigkeit 218; anders die Beziehung zwischen Dialog 39,lf. und Röm 11,2/5; Dialog 46,6 und Röm 11,4. 11 BARNETI, Literary Influence 247, verzeichnet entsprechend seinen Kategorien 15 sichere, 11 sehr wahrscheinliche und 6 wahrscheinliche Reminiszenzen. 12 BARNETI, Literary Influence 232. 13 So F. ÜVERBECK, Ober das Verhältnis Justins des Märtyrers zur Apostelgeschichte: ZWTh 15 (1872) 318; 343. 10
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liche Nennung des Apostels und die ausdrückliche Berufung auf ihn als orthodoxen Ausleger alttestamentlicher Typologie wenig hilfreich war in einer Stadt, in der zur gleichen Zeit Markion wirkte und mit Paulus das Alte Testament bekämpfte14 . Wenn Irenäus und Tertullian"Justin in die Phalanx der Kämpfer gegen die markionitische Irrlehre einreihen, hat das wiederum ein uneingeschränkt positives Verhältnis Justins zu Paulus zur Voraussetzung1S . Wie Justin in der direkten Auseinandersetzung mit Markion den Äpostel verteidigt und in seine antihäretische Argumentation einbezogen hätte, läßt sich leider nicht mehr erkennen; denn eine von Irenäus (Adv.haer. 4,6,2) benutzte und von Eusebius (Hist.eccl. 4,1l,8f.) bezeugte Schrift Justins "gegen Markion" ist verlorengegangen16 , und in den erhaltenen Schriften wird Markion nur beiläufig erwähnt (Apologie 1,26; 1,58)17. Nach Justin bleiben Spuren der paulinisehen Briefe im apologetischen Schrifttum erhalten, wenngleich die grundsätzliche Verschiedenheit der theologischen Absichten mit dazu beigetragen haben mag, daß es zu einem ernsthaften Eingehen auf paulinische Gedanken in dieser Schriftengruppe nicht gekommen ist. Die Apologeten wollen der heidnischen Umwelt eine Darstellung des Christentums geben, die den höheren Wert und die innere überlegenheit der neuen Religion, die zugleich die uralte ist (Altersbeweis), kundtut18 ; Paulus dagegen spricht zu Gemeinden und im Glauben geheiligten Brüdern, was den apologetisch-missionarischen Effekt seiner Briefe zwar nicht aufhebt, ihnen aber doch einen stärker kerygmatischen Charakter verleiht.
BAUER, Rechtgläubigkeit 219. ~, Kanon 1,563f.; weitere Argumente ebd. 564/75. 16 ALTANBR - SrumER, Patrologie 68. 17 VON HARNACK, Marcion 6*110*; vgl. M. S. ENsLIN, Once agam, Luke and Paul: 14 15
ZNW 61(1970) 271. Zum Problem alt und neu vgl. N. ZEEGERS-VANDER VORST, Les citations des poetes grecschez les apologistes chr6tiens du 11" siecle = Universit6 de Lou"vam 4,47 (Louvain 1972) 184f.
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Tatian Tatian wird von BARNEIT bereits unter die Schriftsteller eingereiht, die an Pauli "return to popularity" mitgewirkt haben sollen. Er verweist in Tatians "Rede an die Hellenen" auf mehrere übereinstimmungen mit dem Römer- und dem Kolosserbrief, darüber hinaus auf entferntere Anklänge an den 1. Korintherund den Epheserbrief, allerdings mit der Einschränkung, daß alle Berührungen mehr au~ einem allgemeinen Vertrautsein mit dem paulinischen Erbe als auf direkter literarischer Abhängigkeit beruhen19 • Noch zahlreicher sind die paulinischen Reminiszenzen nach der Untersuchung von GRANT20 • Sie finden sich auch nicht nur in der "Rede an die Hellenen", sondern ebenso in der verlorengegangenen Schrift "über die Vollkommenheit nach den Vorschriften des Erlösers". Klemens von Alexandrien (Strom. 3,12,8lf.) hat daraus eine Stelle zitiert, die die tatianische Exegese von 1 Kor 7,Sf. enthält: "Entzieht einander nicht, es sei denn nach übereinkunft auf Zeit, um dem Gebete zu obliegen. Dann aber seid wieder zusammen, damit euch der Satan nicht durch eure Unenthaltsamkeit versuche. Das sage ich als Erlaubnis, nicht als Befehl." Tatians Kommentar zeigt deutlich, daß er diese Apostelweisung gekannt, ebenso, wie er sie in seine rigoristische Askese eingespannt hat: "Die übereinkunft [über die Enthaltsamkeit] ermöglicht das Beten, die Gemeinschaft des Verderbens dagegen hebt das Gebet auf. überaus eindringlich hält er [Paulus] durch die Gewährung ab. Damit nämlich, daß er wegen des Satans und der Unfähigkeit, sich zu beherrschen, wieder zusammenzukommen gestattete, gab er zu verstehen, daß derjenige, der folgen wolle, ,zwei Herren dienen' wolle, durch die übereinkunft Gott, durch das Gegenteil der Unmäßigkeit und der Unzucht dem Teufel."
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BARNETf, Literary Influence 228/31. R. M. GRANT. Tatian and tbe Bible: Studia Patristica 1 = TU 63 (Berlin 1957) 300/3.
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Nach Hieronymus21 soll Tatian diejenigen paulinischen Briefe verworfen haben, die seinem Rigorismus widersprachen. Sein Verbot von Ehe, Fleisch und Wein ließ ihn z. B. den 1. Timotheusbrief ablehnen, in dem alle drei gestattet werden (vgl. 1 Tim 4,3; 5,14; 5,23); der Titusbrief hingegen fand Zustimmung, vielleicht weil er das dem Tatian teure Wort "enthaltsam" (eYKQa'tT);) enthielt (Tit 1,8). GRANT schließt aus allen Einzelbeobachtungen, daß Tatian Paulus gut gekannt habe und seine Theologie auf den paulinischen Briefen aufbaue, natürlich mit der Einschränkung, daß er - wie Markioniten und Valentinianer - ausgewählt und eben die Stellen herangezogen habe, die zur Unterstützung seiner eigenen Ansichten dienen konnten22 • Athenagoras Auch bei Athenagoras finden sich Anklänge an paulinische Wendungen, die sich allerdings kaum einmal als zweifelsfreie literarische Abhängigkeiten bzw. eindeutige Zitate erweisen lassen23 • Bemerkenswert ist jedoch, daß er in seiner Schrift "Über die Auferstehung der Toten" (18,22f.) Worte des Apostels (Ka't