Hausmitteilung 6. Juni 2011
Betr.: Titel, Libyen, Wissenstest
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b Ebola, Sars oder die Schweinegrippe: Weltweit recherchierten SPIEGELRedakteure an den Schauplätzen der großen Epidemien. Noch nie aber wohnten sie im Epizentrum des Geschehens. Täglich wurde auf Redaktionskonferenzen in Hamburg nach der Entdeckung des Ehec-Darmkeims die Lage analysiert. Ein Redakteur erzählte, dass an der Schule seiner Kinder eine ganze Schulklasse wegen Ehec beurlaubt worden sei, etliche Kollegen schilderten das Leid von Bekannten, die von dem Erreger befallen wurden. Ein elfköpfiges Team von Rechercheuren unter der Führung der Redakteure Johann Grolle, 49, Veronika Hackenbroch, 41, und Samiha Shafy, 31, beschreibt im Titelstück, wie verzweifelt Wissenschaftler nach dem Ursprung der gefährlichen Ehec-Mutation fahnden. Die Redakteure besuchten Märkte, Labors und Ärzte. Und sie kamen einer schwedischen Reisegruppe auf die Spur, die in einem niedersächsischen Hotel abgestiegen war. Von 30 Teilnehmern waren 15 an Ehec erkrankt, eine Frau starb. Woher die Zutaten deutscher Supermarktkost stammen, beschreiben die Redakteure Barbara Hardinghaus, 36, und Takis Würger, 25, in einer weiteren Reportage (Seiten 126, 50).
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MARCEL METTELSIEFEN / DER SPIEGEL
itten im Krieg lebten SPIEGEL-Reporter Clemens Höges, 49, und Fotograf Marcel Mettelsiefen, 32, in Tripolis vorige Woche wie in einer Oase des Friedens. Nachts, wenn Kampfjets der Nato angriffen und mit ihren Bomben Bunkerwände zertrümmerten, bebten zwar ein paar Häuser in der Umgebung. Tagsüber aber wirkte die libysche Hauptstadt, so Höges, „recht friedlich“. Ob die Bomben, wie von der Nato beabsichtigt, tatsächlich nur militärische Ziele treffen, können Journalisten allerdings kaum Höges in Tripolis überprüfen. Wollen sie das Hotel Rixos, in dem viele Presseleute wohnen, verlassen, werden sie von Aufpassern begleitet. Einmal gelang es Höges, seinen Bewacher auszutricksen. Er traf den Franzosen Pierre Bonnard, einen Mann, der einem Thriller von Graham Greene entsprungen sein könnte. Der smarte Ölmanager mit besten Kontakten zur Entourage Muammar al-Gaddafis versucht, Unterhändler des Diktators zu Gesprächen nach Europa zu bringen (Seite 96).
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uf welcher Reise gab Bundespräsident Horst Köhler, 68, ein Interview, das im Mai 2010 zu seinem Rücktritt führte? Wie viele Ausländer leben in Deutschland? Zwei Beispiele aus dem SPIEGEL-Wissenstest, mit dem im vergangenen Jahr über eine viertel Million Menschen im Internet bei SPIEGEL ONLINE ihre Kenntnisse von Politik und Gesellschaft überprüft haben. Diese Fragen und viele mehr haben die Redakteure Martin Doerry, 55, und Markus Verbeet, 36, jetzt samt Lösungen im KiWi-Paperback-Buch „Wie gut ist Ihre Allgemeinbildung? Politik & Gesellschaft“ herausgebracht (5 Euro). Bei SPIEGEL ONLINE hat der nächste Test begonnen. Diesmal geht es um Lady Macbeth und Lady Gaga: Kostenlos kann jeder herausfinden, was er von Kultur versteht (www.spiegel.de/wissenstest).
Die nächste SPIEGEL-Ausgabe wird wegen der Pfingstfeiertage bereits am Samstag, dem 11. Juni, verkauft und den Abonnenten zugestellt. Im Internet: www.spiegel.de
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In diesem Heft Titel Ehec – Wissenschaftler fahnden nach dem Ursprung einer Seuche ................................. 126 Die neurologischen Auswirkungen von Ehec beunruhigen die Mediziner ........... 132 Hilft die neue Antikörper-Therapie? ............. 138
Deutschland
Szene: Wie ein elfjähriges Mädchen zum Straßenkind wurde ......................................... 46 Eine Meldung und ihre Geschichte – die Grünen in Südbrandenburg suchen einen Bürgermeisterkandidaten über Facebook ...... 48 Ernährung: Ein Drei-Gänge-Menü aus dem Supermarkt – woher kommt es und was steckt drin? .............................................. 50 Ortstermin: Das „Fest der Linken“ in Berlin ......................................................... 57
Wirtschaft Trends: Hacker attackierten den französischen Atomkonzern EDF / Suzuki enttäuscht VW / Staatsanwälte rügen BayernLB-Aufseher ....................................... 58 Währung: Warum Griechenlands ehrgeizige Reformpläne unrealistisch sind ...................... 60 In der Europäischen Zentralbank werden die Risiken der Euro-Krise weiter verdrängt ........ 62 Landwirtschaft: Die deutschen Gemüsebauern trifft die Ehec-Seuche schwer ......................... 68 Hilfsorganisationen: Staatsanwälte gehen gegen dubiose Spendensammler vor .............. 70 Recycling: Zu viele wertvolle Rohstoffe landen im Müll ............................................... 72 Tourismus: Für eine viertel Milliarde Euro entsteht in der Toskana ein Ferienparadies für Reiche ........................ 76 Übernahmen: Chinas größter Computerbauer Lenovo kauft sich in großem Stil in Europa ein ................................................. 78 Hamburg: Der Energiekonzern Vattenfall soll die Hansestadt um Millionen gebracht haben .................................................. 80
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Seite 36
Der Norden Afghanistans wird gefährlicher, immer mehr deutsche Soldaten werden getötet. Die Aufständischen bauen effektivere Sprengsätze und können nun auch Panzer zerstören. Gleichzeitig wächst in der Bevölkerung der Hass auf die Deutschen.
Die Abschaltung der FDP
Seite 24
Der radikale Atomausstieg der Kanzlerin wird zum nationalen Projekt. Merkel verhandelt direkt mit der Opposition und deren Ministerpräsidenten. Auf der Strecke bleiben die Liberalen. Die neue FDP-Spitze wird vorgeführt.
Noch mehr Geld für die Griechen
Seite 60
Griechenland braucht mehr Geld, sonst droht die Pleite. Aber kann die Rettung des Landes überhaupt gelingen? Das bisherige Sanierungsprogramm ist ein Flop, das neue Privatisierungsprogramm illusorisch.
Riskantes Radeln
Seite 40
GETTY IMAGES
Gesellschaft
Afghanistan: Hass auf die Deutschen JOEL VAN HOUDT
Panorama: Verfassungsschutz verzeichnet mehr Straftaten von Linksextremen / Hessische Union kritisiert CDU-Parteichefin Merkel / Innenminister fürchten Engpass bei Katastrophenschutz .................................. 19 Regierung: Die FDP ist der große Verlierer bei Angela Merkels Energiewende ................. 24 Neue Suche nach einem Endlager für Atommüll ................................................. 26 Opposition: SPIEGEL-Gespräch mit SPD-Chef Sigmar Gabriel über seine Parteireform und einen Atomkonsens mit der Bundesregierung ................................ 29 Außenpolitik: Deutsch-amerikanische Beziehungen auf dem Tiefpunkt .................... 34 Bundeswehr: Im Norden Afghanistans wendet sich die Stimmung gegen die Deutschen ........ 36 Verkehr: Die Kommunen sind vom stark wachsenden Fahrradverkehr überfordert ....... 40 Bahn: Stuttgart 21 wird zum Stresstest für den grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann ................................... 43 Interview mit Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer über seinen Konflikt mit der neuen Stuttgarter Landesregierung .......... 44
Radfahrer in München D E R
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Deutschlands Radfahrer leben in den Städten deutlich gefährlicher als alle anderen Verkehrsteilnehmer. Auch weil die Politik am Ausbau der Infrastruktur gespart hat. Radwege sind zu eng geworden, Kreuzungen nicht übersichtlich genug. Verkehrsexperten und Polizei fordern nun, mehr Geld zu investieren – und zudem endlich etwas gegen berauschte Radler zu unternehmen.
Medien Trends: Sky kontrolliert Kneipen / Pakistanische Journalisten dürfen Waffen tragen ................. 81 Journalisten: SPIEGEL-Gespräch mit dem „New York Times“-Kolumnisten David Brooks über den Sieg der Emotionen über die Vernunft ........................................... 82
Der starke Mann vom Bosporus
Seiten 88, 94
Seit Recep Tayyip Erdogan regiert, ist die Türkei zu einer boomenden Industrienation aufgestiegen. An eine EU-Mitgliedschaft glauben indes immer weniger Türken: „Die Menschen haben das Vertrauen verloren“, sagt Außenminister Ahmet Davutoglu im SPIEGEL-Interview.
Jungfrauentests in Kairo
RIZA OZEL/ANATOLIAN AGENCY/PICTURE-ALLIANCE/DPA
Ausland
Seite 102
Die ägyptische Armee ließ, noch einen Monat nach der Revolution, willkürlich Demonstrantinnen verhaften und auf ihre Jungfräulichkeit untersuchen. Die Frauen wehren sich nun gegen die entwürdigende Prozedur.
Korrupter Weltfußball
Seite 148
Beim Kongress der Fifa in Zürich trat offen zutage, wie bestechlich der milliardenschwere Apparat ist. Solange der wiedergewählte Schweizer Joseph Blatter das Schattenreich regiert, dürfte sich daran nichts ändern.
Kunst-Basis Berlin
Kultur Szene: Der Kunstfälscher-Skandal um die Sammlungen „Knops“ und „Jägers“ weitet sich aus / Eine Ausstellung in Berlin zeigt Arbeiten zur Fukushima-Katastrophe .......... 106 Kunst: Die Schau „Based in Berlin“ will den internationalen Rang der Hauptstadt belegen ......................................................... 108 Pop: HipHop steckt angeblich seit Jahren in der Krise – stimmt das eigentlich? ............ 112 Bestseller ..................................................... 115 Dokumentationen: Der Regisseur Kevin Macdonald montierte aus Tausenden YouTube-Videos den Kinofilm „Life in a Day“ ............................................. 116 Natur: Die Deutschen und ihre Lust am Garten ..................................................... 118 Kinokritik: Mike Mills’ Lebens- und Liebeskomödie „Beginners“ ......................... 122
Wissenschaft · Technik Prisma: Impfung gegen Suchtstoffe / Lärm im OP kann die Heilung erschweren ............ 124 Militärgeschichte: Erfand ein Kirchenmann aus Münster die Granate? ............................. 140 Umwelt: Palmensterben am Mittelmeer – der Kampf gegen die Rüsselkäfer ................. 142 Sportmedizin: Mit neuen Messgeräten können Freizeitsportler trainieren wie die Profis ...... 144
Seite 108
Sie kommen, wie der türkische Videokünstler Köken Ergun, aus aller Welt und haben sich in den Hinterhofateliers der Hauptstadt niedergelassen. Bürgermeister Klaus Wowereit hat das Image-Potential erkannt. Von dieser Woche an will er mit der Schau „Based in Berlin“ beweisen, dass seine arme Metropole so reich an künstlerischer Kreativität ist wie New York oder Ergun, Videokunst London.
Panorama: Teherans neue Polizeitruppe im Kampf gegen die Meinungsfreiheit / Chinesische Hacker kapern Google Mail ....... 86 Türkei: Stiller Abschied von Europa ............... 88 Interview mit Außenminister Ahmet Davutoglu über die Zukunft seines Landes zwischen dem alten Europa und dem neuen Arabien ................................ 94 Libyen: Endzeitstimmung in Tripolis .............. 96 Europa: Die Jugend rebelliert ....................... 100 Ägypten: Frauen protestieren gegen Misshandlungen durch die Armee ................ 102 Global Village: Wie in Malta das Recht auf Scheidung eingeführt wurde ................... 104
CARSTEN KOALL/DER SPIEGEL
Sport Szene: Deutsche Schwimmer fürchten verseuchtes Fleisch bei WM in China / Der jordanische Investor Hasan Ismaik über seinen Einstieg bei Zweitligist 1860 München .......... 147 Fußball: Das korrupte Schattenreich der Fifa ... 148 Wettmanipulation: Ein Betrugsskandal erschüttert die italienischen Profiligen .......... 151 Briefe .............................................................. 10 Impressum, Leserservice .............................. 152 Register ........................................................ 154 Personalien ................................................... 156 Hohlspiegel / Rückspiegel ............................. 158 Titelbild: Foto Jo van den Berg für den SPIEGEL
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Briefe den auch nach phantasierter Vergewaltigung oder liebloser Inbesitznahme nur schwer von Rachephantasien loskommen.
„Es ist leider eine alte Weisheit, dass es in einem Strafprozess nicht um die Wahrheit geht, sondern um die prozessuale Wirklichkeit. Nur was sich beweisen lässt, ist von Belang. Eine oft schmerzliche Einsicht für alle Beteiligten.“
Nr. 22/2011, Fehlurteile – Wie gerecht kann Justiz sein?
Richterliches Krähensyndrom In einem Land, in dem für Richter und Staatsanwälte eine fundierte kriminalistische Ausbildung nicht vorgeschrieben ist und diese bei der Ausbildung von Polizisten und Kriminalisten meist nur unzureichend erfolgt, kann keine herausragende Qualität der Beweisführung erwartet werden.
ERLANGEN
danken zu leben, dass ein Täter frei herumläuft, als mit dem, dass jemand für Jahre unschuldig in Haft sitzen muss? WIEFELSTEDE (NIEDERS.)
WERNER BIRKEN
Kein Strafverteidiger wird bestreiten können, dass der Grundsatz in dubio pro reo im juristischen Alltag häufig nur auf dem Papier existiert und der Angeklagte, spä-
HANS-CHRISTIAN PLAMBECK / DER SPIEGEL
GERHARD-H. MÜLLER
Der gesamte deutsche Justizapparat leidet an bis heute gültigen NS-Rechtsvorschriften, die nach 1945 nicht entrümpelt wurden, gepaart mit einem sektenähnlichen Corpsgeist. Über Richter richten Richter. Das „Krähensyndrom“ ist eine richterliche Berufskrankheit. CHEMNITZ PETER MARK GRAF V. WOLFFERSDORFF
Berliner Amtsgericht Tiergarten
DIRK HESS
Himmel, war ich naiv! Dachte tatsächlich, das Gericht suche die Wahrheit, um auf deren Basis ein Urteil zu fällen. Das Vertrauen in den Rechtsstaat schwindet, wenn diverse Repräsentanten des Justizsystems mit Profilneurose und Hybris am eigenen Sieg interessiert sind, aber nicht daran, die Wahrheit herauszufinden und wirklich Recht zu sprechen.
Hansgeorg Bräutigam aus Berlin, Vorsitzender Richter am Landgericht a. D., zum Titel „Fehlurteile – Wie gerecht kann Justiz sein?“
SPIEGEL-Titel 22/2011
HAMBURG
EPPSTEIN (HESSEN)
MONIKA ROMHANYI
Fehlurteile haben vielfältige Ursachen. Doch sind sie auch deswegen unvermeidbar, weil es zur Wahrheitsfindung nicht allein auf naturwissenschaftlich nachweisbare Fakten, sondern auf die persönliche Überzeugung des Richters ankommt. Umso wichtiger scheint mir, dass man als Richter möglichst viele seiner eigenen Vorurteile kennt und besonders gefährliche verborgene Vorurteile ans Licht heben kann. Die Juristenausbildung sollte ein viel größeres Gewicht auf die Facetten und Problematiken der Wahrheitsfindung legen. NORTHEIM (NIEDERS.)
WERNER KAMMEYER
Bei der Lektüre des aufschlussreichen Artikels fiel mir spontan folgender Anwaltswitz ein: Mandant ruft bei seinem Anwalt an: „Wie ist denn mein Prozess ausgegangen?“ Anwalt: „Die Gerechtigkeit hat gesiegt.“ Mandant: „Dann legen Sie sofort Berufung ein!“ KOBLENZ
DETLEV WINKELMANN
Justiz mit Profilneurose und Hybris
Sosehr Sie mit Ihrem Artikel recht haben mögen, sowenig ich mir ein Urteil über den Fall Kachelmann bilden kann, so bedenklich finde ich aber, dass Sie ausgerechnet einen Vergewaltigungsprozess als Beispiel heranziehen, um aufzuzeigen, wie unmöglich eine Urteilsfindung auf der Basis von Indizien ist. Wenn man nur anhand wasserdichter Beweise ein Urteil fällen dürfte, dann könnte kaum eine Vergewaltigung verurteilt werden, denn es steht bei diesem Delikt fast ausschließlich Aussage gegen Aussage, und beinahe jede Vergewaltigungsverletzung kann auch anders gedeutet werden. BERLIN
MICHAEL KEMPTER
Beim leisesten Zweifel einer Täterschaft sollten Richter den Mut aufbringen, den In-dubio-pro-reo-Grundsatz anzuwenden. Ist es nicht erträglicher, mit dem Ge10
DUDERSTADT (NIEDERS.)
UWE HERBERHOLZ
Man möchte den Beteiligten am Kachelmann-Prozess das SPIEGEL-Gespräch mit Catherine Millet ans Herz legen, denn absolute Gewissheiten gibt es nun mal nicht. Ich-schwache Persönlichkeiten wer-
Ich habe mich in den 40 Jahren, in denen ich als Rechtsmediziner tätig war, oft gefragt: Wer begutachtet eigentlich den Gutachter? Der Richter dürfte häufig überfordert sein, es sei denn, er hat sich mit der Arbeitsweise der Gutachter vertraut gemacht. Um die Zahl der Fehlurteile zu minimieren, sollte eine Waffengleichheit vor Gericht angestrebt werden, das heißt, viel häufiger sollte die Verteidigung von der Möglichkeit Gebrauch machen, einen zweiten Gutachter in die Verhandlung einzubringen. Die Kostenfrage sollte dies nicht unmöglich machen. BERLIN
PROF. DR. VOLKMAR SCHNEIDER
ANNE GEORGI
Gerade der Fall Kachelmann zeigt, dass die öffentliche Berichterstattung Fluch und Segen zugleich ist – nur, was ist mit den zu Unrecht Beschuldigten, die nicht im Fokus der Öffentlichkeit stehen? STUTTGART
testens wenn er in der Hauptverhandlung sitzt, seine Unschuld beweisen muss, wenn er nicht verurteilt werden will. Objektivität wird gern für die eigene Behörde in Anspruch genommen, aber nicht gegenüber dem Beschuldigten geübt, wenn man sich einmal festgelegt hat.
Diskutieren Sie auf SPIEGEL ONLINE ‣ Titel Haben die deutschen Behörden im Kampf gegen Ehec versagt? www.spiegel.de/forum/Ehec ‣ Sterbehilfe Sollen Ärzte beim Selbstmord helfen dürfen? www.spiegel.de/forum/Sterbehilfe ‣ Kernenergie Geht die Atomwende der Bundesregierung zu Lasten der Grünen? www.spiegel.de/forum/Gruene D E R
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Briefe beitet, zeigt damit die Entschlossenheit und Selbstkritik, die andere Parteien vermissen lassen. Und: Das Programm „Neuer Fortschritt – Mehr Demokratie“, das eine Grundlage für die beschlossenen Diskussionen ist, ging in den Medien unter. Nicht weil es darin an grundsätzlich neuen Denkansätzen fehlte. Sondern weil sich, wie jeder Journalist weiß, die K-Frage am Kiosk besser verkaufen lässt.
Nr. 21/2011, Die SPD lässt sich die falschen Themen diktieren
Das Röcheln des Sterbenden Die Sozialdemokraten scheinen ein Gespenst in der zerklüfteten deutschen Politiklandschaft geworden zu sein. In Zeiten, in denen politischer Opportunismus, Aktionismus und Populismus die Maximen des Regierens sind, sind kritische Rufe seitens der SPD nichts weiter als das Röcheln eines Sterbenden. HENRY KOCHANOWSKI
Glückwunsch: Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Mein Vorschlag: Schicken Sie diesen Artikel an den SPD-Vorstand, möglichst per Einschreiben mit Rückantwort. Ob die den dann lesen und endlich handeln, bezweifle ich jedoch. WIESBADEN
KARL SEIDNER
Schwennickes Kommentar ist in weiten Teilen zuzustimmen: Die Angst vor dauerhafter Armut trotz guter Ausbildung erreicht die Mittelschicht. Die Folge: Arbeitnehmer sehen sich in ihren existentiellen Sorgen von der SPD nicht hinreichend vertreten. Hier gilt es für Gabriel und Nahles, die Wende hinzubekommen und das Grundvertrauen wiederherzustellen, dass die SPD für Fairness am Arbeitsmarkt tatsächlich politisch kämpft. DELMENHORST (NIEDERS.)
Nr. 21/2011, Ein Überfallopfer erschießt einen 16-jährigen Räuber auf der Flucht
Handlungen haben Folgen Fünf junge Männer überfallen und drangsalieren einen alleinstehenden, gehbehinderten 77-Jährigen. Einer der Jugendlichen kommt hierbei um. Dass dessen Clan nun dem alten Mann das Leben schwermachen will, ohne sich im Geringsten für den kriminellen Spross der Familie zu schämen, lässt einen frösteln. Zu kritisieren ist auch das Verhalten des Anwalts der Familie. Mit seinem Klageer-
DR. HARALD GROTH
Sie empfehlen uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, uns um die Lohnunterschiede zu kümmern. Die SPD ist die einzige Partei im Deutschen Bundestag, die zu diesem Thema konkrete Vorschläge erarbeitet hat. Uns ist die unterschiedliche Bezahlung bei Leiharbeitern ebenso ein Dorn im Auge wie die Ungerechtigkeit zwischen Männer- und Frauengehältern: Deutschland befindet sich mit einer Lohnlücke von 23 Prozent im europäischen Vergleich im unteren Drittel. Das kann für ein modernes Industrieland nicht länger hingenommen werden. BERLIN
Familie des getöteten Labinot S.
Öl ins Feuer gegossen?
zwingungsverfahren und der Forderung, der Justizminister solle den Vorgang zur Chefsache erklären, verstärkt er den Eindruck bei seinen Mandanten, Unrecht zu erleiden, und gießt Öl ins Feuer. FRANKFURT AM MAIN
WOLFGANG KISCHKA
CHRISTEL HUMME, MDB
Die SPD, die seit 2009 unter anderem durch mehrfache Befragungen ihrer Basis an einer inhaltlichen Neuaufstellung ar-
Die Reaktion der Angehörigen hinsichtlich des Überfallopfers spricht für eine bemerkenswerte Scheuklappenmentalität. Wann verstehen die Menschen, dass die eigene Handlung Konsequenzen hat?
VOLKER HARTMANN / DAPD
RIEDLINGEN (BAD.-WÜRTT.)
Niedriglohn-Streitfall Baugewerbe
Kritische Rufe verhallen 14
DR. JENS MARTIN
GREGOR SCHLÄGER / DER SPIEGEL
BERLIN
OSNABRÜCK
Wäre es dem SPIEGEL vier Seiten wert gewesen, wenn es sich bei dem Getöteten um einen kriminalpolizeilich bekannten Deutschen, bei dem Überfallenen jedoch um einen Bürger mit Migrationshintergrund gehandelt hätte? Man sollte in Deutschland das Recht auf Notwehr nicht immer dann hinterfragen, wenn es sich bei dem Aggressor um einen Täter mit ausländischen Wurzeln handelt. KÖLN
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GERALD TISCHER
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PAUL KIRSCH
Briefe Nr. 21/2011, Der Erfolg eines Hauptschulabsolventen als vermeintlicher Arzt
Schizophrene Notwendigkeit Dass unerfahrene Ärzte im Krankenhaus in die „Obhut“ erfahrener Pflegekräfte gegeben werden, ist an der Tagesordnung. Das „ärztliche Hilfsmittel“ Pflegekraft fungiert als Aufpasser und Lückenbüßer. In der heutigen Kliniklandschaft ist es anders nicht möglich, den reibungslosen Ablauf zu gewährleisten. Leider entbehrt diese schizophrene Notwendig-
sungsgabe, Umgangsformen und Empathie sind dabei wichtiger als die Prüfungsergebnisse. Die Situation vieler Krankenhäuser ist mittlerweile prekär, ärztlicher Nachwuchs ist kaum zu bekommen. Man muss daher darüber nachdenken, welche ärztlichen Tätigkeiten man sorglos in die Hände eines nichtärztlichen Medizinspezialisten legen kann. Unabhängig davon ist es dringend notwendig, den Zugang zum Medizinstudium zu erleichtern und schon während der Ausbildung für mehr Nähe zum Beruf zu sorgen. GELNHAUSEN (HESSEN) DR. MED. ANDREAS SCHNEIDER
Nr. 21/2011, Auf Münchner Friedhöfen wird gejoggt und gefeiert
Tod hilft Leben
keit meist jeder Rechtsgrundlage. Die Pflegekraft hat im therapeutischen Bereich keinerlei Entscheidungsbefugnis, egal, wie sie sich fortgebildet hat. Sie kann nur beratend zur Seite stehen.
In ihrem Pietätseifer unterscheidet die Autorin nicht eindeutig zwischen Friedhöfen und Parkdenkmälern und wird damit weder der Komplexität des Themas noch den seit Jahren sehr sorgsamen Abwägungen der dafür Verantwortlichen gerecht. Für den Alten Nordfriedhof gilt der Ausspruch des Künstlers A. Baur: „Hier hilft der Tod dem Leben.“ Die Einbindung des Geländes ins Alltagsleben des Stadtquartiers konnte einen Zugriff der Immobilienwirtschaft bislang verhindern.
WELVER (NRW)
MÜNCHEN
Hochstapler Sascha St.
Es zählen Empathie und Umgangsformen
INGO BERSCH FACHKRANKENPFLEGER
DR. MARKUS KERSTING
Korrektur
FALK HELLER / ARGUM
Offensichtlich ist es möglich, ohne universitäre Vorbildung ärztliche Arbeit in gewissem Umfang zur Zufriedenheit der Vorgesetzten durchzuführen. Zyniker behaupten, das medizinische Staatsexamen sei lediglich die Lizenz, das Handwerk des Arztes zu erlernen. Rasche Auffas-
Joggerinnen auf Münchner Waldfriedhof
Oase im hektischen Getriebe
zu Heft 22/2011 Seite 131, „Gremien gegen Lierhaus“: Der SPIEGEL hatte berichtet, dass die Gremienvorsitzendenkonferenz (GVK), das oberste Kontrollgremium der ARD, empfohlen habe, Monica Lierhaus als Werbebotschafterin bei der Fernsehlotterie auszuwechseln, und sich dabei auf das Protokoll einer Sitzung des MDR-Rundfunkrats bezogen, in dem dies so stand. Eine derartige formale Empfehlung der GVK hat es nicht gegeben. Allerdings wurde die Causa Lierhaus in der GVK Anfang April hitzig diskutiert. Im GVK-Protokoll ist von einem „erheblichen Unwillen der Gremien“ die Rede. Nötigenfalls seien „Konsequenzen zu ziehen“. D E R
Sonnenbadende zwischen alten Grabsteinen, Picknicks junger Mütter mit ihren Babys im Schatten von Steinmonumenten – spricht das nun für mangelnden Respekt vor den Toten oder für ein entspanntes Verhältnis zur Vergänglichkeit unseres Daseins? Ich neige zur zweiten Interpretation. Friedhöfe einzubeziehen in den Lebensalltag, sie zu erleben als friedvolle und begehbare Oasen im sonst so hektischen Getriebe, hat etwas durchaus Sympathisches. Tod und Leben gehören zusammen. REGENSBURG
ROSEMARIE GUNDER
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit Anschrift und Telefonnummer – gekürzt und auch elektronisch zu veröffentlichen. Die E-Mail-Anschrift lautet:
[email protected] S P I E G E L
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Deutschland
Panorama
Krawalle Linksautonomer in Hamburg 2010
PHILIPP GUELLAND / DAPD
EXTREMISMUS
Verfassungsschutz warnt vor linker Militanz D
ie Verfassungsschutzbehörden warnen vor einer wieder- walt reiche „längst über das linksextremistische Kernspekerstarkten militanten linken Bewegung. „Die Sicherheits- trum in gewaltgeneigte, weniger ideologisch gefestigte oder lage hat sich merklich verschärft“, heißt es in einem von den anpolitisierte Bereiche der erlebnisorientierten Jugendkultur Verfassungsschutzämtern von Bund und Ländern erstellten hinein“. Allerdings sehen die Verfassungsschutzbehörden geheimen „Lagebild gewaltorientierter Linksextremismus“. trotz der hohen Deliktzahlen „weder in ihrer Gesamtheit Die Zahl der als gewaltorientiert eingestuften Personen sei noch in Form herausragender Einzeltaten eine terroristische zwischen 2005 und 2010 um über 20 Prozent gewachsen und Dimension“. Sie widersprechen damit indirekt der Bewertung liege erstmals bei 6800, so das „VS – Vertraulich“ eingestufte der Bundesanwaltschaft, die mehrere Ermittlungsverfahren übernommen hatte. Derzeit führt der VerLagebild. Demnach haben Linksradikale im fassungsschutz in der neueingerichteten ersten Quartal 2011 deutlich mehr Delikte Veränderung Veränderung Straftaten Stra aftaten Datei „Gewaltbereite Linksextremisten“ 767 begangen als im gleichen Zeitraum des Vorgegenüber vvon on Links Link LinkssPersonen. Eine soziologische Auswertung jahrs. Die Verfassungsschützer machen die dem VorVorder Daten ergibt, dass es sich bei den aktiAktionen gegen das G-8-Treffen in Heiligenextremen e xtre emen em jahr jahresesven militanten Autonomen um eine sehr damm 2007 als Beginn der Eskalation aus. zeitraum: zeitraum: im ersten ersten junge Bewegung handelt. Die meisten erDie globalisierungskritischen Proteste seien Quar Quartal ttal fassten Aktivisten sind jünger als 26 Jahre eine „Zäsur in der Entwicklung des deut2011* 20 11* * (65 Prozent) und überwiegend Männer schen Linksextremismus“ gewesen. (84 Prozent). Die VerfassungsschutzbeDie Vernetzung von neuentstehenden „Au+3 39 9 % hörden haben die Überwachung der Szene, tonomen Vollversammlungen“ könne „zum etwa durch V-Leute, in den vergangenen Zukunftsmodell“ werden. Sorgen bereitet davon da von Monaten erheblich ausgeweitet und wollen den Geheimdiensten auch, dass es der miliGewalttaten: Ge walttaten: +6 68 8% nun eine Übersicht über Anschlagsziele und tanten Linken gelungen sei, über das eigene orläufige Zahle Zahlen en die Wohnorte von Verdächtigen erstellen. Milieu hinaus attraktiv zu werden. Die Ge- Quelle: Bundeskriminalamt; * vvorläufige
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BUNDESWEHR
Geschrumpftes Heer
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nter die symbolische Schwelle von 60 000 Soldaten lässt die von Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) eingeleitete Bundeswehrreform das deutsche Heer schrumpfen. Nach dem jüngsten Entwurf der „Weisung zur Ausplanung der Streitkräfte“
von Generalinspekteur Volker Wieker sollen künftig dem Heer 55 850 (derzeit 79 300), der Luftwaffe 21 800 (derzeit 37 660) und der Marine 12 500 (derzeit 16 600) Soldaten zur Verfügung stehen. Die Streitkräftebasis, das Unterstützungs-Rückgrat der Bundeswehr, kann mit 37 300 und der Sanitätsdienst mit 13 750 Soldaten rechnen. Nicht enthalten sind allerdings etwa Stellen für die Fortbildung von SoldaD E R
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ten und weitere im Ministerium sowie in Sportförderkompanien. Nach den Vorgaben von de Maizière soll die Bundeswehr künftig 170 000 Zeit- und Berufssoldaten sowie voraussichtlich 5000 freiwillige Kurzdiener umfassen. Auf Druck aus der Truppe und der Koalition kommen außerdem 2500 Stellen für Reservisten hinzu; de Maizière wollte diese Posten ursprünglich in den 170 000 enthalten wissen. 19
Panorama CDU
Zickzackkurs ins Stimmentief A
OLIVER LANG / DAPD
ngesichts mehrerer Wahlniederlagen gibt es in der CDU grundsätzliche Kritik am Kurs von Parteichefin Angela Merkel (CDU). In einem Papier wirft der hessische Fraktionschef Christean Wagner der Kanzlerin vor, das Profil der Partei bis zur Unkenntlichkeit verwässert zu haben. Die Union „verliert, was ihren Kernwählern am allerwichtigsten ist, nämlich die Grundsatztreue“, so Wagner in einer elfseitigen Streitschrift, die in der Union kursiert. „Unberechenbar „Die nach 1949 erstmalige Niederlage zu werden der CDU in Baden-Württemberg besitzt ist für die Union historisches Ausmaß“, schreibt Wagner. eine Todsünde.“ Als entscheidenden Grund für das Stimmentief lässt er weder die Reaktorhava- Christean Wagner rie von Fukushima noch den Dauer- Hessischer krach der Koalition in Berlin gelten. CDU-Fraktionschef „Die Hauptursache für die unzureichende Akzeptanz der Union bei den Wählern ist zu suchen in ihrem Defizit an programmatischer Erkennbarkeit. Hier hat es in den letzten 18 Monaten Entwicklungen gegeben, die das Grundvertrauen der Unionsanhänger erschüttern.“ Für Wagner zählt dazu die Aussetzung der Wehrpflicht „in einer
„Verlängerte Reaktion“
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nfolge der Bundeswehrreform fürchten die Innenminister der Länder gravierende Probleme beim Katastrophenschutz. Auf ihrer Tagung am 21. und 22. Juni in Frankfurt am Main wollen die Ressortchefs Ersatz für entstehende Ausfälle verlangen. Die Bundeswehr sei „auch künftig unverzichtbarer Bestandteil eines funktionierenden Bevölkerungsschutzes“, heißt es in der Beschlussvorlage. Berlin müsse „die durch die Bundeswehrreform wegfallenden oder reduzierten Fähigkeiten alternativ bereitstellen“. In einem internen Bericht beklagen die Innenminister, durch die Schließung von Standorten würden sich „die Reaktionszeiten der Bundeswehr-Einheiten erneut verlängern“. Die Aufhebung der Wehrpflicht zum 1. Juli werde dramatische Auswirkungen haben. Denn bislang wählten viele junge Männer den Katastrophenschutz als Alternative zum Dienst an der Waffe. Wer sich für mindestens vier Jahre bei Organi20
ungewöhnlichen Eile“ genauso wie die Stimmenthaltung im Uno-Sicherheitsrat beim Nato-Einsatz in Libyen. Zudem sorge die Euro-Rettung „unter den Anhängern der Union für erhebliche Unruhe“. Verwirrend sei auch der „Zickzackkurs“ führender Unionspolitiker beim Umgang mit den Grünen. „Angesichts der momentanen Wahlerfolge der Grünen und ihrer günstigen Umfrageergebnisse wird plötzlich wieder öffentlich über ‚Schwarz-Grün‘ nachgedacht, obwohl vor wenigen Monaten die Bundesvorsitzende solche Überlegungen noch als ‚Hirngespinste‘ bezeichnet hat.“ Selbst die Kanzlerin stellt Wagner in dem Papier in Frage, wenn auch nur indirekt. „Zur Bundesvorsitzenden Angela Merkel gibt es gegenwärtig keine personelle Alternative“, schreibt er. Das Wörtchen gegenwärtig soll Merkel wohl als Drohung verstehen.
sationen wie dem Technischen Hilfswerk (THW) als freiwilliger Helfer engagierte, wurde von der Wehrpflicht befreit. Eine Umfrage habe im März 2011 ergeben, dass bundesweit rund 39 500 Wehrpflichtige im Katastrophenschutz arbeiten. In manchen Ländern betrage ihr Anteil 25 Prozent. Das Bundesinnenministerium gibt sich im Vorfeld der Ministerkonferenz hart: Eine finanzielle Kompensation sei „weder zielführend noch plausibel“, mehr Geld könne es nicht geben.
L O V E PA R A D E
Schnelle Entschädigung
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THW-Einsatz
JO SCHWARTZ
K ATA S T R O P H E N S C H U T Z
Merkel
er frühere Bundesinnenminister und Anwalt Gerhart Baum hat das Land Nordrhein-Westfalen aufgefordert, sich zu seiner Mitverantwortung an der Love-Parade-Katastrophe in Duisburg zu bekennen. An dieser könne „nun nach Bekanntwerden der Fehler im Polizeieinsatz kein Zweifel mehr bestehen“, so Baum in einem Brief an Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD). Dies gelte auch, wenn Innenminister Ralf Jäger (SPD) eine Mitverantwortung „zunächst kategorisch ausgeschlossen“ habe. Baums Kanzlei vertritt über 70 Opfer und Hinterbliebene der Katastrophe vom Juli 2010. Der SPIEGEL (20/2011) hatte über Fehler beim Polizeieinsatz berichtet. Baum fordert, rasch zu entschädigen und nicht abzuwarten, bis „in einigen Jahren die Schuldfrage endgültig geklärt wird“. Das Land solle zur Schadensregulierung eine Stiftung gründen, in der die Opfer ein „wesentliches Mitspracherecht“ erhalten.
Deutschland N E T ZAU S BAU
Gegenwind für Röslers Pläne
KO M M E N TA R
Die Angst-Macher
eim Streit um den Ausbau der Stromnetze bekommt Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP) jetzt auch noch Ärger mit einem Parteifreund. Der hessische Wirtschaftsminister Dieter Posch kritisiert in einem Brief an Rösler scharf, dass die Planungsverfahren für den Bau neuer Höchstspannungsleitungen künftig von einer Bundesbehörde übernommen werden sollen. Dies sei „sachwidrig und damit überflüssig“, schreibt Posch, der bei der Wirtschaftsministerkonferenz Anfang dieser Woche im schleswig-holsteinischen Plön nachlegen will: Eine neue Bundesbehörde werde den notwendigen Bau dieser neuen Leitungen nicht beschleunigen, sondern sogar bremsen, argumentiert der Hesse. Während die bislang zuständigen Länder große Erfahrungen in der Abwicklung komplizierter Raumordnungs- und Planfeststellungsverfahren vorweisen könnten, müsse der Bund eine Behörde mit bis zu 240 hochspezialisierten Beamten neu aufbauen. Vor Ende 2012 werde das neue Amt nicht einsetzbar sein – und dies auch nur, wenn Berlin genügend Fachpersonal auftreibe. Gegen eine Netzplanung durch den Bund wehren sich auch Niedersachsens Ministerpräsident David McAllister (CDU) und die neue grüne Wirtschaftsministerin von RheinlandPfalz, Eveline Lemke.
THOMAS LOHNES / DAPD
Posch
INNERE SICHERHEIT
Union droht mit Boykott
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bgeordnete der Unionsfraktion planen, Vorhaben der liberalen Bundesjustizministerin Sabine LeutheusserSchnarrenberger zu blockieren, sollte sie sich weiter weigern, auf Forderungen von CDU und CSU einzugehen.
Wie WHO-Experten Daten aus Handy-Studien verdrehen
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ie bisher größte Untersuchung zur ten die Angst-Macher für sich. StattdesFrage, wie Mobiltelefone auf das sen stützen sie sich ausschließlich auf Gehirn wirken, hat ein verblüffendes eine Probanden-Gruppe, in der ein um Ergebnis erbracht: Handys schützen 40 Prozent erhöhtes Krebsrisiko für Vieltelefonierer beobachtet wurde. vor Krebs. Das klingt bedrohlich, ist es aber Für die voriges Frühjahr veröffentlichte Interphone-Studie haben For- nicht. Allein die relative Risikoerhöscher mehr als 5000 an Hirntumoren hung zu nennen ist ein statistischer Taerkrankte Menschen nach ihren Telefo- schenspielertrick. Wie groß der Effekt niergewohnheiten befragt und die Da- in absoluten Zahlen wäre, verrät die ten mit gesunden Vergleichspersonen IARC-Meldung wohl schon deshalb verglichen. Das Resultat: Menschen, die nicht, weil es keinem wirklich Angst machen würde. Pro Jahr erso gut wie nie mobil telefokranken 3 von 100 000 Mennierten, erkrankten häufischen an einem Gliom. Eine ger an Hirntumoren als Steigerung um 40 Prozent Menschen, die seit Jahren entspräche einem zusätzliHandys benutzen. Wer chen Fall auf 100 000. etwa zwischen 735 und 1639 Mehr noch: Die SteigeStunden lang telefonierte, rung um 40 Prozent steht so der hatte statistisch ein um gar nicht in der Interphone29 Prozent verringertes RiStudie. Zwar scheint es so siko, am bösartigen Gliom zu sein, als ob Menschen, zu erkranken. die insgesamt 1640 oder Noch erstaunlicher als die mehr Stunden mobil telefoscheinbar gesundheitsförniert hatten, häufiger an dernde Wirkung von HanGliomen erkrankten. Jedys ist allerdings, was Exdoch relativieren die Forperten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vorige Handynutzerin Hilton scher ihr eigenes Ergebnis: Der „Hinweis ist nicht beWoche aus der InterphoneStudie destilliert haben – das genaue weiskräftig“, weil es methodische FehGegenteil: In einer Pressemitteilung be- ler gegeben habe. Vor allem aber sagen die Daten zeichneten Mitarbeiter der zur WHO gehörenden Internationalen Agentur nichts darüber aus, ob elektromagnetifür Krebsforschung (IARC) in Lyon sche Strahlen ursächlich etwas mit Hirnelektromagnetische Strahlung von tumoren zu tun haben. Strahlen aus Handys als „möglicherweise krebserre- dem Handy erwärmen zwar das Gewebe, schädigen aber in dieser Dosis nicht gend“. Wie ist dieser Widerspruch zu erklä- die Zellkerne. So dürfte das Hirntumorren? Die IARC-Beamten verdrehen die risiko in der zehnten Gruppe in WahrDaten in einer Art und Weise, die für heit ein zufälliger Befund sein – wie eine WHO-Behörde blamabel ist. In auch das verringerte Krebsrisiko der acht Gruppen von Testpersonen erga- vielen Handybenutzer aus den anderen ben sich Hinweise auf ein verringertes Gruppen, das die IARC-Beamten so geKrebsrisiko durch Handys – das behal- flissentlich verschweigen. JÖRG BLECH ACTION PRESS
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„Für uns hat die Neuregelung der Vorratsdatenspeicherung und die Entfristung der Anti-Terror-Gesetze absolute Priorität. Solange wir hier keine Lösung gefunden haben, fehlen uns einfach die Ressourcen, um neue rechtspolitische Themen anzugehen“, sagt der stellvertretende Vorsitzende der Unions-Fraktion, Günter Krings. CDU und CSU ärgern sich über die JustizministeD E R
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rin, weil bei den Terrorbekämpfungsgesetzen seit Monaten nichts vorangeht. Die Zeit spielt dabei der FDP-Politikerin in die Hände, da die von Rot-Grün eingeführten Anti-Terror-Gesetze am 10. Januar 2012 auslaufen. „Wenn es bei der Blockadehaltung der Ministerin bleibt, kann sich Deutschland zu einem bevorzugten Standort für Terroristen entwickeln“, sagt Krings. 21
Deutschland
Panorama DAMALS ...
Käßmann auf dem Dresdner Kirchentag A F G H A N I S TA N
BÖSCHEMEYER/EPD
„Auch der Feind hat eine Würde“ Der evangelische Militärbischof Martin Dutzmann, 55, über die Feindesliebe und das Beten im Krieg
SPIEGEL: Ein Gebet reicht aber kaum,
wenn die Soldaten angegriffen werden. Dutzmann: Man wird das eine tun und das andere nicht lassen. Zu beten und notfalls zu kämpfen kann gleichzeitig nötig sein. Wenn man für die GesunSPIEGEL: Die ehemalige EKD-Ratsvor- dung kranker Menschen betet, verzichsitzende Margot Käßmann hat auf dem tet man ja auch nicht auf medizinische Dresdner Kirchentag gesagt, es sei bes- Behandlung. ser, mit den Taliban zu beten, als sie SPIEGEL: Wie verkraftet die Bundeszu bombardieren. Wie soll das gehen? wehr vor Ort die steigende Opferzahl? Dutzmann: In der Wirklichkeit Afgha- Dutzmann: Unsere Seelsorger in Afghanistans stellt sich die Frage des gemein- nistan berichten von einem steigendem samen Gebetes weder mit Bedürfnis nach GespräMuslimen noch mit den Natürlich bedrückt „Es ist besser, mit chen. Taliban. Aber für die Talidie Soldatinnen und Soldaden Taliban zu ban beten – das können ten die Häufung der Todesbeten, als sie zu wir. Das heißt nicht, ihre fälle unter ihren Kameradunklen Pläne gutzuhei- bombardieren“ den. Das löst Diskussionen ßen. Für die Taliban zu über den Sinn des EinsatMargot Käßmann beten bedeutet für mich, Ehemalige EKD-Ratszes aus. Das Meinungsdass sie umkehren und spektrum reicht da – ähnvorsitzende von Gewalt Abstand nehlich wie bei uns in Deutschmen. land – von einem „es ist SPIEGEL: Muss man als Christ seine sinnlos“ bis zu einem „nein, das hat Feinde lieben? immer noch Sinn, was wir hier tun“. Dutzmann: Es gilt das Gebot der FeinSPIEGEL: Sollen deutsche Soldaten in desliebe. Der Apostel Paulus schreibt Afghanistan bleiben? darüber im Römerbrief, und Jesus hat Dutzmann: Das Land braucht ganz mases in der Bergpredigt zugespitzt. Mar- siv zivile Hilfe zum Wiederaufbau der got Käßmann hat insoweit Recht: Wir Infrastrukturen im Bildungs- und Gesollen selbst in einem ganz fürchter- sundheitssystem. Aber damit dies nicht lichen Feind letztendlich ein Gottesge- sofort wieder durch Menschen, die daschöpf entdecken. Und auch ein Tali- gegen sind, zunichtegemacht wird, ist ban ist, wie jeder Mensch, mit einer die militärische Absicherung der ziviunverlierbaren Würde ausgestattet. len Hilfe weiterhin nötig. 22
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REUTERS
Horst Köhler, Bundespräsident, in einem Interview des Deutschlandradios am 22. Mai 2010. Die öffentliche Kritik an dieser Äußerung war ein Grund für Köhlers Rücktritt vor einem Jahr. ... UND HEUTE
„Unsere nationalen Sicherheitsinteressen ergeben sich aus unserer Geschichte, (...) den internationalen Verflechtungen unseres Landes und unserer Ressourcenabhängigkeit als Hochtechnologieland und rohstoffarme Exportnation.“ Thomas de Maizière, Bundesverteidigungsminister, am 27. Mai 2011 in einer Regierungserklärung im Bundestag
ARNO BURGI / DPA
NORBERT MILLAUER / DAPD
„Meine Einschätzung ist aber, (...) dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege ...“
F RAU E N P O L I T I K
Gerangel im Kabinett
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undesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) wildert weiter in ihrem früheren Themengebiet, der Frauenpolitik. Während die zuständige Familienministerin Kristina Schröder (CDU) im Mutterschutz ist, bereitet von der Leyen erneut prominent besetzte Veranstaltungen vor, bei denen es um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gehen soll. Auf einem vom Arbeitsministerium initiierten Forum („Frauen in Führung“) Mitte Juni in Köln will von der Leyen als Hauptrednerin auftreten. In ihrem Grußwort ist von „Ganztagsbetreuung“ und „Pflegezeiten in der Familie“ die Rede. Zwei Wochen später ist eine Veranstaltung geplant, zu der von der Leyen auch EU-Kommissarin Viviane Reding eingeladen hat. Das Bundesfamilienministerium ist empört. Staatssekretär Josef Hecken wirft von der Leyen intern vor, sie nutze Schröders Abwesenheit, um sich auf deren Kosten zu profilieren. Das Arbeitsministerium weist dies zurück. Von der Leyen treibe das Thema Fachkräftemangel an.
Deutschland
REGIERUNG
Die Kaltreserve der Kanzlerin
THOMAS PETER / REUTERS
Angela Merkel gönnt der neuen Führung ihres Koalitionspartners keinen Novizenbonus. Sie regiert über die FDP hinweg in einer größtmöglichen Anti-Atom-Koalition aus Union, Ländern und Opposition. Die Restlaufzeit der Liberalen in der Regierung hat begonnen.
Regierungschefin Merkel beim Energiegipfel*: „Fukushima kam ihr gerade recht“
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Fraktionschef, sein Nachfolger im Wirtschaftsressort als Parteichef. Genau wird auf Seiten der Union registriert, wie Brüderle versucht, Rösler nicht offen zu brüskieren. Immer wieder haben die Liberalen Beratungsbedarf. Einmal geht UnionsFraktionschef Volker Kauder in den Raum, in den sich die FDP zurückgezogen hat. „Die brauchen noch ein bisschen“, signalisiert er nach seiner Rückkehr. Kurz vor zwei Uhr entspinnt sich dann ein Disput, der die Gräben deutlich macht. Merkel will dem FDP-Wirtschaftsminister die komplette Zuständigkeit für die Fortschrittsberichte zur Energiewende überlassen. Darin soll einmal im Jahr geklärt werden, ob der Ausbau von Netzen und erneuerbaren Energien im Plan liegt. Für Rösler brächte das einmal im Jahr einen schönen Auftritt. Das weiß auch Norbert Röttgen. Der Umweltminister will das so nicht gelten lassen. Rösler insistiert, FDP-General Lindner unterstützt ihn. Der Wirtschaftsminister sei der Energieminister. „So ist es“, sagt Rösler. Dann müsse sie jetzt entscheiden, sagt Merkel. Erst geht sie mit Rösler vor die Tür, dann mit Röttgen, dann mit Kanzleramtschef Ronald Pofalla, schließlich mit Rösler und Röttgen. Am Ende setzt sich der Umweltminister von der CDU durch. Es ist nicht die einzige Niederlage des FDP-Chefs. Die Liberalen hatten sich kurzzeitig als letzte verbliebene Atompartei versucht. FDP-Chef Rösler hatte vor dem Koalitionssonntag dafür plädiert, „in Zeitkorridoren zu denken, statt sich auf ein spezielles Datum festzulegen“. Die FDP wollte außerdem alle Atomkraftwerke erst am Ende auf einen Schlag abschalten und nicht nach und nach. Sie fordert die „atomare Kaltreserve“, wonach ein abgeschaltetes AKW als Strompuffer erhalten bleiben soll. Seine erste Forderung – kein fester Ausstiegstermin – muss Rösler schon am Koalitionssonntag kassieren. Und bei dieser Schlappe bleibt es nicht. Am Mittwochabend sind die Chefs der 16 Staatskanzleien der Länder zu Gast bei Kanzleramtsminister Pofalla. Kretschmanns Amtschef Klaus-Peter Murawski schlägt vor, einen Stufenplan mit festen Ausstiegsdaten zu vereinbaren. Pofalla nimmt den Vorschlag auf, und in den folgenden zwei Tagen gewann dieser Vorschlag einer „Kaskade“ erstaunlich viele Anhänger – zum Ärger der FDP. Vom dritten Koalitionspartner haben die Liberalen nichts zu erhoffen. Denn auch Horst Seehofer hatte bei den Verhandlungen die Bundestagswahl fest im CHRISTIAN THIEL / DER SPIEGEL
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orst Seehofer liebt es, mit Scher- am Tag der Katastrophe von Fukushima zen Politik zu machen. Am ver- nicht vor allem daran, mit ihrem radikagangenen Freitag war es wieder len Atomschwenk neue Koalitionsoptioso weit. In der Landesvertretung von Sach- nen zu eröffnen. Aber die spätere Antisen-Anhalt trafen sich die Ministerpräsi- Atom-Erleuchtung der Kanzlerin hat pardenten der Länder, um über den Atom- teipolitische Folgen. Merkel legt beim ausstieg der Bundesregierung zu beraten. Ausstieg größten Wert darauf, die SPD Seehofer nahm neben Winfried Kretsch- und, wenn es geht, auch die Grünen mit mann Platz, dem neuen grünen Minister- an Bord zu kriegen, deren Landesregiepräsidenten von Baden-Württemberg. rungen im Bundesrat inklusive. Vergessen Erst sprach Kretschmann, danach mel- die Idee, wonach die Ausstiegsgesetzdete sich Seehofer zu Wort und machte gebung kunstvoll an der Länderkammer klar, dass ihn politisch gar nicht so viel vorbeigeschlenzt werden sollte. Es ist ein trennt von dem Kollegen aus Stuttgart. Ausstieg im Geiste einer größtmöglichen „Der Herr Kretschmann kann zwar nicht Koalition. für Bayern sprechen, aber er hat wie BayNoch ist nicht sicher, ob die Opposition ern gesprochen“, sagte Seehofer, Heiter- dem Gesetzespaket zustimmen wird, das keit machte sich breit. Manche Regie- am Montag dieser Woche ins Kabinett rungschefs tuschelten, Seehofer solle geht und dann sofort zur Beratung in die seine Partei lieber GSU nennen, Grüne Bundestagsfraktion. Klar ist bisher aber Soziale Union, und Brandenburgs Regie- eines: Merkel nimmt mehr als nur billirungschef Matthias Platzeck (SPD) rich- gend in Kauf, dass die neue politische tete eine Bemerkung an seine „zwei grü- Lage zu einem Stresstest für die neue Fühnen Kollegen“ – gemeint waren Kretsch- rung der Liberalen wird. Die FDP ist polimann und Seehofer. tisch abgeschaltet. Wer geglaubt hatte, Im Witz verarbeitet der Mensch das Ungeheuerliche, das steht schon bei Henri Bergson und Sigmund Freud. Und tatsächlich haben sich große Dinge getan auf der politischen Landkarte Deutschlands. Äußerlich sieht die Karte an diesem sonnigen Freitagnachmittag in Berlin aus wie immer. Das Kanzleramt steht natürlich weiter an der Spree unweit des Hauptbahnhofs, das Willy-BrandtHaus, die SPD-Parteizentrale, weiterhin in der Wilhelmstraße, Luftlinie zweieinhalb Kilometer südlich, und das Thomas-Dehler- FDP-Spitze Lindner, Brüderle, Rösler: „Das machen wir nicht“ Haus, in dem die Liberalen residieren, weiter in der Reinhardtstraße, die Kanzlerin werde dem ihr sympathi1200 Meter Luftlinie östlich. Physisch ha- schen Philipp Rösler zu einem guten Start verhelfen, sieht sich getäuscht. „Merkel ben sich die Distanzen nicht geändert. Politisch aber ist in der vergangenen ist kalt bis ans Herz“, diagnostiziert ein Woche das Willy-Brandt-Haus einige Me- ranghoher CDU-Mann, der operativ in ter näher an das Kanzleramt gerückt und den Atomschwenk eingebunden ist. „Von das Thomas-Dehler-Haus plötzlich weit, heute aus betrachtet wird immer klarer: weit weg. In dieser intensiven Woche, so Fukushima kam ihr gerade recht.“ Viele in der Union haben die Hoffnung kann das bald in der Rückschau aussehen, hat Berlin den Anfang vom Ende fahren lassen, dass es 2013 wieder mit der der schwarz-gelben Koalition von Angela siechen FDP klappt. Die Grünen also sind Merkel erlebt und das Vorspiel von das Ziel. Der SPD ist in dieser Operation Schwarz-Grün in Form eines Intermezzos „Koalition Merkel III“ die Rolle zugedacht, den großen Stein auf dem Weg zum Ziel einer informellen Großen Koalition. Und das alles wie nebenbei. In der Poli- Schwarz-Grün aus dem Weg zu räumen. Die Wende leitet Merkel am Sonntag tik wird oft hinterher zur Strategie erklärt, was seinen Ursprung in einem Zufall oder vorvergangener Woche ein, zunächst einem Tsunami hat. Mit einiger Sicherheit ohne dass es gleich jeder merkte. Im Kodachte Bundeskanzlerin Angela Merkel alitionsausschuss sitzt sie erstmals dem neuen FDP-Chef gegenüber, es gibt nur ein Thema: Atom. * Mit Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Die FDP ist in neuer Zusammensetzung Kretschmann (Die Grünen) und dessen niedersächsida, Ex-Wirtschaftsminister Brüderle als schem Kollegen David McAllister (CDU).
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Reichlich Platz Politisch drängt die Suche nach einem Endlager, technisch aber gibt es kaum Zeitdruck.
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ROLAND MAGUNIA / DAPD
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iesmal ist er unumstößlich, der Atomausstieg, versichert die Regierung. In elf Jahren spätestens soll der letzte Reaktor abgeschaltet werden. 17 Meiler werden dann nicht mehr benötigt, doch was dann? Wohin mit dem radioaktiven Schrott? Technisch zumindest ist die Müllentsorgung das kleinste Problem bei der Energiewende, selbst wenn es bislang keinen Ort gibt, an dem die besonders aktiven Strahlenreste, die noch Wärme entwickeln, ihre letzte Ruhestätte finden sollen. Bei der Entsorgung gibt es keine Eile. Die gefährlichen Kernbrennstoffe Uran und Plutonium, die in den Reaktoren zur Kernspaltung eingesetzt werden, befinden sich in den Brennstäben. Die werden ohnehin regelmäßig in den Kraftwerken ausgetauscht. Und dann zunächst in speziellen Abklingbecken gelagert, über die jeder Meiler verfügt. Erst nach fünf Jahren ist der Kernbrennstoff so weit abgekühlt, dass die Stäbe aus den Wasserbecken im Reaktorgebäude geholt und in gasdichte Castor-Behälter umgeladen werden können. Die Castoren halten Temperaturen von bis zu 380 Grad Celsius aus. Um aber in einen Salzstock wie Gorleben eingelagert werden zu können, darf der Atommüll nicht heißer als 200 Grad sein. Noch ist nicht klar, wie und in welchen Behältern die strahlende Fracht einst unter die Erde gebracht werden soll. Sicher ist nur, dass die Ladung noch Jahrzehnte abkühlen muss, bevor sie endgelagert werden kann. Derzeit stehen mehrere hundert Castoren in 15 deutschen Zwischenlagern, besonders geschützten Hallen mit ausreichend Platz. Die meisten Lager wurden direkt neben den Atomkraftwerken errichtet, um CastorTransporte zu vermeiden. Aber auch in Gorleben, Ahaus und Lubmin warten die Behälter mit ihrem strahlenden Inhalt aus Forschungseinrichtungen und Wiederaufarbeitungsanlagen auf die endgültige Lagerung. Die meisten Zwischenlager sind Anfang des vergangenen Jahrzehnts
Castor-Transport bei Hitzacker: Die Ladung muss noch Jahrzehnte abkühlen
genehmigt worden. Der damalige grüne Umweltminister Jürgen Trittin hat die Zulassung auf 40 Jahre begrenzt, womöglich ein zu knapper Zeitrahmen. Allein das notwendige Planfeststellungsverfahren für ein Endlager und die erwarteten Klagen dürften 20 Jahre in Anspruch nehmen, glauben Experten. Von dieser gefährlichen hochaktiven Hinterlassenschaft gehen 99,9 Prozent der Strahlung des deutschen Atommülls aus. Vom Volumen her ist es aber nur ein Zehntel. Die Frage, was mit dem großen Rest, den strahlenden Baukörpern oder den Reaktorhüllen, geschehen soll, ist seit 2007 geklärt. Damals wies das Bundesverwaltungsgericht die letzte Klage gegen eine Genehmigung von Schacht Konrad im niedersächsischen Salzgitter ab. Seither werden in der ehemaligen Eisenerzgrube tausend Meter unter der Erdoberfläche neue Stollen für das Reaktoren-Grab angelegt. Das Bergwerk gilt als staubtrocken und deshalb als Atommüllkippe bestens geeignet. Eine 400 Meter dicke Ton-
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schicht soll den Müll vom Grundwasser abschirmen. Die Strahlenkippe für schwach und mittelradioaktive Abfälle soll 1,6 Milliarden Euro kosten. Mehrfach schon wurde der Fertigstellungstermin in den vergangenen Jahren verschoben. Nun soll der Bau 2019 fertig werden. Auf ein paar Jahre kommt es wohl nicht an, die Planungen für das Endlager laufen bereits seit 1975. Vorerst lagern 100000 Kubikmeter Strahlenabfall, verpackt in Fässern und Containern, unter anderem in den Sammelstellen der Länder: Betriebsabfälle aus Atomkraftwerken, Klinikmüll, Rückstände aus der Industrie. Manches gammelt dort schon seit den siebziger Jahren. Platz dürfte unter der Erdoberfläche demnächst reichlich sein. Die Anlage ist für 303 000 Kubikmeter Abfall genehmigt und könnte auch noch erweitert werden. Doch nach Berechnungen des Bundesamts für Strahlenschutz reicht das bequem. Selbst wenn die Laufzeiten noch einmal verlängert werden sollten. MICHAEL FRÖHLINGSDORF
Die Grünen ihrerseits taten sich ver- in Reserve zu halten“, sagt der stellverBlick. Er will zwar nicht mit den Grünen koalieren, sondern lieber mit der SPD. gangene Woche erkennbar schwer, auf tretende FDP-Chef Holger Zastrow. Ansonsten bleibt den Liberalen nur Auch deshalb hat sich Seehofer entschlos- die Avancen der Kanzlerin eine Antwort sen, in den Atomverhandlungen einen zu geben. Anfangs schien die Sache klar: Hinterhermäkeln. „Die FDP hat auf Drängroßen Schritt auf die SPD zuzugehen. komplette Ablehnung. „Ich stelle in Fra- gen der Union dem willkürlich gewählEr erklärte sich einverstanden, dass ne- ge, dass das überhaupt so kommen wird“, ten Ausstiegsdatum 2022 zugestimmt, das ben dem Lager Gorleben auch „alterna- sagte Parteichefin Claudia Roth. Frak- mit Rücksicht auf die vagen Zusagen der tive Entsorgungsoptionen“ geprüft wer- tionschef Jürgen Trittin konstatierte am Opposition gewählt wurde. Das ändert den dürfen. Jahrelang war es Politik der Dienstag, Merkel sei „dabei, die histori- nichts daran, dass der andere Weg der bessere gewesen wäre“, sagt der bayeriCSU, sich gegen die Erkundung neuer sche Chance zu verspielen“. Allmählich aber drehten die Grünen sche FDP-Wirtschaftsminister Martin Zeil. Standorte zu sperren, zu groß war die Furcht, dass am Ende der deutsche Atom- bei, vor allem auf Druck des neuen Mi- „Zunächst hätte man die Finanzierung, nisterpräsidenten Winfried Kretschmann. den Netzausbau und den Ausstiegspfad müll in Bayern landet. Nun muss er sich Kritik anhören. „Ich Der feierte zeitgleich in Stuttgart – un- klären müssen.“ Nach anderthalb Jahren an der Bunkann nicht verstehen, warum wir jetzt wie- gerührt von den Protestbekundungen der die Debatte um den Standort für ein aus Berlin – den Ausstiegsbeschluss: „Das desregierung backt die einstige Reformpartei FDP ganz kleine BrötEndlager eröffnen. Die sei „unnöchen. „Wir sind der kleinere Parttig wie ein Kropf“, sagt Max Strauner in einer Koalition, da gehören binger, der stellvertretende Chef Kompromisse dazu“, sagt FDP-Geder CSU-Landesgruppe. Ähnlich neralsekretär Lindner. Die FDPsieht es der ehemalige CSU-Chef Brunsbütt Brunsbüttel el Spitze sieht nun beklommen, dass Erwin Huber: „Es ist nicht im InterMerkel mit ihrer Atomwende die esse Bayerns und nicht im Interesse Krümmel K rümmel 1 2 0 2 größte Hürde zur SPD und zu der CSU, wenn nun in ganz Brokdorf Br rookdor orrf Unterweser Unterw weser ser den Grünen niedergerissen hat. Deutschland nach einem Endlager Die Union hat sich damit neue gefahndet wird, weil damit GorEmsland Koalitionsoptionen gesichert, das leben, die beste und schnellste Laufzeit L a aufz u eit t bis s Grohnde Groohnde schwarz-gelbe Bündnis wird imLösung, unterlaufen wird.“ 2022 22 mer brüchiger. Und die FDP sucht Seehofer kümmert das nicht. Er 1 2 0 2 ihr Heil links: Ein sozial-liberales will die Einigung mit der SPD, 2015 – 2021 2015 Bündnis oder eine Ampelkoalition auch über die Endlagerfrage. 20111 2011 seien für die FDP durchaus OptioZweimal hat er in den vergan(bereits (ber eits tss aabgeschaltet) abgescha ha et) halt Geplantee RRestlaufzeiten Geplant estla tla eiten tlaufz nen, heißt es im Thomas-Dehlergenen Tagen mit dem SPD-Fraklaut Ausstiegsfahrplan Ausstiegs sstiegsfahrplan sstie egs von von o Bund Bu Haus. tionschef Frank-Walter Steinmeier undd Ländern Ländern rn vom vom 3. Juni 20 22011 11 Die Atomwende entpuppt sich telefoniert, um die Chancen für als ein politischer Coup, fachlich eine Einigung auszuloten. GrafenG Gr affeenunvollkommen bleibt sie doch. Das Trauma der Großen Koalirheinf feeld rheinfeld Bibliss A Das Konzept, das Merkel in wenition sitzt bei den SozialdemokraBiblis B 2015 ger als drei Monaten aus dem Boten tief – doch sie sind von Merkels Philippsburg Phi hilippsbbur b rg 1 den stampfte, birgt zahlreiche Riund Seehofers Avancen nicht so Philippsbur lippsb lippsburg i bur b rgg 2 Philippsburg Isar 1 siken. Und es bleiben nur noch verschreckt, wie man annehmen 2019 wenige Wochen bis zur Sommerkönnte. Auch die SPD will den 2017 Isar 2 Neckarwestheim Neckarwes eestheim 1 pause. Dann soll alles beschlossen Konsens – selbst wenn Parteichef Neckarwestheim Neckaarwestheim 2 sein. Schnelligkeit vor Sorgfalt. Sigmar Gabriel noch Bedingungen 2021 Gundremmingen G reemmingen B Gundr Noch im vergangenen Herbst stellt. „Das Ausstiegsdatum 2022 Gundremmingen C Gundrreemmin emmingen m erweckte Schwarz-Gelb den Einist in Ordnung, obwohl es unserer druck, die Kosten des Umstiegs Meinung auch schneller gehen auf erneuerbare Energien seien so kann“, sagt er im SPIEGEL-Geastronomisch, dass die billige spräch (siehe Seite 29). „Wir werden aber nicht zu jedem Preis zustimmen ist grundsätzlich vernünftig und das Ge- Kernkraft verlängert genutzt werden müsund schon gar nicht zum Preis der De- bot der Stunde, weil es im Übrigen auch se. Doch nun tut die Koalition so, als gäbe dem Bürgerwillen entspricht und von es den Umstieg fast umsonst. industrialisierung dieses Landes.“ Wirtschaftsminister Rösler behauptet, Ein Konsens sei wichtig für das Land, einer großen Mehrheit getragen wird.“ sagt Thomas Oppermann, Parlamentari- In Berlin sendete der Parteivorsitzende der Strompreis werde um nicht mehr als scher Geschäftsführer der SPD-Bundes- Cem Özdemir prompt auf der neuen einen Cent pro Kilowattstunde steigen, tagsfraktion. „Wir brauchen jetzt die Un- Wellenlänge: „Die historische Chance und das Bundesumweltministerium rechfür einen gesamtgesellschaftlichen Kon- nete am Mittwoch vergangener Woche in umkehrbarkeit des Ausstiegs.“ Es gibt zwei taktische Hauptmotive für sens liegt jetzt greifbar“, sagte er am Mitt- einer internen Expertise vor, dass auch die sogenannte EEG-Umlage, die Stromdas Interesse der Sozialdemokraten am woch. Während sich zwischen Union, SPD kunden zusätzlich für Ökostrom zahlen, Konsens. Erstens wollen sie, ähnlich wie Merkel, das Thema endgültig abräumen und Grünen Großes tut, rollt die FDP so nicht über die 3,5 Cent pro Kilowattstun– schließlich haben sie in den vergange- mit. Als wesentlichen Erfolg verkaufte de von heute steigen und langfristig sogar nen Monaten erfahren, dass es am Ende sie am Freitag, dass womöglich ein Atom- wieder sinken könnte. Stephan Kohler, Chef der halbstaatdoch immer nur den Grünen nützt. Zwei- kraftwerk als Kaltreserve behalten wird. tens will die SPD sich als Anwältin der Doch selbst den Liberalen ist unklar, wie lichen Deutschen Energie-Agentur (DeIndustrie in Szene setzen und die Grünen dieses Vorhaben technisch und wirtschaft- na), sieht das kritisch: „Das grenzt an als ökologische Utopisten hinstellen, die lich umzusetzen sein soll. „Ökonomisch Schönrechnerei“, sagt er. „Die installierte das Land am liebsten in eine industrie- könnte es sinnvoller sein, bei Engpässen Kapazität wird von heute 110 Gigawatt Strom zu importieren, statt ein Kraftwerk auf 190 Gigawatt steigen müssen, um freie Zone verwandeln würden.
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Deutschland mit Ökostrom zu versorgen – und das soll nichts kosten?“ Darüber hinaus bleibt unklar, wie die abgeschalteten Kernkraftwerke ohne Stromimporte ersetzt werden sollen. Die FDP-Idee eines Stand-by-Kernkraftwerks als „Kaltreserve“ gilt unter Technikern als Hirngespinst. Der Plan der Regierung, dass die Bundesnetzagentur einen AltMeiler auswählt, der bei Bedarf hochgefahren wird, stößt zudem auf europarechtliche Bedenken. Für den fossilen Ersatz setzt die Regierung voraus, dass 10 Gigawatt Kohle- und Erdgaskapazität bis 2013 ans Netz gehen und weitere 10 Gigawatt bis 2020. Doch laut Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft sind zumindest bis 2016 nur 5 Gigawatt wirklich garantiert. Beim Umstieg auf andere Energien wird vieles sehr nonchalant behauptet. Vor allem Seehofer tut so, als könnte er Gaskraftwerke dekretieren oder sie à la Weihenstephan als Staatsbetriebe führen. „Wer Gaskraftwerke will, müsste jetzt mit den Russen über langfristig verlässliche Lieferverträge verhandeln“, so Dena-Chef Kohler. Die dritte Unsicherheit im merkelschen Konzept ist das Klimaschutzziel. Als einzige Industrienation weltweit will Deutschland binnen eines Jahrzehnts gleichzeitig aus der Kernkraft aussteigen und die CO2Emissionen um 40 Prozent gegenüber 1990 reduzieren. Nach marktwirtschaftlichen Prinzipien wäre der große Gewinner des Ausstiegs aber die billige Braunkohle aus der Lausitz oder den rheinischen Revieren – die besonders CO2-intensiv ist. Viele Fragen also bleiben offen, das Konzept diffus, aber in Berlin gibt es viele neue Freunde und neue Entfremdete. Nachdem Kanzlerin Merkel mit ihren verbündeten rot-grünen Ministerpräsidenten bei ihrem Atomgipfel im Kanzleramt posiert, geht es direkt in den Koalitionsausschuss. Merkel hat vorher die Kaskade mit den Länderchefs beschlossen. FDPChef Rösler unternimmt einen letzten verzweifelten Versuch, die gestaffelten Ausstiegszeiten zu verhindern. Die Kanzlerin bremst ihn aus. „Ich verstehe nicht, was ihr da wollt?“, sagt sie. Seehofer brummt nur: „Das machen wir nicht.“ Danach wird es endgültig erbärmlich. Rösler will wieder auf Fachebene verhandeln. Kopfschütteln bei der Union, Fassungslosigkeit, das hier ist die höchste politische Ebene. Rösler zieht sich mit seinen Getreuen zurück. Dann Vieraugengespräche mit Merkel und Seehofer. Eine Kompromissformel wird gefunden. „Zwei leere Sätze“, ätzt ein Teilnehmer. Als die Sonne am Freitagabend sattgelb untergeht hinter dem Kanzleramt, ist Rösler um viele Erfahrungen und eine Niederlage reicher. RALF BESTE, FRANK DOHMEN, CHRISTOPH HICKMANN, PETER MÜLLER, RENÉ PFISTER, CHRISTIAN SCHWÄGERL, CHRISTOPH SCHWENNICKE, MERLIND THEILE
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SPI EGEL-GESPRÄCH
„Funktionär ist kein Schimpfwort“
RETO KLAR
SPD-Chef Sigmar Gabriel, 51, über Probleme und Perspektiven seiner überalterten Partei, den sozialdemokratischen Bestattungsverein „Die Flamme“ und die Angst der deutschen Industrie vor dem Atomausstieg
Parteivorsitzender Gabriel: „Noch immer die gleichen Strukturen wie vor 35 Jahren“ SPIEGEL: Herr Gabriel, was ist wichtiger –
das Land oder die Partei? Gabriel: Das Land ist immer wichtiger als eine einzelne Partei. Aber die Demokratie braucht lebendige Parteien. SPIEGEL: Man hat momentan den Eindruck, dass es Ihnen wichtiger ist, die SPD zu reformieren, als den Leuten zu erklären, wie Sie diese Republik regieren würden. Gabriel: Wir haben, ohne dass wir im Bund regieren, in wichtigen Fragen die politische Debatte bestimmt. Wir haben den Strategiewechsel im Afghanistan-Einsatz gegen die Regierung durchgesetzt. Wir haben den Wert der Arbeit in Deutschland wieder zum Thema gemacht und Mindestlöhne in der Zeit- und Leiharbeit erreicht. Die SPD hat neben einem realistischen Konzept für eine Bürgerversicherung Vorschläge für die Einführung von Volksabstimmungen vorgelegt, statt des Chipkarten-Irrsinns von Frau von der Leyen 3000 Schulsozialarbeiter durch-
gesetzt und ganz nebenbei drei CDUMinisterpräsidenten aus dem Amt befördert. SPIEGEL: Gemerkt hat das offenbar kaum jemand, jedenfalls profitieren Sie in den Umfragen nicht. Warum müssen Sie jetzt noch unter Protest Ihrer Funktionäre eine Parteireform starten – was den Wähler erst recht nicht interessiert? Gabriel: Mir sind Wahlergebnisse wichtiger als Umfragen. Und ob eine Partei sich öffnet, interessiert Wählerinnen und Wähler durchaus. Denn viele Menschen empfinden Parteien doch als geschlossene Gesellschaft, die sich selbst genug ist. Je mehr Parteien über die verschiedenen Lebenslagen in unserer Gesellschaft wissen, desto eher werden die politischen Programme die Menschen auch erreichen. SPIEGEL: Ist das Problem der SPD nicht viel eher, dass keiner mehr weiß, wofür sie eigentlich steht? Gabriel: Sie steht, wie übrigens seit 148 Jahren, für einen Gleichklang aus wirtschaftD E R
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lichem Fortschritt und sozialem Zusammenhalt. Das ist nicht unser Problem. SPIEGEL: Sondern? Gabriel: Die Stärke der Bundesrepublik hat immer auch etwas damit zu tun gehabt, dass die beiden großen Volksparteien tief in der Gesellschaft verankert waren und deshalb wussten, was dort los war. Diese Verankerung hat bei allen Parteien sehr nachgelassen. Das müssen wir wieder ändern. SPIEGEL: Und das schaffen Sie, indem Sie die Zahl Ihrer Spitzenposten halbieren und den Parteirat abschaffen? Gabriel: Was wir genau am Ende tun, beraten wir erst einmal in Ruhe. Meine Generalsekretärin Andrea Nahles hat mehr als ein Jahr lang mit vielen Mitgliedern vom Ortsverein bis zur Bundesebene beraten und nun einen Vorschlag vorgelegt, den ich sehr gut finde. Klar ist, dass wir uns ändern müssen. Wir sind von über einer Million Mitglieder Mitte der siebziger Jahre heruntergekommen auf genau 29
Deutschland
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halb der deutschen Parteien häufig so benutzt wird. Viele, die über diese Funktionäre lästern oder schimpfen, sind selber zu träge oder scheuen die Verantwortung. SPIEGEL: Und gerade die Leute, die mit der Partei verheiratet sind, fühlen sich jetzt von dem Plan beleidigt, auch Nichtmitglieder über Kandidaten abstimmen zu lassen. Warum sollen jetzt Leute die gleichen Rechte haben, die mit der Partei nur eine Art wilde SPD-Mitglieder Ehe eingehen? Gabriel: Es geht nicht darum, Nichtmitgliedern die gleichen % Rechte zu geben. Schon das seit Ende 1990 deutsche Parteiengesetz Durchschnittsschreibt vor, dass Parteitage alter das letzte Wort haben. Wir wollen unseren Gliederungen doch gar nicht vorschreiben, Jahre dass sie das alle so machen Stand: 31. 12. 2010 müssen. Wir wollen ihnen das ermöglichen. Aber der Vergleich mit der Ehe ist ein schönes Bild, weil es zeigt, wie nötig wir die Modernisierung haben. Vor 30 oder 40 Jahren haben wir ja auch noch gedacht, ein anständiges Zusammenleben funktioniere nur, wenn man beim Standesamt war und getraut wurde. Offensichtlich gibt es aber sehr viele Menschen, die es nicht mehr schaffen oder nicht mehr wollen, sich mit einem Menschen ihr Leben lang zu verbinden. So geht es auch den Parteien. SPD-Anhänger bei Gabriel-Rede: „Wir brauchen SPIEGEL: Klingt ziemlich unromantisch. Gabriel: Ja, keine Frage. Ich fand die SPD Wissen der jüngeren Generationen. Sie als lebenslange politische Familie auch muss auch wissen, wie es gerade in der schöner. Aber die Bereitschaft ist gesun- Schule aussieht, wie es im Krankenhaus ken, sich ein Leben lang in der SPD zu läuft und wie im Betrieb. Wir brauchen engagieren und sich am Ende noch vom die Jahrgänge, die noch im Berufsleben sozialdemokratischen Bestattungsverein stehen. Die sind uns und auch den anderen Parteien in den letzten Jahren verlobestatten zu lassen. rengegangen. SPIEGEL: Jetzt übertreiben Sie. Gabriel: Nein, den gab es wirklich. Der SPIEGEL: Welchem der potentiellen Kanzhieß „Die Flamme“ und hatte immerhin lerkandidaten kommt die Öffnung für 24 000 Mitglieder, Lebende übrigens. Nichtmitglieder denn zugute? Aber diese Zeiten, von der Wiege bis zur Gabriel: Es geht bei dieser Öffnung nicht Bahre, die sind einfach vorbei. um die Vorbereitung einer KanzlerkanSPIEGEL: Ihre Partei ist außerdem auch didatur. Es geht um viel mehr: um die Alltagstauglichkeit der Parteien in der noch überaltert. Gabriel: Unser Durchschnittsalter liegt heu- parlamentarischen Demokratie. te bei knapp 60 Jahren. Unsere Gesell- SPIEGEL: Aber wenn Nichtmitglieder mitschaft wird insgesamt älter. Trotzdem bestimmen dürfen, läuft es wohl eher auf braucht eine Partei wie die SPD auch das einen Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück hinaus, als wenn allein die Parteifunktionäre den Kandidaten bestimmen. Gabriel: Schon klar, dass Sie das spannend finden. Aber darum geht es uns jetzt überhaupt nicht. SPIEGEL: Wer auch immer kandidiert, ein Wahlkampfthema wird ihm fehlen. Der Atomausstieg wird dann endgültig beschlossene Sache sein. Gabriel: Frau Merkel wünscht sich das jedenfalls so. Sie will den Atomausstieg so schnell wie möglich abgeräumt haben, um sich wieder eine Koalitionsoption mit den Grünen zu eröffnen. Frau Merkel Ex-Finanzminister Steinbrück „Es geht nicht um die Kanzlerkandidatur“ denkt da rein taktisch. Sie weiß, dass die
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BERTHOLD STADLER / DAPD
498 616 Ende April dieses Jahres. Wir haben aber noch immer die gleichen Strukturen wie vor 35 Jahren. Niemandem ist damit gedient, wenn wir große Vorstände, aber eine geringe Beteiligung der Mitglieder haben. SPIEGEL: Freunde machen Sie sich damit unter Ihren Genossen nicht. Gabriel: Bevor ich vor eineinhalb Jahren in Dresden zum Parteivorsitzenden gewählt wurde, habe ich in meiner Rede zwei Dinge versprochen. Erstens, den Einfluss der ganz normalen Mitglieder zu stärken. Viele von denen sind bereit, sich zu engagieren, werden aber viel zu selten gefragt. Zweitens habe ich versprochen, die Partei für Menschen zu öffnen, die noch nicht Mitglieder sind. SPIEGEL: Warum eigentlich? Gabriel: Wir müssen solche Nichtmitglieder zu Interessierten machen, und einen möglichst großen Teil der Interessierten müssen wir zu Mitgliedern machen. Viele politisch interessierte Menschen haben heute eine innere Distanz zu Großorganisationen. Darunter leiden Kirchen und Gewerkschaften doch auch. SPIEGEL: Was passiert, wenn Sie Ihr Versprechen nicht halten können? Gabriel: Keine Sorge. Andrea Nahles und ich werden unser Versprechen halten. SPIEGEL: Kürzlich haben Sie bei einem Auftritt gesagt, entweder es laufe so, wie Sie es wollten – oder die Partei müsse es anders organisieren. Das klang nach Rücktrittsdrohung. Ihr Schicksal ist jetzt mit dieser Reform verknüpft. Gabriel: Bei der Suche nach dieser Schlagzeile kann ich Ihnen nicht behilflich sein. Ich wollte darauf hinweisen, dass wir die gleiche Debatte schon vor zehn Jahren unter Franz Müntefering hatten. Das ist damals versickert. SPIEGEL: Es war eine der schwersten Niederlagen seiner politischen Karriere. Gabriel: Das Vertagen seiner Reformvorschläge hat leider nur dazu geführt, dass die damaligen Prognosen über die Mitgliederentwicklung alle eingetreten sind. Ich bin ein zu leidenschaftlicher Sozialdemokrat, um dabei tatenlos zuzusehen. SPIEGEL: Werden Sie noch härter durchgreifen als der harte Müntefering? Gabriel: Es geht nicht um Härte, es geht darum, zu überzeugen. Eine Parteireform können Sie nicht von oben verordnen. Wenn wir sagen, wir müssen etwas ändern in dieser Partei, dann fühlen sich schnell diejenigen verletzt, die sich in dieser Partei schon immer engagiert haben, und zwar in ihrer Freizeit. Wenn wir die SPD öffnen, heißt das nicht, dass wir dieses Engagement gering schätzen. Es geht um Angebote an die, die wir neu hinzugewinnen müssen. SPIEGEL: Warum ist das Wort Funktionär eigentlich ein Schimpfwort geworden? Gabriel: Für mich war das nie ein Schimpfwort. Aber es ist leider so, dass es außer-
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CHRISTIAN THIEL / DER SPIEGEL
auch das Wissen jüngerer Generationen“
ter beim Ausbau der Netze, bei der Energieeinsparung und bei den erneuerbaren Energien. Mir wird viel zu viel in Überschriften gedacht und viel zu wenig auf das Kleingedruckte geachtet. Ich bin sehr froh, dass die SPD-Ministerpräsidenten sich darum kümmern und viele Ungereimtheiten im Konzept von Frau Merkel korrigiert haben. Wir müssen uns überlegen, was wir dafür tun, dass die Preise für die Bürger verträglich bleiben und vor allem für die Industrie. SPIEGEL: Die SPD kümmert sich also wieder um ihre Stammklientel? Gabriel: Es ist ja keine böswillige Kampagne von Industrielobbyisten, wenn die Industrie darauf hinweist, dass mit der Energiewende massive Belastungen für sie verbunden sind. Es arbeiten nur noch 25 Pro-
* Mit den Redakteuren Christoph Hickmann und Christoph Schwennicke.
Gabriel beim SPIEGEL-Gespräch*
MAURICE WEISS / DER SPIEGEL
FDP ihr bei der nächsten Bundestagswahl nicht mehr helfen kann. SPIEGEL: Sie müssten sich doch freuen. Immerhin hat die SPD vor zehn Jahren mit den Grünen den Ausstieg beschlossen. Gabriel: Wir freuen uns ja auch, dass Union und FDP, die uns jahrzehntelang für unsere Atompolitik beschimpft haben, jetzt zu dieser Politik zurückkehren. Da empfinden wir durchaus Genugtuung. SPIEGEL: Dann sind Sie sich in der Sache doch einig mit Frau Merkel. Gabriel: Zu einem Energiekonsens gehört mehr als der Atomausstieg. Für die Menschen in Deutschland und vor allem für die Industrie und Wirtschaft kommt es vor allem darauf an, wie dieser Ausstieg vollzogen wird. Oder besser: wie der Einstieg in die erneuerbaren Energien erfolgt. Angela Merkel geht es jetzt um Schnelligkeit statt um Sorgfalt. Sie muss das vor der Sommerpause abgeschlossen haben, sonst gerät ihr die eigene Partei doch noch außer Kontrolle. Deshalb ist sie auf einem industriepolitischen Blindflug. Dabei werden wir gewiss nicht mitmachen. SPIEGEL: Bisher konnte es Ihnen auch nicht schnell genug gehen mit dem Ausstieg. Gabriel: Wenn Union und FDP nicht die Laufzeiten für die Atomkraftwerke verlängert hätten, wären wir schon viel wei-
„Schnelligkeit statt Sorgfalt“ D E R
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zent der Arbeitnehmer in der Industrie, deshalb glauben die anderen 75 Prozent, die Industrie sei nicht mehr so wichtig. Frau Merkel scheint das auch zu glauben. Sie ist eine industriepolitische Ignorantin. Einen größeren Fehler kann man in der deutschen Politik kaum machen. SPIEGEL: Das erweckt den Eindruck, dass die SPD jetzt wieder an der Seite von Kohle und Stahl marschiert, weil die Ökoschiene sich nicht ausgezahlt hat. Gabriel: Unsinn. Die Energiewende bietet auch ökonomisch große Chancen. Aber wer die Industrie an den Rand drängt, macht einen Riesenfehler. Die Länder, die sich nur noch auf Dienstleistungen verlassen und sich von der Industrie völlig verabschiedet haben, traf es in der Krise am schwersten, siehe Großbritannien. Und jetzt erleben wir schon wieder solch eine irrationale Spaltung. Manche Grünen glauben, Green Economy sei alles. Sie vergessen aber, dass sie kein Windrad herstellen ohne Stahl, ohne Kunststoff, ohne Maschinenbau und Elektrotechnik. SPIEGEL: Wird die SPD denn nun im Bundestag dem Merkel-Ausstieg zustimmen? Gabriel: Frau Merkel wird ja eine ganze Reihe von Gesetzen vorlegen. Wir werden keinem Gesetz zustimmen, das die Industrieproduktion in Deutschland und damit sichere Arbeitsplätze gefährdet. Und wir werden keinem Gesetz zustimmen, mit dem nur zum Schein aus der Atomenergie ausgestiegen wird. Wir müssen sicher sein, dass keine Hintertürchen eingebaut sind. SPIEGEL: Das heißt Ja oder Nein? Gabriel: Das Ausstiegsdatum 2022 ist in Ordnung, obwohl es unserer Meinung nach auch schneller gehen kann. Wir werden aber nicht zu jedem Preis zustimmen und schon gar nicht zum Preis der Deindustrialisierung dieses Landes. SPIEGEL: Was fordern Sie von Frau Merkel? Gabriel: Wenn sie wirklich einen breiten Konsens will, dann muss sie auch das Gespräch suchen – mit der Opposition, aber auch mit den Umweltverbänden, der Industrie, den Gewerkschaften. Und sie muss vor allem den Ratschlägen der Ethikkommission folgen. Bislang missbraucht Frau Merkel die dort erarbeiteten Vorschläge als politischen Steinbruch. Das reicht nicht. Sie sucht keinen Energiekonsens in der Gesellschaft. SPIEGEL: Und Sie wollen den Konsens? Gabriel: Ja, weil man mit der größten Volkswirtschaft Europas keine parteitaktischen Spielchen treiben kann. Die Energieversorgung ist das Herz-KreislaufSystem unserer Wirtschaft, und Frau Merkel operiert gerade am offenen Herzen. Das kann man nicht alle paar Jahre wiederholen. Die Energiepolitik braucht wieder Seriosität und Berechenbarkeit. SPIEGEL: Herr Gabriel, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. 33
Deutschland
AU S S E N P O L I T I K
Im Verdruss vereint Angela Merkel erhält in Washington die höchste zivile Auszeichnung der USA. Doch das ist Symbolpolitik. Bei wichtigen Themen liegen Deutschland und Amerika weit auseinander.
aus der Verantwortung gedeutet. „Merkels Deutschland ist mittlerweile das wichtigste Land in Europa“, sagt Stephen Szabo von der Transatlantic Academy in Washington, „doch es will sich immer noch wie die Schweiz gebärden.“ Wie groß die Verärgerung der Amerikaner ist, machte Außenministerin Clinton ausgerechnet in Berlin deutlich. „Die Welt hat nicht abgewartet, bis ein zweites Srebrenica an einem Ort namens Bengasi
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s gibt Ehrungen, die werden nicht wegen vergangener Leistungen verliehen. Sie drücken eher die Hoffnung aus, dass der Geehrte sich die Auszeichnung in der Zukunft verdient. Der Friedensnobelpreis für Barack Obama im Jahr 2009 war so ein Fall, der US-Präsident war gerade wenige Monate im Amt und hatte noch nichts Großes für den Frieden in der Welt geleistet. An diesem Dienstag erhält Angela Merkel in Washington die Freiheitsmedaille des Präsidenten, die höchste zivile Auszeichnung der Vereinigten Staaten. Das ist eine Ehre, die als einzigem deutschen Politiker bislang dem früheren Kanzler Helmut Kohl zuteilwurde. Es gibt ein Staatsbankett im Weißen Haus, Obama selbst wird die Laudatio halten. Merkel wird von ihrem Ehemann Joachim Sauer begleitet, was sehr selten passiert und die Bedeutung des Ereignisses unterstreichen soll. Doch auch die Freiheitsmedaille ist vor allem ein Hoffnungspreis. In Washington blickt man deutlich skeptischer auf die Kanzlerin als noch vor einem Jahr. „Der Eindruck hier ist zunehmend, dass Deutschland nicht mehr zuerst an die Freundschaft mit den USA denkt“, sagt Fiona Hill, Europaexpertin der einflussreichen Brookings Institution. Die Amerikaner wünschen sich die alte Merkel zurück. Das Problem ist nicht nur, dass Obama und Merkel keinen persönlichen Draht zueinander finden. Bei wichtigen Themen sind Deutschland und die USA so weit voneinander entfernt wie noch nie während Merkels Kanzlerschaft. Der deutsche Atomausstieg, die Enthaltung Berlins bei der Libyen-Abstimmung im Uno-Sicherheitsrat und die Wirtschaftsund Finanzpolitik der Bundesrepublik haben Merkels Reputation in Washington geschwächt. Umgekehrt hat auch das Ansehen Obamas in der Bundesregierung gelitten. Er gilt im Kanzleramt als Präsident, der große Dinge ankündigt, aber wenig davon verwirklicht. Merkel traut ihm nicht zu, die Probleme der Welt zu lösen. Einig sind sich die beiden Regierungen vor allem im Verdruss übereinander. Als besonders verheerend betrachtet man in Berlin das Verhalten Obamas im Nahost-Konflikt. So sei es ein grundle34
Partner Merkel, Obama beim G-20-Gipfel am 11. November 2010 in Seoul: Nicht der Ton, der unter
gender Fehler gewesen, dass Obama im September vergangenen Jahres vor der Uno-Generalversammlung davon gesprochen habe, dass man in einem Jahr einen Palästinenserstaat als neues Mitglied der Weltgemeinschaft begrüßen wolle, heißt es. Damit habe man bei den Palästinensern unerfüllbare Erwartungen geweckt und zugleich Israel verärgert. Merkel verübelt Obama auch, dass er sich zunächst gegen eine Intervention in Libyen ausgesprochen hatte, dann aber unter dem Druck von Außenministerin Hillary Clinton und anderen Beraterinnen seine Meinung änderte. Merkel glaubt, dass Obama die Libyen-Intervention nicht hinreichend durchdacht hat. Dadurch sei Deutschland in eine schwierige Lage gekommen. In den USA wird die deutsche Enthaltung im Sicherheitstrat dagegen als Flucht D E R
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geschieht“, sagte sie im April bei einer Veranstaltung in der American Academy. Nach diplomatischen Maßstäben war das eine frontale Kritik an der deutschen Weigerung, dem Einsatz des Westens gegen den Diktator Muammar al-Gaddafi zuzustimmen. Noch deutlicher wurde Verteidigungsminister Robert Gates. Beim Antrittsbesuch seines Kollegen Thomas de Maizière Ende April wies er darauf hin, dass Deutschland seinem Ruf geschadet habe, als es im Sicherheitsrat mit Ländern wie Russland und China stimmte. „Das sollten Sie wissen“ , sagte Gates seinem düpierten Besucher. Das ist nicht der Ton, der unter engen Freunden üblich ist. Dabei ist es noch nicht lange her, dass Merkels Deutschland in den USA als wichtigster europäischer Partner angesehen wurde. Merkel galt als amerika-
überschüsse im gleichen Atemzug wie Chinas Handelsbilanzplus zu kritisieren. Ende Oktober versuchte er beim Finanzministertreffen in Südkorea, China und Deutschland feste Zielmargen für ihre Exportüberschüsse aufzuzwingen, ein Vorhaben, das die Deutschen nur durch einen diplomatischen Kraftakt verhindern konnten. Dahinter steckt mehr als nur ein Feilschen um Zahlen. Amerikaner und Deut-
JIM YOUNG / REUTERS
freundlich und zuverlässig, anders als ihr Vorgänger Gerhard Schröder. Die Ostdeutsche schien ein besonderes Sensorium für das amerikanische Verständnis von Freiheit zu haben. Deshalb konnte sie sich auch offene Kritik, etwa am Gefangenenlager Guantanamo, erlauben. Dass dieser Kredit längst aufgebraucht ist, zeigte sich vorvergangene Woche beim G-8-Gipfel im französischen Seebad Deauville. Während Obama den Gastge-
engen Freunden üblich ist
ber Nicolas Sarkozy zu einem Vieraugengespräch traf und anschließend mit Lob für seine „Führungsqualitäten“ überhäufte, bekam die deutsche Kanzlerin den USPräsidenten nur bei den gemeinsamen Arbeitsrunden zu Gesicht. Als die G-8-Mitglieder, die sich militärisch gegen Gaddafi engagieren, in Deauville über den Krieg in Libyen berieten, war Merkel nicht dabei. Auch die entscheidenden Gespräche mit den Russen, die sich schließlich gegen Gaddafi stellten, führten andere. „Der Preis mangelnden Mutes“, bilanziert die „Neue Zürcher Zeitung“. Weniger symbolträchtig, aber kaum geringer sind die Spannungen in der Wirtschaftspolitik. Vor allem Finanzminister Timothy Geithner ließ in der Vergangenheit kaum ein Treffen der G-20-Finanzminister aus, um die deutschen Export-
sche haben grundsätzlich andere Vorstellungen, wie Wirtschaftspolitik nach der Krise aussehen soll. Die Deutschen setzen auf harte Einschnitte, unbequeme Sparpakete, Verzicht und Strukturreformen. In den USA dagegen beginnt sich erst langsam die Einsicht durchzusetzen, dass der hohe Schuldenstand des Landes ein Problem werden könnte. Die Amerikaner fordern von den Deutschen, ihre Binnennachfrage anzukurbeln. Die wiederum blicken argwöhnisch auf die Milliardenprogramme der US-Notenbank Fed, mit der diese US-Staatsanleihen aufkauft und den Markt so mit frisch gedrucktem Geld flutet. Jetzt sollen die G-20-Partner anhand eines Kriterienkatalogs überprüfen, ob Länder wie Deutschland mit ihren Außenhandelsüberschuss die Weltwirtschaft in eine Schieflage bringen. D E R
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Während in der Finanzpolitik immerhin Formelkompromisse denkbar sind, lässt sich der Riss in der Energie- und Klimapolitik durch nichts überdecken. In Deutschland verfolgt ausgerechnet Merkels konservativ-wirtschaftsfreundliche Regierung den Ausstieg aus der Kernkraft und will zugleich den Ausstoß an Treibhausgasen drastisch reduzieren. Die amerikanische Politik hat sich in den vergangenen Jahren konsequent in die entgegengesetzte Richtung bewegt. Schon der Klimagipfel von Kopenhagen im Dezember 2009 machte dies sichtbar: Merkel setzte sich für strenge und verbindliche Reduktionsziele ein, Obama verabredete im Hinterzimmer Deals mit Chinesen und Indern. Neuerdings will auch der US-Präsident nach Öl und Gas bohren. Zugleich stellt er Milliardenbürgschaften zum Ausbau der Kernenergie in Aussicht – aus deutscher Sicht ein verantwortungsloser Kurs. Die Amerikaner wiederum haben kein Verständnis für den schwarz-gelben Schwenk in der Atompolitik nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima. Obama scheint der radikale Kurswechsel Berlins gefährlich. An die deutsche Rhetorik von der „grünen Ökonomie“, mit der sich viel Geld verdienen lasse, wollen sogar die meisten Demokraten nicht recht glauben. Merkels Energiewende erscheint dem politischen Washington geradezu grotesk. Sachliche Differenzen hat es im transatlantischen Verhältnis immer wieder gegeben. Diesmal ist die Situation aber besonders schwierig, weil sich die weltpolitische Situation verändert hat. Die Deutschen beunruhigt schon länger, dass Obama sich dem pazifischen Raum zuwendet. Europa spielt in seiner Außenpolitik eine zunehmend geringere Rolle. Damit fehlt den deutsch-amerikanischen Beziehungen die Selbstverständlichkeit, die sie einst hatten. Die Amerikaner wiederum beklagen, dass die Bundesregierung ihre Führungsrolle in Europa nicht ausreichend wahrnimmt. Deutschland war wichtig, weil es als Führungsmacht Europas den Kurs der EU maßgeblich bestimmte. Heute präsentiert sich die EU vor allem in der Außenpolitik als zerstrittener Haufen. Damit erfüllt Berlin aus amerikanischer Sicht seine zentrale Funktion nicht mehr. Dennoch bleiben Merkel und Obama aufeinander angewiesen. In Washington weiß man, dass eine Bundesregierung unter Führung von SPD oder Grünen vermutlich nicht amerikafreundlicher sein würde, als es die Kanzlerin ist. Und in Berlin verfolgt man mit Sorge, wie sich die Republikaner immer weiter nach rechts bewegen. Etwas Besseres als Obama, darüber ist man sich im Kanzleramt klar, ist derzeit nicht im Angebot. PETER MÜLLER, RALF NEUKIRCH, GREGOR PETER SCHMITZ, CHRISTIAN SCHWÄGERL
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Deutschland
CAROLINE SEIDEL / DPA
Trauerfeier für in Afghanistan gefallene Soldaten am 3. Juni in Hannover
BUNDESWEHR
„Die Stimmung wird kippen“ Die Lage im Norden Afghanistans spitzt sich wieder zu. Erneut sind deutsche Soldaten ums Leben gekommen, selbst Panzer bieten keinen Schutz mehr gegen Sprengfallen. Zudem stellte sich heraus, dass die Bundeswehr in Taloqan nicht einen Demonstranten erschossen hat, sondern drei.
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ie trugen ihren großen General zu Grabe, zogen unter Rufen des Hasses durch die Straßen der kleinen Stadt, zu Tausenden, bebend vor Trauer und Wut. Mohammed Daud Daud, Kommandeur der Polizeitruppen des Nordens, Held der Provinz Takhar, Verbündeter der Nato, war am Vortag umgekommen bei einem der schwersten Anschläge, der 36
den Taliban in zehn Jahren gelungen ist. Dabei starben auch zwei deutsche Soldaten. Der Isaf-Kommandeur in Nordafghanistan, Generalmajor Markus Kneip, wurde verwundet. Doch als die anschwellende Menge durch die Provinzhauptstadt Taloqan lief, forderte sie nicht Rache an den Tätern – sondern an jenen, die an allem schuld D E R
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seien: den Ausländern, also den Amerikanern, den Deutschen, egal. Am Kopf des Zuges fuhr ein Lautsprecherwagen, in dem ein junger Kleriker den Sammelbegriff des Bösen skandierte: „Charidschi!“, Ausländer. Dass die Taliban sich umgehend und stolz zum Anschlag bekannten, dass deutsche Soldaten unter den Opfern waren – das spielte keine Rolle.
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auf führ führende ende VVertreter ertreter der er Taliban Taaliban 12. Mai 2007 2007
Mullah Dadullah, Militärchef der Taliban, Taliban, stirbt im Gefecht Geffeecht mit westwestlichen Truppen. Truppen. 4. November November 2009
Taliban-Kommandeur Taliban-Kommandeur Qari Bashir wird wird von von US-Spezialkr US-Spezialkräften äften und af afghanischen ghanischen Soldat Soldaten en getötet. get ötet.
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AFGHANISTAN
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Qaida-Gruppenführ Qaida-Gruppenführer er und Taliban-Kommandeur Taliban-Kommandeur Abu Bakir stirbt bei einem Nat Nato-Luftangriff. o-Luftangriff.
Helmand He
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30. Dezember Dezember 2010 2010
10. 10. März 2011 2011
15. 15. April 20 2011 11
2. April 20 2011 11
Shamsullah, TTaliban-Kommandeur aliban-Kommandeur in der Provinz Provinz K Kunduz unduz und verantwortverantwortlich für ein Netzwerk Netzwerk vvon on Selbstmor Selbstmorddatt attentätern, entätern, wird wird von von westlichen westlichen und afghanischen afghanischen Einheit Einheiten en get getötet. ötet.
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JAVID BASHARAT / AP
Affghanische Afghanische g Isaf-Ein Isaf-Einheiten und Isaf-Einheit en ttöten öten Mullah Bahador Bahador, r, den Schattengouverneur Sc Schattengouverneur Taliban in der Provinz Provinz K der Taliban Kunduz. unduz.
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Konvoi der Bundeswehr nach dem Anschlag auf einen Schützenpanzer am 2. Juni
Als die Trauernden sich auf einem ummauerten Areal zum Totengebet versammelten, wiederholte auch die angereiste Elite, unter ihnen der ehemalige Präsident Burhanuddin Rabbani und Innenminister Bismillah Khan Mohammadi, das Mantra von den „ausländischen Feinden Afghanistans“, die hinter dem Anschlag steckten. Und dann begann sich das Räderwerk der Gerüchte zu drehen: Die Übersetzerin des deutschen Generals habe sich in die Luft gesprengt, hieß es in der Stadt. Daud habe die Explosion überlebt, verkündete dessen Bruder in Interviews, er sei erst anschließend von ausländischen Soldaten erschossen worden. Selbst der kommissarische Krankenhausdirektor Said Amin, der mit den Verletzten gesprochen hatte, mochte an die Täterschaft
der Taliban nicht glauben: „Die können so etwas doch gar nicht alleine. Die müssen ausländische Helfer gehabt haben.“ Groteske Gerüchte, eines abseitiger als das nächste – aber von der Bevölkerung so gierig aufgesogen wie der allerletzte Frühjahrsregen vom staubdürren Boden. Die Bundeswehr hat nun zwei üble Gegner in Afghanistan: das Gerücht und die verbesserten Sprengsätze der Taliban. Am vergangenen Donnerstag explodierte eine gewaltige Ladung unter einem Schützenpanzer „Marder“. Ein Soldat starb, fünf wurden verwundet. Im Krieg in Afghanistan sind nun 52 deutsche Soldaten ums Leben gekommen, allein 4 waren es in den letzten zwei Wochen. Bislang galt der gut gepanzerte „Marder“ als relativ sicher. Aber die Aufständischen sind nun offenbar auch in der D E R
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Lage, große Bomben zu bauen. Der Mythos des sicheren Panzers jedenfalls ist spätestens seit dem vergangenen Donnerstag Geschichte. Der Krieg hat eine neue Stufe erreicht. Gleichzeitig wächst das Misstrauen gegen die afghanischen Sicherheitskräfte. Die Deutschen machen das sogenannte Partnering mit ihnen, bilden sie aus, gehen mit ihnen Seite an Seite in die Einsätze. Doch am 18. Februar erschoss ein afghanischer Soldat drei deutsche Kameraden in der Gegend von Baghlan. Das bestärkt die Zweifel der Soldaten: Haben sie es mit zwielichtigen Partnern zu tun? In Deutschland löste die Attacke auf den „Marder“ gleich die üblichen Debatten aus. Der Wehrbeauftragte des Bundestags, Hellmut Königshaus, forderte eine bessere Ausrüstung, diesmal einen 37
Deutschland
FOTOS: JOEL VAN HOUDT / DER SPIEGEL
Panzer mit Greifarm, der Sprengsätze be- Nationalarmee und der Polizei 130 bis Bombe passierte, zündeten die Taliban seitigen kann. Die Grünen-Vorsitzende 150 sogenannte Schläfer gibt. Sie könnten den Sprengsatz per Fernzündung. Die Bauart der Bombe bestätigt einen Claudia Roth verlangte eine Debatte über jederzeit für Angriffe gegen die Isaf aktidie deutsche Strategie. Deutschland ha- viert werden, auch innerhalb der Feld- Trend, den die Bundeswehr seit einigen lager. Bis zu sieben Prozent aller aghani- Wochen in Nordafghanistan beobachtet. dert wieder mit seinem Krieg. Dabei schien der Norden zuletzt si- schen Soldaten und Polizisten, führte Die Sprengsätze sind größer und raffiniercherer geworden zu sein. Seit 2009 rücken kürzlich ein NDS-Mann vor internatio- ter konstruiert. Auch die Anzahl der amerikanische Special Forces oft mehr- nalen Militärs aus, sympathisierten mit Sprengfallen scheint zugenommen zu hafach in der Woche zu nächtlichen „captu- dem Gedankengut der Taliban, ein Re- ben: Am 3. Mai wurden nacheinander re or kill“-Operationen aus. Diese Trup- servoir für Spitzel und Attentäter. Und drei Fahrzeuge einer Patrouille „angepen nehmen selten jemanden gefangen, diese Truppen sollen ab 2014 selbst die sprengt“. Dazu kommt als Bedrohung die Emphaben aber in Kunduz vergangenes Jahr Sicherheit ihres Landes sichern. Die Taliban bekämpfen die Bundes- findlichkeit einer Bevölkerung, die nur mindestens zwei Dutzend Taliban-Kommandeure umgebracht. Im Herbst war wehr im Norden vor allem mit selbstge- noch wenig Sympathien für die Ausländie Hälfte des Führungspersonals tot, die bastelten Sprengsätzen, diese Bomben der hat. Wie schnell es gehen kann, dass meisten anderen flohen nach Pakistan, sind mittlerweile so stark, dass sie dicke ein friedlich geglaubter Ort kippt, musste Panzerungen wie beim „Marder“ oder die Bundeswehr zehn Tage vor dem Aneinige liefen über zur Regierung. Nach und nach eroberten internationa- beim Transportpanzer „Fuchs“ durch- schlag gegen Daud in Taloqan erleben. le und afghanische Truppen weite Teile schlagen können. Am 25. Mai zerriss ein Jahrelang war die Provinzhauptstadt von der Taliban-Gebiete zurück – in einer Ko- Sprengsatz nordwestlich von Kunduz die Takhar mit ihren schattigen Platanenalition mit den lokalen Milizen, die man gepanzerte Bodenwanne eines „Fuchs“, alleen so etwas wie der friedliche kleine bis 2006 versucht hatte zu entwaffnen und tötete einen Hauptmann und verletzte Bruder des unruhigen Kunduz gewesen. Das Verhältnis zur Regierung war entnun wieder bewaffnete. Siegesbewusst zwei weitere Menschen. und selbstsicher klang der deutsche Befehlshaber der Nordregion, Generalmajor Hans-Werner Fritz, in einer Videoschaltung mit PentagonKorrespondenten Anfang Januar 2011: „Die Taliban verlassen die Gegend. Wenn sie nicht gehen, werden sie umgebracht.“ Dass diese Strategie auch in der Gegenrichtung funktioniert, musste nun sein Nachfolger erfahren, der knapp mit dem Leben davonkam. Die Taliban haben nicht aufgegeben, sondern sich angepasst: Sie imitieren das amerikanische Konzept, die Anführer ihrer Feinde zu töten. Am Demonstranten, Anschlagsort in Taloqan am 28. Mai, Verletzter: Der Mob tobte 8. Oktober 2010 starb der GouErsten Ermittlungen nach handelte es spannt, Gouverneur Abdul Jabar Taqwa verneur von Kunduz, als die Aufständischen beim Freitagsgebet eine Bombe in sich bei dem Sprengsatz, der den „Mar- pries die spendable Bundeswehr als „eieiner Moschee zündeten; am 10. März der“ zerstört hat, um rund hundert Kilo- nes meiner Fachministerien“. In der Nacht zum 18. Mai hatte es wie2011 sprengte sich ein Selbstmordattentä- gramm Sprengstoff, die in der Straße verter neben dem Polizeichef von Kunduz, graben waren. Die Bombe war so kon- der einmal eine Operation der amerikaAbdul Rahman Sayedkhili, in die Luft; struiert, dass der Druck der Explosion nischen Special Forces gegeben, diesmal am 15. April starb der Polizeichef von direkt nach oben geleitet wurde. Der Pan- in der Nähe von Taloqan im Weiler GawKandahar, Khan Mohammed Mudscha- zer, berichten Soldaten, sei mehr oder mali, wo vor allem Usbeken leben. Ein hid, als ein Selbstmordbomber in seinem minder in zwei Teile zerborsten. Im Schneider habe dort die Aufständischen Hauptquartier detonierte. Am 28. Mai er- Chaos nach der Explosion brauchten die mit Westen für Selbstmordattentäter verwischte es nun General Mohammed Sanitäter quälend lange, um die Verwun- sorgt. Laut Isaf erhoben seine Frau und Daud Daud sowie General Shah Jahan deten und den gefallenen Soldaten aus seine Tochter die Waffen gegen die Soldaten und reagierten nicht auf WarnschüsNuri, den Polizeichef von Takhar. „Auge dem Wrack zu bergen. Der „Marder“ führte eine Kolonne von se und Rufe. Am Ende waren sie tot, ebenum Auge“, beschreibt ein deutscher Offizier in Kabul die neue Strategie der Tali- rund 20 Fahrzeugen der Bundeswehr an. so wie der Schneider und ein Gast. Im Morgengrauen verbreitet sich das ban, „für jeden von uns getöteten Top- Die Soldaten waren an dem Tag zu einer Talib müssen wir nun mit einem Anschlag Suche nach versteckten Bomben ausge- Gerücht: „Die Ausländer“ hätten vier Ziauf einen Top-Beamten der afghanischen rückt, nachdem sie am 29. Mai einen Tipp vilisten getötet und die beiden Frauen zuvon einer afghanischen Quelle bekom- vor vergewaltigt. Sie hätten das friedliche Regierung rechnen. Die Fülle der tödlichen Anschläge ist men hatten. Sie fanden den beschriebe- Dorf Gawmali überhaupt nur heimgewohl nur damit zu erklären, dass die Ta- nen Sprengsatz und machten ihn unschäd- sucht, um Terror zu verbreiten. Am Morgen gegen acht zieht eine erste liban die afghanischen Sicherheitskräfte lich. Danach entschloss sich die Patrouille, breit unterwandert haben. Der afghani- nach weiteren Bomben zu suchen, und Welle von Protestierern mit vier Leichen, sche Geheimdienst NDS geht davon aus, fuhr deshalb auf der Straße weiter. Als die in geblümte Decken gehüllt sind, dass es in den Reihen der Afghanischen der erste „Marder“ die Stelle mit der durch Taloqan zum deutschen Posten, zu 38
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den Ausländern. Steine fliegen, Warnschüsse werden abgegeben, die Menge zieht sich zurück. Aber zwei Stunden später kommt die nächste Welle, 2000, 3000 Leute, manche haben Molotow-Cocktails und Handgranaten dabei und versuchen, das deutsche Lager zu stürmen. Die afghanischen Wachleute und die Bundeswehrsoldaten schießen zurück. Am Abend sind 12 Demonstranten tot, 75 Verletzte liegen in den Krankenhäusern. Am Tag nach dem Zwischenfall meldet die Bundeswehr, es lägen „keine Erkenntnisse vor, dass Angreifer durch Schüsse deutscher Soldaten getötet worden sind“. Am Tag darauf hieß es: „In einem Fall ist nach derzeitiger Erkenntnis ein Treffer im Hals-Kopfbereich nicht auszuschließen.“ Damit war angedeutet, dass deutsche Soldaten womöglich doch einen Angreifer erschossen haben. Ein Untersuchungsbericht der Uno sagt nun, dass die Bundeswehr in Taloqan drei
ma-Büro stürmte, drei Uno-Diplomaten und vier Wachmänner massakrierte. Weil eine Demonstration angekündigt war, hatten die Kommandeure den nepalesischen Wachmännern untersagt, zu schießen. Woran sie sich hielten – bis ihnen Eindringlinge die Waffen entrissen und die Nepalesen damit umbrachten. Ein Problem ist inzwischen, dass sich Präsident Hamid Karzai meist flink auf die Seite der afghanischen Opfer stellt. Er entsandte umgehend eine Kommission nach Taloqan. Sie sprach den Angehörigen des Schneiders und der anderen Opfer das Beileid des Präsidenten aus und übergab ihnen als Entschädigung je 50 000 Afghani, rund 1100 Dollar, als Entschädigung. Ihnen wurde zudem je ein 500 mal 500 Meter großes Stück Farmland versprochen. Für die Stimmung in Taloqan ist das ohne Belang: Die Ausländer töten, heißt es nun. Die letzten deutschen Aufbauhel-
Angreifer erschossen hat. Demnach war fer der GIZ und das gesamte Uno-Persodie Lage so: Der Mob tobte, vier afghani- nal werden abgezogen, das Vertrauen ist sche und zwei deutsche Soldaten waren zerstört. Waren es in Masar-i-Scharif noch Talibereits verletzt, der Generator brannte. Die Deutschen hätten die korrekten Me- ban und ihre Sympathisanten, die loszothoden der Eskalation angewandt, zu- gen, um zu töten, so hatte der Aufruhr in nächst mit Signalpistolen geschossen, da- Taloqan schon mit den Machtkämpfen nach Warnschüsse in die Luft abgegeben, der Zukunft zu tun: Die größte Bevölkerungsgruppe in der Provinz sind Usbeken dann erst scharf geschossen. Die Uno nennt dies ein „angemesse- – aber die Macht und die wichtigsten Posnes“ Verhalten. Zur gleichen Schlussfol- ten haben die Tadschiken inne. Es seien gerung kommt ein deutscher Untersu- die örtlichen Warlords der Usbeken gechungsbericht, den das Verteidigungsmi- wesen, heißt es, die den Moment des nisterium ähnlich wie das Bildmaterial Zorns genutzt hätten, ihre Männer zum der Überwachungskameras des Stütz- Aufruhr zu treiben. „Es ist doch unser punkts seit gut einer Woche sorgsam un- Recht, friedlich zu demonstrieren, oder?“, ter Verschluss hält. Die Berichte sind aus- fragt Maulawi Lutfullah lächelnd, der örtgewogen – in Taloqan aber werden die liche Führer der Usbeken-Partei Jonbesh. Wie friedlich es sei, Handgranaten und Deutschen nun gehasst. Dabei konnten sie nur verlieren. Hät- Molotow-Cocktails ins deutsche Lager zu ten sie sich nicht gewehrt, hätte es ver- werfen? Nun, „keine Ahnung, wo die hermutlich so geendet wie am 1. April in kamen“. Dann droht er, weiterhin läMasar-i-Scharif: Das Gerücht von der Ko- chelnd: „Wenn die Regierung sich nicht ran-Verbrennung in den USA trieb dort um uns kümmert, uns keine Posten gibt, einen Mob auf die Straße, der das Una- werden wir sehen, was wir tun!“ D E R
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Lange haben die Isaf-Offiziere, die Aufbauhelfer und Diplomaten geglaubt, dass die Wirklichkeit in Afghanistan rationalen Mustern folge. Doch spätestens am 1. April in Masar ist allen die fatale Kombination von Gerüchten und der Schlagkraft des Mobs vorgeführt worden. Die Taliban sind die Ersten gewesen, die vor Jahren Ressentiments gegen die Ausländer geschürt haben, so erfolgreich, dass es in allen politischen Lagern populär geworden ist, gegen Ausländer zu sein. Auch Präsident Karzai macht da mit. Vor wenigen Tagen warnte er den Westen: Brächten westliche Soldaten noch einmal Zivilisten um, werden die Afghanen sie als feindliche Besatzer verdammen. Der nationale Sicherheitsberater des afghanischen Präsidenten, Rangin Dadfar Spanta, bekräftigte das noch: „Es ist Karzais letztes Wort zu dieser Sache, es sollte ernst genommen werden. Die Stimmung in der Bevölkerung wird jetzt gegen die Nato kippen, wenn nichts passiert.“ Und was soll passieren? Könnten Verhandlungen mit den Taliban den Konflikt lösen? „Sie können hilfreich sein, wenn Pakistan bereit ist, den Friedensprozess zu unterstützen. Das ist nicht der Fall. Die Kalkulation Pakistans ist eine andere: Der Westen ist offensichtlich müde und zieht sich bald zurück. Dann kann Pakistan Afghanistan endlich als strategischen Raum nutzen. Darum geht es.“ Spanta will, dass die Deutschen bleiben, er sehe den Krieg gegen die Taliban als „eine gemeinsame Sache“. Er selbst bleibe ja auch, obwohl es eine Todesdrohung gegen ihn gebe. Die Lehre der vergangenen Wochen ist, dass dieser Krieg manchmal zu schlafen scheint, aber dann wacht er auf und schlägt mit neuer Wucht zu. Neue Fahrzeuge, neue Geräte werden das nicht verhindern, neue Strategien wohl auch nicht. Es gab schon einige. An den Mustern des Nordens haben sie nichts verändert: eine relative Ruhe über Tage und Wochen, dann ein tödlicher Angriff. Will Deutschland das aushalten? Ein Abzug hieße, dass der Krieg ganz schnell eskalieren würde. Es gäbe keine toten Deutschen mehr, aber sehr viele tote Afghanen. Der Krieg, der sich jetzt abspielt, ist nichts gegen den Krieg, der kommen wird. Die Kräfte zu schonen, laute die Maßgabe der Taliban-Führung aus Pakistan, sagt ein westlicher Nachrichtendienstler in Kunduz. „Alle bringen sich in Stellung für den Tag X, nach dem Abzug der Isaf-Truppen.“ MATTHIAS GEBAUER, SUSANNE KOELBL, CHRISTOPH REUTER
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Deutschland
VERKEHR
Gefährliches Gewusel Nie zuvor waren in den Städten so viele Fahrradfahrer unterwegs, doch es werden viel zu wenige Radwege gebaut. Auch deshalb sind die Unfallzahlen dramatisch hoch.
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Deutschlands Radfahrer leben gefährlicher als alle anderen Verkehrsteilnehmer. Ihr Risiko, schwer verletzt oder getötet zu werden, ist deutlich höher als das von Auto- und Motorradfahrern. Etwa 76 000 Fahrradfahrer kamen 2009 zu Schaden, 462 verloren ihr Leben, davon etwa die Hälfte Senioren über 65 und Kinder unter 15, die leicht übersehen werden. Sind die Fahrradfahrer womöglich selbst schuld an ihrem Unglück? Der Auto Club Europa warnt vor „rücksichtslosen Rabauken“, Kommunalpolitiker aus ganz Deutschland schimpfen über RadRambos, die rote Ampeln ignorieren, als Geisterfahrer unterwegs sind und verkehrswidrig durch Fußgängerzonen brettern. Da sei es doch kein Wunder, dass die Zahl der Unfälle in München gegenüber dem Vorjahresquartal um 40 Prozent gestiegen sei. Anfang April meldete sich dann sogar Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer zu Wort. Der CSU-Mann wetterte über „eine deutlich wahrnehmbare Gruppe von Radfahrern“, die zum Regelbruch neige. Die Pedalritter müssten stärker kontrolliert werden und brauchten dringend strengere Regeln, fordert auch der Deutsche Verkehrsgerichtstag. Radelnde Rowdys sind zweifellos eine Realität auf deutschen Straßen, aber zur
Fahrradparkplatz in Münster: Jeden Tag 15 000-mal
JEAN-MARIE TRONQUET / MÜNSTERVIEW / DER SPIEGEL
s ist 9.30 Uhr an diesem sonnigen Frühjahrstag, als in Berlin-Köpenick eine junge Mutter von einem Toyota gerammt wird. Ihr Rad wird auf die Straße gedrückt, der Kindersitz fällt ab, ihr knapp zweijähriger Sohn liegt plötzlich auf der Fahrbahn und schreit. Der Junge hat Glück, die anderen Autos können bremsen, doch seine Mutter muss mit Knochenbrüchen ins Krankenhaus eingeliefert werden. Es ist der erste schwere Radlerunfall an diesem Tag in Berlin, danach geht es im Halbstundentakt weiter. So wie jeden Tag. In Berlin, in München und den anderen deutschen Städten, in denen der Fahrradverkehr zunimmt. Nur wenig später kollidiert ein 40-jähriger Mann mit einem Linienbus und wird schwer am Kopf verletzt. Ein Fahrradfahrer fliegt über den Lenker, weil er vor einem stehenden Auto scharf bremsen muss. Andere geraten in den Gegenverkehr, werden von abbiegenden Autos übersehen, knallen vor plötzlich aufgerissene Pkw-Türen oder krachen mit Spaziergängern zusammen. Am Ende des Tages zählt die Berliner Polizei 26 schwere Unfälle mit Radlerbeteiligung. Etliche Zwischenfälle sind erfahrungsgemäß gar nicht erst gemeldet worden, weil sie nur mit Schürfwunden und Lackkratzern endeten.
Polizist Bäumer: „Vielen fehlt es an Manieren“
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Wahrheit gehört auch, dass die meisten Unfälle mit Radfahrern von Autofahrern und anderen Straßenbenutzern verursacht werden. „Viele Kommunen haben zu wenig getan, um die Sicherheit der Radfahrer zu erhöhen“, sagt Arne Koerdt, Leiter der Fahrradakademie am Deutschen Institut für Urbanistik, „jetzt gibt es vielerorts ein gefährliches Gewusel.“ Obwohl die Zahl der Radler von einem Rekordhoch zum nächsten steige und heute fast doppelt so hoch sei wie vor zwei Jahrzehnten, gehe es in vielen Städten und Gemeinden immer noch „in erster Linie um die Autofahrer“, sekundiert GerdAxel Ahrens, Verkehrswissenschaftler an der Technischen Universität Dresden. Radler krachen ineinander, weil die Radwege nicht verbreitert wurden, sie geraten unter abbiegende Lastwagen, weil die Kreuzungen unübersichtlich sind, oder sie knallen vor Begrenzungspfosten und Laternenpfähle, die längst hätten demontiert werden müssen. In vielen Städten und Gemeinden fehlt es schlicht an Kenntnissen „über die Bedeutung sicherheitsrelevanter Anlagenmerkmale“, schreibt die Bundeanstalt für Straßenwesen in einem Bericht („Unfallrisiko und Regelakzeptanz von Fahrradfahrern“). So seien es nicht nur individuelle Fehler, sondern auch „Entwurfsmängel“, die das Unfallgeschehen prägten.
Erhöhtes Risiko Unfallbeteiligte in Berlin 2010, in Prozent Motorisierte Zweiräder 0,8
Sonstige 7,0
Radfahrer 53,0
Pkw 33,0
Quelle: Berliner Polizeipräsident
an der Ampel gesündigt
Etliche Kommunen schaffen es noch nicht einmal, ihre bestehende Radler-Infrastruktur in Schuss zu halten. So kommt die Stadt Köln zu dem Ergebnis, dass etwa 60 Prozent der städtischen Radwege den Fahrradfahrern nicht mehr zuzumuten seien, weil zum Beispiel seit Jahren Baumwurzeln aus dem Boden brechen. Jetzt sollen weit über 300 Kilometer Wege saniert werden, doch pro Jahr stehen dafür lediglich 1,5 bis 2 Millionen Euro zur Verfügung. Ähnlich dramatisch sei es in vielen Städten Ostdeutschlands und des Ruhrgebiets, hat Verkehrsexperte Ahrens festgestellt. Auch dort gebe es viele „fürchterliche Holperstrecken“, die oft plötzlich endeten und verwirrend entworfen seien. Viele der Furten seien auch noch von Autos zugeparkt, ohne dass entschlossen dagegen vorgegangen werde, kritisiert die zuständige Bundesanstalt. Radverkehrsexperten, die kürzlich bei einem Kongress in Berlin zusammenkamen, forderten die Bundesregierung auf, die jährlichen Mittel für Radwege und andere Radverkehrsanlagen auf etwa eine Milliarde Euro aufzustocken. Derzeit sind es 86 Millionen, die der Bund investiert. Dennoch wirbt die Politik unverdrossen dafür, dass noch mehr Menschen in den Städten Rad fahren. Drei Millionen Euro zahlt allein der Bund in diesem Jahr für PR-Maßnahmen, um den Bürgern zu
erklären, dass man beim Radeln prima Fett verbrennen, Spritkosten sparen und die Umwelt schonen kann. Weil mehr als die Hälfte aller städtischen Autofahrten kürzer als sechs Kilometer seien, gebe es beim Radeln noch viel Spielraum nach oben, heißt es. Doch wohin mit den vielen zusätzlichen Menschen, die in Zukunft durch Deutschlands Städte radeln sollen? Wer ein Gefühl dafür bekommen will, wie schwer es ist, den Verkehrsraum anzupassen, sollte Stephan Böhme besuchen, Verkehrsplaner aus Münster. Die selbsternannte Radfahrerhauptstadt hat neben Städten wie Bremen, Kiel und Freiburg den höchsten Radverkehrsanteil Deutschlands. An manchen Tagen ist mehr als jeder dritte Verkehrsteilnehmer mit der „Leeze“ unterwegs, wie das Rad in Münster genannt wird. Böhme sitzt im zweiten Stock eines gläsernen Verwaltungsgebäudes, an seiner Tür kleben ein Sticker mit der Aufschrift „I like bike“ und ein Poster mit Schutzblechfiguren aus den vergangenen Jahrzehnten. Das alles wirkt irgendwie gemütlich, wie so vieles in der Beamtenund Studentenmetropole. Doch bei Böhmes Arbeit geht es mittlerweile immer öfter um Leben und Tod. Vor kurzem hat der Ingenieur mit seinen Mitarbeitern mal wieder eine neue Liste mit Maßnahmen erstellt, die drinD E R
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Fußgänger 3,4
Lkw 2,8
gend umgesetzt werden müssten. Sie enthält 1700 Stichpunkte. Böhme hat etwa fünf Millionen Euro zur Verfügung, um die Liste abzuarbeiten, reichen werde das Geld wohl eher nicht, sagt er. Es geht um neue Markierungen für Radfahrstreifen, um Bordsteine, die abgesenkt werden müssen, und um zusätzliche Ampelanlagen. Es geht auch um so banale Fragen wie die, wo die vielen Radler eigentlich noch parken sollen. Obwohl das Fahrradparkhaus am Bahnhof schon erweitert wurde, werden geeignete Stellplätze knapper. Viele Studenten lassen nach einem Umzug ihre Karren einfach an Ort und Stelle stehen und kaufen sich am neuen Wohnort ein neues Rad. Die Stadt schickt seit einiger Zeit Ein-Euro-Jobber in die City, die als Parkwächter für Räder fungieren. Die Männer und Frauen rücken den ganzen Tag über parkende Velos zusammen, damit Kunden überhaupt noch in Läden und Eltern mit Kinderwagen reibungslos über den Gehweg gelangen können. Die größten Sorgen machen Böhme derzeit allerdings die Fahrstrecken, die langsam zu schmal werden. Schon jetzt ist mehr als jeder dritte Fahrradunfall in Münster eine Kollision auf dem Radweg. Leider sei davon auszugehen, dass die Zahl demnächst noch steigen werde, befürchtet Böhme. Es gebe zwei relativ neue Radlergruppen, die besonders viel Platz beanspruchten. Eltern mit Kinderanhängern und schwer zu manövrierenden Lastenrädern, die störrisch wie Esel seien und im Notfall kaum ausweichen könnten. Und Fahrräder mit Hilfsmotoren, sogenannte E-Bikes und Pedelecs. Selbst altersschwache Radler können die Gefährte ohne große Anstrengungen auf bis zu 25 Kilometer in der Stunde beschleunigen und brauchen dann viel Platz zum Überholen. „Wo sollen wir den hernehmen?“, fragt sich Böhme. Gehwege für Fußgänger schmaler machen? Bäume fällen? Wilhelm Hörmann aus Bremen glaubt, die Antwort zu kennen. Der Verkehrsreferent des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs (ADFC) und seine Vereinsmitglieder bringen seit Jahren die Autofahrerlobby mit einer unpopulären Forderung gegen sich auf. Sie wollen den Autos Platz abzwacken und die Radler verstärkt auf die Straße schicken. „Das ist ein schwerer Kampf“, sagt Hörmann während einer Tour über Bremens Radwege, auf denen oft ein kurzes Zucken am Lenker genügt, um mit einem anderen Fahrradfahrer zu kollidieren. Dabei sind die Städte mittlerweile verpflichtet, den Radlern verstärkt den Weg auf der Straße frei zu machen. Hintergrund ist die Klage eines ADFC-Mitglieds aus Regensburg. Der Mann zog stellvertretend für den Club vor Gericht, um die „Radwegebenutzungspflicht“ zu kippen, 41
Deutschland die überall dort gilt, wo die blauen Radschilder aufgestellt sind. Der Mann schaffte es Ende 2010 bis vors Bundesverwaltungsgericht in Leipzig – und siegte. Die Benutzungspflicht kann jetzt nur noch angeordnet werden, wenn „aufgrund der besonderen örtlichen Verhältnisse“ eine Gefahrenlage besteht, die das allgemeine Risiko erheblich übersteigt. Viele der blauen Schilder hätten daher längst abgebaut werden müssen. Passiert ist das bisher eher selten. Dabei vermuten einige Experten, dass dadurch die Sicherheit erheblich erhöht werden könnte. Wenn Radfahrer über Radwege in Kreuzungen führen, sei die Unfalldichte gegenüber Radfahrstreifen auf der Straße „etwa doppelt so hoch“, hat die Bundesanstalt ermittelt. Viele würden wegen ungünstiger Sichtverhältnisse derzeit von abbiegenden Autofahrern nicht wahrgenommen. Polizisten wie der münstersche Oberkommissar Michael Bäumer sind indes skeptisch, was die Straßentauglichkeit deutscher Radler angeht. „Vielen fehlt es an Manieren und Regelkenntnis“, sagt er. Bäumer und sein Kollege Christian Fenner sind an diesem Morgen mit ihren weißen Dienst-Mountainbikes zum Ludgeri-Kreisel ausgerückt, wo sich an Tagen wie diesem Zehntausende Autos und Fahrräder gefährlich nahe kommen.
Nach fünf Minuten vor Ort haben die beiden Polizisten schon vier minderjährige Stoppschild-Sünderinnen und einen Studenten mit Kopfhörern herausgewinkt. Dann eiert ein älterer Herr mit Körbchen am Lenker heran, der offenbar mit seiner Ehefrau telefoniert. „Den ziehe ich jetzt auch noch raus“, sagt Bäumer und fordert den Mann auf, sich hinten anzustellen in der VerkehrssünderSchlange. Die Polizisten kassieren insgesamt knapp hundert Euro von den Re-
„Wir müssen etwas gegen die vielen Berauschten tun, die durch unsere Städte geistern.“ gelbrechern, der Handy-Telefonierer muss 25 Euro zahlen. Am meisten ist bei Radlern zu holen, die bei Rot über die Ampel fahren. Allein in Münster wird nach Schätzungen der Polizei Tag für Tag 15 000-mal an der Ampel gesündigt. Wer erwischt wird, muss 45 Euro zahlen. Weil die Zahl der radelnden Regelbrecher so hoch ist, raten Verkehrsexperten wie Münsters oberster Polizist Hubert Wimber dazu, Radfahrer stärker als bisher zu kontrollieren und Fehler konsequent zu ahnden. Der erste deutsche Polizeipräsident mit grünem Parteibuch
will zudem das Regelwerk für die Leezen-Fahrer erheblich verschärfen. Ginge es nach ihm, würde eine Kennzeichenpflicht für Radler eingeführt, so dass Geisterfahrer, Rotlichtsünder und Unfallflüchtige auch nachträglich noch ermittelt werden könnten. Von einer Helmpflicht hält Wimber dagegen genauso wenig wie das Bundesverkehrsministerium oder der ADFC. Das hätte wohl nur den Effekt, dass sich Menschen aus optischen Erwägungen komplett vom Rad verabschieden würden, und das könne keiner ernsthaft wollen, gibt Wimber zu bedenken. Um die Zahl schwerer Verletzungen zu senken, ist dem Polizeipräsidenten etwas anderes viel wichtiger. „Wir müssen unbedingt etwas gegen die vielen Berauschten tun, die durch unsere Städte geistern“, sagt er. Jeder vierte Radler, der in Deutschland einen Unfall baut, ist betrunken oder bekifft. Wenn Verkehrspolizisten während der Streife vermuten, ein Radler könnte zu tief ins Glas geschaut haben, können sie ihm bisher lediglich einen Atemalkoholtest „anbieten“ und ihm „empfehlen“, sein Gefährt auch im Interesse anderer Verkehrsteilnehmer stehen zu lassen. Bestraft werden kann der Verdächtige erst, wenn er 1,6 Promille hat. Einen solchen Wert erreicht ein Mann (1,80 Meter groß und 75 Kilo schwer), wenn er neun große Bier getrunken hat. Und vier Korn. GUIDO KLEINHUBBERT
Stuttgart-21-Demonstranten
Bauarbeiten unter Polizeischutz?
ALLGAIER / ULLSTEIN BILD
in Baden-Württemberg ab, mit Peter Hauk hat er mehrfach telefoniert. Auch der Fraktionschef im Landtag drängt auf eine harte Linie. „In Baden-Württemberg hat die Mehrheit der Bürger Parteien gewählt, die Stuttgart 21 unterstützen“, sagt Hauk. „Aus dem Wahlergebnis lässt sich kein Richtungswechsel ableiten. Auch die Grünen müssen lernen, dass geltendes Recht einzuhalten ist.“ Mitten in diesem Minenfeld findet sich nun die Deutsche Bahn. Natürlich wünscht sich der Konzern den neuen Bahnhof, offiziell stellt er sich deshalb darauf ein, die Bauarbeiten wieder aufzunehmen. Aber nicht um jeden Preis. DB-Manager können sich, auch aus Imagegründen, kaum vorstellen, dass die Bahn das Projekt monate- oder gar jahrelang nur unter Polizeischutz realisiert. Selbst Bahn-Chef Rüdiger Grube, ein erklärter Fan des Megaprojekts, ging gegenüber dem geheim tagenden Bundesfinanzierungsgremium schon auf Abstand. Er wies die Finanzpolitiker darauf hin, dass er schließlich dieses Projekt nur geerbt habe. Erst „wenn der Betrag von 4,526 Milliarden Euro für Stuttgart 21 nicht eingehalten wird, darf ich die Reißleine ziehen“, so Grube laut einer internen Sitzungsmitschrift. Genau dazu dürfte es früher oder später kommen, denn die Kostenspirale dreht sich. Die zwischen Bahn, Bund und Land vereinbarte Obergrenze von 4,5 Milliarden Euro kann schon jetzt allem Anschein nach nur noch auf dem Papier mit arithmetischen Kunststückchen gehalten werden. Denn das Problem der Bahn ist, dass sie zentrale Abschnitte des Projekts erst spät ausgeschrieben hat. Im Oktober war der Bewerbungsschluss für die beiden Bahnhofstunnel. Zuvor mussten die Angebote für das unterirdische Bahnhofsgebäude abgegeben werden. Günstigster Bieter für die Tunnel war ein ausländisches Baukonsortium und für den Bahnhof die Stuttgarter Züblin AG, ein Tochterunternehmen des Baukonzerns Strabag. Das Vergabeverfahren fiel in eine ungünstige Zeit. Die ersten Vorarbeiten hatte die Bahn gestoppt, nachdem Zehntausende Stuttgarter Woche für Woche an den Bauzäunen protestiert hatten. Die Stimmung in der Landeshauptstadt war aufgeladen, CDU-Mann Heiner Geißler sollte schlichten zwischen Bürgern, Bahn und Politik. Dass nicht alle Aufträge schon längst vergeben waren, lag offenbar an einer mangelhaften Vorbereitung durch die
BAHN
Stresstest für Grün-Rot Stuttgart 21 wird zur Machtprobe zwischen Berlin und Baden-Württemberg. Bundesverkehrsminister Ramsauer will mit dem Projekt die neue Regierung unter Druck setzen. Stuttgart 21 darf nicht sterben – so lautete die Botschaft für den grünen Hauptstadtbesucher. Der Untergrundbahnhof in Baden-Württemberg erfüllt für Union und FDP längst einen Zweck, der über Verkehrspolitik hinausgeht. Die Berliner Koalition will das umstrittene Bahnprojekt auch nutzen, um die Durchhaltefähigkeit der neuen Regierung in Stuttgart zu testen. Stuttgart 21 soll zum Stresstest für Grün-Rot werden. Anführer der harten Linie ist Ramsauer. Der Bundesverkehrsminister hatte sich in der Sache lange Zeit zurückgehalten. Bahn und Projektbetreiber sollten das untereinander ausfechten. Seit den Landtagswahlen ist das anders. Ramsauer stimmt sich inzwischen eng mit CDU-Politikern
MARIJAN MURAT / DPA
A
m Freitagmorgen erhielt Winfried Kretschmann Nachhilfe in Realpolitik. Eine Stunde lang, die meiste Zeit unter vier Augen, machte Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) dem Ministerpräsidenten aus Stuttgart klar, dass er aus Berlin keine Hilfe erwarten kann. Warum sollte er, Ramsauer, dem Grünen aus der Klemme helfen? Kretschmann war gekommen, um über Stuttgart 21 zu reden. Neben der Atomkatastrophe in Japan hatte ihm auch der Streit um den Bahnhofsumbau zur Macht verholfen und die CDU nach 57 Jahren aus der Regierung verdrängt. Jetzt wollte er Ramsauer für eine Verlängerung des Baustopps gewinnen, doch der winkte ab. Könnte die Bundesregierung dann nicht wenigstens beim Schadensersatz einspringen und einen Teil der Forderungen übernehmen, die durch die langen Bauverzögerungen wahrscheinlich entstehen? Ramsauer zuckte nur mit den Achseln. Dann zog der Bundesminister einen Ausriss aus der „Frankfurter Allgemeinen“ vom vergangenen Dienstag hervor. Ein Vorstandsmitglied der Deutschen Bahn (DB) forderte darin, der Eigentümer der Bahn – also der Bund, also Ramsauer – müsse nun entscheiden, wie es mit dem Bahnhof weitergehen solle. Ramsauer hatte den Satz farbig markiert und daneben geschrieben: „So ein Quatsch.“ Es war „ein deutliches Gespräch“, sagte Kretschmann danach schmallippig.
Kontrahenten Kretschmann, Grube
„Die Reißleine ziehen“ D E R
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Deutschland
„Die Bahn wird bauen“ Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer, 57 (CSU), über seine Konflikte mit der Stuttgarter Landesregierung Baden-Württemberg, ist aber in sich gespalten. Die SPD ist dafür, die Grünen sind dagegen. Das ist ein Problem, das nicht ich als Bundesverkehrsminister lösen kann. SPIEGEL: Immerhin in einem sind sich Grüne und SPD in Stuttgart einig. Wenn die Kosten für das Projekt 4,5 Milliarden Euro übersteigen, wird das Land sich nicht an den Mehrkosten beteiligen. Ramsauer: An diesem Punkt sind die Projektträger aber nicht. Der Kosten-
CHRISTIAN THIEL / DER SPIEGEL
SPIEGEL: Muss der grüne Regierungschef in Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, bald Polizisten einsetzen, um die Bauarbeiten für Stuttgart 21 sicherzustellen? Ramsauer: Ich hoffe nicht, dass dies nötig wird. Notfalls muss Ministerpräsident Kretschmann aber dem Baurecht zur Geltung verhelfen. Auch wenn das für ihn keine leichte Aufgabe ist. Als grüner Spitzenkandidat kann man ja gern gegen Stuttgart 21 demonstrieren, als grüner Ministerpräsident muss man sich an Verträge halten. SPIEGEL: Warum entscheiden Sie nicht einfach über einen Baustopp? Immerhin ist der Bund Eigentümer der Bahn. Ramsauer: Das ist eine Entscheidung, die nur die Vertrags- und Projektpartner von Stuttgart 21 treffen können. Der Bund ist kein Projektpartner. Er hat lediglich zugesichert, sich mit einem Festbetrag von derzeit 564 Millionen Euro an der Einbindung der Neubaustrecke Wendlingen–Ulm in den Knoten Stuttgart zu beteiligen. Wenn zum Beispiel das Land BadenWürttemberg einseitig aussteigen will, muss es für den Schaden aufkommen, der den anderen dadurch erwächst. Die Bahn wird sich jedenfalls vertragstreu verhalten. SPIEGEL: Muss man nicht auf die Ergebnisse des Stresstests warten, bevor die Bagger wieder rollen? Ramsauer: Auch diese Frage müssen die Projektpartner untereinander klären. Die Deutsche Bahn hat sich bisher schon zu Konzessionen bereit erklärt. Sie hat die Schlichtung genauso akzeptiert wie den Stresstest. Zudem hat sie mit der Fortführung der Bauarbeiten gewartet, bis die neue Regierung im Amt ist. Das ist jetzt seit dem 12. Mai der Fall. Eine politische Verhandlungsmasse gibt es bei Stuttgart 21 nicht. SPIEGEL: Geht es überhaupt noch um Verkehrspolitik? Oder bestehen Sie auf Stuttgart 21 nur, weil das Streit in die neue Landesregierung trägt? Ramsauer: Natürlich geht es um Verkehrspolitik. Herr Kretschmann und ich stehen in der Kontinuität der Verträge, die unsere Vorgänger abgeschlossen haben. Für die Umsetzung sind die Vertragspartner verantwortlich, also unter anderem das Land und die Bahn. Ein wesentlicher Partner,
Bahn. Ihre Projektmanager haben immer wieder umgeplant, modifiziert und letztlich wohl auch noch falsch kalkuliert. Selbst Grube war überrascht, dass das Projekt noch bei seiner Amtsübernahme 2009 mit Baukosten aus dem Jahr 2004 kalkuliert war. „Jeder weiß: Wenn ich im Jahre 2004 ein Haus plane und das im Jahr 2010 bauen will, dann stimmen die Kosten nicht“, sagte Grube bereits im vergangenen September Haushaltspolitikern des Bundestags. Diese Unachtsamkeiten werden das Milliardenprojekt zusätzlich verteuern. Denn selbst die Preise, die in den Angeboten der Baukonzerne vom Herbst standen, gelten nicht mehr. Die Bieter können nun neu kalkulieren und ihre Angebote korrigieren – auch nach oben. Bahn-Manager rechnen inzwischen mit Kostensteigerungen von mindestens zehn Prozent. Allein für die im vorigen Jahr ausgeschriebenen Aufträge wären das mehr als hundert Millionen Euro. Die Baukonzerne haben Zweifel, ob die Bahn angesichts der politischen und finanziellen Risiken das Projekt überhaupt zu Ende führen will. Züblin-Finanzvorstand HansJoachim Rühlig drohte schon mit Schadensersatzforderungen: „Die Bahn muss die begonnenen Ausschreibungen zu Ende führen.“ Im Mai versammelten sich Abgesandte von Baukonzernen in Stuttgart zu einem Seminar („Bauen mit der Bahn“). Es ging um Stuttgart 21 und die schleppende Auftragsvergabe. „In der Branche kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Bahn schon an finanziell attraktiven Ausstiegsszenarien bastelt“, sagt der Berliner Rechtsanwalt Ralf Leinemann, der die Veranstaltung leitete. Und so könnte ein solches Szenario aussehen: Baden-Württemberg zahlt der Bahn 1,4 Milliarden Euro, die Summe, die der Konzern bisher immer als Ausstiegskosten genannt hat. Ein Teil des Geldes würde die Bahn aber wieder in Stuttgart investieren, in die Ertüchtigung des alten Kopfbahnhofs. Allein um das Gleisnetz mit zeitgemäßer Technik auszurüsten, würde wohl mindestens eine Milliarde Euro fällig. Und Kretschmann? Schon am Abend seines Wahlsiegs hatte Ramsauer ihm unmissverständlich gedroht: „Wenn die Landesregierung ein bestimmtes Verkehrsprojekt nicht bauen will, kann der Bund blitzschnell reagieren.“ Die für Stuttgart 21 vorgesehenen Bundesmittel könnten dann in andere Vorhaben fließen – zum Beispiel den Ausbau der Münchner S-Bahn. PETER MÜLLER,
Bahnhofsfan Ramsauer
„Man muss sich an Verträge halten“
rahmen steht: Noch ist man etwa 400 Millionen Euro von dieser Obergrenze entfernt. Alles deutet darauf hin, dass die Obergrenze eingehalten werden kann. SPIEGEL: Das sehen viele Experten anders. Ist es nicht Ihre Aufgabe, nach einer Lösung zu suchen, bevor es wieder zu Massendemonstrationen kommt? Ramsauer: Mir liegt viel daran, dass Ruhe einkehrt. Die Schlichtung war ein guter Weg. Mit dem Stresstest soll das Projekt ja optimiert werden. Ich habe dem Ministerpräsidenten aber deutlich machen müssen, dass ich ihm bei Stuttgart 21 die Verantwortung nicht abnehmen kann. Alle Vertragspartner sind aufgerufen zu verhindern, dass es wieder zu gewaltsamen Ausschreitungen kommt. Solange die Partner nicht anders entscheiden, wird die Bahn ihren Auftrag erfüllen und bauen.
ANDREAS WASSERMANN
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Gesellschaft
Szene
Was war da los, Herr Möller? war, Miss Baba aus dem Gebäude zu kriegen: 30 Stufen runter und dann aus der Tür. Die Elefantenkuh ist seit 1857 tot. Sie stammte aus Indien und war damals die Attraktion in einem Wanderzirkus. Haut und Skelett wurden nach ihrem Tod verkauft und präpariert. Nun stand sie im Naturkundemuseum, und wir sollten sie zu einer Ausstellung transportieren. Das Präparat ist zerbrechlich, es gibt keinen Griff, an dem man es anfassen kann. Also schoben wir zwei Balken unter dem Bauch durch und hoben Miss Baba an. Sie wiegt etwa 150 Kilogramm, die Haut fühlt sich hart an wie Pappmaché. Draußen kam ein Windstoß, und das Tier fing an zu schwanken. Auf dem Lastwagen setzten wir uns dann zwischen die Füße, um es zu stabilisieren. Zum Glück ist Miss Baba nicht runtergefallen – der Rüssel wäre wahrscheinlich abgebrochen.“
Möller (2. v. r.)
und zu hingehockt, die Knie angezogen und meinen Kopf daraufgelegt. Gewaschen habe ich mich in öffentlichen Toiletten. SPIEGEL: Warum waren Sie damals ins Heim gekommen? Sabrina Tophofen, 29, Tophofen: Mein Vater hat mich körperZahntechnische Assistenlich und sexuell misshandelt. Als ich tin aus Köln, über ihr zehn war, habe ich ihn angezeigt. Leben als Straßenkind Das Jugendamt hat mich ins Heim gebracht. SPIEGEL: Sie sind mit elf aus dem KinderSPIEGEL: Dort hielten Sie es nicht aus? heim abgehauen und haben sieben Jahre Tophofen: Die anderen Mädchen haben lang auf der Straße gelebt. Wie ging das? mich gequält. Einmal fesselten sie mich an einen Stuhl und rasierten mir Tophofen: Ich habe Lebensmittel im Sudie Haare ab. Ich konnte dort nicht permarkt geklaut. Und im alten Kaufbleiben. hof in Köln gab es ein Restaurant, da habe ich mir manchmal Kartoffeln in SPIEGEL: Wie ist es möglich, dass eine die Jackentasche gesteckt. Ich hatte Elfjährige in Deutschland obdachlos ist? aber auch Freunde, die Tophofen: Ich kann es bis Geld und Essen von der heute nicht begreifen. Der Fürsorge bekamen und Einzige, der sich für mein mit mir teilten. Schicksal interessierte, war ein Polizist. Er war SPIEGEL: Wo haben Sie sehr nett zu mir, konnte geschlafen? aber nicht viel tun: Da Tophofen: Manchmal ich unter 14 war, konnten haben uns Streetworker sie mich nicht ins Zimmer organisiert. Aber Gefängnis stecken, im Grunde habe ich nie obwohl ich oft straffällig richtig geschlafen. Tagswurde. Tophofen (l.) 1995 über habe ich mich ab JUGEND
JO SCHWARTZ
„Meine Mutter hat versagt“
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Stefan Möller, 23, Veranstaltungstechniker aus Gotha, über zerbrechliche Elefanten: „Die erste große Schwierigkeit
SPIEGEL: Was war das Schlimmste?
Tophofen: Die Angst, nie wieder ein richtiges Zuhause, eine Familie zu haben. SPIEGEL: Es gab eine Zeit, in der Sie aufgegeben hatten. Tophofen: Als ich 13 war, wollte ich mich mit Drogen umbringen, das zweite Mal habe ich versucht, mich zu erhängen. Ich wollte mich wohl auch an meiner Familie rächen und zeigen, was passiert, wenn man ein Kind so behandelt. Ich habe mir vorgestellt, wie sie um mich weinen. SPIEGEL: Verzeihen Sie Ihren Eltern? Tophofen: Jahre später hat meine Mutter sich entschuldigt. Eine Zeitlang war das für mich eine Erleichterung. Aber heute ist mir klar: Sie hat vollkommen versagt. SPIEGEL: Sie haben mit 20 angefangen, die Schule nachzuholen. Wie sind Sie von der Straße weggekommen? Tophofen: Aus eigener Kraft und durch die Unterstützung meines jetzigen Mannes. Er hat mich ermutigt, noch einmal zur Schule zu gehen. Sabrina Tophofen, Veronika Vattrodt: „So lange bin ich vogelfrei“. Arena Verlag, Würzburg; 176 Seiten; 9,95 Euro.
Gesellschaft
Szene
Gefällt mir Warum die Grünen einen Bürgermeister über Facebook suchen
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neun Mitglieder sind noch vom Bündnfang April setzte sich Klaus nis 90 übrig geblieben. Die BündnisPeschel mit ein paar Freunden Grünen kommen aus der Bürgerbewevon der Partei zusammen und gung, sie hatten das Ziel, in einem freiüberlegte, wie man die Grünen vor en Land zu leben. Dieses Ziel ist nun dem Untergang retten könnte. Der Unschon länger erreicht; was Peschel tergang droht am 19. Juni, an diesem braucht, ist irgendetwas Frisches. Tag wählt die Stadt Uebigau-WahrenEr fand die Lösung, als er mit seiner brück einen Bürgermeister. Tochter über Facebook chattete und Wir könnten es mit Facebook versich erkundigte, wie ihr Praktikum im suchen, sagte Peschel. Krankenhaus laufe. Facebook ist alles, Im Internet?, fragte ein Kollege. Ja, sagte Peschel, wir könnten mit Facebook einen Bürgermeisterkandidaten suchen. Peschels Heimat liegt in Südbrandenburg, im Landkreis ElbeElster. In diesem Landkreis ist Peschel der Vorsitzende der Grünen. Er macht das ehrenamtlich, hauptberuflich vermisst er Gräben für den Gewässerunterhaltungsverband. In Peschels Wahlkreis leben 112 142 Menschen, 9 davon sind Mitglied bei den Grünen. Keiner von diesen neun Grünen hat Lust darauf, hauptamtlich Bürgermeister zu sein. Peschel selbst will nicht Bürgermeister werden, sagt er, weil er ungern im Mittelpunkt steht. Er sei kein Alphatier. Er hat auch keine Zeit für einen Wahlkampf. Einen Arbeitsplatz gibt niemand her in Südbrandenburg, erst recht nicht für die Kandidatur um einen Posten bei den Grünen. Heisig Die Grünen sind eine verlorene Partei in dieser Gegend, bei der letzten Bundestagswahl bekamen sie im Kreis Elbe-Elster 3,5 Prozent der Zweitstimmen. Studenten, also mutmaßliche Grünen-Wähler, gibt es keine, Alt-Ökos auch nicht, eine Bio- Aus der „Süddeutschen Zeitung“ Boheme wie in Großstädten erst was die Grünen im Kreis Elbe-Elster recht nicht. Viele Menschen im Kreis nicht sind: jung, stark an Mitgliedern, Elbe-Elster beschäftigen sich damit, erfolgreich und immer gutgelaunt. wie sie ihren Magen füllen und die Facebook wirbt nicht mit einem AntiStromrechnung bezahlen können. PeAtom-Button, sondern hat einen Geschel sagt, bei solchen Menschen sei fällt-mir-Button. Peschel wollte das schwer zu punkten mit Programmen für die Partei nutzen. zur Förderung von biologisch gepflanzKurze Zeit später stand auf Faceten Möhrchen und mit Atomkraft?book: „Bürgermeisterkandidat geNein-danke-Buttons. sucht“. Es ist dasselbe Prinzip, mit Peschels Grüne haben es nicht dem die SPD jetzt ihren Kanzlerkanleicht, die richtigen Themen zu finden, didaten finden möchte, das Prinzip auch für sich selbst. Die meisten der 48
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von Parteien offenbar, die gerade nicht weiterwissen. Ein paar Tage nachdem Peschel das Gesuch online gestellt hatte, fand er elf Bewerbungen in seinem E-MailPostfach. Eine Frau aus Köln bewarb sich, die in einem Callcenter arbeitet, und ein Münchner Universitätsdozent, der sich mit regenerativen Energien beschäftigt. Einer der Bewerber war Gerald Heisig aus Eberswalde in Nordbrandenburg. Ein paar Wochen zuvor war Heisig nicht einmal Mitglied bei Facebook gewesen. Dann hatte ein Freund angerufen, er solle sich da anmelden. Wieso?, hatte Heisig gefragt. Da gibt’s einen Job als Bürgermeister, hatte der Freund geantwortet. Heisig erfuhr bei Google, dass so ein Bürgermeister ungefähr 4000 Euro verdient, brutto. Er fand das in Ordnung. Mitte Mai lud Peschel alle Bewerber in eine Gastwirtschaft, die „Kronprinz“ heißt. Von den elf Bewerbern kamen nur ein Sozialarbeiter aus Niedersachsen und Gerald Heisig. Peschel versuchte, eine Skype-Verbindung zu dem Münchner Uni-Dozenten herzustellen, aber der meldete sich nicht mehr. Der Sozialarbeiter war irgendwie blass. Aber dieser Heisig gefiel Peschel, als er sich vorstellte. Gerald Heisig, 46 Jahre alt, engagiert sich bei den Grünen seit vergangenem Herbst. Engagement heißt in seinem Fall, dass er zu den Sitzungen seines Kreisverbandes geht und redet. Er ist geborener Ostfriese, ausgebildeter Gärtner, ausgebildeter Naturkostverkäufer und ausgebildeter Erzieher. Er studiert seit eineinhalb Jahren Ökolandbau in Eberswalde. Er isst gern Getreide. Was er konkret in UebigauWahrenbrück ändern will, kann Heisig noch nicht benennen, da müsse man mal gucken, sagt er. Auf jeden Fall wolle er die Bürger mehr einbeziehen. Klaus Peschel lauschte aufmerksam. Er hat moderne Politik gewollt und Gerald Heisig bekommen. Einen 46-jährigen Studenten mit Pferdeschwanz, der schon Gärtner, Verkäufer und Erzieher war. Das Internet hat ihn zu Peschel gebracht, im Namen des Volkes. Peschel und seine Parteifreunde wählten Heisig mit sieben von sieben Stimmen zu ihrem Bürgermeisterkandidaten. TAKIS WÜRGER THOMAS GRABKA / DER SPIEGEL
EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE
ARNE WEYCHARDT / DER SPIEGEL
Gesellschaft
Ein Drei-GängeMenü für 7,19 Euro: Pilzsuppe, Nudeln mit Hackfleischsauce, Waffeln mit Eis
ERNÄH RUNG
Das Schweigen der Hühner Woher kommt unser Essen? Was steckt darin? Solche Fragen stellen sich Deutsche nur, wenn Dioxin in Eiern gefunden wird oder Menschen sterben, weil sie Rohkost essen. Der SPIEGEL hat ein Drei-GängeMenü gekocht und die Herkunft seiner Zutaten geklärt. Von Barbara Hardinghaus und Takis Würger 50
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Fleisch-Qualitätsmanager Börger: „Das hier ist die Champions League“
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ir sind niemandem Rechenschaft schuldig“, sagt Susanne Lucka, Pressesprecherin der Kuchenmeister GmbH. „Der Herr Geschäftsführer ist leider in einem Meeting“, heißt es aus dem Sekretariat der Jomo Zuckerbäckerei Ges.m.b.H. „Mein Marketing-Chef würde den Artikel gern lesen, bevor er erscheint“, sagt Marion Oberbeck, die Sprecherin der Campbell’s Germany GmbH in Lübeck.
„Kein Kommentar“, sagt Alexander Moosmann, Geschäftsführer der Radolf Nahrungsmittel. „Sie wollen sich also die Produktion direkt ansehen? Eher nicht“, sagt eine Mitarbeiterin von Westfleisch e. G. in Münster und lacht. Es ging um die Frage, ob es möglich ist, sich anzusehen, wie Hackfleisch entsteht, irgendwo in Deutschland. Es geht um die Frage, ob es möglich ist, dabei zu sein, wenn Essen entsteht in diesem Land. Das ist eine Frage, die sich die Deutschen normalerweise nicht stelD E R
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len. Den meisten ist es egal, woher ihr Essen kommt. Das Essen kommt von irgendwo. Über dieses Irgendwo will der Verbraucher nur etwas wissen, wenn es für ihn gefährlich werden könnte. Woher das Essen kommt, wird für ihn dann von Belang, wenn Kühe verrückt werden, Dioxin im Rührei steckt oder wenn Gemüse mit gefährlichen Durchfallbakterien verschmutzt sein könnte. Ehec, das kannten die Deutschen bis vor ein paar Tagen nicht. Nun steht der Verbraucher im Supermarkt, hilflos fast, 51
Gesellschaft Pfifferling-Cremesuppe, 400 Milliliter, 1,39 Euro. Wer den Weg der Suppe zurückverfolgt, fährt nach Seesen in Niedersachsen, zu Sonnen Bassermann, läuft durch ein großes Tor und betritt eine Welt, in der es Menschen gibt, deren Aufgabe es ist, zu verstehen, wer der Verbraucher ist und was er will. Sie müssen das wissen, weil sie wollen, dass der Verbraucher ihr Produkt kauft. Der Verbraucher sieht sie nicht. Aber sie sehen den Verbraucher. Diese Menschen haben eine schwere Aufgabe, weil der Verbraucher seltsam ist. Eigentlich ist der Verbraucher ein recht komischer Vogel. An einem Konferenztisch in der ersten Etage sitzt ein Mann, der diesen Vogel versteht. Dirk Helmboldt ist ein ruhiger, JÖRG MÜLLER / AGENTUR FOCUS / DER SPIEGEL (L.); ARNE WEYCHARDT / DER SPIEGEL (U.)
und denkt wieder darüber nach, was er noch in seinen Einkaufswagen legen darf. Der Verbraucher hat Angst, weil ihm klar wird, dass er keine Ahnung hat. Der SPIEGEL ist in verschiedene Discounter gegangen und hat eingekauft für ein zufälliges Menü mit drei Gängen, Massenware für den Massenkonsum. Das Menü kostet 7,19 Euro für vier Personen. Die Vorspeise: Pilzsuppe. Der Hauptgang: Nudeln mit Hackfleischsauce. Das Getränk: spanischer Rotwein. Die Nachspeise: Waffeln mit Vanilleeis. In den Regalen der Supermärkte begann die Suche nach einer Antwort auf die Frage, warum der Verbraucher nicht weiß, was er isst. Um die Menschen zu
Massentierzucht in Niedersachsen: „600 Schweine in einer Stunde“
treffen, die die Bestandteile des Menüs herstellen, mussten 89 E-Mails geschrieben werden, und manchmal vergingen Wochen, bis eine Antwort kam. Die Suche führt aus Deutschland hinaus nach Spanien, Italien, Holland, Belgien und dann wieder quer durch Deutschland, es ist die Reise in eine Welt mit einer eigenen Sprache und mit Regeln, die nur der kennt, der dazugehört. Es ist der Trip in eine Unterwelt. Wer diesen Trip erlebt hat, wird daraus die Lehre ziehen: Essen schmeckt besser, wenn man nicht weiß, wo es herkommt.
Die Vorspeise: Pfifferling-Cremesuppe Der Trip beginnt mit dem Kauf der Vorspeise in einem Real-Markt in Hamburg. Auf der Dose ist ein Bild zu sehen, das einen Löffel zeigt, in dem eine braune Flüssigkeit mit Pilzen schwimmt. Von der Rückseite lächelt ein Koch mit weißer Kochmütze. 52
grauer Mann mit Schnauzer und rahmenloser Brille, er spricht mit sanfter Stimme über den Verbraucher, geduldig, väterlich fast. „Schwebende Pilze“, sagt Helmboldt, die wünsche sich der Verbraucher. Die Pilze sollen nicht auf dem Grund in der Suppe liegen, sie sollen darin fliegen wie Blüten in der Luft. Helmboldt arbeitet seit vielen Jahren bei Sonnen Bassermann, jetzt überwacht er die Qualität. Seine Firma stellt Suppen, Eintöpfe und Fertiggerichte her, Grünkohl, Hacksteaks, Königsberger Klopse in Menüschalen. Helmboldt weiß, was der Verbraucher sich wünscht, er wünscht sich, was er kennt, Tomatensuppe und Gulaschsuppe. Neben ihm am Tisch sitzt eine junge Frau im Blazer, blond, mit Pagenschnitt. Sie ist vom Marketing und will die Marke Sonnen Bassermann erklären. Die Marke D E R
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gehöre zu Heinz, einer alten amerikanischen Firma. Um zur Pilzsuppe zu kommen, zeigt die Marketing-Frau einen Film über Tomatenketchup. „100 Prozent Kitchen“, sagt sie anschließend, das sei die Leitidee. 100 Prozent Kitchen heißt: höchstmögliche Transparenz. Die Zutatenliste soll sich einmal lesen lassen wie ein Rezept zum Nachkochen in der eigenen Küche. „Wir wollen Schritt für Schritt dahin“, sagt Helmboldt. Er spricht in seinem ruhigen Ton und zeigt mit der einen Hand, wo die Entwicklung für 100 Prozent Kitchen heute steht, und mit der anderen Hand, wo sie einmal enden soll. 100 Prozent Kitchen wäre die friedliche Vereinigung von zwei entfernten Lagern, der Industrie und dem Verbraucher. Helmboldt lächelt fein, seine Hände liegen noch ein ganzes Stück auseinander. Die Suppe hat 24 Zutaten, verkocht in 2000-Kilo-Kesseln. Zwei der Zutaten sind aus der Region, aus Niedersachsen, die Zwiebeln aus Twistringen, die Sahne aus Warmsen. Zehn Zutaten stammen aus dem Rest Deutschlands, drei aus Italien, zwei aus den Niederlanden, weitere zwei aus Frankreich, eine aus England. Der weiße Pfeffer, die Zitronensäure und die Ascorbinsäure kommen aus China und Vietnam. Das Guarkernmehl, das auch in der Suppe enthalten ist, stammt aus Indien, aus dem Samen der Guarbohne. Guarkernmehl ist ein Füllstoff, ein Verdickungsmittel. Es schmeckt nach nichts. Es macht, dass die Pilze schweben. Der Verbraucher mag Pfifferlinge, die ganz sind. Er mag keine Stückchen. Die Pilze aus der Cremesuppe kommen tiefgefroren in Zehn-Kilo-Kunststoffbeuteln. Sie stammen zu 46 Prozent aus der Ukraine, zu 40 Prozent aus Weißrussland, zu 14 Prozent aus Polen. Der Verbraucher mag auch keine Flocken. Die Textur einer Suppe muss cremig sein und glatt wie Pudding. Dafür sorgen Stärke und andere Verdickungsmittel. Seit 2008 sind auch keine künstlichen Farbstoffe mehr enthalten in den Produkten, seit 2003 steht „Ohne Zugabe von Geschmacksverstärker Glutamat“ auf der Pfifferling-Cremesuppen-Dose. Der Verbraucher hasst Glutamat, seit er glaubt, Glutamat mache hungrig, dick und krank. Stattdessen steht das Wort Hefeextrakt auf der Suppendose. Hefeextrakt enthält ebenfalls Glutamat, aber laut Gesetz gehört es nicht zu den Geschmacksverstärkern, die auf einer Verpackung ausgewiesen sein müssen. Außerdem klingt Hefeextrakt besser.
In einer Kühltruhe bei Netto liegt eine Schale mit Schweinehackfleisch, 500 Gramm kosten 1,89 Euro. Auf der Verpackung steht ein Herrenhaus auf einer Wiese, gerahmt von Bäumen. Die Marke heißt Gut Ponholz. Das Schweinefleisch, das in der Packung steckt, kommt aus verschiedenen Schlachthäusern des Fleischvermarkters Vion. Keines dieser Schlachthäuser heißt Gut Ponholz. Eines dieser Schlachthäuser steht in Emstek, einem Ort in der Nähe von Cloppenburg. Schweine, die dort ankommen, steigen in einen Paternoster, die Fahrt dauert 160 Sekunden und führt durch eine Kammer mit 85 Prozent CO2. Die Schweine schlafen ein. Ein Mann klemmt ihre Hinterhufe an einen Haken. Die Schweine zeigen keine Reaktion, wenn ein weiterer Mann ihnen ein Hohlstechmesser in die Hauptschlagader drückt und das Blut aus ihren Adern lässt. „Wir schaffen 600 Schweine in der Stunde“, sagt ein Mann, der neben dem Schlauch steht, er lächelt, er trägt einen weißen Kittel, auf der linken Brusttasche steht U. Börger, auf seiner Visitenkarte steht Group Quality Manager. „Das hier ist die Champions League“, sagt er. Manager Börger schaut lächelnd zu, wie alle sechs Sekunden ein Schwein leergesaugt wird. Er sagt: „Das Entbluten nach vorheriger CO2-Betäubung gewährleistet einen stressfreien Tod, was essentiell für ein gutes Produkt ist.“ Börger geht durch das Schlachthaus, er hält vor einem Podest, auf dem Menschen mit langen Messern stehen, sie schneiden Schweinen den Darm aus der Karkasse. Das sei ein CCP, ein Critical Control Point. Dieser Punkt sei critical, weil hier die Gefahr der Fäkalkontamination bestehe. Das Wort CCP habe man sich bei der amerikanischen Raumfahrtbehörde Nasa abgeschaut, sagt Börger, ein stolzer Mann mit einem Haarnetz auf der Glatze. Nasa, CCP, Group Quality Manager, es könnte der Eindruck entstehen, Ulrich Börger würde Schweine ins All schicken wollen, nicht ins Kühlregal von Netto. Börger folgt den Schweinen, die an Haken baumeln, unter ihnen fließt ein schmaler Bach aus Blut. „Gleich kommt’s“, sagt er und geht ein wenig schneller. „Kuka“, sagt er und nickt ein paarmal in Richtung einer Maschine. Kuka ist ein Roboter. Mit seinen Armen trennt er Schweinen den Kopf vom Nacken.
Kuka-Roboter helfen beim Zusammenbauen von Ferraris und Möbeln von Ikea. Sie helfen Ulrich Börger dabei, der perfekten Schlachtung ein wenig näher zu kommen. Perfekt heißt, maximale Masse, maximale Geschwindigkeit. Ulrich Börger arbeitet in Emstek an der Schlacht-Rakete. Der Gedanke an Gut Ponholz ist an diesem Ort verlorengegangen. Wenn man wissen möchte, woher die Schweine stammen, landet man nicht auf Gut Ponholz, sondern im Stall von Lothar Lampe, hinter den Mauern eines flachen Hauses aus roten Ziegeln auf einem Acker in Niedersachsen. Lampe ist 66 Jahre alt, mit Schweinen beschäftigt er sich seit 66 Jahren. Er züchtet, weil sein Vater das getan hat und sein Großvater.
„Die meisten Eber sind kastriert, und wenn sie noch Ferkel sind, schleifen wir ihnen die Zähne flach“, sagt Lampe. Sonst würden die Ferkel den Säuen die Zitzen blutig beißen. Abschleifen muss sein, weil die Säue mittlerweile 13 Ferkel säugen, früher waren es mal 8. Gelegentlich stirbt eines seiner Tiere, Herzstillstand oder so, sagt Lothar Lampe. Den Kadaver zieht er aus dem Stall und fährt ihn zur Tierkörperbeseitigungsanstalt. Dort wird das Schwein gemahlen. Das Mehl verfüttert Lampe an seine Schweine, ungefähr ein Prozent seiner Futtermischung besteht aus Tiermehl. „So bleibt alles ein Kreislauf“, sagt er. Lothar Lampe mästet kannibalische, schwanzlose, flachzahnige Tiere. Es gibt
ARNE WEYCHARDT / DER SPIEGEL (L.); RIGHI/MERIDIANA/ROPI (R.)
Die Hauptspeise: Nudeln mit Hackfleischsauce
Tomatenernte in Italien: Billigere Konkurrenzprodukte aus China
Wenn man ihn fragt, wie hoch die natürliche Lebenserwartung eines Schweins sei, sagt er: sechs Monate. Wenn ihm seine Mast mal zu viel wird, setzt er sich auf einen Hochsitz und schießt einen Fasan zur Entspannung. Lampe steigt in einen Einteiler aus grünem Stoff und geht in den Stall. „Riecht doch gut“, sagt er. Es riecht nach Schweinekot. Lampe betritt einen Raum mit 16 Boxen, in jeder Box liegen 14 Schweine, ein Schwein hat einen Lebensraum von 0,8 Quadratmetern, das ist so groß wie ein Duschbecken. Die Schweine stehen auf Beton, der von 1,8 Zentimeter breiten Spalten durchzogen ist. Durch die Spalten soll die Gülle ablaufen. 1800 Schweine hat Lothar Lampe insgesamt. Aus ihren Schultern wird Hackfleisch. D E R
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Tierschützer, die sagen, dass die Schweine von Lothar Lampe ein unnatürliches Leben leben. Lampe sagt, er hätte gern weniger Tiere, das wäre ja auch weniger Arbeit, der Verbraucher müsste dann aber mehr zahlen für sein Hackfleisch. 1,89 Euro für 500 Gramm sei nur möglich, weil er so eine große Masse an Schweinen mäste. Masse ist so etwas wie der Schlüsselbegriff für die Herstellung von Lebensmitteln. Physiker sprechen von Masse häufig im Zusammenhang mit Geschwindigkeit. Es gilt die Gleichung Masse mal Beschleunigung gleich Kraft. Lothar Lampe hat überschaubare Kenntnisse der physikalischen Kräftelehre, aber er mästet nach einer ähnlichen Gleichung, Masse mal Geschwindigkeit gleich Gewinn. Es ist die goldene Gleichung der Lebensmittelindustrie. Nach 180 Tagen lädt Lothar Lampe seine Schweine auf einen Lastwagen mit zwei Stockwerken und schickt sie auf 53
Gesellschaft „Der Müll“, sagt Marcello Bensi. In einem großen Kessel wird aus diesem Müll Tomatenmark gekocht. Später mischt eine Maschine das Tomatenmark mit Leitungswasser und Salz und füllt es in kleine Päckchen mit dem Aufdruck „King’s Crown Passierte Tomaten“, Öko-Test: sehr gut. So landet der Müll auf deutschen Tellern. So etwas dürfte kein Supermarkt in Italien als passierte Tomaten verkaufen, sagt der Tomatenagent. Marcello Bensi kennt die Deutschen. Er hat eineinhalb Jahre lang im Bayerischen Wald gearbeitet. Er sagt: „In Italien muss Essen gut sein, in Deutschland billig.“ Deutschland ist ein Discounter-Land. Bensi steigt in seinen weißen Geländewagen und philosophiert darüber, warum
MATTHIAS JUNG / DER SPIEGEL (L.); ARNE WEYCHARDT / DER SPIEGEL (U.)
eine 40 Minuten währende Reise, nach Emstek zu Ulrich Börger. Damit aus dem Hackfleisch eine Sauce wird, braucht es Tomaten. Bei Aldi-Nord sind sie zu Püree verarbeitet und verpackt in einem roten Tetrapak, der pralle Tomaten zeigt mit grünem Strunk, der aussieht wie eine kleine Krone. Darüber steht „King’s Crown“, in edel geschwungenen Buchstaben. 500 Gramm kosten 29 Cent. Der Mann, der glaubt, die Wahrheit zu kennen, heißt Marcello Bensi und bezeichnet sich als Tomatenagenten. Er vermittelt zwischen italienischen Farmern und deutschen Großhändlern. „Ich bin im Passata-Business“, sagt er. Bensi erinnert an ein Model von Dolce & Gabbana, er trägt ein tailliertes Jackett
Eierfarm in Belgien: Glück kann man nicht verkaufen
und ein weißes Einstecktuch. Er sagt, er sei der wichtigste Tomatenagent Italiens, und wirkt so, als habe er zu häufig den Film „Der Pate“ gesehen. An diesem Tag führt Bensi über das Gelände einer Tomatenfabrik in Fontanellato, einer kleinen Stadt in der Provinz Parma, und erklärt, warum die Deutschen sich ernährten wie Barbaren. In den zwei Monaten Erntezeit laden hier in der Fabrik am Tag 150 Lastwagen Tomaten ab. Aus dieser Fabrik stammen die passierten Tomaten der Marke „King’s Crown“. Eine Maschine wiegt und selektiert die Tomaten und verteilt sie auf drei Linien, sagt Bensi. Eine Linie für ganze Dosentomaten. Eine Linie für passierte Tomaten, Bensi nennt sie Passata. Eine Linie für Tomatenmark. In die Tomatenmark-Linie, behauptet Bensi, komme alles, was zu schlecht sei oder zu hässlich für die beiden anderen Linien, grüne Tomaten, gelbe Tomaten, matschige, schwarze, fleckige Tomaten. 54
die Deutschen alle beim Discounter kaufen und in Italien nur die Unterschicht, wie er sagt, aber eigentlich weiß er es nicht. Die Tomaten von Aldi seien übrigens mit das Beste, was in dieser Preisklasse in deutschen Regalen stehe, das Tomatenmark komme wenigstens noch aus Italien, sagt Marcello Bensi. Er lächelt. „Ich sage nur China.“ Bensi erzählt nun, was er glaubt, wie das Passata-Business häufig laufe. Firmen aus Süditalien würden Tomatenmark aus China in 240-Liter-Stahlfässern importieren. Dieses Tomatenmark werde mit italienischem Leitungswasser gemischt und als „Passierte Tomaten aus Italien“ verkauft. 95 Prozent der günstigen passierten italienischen Tomaten, das zumindest glaubt Bensi, kämen aus China. In den Stahlfässern der Massenproduktion verlieren Wörter wie Ursprung und Tradition ihre Bedeutung. Die Chinesen D E R
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liefern billigeres Tomatenmark als die Italiener, also bekommen die Chinesen den Auftrag vieler Discounter. Die italienische Mama, die in einem großen Kessel Tomatenmark anrührt, existiert nur noch in den Köpfen einiger Verbraucher. Dem Hauptgang fehlen noch die Nudeln. Bei Netto liegt eine 500-GrammTüte für 45 Cent im Regal, „Nudelglück“ steht auf der Verpackung. Das Nudelglück kommt aus Sachsen, der Unternehmer versucht, mit einem Reisebus Licht in die Unterwelt zu bringen. Der Bus fährt die Kunden bis in das Werk. Früher gab es noch einen zweiten Bus. „Aber der ist jetzt kaputt“, sagt Oliver Freidler. Freidler ist Anfang dreißig, blond, ein bisschen rundlich und ist, zusammen mit seinem Bruder, seit kurzem Geschäftsführer von Teigwaren Riesa. Sie stehen in einem Raum, der aussieht wie ein kleines Kino. Oliver Freidler lässt das Rollo herunter, er möchte einen Film vorführen, den sonst die Besucher gucken. Der Film zeigt, wie das Nudelwerk 1914 gegründet wurde und wie es beinahe verlorengegangen wäre nach der Wende. Freidlers Vater, der schon ein Nudelwerk in Baden-Württemberg besaß, übernahm es. Freidler möchte ein gutes Verhältnis zu den Kunden. Er tut viel dafür. Im Nudel-Center gibt es ein Kochstudio mit Kochkursen, die „MakkaroniZeitung“ und das Makkaroni-Restaurant. 250 Besucher kommen jeden Tag. Freidler geht voran durch sein Werk, er beginnt beim Grieß. An diesem Tag werden Spaghetti hergestellt, der „SchlemmerLiebling“. Der Grieß wird mit Wasser vermischt, der Teig kommt vom Vormischer in den Hauptmischer, von dort in die Spaghetti-Matritze, die Nudeln werden geschnitten und knapp fünf Stunden lang getrocknet. Freidler steigt die Treppen im alten Backsteinhaus hoch. Er will zeigen, wie die Nudeln in die Folie kommen. „Pasta Riesa ohne Ei“ werden gerade verpackt. Der Karton hat die Aufschrift „Teigwaren Riesa“. Über ein anderes Band in der Mitte der Halle laufen Kartons, die anders aussehen. Sie sind rot und haben keine Aufschrift. Oliver Freidler wäre beinahe wortlos daran vorbeigelaufen. Was das sei? Das sei das Nudelglück, sagt er nach einer kleinen Pause. Nudelglück-Eiernudeln, 500 Gramm, 45 Cent bei Netto. Oliver Freidler spricht nicht gern über das Nudelglück. Er spricht gern über den
Der Wein: Rosengarde, lieblich Ganz unten im Weinregal von Real steht eine Rotweinflasche mit dem Namen „Rosengarde, lieblich“, zum Preis von 1,29 Euro. Die Reise zum Wein dauert ein paar Stunden, sie geht mit dem Flugzeug nach Madrid, von dort zweieinhalb Stunden mit dem Auto in die Stadt Socuéllamos. Am Stadtrand in einem Restaurant sitzt ein alter Mann an einem Tisch, gedeckt mit Tellern warmer Blutwurst und Manchego, und wird zufällig Zeuge, wie ein paar Männer sein Leben zerreden. Weinagenten, Weingroßhändler und Weinverkäufer, sie sprechen über Tempranillo. Die Männer trinken Bier. Der alte Mann hält ein Glas roten Wein in beiden Händen. Er ist Winzer. Tempranillo sei genau das Richtige für Deutschland, sagt einer. Sweet and cheap, sagt ein anderer. Und dann haut ein Mann aus der Schweiz auf den Tisch, niemand wolle Tempranillo, sagt er, es gebe viel zu viel davon. Der stille alte Mann heißt Jacinto Trillo López, er ist 62 Jahre alt, Vater von Jacinto Trillo López junior und Weinbauer in fünfter Generation. Er ist der Präsident der Weingenossenschaft Cristo de La Vega. Señor López trinkt seinen Wein und geht nach Hause, an der Tür sagt er: „Kommen Sie auf mein Land, und machen Sie sich Ihr eigenes Bild, buenas noches.“ Señor López und die Bauern produzieren Rosengarde, lieblich. Am nächsten Morgen steht López auf seinem Feld, er bepflanzt etwas mehr als 80 Hektar Land, eine Fläche zweimal so groß wie der Vatikan. Seine Heimat ist La Mancha, Land des Manchego, des harten Schafskäses, flaches Land, steiniger Boden. Wein ist das Einzige, was Bauern hier anständig kultivieren können. „Wein mag Stress“, sagt Señor López. Stress gibt es in La Mancha ein wenig zu viel, findet López.
Im Bordelais und an der Mosel binden Winzer die Triebe ihrer Pflanzen auf Gerüste, der Anbau ist eine Kunst, die Ernte teuer. In La Mancha wachsen Weintrauben an Büschen wie Johannisbeeren. Die Pflücker können die Rispen im Vorbeigehen von den Reben rupfen. Tempranillo heißt die Traube, die López anbaut. Er trinkt seinen Wein jeden Tag, als Kind goss ihm die Mutter Rotwein ins Zuckerwasser. Er würde nie etwas anderes anbauen, sagt er. Señor López erntet so viel, dass er aus Teilen seiner Trauben Industriealkohol destillieren lassen muss. Er hat über tausend Winzerkollegen in seiner Genossenschaft, fast alle pflanzen Tempranillo. Die Firma, die Rosengarde abfüllt für Real, zahlt ungefähr 30 Cent für einen Liter.
den Teufelskreis größer. Señor López hoffte, dass sein Leben einfacher würde über die Masse. Es wurde schwerer. Heute ist La Mancha ein Weinfeld. Die Region produziert mehr als doppelt so viel Wein wie ganz Deutschland. Weiß er, dass viele Deutsche seinen Wein für Fusel halten? Jacinto Trillo López geht stumm über sein Feld, vorbei an knorrigen Weinbüschen, und sagt nichts mehr.
Das Dessert: Waffeln mit Vanilleeis Bei Rewe gibt es sie im Achterpack zu 59 Cent, Frischei-Waffeln. Die Folie der Verpackung ist durchsichtig, auf einem Aufkleber winden sich zwei Ähren um den Schriftzug „Aldente“.
ARNE WEYCHARDT / DER SPIEGEL (L.); GENÍN ANDRADA / DER SPIEGEL (R.)
Schlemmer-Liebling, den Fitmacher oder den Gold-Traum, alles Produkte von Teigwaren Riesa. Das Nudelglück gehört nicht dazu, es geht an einen Discounter. Welcher das ist, sagt er nicht. „Die Qualität der Zutaten ist mit dem Kunden abgestimmt“, sagt er. Das Nudelglück besteht aus Hartweizengrieß, Weichweizenmehl und zu 1,8 Prozent aus Trockeneigelb, Pulverei. Aus Eiern, die auch aus Bodenhaltung sind? Freidler sagt, dass er das nicht wisse.
Bodega in La Mancha: „Das Richtige für Deutschland – sweet and cheap“
30 Cent für einen Liter sortenreinen Wein. Traubensaft ist manchmal teurer im Einkauf. Señor López muss erleben, dass die goldene Gleichung versagt. Es gibt so viel Wein in La Mancha, dass er keinen Wert mehr hat. Der Wein von Señor López könnte noch günstiger sein, aber die Deutschen erwarten von einem Wein für 1,29 Euro, dass er süß ist, und deshalb mischen Señor López und seine Kollegen Traubensaftkonzentrat zu. Traubensaftkonzentrat ist Sirup, fast nur Zucker. Señor López findet, das ruiniere den Wein. Aber er hat gelernt, dass seine Logik längst im Wein ersoffen ist. Er macht ihn, wie die Deutschen es ihm sagen, sweet and cheap. Damit er seine Familie ernähren kann, hat er in den vergangenen Jahren mehr Land gepachtet, viele Winzer taten das Gleiche. Mit jeder neuen Rebe zogen sie D E R
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Der elegante Herr, der sich mit den Worten „Klingelingeling, ich bin der Eiermann“ vorgestellt hat, spaziert durch einen Hühnerstall in Belgien und lacht. Er trägt eine silberblonde Scheitelfrisur, lilaglänzende Krawatte und sieht sehr glücklich aus zwischen den 30 000 Hühnern. „Käfighaltung ist ja eigentlich das Schönste, was es gibt“, sagt er. Aber Käfighaltung ist in Deutschland nicht mehr erlaubt. Der Eiermann heißt Theo Degens, die Eier aus diesem Stall verkauft er an die Firma Wafel Janssen, einen niederländischen Waffelbäcker. Theo Degens hätte gern auch einen seiner Käfighühnerställe gezeigt, aber das macht er nicht, die Deutschen seien da zu empfindlich, sagt er. „Bodenhaltung ist auch ganz gut, aber nicht so gut wie Käfighaltung“, sagt Degens. Neun Hühner leben in dieser Bodenhaltung auf einem Quadratmeter, jedem Huhn bleibt eine Fläche, die etwa so groß 55
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sich das Werk von außen ansehen. Und von innen? Er begrüße jeden gern in seinem Büro, sagte Augustin. Sämtliche Fragen sollen vorab eingereicht werden, es müsse zugesichert sein, dass in der Berichterstattung nur aus den schriftlichen Antworten zitiert werde. Dann dürfe jemand kommen und gucken, auch im Werk. Augustin läuft hastig über seinen großen Zeh voran in eines der weißverklinkerten Gebäude und sagt, dass er froh sei über diese Lösung. Der Eismix fließt über Leitungen in den Freezer, eine Art großer Gefrierschrank, und weiter in die Verpackung. Über die Bänder rollt ein Vanilleeis. Die letzte Station verschließt es mit einem Deckel. Auf dem Deckel steht „Landliebe“. Der Landliebe-Deckel sieht schön aus, eine gemalte Vanilleblüte ist darauf gedruckt und ein bauchiges Kännchen mit Milch. Es ist nicht das Eis, um das es ging in den Gesprächen, Botterbloom Vanilla, Eis mit Vanillegeschmack. Auf dem Botterbloom-Deckel ist kein Kännchen mit Milch zu sehen. Im Eis ist keine Milch, sonBrüder Freidler, Nudelwerk in Riesa Gold-Traum und Schlemmer-Liebling dern Kokosfett. In diesem Vanilleeis ist auch keine Vanille drin. geben, Menschen wie der „Botterbloom Vanilla ist ein ,Eis mit Eiermann Theo Degens, Vanillegeschmack‘, das deklarieren wir der Tomatenagent Marcel- deutlich so auf dem Produkt, wir bilden lo Bensi, der Winzer Jacin- auch keine Vanilleblüten auf der Packung to Trillo López oder wie der Eismann ab, und das Produkt enthält keine gemahRobert Augustin. lenen Vanilleschoten (schwarze Stippen), Augustin kann Eis herstellen, das in um nicht zu suggerieren, dass es sich um der Ein-Liter-Packung bei Edeka für 1,29 ein Produkt mit echter Vanille handelt“, Euro im Regal liegt, „Botterbloom Vanil- erklärt Augustin in einer E-Mail. la, Eis mit Vanillegeschmack“. Er findet, dass die Verpackung vom Robert Augustin ist ein schmaler Mann Botterbloom-Eis ehrlich sei. Die Wahrheit mit kanariengelber Krawatte, angestellt ist: Die Vanille kommt aus dem Labor. in Osnabrück, bei R & R Ice Cream, dem Real, Edeka, Netto, Penny wollten keizweitgrößten Eishersteller Europas, und nen Besuch. Sie bleiben allein mit ihren ein Wächter der goldenen Gleichung. kleinen Preisen. Sie wollen nicht verraAugustin ist bei R & R zuständig für die ten, wie das geht, ein Menü zu 7,19 Euro Anfragen der Presse. Er hat etwas Ähnli- für vier Personen. ches vorher im Spirituosen- und im FeinWer das Menü kocht, wird merken, kostbereich gemacht, und er hat im Laufe dass es gut schmeckt. Aber der Beider Jahre Ideen entwickelt, wie er die geschmack ist seltsam, wenn man daran Angst vor der Wahrheit kontrollieren kann. denkt, woher die Zutaten kommen. Eine Pilzsuppe mit schwebenden PilOb man zusichern könne, dass die Berichterstattung über das Eis denn positiv zen aus Weißrussland. Hackfleisch aus der Schlacht-Rakete. verlaufe, hatte Augustin wissen wollen. Tomaten aus Müll. Nein, so etwas gehe nicht. Nudeln mit Eiern, von denen die HerDann sei das schwierig, antwortete Austeller nicht wissen, wo sie herkommen. gustin. Wein, der seinen Winzer traurig macht. Bedeutet das also, dass niemand komWaffeln mit Eiern aus Käfigen. men dürfe? Vanilleeis ohne Vanille. Doch, doch, versicherte Robert AugusDas Essen ist fertig. tin. Es könne gern jemand kommen und ARNE WEYCHARDT / DER SPIEGEL (L.); SVEN DÖRING / AGENTUR FOCUS / DER SPIEGEL (R.)
ist wie eine Doppelseite im SPIEGEL. Der Stall ist dunkel. Degens sagt, zu viel Licht mache die Hühner aggressiv. Am Tag des Schlüpfens schneidet der Züchter den Hühnern einen Teil des Oberschnabels ab. „Damit sie sich nicht zerhacken“, sagt er. Der Hühnerfarmer führt eine Liste, darauf steht, wie viele tote Hühner er am Tag aus dem Stall zieht. 7, 15, 0, 8. Oft ersticken sie, weil sie übereinander liegen. Solche Probleme habe man bei der Käfighaltung nicht, sagt Degens. Die sei auch viel sauberer, die Hühner würden nicht den ganzen Tag in ihrer eignen Scheiße scharren. Für Theo Degens ist die Käfighaltung ein perfektes System. Vollautomatisches Füttern, vollautomatische Kotentsorgung, vollautomatische Eiersammlung. Das vollautomatische Huhn legt genauso viele Eier wie das Huhn aus Bodenhaltung, aber in Käfigen darf Degens mehr Hühner auf einen Quadratmeter sperren. Mehr Masse, mehr Gewinn. Degens interessiert es nicht, ob die Hühner glücklich sind über ihr Leben im Gitterkäfig. Glück kann er nicht verkaufen. Degens steigt in seine Limousine, im Handschuhfach liegen Waffeln und ein paar Cohibas, Zigarren aus Kuba. Eier haben ihn reich gemacht, er ist 74 Jahre alt, er könnte sich um seine Brieftauben kümmern, aber seit 2009 macht das Geschäft wieder Spaß, seit Käfighaltung in Deutschland verboten ist. Nach einer halben Stunde Fahrt parkt Degens vor einer Halle in den Niederlanden, es riecht nach Gebackenem. Er sagt noch, Bio sei das Schlimmste, was es gebe, und dass er so alt und glücklich sei, weil er jeden Tag Waffeln mit Sahne und heißen Kirschen esse, dann fährt er davon. Die Fabrik von Wafel Janssen ist so groß wie eine Konzerthalle, der Schornstein misst 25 Meter, aus ihm steigt der Rauch von sieben Öfen, sie backen 21,5 Stunden am Tag, fünf Tage die Woche. In der Halle am Ende eines Fließbands steht eine Maschine, die acht Waffeln in eine Folie schweißt, darauf steht „Aldente“ und „mit 32% frischen Eiern“. Wo die Eier herkommen, steht nicht auf der Folie. Sie kommen aus Käfighaltung. Die Unterwelt steckt voller Antworten für den, der sie erreicht. Aber es gibt nur wenige Menschen, die diese Antworten
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BERLIN
Zurück ins Licht Ortstermin: Das „Fest der Linken“ in Berlin sucht nach Wegen, auf denen der Sozialismus wiederauferstehen könnte.
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THOMAS GRABKA/DER SPIEGEL
Womöglich ist das der Weg zurück ins Kubas Kinder“ spenden. Man kann aber ie heißt a denn noch mal?“, fragt die alte Dame. „Na, hier, Licht. Sowjetmacht plus Elektrifizierung auch Falafel essen bei „Tareek Al-Shaab“, warte mal, Ernst heißt a, oder?“, ist Kommunismus, sagte Lenin. Atomaus- der Zeitung der Irakischen KP, sich dem sagt ihr Mann. Sie schauen Klaus Ernst stieg plus Sozialpolitik ist Wahlerfolg, „Freundeskreis Ernst Thälmann Gedenkstätte Ziegenhals“ anschließen oder das hinterher, Parteichef der Linken, der an hofft Holter. Auf der Bühne sitzt auch Ulrich Mau- Buch „Schöne Akte. Fotografien aus der der Bühne vorbeischlendert, unerkannt. Es ist Mittagszeit, es ist warm, es riecht rer, Bundestagsabgeordneter der Partei. DDR“ kaufen. Dann kommen Gesine Lötzsch und nach Bratwurst auf dem „Fest der Linken“ Maurer sagt, man müsse den Zeitgeist in der Berliner Kulturbrauerei. Auf der Büh- ignorieren. Denn: „Der Zeitgeist wandelt Klaus Ernst, die Parteichefs, um auf der ne des „Neuen Deutschland“ sitzen Politiker sich ständig.“ Maurer findet die Energie- Linke-Bühne über „Europa in der Krise – der Partei und diskutieren, wie es zurzeit wende auch gut, aber eben auch zeit- Antworten der Linken“ zu reden. Lötzsch sagt: „Wir haben schon damals gesagt – so läuft für „Die Linke im Superwahljahr“. geistig. Vielleicht besinnt man sich auf po- Euro: so nicht“, was immer das heißen Na ja. Schlecht, muss man sagen. Bei der Landtagswahl in Baden-Würt- litische Alleinstellungsmerkmale. Die mag. Ernst sagt: „Man muss nicht den temberg kam die Partei auf 2,8 Prozent. Unique Selling Points der Linken. „Wir Euro retten, sondern die Europäer. Hier leben ja keine Euros, sonIn Rheinland-Pfalz auf dern Europäer.“ Es gibt 3,0 Prozent. In Bremen müden Beifall, und man auf 5,6 Prozent. Bald wird möchte am liebsten wegin Mecklenburg-Vorpomlaufen. Aber wohin? mern gewählt und in Zurück zur Bühne des Berlin. Die Umfragewerte „Neuen Deutschland“. Zu sind nicht gut. Jutta Ditfurth. Die war Entsprechend ist die BundesvorstandssprecheStimmung. Führte einst rin der Grünen, verließ das glamouröse Duo später die Partei und ist Oskar Lafontaine / Gregor jetzt Grünen-Kritikerin. Gysi, führt heute das öde Ditfurth sieht den Weg für Duo Gesine Lötzsch / die Linke darin, wieder Klaus Ernst. linker zu werden. AntiDie Prominenz von Helkapitalistischer. „Diesem mut Holter ist auch beScheißsystem ordentlich in grenzt, er ist der Frakden Arsch treten“, sagt tionschef der Linkspartei Ditfurth. Gleichzeitig müsin Mecklenburg-Vorpomse man auch konsequent mern. Vor allem ist er Opökologisch sein. Grüner timist. „Ich bin zuversichtals die Grünen. Ditfurth lich, dass wir in Mecklen- Linken-Fest in Berlin: „Milch für Kubas Kinder“ spricht vom „Druck von burg-Vorpommern 20 Prozent schaffen“, sagt Holter, und neuer sind die deutsche Antikriegspartei“, sagt der Straße“, von „gut vorbereiteten Stilllegungsblockaden“ vor AtomkraftwerMut tröpfelt von der Bühne ins Publikum. Maurer. Ob das reicht? Die Deutschen interes- ken. Die Rentner im Publikum schauen Zu den älteren Frauen und Männern mit Hut, Bundjacke und grauem Haar. Links siert der Krieg zurzeit weniger als die Ditfurth verschüchtert an. Am Abend kommt die Bundestagsfrakwar einst der politische Heimatplanet der Atomkraft. Die Deutschen sind auch lieJugend. Hier und heute sind die Linken ber grün als links. Grün ist ein politisches tion der Linkspartei zusammen – zur VerLebensgefühl geworden, losgelöst von anstaltung „Viva Allende – Eine szenische im Rentenalter. Auf der Bühne spricht Helmut Holter einer Ideologie. Grün ist für viele Deut- Lesung – Chile, 21. Mai 1971“. Gregor Gysi ist dabei, Sahra Wagenknecht, Gevon der „Energiewende“. Ein magisches sche auch links genug. Die Linkspartei, anders kann man es sine Lötzsch. Der Saal ist voll, man kuWort. Es könnte Wählerstimmen herbeizaubern, so wie bei den Grünen. Die Grü- nicht sagen, hat gerade eine Identitätskrise. schelt sich aneinander. Auf der Leinwand nen sind stark wie nie. Dick und rund Die Linkspartei ist ein Fukushima-Opfer. erscheint Salvador Allende wie eine ErMan muss sich jetzt „breiter aufstel- löserfigur in Schwarzweiß. Gemeinsam vor Wählerzuspruch. Über 24 Prozent in fliegt man in die gute alte Zeit zurück, Baden-Württemberg. Über 15 Prozent in len“, sagt Holter. Aber wie? Thematisch scheint Kuba noch immer als links revolutionär war, die Grünen Rheinland-Pfalz. Sie sind die Profiteure der neuen deutschen Atomkraftangst. von identitätsstiftender Bedeutung zu nicht gegründet und Atomkraft eine „Wir brauchen eine Energiewende, aber sein. An vielen Ständen auf dem „Fest Zukunftstechnologie. Eigentlich fehlen sozial verträglich. Nicht zu Lasten der der Linken“ kann man kubanischen Rum bloß noch Che Guevara, Fidel Castro und Geringverdiener“, verkündet Helmut trinken, die Biografie von Fidel Castro Rosa Luxemburg. Dann könnte man wiekaufen oder für die Initiative „Milch für der angreifen. Holter. JOCHEN-MARTIN GUTSCH D E R
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Trends KRANKENKASSEN
City-BKK-Mitglieder bleiben unbeliebt
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as Geschacher um die City-BKKVersicherten nimmt kein Ende. Nachdem die Krankenkassen bei ihrem Krisengipfel Mitte Mai versprochen hatten, keine Versicherten der insolventen City BKK mehr abzuwimmeln, werden nun neue Methoden bekannt, wie die Kassen mit unlukrativen Zwangswechslern verfahren. So schrieb etwa die BKK Pfalz wenige Tage nach dem Gipfeltreffen an ihre Makler, dass sie für Vertragsabschlüsse mit Mitgliedern der City BKK wie auch der finanziell angeschlagenen BKK für Heilberufe keine Provisionen bezahlen werde. Als Begründung führte die BKK Pfalz die zusätzliche Belastung durch die Schließungskosten der City BKK an, die der Haftungsverbund der Betriebskrankenkassen übernehmen müsse. Man sei zwar „zuversichtlich“, auch weiterhin ohne Zusatzbeiträge auszukommen, schreibt die Kasse an die Maklervereinigung Maxpool. „Um die Situation allerdings nicht weiter zu verschärfen, werden wir für Mitgliederwechsel von diesen Kassen (City BKK und BKK für Heilberufe) keine Aufwandsentschädigung vergüten.“
168000 Versicherte müssen nach der Pleite der City BKK neu vermittelt werden.
Aufruf zum Angriff auf EDF ENERGIE
Hacker-Attacke auf Stromkonzerne N
och einmal verschärft haben die großen deutschen Stromversorger die Sicherheitsanstrengungen zum Schutz ihrer Computersysteme und Websites. Das bestätigten Sprecher der großen Konzerne auf Anfrage. Hintergrund ist eine weitere massive Hacker-Attacke auf den französischen Atomkonzern EDF (Electricité de France) am Donnerstag vergangener Woche. Der Angriff hatte das Ziel, die Website des Konzerns lahmzulegen. Er startete laut internen Sicherheitsberichten der Branche gegen 13 Uhr und führte um circa 18 Uhr zum Erfolg. Mehrfach war die Seite des französischen Stromkonzerns nicht erreichbar. Noch am Freitag registrierte EDF in Paris einzelne Attacken. Auch in anderen europäischen Ländern wurden Stromkonzerne vor möglichen Hacker-Angriffen gewarnt. Verantwortlich für die Attacke war nach Informationen der Branche angeblich eine Untergruppierung von Anonymous. Die lose organisierte Hacker-Gruppe steht im Verdacht, bereits in der Vergangenheit Angriffe auf Unternehmen wie etwa Sony oder die WikiLeaks-Verweigerer PayPal, Mastercard oder Visa durchgeführt zu haben. EDF bestätigte am Freitag auf Anfrage Angriffe auf ihre Website und stellte klar, dass keine Kraftwerke oder sicherheitsrelevanten Systeme beeinträchtigt worden seien.
AU TO I N D U ST R I E
VW von Suzuki enttäuscht
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ULI DECK / PICTURE ALLIANCE / DPA
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er VW-Konzern hat seine Pläne vorerst aufgegeben, den eigenen Anteil am japanischen Autohersteller Suzuki von bislang 19,9 Prozent rasch aufzustocken. Die geplante Zusammenarbeit sei „eine einzige Enttäuschung“, sagt ein VW-Manager. Suzuki will von den Wolfsburgern möglichst viel moderne Antriebstechnik, ist im Gegenzug aber kaum bereit, VW bei potentiellen Gemeinschaftsprojekten entgegenzukommen. Die Japaner ändern beispielsweise ihre Pläne für einen
Winterkorn, Suzuki D E R
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kleinen Geländewagen nicht so, dass der VW-Konzern auf dieser Basis auch Modelle für Volkswagen, Škoda und Seat produzieren könnte. Die Hoffnung, VW könnte von der starken Position Suzukis auf dem indischen Markt profitieren, hat sich ebenso wenig erfüllt. Suzuki-Miteigentümer Osamu Suzuki will vor allem die Unabhängigkeit des Unternehmens bewahren. Die Kulturunterschiede zwischen den beiden Unternehmen sind groß. „Das funktioniert nicht wie bei uns Deutschen, wie mit Porsche beispielsweise, ruck, zuck“, sagt VW-Chef Martin Winterkorn: „Mit den Japanern muss man die Zusammenarbeit üben.“
Wirtschaft EURO
Schelte für die Richter
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ULI DECK / DPA
as Bundesverfassungsgericht gerät wegen seiner zögerlichen Haltung zur Frage der Euro-Rettung in die Kritik. So beschwert sich Markus Kerber, einer der Kläger gegen die Griechenland-Hilfen und den Rettungsschirm EFSF, dass es noch immer keine Entscheidung über seine
Verfassungsbeschwerden vom Mai und Juni vergangenen Jahres gebe, obwohl bereits mehrere Länder Hilfen aus dem Rettungsfonds erhalten hätten. „Mit Arbeitsüberlastung lässt sich das Schweigen des Gerichts nicht länger rechtfertigen“, so Kerber, „der zuständige Berichterstatter, Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio, hält auf zahllosen Veranstaltungen Vorträge, findet Zeit zur Redaktion von Publikationen für das breite Publikum und scheut auch die Teilnahme an politischen Salons der Parteien nicht.“ Auch über seinen Eilantrag, mit dem er die Zustimmung Deutschlands zum Rettungspaket für Portugal verhindern wollte, mahnt Kerber eine Entscheidung an. „Namens und im Auftrag der Beschwerdeführer – 53 an der Zahl – bekunde ich mein Befremden über die bisherige Unterlassung des Zweiten Senats“, heißt es in einem Schreiben Kerbers an Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle vom 23. Mai.
Verfassungsrichter in Karlsruhe
B AY E R N L B
Ankläger rüffeln die Aufseher
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DPA
n dem Milliardendebakel um den Kauf der österreichischen Hypo Group Alpe Adria durch die BayernLB im Sommer 2007 trägt der Verwaltungsrat nach Ansicht der Münchner Staatsanwaltschaft eine gehörige Mitschuld. Das geht aus der knapp 500-seitigen Anklageschrift der Strafverfolger gegen acht ehemalige Vorstände des Instituts hervor. In dem Schriftsatz werfen die Ermittler den
Beschuldigten unter anderem vor, die Kärntner Bank viel zu teuer gekauft und auf Wertgarantien verzichtet zu haben. Deren Anwälte weisen das zurück. Doch auch die Verantwortung der Mitglieder im Kontrollgremium wird in der Anklage mehrmals betont. Dort saßen zu jenem Zeitpunkt etwa der frühere bayerische Sparkassenpräsident Siegfried Naser und Bayerns Ex-Finanzminister Kurt Falthauser. Sie und die übrigen Mitglieder des Verwaltungsrates hätten die Expansion der BayernLB nach Osteuropa aus eigenem Gewinninteresse massiv unterstützt, heißt es in der Anklageschrift. Im heimischen Privatkundengeschäft, so die Ermittler, sollte sich die Landesbank auf Wunsch der Kontrolleure dagegen zurückhalten, weil sie sonst den Sparkassen als Anteilseigner Konkurrenz gemacht hätte. Scharf rügen die Ermittler insbesondere Ex-BayernLB-Chefkontrolleur Falthauser, der die Vorstände erheblich unter Druck gesetzt habe. Ob sie „zu blöd“ seien, „eine Bank zu kaufen“, soll er sie angeherrscht haben, nachdem ihr Versuch, zunächst ein anderes österreichisches Institut zu übernehmen, Ende 2006 gescheitert war.
BayernLB-Zentrale in München D E R
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Wirtschaft
WÄ H R U N G
Wieder am Abgrund Die Griechen brauchen noch mehr Geld – und sie werden es bekommen. Doch mit den bisherigen Mitteln ist ihr Land kaum zu sanieren: Die Wirtschaft schrumpft, und die ehrgeizigen Privatisierungspläne sind illusorisch.
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die vereinbarten Sparziele hoffnungslos verfehlt. Die Geldgeber zweifeln inzwischen an der Reformkraft der Regierung, zudem ist die Wirtschaft stärker eingebrochen als befürchtet. Wichtige Steuereinnahmen blieben aus. Sicher ist nur: Griechenland braucht frisches Geld, mehr als vor einem Jahr beschlossen. Die Ziele aus dem ersten Hilfsprogramm seien nur noch unter sehr weltfremden Annahmen zu erreichen – zu diesem Schluss kamen selbst die Abgesandten von EU, IWF und EZB, die in den vergangenen Wochen die Lage in Griechenland erkundet hatten. Offiziell hielt sich die sogenannte Troika zwar zurück: Griechenland habe „erhebliche Fortschritte“ erzielt, hieß es in einem Statement am Freitag. Die nächste Kredit-Tranche aus dem laufenden Hilfspaket, die lange umstritten war, wird nun
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Griechisches Dilemma Staatsverschuldung in Milliarden Euro
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Demonstranten in Athen: Abgeordnete werden
2622 26 Bruttoinlandsprodukt in Milliarden Euro 239 224
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Zinszahlungen in Prozent der Staatseinnahmen
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THANASSIS STAVRAKIS / AP
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ie Krise in Griechenland hat auch ihre guten Seiten, zumindest für die Touristen. Die können neuerdings die Akropolis durchgehend bis abends um 19 Uhr besuchen, bisher schlossen die Tore des Weltkulturerbes über den Dächern von Athen häufig kurz nach dem Mittagessen. „Das war für unsere ausländischen Besucher unzumutbar“, sagt Verkehrsminister Dimitrios Reppas. Mitten in der größten Krise des Landes hat sich auf wundersame Weise nicht nur die Zahl der Museumswächter, beispielsweise auf der Akropolis, vermehrt, sondern auch die der Rettungswagenfahrer oder Krankenpfleger. „Die Leute sind begeistert“, sagt Reppas und setzt noch einen drauf: „Jetzt findet hier wirklich eine Konsolidierung statt.“ Bei der EU, dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Europäischen Zentralbank (EZB) dürfte sich die Begeisterung in Grenzen halten, unter Konsolidierung verstehen sie etwas anderes. Sie haben Griechenland vor rund einem Jahr Finanzhilfen in Höhe von 110 Milliarden Euro gewährt – gegen harte Auflagen. Seither müht sich Premierminister Georgios Papandreou, durch radikale Sparmaßnahmen, Personalabbau und Strukturreformen in den Staatsbetrieben Schulden des Landes in Höhe von über 330 Milliarden Euro drastisch abzubauen. Gleichzeitig sollten die Staatseinnahmen allein in diesem Jahr um 8,5 Prozent steigen, das Defizit noch auf 7,5 Prozent sinken. So weit die Theorie. Die Praxis erfreut die Besucher der Akropolis: Es gibt mehr Museumswächter – eine Folge der Konsolidierung auf griechische Art. Die geht so: Die Staatsbahn OSE musste rund 1800 der etwa 5800 Arbeitsplätze abbauen, um das jährliche Defizit von ein bis zwei Milliarden Euro loszuwerden. Doch wie in anderen Staatsbetrieben auch wurden die Leute nicht entlassen, sondern versetzt, allerdings mit Gehaltsabschlägen. Die Euro-Partner verlieren langsam die Geduld mit der Mannschaft von Ministerpräsident Papandreou. Schon ein Jahr nach den internationalen Hilfszusagen von 110 Milliarden Euro hat Griechenland
wohl ausgezahlt. Weniger erbauliche Nachrichten präsentierte das ErmittlerTeam allerdings am vergangenen Mittwoch den in der Wiener Hofburg versammelten Staatssekretären der EuroGruppe. Die notwendigen Maßnahmen würden der griechischen Bevölkerung allergrößte Anstrengungen abverlangen. Angesichts der Stimmungslage in Athen seien solche Schnitte aber kaum mehr durchsetzbar. Kurzum, alles spreche für ein neues Programm, das den Griechen mehr Zeit und mehr Geld lasse, um ihre Probleme zu lösen. Die Spitzenbeamten aus den Finanzministerien zeigten sich beeindruckt, der Mann von der EZB fühlte sich sogar bestätigt. Nur der deutsche Vertreter, Finanzstaatssekretär Jörg Asmussen, erhob Einspruch. Auf striktes Geheiß seines Ministers mahnte er eine Beteiligung privater Gläubiger an den Sanierungskosten Griechenlands an. Es sei nicht damit ge-
bespuckt, Politiker mit Steinen beworfen
tan, dass Investoren ihr Geld nur freiwillig länger in dem angeschlagenen Land ließen, wie die EZB vorschlage, sagte Asmussen nach Aussage von Teilnehmern. Deutschland könne einem neuen Programm nur zustimmen, wenn auch der Privatsektor in erheblichem Umfang Lasten übernehme. Der Mann aus Berlin präsentierte seinen Kollegen schonungslos die Alternative: Ohne Beteiligung des Privatsektors gebe es keine Zustimmung des Bundestags, ohne die kein neues Programm, und ohne das drohe ein Zahlungsausfall Griechenlands. Um drei Uhr morgens trennte sich die Runde ohne Ergebnis. Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) hatte Asmussen nicht nur aus Achtung vor dem Mitspracherecht des Bundestags eine strikte Weisung mit nach Wien gegeben, nur bei Beteiligung privater Gläubiger einer neuen Lösung zuzustimmen. Schäuble schreckt davor zu-
rück, den widerstrebenden deutschen Parlamentariern die Rechnung zu präsentieren. Das neue Programm kostet nämlich viel mehr Geld als bislang angenommen. Experten im Bundesfinanzministerium und von der Troika halten eine Größenordnung von mehr als hundert Milliarden Euro für möglich, wenn Griechenland auch 2013 und 2014 auf fremde Hilfe angewiesen ist. Bislang war von rund 60 Milliarden Euro die Rede. Die Ursache für den Kostenschub: Im zweiten Halbjahr 2013 und 2014 laufen zusätzliche griechische Staatsanleihen aus, für die eine Anschlussfinanzierung fällig wird. Das Geld dafür dürfe nicht wieder nur allein aus öffentlichen Kassen fließen, gab Finanzminister Schäuble kürzlich im Kreis seiner Berater als Parole aus. Das Ausmaß der Hilfen, das ahnt Schäuble, kann er nur auf ein erträgliches Maß stutzen, wenn auch die Gläubiger auf einen D E R
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Teil ihrer Forderungen verzichten. Jetzt kommt es allein auf ihn an. Am 20. Juni trifft er sich das nächste Mal mit seinen Amtskollegen aus Europa. Doch niemand zweifelt daran, dass die Griechen am Ende weiteres Geld bekommen werden. Ob es überhaupt Sinn macht, den Griechen noch mehr Geld zu leihen, das sie womöglich nie zurückzahlen können – das wagen die Politiker nicht zu fragen. Weil die Alternative und deren Konsequenzen, eine drastische Umschuldung, vielleicht sogar eine Rückkehr zur Drachme, ihnen noch schrecklicher erscheinen. Und doch mehren sich die Zweifel, ob Griechenland allein durch Sparen überhaupt zu sanieren ist, ob die verschriebene Rosskur den Patienten wirklich gesund oder eher noch kränker macht. Im Land jedenfalls wächst der Zorn, auf die eigene Regierung und auf die Geldgeber aus Brüssel und Washington. Allabendlich wüten Griechen auf öffent61
Wirtschaft lichen Plätzen gegen die Sparpolitik, in Athen wurden Parlamentarier bespuckt, auf der Insel Korfu Politiker mit Steinen beworfen. Viele machen vor allem die Deutschen für die Misere verantwortlich. Auch Experten üben Kritik: Die drakonischen Vorgaben von EU und IWF seien wie ein „neuer Versailler Vertrag“, sagt etwa der Athener Professor Jannis Varoufakis: „Am Ende schaden sie den Starken genauso wie den Schwachen“. Wie viele seiner Kollegen ist Varoufakis überzeugt: Wenn Griechenland jemals wieder ökonomisch selbständig werden
soll, muss die Wirtschaft auch durch ein „dass wir genau da sind, wo wir angefangezieltes Investitionsprogramm aufgebaut gen haben“. Daskalopoulos glaubt nicht, dass die und angekurbelt werden. Das Ergebnis der bisherigen Bemühun- Regierung alles getan hat, was möglich gen ist jedenfalls, trotz aller Anstrengun- war. Sie sei vielmehr an der dringlichsten gen der Regierung Papandreou, ernüch- Aufgabe gescheitert: der Reform des giternd. Sie hat die Beamtengehälter ge- gantischen Staatsapparats. Die Attacke richtet sich gegen Arbeikappt, Steuern erheblich erhöht, das Rentenalter heraufgesetzt und Steuersünder terführer wie Nikos Fotopoulos, 48. Der öffentlich an den Pranger gestellt. Und Gewerkschaftschef beim halbstaatlichen doch steht das Land wieder am Abgrund. Stromversorger DEI ist Ex-Trotzkist und Es mache sich das Gefühl breit, dass alles seit 33 Jahren Mitglied von Papandreous umsonst war, wettert Dimitrios Daska- Pasok-Partei. „Wir essen hier nicht von lopoulos vom Arbeitgeberverband SEV, goldenen Löffeln“, sagt der gelernte Elek-
Zweifelhafte Werte Die Risiken in den Büchern der EZB werden weiter verdrängt.
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MARTIN MEISSNER / AP
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uf der Liste der Sicherheiten der Europäischen Zentralbank findet sich eine portugiesische Anleihe aus dem Jahr 1943. Sie soll möglicherweise erst in rund 8000 Jahren zurückgezahlt werden: am 31.12.9999. Doch schon heute ist die bizarre Anleihe zum Beispiel für eine portugiesische Bank richtig wertvoll. Denn die kann das Papier bei der Europäischen Zentralbank (EZB) als Sicherheit einreichen und im Gegenzug frische Euro erhalten. Weil der internationale Kapitalmarkt für Banken aus Portugal, Griechenland und den anderen europäischen Krisenländern so gut wie geschlossen ist, sind sie auf das Geld der Zentralbank dringend angewiesen. Viele der eingereichten Sicherheiten sind nicht wirklich sicher. Was sie tatsächlich wert sind, lässt sich schwer sagen. Und so verkommt die EZB als Hüterin des Euro langsam zur Bad Bank des Euro-Systems, bei der die Banken Europas ihre Schrottpapiere abladen. Der SPIEGEL (21/2011) hatte in der vorvergangenen Woche berichtet, dass die EZB und vor allem die ihr angeschlossenen nationalen Notenbanken bei den eingereichten Sicherheiten der Banken nicht so genau hinschauen – und dass sie deshalb Risikopapiere in Höhe von mehreren hundert Milliarden Euro in ihren Büchern haben. „Die Fehler wurden geprüft und dann korrigiert“, bestätigte der irische Notenbankpräsident Patrick Honohan gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters den Bericht. Auch die Reaktion der EZB fiel seltsam verhalten aus. Was sollte sie auch tun? Sie kann die Risiken nicht leugnen. Wenn Banken pleitegehen und ihre Sicherheiten nicht genug wert sind, müssen zunächst die Noten-
Notenbanker Trichet
Sammelbeck Sammelbecken en EZB Nicht marktfähige Sicherheiten en bei der Eur opäischen Europäischen ZZentralbank entralbank (EZB) Jeweils Jahresdurchschnitt Je weils Jahr esdurchschnitt Milliarden in Milliar den € Quellen: EZB, eigene Ber Berechnung echnung
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banken für den Schaden aufkommen. Wenn deren Reserven nicht ausreichen, müssen die Steuerzahler einspringen. Die Dimension ist gewaltig: Für rund 480 Milliarden Euro hat die EZB strukturierte Wertpapiere, sogenannte AssetBacked Securities (ABS), angenommen, weitere 360 Milliarden stehen als „nicht marktfähige Finanzinstrumente“ in den Büchern. Hinzu kommen noch Staatsanleihen in Höhe von vielen Milliarden Euro aus Portugal, Spanien, Griechenland und Irland, deren Wert zweifelhaft ist. Zwar werden diese auch nur zum deutlich geschrumpften Marktpreis bewertet und, abhängig vom Rating, mit einem Abschlag versehen. Doch bei diesem drücken die Notenbanken zur Not beide Augen zu. „Es ist nicht auf Dauer unsere Aufgabe, insolvente Banken in insolventen Ländern zu retten“, sagt ein besorgter Notenbanker bei der Bundesbank. Das gefährde den Ruf der EZB und am Ende auch den Euro. EZB-Präsident Jean-Claude Trichet mahnte deshalb vergangene Woche bei der Verleihung des Karlspreises grundlegende Reformen an. „Eine unsolide Politik in einem Land kann zu einer Krise in einem anderen Land führen“, sagte er in Aachen. Er forderte ein Vetorecht aus Brüssel gegen unvernünftige nationale Entscheidungen und träumt sogar von einem europäischen Finanzministerium. Seine Vorschläge wären glaubwürdiger, wenn die Notenbanken selbst solider agieren würden. Trotz einer dramatischen Schuldenkrise werden irische Staatsanleihen mit Abschlägen auf die Marktwerte versehen, wie sie auch für die viel sichereren deutschen Bundesanleihen verwendet werden. Ein weiteres, weitgehend verdrängtes Risiko der EZB sind die sogenannten nicht marktfähigen Sicherheiten, die die Banken ebenfalls in riesigem Umfang in Frankfurt abgeladen haben. Dabei handelt es sich um Schuldscheindarle-
hen und andere Kreditforderungen, die an keiner Börse gehandelt werden. Wenn der Einreicher solch einer Sicherheit pleitegeht, müsste die EZB das Pfand verwerten. Im Zweifel bliebe sie auf der vermeintlichen Sicherheit, zum Beispiel einem Darlehen für einen Windpark oder eine Feriensiedlung, sitzen. Die EZB betont, dass diese nicht marktfähigen Sicherheiten genauso streng bewertet werden müssen wie andere Papiere auch. Doch geprüft und bewertet werden diese Papiere von den jeweils zuständigen nationalen Notenbanken. Und die dürften vor allem ein Interesse daran haben, dass die Banken ihres Landes, denen es an Sicherheiten mangelt, nicht zusammenkrachen. Eine solche Praxis lädt zum Schummeln geradezu ein. Kein Wunder, dass die EZB nicht sagen will, welche Notenbanken wie viele dieser Papiere mit welchen Werten als Sicherheiten angenommen haben. Selbst der Bundesbank unterliefen Fehler bei der Bewertung der Sicherheiten, die die Banken bei der EZB einreichen. Zwei Schuldscheine der HRETochter Depfa wurden mehrere Monate lang mit einem zu niedrigen Abschlag versehen. Auf den Fehler aufmerksam gemacht, hatte die Bundesbank eine falsche Bewertung bestritten und am 21. Februar erklärt: „Unsere internen Prozesse bei der täglichen Überprüfung notenbankfähiger Sicherheiten stellen in hohem Maße sicher, dass keine Wertpapiere fehlerhaft auf die EZB-Liste gelangen können.“ Eine Woche später mussten die Abschläge auf die Papiere drastisch erhöht werden. „Die Bundesbank bedauert diesen Vorgang außerordentlich“, hieß es vergangene Woche. Sie habe sich auf einen externen Datenanbieter verlassen. Der müsse nun seine „Prozesse überprüfen, um solche Vorfälle in Zukunft auszuschließen“. MATTHIAS BRENDEL, CHRISTOPH PAULY
OLIVIER HOSLET / DPA
triker trotzig, in seinem Büro hängen Poster von Che Guevara, Marx und Trotzki. Seit 1999 erhielt seine Gewerkschaft, direkt und indirekt, finanzielle Beihilfen ihres Arbeitgebers über fast 31,3 Millionen Euro. Besonders absurd: Allein in den vergangenen drei Jahren zahlte der Stromversorger der Gewerkschaft 115 000 Euro für Demonstrationen – gegen den eigenen Anteilseigner, die Regierung und ihre Sparmaßnahmen. Firmen wie die DEI oder auch die teilstaatliche Hellenic Petroleum gelten nach wie vor als Versorgungs-Paradies: Die
Finanzminister Schäuble, Kollegen*: Private Gläubiger sollen Lasten übernehmen
rund 2500 Mitarbeiter des Öl-Unternehmens erhalten 17,8 Monatsgehälter. Selbst Fahrer und Pförtner verdienen 90 000 Euro im Jahr. Vorstandsvorsitzender Tassos Giannitsis erklärt das hohe Gehaltsniveau gelassen mit dem „ganz spezifischen Geschäft und der großen Abhängigkeit von internationalen Preis- und Gewinn-Margen“. Außerdem machten die Personalkosten weniger als drei Prozent des Umsatzes aus. Doch die Sonderbehandlung von Staatsbediensteten frustriert viele Griechen. Denn während Arbeitnehmervertreter wie Fotopoulos in den Staatsbetrieben viele Privilegien ihrer Schützlinge eisern verteidigen, führen die drakonischen Sparmaßnahmen beim Rest der Bevölkerung zum wirtschaftlichen Notstand, unter dem die Bevölkerung spürbar leidet. Mehr als 200 000 Jobs gingen im letzten Jahr verloren, in Athen stehen vor den Suppenküchen plötzlich auch frühere Mitglieder der Mittelschicht Schlange. Andere Bewohner verlassen die Stadt, um anderswo billiger zu wohnen oder um auf einem Stück Land der Familie als Bauern zu arbeiten. Immer mehr Griechen plündern zudem ihre Konten. Weil sie das Geld brauchen oder um ein paar Euro in Sicherheit zu bringen, falls tatsächlich die Drachme wieder eingeführt wird. Seit Anfang 2010 sind die privaten Einlagen auf den Konten bereits um 31 Milliarden Euro geschrumpft. Kürzlich sprach mit der griechischen EU-Kommissarin Maria Damanaki erst* Luxemburgs Premierminister Jean-Claude Juncker und die Finanzminister Elena Salgado (Spanien), Christine Lagarde (Frankreich) und Giulio Tremonti (Italien) am 21. März in Brüssel. D E R
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mals eine offizielle Vertreterin des Landes die Möglichkeit eines Ausstiegs aus dem Euro an. Doch Regierungschef Papandreou lehnt die Rückkehr zur Drachme rigoros ab. Er setzt auf zusätzliches Geld der Euro-Partner, weitere Sparmaßnahmen – und auf ein Privatisierungsprogramm, das wenig realistisch erscheint. 50 Milliarden Euro will er bis 2015 etwa durch den Verkauf von über 30 staatlichen und halbstaatlichen Betrieben einnehmen. Auf der Privatisierungsliste stehen Wasserversorger, die Häfen von Piräus und Thessaloniki, die Athener Pferderennbahn, die Postbank, ein Casino oder die Glücksspielgesellschaft Opap. Auch für die chronisch defizitären Staatsbahnen soll ein Investor gefunden werden. Hohe Summen erhofft sich der Regierungschef zudem durch die Veräußerung von allerlei Staatsimmobilien. Seit der geplante Ausverkauf verkündet wurde, ist die Stimmung in der Bevölkerung endgültig gekippt. Die Tageszeitungen sehen darin die „Plünderung eines Volkes“ und ein „Rezept zur Verelendung“, „Boden und Blut für die 5. Kredit-Tranche“, lautet die Schlagzeile. Selbst Wirtschaftsexperten, die sonst mit Kritik am griechischen Versorgungsstaat nicht zimperlich sind, zeigten sich entsetzt. „Man kann nicht so schnell alles verkaufen“, sagt der ehemalige Finanzminister Stefanos Manos. Solche Prozesse müssten gründlich vorbereitet, die Investitionen unter Umständen an Bedingungen geknüpft werden. Der Wirtschaftswissenschaftler Jens Bastian, der seit 14 Jahren in Athen lebt, bezweifelt, dass die griechische Verwaltung einen derartig gigantischen Ausverkauf überhaupt stemmen kann. Die Be63
hörden des Landes gelten nicht nur als völlig überdimensioniert, sondern auch als kafkaesk bürokratisch. Weil es kein umfassendes Grundbuchsystem gibt, weiß der griechische Staat nicht einmal, wie viele Grundstücke, Gebäude oder Yachthäfen er überhaupt besitzt, heißt es in einer Studie des Athener Forschungsinstituts Istame. Die regierungsnahe Einrichtung taxiert den Bestand auf insgesamt rund 270 Milliarden Euro – allerdings sei diese Summe nicht mehr als eine erste Annäherung. Im Februar versprach die griechische Regierung ihren internationalen Aufpassern trotzdem optimistisch, schon bis Ende Juni eine erste Aufstellung von nutzbaren Immobilien vorzulegen – wenig später suchte sie eiligst noch Berater für eine Großinventur. In einem Schreiben, kaum länger als eine Seite, machte sich der Privatisierungssekretär im Finanzministerium Anfang März auf die Suche, angesichts der knappen Zeit waren seine Ansprüche nicht allzu hoch: „Einschlägige“ Kenntnisse im Immobilienbereich seien nötig, Erfahrungen im griechischen Markt würden wertgeschätzt. Interessenten sollten sich mit allen Informationen, „die sie für angemessen halten“, binnen zehn Tagen melden. Bis Ende 2012 hat das Beraterteam nun Zeit, eine vollständige Datenbank zu er-
stellen, viel mehr wisse man noch nicht, sagt einer, der daran mitarbeiten soll. Die Probleme, die beim eigentlichen Verkaufsprozess drohen, lassen sich freilich schon heute erahnen. Wegen der oft fehlenden Kataster gibt es um die Grenzen von Grundstücken regelmäßig Streit. Zuweilen tauchen Kläger mit uralten Besitztiteln auf. Wie schwer die staatlichen Immobilien zu Geld zu machen sind, zeigte sich zuletzt auf dem Gelände des alten Athener Flughafens Hellenikon direkt an der Küste nahe Piräus, dessen Wert auf etwa sechs Milliarden Euro taxiert wird. Seit Jahren bemühen sich Investoren aus Katar um eine Nutzung des Geländes. Jetzt scheinen alle Bemühungen gescheitert – am Widerstand von Bürgerinitiativen und an den Anliegergemeinden, die dort lieber eine Grünanlage zur Naherholung als ein Geschäftszentrum sehen wollen. Auf einem Teil der riesigen Brache mit Wasserfront liegt außerdem eine Reihe hochmoderner Arenen, die extra für die Olympischen Spiele 2004 mit großem finanziellen Aufwand gebaut wurden. Nun gammeln sie als Sportruinen vor sich hin. In den staatlichen Unternehmen bringen sich derweil die Gewerkschaften schon in Stellung, um potentielle Investoren gründlich zu verschrecken. Gewerkschaftschef Fotopoulos will den Griechen
ARIS MESSINIS / AFP
Wirtschaft
Containerumschlag im Hafen von Piräus: Dutzende
unter Umständen den Strom abstellen, sollte sein Unternehmen wie geplant verkauft werden. „Wir wollen die armen Kunden in Schutz nehmen“, lautet die verquere Logik. Der oberste Arbeitnehmervertreter bei der Telefongesellschaft OTE, Panagio-
Die Erfahrungen ausländischer Investoren sind nicht gerade eine Werbung für Investitionen im Land – und das ist nicht Beispiele für geplant geplantee Priv Privatisierungen atisierungen allein die Schuld renitenter GewerkQ VVerkauf eerkauf vvon on Staatsant Staatsanteilen eilen oder schafter. Der notorisch klamme Staat Q VVergabe eergabe von von KKonzessionen onzessionen etwa gilt als Geschäftspartner mit miserabler Zahlungsmoral. Mehrere hundert STAATSBESITZ: S TAAT SBESIT Z: Millionen ist er allein deutschen Firmen Q Eisenbahngesellschaft ............ 10 100 0% noch schuldig. Vergangenes Jahr boten staatliche Krankenhäuser an, offene Q R Rüstungskonzern üstungskonzern .................... 10 100 0% Rechnungen von Pharmaunternehmen Q Hafen Hafen Piräus Piräus ............................775% 5% mit griechischen Staatsanleihen zu begleichen. Q Postbank Postbank ................................ 34% 34 % 30 Jahre lang habe Griechenland es Q TTelefongesellschaft eelefongesellschaft ...................1166 % verpasst, eine moderne Wirtschaftsstruktur aufzubauen, weiß auch RegierungsQ Autobahnen Autobahnen ........................... 10 100 0% chef Papandreou. Nun soll das alles im Q Flughaf Flughafen en A Athen the t n ...................... 555% 5% Eilverfahren nachgeholt werden, aber Reformen brauchen Zeit. Q Glück Glücksspielgesellschaft sspielgesellschaft ............ 334% 4% Der Ökonom Varoufakis hat in einer 15 15:: Simulation ausgerechnet, was passiert, 20 s bi s lö Er er e t Geplant wenn das Land weitersparen muss wie bisher. Selbst wenn Griechenland sämtliche Auflagen und Privatisierungsziele erfüllte und die Rezession ein Ende nähme, würde der Schuldenberg demnach weiter Option Gebrauch, die den deutschen Kon- wachsen. 2020 läge er schon bei mehr als zern zum Erwerb weiterer Anteile zwingt. dem Doppelten des Nationaleinkommens, Dabei hat die Beteiligung, die einst als damit sei der Zahlungsausfall praktisch Stärkung im südosteuropäischen Markt „garantiert“. Und dabei seien die Annahgefeiert wurde, bislang vor allem Ärger men in der Berechnung noch optimistisch. gebracht. Der OTE-Aktienkurs hat sich MANFRED ERTEL, CHRISTIAN REIERMANN, ANNE SEITH seit dem Einstieg halbiert.
AAthens tthens TTafelsilber af afelsilber e
Unternehmen stehen zum Verkauf
tis Koutras, plant schon für den Juni zahlreiche Streiks und deutet noch andere Reaktionen an, die „überraschen“ sollen. 30 Prozent des Unternehmens gehören der Deutschen Telekom. Die griechische Regierung macht nun zudem von einer
50 Mrd. Euro
Wirtschaft
JULIAN STRATENSCHULTE / DPA
inzwischen Hunderte Gemüseproben negativ ausgefallen seien. Born will nicht so weit gehen wie spanische Politiker, die Schadensersatz von deutschen Behörden fordern. Er setzt stattdessen – wie Landwirtschaftsministerin Ilse Aigner – auf EU-Beihilfen für Fälle drastischer Umsatzeinbrüche. Ob die aber tatsächlich angezapft werden können, scheint zweifelhaft: EU-Agrarkommissar Dacian Ciolos zumindest zeigte sich vergangene Woche bei einem Treffen des EU-Agrarrats in Ungarn gegenüber solchen Forderungen ziemlich skeptisch, berichten Beteiligte. Betroffen ist auch der Einzelhandel. „Wir mussten Ware in Millionenhöhe“ wegwerfen, klagte etwa Raimund Luig, Geschäftsführer bei Kaiser’s Tengelmann in der „Lebensmittelzeitung“. Inzwischen Schredderung von Salat bei Hannover: „Wie soll da Ehec reinkommen?“ nehmen die Konzerne einfach kein Gealle negativ. Es sind Beweise ohne Wir- müse mehr an. Das spüren seit kurzem LANDWIRTSCHAFT kung: 40 Hektar mit Eisbergsalat – 2,4 etwa die Händler des Hamburger GroßMillionen Köpfe – wird der Bauer verlie- markts, eines der größten deutschen Umren. Viele Felder lässt er inzwischen ein- schlagplätze für Frischware: Täglich werfach so stehen, um den welken Salat spä- den von dort tonnenweise Gemüse in die Müllverbrennungsanlage gefahren. ter unterzupflügen. Wie wenig gegen den Handel anWie Behr, einen der größten deutschen Produzenten, trifft es die ganze Obst- und zukommen ist, merkte auch Bauer Behr, Gemüsebranche. Pro Tag entstehe den der nicht zu den Kleinen der Branche Die deutschen Bauern leiden rund 10 000 Landwirten inzwischen ein zählt. „Bestellungen laufen alle mündunter der Ehec-Seuche, die Schaden von fünf Millionen Euro, so Hel- lich“, berichtet Behr. Er erntet auf seinen Verbraucher lassen das Gemüse mut Born, Generalsekretär des Deut- Feldern in halb Europa stets die Menge, schen Bauernverbands. Russland verhäng- die ihm die Einkäufer von Lidl, Rewe & liegen. Nun hoffen die te sogar einen Importstopp für Gemüse Co. am Vortag durchgeben. Und bleibt Landwirte auf Hilfe aus Brüssel. im Zweifel eben drauf sitzen. „Vertragaus der gesamten EU. lich sind wir nicht abgesichert“, so Beim Biohof Timmermann im Wesie Sauberkeit seines Gemüses könBehr, der sein Grünzeug nicht ne er ziemlich einfach beweisen, ten von Hamburg blieben in den nur selbst vernichten muss: Zu sagt Rudolf Behr – durch seine Tagen nach Bekanntwerden Geschätzter Anfang der Ehec-Kaufflaute Mitarbeiter. Die nähmen täglich etwas da- der ersten Infektionen fast Umsatzverlust durfte er es sogar noch aus von mit nach Hause. „Wenn da was dran sämtliche Gurken und Tofür deutsche Landwirte ganz Deutschland von den wär, dann hätte hier die Scheißerei hoch maten in den Regalen aufgrund der Ehec-Krise Höfen der Einzelhändler liegen, berichtet eine Mitdrei sein müssen.“ einsammeln. Seinen Arbeitern aus Polen und Rumä- arbeiterin. Die Gurken5 Millionen Euro wieder Das ganze Desaster, sagt nien gehe es jedoch blendend, sagt Behr. partie eines Großhändlers, pro Tag Behr, habe aber auch ein Nur beschäftigen kann er sie kaum noch. der von einem der zwiGutes. Die deutschen BauSeit knapp zwei Wochen bleibt er auf sei- schenzeitlich in Verdacht steQuelle: Deutscher Bauernverband ern könnten jetzt dank der ner Ware sitzen. Im Auslieferungslager henden spanischen Produzenvielen Proben ziemlich sicher stehen Paletten mit Salaten in der Sonne, ten beliefert wurde, habe man sein, nicht auf einer Art Zeitbombe deren Farbe ins Bräunliche changiert. vernichtet. „Das durften nicht mal Durch die Ehec-Krise verliert der Gemüse- die Tiere fressen.“ Inzwischen allerdings zu sitzen. „Wir hatten ja alle Angst vor bauer inzwischen 250 000 Euro – pro Tag. entspanne sich die Situation – auch weil so einem Grundrauschen und fragten uns Behr steht auf einem seiner Felder bei die Lieferanten Labortests ihrer Ware plötzlich, ob nicht in den Böden irgendeine uralte Belastung im Nano-Bereich Seevetal südlich von Hamburg. Ein Ka- bereitgestellt haben. Die Angst der Konsumenten spürte lauert.“ mera-Team begleitet ihn. Er rupft einen Auch die Folgen ziemlich ekliger DünEisbergsalat aus dem Feld und beißt hin- auch Erdbeerkönig Enno Glantz, der mit ein. „Wie soll da Ehec reinkommen?“, seinen über 150 mobilen Verkaufsbuden gepraktiken kommen nun wieder hoch, fragt er. Der Salat sei nie mit Gülle oder ganz Norddeutschland überzogen hat. Bis zumindest in Diskussionen: Noch in den Mist behandelt worden. Selbst auf seinen zu 40 Prozent sank der Umsatz anfangs. sechziger Jahren, so Behr, war es auch Biofeldern in Mecklenburg-Vorpommern Glantz war dennoch im Glück, er konnte hierzulande noch üblich, Gemüse mit setze er Stallmist nur vor der Saat ein. „den Pflückrhythmus noch verschieben“. „trübem Brauchwasser“ aus dem KlärUnter einer Folie, die UV-Licht absorbie- Am Preis drehte er nicht: „Gegen die Ver- werk zu beträufeln. Behr wundert deshalb auch nicht, dass re, könne so ein Keim eine gewisse Ge- unsicherung wäre ich nicht mal mit 20 heute in fast jedem Hühnerei Spuren von fahr sein. Aber Behr bewirtschaftet nur Cent pro Schale angekommen.“ Statt die Lieferkette intensiver zu un- Arsen und in fast jedem Mittelmeerfisch Freiflächen. „Da würde ein gutbestrahlter tersuchen, kritisiert Bauernfunktionär Dioxin nachgewiesen werden kann. Erreger in zwei Stunden absterben.“ In seinem Salat aber fand sich eben In seinem Auto hat Behr einen Stapel Born, hätten sich die Behörden und wisPapier: Dutzende frische Laborproben senschaftlichen Experten auf Gurken, To- nichts – auch keine Ehec-Bakterien. seines Gemüses auf den Ehec-Erreger, maten und Salat eingeschossen – obwohl NILS KLAWITTER
Beweise ohne Wirkung
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Die Linda-Masche Wenn Bürger für wohltätige Organisationen spenden, kassieren häufig Werbefirmen mit. Die Staatsanwaltschaft Hannover hat in einem besonders krassen Fall Anklage wegen Betrugs erhoben.
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SAZ-Anwalt Manfred Parigger erklärt, es gebe keinen „Generalverantwortlichen für eine SAZ-Gruppe“, und die SAZ-Marketing Service GmbH befasse sich „nicht mit Fundraising-Dienstleistungen“. Gemeinnützige Organisationen hätten nicht zum Kundenkreis der SAZ-Gesellschaften in Garbsen gehört. Der Fall berührt eine Grauzone im Spendengeschäft. Die Zeiten, in denen idealistische, ehrenamtliche Helfer mit Sammeldosen durch die Straßen zogen, sind längst vorbei. Überregionale Hilfsorganisationen bedienen sich heute professioneller Geldeintreiber. So kassieren häufig private Werbefirmen kräftig mit, wenn Bürger an wohltätige Organisationen spenden. Doch wo ist die Grenze? Was muss übrig bleiben für die gute Tat? Und müssen
MCPHOTO / VARIO IMAGES (L.); FUNDRAISING.SAZ.COM (R.)
egina E. schreibt viele Briefe, und die Geschäfte der VFK Krebsforschung gesie versteht es, die Schreiben herz- führt und über 100 000 Euro an Gebühren erweichend zu formulieren. Im ver- und Honoraren kassiert haben soll. gangenen Frühjahr etwa schilderte sie das Die Ermittler wollen nachweisen, dass tragische Schicksal ihrer „Freundin Lin- die Zusammenarbeit der beiden Organida“, die plötzlich an Krebs erkrankt sei. sationen geradezu darauf angelegt war, Linda habe die Krankheit besiegt, hohe Kosten zu verursachen. Die gemeinschreibt Regina E., doch „viele andere haben kein solches Glück“. Deshalb komme es auf Menschen an, die bereit seien, „18, 20, 25 oder noch mehr Euro“ für die „lebenswichtige Krebsforschung in Deutschland“ zu spenden. Regina E., so steht es in dem Brief, der wohl in Tausenden Briefkästen landete, ist Geschäftsführerin der VFK Krebsforschung, einer gemeinnützigen Gesellschaft in Berlin. Sie unterstützt Forschungsprojekte. Etliche Bürger glaubten die schöne Geschichte – und spendeten. Tatsächlich lebt Regina E. nicht in Berlin, sondern in New York. Sie ist 73, leitet dort eine amerikanische Krebs-Hilfsorganisation. Die Adresse der VFK in Berlin wird von einem Büroservice verwaltet, das Telefon ist inzwischen tot. Das Schreiben mit der Linda-Masche wurde offenbar von der SAZ Marketing Services GmbH in Garbsen bei Hannover verschickt. Das jedenfalls verrät die Postleitzahl auf der Rückseite des Werbeumschlags. Das Unternehmen gehört zur SAZ-Gruppe, die ihr Geld unter anderem mit Werbebriefen verdient. Zu ihren Kunden gehören eine Bank, Zeitschriftenverlage, ein Modeunternehmen – und gemeinnützige Organisationen. Bei der Firmengruppe landet wohl ein Großteil der Spenden, als Bezahlung für Werbemaßnahmen. Nach Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Hannover hat die Philippinisches Cleft-Kind (M.), SAZ-Homepage, VFK-Werbebrief: Müssen Spender über hohe VFK Krebsforschung seit 2005 zwar 12,5 Millionen Euro Spenden eingenommen, nützigen Zwecke hätten hingegen kaum die Spender über die hohen Nebenkosten aber nur 18 Prozent, also 2,25 Millionen, eine Rolle gespielt. aufgeklärt werden? Vor vier Jahren geriet für ihre Satzungsziele ausgegeben. Knapp Bald schon dürften neue Anklagen fol- Unicef unter Druck, weil das Kinderhilfs500 000 Euro flossen in die USA. gen. Die Staatsanwälte haben sechs wei- werk hohe Provisionen für die VermittDieses Geschäftsgebaren könnte Regina tere Hilfsorganisationen im Visier, bei de- lung von Spenden gezahlt hatte. Der GeE. nun auf die Anklagebank des Landge- nen das Geschäft ähnlich gelaufen sein schäftsführer musste zurücktreten, die richts Hildesheim bringen. Die Zentralstel- soll. Insgesamt 30 Millionen Euro Spen- Spendeneinnahmen sanken um fast ein le für Wirtschaftsstrafsachen der Staatsan- dengelder könnten so zweckentfremdet Viertel, aber die Staatsanwaltschaft Köln stellte ein Strafverfahren ein. waltschaft Hannover hat gegen sie Ankla- worden sein. In Deutschland müssen die OrganiWolfgang R. bestreitet die Vorwürfe ge wegen gemeinschaftlichen Spendenbetrugs und Untreue erhoben. Beklagt sind „mit allem Nachdruck“. Über seinen An- sationen kaum Kontrollen fürchten. Nur auch Wolfgang R., nach Erkenntnissen der walt lässt er mitteilen, dass er sich zum eine Hürde gibt es: Wenn ein Verein Ermittler der Verantwortliche der weitver- „jetzigen Zeitpunkt“ nicht äußern wolle. oder eine Gesellschaft gemeinnützig werzweigten Werbefirma, und ein Rechtsan- Die übrigen Beschuldigten reagierten den will, muss sie mindestens die Hälfte walt und SAZ-Steuerberater, der faktisch nicht auf eine Anfrage des SPIEGEL. Der ihrer Einnahmen für wohltätige Zwecke 70
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einsetzen. Doch die Finanzämter erkennen eine bis zu vierjährige „Aufbauphase“ an. Zudem behelfen sich viele Organisationen mit einem Trick. Sie fügen in ihre Satzungsziele „Information der Bevölkerung“ oder die „Aufklärung“ über bestimmte Probleme ein. Schon wird ein schnöder Werbebrief zur gemeinnützigen Aufgabe. Selbst Gerichte sind bislang eher großzügig. 1994 etwa erteilte der Bundesgerichtshof eine Art Freibrief. Man könne in den ersten Jahren einer gemeinnützigen Einrichtung nicht davon ausgehen, dass überhaupt Ausgaben für den eigentlichen Vereinzweck getätigt würden, fanden die Richter. Letztlich komme es vor allem darauf an, ob die Spender mit der
Nebenkosten aufgeklärt werden?
Höhe des Verwaltungskosten einverstanden gewesen seien. Die Ermittler in Hannover machten sich deshalb viel Arbeit. Gleich 70 Spender wurden vernommen, etwa drei Viertel davon fühlten sich betrogen. Insgesamt werden in der 90-seitigen Anklageschrift 164 Zeugen benannt. Durch eine Verurteilung käme eine Branche in Verruf, die nur über ein Kapital verfügt: das Vertrauen ihrer Spender. Das Geschäft mit Nächstenliebe und Mitleid jedenfalls ist gewaltig. Im vergangenen Jahr spendeten die Deutschen nach einer Berechnung der Gesellschaft für
gigkeit. Ein vertraulicher Mustervertrag zeigt, dass die SAZ-Gruppe ihren gemeinnützigen Partnern angeboten hat, die Kosten für teure Massenbriefsendungen vorzufinanzieren. Die Schulden sollten mit den erwarteten Spendeneinnahmen abgestottert werden. Reicht das Geld nicht, helfen nur weitere Werbeaktionen, die ausschließlich bei SAZ zu „marktgerechten Komplettpreisen“ geordert werden müssen. „Einnahmen und Ausgaben lassen sich so komplett steuern“, beschreibt ein Insider die Methode, die von Anwalt Parigger bestritten wird. Wie ein Verein in die Fänge der SAZGruppe gerät, zeigt der Fall der Deutschen Cleft Kinderhilfe. Die Organisation sammelt Geld für chirurgische Operationen. Damit werden Kinder mit LippenKiefer-Gaumenspalten in Asien, Afrika und Südamerika geheilt. 2004 wollte der Verein expandieren und schloss einen Vertrag mit der SAZ Europe AG. „Das hätte fast die gesamte Organisation ruiniert“, klagt Alexander Gross, Geschäftsführer der Deutschen Cleft Kinderhilfe. Zwar habe alles vielversprechend begonnen. Das Unternehmen habe Tausende Spenderbriefe geschickt, etliche Empfänger hätten bereitwillig gezahlt. Nur sei bei der Kinderhilfe so gut wie nichts angekommen. „Nach eineinhalb Jahren habe ich dann gebeten, die kostspieligen Mailings zu reduzieren“, behauptet Gross, „doch da ging der Ärger los.“ SAZ habe dies nicht nur verweigert; das Unternehmen habe sogar vorgeschlagen, den Verein in eine gemeinnützige GmbH umzuwandeln. „Es hieß, wir könnten dadurch beim Finanzamt wieder eine neue Aufbauphase geltend machen mit deutlich höheren Kosten“, sagt Gross. Gegen unwillige Vereine findet sich in den Vertragsentwürfen ein „Nutzungspfandrecht an den gewonnenen Adressdaten“ für SAZ. Organisationen, die nicht alle offenen Werberechnungen bezahlen können, „ermächtigen“ SAZ, die Adressen der Spender für andere Zwecke zu „vermieten“. Die Daten liegen ohnehin bei SAZ. Laut Parigger ist „Derartiges“ allerdings in den Verträgen „nicht vorgesehen“. Es sei aber „nicht auszuschlieWird also nicht deshalb gesammelt, weil ßen“, dass es früher solche Vereinbarunes eine Notlage gibt, sondern sich so Um- gen gegeben habe, als der Datenschutz dies zugelassen habe. satz und Gewinn steigern lassen? Tatsächlich ist die Spender-Hausliste Die SAZ-Gruppe hat in der Sammelbranche einen schillernden Ruf. Die Wer- das Herzstück jeder Hilfsorganisation. bebriefe gelten als übermäßig emotional Ohne sie gelingt es kaum, neue Einnahund fordernd, die Suche nach Neukunden men zu bekommen. Nach dem Streit mit ist aggressiv. Gezielt sei in den USA nach SAZ stand die Deutsche Cleft Kinderhilfe renommierten Partnern gesucht worden, jedenfalls zunächst ohne Adressen da. um in deren Auftrag in Deutschland auf Ohne ihr Wissen hätten sich zwei neue Spendenjagd gehen zu dürfen, berichtet Organisationen mit ähnlichem Namen ein ehemaliger Mitarbeiter. SAZ-Anwalt gegründet. Damit hätten sie bei den alten Cleft-Spendern um Geld geworben. SAZ Parigger bestreitet das. Mitunter begeben sich Hilfsorganisa- gab dazu bis Redaktionsschluss keine Steltionen dabei in eine gefährliche Abhän- lungnahme ab. MICHAEL FRÖHLINGSDORF
Konsumforschung fast 2,3 Milliarden Euro. Andererseits werden die Sammelmethoden immer ausgefeilter. 188 Millionen Spendenbettelbriefe landeten in deutschen Briefkästen – eine Lizenz zum Gelddrucken für Mailing-Agenturen. Kleine Hilfsorganisationen stellt das vor große Probleme. Ohne Profi-Werber gelingt es ihnen kaum noch, sich Gehör zu verschaffen. „Der Einfluss der Agenturen auf die Hilfsorganisationen wächst“, beobachtet Burkhard Wilke, Chef des Deutschen Zentralinstituts für soziale Fragen. Manchmal sei kaum mehr zu erkennen, wer das Sagen habe. Stefan Loipfinger von Charity-Watch glaubt sogar: „Hinter manchen Gründungen einer vorgeblich wohltätigen Organisation steht in Wirklichkeit eine Agentur.“
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RECYCLI NG
Schätze aus dem Schredder Die Industrie sucht in Zeiten knapper Rohstoffe nach neuen Quellen: Sie schlachtet alte Elektrogeräte aus. Fündig werden die Unternehmen auch auf Mülldeponien.
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RAPHAEL DEMARET/REA/LAIF
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hierry Van Kerckhoven hat den Blick für verborgene Werte. Der Belgier kann an einem Haufen geschredderten Elektroschrotts erkennen, woraus er beschaffen ist. Und wie viel Geld darin steckt. Kerckhoven arbeitet als Einkäufer solcher Abfälle in der weltgrößten Recyclinganlage für komplexe Edelmetalle im Antwerpener Stadtteil Hoboken, sie gehört zum Umicore-Konzern. Auf dem Werksgelände lagern die Lieferungen in einzelnen Betonbuchten. Kerckhoven zieht die Sonnenbrille ab und betrachtet seine Schätze. Ganz links, das Substrat in Box 2051, pulvrig und glänzend, das seien einmal Leiterplatten und Monitore gewesen, erklärt er; das Kupfer darin erzeuge die braune Färbung, das Glas den Schimmer. Daneben türmt sich ein Haufen bunter Plastikschnipsel, Kerckhoven macht darin Reste von Sim-Karten aus. Er greift sich eine Handvoll, tatsächlich lässt sich der Schriftzug „Vivo“ entziffern, eine brasilianische Mobilfunkfirma. „Vermutlich Überproduktion“, sagt er, deswegen sei die Ladung auf dem Müll gelandet: nutzlos für Vivo, für Umicore hingegen ein wertvoller Rohstoff. In jeder Tonne Abfall aus dieser Box verbergen sich circa 100 Gramm Gold, Wert: rund 3400 Euro. Zum Vergleich: Eine Tonne Erz aus dem Bergwerk enthält häufig nicht mehr als fünf Gramm. Was die Ausbeute angeht, schlägt die Anlage in Hoboken jede Mine der Welt um Längen. Mindestens so begehrt wie das Gold sind freilich die 16 anderen Metalle, die Umicore hier gewinnt. Dazu gehört Gallium, wichtig für den Bau von Solarzellen. Oder Rhodium, das in Katalysatoren verwendet wird: Vier Tonnen produziert Umicore in Hoboken jährlich, ein Fünftel des gesamten Weltbedarfs. Solche Rohstoffe sind knapp und begehrt und über die Jahre immer teurer geworden. Die Industrie warnt bereits vor gefährlichen Engpässen, sie sucht deshalb nach neuen Quellen. Eine Lösung könnte aus der Mülltonne kommen: Was früher schlicht Abfall war, avanciert auf einmal zur gesuchten Ressource. Würde Elektroschrott systematisch verwertet, könnten die Unternehmen künftig ihren Bedarf an wichtigen Metallen zumindest zum Teil aus eigener Kraft decken. Dann wäre der Wirtschaftsstand-
Wertstoffgewinnung im Umicore-Werk in Antwerpen, Schrottplatz in Duisburg: „Das ungenutzte
ort nicht mehr so abhängig von Förderländern wie Australien, Brasilien oder China, dem Hauptlieferanten der sogenannten Seltenen Erden. Diese besonders gesuchten Spezialmetalle mit Namen wie Dysprosium oder Neodym sind unentbehrlich für die Herstellung von Hightech-Gütern. Doch bislang liegen diese Potentiale weitgehend brach. Während Deutschland bei Glas oder Papier Recyclingquoten von mehr als 80 Prozent erreicht, geht der größte Teil der Elektrogeräte als Rohstoffquelle verloren. Rasierer, Föhne oder Toaster verstauben in Schränken und Schubladen, oder, was am häufigsten passiert, sie landen in der Restmülltonne – und enden damit im Verbrennungsofen. Dort lösen sich zum Beispiel mit jeder Tonne Mobiltelefone, das sind etwa 10 000 Geräte, wahre Reichtümer in Rauch auf: unter anderem 150 Kilogramm Kupfer, 5 Kilogramm Silber, knapp 100 Gramm Palladium. Eine neue Studie der Unep, der Umweltbehörde der Vereinten Nationen, kommt zu niederschmetternden Ergebnissen. Demnach liegt die Recyclingrate für 32 von 37 Spezialmetallen bei nahe null: „Das ungenutzte Potential ihrer Wiederverwertung ist enorm“, kritisieren die Autoren. Die Industrieländer, so das Fazit, müssten ihren verschwenderischen Umgang mit Ressourcen radikal ändern, zumal das Aufkommen an Elektroschrott von Jahr zu Jahr schnell wächst. D E R
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In immer kürzeren Zyklen kommen neue Generationen von Smartphones oder Laptops auf den Markt – und werden alte Modelle ausgemustert. Zugleich nimmt insgesamt die Nachfrage nach wertvollen Metallen immens zu. Diesen Bedarf bloß aus Minen zu befriedigen überfordere die Natur, warnt Armin Reller, Augsburger Chemieprofessor und Ressourcenspezialist: „Was wir brauchen, ist eine Recyclingstrategie.“ Das bisherige System, wie es seit sechs Jahren in Deutschland existiert, ist jedenfalls verbesserungsbedürftig. Damals verpflichtete die Bundesregierung die Hersteller, ein Rücknahmesystem aufzubauen und zu finanzieren. Seither können Verbraucher an den rund 1500 kommunalen Sammelstellen nicht nur Sperrmüll oder Problemstoffe abgeben, sondern auch Elektrogeräte. Dort sortieren die Mitarbeiter die Ware in fünf Gruppen. Ist ein Container voll, geht eine Meldung nach Fürth zur Stiftung Elektro-Altgeräte Register (EAR). Hier muss sich jeder Hersteller, der in Deutschland Elektrogeräte verkauft, registrieren lassen; rund 8000 Unternehmen sind gemeldet. Sie beauftragen Dienstleister wie Remondis, Interseroh oder Alba, die den Schrott abholen und entsorgen, mehr als 90 000-mal geschah dies im vergangenen Jahr. Wann und wie oft ein Hersteller an der Reihe ist, dafür ist die Menge maßgeblich, die er von einer Kategorie verkauft.
THOMAS PFLAUM / VISUM
Potential ist enorm“
Der Aufwand ist beträchtlich, das Ergebnis kaum zufriedenstellend oder, wie die Stiftung EAR selbst einräumt, „ausbaufähig“: Der Anteil der Geräte, die in den Annahmestellen landen, lag zuletzt bei 27 Prozent der verkauften Neuware. „Wir haben ein Sammelproblem“, konstatiert Hubertus Bardt, Rohstoffexperte am Institut der deutschen Wirtschaft. Aber was müsste geschehen, damit der Schrott auch im Schredder landet? Die Bundesregierung prüft derzeit, ob die Wertstofftonne Abhilfe leisten kann. Sie soll den gelben Sack und die gelbe Tonne ablösen und bis 2015 bundesweit in den Haushalten zum Sammeln recycelbaren Materials eingeführt sein. Unklar ist nur, was alles dazugehört, ob sie also nicht nur Kunststoff- oder Metallteile aufnehmen soll, sondern auch Elektrokleingeräte. Das Umweltbundesamt (UBA) steht dem ablehnend gegenüber, aus ökologischen Gründen: Zu groß sei die Gefahr, dass beim Verarbeiten Schadstoffe etwa aus Batterien oder Tonerkartuschen austreten könnten. Und strittig ist auch, wer überhaupt Zugriff auf die Wertstofftonne bekommen soll: die kommunalen Entsorger oder ihre private Konkurrenz. Die Behörde bringt eine andere Option ins Spiel: Ein Gutschriftensystem könnte einen Anreiz bieten, Altgeräte zurückzugeben. UBA-Chef Jochen Flasbarth regt ein solches Verfahren zumindest für
Handys an. Mobilfunkanbieter könnten als Belohnung Freiminuten spendieren. Bislang wird höchstens jedes vierte Handy recycelt, obwohl die Netzbetreiber sogar das Porto zahlen, wenn Kunden die Geräte zurückschicken. Es wäre allerdings noch mehr gewonnen, wenn Polizei und Zoll den illegalen Export von Elektroschrott in den Griff bekämen. Zigtausende Tonnen gehen dem Stoffkreislauf verloren, weil windige Geschäftemacher sich die Ware auf Flohmärkten, vom Sperrmüll oder bei wilden Straßensammlungen organisieren und nach Übersee verschiffen. Von Häfen wie Hamburg oder Rotterdam gelangen die Fernseher, Computer oder Drucker vor allem nach Afrika, etwa KKupfer upfer
15 15 000
Aluminium
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Eisen
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2000 1000 1000 500
unter Gold unter 100 100 PPalladium, alladium, etwaa etw Tantal, Tantal, a Indium 20 D E R
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Mobile RReserve eserve Metallbestandt Metallbestandteile eile vvon on einer Milliar Milliarde de Mobilt Mobiltelefonen elefonen* in TTonnen onnen o Quelle: Oekom Oekom * weltweit weltweit verkaufte verkaufte Mobiltelefone 20 10: 1,4 Mr d. telefone 2010: Mrd. 2 3 / 2 0 1 1
Nigeria oder Ghana. Dort werden die Geräte oftmals von Kindern mit bloßen Händen zerlegt; sie verbrennen die Kabelhüllen, um an das Kupfer zu kommen, und atmen dabei giftigen Rauch ein. Laut der Basler Konvention von 1989 ist grenzüberschreitender Schrottexport verboten, doch nur wenige Container werden überprüft, zuweilen verbirgt sich die fragliche Ware hinter Reihen intakter Geräte. Für intensive Kontrollen fehlen den Ordnungskräften das Personal und die Zeit: Die Schiffe verbringen in der Regel nur wenige Stunden am Kai. Die Recyclingwirtschaft rechnet sich ohnehin größere Chancen aus, eine andere, noch unberührte Rohstoffreserve zu erschließen: Auf alten Deponien lagern tonnenweise Schätze aus Zeiten, in denen der Begriff „Recycling“ noch weithin unbekannt war. In den Hausmüllhalden steckten so viele metallische Rohstoffe, dass sie den gesamten deutschen Bedarf ein Jahr decken könnten, schätzt der Gießener Abfallwissenschaftler Stefan Gäth. Mit der Bohrschnecke sind Gäth und seine Mitarbeiter rund 20 Meter tief ins Innere einer stillgelegten Deponie in Hechingen vorgedrungen, die Anlage war zwischen 1982 und 2005 in Betrieb. Sie fanden neben Papier, Plastik und Glas auch eine Menge Metall: vom Suppenlöffel bis zur kompletten Bohrmaschine. Etwa 30 bis 50 Millionen Euro an Werten schlummerten dort, vermutet der Professor. Die Sache hat nur einen Haken: Noch seien die Kosten für einen Rückbau der Müllhalden höher als der Ertrag. So ist es ein langer Weg von der Wegwerfgesellschaft in die Recyclingwirtschaft des 21. Jahrhunderts. Was fehlt, sind effiziente Sammelverfahren – vor allem aber mangelt es am Bewusstsein der Verbraucher, dass Elektroschrott überhaupt einen Wert besitzt. Allerdings bietet selbst die höchste Sammelquote keine Gewähr, dass die Recyclingindustrie auch sämtliche Metalle aus dem Abfall herausfiltert. Es gibt Grenzen, wie die Umicore-Anlage in Hoboken zeigt. Dort beobachtet Einkäufer Kerckhoven vor einer Schutzscheibe, wie die Schredderware in den 1100 Grad heißen Schmelzofen fällt. Immer wieder zischt und kracht es. „Manchmal reagieren die Stoffe ein bisschen aggressiv“, erklärt er. Erst wird Hitze eingesetzt, um die Stoffe zu trennen, die Feinarbeit leistet danach die Chemie. Ins Detail möchte er nicht gehen, Betriebsgeheimnis. Nur so viel: Ausgerechnet die begehrten Seltenen Erden gehören nicht zur Ausbeute. Technisch sei es durchaus machbar, auch diese Stoffe zurückzugewinnen, sagt Kerckhoven. Doch es würde einen ungeheuren Zusatzaufwand bedeuten. „Dafür sind Seltene Erden noch viel zu billig.“ ALEXANDER JUNG
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Die Welt – ein Dorf Europas größter Reisekonzern investiert eine viertel Milliarde Euro in ein riesiges Stück Toskana, um daraus ein modernes Ferienparadies zu machen: Multikulti für Millionäre.
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ott hatte es nicht allzu schwer, als obwohl das rein rechnerisch auch stimer die Welt erschuf. Okay, der Ter- men würde. Aber hier geht es nicht um mindruck war hoch, aber selbst- Größe allein, sondern um einen Traum gemacht. Sechs Tage bis zur Übergabe von Schönheit, Luxus und Authentizität, hat ihm ja niemand diktiert. Dafür konnte „einfaches Leben auf höchstem Niveau“, er am siebten Tag noch den Keim legen wie die Imagebroschüre philosophiert. für allerlei Sozialklimbim, der bis heute Friede, Freude, Spa-Bereich. Herr Schlüter sitzt auf der Terrasse des nachwirkt: Sonntagsfahrverbot, Feiertagszuschläge, strenge Ladenöffnungszeiten. Golfrestaurants. Es ist das einzige schon Mit den Widrigkeiten moderner Immo- fertige Gebäude. Grüne Eidechsen flitzen bilienentwickler musste Gott sich nicht über die Fliesen, die Lasagne ist fast so herumschlagen: Bebauungsplan-Ände- warm wie die Mittagssonne. Unauffällig zertritt der Gast eine große rungsanträge, Altbestandssanierungs-Auflagen oder ähnlich lange Wörter wurden Spinne, die Herr Schlüter sonst wahrerst später erfunden. Und Herr Schlüter scheinlich gerettet hätte, denn er hat nun will jetzt wirklich nicht bei Adam und Eva schon sehr lange erzählt, wie nachhaltig anfangen, aber er hat es doch ungleich seine Leute diese einzigartige Kulturlandschwerer mit der Erschaffung eines, seines, schaft schützen werden, die bis weit jendes vielleicht größten Paradiesprojekts, seits des ebenfalls total toskanischen 18Loch-Golfplatzes reicht. das je gestartet wurde. Die blutsaugenden Bremsen hat er beIm Auftrag der TUI verwaltet er elf Quadratkilometer allerfeinste Toskana reits im Griff. War nicht schön für die Golfzwischen Florenz und Pisa. „Fast sechs- spieler. Nun hängen an etlichen Bäumen mal so groß wie Monaco“, sagt Herr sehr biologisch aussehende Viecherfallen, Schlüter, was deutlich besser klingt als in deren brauner Brühe die Mücken trei„gut halb so groß wie Berlin-Marzahn“, ben. Dahinter döst der Wald, dort der 76
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eigene See. Oben das Dörfchen, ganz zu schweigen von den 8000 Olivenbäumen, aus deren Früchten Herr Schlüter schon wieder Öl gewinnen lässt, oder den 400 Wildschweinen, die allerdings weggesperrt sind, sonst würden sie ja die Greens versauen. Auch Öko-Spaß hat Grenzen. Castelfalfi heißt das gottverlassene Kaff, aber jetzt läuft es unter „Toscana Resort Castelfalfi“, denn nun ist ja Herr Schlüter da. Er hat Baugenehmigungen für zwei neue Hotels mit insgesamt 320 Zimmern sowie rund 160 neue Apartments, Villen und Townhouses, was auch besser klingt als Reihenhäuser. Ein drittes Hotel gibt es schon und wird zurzeit entkernt. An der Dorfstraße entsteht gerade eine erste Pizzeria. Die meisten der 28 Casali (so werden die ebenso originalen wie verfallenden Bruchbuden auf dem Anwesen genannt) sollen saniert, 50 weitere Wohnungen oben im Dorf ausgebaut werden. Der gesamte Altbestand an Gemäuern muss erhalten bleiben. Unter 250 000 Euro wird man hier bald keinen begehbaren Kleiderschrank mehr bekommen. Nach oben sind der Spendierfreudigkeit der künftigen Bewohner keine Grenzen gesetzt. Die alten Anwesen gibt’s ab 1,5 Millionen. Das größte Haus hat knapp 1500 Quadratmeter – Wohnfläche. Wenn Herr Schlüters Legionen von Bauarbeitern, Ingenieuren, Architekten, Handwerkern, Designern und Landschaftsgärtnern hier im Frühjahr 2013 fertig sind, soll der jetzige Flecken Toskana aussehen wie – Toskana. Nur natürlich
Wirtschaft cken lassen, obwohl sie altersmäßig in die Zielgruppe passen, die nicht mehr ganz werberelevant ist: arrivierte Mittfünfziger land musste er seinem Containerschiff- aufwärts; Kinder aus dem Haus, und die ableger Hapag Lloyd beispringen. Mal Zweit- oder Drittfrau sucht nun einen relegte sich Paola Rossetti quer, die linke, präsentativen Zweit- bis Drittwohnsitz. aparte Bürgermeisterin der für Castelfalfi Wertkonservative Moderne. Das kann der badische Großmetzger sein wie der Düszuständigen Gemeinde Montaione. Schon ihr Vater war hier Bürgermeister. seldorfer Werbeagentur-Boss. Nur zu vieUnd sie erzählt gern, was sie den Deut- le davon sollten’s auch nicht werden. Denn vor kaum etwas hat die TUI schen alles abgetrotzt hat an Zugeständnissen. Im Teatro del Popolo hörten die mehr Angst, als dass ihr künftiges PreBürgerversammlungen kaum noch auf. mium-Dorf eine Art germanischer Hügel Man mag sie nicht besonders, die Gäste wird – mit Wurstel con Krauti und „Drauaus dem Norden, denn sie sind ja nicht ßen gibt’s nur Kännchen“. Erstens würde das andere Nationen abschrecken, zweizum ersten Mal hier. Im Zweiten Weltkrieg erschossen Wehr- tens wollten jene Deutschen, die sich Casmachtssoldaten toskanische Partisanen, telfalfi leisten können, das selbst nicht. Die wünschen sich Ursprünglichkeit was der Völkerverständigung nicht gerade half. Ein paar Jahrzehnte später folgten und internationalen Anspruch zugleich die 68er. Nun also kommt das große Geld, und dass sie mit ihrem Nachbarn Englisch dem man erst mal zeigen wollte, was da- parlieren können über den nicht vorhandenen Gartenzaun, während irgendein mit alles nicht zu kaufen ist. So wurde es Herbst und Winter und Pietro Palmen und Hecken stutzt. Die deutsche Oberschicht ist mit ihrer Frühling und Sommer und wieder Herbst und Winter und immer so weiter. Herr Sehnsucht nach einem derart globalen Schlüter diskutierte und beschwichtigte, Dorf nicht allein. Der erste russische Inerklärte und umwarb. Es gab Anhörun- teressent, an den sich Herr Schlüter eringen und Powerpoint-Präsentationen und nert, fragte vor allem anderen, ob schon Termine in Montaione, Florenz, Rom und andere Russen da seien. Erst als man verwo sonst noch jemand saß, der etwas mit- neinte, sei er beruhigt gewesen. Es gibt aber noch eine schlimmere Bedrohung zuentscheiden hatte. Herr Schlüter ist ein Mann wie ein als Moskauer Neureiche. supermodern mit allem Schnick und Wenn Marco Boldrini von der UmweltSchnack, Sicherheitsdienst, W-Lan, Pools Baum, allerdings eher Eiche als Zypresse. und Concierge-Service. Das Erste, was Er kann seine Bauarbeiter heute in pas- organisation Legambiente auf den Caszurzeit zu sehen ist, wird gleich wieder sablem Italienisch anschreien. Aber selbst telfalfi-Golfplatz schaut, sagt er zwar: verbuddelt: Abflussrohre, Wasserleitun- so ein quirliger Macher braucht schon ei- „Wir haben der TUI zu viel Freiheit genen unerschütterlichen Glauben, damit er lassen.“ Aber Deutsche und Italiener gen, Kabelstränge. Endlich darf Herr Schlüter richtig los- sein Paradiesprojekt nicht irgendwann als haben sich jetzt so lange aneinander abgearbeitet, dass man sich wenigstens verlegen. Immerhin ist es schon sechs Jahre Hölle erlebt, wenn nichts vorangeht. Dabei kennt er sich mit Urlaubsträu- steht. Die deutschen Krötenzaun-Fetiher, dass er die schlafende Schönheit Castelfalfi entdeckt hat. Wäre das Kaff eine men aus. Jahre zuvor hat er für die TUI schisten sind Herrn Boldrini immer noch Frau, hätte man gesagt: Sie hat eine be- die Ferienanlage Fleesensee in die meck- lieber als Chinesen. Die würden späteswegte Vergangenheit. Seit dem Ende des lenburg-vorpommersche Seenplatte ge- tens in ein paar Jahren in den NachbarZweiten Weltkriegs ging’s bergab mit der rammt. Der wichtigste Unterschied zum orten das kopieren wollen, was sie demDiva. Die Dorfbewohner starben oder Italien-Plan: Die Toskana hatte schon nächst in Castelfalfi sehen. Vielleicht ist das ja die Zukunft des Touzogen weg. Die Gehöfte verfielen. Italie- einen Ruf, sogar einen sehr guten. Und nische Investoren kamen und gingen, hat- zwar nicht nur bei deutschen Salon-Sozis, rismus überhaupt? Man kauft keinen Club ten Pläne und begruben sie wieder. Cas- die sich Castelfalfi wahrscheinlich gar oder Strand mehr, sondern gleich einen telfalfi dämmerte vor sich hin, bis die TUI nicht leisten können. Außer Gerhard ganzen Landstrich. Ein Ägypter will das verschlafene Schweizer Andermatt gerade Schröder vielleicht oder Otto Schily. im Mai 2007 zuschlug. Von den Promis der hiesigen Toskana- in ein Riesenresort verwandeln, sorgt aber Es war eine Zeit, als alles ziemlich teuer war. Kurz darauf dämmerte die Wirt- Fraktion hat sich indes noch keiner bli- schon wieder für enorme Proteste. Herr Schlüter träumt derschaftskrise herauf, und so weil von einer Art Platincardgeschah in Castelfalfi aus unMailand Venedig Multikulti-Society, die etwa so terschiedlichen Gründen wieaussehen könnte: 25 Prozent der nichts mehr, außer dass Bologna Deutsche, 25 Prozent Briten, Herr Schlüter seine Familie 25 Prozent Italiener und der nachziehen ließ. Er musste Rest Schweizer, Franzosen, vor Ort sein, eins werden mit Florenz Skandinavier, die nur eines der italienischen Mentalität. Pisa eint: ein gewisses GrundverSo begann seine eigene To s ka n a mögen. Die würden dann ja Schöpfungs-Geschichte. auch eine ganz neue Art von Mal fehlte es schlicht an CASTELFALFI Perugia Dorfgemeinschaft bilden, glausolventen Interessenten. Mal ben sie bei der TUI. machten die Turbulenzen 50 km Das wird sicher lustig, wenn der Krise dem Reisekonzern der Londoner Börsenspekuoffenbar selbst zu schaffen: lant, der Schweizer MillionenZu Hause im trüben Deutsch- TUI-Manager Schlüter: Angst vor „Draußen gibt’s nur Kännchen“ TUI-Besitz Castelfalfi
THOMAS TUMA / DER SPIEGEL
CHRISTIAN WYRWA
„Fast sechsmal so groß wie Monaco“
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FIONA EHLERS, THOMAS TUMA
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KIN CHEUNG / AP
erbe, der russische Oligarch mit vielen sehr jungen Begleiterinnen und der schwäbische Hidden Champion in Sachen Entgasungsanlagen sich abends zum Vino auf der Plaza einfinden. Ureinwohner würden in Castelfalfi jedenfalls nicht stören, im Gegenteil. Leider lebt nur noch einer auf dem Anwesen. Dabei brauchte Herrn Schlüters Paradies dringend noch echte Italiener. Sein Barkeeper oben in der Burg muss mindestens Giuseppe heißen. Und vielleicht findet man im Umland auch noch ein paar wettergegerbte Handwerker, in deren kleinen Castelfalfi-Shops sich künftig das Leben abspielt, irgendein Leben. Sonntags treffen sich ein paar der Original-Alten gern oben im kleinen Schlosspark, Leute wie der Kioskbesitzer Paolo Leoncini, der in Castelfalfi geboren wurde, aber auch längst in Montaione lebt. Dann sitzen sie im Schatten der uralten Bäume und schwelgen in Erinnerungen, wie ihr Dörfchen früher von Adel und Grundbesitzern ausgenommen wurde. Die ersten TUI-Entwürfe hätten zwar „wie ein Faustschlag ins Gesicht der Toskana“ gewirkt, sagt Herr Leoncini, aber dem Tourismus gehöre eben die Zukunft. Nun gehe es um Arbeitsplätze. Herr Schlüter verspricht 250 Vollzeitjobs. Die vorläufigen TUI-Investitionen haben eine Größenordnung von 250 Millionen Euro. Und weil selbst das nicht reichen dürfte, sucht der Konzern nicht nur schwerreiche Toskana-Romantiker, sondern potente Partner. Man habe es da gar nicht eilig, sagt das Unternehmen. Leute, die es eilig haben, sagen gern, dass sie es nicht eilig haben, sonst heißt es noch, sie hätten es eilig. Es kann jedenfalls immer noch allerlei schiefgehen im Paradies. Es könnte am Ende aussehen wie Betreutes Wohnen für Millionäre. Es könnten die falschen Interessenten einsteigen. Und noch schlimmer: Es könnten zu wenige kommen. „Ich mache mir keine Sorgen“, sagt Herr Schlüter im Abendrot. „Das ganze Projekt ist durchfinanziert. Wenn morgen die Märkte mal wieder komplett zusammenbrächen, dann würde es vielleicht noch mal etwas länger dauern. Aber das hier wird fertig.“ Herr Schlüter ist jetzt 51 Jahre alt. Er will so lange bleiben, wie sein Konzern im fernen Hannover ihn lässt. Seit sechs Jahren spielt er für die TUI den Gott von Castelfalfi. Weitere sechs könnte die Realisierung dauern. Im siebten könnte auch er endlich ruhen. Na ja, sagt Herr Schlüter dann. Seinen Lebensabend würde er wohl doch in Deutschland verbringen wollen. Das hat zwar weniger Sonne und Carrara-Marmor. Aber die Vollkasko-Sicherheit eines engmaschigen Ärztenetzes hat ja bisweilen auch was Paradiesisches.
Lenovo-Chefs Yang, Liu: Hightech-Durchmarsch gen Westen ÜBERNAHM EN
Peking und das PC-Phantom Der Computerhersteller Lenovo will Medion aus Essen übernehmen. Erstmals greifen Chinesen damit im großen Stil auf dem europäischen Markt an.
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uf den ersten Blick ist der vergangene Donnerstagmorgen ein Tag wie jeder andere auch. Kurz vor neun beginnt in dem grauen Gebäudekomplex im Nordwesten Pekings die Frühschicht, nach und nach verschwinden die Mitarbeiter von Lenovo in der Firmenzentrale aus Glas und Beton. Doch etwas ist anders an diesem Tag, unter den zumeist jungen Angestellten von Chinas größtem Computerhersteller herrscht leise Euphorie. Denn viele wissen bereits, dass ihr Arbeitgeber sich gerade bei dem mit rund 630 Millionen Euro bewerteten Computerhändler Medion im fernen Deutschland einkaufen will – was immerhin die größte Auslandsinvestition wäre, seit das Unternehmen 2005 für 1,75 Milliarden Dollar die PC-Sparte des amerikanischen Konzerns IBM gekauft hat. Derzeit belegen die Chinesen mit einem Umsatz von rund 15 Milliarden Euro weltweit Rang vier hinter den US-Konkurrenten Hewlett-Packard, Dell und dem taiwanischen Rivalen Acer. Mit den Deutschen will man sich einen globalen Spitzenplatz erkämpfen – und wäre gleichzeitig der erste chinesische Investor, D E R
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der sich in ein großes, börsennotiertes Unternehmen in Deutschland einkauft. 13 Euro pro Aktie bietet Lenovo den Medion-Anteilseignern, mindestens 51 Prozent des Grundkapitals will der Konzern im ersten Schritt übernehmen. Damit würde man in Europas Computergeschäft auf einen Marktanteil von rund sieben Prozent kommen. 27 000 Mitarbeiter beschäftigt der chinesische Konzern. Die Mutter-Holding Legend gehört mehrheitlich der Akademie der Wissenschaften in Peking, einer
ZZweckgemeinschaft weckgemeinschaft KKennzahlen ennzahlen der Comput Computerhersteller erhersteller Lenovo Lenovo und Medion im Geschäftsjahr 20 2010 10 geplanter Kauf
Umsatz
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KonzernKonzernergebnis ergebnis
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Wirtschaft
CARO / RUFFER / ULLSTEIN BILD
Läuft alles nach Plan, werden in den regierungsnahen Denkfabrik. Der von Rewe, Tengelmann oder Tchibo bestellen Liu Chuanzhi, 67, mitgegründete Com- riesige Mengen eines einzigen Elektro- Regalen von Aldi und Co. demnächst vielputerhersteller ist der Stolz der Chinesen. geräts, das im Rahmen von Sonderaktio- leicht Lenovo-Computer stehen. „Medion Spätestens seit der spektakulären IBM- nen dann zu Tiefstpreisen verkauft wird. dient Lenovo als Türöffner für den euroBekannt wurde Medion als Lieferant päischen Markt, weil das Unternehmen Übernahme träumte die Nomenklatura in Peking vom Hightech-Durchmarsch der Aldi-Brüder. 1996 wurde in deren Dis- im Handel gut vernetzt ist“, sagt Carolina countfilialen erstmals ein PC für damals Milanesi vom Marktforschungsunternehaus dem Reich der Mitte gen Westen. Doch dabei sind die Chinesen ins Stol- sagenhaft günstige 1998 Mark angeboten. men Gartner. „Vorteile bei der Technolopern geraten. Der Kauf des Computer- Vor den Geschäften bildeten sich Schlan- gie und der Entwicklung neuer Produkte bauers Packard Bell misslang. Und aus- gen, innerhalb weniger Stunden wurden kriegen sie dadurch aber nicht.“ Wer aber neue Vertriebsmöglichkeiten gerechnet Acer aus Taiwan schnappte den 20 000 Computer verkauft. Bis zu 350 000 Festlandchinesen die US-Firma Gateway Geräte pro Aktion waren es nach Bran- nutzen will, braucht auch Produkte, die sich verkaufen lassen. Und da sind es weg. Schließlich warf die Finanzkrise den chenschätzung in der Folgezeit. Brachmann expandierte, brachte sein nach wie vor die Amerikaner, die die Computerriesen im Jahr 2008 kräftig zurück. Quasi über Nacht schränkten die Unternehmen an die Börse und wurde Trends vorgeben: Erst brachte der USAmerikaner und Europäer ihre Compu- reich. Doch mit dem Zusammenbauen Konzern Apple das iPhone auf den Markt terkäufe ein. Lenovo aber ist vor allem von Computern lässt sich schon lange und zwang den überraschten Lenovoim Geschäft mit Laptops für Geschäfts- nicht mehr das große Geld verdienen. In Konzern, hastig seine alte Handy-Sparte kunden stark. Das Unternehmen musste seinen besten Zeiten machte Medion ei- zurückzukaufen, um mit einem eigenen elf Prozent seines Personals abbauen und nen Umsatz von fast drei Milliarden Euro. Smartphone namens LePhone nachzuziedie Gehälter kürzen. In den vergangenen zwei Jahren hatte sich Lenovo auf den chinesischen Markt konzentriert. Mit dem Schlachtruf „Diannao Xiaxiang!“ – frei übersetzt: „Computer auf die Dörfer!“ – schickte die Firma scharenweise Verkäufer in die Provinz, während Peking im Zuge des größten Konjunkturprogramms der Geschichte den Kauf von Computern mit kräftigen Steuernachlässen förderte. Zugleich griff Lenovo in Entwicklungsländern mit seinen billigen Geräten an. In Indien stieg der Hersteller Ende 2010 zum Hauptlieferanten für dortige Unternehmen auf. Das Ergebnis: Weltweit verdoppelte Lenovo seinen Gewinn auf mehr als 190 Millionen Euro, der Umsatz legte 30 Prozent zu. Konzern-Boss Liu sprach von einem „Rekordjahr“. „Schützen und angreifen“, lautet die Strategie, der sich die Chinesen mittlerweile verschrieben haben. Einerseits wollen sie die Geschäfte auf ihrem Heimatmarkt und mit dem Laptop-Dauerbren- Messestand von Medion auf der Ifa in Berlin 2006: „Wunsch-Ehe“ für den Aldi-Lieferanten ner ThinkPad stützen. Andererseits soll versucht werden, „in reifen Märkten“ Vergangenes Jahr lagen die Essener ge- hen. Dann kam das iPad, Lenovo folgte rade mal noch bei einem Umsatz von prompt mit dem sogenannten LePad, das das Privatkundengeschäft zu erobern. für Chinesen einfacher zu handhaben sei Erst im Januar legte Lenovo in Japan 1,6 Milliarden Euro. Der Boom von Smartphones und Tab- als das Apple-Produkt, behauptet Manadas PC-Geschäft mit dem Branchenriesen NEC zusammen und sicherte sich damit let-PC setzt dem klassischen Computer ger Yang Yuanqing, neben Liu der zweite den Zugang zum japanischen Markt. „Wir ohnehin zu, allein im ersten Quartal die- Mann bei Lenovo. Den unliebsamen Hightech-Entwicksuchen nach Firmen, die uns ergänzen“, ses Jahres brach der Verkauf in Deutschland im Vergleich zum Vorjahreszeitraum lungen des Westens begegnet das Reich heißt es im Unternehmen. Dass die Wahl der Chinesen jetzt über 16 Prozent ein. Den Essenern fehlt der Mitte noch immer am liebsten mit ausgerechnet auf den deutschen Händler es an Innovationskraft. Der Zugang zu Abschottung. Der Zugang zu Facebook aus dem Ruhrpott gefallen ist, hat in der dem riesigen Netz von Entwicklungs- und Twitter etwa wird von der staatlichen Branche niemanden verwundert – wenn- ingenieuren bei Lenovo kommt Medion Zensur blockiert, der SuchmaschinenKonzern Google zog sich 2010 fast völlig gleich das Unternehmen, das seine Zen- deshalb durchaus gelegen. Von einer „Wunsch-Ehe“ spricht Medi- aus der Volksrepublik zurück. trale in einer ehemaligen Kaserne in Kritik an der Zensur ist von LenovoEssen-Kray hat, nicht gerade als schillern- on-Finanzvorstand Christian Eigen. Und der Entwickler anspruchsvoller Geräte Konzerngründer Brachmann, wegen feh- Boss Liu nicht zu erwarten. Im Gegenteil: lender öffentlicher Auftritte auch das Das Unternehmen installierte gemeinsam bekannt ist. Firmengründer Gerd Brachmann im- „PC-Phantom“ genannt, hat dem Deal mit anderen Herstellern zeitweilig sogar portierte in den achtziger Jahren einen mit den Chinesen bereits zugestimmt. eine staatliche Zensur-Software auf seinen Posten billiger Mikrowellen aus Asien, Umgekehrt bietet der Essener Konzern Computern. Erst nach Protesten westliverkaufte sie an die Kaffeekette Eduscho genau das, was die Asiaten brauchen: ein cher Hersteller verzichtete Peking darauf, – und legte damit den Grundstein für sein gutes Vertriebsnetz und Kunden, die die Installation der Zensur-Software zu erGeschäftsmodell: Handelsketten wie preiswerte, funktionale Computer suchen. zwingen. SUSANNE AMANN, WIELAND WAGNER D E R
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Wirtschaft Vattenfall-Fernwärmekraftwerk in Hamburg
„Unzureichende Prüfung“
RAINER WEISFLOG
Doch der neue SPD-Senat unter Olaf Scholz will andere Wege gehen und mit den derzeitigen Netzbetreibern Vattenfall (Strom, Fernwärme) und E.on (Gas) gemeinsame Gesellschaften gründen, an denen die Stadt nur noch mit 25,1 Prozent beteiligt ist. Ein Deal mit Vattenfall könnte – angesichts der Vorwürfe – eine schwierige Gratwanderung werden. Denn nach Schätzungen, die Experten der Stadtentwicklungsbehörde 2009 anstellten, ist die Stadt Hamburg durch die VattenfallBilanzjongleure um Einnahmen in Höhe von 50 bis 70 Millionen Euro gebracht worden. Das mag auch die neue Leitung nicht dementieren. Die Stadtentwicklungsbehörde habe die Einschätzungen der GPPExperten „im Wesentlichen“ geteilt, so ihr Sprecher Volker Dumann. Eine SonVerluste von rund 14 Millionen Euro. Die derabgabe könne „jedoch nicht einseitig HAMBURG Prüfer dagegen errechneten ein Plus von durch die Freie und Hansestadt Hammindestens 30 Millionen. Ihr Fazit: „Die burg“ erhoben werden. Ex-Staatsrat von Vattenfall vorgelegte Ermittlung des Maaß widerspricht: „Die Stadt kann jeErgebnisses für den Geschäftsbereich derzeit per Verordnung eine WegenutFernwärme entspricht unseres Erachtens zungsgebühr als Konzessionsabgabe ernicht den vertraglichen Regelungen.“ heben. Man muss es nur wollen.“ Ein Vattenfall-Sprecher weist den VerUm Schadensersatzforderungen geldacht zurück. Der Konzern habe sich „jetend machen zu können, müsste die Stadt Jahrelang soll der Energiekonzern derzeit vertragskonform“ verhalten. Das alle Zahlen der vergangenen zehn Jahre Vattenfall seine Fernwärmezeige sich auch am Verhalten der Stadt, kennen. Doch Vattenfall verweigert die sparte künstlich armgerechnet und die zu keinem Zeitpunkt vor Herausgabe. Die Behörde hat 2009 die übermittelten Geden Konzern deshalb im verdie Stadt dadurch um 50 bis 70 schäftsergebnisse angezweifelt gangenen Jahr verklagt. Doch Millionen Euro gebracht haben. habe. Das ist richtig, aber nur bis der Fall geklärt ist, können Jahre ins Land gehen. er Brief ist sieben Seiten lang, die halbe Wahrheit. Denn der Dennoch deutet nichts darstreng vertraulich und geeignet, Landesrechnungshof hatte beauf hin, dass Scholz von seidie Energiepolitik des neuen SPD- reits 2007 in seinem Jahresbenem Vorhaben abrückt, sich als Senats unter Olaf Scholz zu torpedieren. richt eine „unzureichende PrüMinderheitsgesellschafter an Geschrieben haben ihn Experten der fung“ der Vattenfall-Angaben den Konzern zu ketten. Dabei Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Göken, durch die Verwaltung bemänhätte der Bürgermeister auch Pollak und Partner (GPP) im November gelt und den Verdacht geäuohne schwarz-grüne Vorarbeit 2009. Empfänger war die „Freie und Han- ßert, es könne nicht ausgeerkennen können, dass Vattensestadt Hamburg, Behörde für Stadtent- schlossen werden, dass „die Ge- Senatschef Scholz winnermittlung für Hamburg Schwieriger Deal falls bilanzierte Armut in Sawicklung und Umwelt“. chen Fernwärme mehr als fragDie Vorwürfe, die die Prüfer unter der nachteilig“ sei. Die Behörde, die damals noch von ei- würdig ist. Ein Blick in den BundesanÜberschrift „Ergebnis des Geschäftsbereichs Fernwärme der Vattenfall Europe nem CDU-Senator geführt wurde, wies zeiger genügt. Dort findet sich der Jahresabschluss Hamburg AG“ erheben, wiegen schwer: die Kritik zurück. Das „FernwärmeergebViele Jahre lang habe Vattenfall seine nis begegne bei überschlägiger Prüfung 2009 der Vattenfall Europe Wärme AG. Fernwärmesparte mit Bilanztricks syste- keinen Bedenken“, teilten die Beamten Die war im Januar durch Verschmelzung verschiedener Konzernteile entstanden matisch armgerechnet, um ein „Sonder- dem Landesrechnungshof mit. Erst als im Mai 2008 eine grüne Senato- und betreibt „insbesondere das Wärmenutzungsentgelt“ zu vermeiden. Eine solche Gebühr war im Konzes- rin an die Spitze rückte, kam Bewegung geschäft in den Märkten Berlin und Hamsionsvertrag zwischen der Stadt und der in die Sache. Die neue Amtschefin Anja burg“, wie es im Bundesanzeiger heißt. 2001 von Vattenfall übernommenen Ham- Hajduk und ihr Parteifreund und Staats- Die Gewinnausschüttung war für die Akburgischen Electricitäts-Werke Aktienge- rat Christian Maaß beauftragten die Prü- tionäre erfreulich: 413,7 Millionen Euro. Die Summe sage wenig aus, weil sie sellschaft (HEW) geregelt worden. Dort fer von GPP. Als die Ergebnisse vorlagen, heißt es: „Die Parteien sind sich darüber wollten sie mit einer neuen Verordnung „im Wesentlichen aus Sondereffekten aus einig, dass die Benutzung der öffentlichen Vattenfall zur Kasse bitten. Doch die be- Warentermingeschäften“ resultiere, wie Wege für Fernwärmeleitungen entgelt- reits fertige Senatsvorlage wurde nicht ein Konzernsprecher mitteilte. Wie hoch pflichtig wird, wenn mit dem Fernwärme- mehr umgesetzt, weil die schwarz-grüne der Hamburg-Anteil am Gewinn war, bereich Gewinne erwirtschaftet“ werden. Koalition zerbrach. Deren Spitzen hatten mochte er nicht sagen: „Das Ergebnis ist Doch das war angeblich nie der Fall. die Planungen für einen Rückkauf der ein Betriebs- und Geschäftsgeheimnis.“ So meldete Vattenfall für das Jahr 2007 Energienetze schon weit vorangetrieben. GUNTHER LATSCH
Trickreich ins Minus
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NIGEL TREBLIN / DAPD
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Trends PAY-T V
Spitzel auf Kundenfang it bisweilen ungewöhnlichen Methoden gewinnt der Münchner AboSender Sky neue Kunden. Häufig setzt Sky verdeckte Ermittler ein, die zuletzt vorwiegend samstagnachmittags in CaféBars und kleinen Gaststätten kontrollierten, etwa ob den Gästen mit geborgter Sky-Code-Karte eine Fernsehübertragung der Bundesliga präsentiert wird. Eine Berliner Anwaltskanzlei fordert die Wirte anschließend zur Zahlung von 3000 Euro und zur Unterzeichnung einer Fußballübertragung aus Gelsenkirchen strafbewehrten Unterlassungserklärung auf. Der Betrag wird jedoch auf 300 Euro reduziert, wenn der Gastwirt ein Sky-Abo bestellt. Ein em- findet die Kontrollbesuche dennoch richtig: „Wir machen pörter Wirt im Raum Augsburg, der am 30. April das Schla- das viel häufiger als früher. Unsere Beweise sind so, dass gerspiel Bayern–Schalke gezeigt haben soll, erstattete nun daraus durchaus valide juristische Vorgänge entstehen.“ In seinerseits Anzeige wegen falscher Anschuldigung. Einige dem Angebot, mit einem Abo die Strafe zu reduzieren, mag der Betroffenen versichern sogar, sie hätten nicht einmal ei- er nichts Verwerfliches erkennen. „Wir sind ja nicht an einer nen Fernseher im Gastraum – und bekamen recht. In den gerichtlichen Auseinandersetzung interessiert, wir wollen, Augsburger Fällen hatte der Kontrolleur die verbotene Fuß- dass die Leute unsere Kunden werden. Und die Umwandballübertragung frei erfunden. Sky-Sprecher Wolfram Winter lungsquote ist inzwischen richtig hoch.“
PRODUKTIONSFIRMEN
PRESSEFREIHEIT
Ein Herz für Filme
Journalisten dürfen Waffen tragen
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MATHIAS BOTHOR / PHOTOSELECTION
eutsche Produzenten testen einen neuen Weg, um ihre Filme zu finanzieren: Von dieser Woche an rufen die Produktionsfirmen TeamWorx („Die Flucht“, „Hindenburg“) und Von Fiessbach Film im Internet dazu auf, mit Spenden den Dreh eines erotischen Spielfilms zu sichern. 170 000 Euro sollen so zusammenkommen. Ist die Sammelaktion erfolgreich, wird laut TeamWorx ab August der Film „Hotel Desire“ gedreht, in dem Clemens Schick, Mühe Anna Maria Mühe und Saralisa Volm mitspielen sollen. Falls nicht, komme das eingezahlte Geld Nachwuchsfilmern zugute. Diese neue Form der Finanzierung, Crowdfunding genannt, basiert darauf, dass möglichst viele Unterstützer nach eigenem Ermessen Beträge für Projekte spenden, die ihnen am Herzen liegen.
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ie pakistanische Regierung hat eine Verordnung erlassen, wonach Journalisten Waffen zum Selbstschutz tragen dürfen. Damit reagierte sie auf einen Mordfall, der das Land seit vergangener Woche aufwühlt. Der renommierte Journalist Saleem Shahzad, 40, war tot in einem Kanal gefunden worden, zwei Tage nach seiner Entführung in Islamabad. Er war gefoltert worden, Kopf und Brust wiesen schwere Verletzungen auf, offenbar hatten ihn seine Peiniger zu Tode geprügelt. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch geht davon aus, dass Shahzad von Agenten des militärischen Geheimdienstes ISI umgebracht wurde, der eine Sonderrolle spielt und von der Regierung nicht kontrolliert werden
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kann. Kurz vor seinem Tod hatte der Journalist Freunden von Morddrohungen aus dem ISI berichtet – der Geheimdienst dementiert jede Verwicklung in den Mord. Shahzad hatte sich auf Berichterstattung aus dem inneren Kreis pakistanischer Sicherheitsorgane und terroristischer Organisationen spezialisiert. In seiner letzten Recherche untersuchte er, ob die pakistanische Marine von al-Qaida unterwandert wird. Dazu wollte ihn ein TV-Sender interviewen – auf dem Weg ins Studio wurde er entführt. Shahzad arbeitete für Asia Times Online und die italienische Nachrichtenagentur ADNKronos International. Seit Anfang 2010 kamen in Pakistan 16 Journalisten gewaltsam ums Leben.
sahen durchschnittlich in den ersten fünf Monaten des Jahres 2011 zwischen 23 Uhr und Mitternacht fern, so eine EinschaltquotenAnalyse der Firma Media Control. 81
DEFODI.DE
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Medien
SPI EGEL-GESPRÄCH
„Obama findet sich großartig“ Der amerikanische Kolumnist David Brooks über die Selbstwahrnehmung prominenter und weniger prominenter Menschen, die Bedeutung von Emotionen für politische Entscheidungen und den Einfluss neurologischer Erkenntnisse auf seine journalistische Arbeit in Ihren Texten einen „neuen Humanismus“. Was ist das? Brooks: In den vergangenen 30 Jahren hat sich die Forschung rund um die Welt mit der Frage befasst, wer wir sind, wie wir zu denen werden, die wir sind, wie wir also denken und funktionieren. Die Ergebnisse in den verschiedenen Feldern, von der Bewusstseinsforschung über die Neurologie bis hin zur Psychologie, deuten allesamt in eine Richtung: Viele unserer Entscheidungen spielen sich unter der Oberfläche ab, sie werden gesteuert vom Unterbewussten, von Emotionen und Erfahrungen, von unserer Umgebung, von Vorurteilen, von menschlichen Verbindungen. Wir bilden uns gern ein, Vernunftwesen zu sein, aber so edel und weise sind wir nicht. SPIEGEL: Sie glauben, unsere Theorien von der Welt und von uns selbst seien zu rational und in Wahrheit falsch? David Brooks Brooks: Ja, denn in politischen und wirtschaftlichen Theorien wurde 1961 in Toronto, Kanada, geboren, heute ist er müsste die Kraft der Emotionen die konservative Stimme der „New York Times“ und viel stärker berücksichtigt wereiner der populärsten Kolumnisten der USA. Zweimal den, die Tatsache eben, dass wir pro Woche, dienstags und freitags, kommentiert er weniger durch reine Vernunft Politik, Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft, zwischen geprägt sind, als wir uns wünden Parteilinien pendelnd. Nachdem er 2006 eine schen oder einbilden. Die ForRede des jungen Senators Barack Obama gehört hatte, schung zeigt, dass Emotion nicht schrieb er einen heute berühmten Text: „Run, Barack, getrennt oder abgespalten von run“ („Kandidiere, Barack, kandidiere“). Brooks war der Vernunft ist, dass es auch unter anderem Reporter und Europa-Korrespondent nicht Ich und Über-Ich gibt, sondes „Wall Street Journal“ und Senior Editor des „Weekly dern Emotionen bilden die Standard“, ehe er 2003 zur „Times“ wechselte. Grundlage des Denkens und damit aller Entscheidungen. SPIEGEL: Warum brauchen wir des- Brooks: Nehmen Sie den Zusammenbruch halb aber gleich einen neuen Humanis- der Sowjetunion Anfang der neunziger mus? Jahre. Der Westen ging davon aus, dass Brooks: Wir müssen besser verstehen, wer alle Probleme gelöst würden, wenn er wir sind, und daraus die Konsequenzen nur eine Menge Ökonomen entsenden ziehen. In meiner Karriere als Journalist und einen Privatisierungsplan entwickeln habe ich eine Vielzahl politischer Fehl- würde. Stattdessen haben sich die Menentscheidungen erlebt, die aus einem zu schen in Russland gegenseitig bestohlen, simplen Verständnis der menschlichen alles brach zusammen. Wir im Westen waren blind gegenüber den tieferen, unNatur resultierten. terbewussten Aspekten der russischen SPIEGEL: Nämlich? 82
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DENNIS DRENNER / DER SPIEGEL
SPIEGEL: Mr. Brooks, Sie fordern
Gesellschaft: dem kompletten Mangel an sozialem Vertrauen. SPIEGEL: Sie schreiben vom Menschen als „sozialem Tier“*. Was bedeutet Ihre Theorie also für journalistisches oder politisches Handeln? Brooks: Der technokratische Blick auf die menschliche Natur und Gesellschaft muss zu einem Blick werden, der auch all das einbezieht, was nicht so leicht messbar und leider komplex ist, aber eben dennoch wahr. Wirtschaftswissenschaftler glauben an Daten und Tabellen, aber nur damit versteht man Lehman Brothers oder Griechenland nicht. Auch Politikwissenschaftler und Medien ignorieren Dinge wie Erfahrungen und Emotionen, weil sie glauben, dass man die Welt verändert, wenn man ihre Institutionen verändert. Dass es so nicht geht, hat sich ganz besonders im Irak gezeigt. SPIEGEL: Wieso dort? Brooks: Unsere politische Führung dachte, sie könnte das Militär hineinschicken und eine neue Nation bauen. Ich habe einen Vertreter der Bush-Regierung gefragt: Kann es sein, dass ihr die Kultur dieses Landes nicht verstanden habt? Und er sagte: Ich glaube nicht an Kultur. Dass Amerikaner und Iraker einander nicht verstanden haben, ist ein wesentlicher Grund für die Langsamkeit des Fortschritts. SPIEGEL: Woher kommt die falsche Gewichtung? Brooks: Sie scheint logisch zu sein, vernünftiger, messbarer. An Daten kann man sich festhalten, Daten sind männlich. Wir alle sind die Kinder einer Gedankenschule von Platon bis Descartes, die die Vernunft für gut und Emotionen für nicht vertrauenswürdig und instabil erklärte, die Vernunft darum zum Weg aus der Höhle hinaus ans Licht. SPIEGEL: Wir pflegen in Wahrheit also kulturell bedingte Emotionen gegen die eigenen Emotionen? Brooks: (lacht) Ganz genau, wir sehen die Welt eindimensional, alles muss in Modelle gequetscht werden, und deswegen wollen auch die Sozialwissenschaftler unser Verhalten studieren wie Physiker. Ich will kein Romantiker sein und die Ver* David Brooks: „The Social Animal“. Random House, New York; 448 Seiten; 14,95 Euro.
US-Präsident Obama mit dem White House Press Corps: „Er hat sehr mutige Dinge getan“
dienste menschlicher Vernunft über Bord werfen, aber es gibt menschliche Talente, die zu wenig beachtet wurden. SPIEGEL: Sie sprechen von „Metis“, nach der ersten Gattin des Zeus, die für Weisheit steht. Brooks: Ja, es geht dabei um unterbewusste Wahrnehmung, um die Fähigkeit, durch lange Erfahrung Strukturen in scheinbar unlösbar komplexen Situationen zu erkennen. Unser Gehirn verknüpft ja alles Neue, was unsere Sinne aufnehmen, mit vergangenen Erfahrungen, auch mit Vorurteilen. Wir nehmen ständig Tausende Dinge wahr, die wirkliche Leistung unseres Gehirns ist die Auswahl, die Trennung von Wichtigem und Unwichtigem. Jede Situation erfordert ja in Wahrheit viele, viele Entscheidungen, und bei weitem nicht alle sind uns bewusst. SPIEGEL: Wenn Sie sich beispielsweise dem Konferenzraum der „New York Times“ für ein Gespräch mit dem SPIEGEL nähern …
Brooks: … dann weiß ich, unbewusst, ganz
viel über menschlichen Umgang, weil ich damit Erfahrungen habe. Ich lächle, ich gebe Ihnen die Hand, aber ich falle Ihnen nicht um den Hals, ich habe bestimmte Normen gelernt, ich wiederhole, was ich kenne, und all das, was mein Gehirn aus seiner Tiefe hervorholt und vernetzt, um mich funktionieren zu lassen, hilft mir, mich auf Ihre Fragen zu konzentrieren. Darum übrigens ist Training im Sport so wichtig: Automatisierung sorgt für Erfahrung und verschafft dem Athleten die Freiheit, im dramatischen Moment entscheiden zu können. Es gibt Soldaten im Irak, die eine Straße entlangschauen und plötzlich wissen: Dort ist eine Mine versteckt. Sie können nicht sagen, woher sie das wissen, sie spüren nur eine seltsame innere Kälte. SPIEGEL: Sie schreiben von Arbeitern auf Hühnerfarmen … Brooks: … die ein Küken in die Hand nehmen und sofort wissen, welches Geschlecht das Küken hat, obwohl es keine sichtbaren Genitalien gibt, ganz genau. D E R
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OLIVIER DOULIERY / CORBIS
SPIEGEL: Nicht jeder Mensch hat die Talente, die Sie fordern. Braucht es besondere Eigenschaften? Brooks: Neugierde, Geduld und eine außergewöhnliche Beobachtungsgabe gehören sicherlich dazu. Polynesische Eingeborene steuerten Tausende Meilen weit über das offene Meer, ohne Instrumente. Vorn im Boot saß einer von ihnen und beobachtete die Sterne, die Farbe des Wassers, die Fische und die Form der Wolken; danach gab er Anweisungen. SPIEGEL: Sie wünschen sich die Menschen wie jene kleinen Fische, Bathygobius soporator, die an Felsküsten während der Ebbe aus ihrem Gezeitentümpel in die Luft springen und über Felsen hinweg im nächsten Tümpel landen. Brooks: Weil sie sich während der Flut die Struktur des Meeresbodens in der Nähe ihrer Mulde eingeprägt haben. Das ist ein gesunder Instinkt, nicht wahr? SPIEGEL: Sie rücken ab von den marktliberalen Ideen Ihrer republikanischen Freunde?
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Medien SPIEGEL: Stattdessen werden die legt ein Bild der menschlichen NaBudgets für Kunst oder Musikprotur nahe, in dem die Verantworgramme gestrichen. tung des Individuums gegenüber Brooks: Ja. Es gibt kaum etwas seiner Umwelt eine bedeutendere Wichtigeres für Erfolg als soziale Rolle spielen muss. Beziehungen. In einer Studie haben Wissenschaftler die Beziehung SPIEGEL: Das ist für einen Konserzwischen Müttern und ihren Kleinvativen in Amerika eine ungekindern untersucht. Sie konnten, wöhnliche Weltsicht. als die Kinder 42 Monate alt waBrooks: Weil wir das John-Wayneren, mit einer Wahrscheinlichkeit Image der einsamen Cowboys von 77 Prozent vorhersagen, welpflegen und eine sehr individuaches der Kinder später die Highlistische Nation sein wollen. Aber school abschließen würde. Es wadas ist nur vordergründig so. ren jene aus stabilen Familien. SPIEGEL: Ach ja? Brooks: Wir pflegen diese MythoSPIEGEL: In den USA scheinen sich logie, dass wir alle allein sind, aber die sozialen Beziehungen aufzuin Wahrheit sind wir eine Nation, lösen: Die Kluft zwischen Arm die schon immer gut darin war, und Reich wächst. Wankt das ganneue Gemeinschaften und Netzze amerikanische Erfolgskonzept? Brooks: So weit würde ich nicht werke zu gründen. Amerikaner gehen. Ich glaube, unser Konzept sind viel sozialer, als sie zugeben lässt sich am besten als moralischer mögen. SPIEGEL: Hat Ihr Ausflug in die Materialismus bezeichnen. Es sieht Welt der Wissenschaft Ihre jourvielleicht so aus, als würden wir nalistische Arbeit verändert? nur dem Geld hinterherjagen. Brooks: Absolut. Ich betrachte nun Aber nehmen Sie zum Beispiel das alles zunächst aus einem psycholoSilicon Valley, da gibt es viele, die gischen Blickwinkel. Ich nehme als gar nicht so sehr an Reichtum inErstes die emotionalen Reaktionen teressiert sind, sondern die Welt auf Ereignisse wahr und achte auf verändern wollen. Das sind modie Beziehungen zwischen Menderne Kreuzfahrer. schen. Und ich glaube, dass unsere SPIEGEL: Trotzdem scheint es mit Probleme nicht in Einzelteile zerdem ganzen Land bergab zu legt und damit einfach gelöst wergehen. Die Arbeitslosigkeit ist den können, sondern dynamische, enorm, die Schulden sind es auch. sich entwickelnde Systeme sind, in „New York Times“-Zentrale: „Psychologischer Blickwinkel“ Brooks: Andere Länder haben diedenen alle Details voneinander abse Probleme ebenfalls, aber wir hängen. Armut ist solch ein System, aber Chancen, wir versuchen, das Problem un- scheinen nicht in der Lage zu sein, sie auch islamischer Extremismus. ter Bergen von Geld zu begraben. Was auf eine erwachsene Weise anzugehen. SPIEGEL: Nach acht Jahren im Amt ist Ihr sie in der Schule halten würde, das zeigen Wir haben zwei Parteien, die nicht mehr Chef bei der „Times“, Bill Keller, nun zu- längst Studien, sind emotionale und so- miteinander reden. Zwei der wichtigsten rückgetreten. Wird sich Ihre Arbeit, Ihre ziale Verbindungen, entweder durch Leh- Menschen in Washington sind Präsident Zeitung unter Kellers Nachfolgerin Jill rer oder durch Sport oder durch Schul- Barack Obama und der republikanische bands. Abgeordnete Paul Ryan. Sie haben sich Abramson verändern? so gut wie nie unterhalten. Wie soll man Brooks: Ich sollte interne Angelegenheiten Probleme lösen ohne jegliche Beziehung nicht kommentieren, da ich als Kolumnist zueinander? über die Vorgänge im Newsroom nicht viel weiß. SPIEGEL: Dabei schien das Land vor zehn Jahren, nach dem 11. September, die ReiSPIEGEL: Erschwert es die Arbeit eines Kohen zu schließen. lumnisten eigentlich, wenn er lernt, dass es keine einfachen Lösungen mehr gibt? Brooks: Das hielt nur drei Minuten lang. Heute separieren wir uns immer mehr. Brooks: Ja, klar, man muss aufmerksamer Konservative ziehen nach Texas, Liberale sein und beachten, welche menschlichen nach Berkeley in Kalifornien. Beziehungen einem Problem zugrunde liegen. Die USA lernen gerade in AfghaSPIEGEL: Das Land streitet manisch über nistan, dass es nicht reicht, die Bösen umNebensächliches wie Abtreibung und zubringen, um den Krieg zu gewinnen. Waffen und ignoriert seine Probleme. Stattdessen müssten Dörfer aufgebaut Brooks: Unsere Politik wird immer morawerden, um vertrauensvolle Beziehungen listischer sein als anderswo. Es ist unser zu erschaffen. nationaler Charakter, anzunehmen, dass wir im Auftrag Gottes unterwegs sind, SPIEGEL: Regierungen denken pragmatium die perfekte Gesellschaft zu gründen. scher. Brooks: Nein, das tun sie ja eben nur auf SPIEGEL: Auch der Optimismus war immer den ersten Blick. In Teilen Amerikas Teil des amerikanischen Charakters. Der bringt ein Viertel aller Kinder die Highist verschwunden. school nicht zu Ende, obwohl das ganz Brooks: Es ist tatsächlich eine bedrückenund gar irrational ist. Politiker erzählen Philosoph Platon de Zeit, 63 Prozent der Amerikaner glauden Kindern etwas von Karriere und „Kinder einer Gedankenschule“ ben, das Land bewege sich in die falsche ALFREDO DAGLI ORTI / BPK
MARIO TAMA / AFP
Brooks: Ja, die moderne Forschung
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SPIEGEL: Wenn Sie Ihre eigene Theorie des
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Richtung. Für eine Weile dachten die Leute, Barack Obama würde das ändern. Das denken sie nicht mehr. SPIEGEL: Sie haben als einer der wenigen Konservativen Obama unterstützt. Haben Sie Ihre Meinung geändert? Brooks: Er hat die Chance vertan, eine Agenda der Mitte durchzusetzen, und er ist viel weiter links, viel mehr „Big Government“, als ich es mir wünsche. Aber ich hege immer noch ein hohes Maß an persönlicher Bewunderung für ihn. SPIEGEL: Warum? Brooks: Er ist sehr verantwortungsvoll und patriotisch. Er ist nicht zynisch. Er hat sehr mutige Dinge getan, die ihm politisch schaden können, aber seiner Meinung nach das Beste für das Land waren. SPIEGEL: Zum Beispiel? Brooks: Zuletzt die Bin-Laden-Operation. Er hat viele Reformen angestoßen ohne Rücksicht auf Lobby-Interessen. SPIEGEL: Ihr Verhältnis zu Obama ist angeblich sehr eng, Zeitungen schreiben von einer „Männer-Romanze“. Brooks: Das ist übertrieben. Wir hatten neulich Lunch, und wir sehen uns zu Interviews. Ich bin für ihn wohl eine Art Wetterfahne für die Meinung der unabhängigen Mitte-rechts-Wähler, das ist eine wichtige Gruppe, auf die er achten muss. Ich bin seine Testperson. SPIEGEL: Er hört Ihnen zu?
Brooks, SPIEGEL-Redakteure*
„So edel und weise sind wir nicht“ Brooks: Ich denke schon. Wenn man mit
ihm redet, ist das wie eine ganz normale Unterhaltung, Obama ist nicht herrisch oder rechthaberisch. Aber gleichzeitig ist er der selbstsicherste Mensch, der mir jemals begegnet ist. Er ist absolut davon überzeugt, dass er mehr als jeder andere Mensch auf dem gesamten Planeten in der Lage ist, die richtigen Entscheidungen zu treffen. SPIEGEL: Das klingt narzisstisch. Brooks: In privater Runde lässt er schon mal fallen, wie großartig er ist. SPIEGEL: Beängstigend? Brooks: Ja, mir macht das manchmal Angst. Aber er scheint es zumindest weitgehend unter Kontrolle zu haben. * Klaus Brinkbäumer und Thomas Schulz im Washingtoner Büro der „New York Times“.
Zusammenspiels von Bewusstsein und Unterbewusstsein auf Obama anwenden: Bringt er die beiden Entscheidungsebenen gut zusammen? Brooks: Eine der Haupterkenntnisse der Forschung ist, dass wir nicht eine, sondern viele Persönlichkeiten besitzen. Obama scheint noch mehr zu haben als andere. Er kann der Harvard-Professor sein oder der Schwarze von den Straßen Chicagos, er ist wie wir und zugleich der mächtigste Mann der Welt. Obama kann dabei verschiedene Dialekte annehmen. SPIEGEL: Er wechselt immer noch zwischen diesen Rollen? Brooks: Er hat eine große Selbstdistanz. Dadurch ist er beweglich und kann seinen Kurs schnell wechseln. Und er lässt sich niemals zu 100 Prozent auf etwas ein, er will immer über den Dingen stehen. SPIEGEL: Ist der moderne Mensch, den Sie sich wünschen, vielleicht wie Obama? Brooks: Obama ist jedenfalls gut in Metakognition, der Fähigkeit, über das eigene Denken nachzudenken. Er kann seine Denkprozesse und die eigenen darin enthaltenen Vorurteile beschreiben, und aus diesem Prozess schlussfolgert er, wie er ein Problem analysieren muss. So funktioniert modernes Denken. SPIEGEL: Mr. Brooks, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Panorama USA/CH INA
N AT O
Cyber-Angriff auf Regierung
Reform in Gefahr
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er neuerliche Hacker-Angriff auf Hunderte Google-Mail-Konten von US-Regierungsbeamten belastet die Beziehungen zwischen den USA und China. Offenbar waren auch Mitarbeiter aus dem Weißen Haus betroffen. US-Außenministerin Clinton sprach von einem „sehr ernsten“ Vorfall und beauftragte das FBI mit Ermittlungen. Ein Sprecher des chinesischen Außenministeriums wies die Vorwürfe als „unbegründet und mit offensichtlichen Hintergedanken“ zurück, chinesische Militärs warfen den USA vor, selbst einen „Internetkrieg“ vorzubereiten. Google hatte zuvor ungewöhnlich offen erklärt, die Spuren der Angriffe auf die E-Mail-Postfächer ließen sich in die Stadt Jinan in der chinesischen Provinz Shandong zurückverfolgen. Dort gibt es nicht nur eine Cyber-Spionage-Einheit der Volksarmee, sondern auch eine Berufsschule, die IT-Fachkräfte für das Militär ausbildet. Sie war schon bei der letzten bekanntgewordenen Angriffswelle auf Google im Dezember 2009 ins Visier der Ermittler geraten. Ein von WikiLeaks veröffentlichter USBotschaftsbericht vom Januar 2010 zitiert eine „gut platzierte“ Quelle mit der Information, die chinesische Regie-
ALEX WONG / DPA
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Hu Jintao, Obama
rung habe die damaligen Angriffe auf Google „koordiniert“. Im aktuellen Fall erhielten die Betroffenen eine Mail aus einer scheinbar vertrauenswürdigen Quelle. Wenn sie auf den enthaltenen Link klickten, wurden sie auf eine täuschend echt aussehende Gmail-Startseite geleitet, die ihr Passwort abfragte. Mit dem Passwort konnten die Angreifer den Account überwachen und eingehende Mails auf eigene Accounts umleiten. Neben den USBeamten waren auch südkoreanische Beamte, Menschenrechtler und Journalisten im Visier der Angreifer. Das Pentagon will künftig schwerwiegende Cyber-Angriffe als „kriegerischen Akt“ einstufen.
13 kosten Israels Häuser jenseits der Grünen Linie.
Siedlung Efrat im Westjordanland ISRAEL
Preis der Besatzung
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ie Kosten der israelischen Siedlungen, die in den vergangenen Jahrzehnten im Westjordanland gebaut wurden, Ostjerusalem ausgenommen, 86
wurden nun erstmals nachvollziehbar geschätzt: 13 Milliarden Euro sollen sie wert sein. Privathäuser, Schulen und Stromleitungen, all das ist eingeflossen in diese Summe, die das Zentrum für Politische Ökonomie in Tel Aviv jetzt ermittelt hat. Ein gigantischer Betrag, der noch größer würde, rechnete D E R
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ULLSTEIN BILD
Milliarden Euro
hrgeizige Sparpläne von Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen könnten scheitern. Der Däne hatte angekündigt, das Bündnis zu verschlanken. Die Nato-Verteidigungsminister hatten das zunächst begrüßt, konkrete Vorschläge Rasmussens stoßen jetzt jedoch auf Widerstand. So werden entgegen den Planungen wohl alle 14 Nato-Agenturen bestehen bleiben. Selbst die Amerikaner, Mitinitiatoren der Reform, sind auf Distanz gegangen, weil die Pläne auch Prestigeprojekte wie Cyber-Verteidigung und den Aufbau einer gemeinsamen Raketenabwehr zurückwerfen würden. Auch bei der Reform der Kommandostruktur ist bisher kein Durchbruch gelungen. So sollte eines der drei JointForce-Hauptquartiere eingespart werden. Rasmussen hat für das Treffen der 28 Verteidigungsminister in dieser Woche nun einen letzten Vorschlag vorgelegt. Danach sollen die Portugiesen auf ihr Hauptquartier verzichten und die Holländer und Italiener ihres behalten. Brunssum in den Niederlanden ist wegen des Afghanistan-Einsatzes unverzichtbar; von Neapel wird der LibyenEinsatz gesteuert. Die Portugiesen wollen auf den Vorschlag aber nicht eingehen. In Brüssel geht man daher davon aus, dass beim Gipfel allenfalls eine „Reform light“ herauskommen könne.
man dazu, was der Staat für die Sicherheit der Siedler ausgibt, für Verbindungsstraßen und für Subventionen der Gemeinden. „Die wahren Ausgaben für das Siedlungsprojekt liegen wohl insgesamt noch einige Milliarden Euro höher“, sagt Roby Nathanson, der Direktor des Instituts. Aus politischen Gründen will die Regierung nicht, dass der finanzielle Umfang des Siedlungsprojekts nachvollziehbar ist. Für seine Inventur hat Nathanson alle verfügbaren Daten zusammengeführt, und wo sie nicht vorhanden waren, errechnete eine Software anhand von Luftaufnahmen die Baukosten. Ziel war, zu beziffern, wie viel eine Entschädigung der Siedler kosten würde. Das ist vor allem für Gemeinden östlich des Sperrwalls und außerhalb der Siedlungsblöcke relevant, in denen 73 000 Menschen leben, die wohl umgesiedelt werden müssten. „Für jeden der rund 20 000 Haushalte wären je 200 000 Euro Entschädigung zu zahlen“, sagt Nathanson.
Ausland REVOLUTIONEN
Ikonen des Aufstands anchmal ist die Kraft der Bilder stärker als der Protest Tausender Menschen. Seit Wochen demonstrieren in Syrien Regimegegner gegen die Willkürherrschaft des Despoten Baschar al-Assad und seiner Familie. Ohne größeren Erfolg. Seit aber die Fotos des 13-jährigen Hamsa al-Chatib, der wohl auf grausame Weise zu Tode gefoltert wurde, im Land kursieren, nimmt auch eine bisher unbeteiligte Mehrheit der Syrer Anteil. Die Wut auf das Regime wächst und wächst, Hamsa al-Chatib ist zum Symbol des Aufstands gegen Assad geworden. So wie vor ihm der von Polizisten ermordete ägyptische Blogger Chalid Said oder der Gemüsehändler Mohammed Bouazizi, der mit seiner Selbstverbrennung die tunesische Revolution erst ausgelöst hatte. Zum Symbol für die Unterdrückung in Bahrain ist die Studentin Ajat alKurmasi, 20, geworden. Die angehende Lehrerin rezitierte öffentlich ein von ihr verfasstes und gegen die Obrigkeit gerichtetes Gedicht. Kurz darauf wurde sie verhaftet und gefoltert; ihr Aufenthaltsort ist unbekannt. Kinder mit Fotos von Chatib (0.), Said, Kurmasi, Bouazizi
IRAN
Die Katzen des Regimes
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ie Regierung Mahmud Ahmadinedschads versucht, mit einer neuen Sondereinheit der Polizei die Meinungsfreiheit und die Informationsmöglichkeiten weiter einzuschränken. Haupteinsatzgebiet der Spezialtruppe sind die Dächer von Teheran. Dort sollen die Sicherheitskräfte das Heer von Satellitenschüsseln zerstören, mit denen sich Millionen Iraner Zugang zu internationalen TV-Programmen sichern – auch um den Propagandasendungen des Staatsfernsehens zu entkommen. Verboten sind die Parabolantennen seit langem, allerdings wur-
den sie meistens geduldet. Oft scheiterten Polizeieinsätze schlicht an den Zugriffsmöglichkeiten: Die Bewohner öffneten ihre Türen nicht. Die neue Einheit soll sich von solchen Lappalien nicht mehr aufhalten lassen; deren Mitglieder wurden darauf trainiert, Dächer über Feuerleitern zu entern, an Fassaden hochzuklettern oder – katzengleich – von Haus zu Haus zu springen. Die Truppe dient zudem dem Kampf des Regimes gegen das Internet. Immer häufiger gehen die schätzungsweise über 30 Millionen iranischen Internetnutzer über Satellit D E R
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online, statt das vom Regime kontrollierte Netz zu nutzen. Der Zugang via Satellit erfolgt über Provider in Dubai. Den Frontalangriff auf die Netzgemeinschaft, die sich wohl zum Großteil aus Regimekritikern zusammensetzt, kündigte Teheran vollmundig für Oktober an. Dann will die Regierung eine Art iranisches Intranet starten, ein Internet halal sozusagen – was so viel wie „religiös erlaubt“ bedeutet. Dessen Web-Seiten sollen, das wird von der Regierung versprochen, „ethisch und moralisch dem islamischen Standard entsprechen“. Und weil internationale Suchmaschinen in diesem Intranet dann nicht funktionieren werden, arbeiten die Iraner auch hier an einer eigenen Variante. 87
KHALED DESOUKI / AFP (L.); JAMAL SAIDI / REUTERS (O.)
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Ausland
TÜRKEI
Der Sultan von Istancool Während Europa um seine Zukunft ringt, hat sich das Land zu einer dynamischen Regionalmacht aufgeschwungen. Nun holt der ehrgeizige Premier Erdogan zu seinem dritten Wahlsieg aus und will den Türken eine neue Verfassung geben. Europa interessiert ihn nicht mehr.
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rnst und gravitätisch tritt er ans Pult, geduldig wartet er, bis der Applaus verebbt. „Üstat! Üstat!“ rufen sie ihm zu, „Lehrmeister! Lehrmeister!“ Sie klatschen und pfeifen. Dann ergreift er das Wort. Im Gespräch ist seine Stimme immer leiser geworden, je länger er an der Macht ist. Aber kraftvoller denn je dröhnt sie, wenn er öffent88
lich spricht. Als „Geschwister“ begrüßt er seine Zuhörer, als „kardeşler“– ein Wort, das im Türkischen viel mehr familiäre Zuneigung atmet als im Deutschen. Dann wird er ernst. Er hat einen Plan zu verkünden, den seine Wahlkampfstrategen als ein „Wahnsinnsprojekt“ angekündigt haben – eine Idee, die alle „Vorstellungskraft“ sprenge. D E R
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Das sind nicht seine Worte, das sind nur die Girlanden seiner Zuarbeiter. Er, Recep Tayyip Erdogan, ist für den Kern der Dinge zuständig. Und so enthüllt er an diesem Tag in Istanbul ein Projekt, mit dem er in die Geschichte eingehen will. „Träume sind Samen, die in der Wirklichkeit aufgehen“, sagt er. „Wir haben für diese Stadt, deren Nächte nach Hya-
Premier Erdogan in Kayseri
KAYHAN OZER / ANADOLU AJANSI
„Er hat keinen mehr, der ihn kontrolliert“
zinthen duften, die Ärmel hochgekrempelt: Wir schenken ihr einen neuen Kanal.“ Eine zweite Wasserstraße zwischen dem Schwarzen und dem Marmarameer will er graben lassen – einen zweiten Bosporus, der im Jahr 2023, zum 100. Geburtstag der Türkischen Republik, eröffnet werden soll. Hier spricht ein Mann, der seine Lehrjahre hinter sich hat. Der nicht mehr sucht, was dem Wähler gefallen könnte, was die Armee vielleicht toleriert. Wenn er heute eine Rede hält, dann sitzt jedes Wort. Und wenn er provoziert, wenn er den Oppositionsführer einen halb Ungläubigen nennt, Generäle des Landesverrats bezichtigt oder dem israelischen Präsidenten zuruft: „Ja, mit dem Töten kennt ihr euch aus!“ – dann sind das keine Ausrutscher mehr. Dann weiß er, was er tut. Recep Tayyip Erdogan, der in Kasimpaşa am Goldenen Horn aufwuchs, als es noch eine Kloake war, regiert inzwischen
länger als Obama, Merkel, Sarkozy und die meisten anderen, denen er auf den G-20-Gipfeln begegnet. Er hat mit triumphalen Mehrheiten zwei Wahlen gewonnen. Und am kommenden Sonntag steht er vor einem dritten Sieg, bei dem es nur die Frage ist, wie hoch er ausfällt. Sollte es nur zur Hälfte der Parlamentssitze reichen, dann muss er Kompromisse machen – für die neue Verfassung, die er dem Land geben will. Reicht es für drei Fünftel, kann er diese Verfassung bereits allein schreiben, muss sie dem Volk aber wohl zum Referendum vorlegen. Gewinnt er, was nicht auszuschließen ist, eine Zweidrittelmehrheit, dann braucht er vermutlich nicht einmal das zu tun. Dann ist er das, was ihn Gegner und Anhänger schon heute nennen: der Sultan, der Padischah der Türkei. Erdogan hat viel erreicht. Er hat den mächtigen Militärs den Schneid abgekauft, die säkularen Eliten demoralisiert, D E R
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die Baumwollkönige und Beton-Tycoons, die sich das Land einst gütlich mit den Generälen teilten, zurechtgestutzt. Er hat die Türkei, ein Putsch- und Krisenland, zu einer Regionalmacht aufgebaut. Er wird in London und Washington als Gesprächspartner so ernst genommen wie in Riad und Peking. Und selbst Israel, mit dem er sich, von den Arabern bewundert, angelegt hat, verfolgt jeden seiner Schritte mit höchster Aufmerksamkeit. Erdogan hat die Türken – selbst die, die ihn nicht leiden können – mit einem Selbstbewusstsein ausgestattet, das sie vor ihm nicht hatten. Als „Kranker Mann am Bosporus“ galt das Osmanische Reich. Die Türkei heute schaut sehr gesund aus. Nach acht Jahren Erdogan ist sie viel reicher und moderner als jenes arme Land, das sich vor mehr als 20 Jahren um die Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft bewarb. Ihre Wirtschaft wächst im Vergleich zu anderen europäischen Staaten dreimal so schnell, und wer aus dem türkischen Westen in die bulgarischen und rumänischen Ostprovinzen fährt, fragt sich, auf welcher Seite der Grenze eigentlich das wohlhabende Europa liegt. Gleichzeitig ist die Türkei bigotter geworden. Die Islamisten in der Regierung verfolgen ihre Gegner mit mindestens derselben Unerbittlichkeit, mit der einst sie verfolgt wurden. Sie schikanieren Künstler und Prominente, die ihr Weltbild nicht teilen, sie knebeln Medienhäuser, deren Zeitungen die Regierung kritisieren, sie lassen Journalisten mit absurden Anklagen ins Gefängnis werfen. Es wird Zeit für Europa, noch einmal nachzudenken, was es mit diesem kraftvollen und schwierigen Nachbarn eigentlich will: ihn ernst nehmen und an sich binden, ihn noch einmal 20 Jahre hinhalten – oder ihm sagen, dass er im christlich-abendländischen Europa nichts zu suchen hat. Zeit für eine Bestandsaufnahme, denn die Voraussetzungen einer der quälendsten und langwierigsten europäischen Debatten haben sich in den letzten Jahren grundlegend verändert. Gaziantep, eine aufstrebende Industriemetropole, knapp tausend Kilometer südöstlich von Istanbul. Endlos reihen sich graue Fabrikhallen an der Schnellstraße, Kolonnen von Bussen und Lastern rumpeln über den Asphalt. Wer den Aufstieg der Türkei zur Nummer 17 der größten Volkswirtschaften der Welt besichtigen will, ist hier am richtigen Ort. Gaziantep, das früher nur für seine Auberginen-Kebabs und Pistazienbäume bekannt war, zählt heute zu den vitalsten Wirtschaftszentren des türkischen Hinterlandes – den „anatolischen Tigern“. Seit 2005 hat sich die Industrieproduktion der Stadt 89
Ausland
Mittelmacht am Bosporus Wirtschaftsleistung im europäischen Vergleich, 2010
Wirtschaftswachstum Veränderung zum Vorjahr in Prozent ++8,9 8,9
Türkei
Deutschland + 1,6 Frankreich + 1,3 Italien Spanien – 0,1 + 1,8 EU-27
BULGARIEN
+ 3,6
GEORGIEN
Istanbul
GRIECHENLAND
T Ü R K E I SYRIEN
Private Konsumausgaben + 6,8
Türkei
Geschichte:
+ 0,1
Die größte Ausdehnung des Osmanischen Reichs im 17. Jahrhundert, einschließlich damals tributpflichtiger Gebiete
+ 1,5 0 + 0,4 + 1,1
Quellen: Eurostat, Europäische Kommission; * inflationsbereinigt
0,7 + 0,7
Staatsverschuldung
Altersstruktur
Arbeitslosigkeit
in Prozent des BIP
Anteil der über 64-Jährigen in Prozent
in Prozent
41,2 Türkei Türkei 41,2
7,0 0 TTürkei ürkkei e 7,
TTürkei ürkeei
83,2 Deutschland 81,7 81,7 Fr ankreich Frankreich Italien 60,1 Spanien 80,2 EU-27 EU-27
Deutschland Fr ankreich Frankreich Italien Spanien EU-277 EU-2
119,0 119,0
verdoppelt, 2008 exportierte sie Waren im Wert von 3,9 Milliarden US-Dollar. Cahit Nakiboglu, 63, ein untersetzter Herr mit Schnauzer und Brille, hat das Wirtschaftswunder von Gaziantep mitgeprägt. Er ist der Chef der Naksan Holding, des drittgrößten Plastiktütenherstellers Europas. Zu seinen Kunden gehörten die deutsche Supermarktkette Plus, gehören das Modeunternehmen Pierre Cardin und der Möbelriese Ikea. „Der Staat hat uns nichts geschenkt“, sagt Nakiboglu. „Jahrzehntelang hat er uns nur Steine in den Weg gelegt.“ Das änderte sich 2002, als Erdogans Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP) die Macht übernahm. Eine schwere Finanzkrise hatte das Land 2001 an den Rand des Ruins getrieben. Kemal Derviş, ein türkischer Weltbank-Manager, der kürzlich als Nachfolger des IWF-Chefs Dominique Strauss-Kahn im Gespräch war, leitete ein gewaltiges Umschuldungsprogramm ein. Die Früchte erntete die AKP-Regierung: Das türkische Wirtschaftswachstum stieg bis 2007 auf sechs Prozent im Durchschnitt, kaum ein Land hat sich so gut von der Weltfinanzkrise von 2008 und 2009 erholt. Anders als seine geistigen Väter, die noch von einer „islamischen Wirtschafts90
IRAN R IRAK
Veränderung zum Vorjahr in Prozent* Deutschland Frankreich Italien Spanien EU-27
ARMENIEN
Ankara
20, 20,77 116,6 6,6 20,2 116,8 6,8 17,4 17,4
10,7 10 ,7
Deutschland 7,1 ,7 Fr ankreich 99,7 Frankreich 8,4 Italien Spanien 9,6 EU-277 EU-2
20,1
ordnung“ geträumt hatten, begriff Erdogan digkeitstrasse der türkischen Eisenbahn Kapitalismus und Islam nicht als Gegen- in Betrieb genommen werden. Die einzige Sorge am Vorabend von Ersätze. Geleitet von den Interessen der aufstrebenden islamischen Mittelschicht, dem dogans drittem Wahlsieg ist, dass die Wirtwichtigsten Wählersegment der AKP, schaft überhitzt: Die Türken kaufen und machte sich der neue Ministerpräsident dar- produzieren so viel, dass der Import selbst ihre steigenden Exporte übertrifft. „Trotz an, die Wirtschaft des Landes zu öffnen. Neun Prozent Wachstum erreichte das dieser Ungleichgewichte“, befindet das Land im vergangenen Jahr. Die Arbeits- „Wall Street Journal“, sei die Stärke des losigkeit ist auf elf Prozent, die Inflation türkischen Aufschwungs nachhaltig: „Die zwischenzeitlich auf sechs Prozent gesun- Wachstums-Story kann weitergehen.“ Wäre der Streit zwischen Gegnern und ken, die Gesamtverschuldung lag zuletzt bei 41 Prozent des Bruttoinlandsproduk- Anhängern eines türkischen EU-Beitritts tes – ein Wert, den die meisten EU-Staa- ein Fußballspiel – die ökonomische Biten gern hätten. Das Pro-Kopf-Einkom- lanz ließe sich als ein solides 1:0 für die men hat sich seit Erdogans Amtsantritt Befürworter verbuchen. Istanbul, die europäisch-asiatische Rieverdreifacht. Als „Europas China“ bezeichnet der britische „Economist“ das senstadt am Bosporus, gilt der Washingtoner Denkfabrik Brookings Institution Land am Bosporus. Und es sind, wie das Beispiel Gazian- als die dynamischste Wirtschaftsmetropotep zeigt, nicht mehr nur die Millionen- le der Welt. Keiner kann sagen, ob es 15 städte im Westen der Türkei, die vom oder schon 17 Millionen sind, die sich hier Aufschwung profitieren. Es sind auch niedergelassen haben. In den BürovierStädte wie Denizli, Kayseri, Trabzon und teln von Istanbul werden immer neue Samsun, die jemand, der sie vor zehn Jah- Wolkenkratzer in immer überdrehterem ren zuletzt besuchte, heute kaum wieder- Design errichtet, an den Rändern verdicherkennt: Stadtautobahnen, Wolkenkrat- ten sich die Trabantenstädte der Zuwanzer, neue Hafenanlagen wurden gebaut, derer. Arbeit gibt es fast immer. Vorbei sind die Zeiten, als nur Teepflüzwischen Eskişehir und Konya soll Ende des Jahres eine weitere Hochgeschwin- cker vom Schwarzen Meer und BürgerD E R
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AGATA SKOWRONEK / DER SPIEGEL
Junge Türkinnen in Istanbul: Modernste Stadt der islamischen Welt
kriegsflüchtlinge aus den Kurdengebieten anders als in der von Thilo Sarrazin, die an den Bosporus strömten. Auch Europä- Verwurzelung in zwei Kulturen als Karer und Amerikaner haben „Istancool“ rierebonus gilt. Viele Europäer sehen in den Türken entdeckt, die niemals schlafende, die modernste Stadt der islamischen Welt. Und ein fremdes Volk, das viel zu fruchtbar gekommen – zurückgekommen – sind sei. Doch stimmt das Schlagwort von der auch jene, deren Eltern und Großeltern „demografischen Bombe“ noch, eines der einst im fernen Deutschland ihr Glück Lieblingsargumente der Türkei-Skeptisuchten: Die Deutsch-Türken, von den ker? Die Türkei hat, im Gegensatz zu den Einheimischen spöttisch „Almancilar“, alternden Gesellschaften Europas, eine „Deutschländer“, genannt, finden hier kerngesunde Bevölkerungspyramide, die eine Dynamik vor, die sie in Deutschland etwa der der Vereinigten Staaten oder Kanadas entspricht: Auf mittlerweile 2,1 so nicht erleben. Gastarbeiterkinder wie Neşe Stege- Kinder pro Frau ist die Geburtenrate in mann, 43, zum Beispiel, Fachärztin für den vergangenen Jahren geschrumpft. Orthopädie und Chirurgie, die mit einem Deutschen verheiratet ist und von sich Der „Kranke Mann am sagt, sie sei „so deutsch, wie es nur geht“. Bosporus“ schaut heute Vor zwei Jahren flog sie mit ihrer Familie sehr gesund aus. nach Istanbul und war überwältigt von der Fülle an kulturellen Gegensätzen, an Es ist eine Entwicklung, die sich aus Galerien, Ausstellungen, Designer-Outlets, Moscheen und Basaren. Ihr wurde dem wachsenden Wohlstand und verbesein Job in einem Privatkrankenhaus an- serten Bildungsstand ergibt. Ab 2030 sageboten. Sie akzeptierte und verdient gen Demografen sogar einen Rückgang der Bevölkerung voraus. Ministerpräsiheute mehr als daheim in Hannover. Stegemann ist eine von Tausenden. dent Erdogan veranlasste das zu der BeLängst wandern mehr Deutsch-Türken zu- merkung, jede Türkin möge künftig minrück ins Land ihrer Väter als umgekehrt destens drei Kinder zur Welt bringen – Türken in die Bundesrepublik kommen: doch die Frauen denken gar nicht daran, 40 000 waren es 2009, dem Jahr, aus dem ihm diesen Gefallen zu tun. Volkswirtschaftlich hat die Türkei das die jüngsten Zahlen stammen. Viele von ihnen sind hochqualifiziert und bestens auch gar nicht nötig. Zurzeit liegt das angepasst an die globalisierte Welt, in der, Durchschnittsalter bei 29 Jahren (Deutsch92
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land: 43), an die 700 000 Hochschulabsolventen drängen jedes Jahr auf den Arbeitsmarkt. Die Türkei hat ziemlich genau den Nachwuchs, den sie für ein stabiles Wirtschaftswachstum braucht, nicht zu viel und nicht zu wenig; von den Übervölkerungsszenarien der ängstlichen Europäer ist sie jedenfalls weit entfernt. 2:0 für die Befürworter ihres EU-Beitritts. Das stärkste Argument für die Türkei, das 3:0, ist ein anderes. Es wird seit Jahren von Amerikanern und Briten vorgebracht – aber auch von Deutschen wie Joschka Fischer, Altkanzler Gerhard Schröder oder dem CDU-Außenpolitiker Ruprecht Polenz. Es ist das Argument der Geostrategen, und es lautet: Welch besseren Hebel hat Europa, auf die Entwicklung der islamischen Welt einzuwirken, als ihren modernsten Staat, die Türkei? In Meram, einem Villenviertel der anatolischen Stadt Konya, hat sich der türkische Außenminister Ahmet Davutoglu gerade ein Haus gekauft. Als Ersten empfing er vorige Woche den Vali von Konya zum Antrittsbesuch, den Gouverneur der größten türkischen Provinz, danach den SPIEGEL für ein Interview (siehe Seite 94). Davutoglu stammt aus der Gegend, doch in den letzten fünf Jahren, sagt er, sei er nicht öfter als zehnmal in Konya gewesen. Viel öfter, an die 60-mal, schätzt er, sei er zuletzt nach Damaskus gereist. Davutoglu, ein sanfter Mann von starken Überzeugungen, steht für die strategische Neuausrichtung seines Landes. Mit fast allen Nachbarn unterhält Ankara heute gute Beziehungen. Türkische Diplomaten haben in den vergangenen Jahren in Baku über den Bau der nach Europa führenden „Nabucco“-Pipeline verhandelt, in Teheran über das iranische Nuklearprogramm und in Tripolis mit dem wankenden Gaddafi-Regime. Türkische Geschäftsleute bauen Flughäfen im Nordirak, Hochhäuser in Mekka und Meerwasser-Entsalzungsanlagen in Libyen. „Neo-Osmanismus“ lautet der Begriff, der sich für diese neue Außen- und Wirtschaftspolitik eingebürgert hat. Auch dieser Begriff ist im Westen mit Angst besetzt. Wollen die Türken das Imperium wiedererrichten, das 400 Jahre lang den Nahen Osten beherrschte? Die Angst ist übertrieben, mehr als ein loser Commonwealth ehemaliger osmanischer Provinzen zeichnet sich nicht ab. Wichtig aber ist das türkische Vorbild, das in die politisch so rückständige Region hineinstrahlt: Auch eine islamische Regierung kann demokratisch sein – und man braucht keinen Ölstaat, um Wohlstand aufzubauen. Wichtig sind auch die Verbindungen der Türken. Sie reden, von Bagdad bis Tripolis, mit radikalen Gruppen, mit denen der Westen grundsätzlich oder aus
Ausland politischer Rücksichtnahme auf Israel nicht spricht – mit denen er eines Tages aber vielleicht wird sprechen müssen: mit der palästinensischen Hamas, der libanesischen Hisbollah, mit dem irakischen Schiitenführer Muktada al-Sadr. Dass sich die Türken vom Westen abwenden könnten, ist nicht abzusehen. Ankara hat, trotz schwerer Krisen, seine Beziehungen mit Israel nicht abgebrochen. Ebenso wenig ist Premier Erdogan, obwohl er sich bei der Militäroperation gegen Libyens Muammar al-Gaddafi von Frankreich rüde übergangen fühlte, aus der westlichen Allianz ausgeschert. Stattdessen leistet die Türkei ihren Anteil an der Umsetzung der Libyen-Resolution – mit mehr Einsatz, als das ihr Nato-Partner Deutschland tut. Das ist die eine Seite der heutigen Türkei: wirtschaftlich stark, dynamisch,
ten Wahlsieg 2007 habe sich das verändert: „Da fing er an, die Staatsmacht willkürlich einzusetzen.“ Ergin weiß, wovon er spricht. Je kritischer Zeitungen über die Regierung berichteten, desto massiver schlug das Başbakanlik, das Amt des Ministerpräsidenten, zurück. Ein Karikaturist, der sich erlaubt hatte, den Premier als Katze darzustellen, fand sich vor Gericht wieder. Das Gleiche passierte kurz darauf einem anderen, der Erdogan als blut-, also steuersaugende Zecke auf dem Rücken eines unbescholtenen Bürgers zeichnete. Den Dogan-Konzern, zu dem die säkulare „Hürriyet“ und der türkische Ableger des US-Nachrichtensenders CNN gehören, traf es besonders schwer. 2009 erhielt der Konzern Besuch von einem Dutzend Steuerinspektoren. Als die mit ihrer Prüfung fertig waren, ging eine Zah-
positionelle Professoren, Beamte, Anwälte, Journalisten. Dass aus einem bedeutenden Gerichtsverfahren inzwischen ein Vehikel der Regierung geworden ist, einflussreiche Kritiker aus dem Weg zu räumen, wurde der staunenden Nation spätestens im März klar, als die Polizei den Investigativreporter Ahmet Şik als Terrorverdächtigen aus seiner Wohnung holte – ausgerechnet den Journalisten, der als einer der Ersten über die Umsturzpläne der Ergenekon-Gruppe berichtet hatte, sich danach allerdings auch mit einem regierungsfreundlichen Islamisten-Netzwerk befasste. Er sitzt, wie 67 andere Journalisten und Dutzende Professoren, bis heute in Haft. Der Premier, der einen historischen Wandel der Türkei eingeleitet hat, könnte in seiner Selbstherrlichkeit zu einer immer größeren Belastung für sein Land
selbstbewusst – und bündnistreu. Er bewundere, sagt ein Gefolgsmann des türkischen Ministerpräsidenten, wie gut der aufbrausende Erdogan sein Temperament inzwischen im Griff habe. Dass er selbst mit dieser Bemerkung nicht zitiert werden will, irritiert allerdings – und öffnet im Kleinen einen Blick auf eine große Bürde der Erdogan-Türkei: Ihr Chef hat ein Problem mit der Autorität. Er kann nicht genug von ihr bekommen. Der Premier, sagt Sedat Ergin, der langjährige Bürochef der „Hürriyet“ in Ankara, sei vor acht Jahren sehr vorsichtig in seine erste Amtszeit gegangen. Er habe an seinen Gegnern in der Armee, in der Wirtschaft, in der Presse Maß genommen, sie aber mit Respekt behandelt: „Er trieb entschieden seine Politik voran, doch er übte Zurückhaltung.“ Nach seinem zwei-
lungsklage ein – in Höhe von umgerechnet 2,2 Milliarden Euro. „Das ist das Problem mit Erdogan“, sagt Ergin. „Er setzt die Macht des Staates immer willkürlicher für seine politischen Interessen ein. Er hat keinen mehr, der ihn kontrolliert.“ 2008 begann in Istanbul ein Prozess gegen eine Gruppe ehemaliger hoher Militärs, die in der Frühzeit der Erdogan-Regierung Umsturzpläne geschmiedet haben soll. Der sogenannte Ergenekon-Prozess, wie die Verschwörergruppe selbst nach der mythischen Urheimat der Türken in Zentralasien benannt, hatte kathartische Wirkung auf das Volk – zum ersten Mal standen die bis dahin unantastbaren Offiziere vor Gericht. Doch je weiter sich das Verfahren ausdehnte, desto weiter dehnte sich auch der Kreis der Festgenommenen aus – auf op-
werden. Viel, sagen seine Kritiker, unterscheide ihn nicht mehr von Russlands starkem Mann Wladimir Putin. Russland freilich hat sich nicht um die Mitgliedschaft in der Europäischen Union beworben. Die Türkei schon. Der Machtrausch ihres Premierministers kommt einem Eigentor der Türken gleich – 3:1. „Dieser Mann ist gefährlich“, sagt auch der renommierte Erdbebenforscher Celal Şengör, 56. Er hat am eigenen Leib erfahren, mit welchen Mitteln die AKP in die Autonomie der Wissenschaften eingreift. 2009 sollte der islamkritische Dekan der Technischen Universität Istanbul entlassen werden – ohne Begründung, ohne Verfahren. Nur eine Intervention des Präsidenten der Internationalen Akademie der Wissenschaften bewahrte ihn vor dem Rausschmiss. Seither ist Şengör noch illusionsloser als zuvor: „Europa
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„Wir sind sehr emotional“ Außenminister Ahmet Davutoglu, 52, über die Enttäuschung der Türken über Europa, Ankaras Einfluss auf die arabischen Diktatoren und den zu erwartenden Wahlsieg der AKP
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sollte nicht naiv sein“, sagt er. „Die Türkei ist einfach noch nicht reif, eine Demokratie zu sein.“ Schockiert schlagen Leute wie Şengör, die zur urbanen Elite der Türkei gehören, morgens die Zeitungen auf und lesen Horrormeldungen aus der Provinz: von Schulmädchen in Mersin, denen religiöse Fanatiker Säure auf die unbedeckten Beine spritzten; von einer jungen Frau nahe Malatya, die lebendig begraben wurde, weil sie angeblich einen Freund hatte; von Vergewaltigungen zweier Schwestern in Siirt, an denen sich fast hundert Männer vergingen. Die Brutalität, mit der gegen Frauen vorgegangen wird, ist so alt wie die Türkei selbst, und die Vorgängerregierungen versagten ebenso kläglich, wenn es darum ging, Opfer zu schützen. Doch zwischen 2002 und 2009 ist die Zahl der Gewalttaten und sogenannten Ehrenmorde von 66 auf 953 angestiegen. „Jeden Tag stirbt eine Frau“, klagen Menschenrechtler – was die AKP mit dem Hinweis kontert, dass jetzt einfach mehr Morde ihren Weg in die Statistik fänden. Das erkennt die Soziologin Binnaz Toprak an, doch sie hat noch eine weitere Erklärung: „Der Druck, sich religiös zu verhalten, regelmäßig zu beten, zu fasten, keinen Alkohol zu trinken, ist gestiegen. Die Gesellschaft ist konservativer geworden.“ Es ist ein Klima entstanden, in dem Frauen außerhalb der großen Städte nach Anbruch der Dunkelheit nicht mehr auf der Straße anzutreffen sind, ein Klima, in dem sich manch einer ermutigt fühlt, Koran-Verse frauenfeindlich auszulegen. Topraks Befund bestätigt den Verdacht säkularer Türken und skeptischer Europäer, wonach ein breites Segment der türkischen Gesellschaft einem Welt- und Frauenbild folge, das nicht mit dem des Westens vereinbar ist. Ein dunkler Schatten auf dem EU-Kandidaten, ein veritables Gegentor in der Türkei-Debatte. 3:2. Die Bilanz fällt knapp zugunsten des ewigen Kandidaten aus – so knapp, wie es seit Jahrzehnten auch um die Zuneigung der Europäer zu ihrem komplizierten Nachbarn bestellt ist. Und doch: Überwiegen, rational betrachtet, nicht die Vorteile, wenn die Türkei zur europäischen Familie dazustößt? Hat sie in den zwölf Jahren, seit sie formell Kandidat ist und sich an den EU-Kriterien abarbeitete, nicht beeindruckende Fortschritte gemacht? Und wäre eine nähere Bindung an Europa nicht der beste Weg zu verhindern, dass diese Fortschritte wieder verlorengehen? Wahrscheinlicher ist, dass die Europäer und die Türken noch jahrelang aneinander vorbeiargumentieren werden, ohne die beiden Wahrheiten auszusprechen, die inzwischen jeder kennt: dass Europa die Türkei nicht will. Und dass die Türkei Europa bald nicht mehr brauchen wird.
Minister Davutoglu: „Wer hat denn Gaddafis Hand geküsst?“ SPIEGEL: Herr Minister, seit mehr als 20
Jahren bemüht sich die Türkei vergebens um die Mitgliedschaft in der EU. Warum wollen Sie überhaupt noch nach Europa? Davutoglu: Ich kann Ihnen drei Gründe nennen, warum wir in die Europäische Union gehören. Erstens: Die Türkei ist seit Jahrhunderten ein Teil der europäischen Diplomatie. Wir sind nicht China. Zweitens: Europa braucht die Türkei aus strategischen Gründen. Nur zusammen mit der Türkei kann die EU eine Großmacht werden. Und drittens: Wir teilen zentrale politische Werte, die in den Kopenhagener Kriterien niedergelegt sind. Die Türkei ist ein wichtiges Mitglied in der Familie der Demokratien. SPIEGEL: Wir haben uns das außenpolitische Kapitel Ihres Wahlprogramms angesehen. Dort taucht das Wort Europa zum ersten Mal auf der sechsten Seite auf. Davutoglu: (lacht) Nun, manchmal stehen die attraktivsten Kapitel eben am Ende eines Buches, das hat nichts mit unseren Präferenzen zu tun. Europa bleibt unser ultimatives Ziel. SPIEGEL: Dabei sind heute weniger als 50 Prozent der Türken für den EU-Beitritt. 2004 waren es noch 75 Prozent. D E R
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Davutoglu: Wir müssen unterscheiden zwischen der Frage, ob die Leute wollen, dass die Türkei EU-Mitglied wird, oder ob sie daran glauben. Diese Frage beantworten nur noch 30 Prozent mit Ja. Die Menschen haben das Vertrauen verloren. Da sind wir wie alle anderen Südeuropäer: sehr emotional. Wenn wir merken, dass uns jemand nicht will, reagieren wir. SPIEGEL: Premierminister Recep Tayyip Erdogan, auch ein sehr emotionaler Mann, hat dem SPIEGEL gegenüber erklärt, Europa brauche die Türkei dringender als die Türkei Europa. Davutoglu: Das ist keine emotionale, sondern eine sehr rationale Aussage. Denken Sie nur an die Energiesicherheit. Brauchen wir Europa, um unseren Energiehunger zu stillen? Nein, wir brauchen den Irak, Iran und Russland. Die Europäer dagegen sind auf den anatolischen Korridor angewiesen, um an Gas und Öl zu kommen. In Wahrheit brauchen wir einander beide. Nur so können wir uns gegenüber Mächten wie China oder Indien behaupten. Wir sollten uns gemeinsam fragen: Wo liegt Europas Zukunft? SPIEGEL: Im Moment fragen sich auch viele, wo die Zukunft des Nahen Ostens
Davutoglu: Nein, völlig falsch. Wir hatten
in Libyen ein humanitäres Anliegen. Wir haben in den ersten Tagen der libyschen Krise mehr als 10 000 Menschen aus 63 Staaten evakuiert. Wenn Sie von Wirtschaftsinteressen sprechen – ich nenne keine Namen, aber fragen Sie sich selbst, welche Hauptstädte Gaddafi besucht hat. Wer hat denn Gaddafis Hand geküsst? SPIEGEL: Silvio Berlusconi. Davutoglu: Kein Kommentar.
REUTERS
liegt. Haben Sie mit den Unruhen in der arabischen Welt gerechnet? Davutoglu: Ja, durchaus. Ich selbst habe schon vor zehn Jahren in meinen Büchern geschrieben, dass es in der arabischen Welt zwei historische Anomalien gibt: den Kolonialismus des 20. Jahrhunderts, er hat die arabischen Gesellschaften entzweit. Und den Kalten Krieg, der dazu beitrug, dass sich in der Region autokratische Regime etablierten. Eine Transfor-
Staatsmänner Erdogan, Assad mit Ehefrauen: „Es ist Zeit für Veränderung“
mation, wie sie der Ostblock in den neunziger Jahren erlebte, ist in Arabien ausgeblieben. Aber jetzt ist der Wandel gekommen. SPIEGEL: Und wie steht die Türkei zu diesem Wandel? Davutoglu: Wir haben zwei Prinzipien formuliert: Der Kalte Krieg ist ein für alle Mal zu Ende, es ist Zeit für Veränderung. Und: Die Transformation muss friedlich ablaufen. Diese beiden Prinzipien gelten für alle Staaten des Nahen Ostens. SPIEGEL: Wirklich? Warum hat Premier Erdogan dann den Ägypter Husni Mubarak als einer der Ersten zum Rücktritt aufgefordert, während er sich bei Muammar al-Gaddafi so lange Zeit gelassen hat? Davutoglu: Weil er sah, dass sich die ägyptische Armee neutral verhielt. In Libyen war das anders. Hier mussten wir mit ansehen, wie sich das Land spaltete, und dass es keine Armee gab, die sich schützend vor die Menschen stellte. Wir begriffen, dass es ein Blutbad geben würde. Also versuchten wir, unsere Gesprächskanäle zu beiden Seiten zu erhalten. SPIEGEL: Geht es nicht vor allem um Geld? Schließlich haben türkische Firmen in Libyen milliardenschwere Bauaufträge …
SPIEGEL: Und wo bleibt Ihre Kritik an Syriens Präsident Baschar al-Assad? Warum fordern Sie nicht auch seinen Rücktritt? Davutoglu: Wir glauben, dass Syrien für den Friedensprozess im Nahen Osten das wichtigste Land ist. Es grenzt an den Irak, an Israel, den Libanon, Jordanien und die Türkei. Es ist darüber hinaus, anders als Libyen oder Tunesien, ein multikonfessionelles Land. Trotzdem gelten auch hier unsere Kriterien: Politische Veränderung muss stattfinden, und zwar friedlich. SPIEGEL: Aber wie soll das – nach tausend Toten – noch friedlich gelingen? Davutoglu: Es wäre einfacher gewesen, wenn der Reformprozess schon im Januar eingeleitet worden wäre. Damals flog Premier Erdogan nach Damaskus und sprach sehr offen mit Assad. Im Moment ist das Zeitfenster nur mehr einen Spalt weit offen. Wir werden aber weiter mit unseren syrischen Freunden sprechen. SPIEGEL: Ihre Regierung versucht seit längerem, im Nahen Osten Konflikte zu schlichten. Was haben Sie denn erreicht, bevor der „arabische Frühling“ anbrach? Davutoglu: Oh, eine Menge! Auf dem Höhepunkt der konfessionellen Kämpfe im Irak haben wir die sunnitischen Parteien D E R
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überzeugt, sich in den demokratischen Prozess einzubringen. 2008 vermittelten wir zwischen den Fraktionen im Libanon, danach zwischen Hamas und Fatah und 2009 im Streit zwischen Irak und Syrien. Die syrisch-israelischen Friedensgespräche konnten wir nicht zu Ende bringen, aber es war ein Erfolg, sie überhaupt begonnen zu haben. SPIEGEL: Warum sind diese Gespräche denn gescheitert? Davutoglu: Ende 2008 besuchte der israelische Premierminister Ehud Olmert Ministerpräsident Erdogan in dessen Residenz in Ankara. Er blieb sechs Stunden, und wir stellten eine telefonische Verbindung zwischen Olmert und Assad her. Kurze Zeit später waren wir so weit, direkte Gespräche zu beginnen. Ich rief die Syrer an und machte ihnen ein Angebot. Sie sagten: Gut, wir akzeptieren, wenn die Israelis auch akzeptieren. Am nächsten Morgen versuchten wir, mit Olmert zu sprechen. Doch da war schon klar: Israel hatte den Gaza-Streifen angegriffen. Danach veränderte sich alles. SPIEGEL: Am 12. Juni wird ein neues Parlament in der Türkei gewählt. Welches Ergebnis erwarten Sie für Ihre Partei, die islamisch-konservative AKP? Davutoglu: Es könnten wohl zwischen 45 und 50 Prozent werden. Wichtig ist eine klare Mehrheit. Die Türkei braucht stabile Verhältnisse. SPIEGEL: Sie wollen eine Zweidrittelmehrheit, um die Verfassung im Alleingang ändern zu können. Davutoglu: Ja, das würde die Dinge erleichtern. Davor wollen wir aber mit allen Bevölkerungsgruppen sprechen. Wir wollen das nicht allein durchpeitschen. SPIEGEL: Dann wäre es doch besser, die Mehrheit für die Regierungspartei fiele nicht allzu groß aus. Davutoglu: Das muss das Volk entscheiden! Früher war es eine nicht vom Volk gewählte Elite, die Verfassungen schrieb. Das ist nicht unserer Ansatz. Wir wollen demokratische Verhältnisse. SPIEGEL: Verstehen Sie, dass viele Türken den Machtzuwachs von Ministerpräsident Erdogan als bedrohlich empfinden? Davutoglu: In parlamentarischen Demokratien hat der Ministerpräsident immer eine starke Position. Aber ich habe lange als außenpolitischer Berater und als Außenminister für Erdogan gearbeitet und kann Ihnen versichern: Der Premier ist immer für Beratung empfänglich. SPIEGEL: Aber es gibt Befürchtungen, dass Ihrem Land unter der AKP die „checks and balances“ abhandenkommen. Erdogan könnte der Putin der Türkei werden. Davutoglu: Nein. Jedes Land hat seine eigenen Traditionen. Die Demokratie ist in der Türkei festverwurzelt. Eine autoritäre Politik wird es mit uns nicht geben. INTERVIEW: DANIEL STEINVORTH, BERNHARD ZAND
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MARCEL METTELSIEFEN / DER SPIEGEL
Gaddafi-Anhänger vor der Festung Bab al-Asisija in Tripolis: Menschliche Schutzschilde gegen die Nato-Bomber LI BYEN
Die Stadt der Spieler Die Entscheidung über Krieg oder Frieden wird in Tripolis fallen. Nachts explodieren NatoBomben, tagsüber bringen sich Gaddafi-Loyalisten und Rebellen in Stellung. Im Getümmel versucht ein Franzose, Unterhändler des Diktators nach Europa zu schaffen. Von Clemens Höges
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er zwei der schwierigsten Jobs der Welt: Während französische Jets libysche Bunker und Panzer bombardieren, soll er im Auftrag französischer Ölfirmen Kontakte halten für die Zeit danach. Und zugleich will er zusammen mit seinem tunesischen Geschäftspartner Ghasi Mellouli auf geheimen Wegen libysche Rebellen und Regimetreue für Friedensverhandlungen nach Paris bringen. Krieg ist schlecht fürs Geschäft, vor allem für das Ölgeschäft in der Region. Bonnard fürchtet, dass in den Straßen von Tripolis bald Blut fließen wird. Ein paar
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er Ölmanager lehnt sich zurück im Fond der weißen Regierungslimousine, der Wagen rollt die Corniche von Tripolis entlang, auf dem Weg ins Zentrum. Das iPhone ist gerade mal still, auch das andere Handy brummt nicht. Wellen branden auf den Strand, die Gischt spritzt hoch. Vieles ist Pierre Bonnard in dieser Stadt schon widerfahren: Der Franzose hat hier Millionengeschäfte gemacht, ein Auftragskiller metzelte seinen Kompagnon nieder; und er hat Muammar alGaddafi getroffen, damals im Zelt. Vor sieben Jahren war das, Pierre Bonnard hatte gerade geholfen, eine hässliche Sache aus dem Weg zu räumen: Eine Gruppe um Gaddafis Schwager hatte 1989 einen französischen Passagierjet sprengen lassen, 170 Menschen starben. Damit Gaddafi wieder mit den Franzosen reden konnte, fädelte Bonnard einen Deal ein: Die Hinterbliebenen bekamen mehr als 200 Millionen Dollar Schmerzensgeld aus Tripolis, die Beziehungen zu Paris entspannten sich. Jetzt ist Bonnard wieder da. Er ist Chef der französischen Handelskammer für den Nahen Osten, Sitz in Paris, und hat ein Büro auf Malta. Im Moment aber hat
Vermittler Bonnard
„Wir müssen ihm einen Ausweg öffnen“ D E R
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Wochen Zeit hätten sie noch, glaubt er, dann werde es wohl zu spät sein. Alles ist jetzt möglich in Gaddafis Hauptstadt, und alle warten darauf, dass etwas passiert. Geheimpolizisten sorgen für Ruhe, in den Gassen flüstern Gaddafis Gegner, auf den Plätzen singen seine Anhänger. Nachts beben Häuser, wenn die Bomben der Nato Bunker knacken. Wer Libyen regieren will, muss diese Stadt beherrschen. Aber es geht um mehr als um Tripolis, es geht um Weltpolitik: Es geht um die Frage, ob Libyen ein zweites Somalia werden könnte und sich der Westen in einen Krieg verstrickt, den er vielleicht gar nicht gewinnen kann. „Ich kann in dieser Situation nicht nur auf einer Seite stehen, das könnte ich mir gar nicht leisten“, sagt Bonnard. Während er und Mellouli in Tripolis mit Gaddafis Leuten verhandeln, knüpft ein Mitarbeiter von ihm Kontakte in Bengasi, der Hochburg der Rebellen im Osten. Bonnard hat ein scharf geschnittenes Gesicht, wache Augen und Lachfalten drum herum. Er trägt einen Ehering an der rechten Hand, obwohl er, wie er sagt, für die Ehe nicht gemacht sei. Der Ring
Ausland ze, er hörte immer wieder von den verfolgten Brüdern in Palästina. „Wir brauchen nichts als Gaddafi“, sagt Said, „die Universität kostet nichts, im Hospital werde ich ohne Geld behandelt. Nachts gibt es Licht. Wenn man den Hahn aufdreht, kommt Wasser raus. Wir fahren teure Autos. Wir sind Brüder. Wo ist das sonst noch so in Afrika?“ Neben Said steht Mohammed Abdulkareem aus Niger. Schwarzafrikaner, die Gaddafi zu Tausenden ins Land geholt hat, sind neben Jungs wie Said seine treuesten Anhänger. Abdulkareem ist schlank, still und hochgewachsen, bislang nannten ihn alle Obama, weil er ein bisschen aussieht wie der amerikanische Präsident in jungen Jahren. Aber den Spitznamen mag er nicht mehr, er klingt in Tripolis, seit die Bombardements begonnen haben, wie ein Schimpfwort. Abdulkareem ist 26, vor drei Jahren floh er vor der Armut nach Libyen. Gaddafis Beamte hätten ihn froh aufgenommen, er habe Arbeit bekommen und ein Zimmer. „Die Libyer behandeln uns gut“,
Aus einem Café am römischen Triumphbogen strömt süßer Rauch aus den Wasserpfeifen. Goldfische drehen ihre Runden im Springbrunnen unter den Arkaden, an der Wand hängt ein GaddafiBild. Ein Handwerker am Hafen sieht sich kurz um, zeigt dann schnell das VictoryZeichen der Rebellen und murmelt: „Gaddafi out.“ Kurz bevor der arabische Frühling anbrach, hat er geheiratet. Seine Frau und er wollten ihre Hochzeitsreise nach Tunesien machen. Dann demonstrierten die Menschen dort ihren Diktator nieder. Also buchten die beiden neu, Ägypten. Daraus wurde dann auch nichts, auch dort war Revolution. Dann wollten sie innerhalb von Libyen verreisen, nach Bengasi. Dort begann am 17. Februar die Rebellion gegen Gaddafi. Also blieb das junge Paar daheim. Und nun fallen Bomben auf Tripolis. Er freue sich trotzdem über jede einzelne, sagt er, die Nato treffe ja schließlich keine Zivilisten. Nur einen Kollegen hat es erwischt. Er trug gerade mit Freunden eine schwere Metalltür ins Haus, als weit weg eine
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gehörte seinem Vater. Bankier war der, ein Mann mit guten Kontakten in die Politik und die Welt der Geheimdienste. Schon als Junge hörte der Sohn am Mittagstisch von den Kämpfen hinter den Nachrichten der Weltpolitik. Jetzt lebt er gut davon, dass er die arabische Welt und ihre Mächtigen kennt. Er handelt vor allem mit Termin-Kontrakten und Verträgen über Öltransporte, alles dreht sich um Tankschiffe, Zehntausende Barrel und um Millionen von Dollar. 20 Prozent Gewinn sind in diesem Geschäft schnell verdient, ebenso schnell ist das ganze Vermögen aber auch wieder verzockt. Man muss ein Spieler sein, um in dieser Branche Lachfalten zu bekommen. Respekt habe er vor der deutschen Regierung, sagt Bonnard, weil die sich heraushalten wolle aus dem Krieg. Frankreich dagegen habe sich viel zu schnell auf die Seite der Rebellen gestellt. Präsident Nicolas Sarkozy habe einen Pakt mit Bengasi geschlossen, sagt Bonnard, ohne dass sein Außenminister auch nur davon wusste. „Lächerlich.“ Natürlich hätte der Westen in Bengasi ein Massaker verhindern müssen – aber er hätte auch einen Plan gebraucht für das, was nach den ersten Angriffen kommen sollte. „Schauen Sie sich um in Tripolis: Es gibt Gaddafi-Gegner und Gaddafi-Unterstützer. Seine Leute werden nicht verschwinden. Sie werden es darauf ankommen lassen. Man muss die Anhänger mitnehmen in die Zukunft und auch den Apparat, die Verwaltung. Es muss weitergehen. Wir brauchen einen Plan.“ Auf einer Verkehrsinsel direkt gegenüber von Gaddafis Kommandozentrale Bab al-Asisija, einem großen Militärgelände in der Stadt, haben Anhänger des Diktators Zelte mit dicken Stricken und Holzpflöcken auf den Sand gebaut. Musik dröhnt aus Lautsprechern, Porträts des Führers, wie sie ihn nennen, lehnen an den Planen. Abends, wenn die Bomber kommen, sind manchmal Hunderte hier, um ihm als menschliche Schutzschilde zu dienen. Abd al-Daim Said, 21, ist klein und trainiert, die schwarzen Augen blitzen, wenn er die Sonnenbrille mal abnimmt, seit drei Jahren studiert er Medizin. Said ist gebildet. „Gaddafi sagt uns, was richtig ist und was falsch“, sagt er, und er will gern für ihn sterben, wenn die Jets wieder Bab al-Asisija anfliegen wie so oft. Als Said mit sechs Jahren in die Schule kam, fing er an, Geschichten über Gaddafi zu lernen, wie alle Kinder. Die Lehrer sagten, Gaddafi sei ein Rebell und Freiheitskämpfer. Kleine Jungs finden Rebellen gut. In den Schuljahren danach las Said in Gaddafis Grünem Buch, einer schmalen Fibel voller ideologischer Allgemeinplät-
Zerstörte Gaddafi-Unterkunft: Fast jede Nacht schlagen Raketen ein
behauptet er. Männer aus allen Ländern Afrikas würden sich jetzt deshalb gern für den Führer hier vor dem Bab al-Asisija opfern. Noch aber sieht Tripolis nicht aus wie eine Stadt im Bürgerkrieg. Die Schaufenster der Geschäfte sind voll. Händler verkaufen Lebensmittel, Schuhe, Spielsachen, Goldschmuck, miserable „Rolex“Imitate. Familien schieben sich durch die Gassen des Basars, auf dem Grünen Platz vor der Stadtmauer laufen junge Männer Mädchen hinterher, die Kopftuch und enge Jeans tragen. D E R
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Bombe detonierte. Die anderen ließen vor Schreck los, ihm quetschte eine scharfe Kante der Tür zwei Fingerspitzen ab. Er würde sogar seinen Kopf geben, sagt der Mann – wenn dafür auch Gaddafis Kopf fallen würde. Am vorigen Mittwoch verkündete Gaddafis Regierung dann ihre Opferzahlen: 718 Zivilisten habe die Nato seit dem 19. März gemordet, über 4000 verletzt. Prüfen lässt sich das nicht. Aber einer der Pressesprecher der Regierung sagt auf Nachfrage, auch bewaffnete Freiwillige seien Zivilisten und würden folglich mit97
Ausland Die Araber könnten sich bekriegen gezählt. Nur, wo sollen die Leute gestorben sein? Tripolis wirkt unbeschädigt, ob- und sich dann zusammenraufen, sagt er, wohl fast jede Nacht Bomben explodie- das möge er an ihnen. Aber wenn der ren, Raketen einschlagen. Mit beängsti- Westen nur die eine Seite stärke, sei die gender Präzision treffen sie etwa Bunker am Ende nicht mehr gezwungen zu reden. und immer wieder Bab al-Asisija. Sie ha- Bonnard will erreichen, dass Bengasi, Triben die Mauern aufgerissen und Gebäude polis und Frankreich verhandeln – zwei libysche Delegationen sollen nach Paris in Schutt gelegt. Ein zerstörtes Privathaus zeigen die Re- fliegen. Weit auseinander seien die Rebellen gierungsleute aber besonders gern vor, und ihre Geschichte dazu geht so: In der und einige Reformer in der Gaddafi-ReVilla in einem feinen Viertel wohnte Gad- gierung ohnehin nicht, sagt Jussif Schakir. dafis Sohn Saif al-Arab. Am 1. Mai schlu- Mit seinem Bauch und seinem graumegen abends Bomben ein, Saif al-Arab und lierten Bart sieht er aus wie ein gemütdrei seiner Kinder starben. Eine Jung- licher Herr. Aber Schakir ist einer der hans-Küchenuhr hängt in den Trümmern, schärfsten Propagandaredner Gaddafis. ihre Zeiger stehen auf 20.09 Uhr, um Weil er meist eine Gebetskette durch seigenau diese Zeit starb Saif. Ein paar Me- ne Finger gleiten lässt, halten ihn manche ter weiter hängt ein schlichtes Haustele- für den spirituellen Berater des Führers. fon, der Rest sind schwarze und graue Doch Schakirs Religion ist die Politik. Jeden Tag hat er seine Sendung im StaatsTrümmer. Man kann die Geschichte auch anders fernsehen, zwei Stunden lang. Schakir ist eine der schillerndsten Fierzählen: Die Decke des Hauses bestand aus meterdickem, extrem armiertem guren im Dunstkreis der Regierung, und Stahlbeton, ungewöhnlich für eine Pri- er kommt aus den Wirrungen der arabivatvilla. Und warum ist die Tür zum schen Politik: Anfang der achtziger Jahre Keller so dick wie Türen in Fort Knox? bekämpfte er Gaddafi, er war lange im Exil, in Kairo und in den VereiWieso hängt die Uhr so sauber nigten Staaten. an einem Eisenträger, der vorIn diesem Als Gaddafi sein Land Ende her wohl kaum aus der Wand Konflikt geht es der achtziger Jahre ein wenig ragte? Und wie kommt es, dass die um Macht und öffnete und Gefangene freiließ, kehrte Schakir zurück. Jetzt, Uhr nicht verbrannte, ebenso Geld. Gut wenig wie das Plastiktelefon, und Böse sind nach Beginn des Aufstands in ging er auf Sendung. das ebenfalls fotogen über Kategorien für Bengasi, Die amerikanischen „Demokraeinem Moniereisen hängt? War Kinder. tie-Macher“, die mit US-Staatsdies vielleicht eher ein Bungeldern finanzierte Organisaker, in einem Wohngebiet versteckt? Libyer bauten nun mal gern mas- tion National Endowment for Democracy, so lautet seine Theorie, habe Tunesien siv, sagt einer der Presseleute. Die Familie Gaddafi sei ein Problem und Ägypten unterwandert, und nun sei für jeden Friedensplan, räumt der Öl- Libyen dran. Er sagt, zur Wahrheit gehöre nun einmann Bonnard ein. Nach seiner Tour durch die Stadt lässt er sich in einen der mal, dass unter den Rebellen in Bengasi Sessel in der Lobby des Hotel Rixos fal- auch ehemalige Qaida-Leute seien. Die len. Die Regierung bringt alle ausländi- Gaddafi-Regierung könne zwar versuschen Journalisten im Rixos unter, nicht chen, auf die Komitees der Rebellen zuweit von Gaddafis Festung. Die Nato wür- zugehen. Aber Gaddafi werde niemals de wohl keine Journalisten bombardieren, abtreten. Schakir rechnet damit, dass er deshalb ist es einer der sichersten Plätze selbst, wenn es zu Ende geht, auf den Fluren des Rixos erschossen werde, wo er in Tripolis. Gaddafi sei ein Spieler, glaubt Bonnard, heute seine Sendungen vorbereitet und er werde kämpfen bis zum Ende, der Wes- mit seinen Kindern spielt. „Ich habe Alten lasse ihm keine Wahl. Und die Rebel- lah gesagt, er könne aus mir einen Märlen im Osten wollen nur verhandeln, tyrer machen.“ In der Nacht zu Freitag vergangener wenn Gaddafi weg ist oder tot. „Soll er sich aus dem Land jagen lassen, um dann Woche kommt Bonnard mit seinem Plan vom Internationalen Strafgerichtshof ein- ein Stück voran. Sein Handy klingelt, in gesperrt zu werden? Wir müssen ihm ei- Paris, wird ihm berichtet, sei sein Vornen Ausweg eröffnen, sonst geht er nicht schlag jetzt oben an der richtigen Stelle gelandet. Und in Tripolis haben Leute zur Seite.“ Schließlich gebe es in diesem Konflikt aus Gaddafis Umfeld angefangen, Namen nicht nur Gute und Böse. Manche der von Diplomaten auf Listen zu schreiben. führenden Köpfe der Rebellen in Bengasi Unterhändler für Paris? Genauer will seien alte Gaddafi-Freunde, sagt Bonnard, Bonnard das nicht sagen, aber er lacht, es gehe um Macht und Geld, und Gut es ist ein Uhr früh. Knapp eine Stunde später fauchen und Böse seien am Ende Kategorien für Kinder. Es dürfe nur darum gehen, was Nato-Raketen über Tripolis. Im Rixos wackeln die Wände. funktionieren könnte. 98
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EMILIO MORENATTI / AP
Jugendliche Demonstranten in Barcelona, Lissabon und Paris: „Wir protestieren, damit die Verantwortlichen diese unhaltbare Realität schnell E U R O PA
Aufstand der Krisenkinder Nach der arabischen Jugend revoltiert die europäische: Von Paris bis Lissabon, von Madrid bis Athen gehen Tausende auf die Straße – gegen Arbeitslosigkeit, gegen das politische System.
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u einer echten Revolution in Paris gehört die Eroberung der Bastille, und deswegen sitzen an diesem Donnerstagabend 200 junge Demonstranten an der Place de la Bastille im Schatten der Bäume und überlegen sich, wie eine solche Revolution anzustellen wäre. Am vergangenen Sonntag waren sie schon mehr als 2000, hatten den Eingang zur Bastille-Oper und die Hälfte des Platzes besetzt, doch dann kam die Polizei mit Tränengas und wacht seither streng über den symbolischen Ort. Sie möchten eine Bewegung erschaffen, so groß wie in Madrid und Lissabon. Sie wollen, dass auch in Paris Zehntausende junger Menschen auf die Straßen gehen – für eine „démocratie réelle“, eine echte Demokratie. Sie glauben, dass auch in Frankreich das Potential dafür da sei: eine Jugendarbeitslosigkeit von mehr als 20 Prozent, prekäre Arbeitsverhältnisse, ewige Krise. „Bis jetzt wurden unsere Probleme immer als individuelle Probleme angesehen“, sagt Julien, ein 22-jähriger Physikstudent, der sich in der Arbeitsgruppe „Aktionen“ eingeschrieben hat. „Es hieß, wenn du keinen Job findest, bist du eben selbst schuld. Vielleicht erleben wir gerade, wie sich das ändert. Dass wir uns zusammenschließen zu einer europaweiten Bewegung gegen dieses System.“ Es gibt ein Gefühl, das Jugendliche in ganz Europa eint: Viele glauben, dass sie nicht mehr den Wohlstand ihrer Eltern 100
erreichen werden. Sie sehen für sich keine Zukunft. Sie sind gut ausgebildet, doch sie finden keine Jobs. Seit Jahren schwelt dieses Gefühl, es betrifft die Generation der „Krisenkinder“ (SPIEGEL 25/2009), die aufwuchs in einer Welt, geprägt von Wirtschafts- und anderen Krisen, die aber bisher nicht auf die Straße ging, um ihre Interessen durchzusetzen. Doch in den vergangenen Monaten hat sich etwas grundlegend verändert: Am 12. März zogen in Lissabon 200 000 Menschen über die Avenida de Liberdade, die Straße der Freiheit. Es war die größte Demonstration in Portugal seit der Nelkenrevolution 1974, es war die Demonstration einer verlorenen Generation. Alles hatte, wie Wochen zuvor in Ägypten, auf Facebook begonnen, mit einem Appell, den Alexandre de Sousa Carvalho mit Studienfreunden von der Universität Coimbra gepostet hatte. Sie riefen die Generation Prekariat, die „Geração à rasca“, zum Protest auf: „Wir Arbeitslosen, schlecht Entlohnten, Praktikanten sind die am besten ausgebildete Generation in der Geschichte des Landes“, schrieben sie. „Wir protestieren, damit die Verantwortlichen für unsere unsichere Lage diese unhaltbare Realität schnell verändern.“ Carvalho ist 25, er hat internationale Beziehungen studiert, ein höflicher junger Mann mit Bart und einem Lederreif am Handgelenk. Er sagt von sich, er sei eigentlich ein geduldiger Mensch. Aber D E R
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als er feststellte, dass er von seinen Freunden der Einzige war, der nach dem Studium einen Jahresvertrag bekam, einen Job in einem Konfliktforschungszentrum, da packte selbst ihn die Wut, aus Solidarität mit dem Schicksal der anderen. Portugal ist das viertärmste Land der Euro-Zone. Selbst in Griechenland ist das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf höher. Die Arbeitslosigkeit hat sich in sechs Jahren auf 12,6 Prozent fast verdoppelt, mehr als 27 Prozent der unter 25-Jährigen sind davon betroffen. Von denen, die einen Job haben, sind mehr als die Hälfte nur auf Zeit angestellt. Und viele werden als Pseudo-Selbständige beschäftigt, mit einem winzigen Gehalt, bei Steuern bis zu 50 Prozent und ohne Sozialversicherung. Carvalho sagt, ein Song der Band Deolinda habe sie inspiriert zu ihrem Protest. Dieser Song habe ihr Lebensgefühl auf den Punkt gebracht: „Ich bin aus der Generation, die nicht entlohnt wird. Mich stört das nicht, wie blöd bin ich doch. Es geht schlecht, es wird so bleiben. Glück hat schon, wer ein Praktikum bekommt. Wie blöd ist doch die Welt, in der man studiert, um Sklave zu sein.“ Dass am Ende so viele auf die Straße ziehen würden, hätten sie sich niemals vorstellen können. Es ist der Beginn einer Bewegung, die nun auch andere Länder erfasst. Die Organisatoren der Proteste in Spanien und Frankreich, so Carvalho, hätten mit ihnen Kontakt aufgenommen. Sie wollten wissen, wie man Anarchisten, Rechte, Trotzkisten und Katholiken zusammen auf die Straße bringt, ohne dass eine Fensterscheibe zu Bruch geht. Die Welt hat sich in den vergangenen Monaten an die Bilder junger Menschen, die Straßen und Plätze besetzen, gewöhnt. Sie kennt das von der Avenue Habib Bourguiba in Tunis, vom Tahrir-Platz in Kairo, vom Perlenplatz in Bahrain. Es sind die Bilder der arabischen Revolution. Nun gibt es ähnliche Szenen aus Europa.
JACQUES TORREGANO
RAFAEL MARCHANTE / REUTERS
verändern“
Aber was hat das miteinander zu tun? Die arabischen Länder gehören zu den ärmsten der Welt. Mehr als die Hälfte ihrer Bevölkerung ist jünger als 25. Europa dagegen ist reich und die Jugend hier eine Minderheit in Gesellschaften, die immer älter werden. In den arabischen Staaten kämpft eine Jugend um demokratische Rechte, in Europa protestiert eine Jugend, die sich vor dem Abstieg fürchtet. In beiden Fällen geht es um gutausgebildete junge Leute, die keine Arbeit finden, sie sind die Triebfeder aller Revolutionen. Auch die Mittel der Demonstrationen gleichen sich: Die Jugendlichen organisieren sich in sozialen Netzwerken, sie haben keine Anführer. Es sieht fast so aus, als brauchte die europäische Jugend erst die Bilder aus der arabischen Welt, um aufzustehen für ihre eigene Sache. An der Puerta del Sol in Madrid, dem bekanntesten Platz Spaniens, steht seit bald drei Wochen eine Zeltstadt. Wer sie betritt, ist in der Welt der „indignados“ angekommen, der Welt der Empörten. Am 15. Mai, eine Woche vor den Kommunal- und Regionalwahlen, begannen sie, hier ihre Stadt aufzubauen. In den ersten Nächten waren sie über hundert, dann erklärte der Wahlrat das Camp für illegal – woraufhin es erst recht wuchs. Am Wahlsonntag füllten 30 000 den Platz und die benachbarten Zugangsstraßen. Sie demonstrierten gegen die Wirtschaftskrise, gegen die Unfähigkeit der Politiker, gegen Korruption. Sie versuchen sich auch in direkter Demokratie: Bürger dürfen auf dem Platz Vorschläge in Pappkartons werfen. Jeden Abend tagt ein Komitee für kurzfristige politische Lösungen und für solche, die in die Zukunft weisen. Am vorletzten Wochenende hielten sie „Volksversammlungen“ in 120 Vierteln der Hauptstadt ab. Dort wollen sie ihre Ideen demnächst weiterentwickeln und nur noch einmal pro Woche an die Puerta del Sol ziehen.
Eine unpolitische Jugend, die lange glaubte, Anpassung sei die beste Strategie, um durchzukommen, ist wie über Nacht politisch geworden. Das ist vielleicht die erstaunlichste Erkenntnis in der Beobachtung dieser Bewegung. Und sie gilt auch für Frankreich und Portugal, wo die Demonstranten direkte Bürgerbeteiligung fordern und Unterschriften für Gesetzesvorlagen sammeln. Die 18-jährige Patri war fast von Anfang an in Madrid dabei. Am vergangenen Mittwoch sitzt sie zusammengekauert im grauen Kapuzenshirt am Stand für Kommunikation. Sie hustet und hat Schatten unter den müden Augen. Dennoch will sie bleiben. „Wir machen jetzt Geschichte“, sagt sie. „So eine Chance kommt nicht wieder.“ Patri studiert im ersten Jahr Englisch und Deutsch, sie will
Sie sind sanft und brav, sie wollen freundlich bleiben, wenn sie die Bastille einnehmen. Übersetzerin werden. „Aber ich werde ins Ausland gehen müssen“, sagt sie. Gut 44 Prozent der unter 25-Jährigen haben hier keine Arbeit, fast jeder Dritte junge Akademiker ist arbeitslos. Und auch in Spanien hat mehr als die Hälfte der jungen Beschäftigten sogenannte Müllverträge, die oft nur auf wenige Wochen befristet sind. Schon während der Boom-Jahre litt die Jugend unter schlechten Schulen, teuren Universitäten und einem mageren Stellenmarkt. Seit vor drei Jahren die Immobilienblase platzte und die Krise ausbrach, sind es erneut die Jungen, die besonders darunter leiden. Längst nicht überall in Europa ist die Lage der Jugend so verzweifelt wie in Spanien, Portugal oder Griechenland, aber mit ihrem Grundgefühl können viele sich identifizieren, und so erreichen die Ausläufer des Protests langsam weitere euroD E R
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päische Städte: Auch in Hamburg, Wien und Rom gingen Jugendliche auf die Straße, wenn auch nur wenige hundert. Ausgerechnet ein 93-jähriger Franzose lieferte die Folie für den Protest der Jungen. „Indignez-vous!“, „Empört euch!“, heißt die Streitschrift, die der ehemalige französische Widerstandskämpfer Stéphane Hessel im vergangenen Jahr herausgegeben hat. Von ihm haben sich die spanischen „indignados“, die französischen „indignées“ ihre Bezeichnung geborgt. Der alte Mann hat die europaweite Bewegung nicht begründet, aber er fordert etwas ein, das nach Jahren der Apathie gerade wieder modern wird: Er will den Bürger, der sich engagiert. Es ist ein Aufruf, der zugleich vage und ernsthaft genug ist, um in vielen politischen Lagern Zustimmung zu ernten. Es geht darum, gewaltfrei zur Tat zu schreiten in einer Welt, in der Arm und Reich immer weiter auseinanderklaffen. In Frankreich sind die Indignierten zwar noch nicht so zahlreich wie in Lissabon, Madrid oder Athen. Aber sie sind gut organisiert. In Paris sitzen die „Empörten“ auf dem Mittelstreifen eines Boulevards und entwerfen Communiqués und Schlachtpläne. Sie geben sich dabei sehr zivilisiert. Wenn einer redet, signalisieren die anderen Zustimmung oder Ablehnung per Handzeichen. Es sieht aus wie in einem Uni-Seminar. Ein paar Schritte neben ihnen sitzt eine Gruppe arabischstämmiger Jugendlicher aus der Banlieue, den Vorstädten von Paris, wo die Arbeitslosigkeit am höchsten ist, wo immer wieder Autos brennen. Sie betrachten diese komische Versammlung verständnislos, ab und zu schreit einer von ihnen etwas Beleidigendes hinüber. Die Aktivisten sind sanft und brav, keiner reagiert. Sie wollen auch freundlich bleiben, wenn sie die Bastille einnehmen. MATHIEU VON ROHR, HELENE ZUBER
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Ausland
ÄGYPTEN
Die Jungfrauen vom Tahrir
DANA SMILLIE / POLARIS / DER SPIEGEL
Die Armee, während der Revolution als Verbündete des Volks gefeiert, hat Demonstrantinnen zu „Jungfräulichkeitstests“ gezwungen. Die Generäle sind sich keiner Schuld bewusst.
Demonstrantin Husseini Gouda: „Ich bin eine gefährliche Verbrecherin!“
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evor sie erzählt, wie der Uniformierte sie und die anderen jungen Frauen schlug und trat und ihnen befahl, sich auszuziehen, sich vor glotzenden Soldaten auf den Rücken zu legen und die Beine anzuwinkeln, damit ein Mann in weißem Kittel ertasten konnte, ob sie Jungfrauen waren oder nicht, bevor sie also ihre Geschichte erzählt, zündet sich die 102
Friseurin noch schnell eine Zigarette an und zieht den Rauch tief in ihre Lungen. Salwa Husseini Gouda, 20, ist eine kleine, zierliche Frau mit fein geschwungenen Lippen und mandelförmigen Augen. Sie sieht müde aus an diesem Nachmittag, sie trägt Jeans und ein Kopftuch, dazu ein eng anliegendes Top. Sie raucht eine Zigarette nach der anderen. Es ist flirrend D E R
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heiß, staubig und laut wie immer in der ägyptischen Hauptstadt. „Ich habe keine Ahnung, warum sie ausgerechnet mich auf dem Tahrir-Platz verhaftet haben“, sagt sie. „Ich stand in dem Moment vor einem Panzer, vielleicht war das der Grund.“ Sie versucht ein Grinsen. „Jedenfalls sollte man sich vor mir in Acht nehmen – ich bin eine gefährliche Verbrecherin!“ Die Männer, die Augenzeugenberichten zufolge am Nachmittag des 9. März den Tahrir-Platz stürmten, das Zentrum der ägyptischen Revolution, und anscheinend wahllos Demonstranten attackierten, trugen keine Uniformen. „Sie sahen aus wie Schlägertypen“, erzählt Salwa, „sie beschimpften mich als Hure und schlugen mir ins Gesicht.“ Schockiert sei sie gewesen, als die Bande sie mit etwa 20 anderen Frauen ins Ägyptische Museum verschleppt und dort dem Militär übergeben habe. „Ich konnte nicht glauben, dass unsere Armee hinter diesem Angriff steckte“, sagt sie. „Aber dann brachten sie uns ins Militärgefängnis, und von da an wurde es immer schlimmer.“ An dem Tag, als Salwa verhaftet wurde, weilte Husni Mubarak, der gestürzte Staatspräsident, seit fast vier Wochen in seinem selbstgewählten Exil im Badeort Scharm al-Scheich. Das Militär, das nach seinem Abgang die Macht im Land übernahm, war noch einen Monat zuvor von den Massen auf dem Tahrir bejubelt worden. „Das Volk und die Armee sind eins“, riefen sie und tanzten und feierten vor den Panzern. Mütter drückten den Soldaten ihre Babys in die Arme, um Fotos zu machen. Die Welt blickte nach Ägypten und staunte, weil dort Männer und Frauen, Muslime und Christen Seite an Seite für die Freiheit kämpften. Dann, nach 18 Tagen, war die Revolution vorbei, der Pharao verjagt. Das Volk hatte gesiegt, und dieser Sieg gehörte auch den Frauen; so sah es damals aus. Als Salwa am 9. März im Militärgefängnis ankam, so erzählt sie, wurde sie mit zwei anderen Frauen in einen kleinen Raum geführt, wo sie sich ausziehen und ihre Kleider durchsuchen lassen mussten. Dabei habe sie bemerkt, dass ein Soldat vor dem offenen Fenster stand und die nackten Frauen fotografierte. „Ich hatte Angst, dass sie die Fotos benutzen würden, um uns als Prostituierte darzustellen.“ In der Nacht wurden die Frauen in eine Zelle gesperrt; sie bekamen Wasser und Brot, das nach Kerosin stank. Am nächsten Tag stand im Flur vor ihrer Zelle eine Liege; dort, so verkündete ein Offizier, werde nun ein Arzt die Jungfräulichkeit der unverheirateten Frauen überprüfen. „Wir konnten es nicht glauben“, sagt Salwa, „wir fragten, ob es nicht wenigstens eine Ärztin sein könne, aber er sagte nein. Ein Mädchen, das sich wehrte, wurde mit Elektroschocks traktiert.“
FRANCESCA LEONARDI / CONTRASTO / LAIF
Soldaten auf dem Tahrir-Platz: Irritiert von der Aufmüpfigkeit des Volks
Was zwischen dem 9. und 13. März im Militärgefängnis von Heikstep geschah, nordöstlich von Kairo, beschäftigt nun mehrere Menschenrechtsorganisationen. Amnesty International forderte die Behörden auf, „die schockierende und erniedrigende Behandlung von Demonstrantinnen zu stoppen“. Das Europäische Parlament verurteilte „die erzwungenen Jungfräulichkeitstests“ als Folter. Die Psychiaterin Mona Hamed vom Nadeem Center für die Rechte von Gewaltopfern hat die Aussagen mehrerer Frauen, die am 9. März verhaftet wurden, dokumentiert – auch die von Salwa. Ihr Fazit: „Das Neue daran ist, dass diesmal nicht die Polizei oder die Staatssicherheit hinter der Aktion steckt, sondern das Militär.“ Die Jungfräulichkeitstests seien eine Botschaft an die Bevölkerung, die Armee wolle die Bewegungsfreiheit der Menschen kontrollieren. Werde eine Demonstrantin verprügelt oder verhaftet, könne ihre Familie das vielleicht noch akzeptieren – nicht aber, wenn sie der Prostitution beschuldigt werde. „Das ist eine unvorstellbare Erniedrigung für die Frau und ihre Familie“, sagt Hamed. Salwa wehrte sich nicht. Der Mann im weißen Kittel habe ihr mit der Hand zwischen die Beine gefasst, erzählt sie; es habe nicht lange gedauert. Er habe ihr gestattet, eine Decke über sich zu legen, um sich vor den Blicken der Soldaten, die im Flur herumlungerten, zu schützen. „Es war schrecklich demütigend“, sagt Salwa. Nach der Prozedur hätten alle Frauen ein Formular unterzeichnen müssen, auf dem stand, ob sie Jungfrauen waren. Als der Arzt bestätigt habe, dass ihr Jungfernhäutchen intakt sei, hätten die Soldaten sie mit neuen Anschuldigungen konfrontiert. Zwei Tage später
sei sie von einem Militärgericht wegen angeblichen Waffenbesitzes, Sachbeschädigung und Missachtung der Sperrstunde zu einem Jahr Haft auf Bewährung verurteilt worden. „Die Situation der Frauen hat sich in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich verschlechtert“, sagt Hala Mustafa, 52, Politologin und Chefredakteurin der Zeitschrift „al-Demokratija“. „Zum einen wegen der politischen Islamisierung durch Muslimbrüder und Salafisten, zum anderen, weil auch das Regime alles dafür getan hat, die Leute konservativ zu halten – damit sie nicht aufmucken.“ Mustafa, dunkelblonder Stufenschnitt, Hosenanzug und Weißgoldschmuck, gehört zu den liberalen Vordenkern des Landes. Sie hat gerade eine Reise abgesagt, sie könne unmöglich verpassen, was jetzt in Ägypten geschehe. Für einen Moment erscheint auf ihrem Gesicht ein Lächeln, das in diesen Tagen bei vielen Ägyptern zu beobachten ist, eine Mischung aus Staunen und Stolz. Für eine Prognose sei es zu früh, sagt sie, optimistisch aber sei sie nicht: „Das alte Regime funktioniert immer noch.“ In letzter Zeit scheint die Armee irritiert von der Aufmüpfigkeit des Volks. Menschenrechtler beklagen, dass in den vergangenen Wochen Tausende Ägypter verhaftet, gefoltert und vor Militärgerichte gestellt worden seien. Das Militär hat das Streik- und Demonstrationsrecht eingeschränkt; nach wie vor gelten Notstandsgesetze und eine Ausgangssperre von zwei bis fünf Uhr früh. Die 28-jährige Journalistin Rascha Aseb hat die Revolution von Anfang an miterlebt. Auch sie wurde am 9. März verhaftet und ins Ägyptische Museum verschleppt. „Nach dem 11. Februar haD E R
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ben wir weitergemacht, weil wir ja nicht nur Mubarak loswerden wollten, sondern das Regime“, sagt Aseb. Um den Hals trägt sie ein Band, an dem eine Patronenhülse hängt. Über Mubarak und die Mitglieder seiner Regierung, die verhaftet worden seien, könne man jetzt sagen, was man wolle, so Aseb. „Aber nicht über den Militärrat.“ Aseb sitzt auf einer Dachterrasse im Zentrum von Kairo; das sandfarbene Häusermeer unter ihr reicht bis zum Horizont. „Die Soldaten fesselten meine Hände und schlugen mich“, erzählt sie. „Sie sagten, wir Journalisten seien schuld daran, dass die Gewalt zunehme. Nach vier Stunden ließen sie mich und meine Kollegen gehen.“ Im Museum habe sie gesehen, wie andere Frauen geschlagen und mit Elektroschocks misshandelt worden seien. Was später mit ihnen passiert sei, habe sie erst Tage danach erfahren. Es sei unerträglich, sagt sie, dennoch sei dies nicht der Moment, über sexuelle Diskriminierung zu sprechen. „Es geht jetzt um die Rechte des ägyptischen Volks, nicht um Männer oder Frauen.“ Doch die Freiheitskämpferinnen vom Tahrir beeindruckten die Welt eben auch deshalb, weil sie ein Klischee widerlegten: Im „Global Gender Gap Report 2010“ des Weltwirtschaftsforums, der die Gleichberechtigung der Geschlechter in 134 Staaten bewertet, liegt Ägypten auf Platz 125. 42 Prozent der Ägypterinnen können weder lesen noch schreiben, die Mehrheit hat keinen Beruf. Die Genitalverstümmelung von Mädchen ist seit 1997 verboten, aber noch immer weit verbreitet. Frauen, die ohne männliche Begleitung in der Hauptstadt unterwegs sind, müssen damit rechnen, sexuell belästigt zu werden. Am vergangenen Dienstag, fast drei Monate nach Salwas Verhaftung, meldete sich erstmals ein General zu Wort. „Die Mädchen, die festgenommen wurden, waren nicht wie Ihre Tochter oder meine“, sagte der General dem US-Nachrichtensender CNN. „Es waren Mädchen, die mit männlichen Demonstranten auf dem Tahrir gezeltet hatten, in den Zelten fanden wir Molotow-Cocktails und Drogen.“ Die Jungfräulichkeitstests seien durchgeführt worden, damit die Frauen hinterher nicht behaupten konnten, im Gefängnis belästigt oder vergewaltigt worden zu sein: „Wir wollten beweisen, dass sie sowieso keine Jungfrauen mehr waren.“ Eine „zutiefst perverse Rechtfertigung einer herabsetzenden Form von Missbrauch“ nannte Amnesty International diese Reaktion und forderte die Behörden auf, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Die Antwort der Armee folgte prompt: Die Anschuldigungen der Frauen, ließ sie über einen Sprecher ausrichten, seien haltlos. SAMIHA SHAFY 103
Ausland
VALLETTA
Jesus schaut zu Global Village: Wie sich eine maltesische Anwältin mit der Kirche anlegte und für das Recht auf Scheidung kämpfte
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DARRIN ZAMMIT LUPI
Auf ihrer Insel war bisher nur vor eier Anruf kam vorigen Herbst, De- die Moderne fand, nur auf den Philippiborah Schembri war gerade drau- nen, in Andorra und, klar, im Vatikan- nem Kirchengericht die Annullierung der ßen mit dem Hund. Ein Abgeord- staat, ist Scheidung jetzt noch verboten. Ehe möglich, falls einer der Eheleute etwa neter hatte beantragt, das maltesische Es ist das Verdienst dieser Anwältin, 35 als drogenabhängig gilt oder als schizoScheidungsverbot aufzuheben – das letz- Jahre alt, rundliche Statur, glasklarer Ver- phren. Das Verfahren ist kompliziert, es te in der EU. Nun fragte ein Fernsehsen- stand, eine der Frauen, vor denen sich dauert bis zu 14 Jahre. Schembri vertrat ihre Klienten vor diesem Gericht. Seit sie der an, ob Schembri dem Volk das neue hier so viele fürchteten. Schembri war eine Unbekannte in Mal- zur Anführerin der Scheidungskampagne Gesetz in einer Talkshow erklären könne und sich zutraue, danach den Kampf ge- ta. Sie lebt in St. Paul’s Bay, dort, wo der wurde, hat die Kirche ihr das verboten. Maltas Bischöfe kämpften mit allen gen die übermächtige Kirche aufzuneh- Apostel Paulus vor 2000 Jahren in einem men. Sie sagte sofort zu. Es hätte keine Sturm gestrandet sein soll. 270 Jahre lang Mitteln gegen die Scheidung. Sie ließen herrschte hier der mächtige Malteser- die Insel zupflastern mit Plakaten, auf Bessere treffen können. Schembri ist Familienanwältin, seit orden, 98 Prozent der 400 000 Einwohner denen Kinder ihre Eltern anflehen: zehn Jahren betreibt sie eine kleine sind katholisch, mehr als 70 Prozent ge- „Stürzt uns nicht ins Unglück, stimmt dagegen!“ Schembri war dabei, Kanzlei in einer Straße am als Priester predigten: „Jesus Strand, sie kennt sich aus mit schaut zu, wenn ihr in die den Übeln der Moderne, über Wahlkabine geht“, und auf eidie Maltas Kirche so beharrlich ner Marien-Prozession behaupschweigt. Sie sagt, was Gott teten, die heilige Jungfrau weiverbunden habe, solle der Staat ne bittere Tränen. „Das ist kein nicht trennen, aber manchmal Katholizismus“, sagt Schembri, gehe es eben nicht anders. „das ist Wahnsinn.“ Acht Monate später hat DeKurz nach Schließung der borah Schembri den Kampf Wahllokale sah die Kirche ein, gewonnen. Sie betritt das Podass sie zu weit gegangen war, dium, die Menschen klatschen. der Erzbischof entschuldigte Sie trägt eine hochgeschlossene sich bei den Gläubigen. Ohne Bluse, das Haar ist brav zum den „spirituellen Terrorismus Zopf gebunden, das Make-up der Kirche“, schrieben später dezent. Vor einer Stunde hat Maltas Zeitungen, hätten die man ihr die ersten Zahlen zuMenschen noch deutlicher für geflüstert, sie strahlte. die Scheidung gestimmt. Jetzt steht sie hier, in einem Am Morgen nach dem RefeGartencafé in Valletta, es ist ihr rendum sitzt Schembri in ihrer erster Auftritt nach dem Schei- Juristin Schembri: „Kein Katholizismus, sondern Wahnsinn“ Kanzlei, um an der Gesetzesdungsreferendum, eine improvisierte Pressekonferenz, und die ent- hen sonntags in die Messe. Zu Ehren des vorlage zu feilen. Das Parlament wird sie scheidende Frage stellt ein spanischer heiligen Paulus besuchte Papst Benedikt voraussichtlich in diesem Sommer verabJournalist, der aus Brüssel angereist ist: XVI. vergangenes Jahr die Insel und lobte schieden. Am Nachmittag holt sie ihren Sohn aus „Frau Schembri, was glauben Sie, ist Mal- die Malteser: „Seid stolz darauf, dass euer Land ein stabiles Familienleben fördert, dem Kindergarten. Ryan, vier Jahre alt, ta heute europäischer als gestern?“ Schembri strafft sich, ihre Antwort indem es Scheidung und Abtreibung ab- blond, blaue Augen, springt in ihre Arme. Eine Mutter klopft ihr auf die Schulter. kommt prompt wie immer. „Malta ist ge- lehnt.“ Schembris Mandantinnen aber erzäh- Ein Vater fragt, ob sie ihm helfen könne, nauso europäisch wie gestern“, sagt sie und lächelt sanft. „Der Punkt ist: Wir ha- len von Psychoterror und häuslicher Ge- aus der Kirche auszutreten, er wolle nicht walt, von Ehemännern mit Zweit- und länger Mitglied sein in diesem Lügen-Verben das heute erst begriffen.“ Der Tag der Deborah Schembri ist ein Drittfrauen, die keinen Unterhalt zahlen. ein der alten Männer. Austritt, findet Schembri – das geht zu historisches Datum für Malta. 53 Prozent Von Scheidungstourismus nach Großder Malteser haben sich per Volksabstim- britannien, wo sie ein paar Monate leben weit. Sie ist gläubig, sie will, dass ihre mung für das Recht auf Ehescheidung ent- und sich dann nach britischem Recht Landsleute mit der Kirche streiten, nicht schieden, ein klares Votum. Ein Sieg, den trennen können. Von Abtreibungstouris- dass sie austreten. Sie lebt selbst in Trenniemand erwartet hätte, nur Schembri mus nach Sizilien, wo sich Malteserin- nung, vor drei Jahren scheiterte ihre Ehe. nen in Hinterhofpraxen die Föten aus- Aber Scheidung, sagt sie, komme für sie glaubte von Anfang an an ihre Mission. Es geht nicht nur um Scheidung. Es schaben lassen. Die Anwältin weiß, dass nicht in Frage, denn sie wolle ihrem Sohn geht um den Einfluss der katholischen sich Schweden auf dem Postweg schei- nicht den Vater nehmen. Sie sagt, fürs Kirche, die eine historische Schlappe hat den lassen, dass Homosexuelle in Däne- Erste sei sie mit der Aussicht zufrieden, hinnehmen müssen. Schembri und ihren mark heiraten, sie sagt, sie wolle, dass eines Tages wieder heiraten zu dürfen Helfern ist es gelungen, dass Malta als auch Malta endlich in der Gegenwart an- und noch ein paar Kinder zu bekommen, am liebsten vier. letztes Land in der EU den Anschluss an komme. FIONA EHLERS 104
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Szene
Falsifikate im Stil von Derain, Léger, Campendonk KUNSTMARKT
Aus demselben Holz D
en Fälschern der obskuren Kunstsammlungen „Knops“ und „Jägers“ (SPIEGEL 44/2010) ist offenbar ein peinlicher Fehler unterlaufen: Die Rahmen von vier gefälschten Gemälden, die sie mit den Signaturen verschiedener Künstler versehen und auf unterschiedliche Jahre datiert hatten, waren allesamt aus dem Holz desselben Baums gefertigt. Das ergab eine dendrochronologische Untersuchung des Berliner Rathgen-Forschungslabors. Vergangenes Jahr war Deutschlands wohl größter Kunstskandal aufgeflogen: Eine mutmaßliche Fälscherbande hatte Werke von Künstlern wie Max Pechstein, Heinrich Campendonk, Max Ernst oder André Derain in Umlauf gebracht und behauptet, sie stammten aus den von ihr erfundenen Sammlungen Jägers und Knops. Weitere Untersuchungen, an denen auch das Bun-
desamt für Materialprüfung beteiligt ist, das 1983 schon die im „Stern“ veröffentlichten „Hitler-Tagebücher“ als Fälschung entlarvt hatte, förderten nun die Holz-Übereinstimmung zutage. Bei den betroffenen vier Falsifikaten, die teils für sechsstellige Summen veräußert wurden, handelt es sich um die Werke „Collioure“ (angeblich von André Derain), „Nature morte“ (Fernand Léger), „Seine-Brücke mit Frachtkähnen“ (Max Pechstein) sowie „Else LaskerSchüler gewidmet“ (Heinrich Campendonk). Dass alle vier Künstler zwischen 1905 und 1914 ein und denselben Rahmenmacher hatten, der dann auch noch das Holz von ein und demselben Baumstamm verwendete, ist nach Urteil der Experten „ausgeschlossen“. Auch orthografisch leisteten sich die Fälscher Fehler: Auf dem rückseitig angebrachten Etikett eines weiteren Derain-Plagiats, das den Maler Henri Matisse zeigt und für rund 4,5 Millionen Euro an die Liechtensteiner Hilti Art Foundation ging (SPIEGEL 2/2011), hatten sie den Namen „Matisse“ mit doppeltem t geschrieben.
POP
Burnout-Techno
Kalkbrenner
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er Aufstieg des Berliner TechnoDJs Paul Kalkbrenner, 34, zu einem der aktuell größten deutschen Popstars ist eine der erstaunlichsten Karrieren der vergangenen Jahre. Kalkbrenner wuchs in Ost-Berlin auf, und jahrelang war er einer jener zahlreichen Underground-DJs, denen das heutige Berlin seinen weltweiten Ruf als Hauptstadt des Nachtlebens verdankt. Dann kam 2008 „Berlin Calling“, ein Kinofilm, der in der Berliner Feierszene spielt. Kalkbrenner spielte 106
einen DJ, der zwischen seinen weltweiten Auftritten und seinem ausufernden Drogenkonsum die Orientierung verliert. Ickarus hieß die Filmfigur, und diese Hauptrolle machte Kalkbrenner europaweit berühmt. Der Soundtrack zum Film wurde mehr als D E R
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140 000-mal verkauft, sensationell für eine Techno-Platte. Seitdem tritt Kalkbrenner tatsächlich überall auf der Welt auf, sogar für die deutschen Soldaten in Afghanistan. Da war er noch hedonistisch, lustig, intelligent – die Idealbesetzung für einen Techno-Star. Nun ist „Icke wieder“ erschienen, sein erstes Album seit „Berlin Calling“, und leider hat es nichts von alledem. Irgendwo zwischen seinen zahllosen Auftritten scheint ihm die Leichtigkeit verlorengegangen zu sein, sein Hoppla-jetzt-komm-ich-Ravertum. Wenn der Partymarathon zum Arbeitsstress wird, droht wohl auch dem DJ der Burnout.
Kultur KINO IN KÜRZE
Die „Bibliothèque Pascal“ ist ein Bordell, in dem sich die Huren als legendäre Frauenfiguren aus der Literatur wie Johanna von Orléans oder Desdemona verkleiden und aus Werken von George Bernard Shaw oder William Shakespeare zitieren, während die Freier über sie herfallen. Diese aparte Idee, deren Realisierung auch die Frankfurter Buchmesse dringend mal versuchen könnte, ragt aus dem Sammelsurium surrealer Bilder heraus, das der ungarische Regisseur Szabolcs Hajdú zu einer Filmhandlung verbinden will. Doch die Geschichte der jungen Mona (Orsolya TörökIllyés), die sich als Sexsklavin verdingt, wirkt trotz mancher vergnüglicher Momente passagenweise ziemlich angestrengt und zäh.
CAMINO FILM
Szene aus „Bibliothèque Pascal“
AU S ST E L LU N GE N
Kunst zur Katastrophe
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DAIDO MORIYAMA, COURTESY GALERIE PRISKA PASQUER, KÖLN
uf weltbewegende Ereignisse schnell zu reagieren ist oft nicht Sache der Kunst. Künstler brauchen Zeit. Erstaunlich kurzfristig haben einige von ihnen nun jedoch ein paar Werke geschaffen, die sich auf die Katastrophe von Fukushima beziehen. Die Berliner Kunst-Werke stellen diese neuen Arbeiten – gemeinsam mit älteren – ab Donnerstag aus. „Breaking
News“ heißt die kleine Schau, die die aus Japan stammende und in Berlin lehrende Kunstprofessorin Leiko Ikemura zusammenstellt. Sie, die 1951 zur Welt kam, kennt den düsteren Ausnahmezustand einer verwüsteten Heimat aus ihrer Kindheit, denn so kurz nach dem Zweiten Weltkrieg war Japan noch von Zerstörungen geprägt, auch von Armut. „Die Ungewissheit, die Trostlosigkeit, aber auch die Hoffnung nach dem Atom-Unfall erinnern mich an früher“, sagt sie. In Berlin zeigt Ikemura nun Arbeiten von so unterschiedlichen Persönlichkeiten wie Rosemarie Trockel, Wim Wenders, aber natürlich auch von japanischen Kollegen wie dem Fotografen Daido Moriyama oder von Yoko Ono. Noch vor wenigen Tagen war vieles nicht fertiggestellt. So hofft die Ausstellungsmacherin noch auf die Teilnahme der Künstlerin Lieko Shiga, die in Japan durch die Katastrophe ihr Atelier verloren hat und derzeit schwer zu erreichen ist: „Dies wird keine Ausstellung sein können, die bei der Eröffnung fertig ist.“
Moriyama-Fotografie D E R
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Kultur
KUNST
Wowi-Center Berlin gilt als Lieblingsstadt der internationalen Künstlerschar, Bürgermeister Klaus Wowereit erhofft sich von den Kreativen einen besonderen Aufschwung. Eine „Leistungsschau“ soll zeigen, zu welcher Größe diese Metropole in der Lage ist.
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hat in der Nähe von Santa Barbara studiert, in seiner sonnigen Heimat, inzwischen lebt er in Moabit, einem Arbeiterviertel, bekannt wegen seines hohen Anteils an Einwanderern und seines riesigen Gefängnisses. Simon Dybbroe Møller, ein Däne, sagt, man könne in Berlin nicht einmal eine Tüte Milch kaufen, ohne jemandem zu begegnen, der irgendetwas mit Kunst zu tun habe. Zuerst seien die Skandinavier gekommen, dann die Amerikaner, nun schon der Rest der Welt. „Vor ein paar Jahren dachte ich, es ist vorbei, doch dann ist es erst richtig explodiert. Großartig.“ McLaughlin, Lloyd, Dybbroe Møller und mehr als 80 weitere junge Künstler, davon 20 auch aus Deutschland, werden sich ab Mittwoch dieser Woche beweisen können, dann eröffnet die Schau „Based in Berlin“ an fünf Ausstellungsorten in der Stadt. Sie hat den Anspruch, das Beste aus der Hauptstadt zu zeigen, und sie wird die Frage beantworten, ob Berlin tatsächlich eine Kunstmetropole von Weltrang ist oder vielleicht doch nur ein Klischee. Paris scheiterte als Metropole der Avantgarde, weil irgendwann jeder, der einen Pinsel halten konnte, unbedingt dort leben wollte, aber nicht mehr jene Leute, die sich Großes trauten. Heute ist Paris nur noch Künstlerstadt-Kulisse. Berlin wäre gern wie New York, eine Stadt, in der sich die Kunstszene seit mehr als 60 Jahren ständig neu erfindet. Im Grunde ist es einfach und schwer zugleich. Ob etwas in der Kunstwelt angenommen werde, hänge immer nur davon ab, „ob es die richtigen und coolen Leute machen“, sagt ein Galerist. Eine der jüngsten Teilnehmerinnen der Berlin-Schau ist die Schwedin Helga Wretman, sie ist 25 Jahre alt. In Stockholm hat sie Tanz studiert, in Berlin wurde sie Künstlerin, aber auch Stuntfrau. Jemand wie sie hätte es früher schwer MARTIN LENGEMANN/INTRO
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yan McLaughlin wirkt nicht wie ten der Künstler trug, was die Kritiker der Typ, der die Einsamkeit sucht. schrieben. McLaughlin wollte nach seiner Man kann ihn sich mit seinen Ausbildung weder nach New York, „zu Künstlerfreunden in Bars vorstellen, mit hektisch“, noch nach Los Angeles, „dafür einem Bier in der Hand, oder auf Vernis- bin ich zu blass“, da blieb nur Berlin, sagen, und das entspricht, nach allem, „mir fiel nichts Besseres ein“. was er erzählt, seinem Lebensstil. Trotzdem, sagt er, verbringt er jeden Tag viele Stunden allein in seinem Atelier, allein mit den Farben, den Zigaretten und einer Liste jener Bilder, die er noch malen will. Über einen Livestream im Internet hört er dann dem Funkverkehr in den Kontrolltürmen europäischer und amerikanischer Flughäfen zu. Minütlich landen irgendwo irgendwelche Maschinen, es rauscht, es klickt, leicht verzerrte Stimmen sagen: „Good morning, Zürich.“ Das alles sei eine gute Erinnerung daran, dass „irgendwo gerade etwas anderes passiert“. Eigentlich könne er als Maler an jedem Ort der Welt tätig sein. Entschieden hat er sich für Berlin, „weil ich es mir hier leisten kann, viel Zeit zu haben“. Das ist es, was viele der Künstler sagen, die aus verschiedenen Ecken dieser Welt Bürgermeister Wowereit: Plötzlich war viel Geld da nach Berlin kommen, und daWahrscheinlich ist es sogar leichter, mit scheinen sie ein Klischee zu bestätigen: Berlin kostet nichts, man muss keine von Berlin aus in New York aufzufallen Brotjobs annehmen, man kann sich auf als in New York selbst. Also gewöhnte die Kunst konzentrieren, sich schlimms- sich McLaughlin an eine Umgebung, die ihm erst einmal destruktiv vorkam, an tenfalls verlieren. Andere sagen: Berlin war schon mal ein Land, das ihn einschüchterte, weil es billiger. Aber Berlin komme dem New „Joseph-Beuys-Territorium und AnselmYork der Siebziger am nächsten, besit- Kiefer-Land ist“. Jetzt hat er Atelier und Wohnung in ze noch Jahrzehnte nach dem Mauerfall den Status des Unfertigen, und keiner Neukölln, nahe der Sonnenallee mit ihren wisse, in welche Richtung sich die Stadt türkischen Grillstuben und Möbelhändlern. Neukölln, Moabit, ein paar Ecken entwickle. McLaughlin strahlt die kluge Lässigkeit von Kreuzberg, das sind die Standorte der amerikanischen Ostküste aus, er ist der jüngeren Künstler: Man kann sehr jetzt 30 Jahre alt, studiert hat er in Provi- viele von ihnen besuchen, ohne in Berlin dence, knapp vier Autostunden von New herumzukommen. Trevor Lloyd, ein Kalifornier, nennt es York entfernt. Die Ausbildung sei fixiert auf die Kunstszene dort gewesen, darauf, später am Tag so: „Berlin gibt einem wer bei der letzten Vernissage von Ri- Street Credibility“, also Glaubwürdigkeit, chard Prince alles da war, welche Klamot- weil Berlin dieses raue Flair habe. Lloyd
FOTOS: CARSTEN KOALL/DER SPIEGEL
Helga Wretman, 25, schwedische PerfomanceKünstlerin „Woanders als in Berlin wäre ich keine Künstlerin geworden.“
Ryan McLaughlin, 30, US-amerikanischer Maler „Deutschland ist JosephBeuys-Territorium und AnselmKiefer-Land.“
Trevor Lloyd, 27, US-amerikanischer Konzeptkünstler „Berlin gibt einem Street Credibility.“
Köken Ergun, 34, türkischer Videokünstler „In der Türkei feiern wir im Freien, in Deutschland werden die Türen geschlossen.“
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Kitty Kraus, 35, deutsche Konzeptkünstlerin „Jede Umgebung beeinflusst einen.“
Simon Dybbroe Møller, 34, dänischer Konzeptkünstler „Ich mache dumme Kunst.“
gehabt in der Kunstszene, ohne berühmte Kunstakademie im Lebenslauf. Mit einer Performance, die von den Veranstaltern als „atemberaubend“ angekündigt wird, soll sie die Ausstellung miteröffnen. Sie lebt in Neukölln, schlägt aber für ein Treffen ein Café in Mitte vor, wo ihr Fahrrad noch steht, weil sie dort am Vortag gedreht hat. Als sie vor sechs Jahren nach Berlin gekommen sei, habe sie sich erst in die Stadt und dann in die Kunst verliebt, sagt sie, „woanders wäre ich keine Künstlerin geworden“. Das klingt hübsch, geradezu pittoresk, und passt nicht recht zu Berlin. Oder doch? Berlin selbst ist der eigentliche Star dieser Schau. Nicht als Motiv, sondern als Mythos, der alles durchdringt. Dafür sorgt schon der Mann, der die Schau und vielleicht sogar auch die Stadt als die seine betrachten dürfte: Klaus Wowereit ist der Initiator der Ausstellung, die er im vergangenen Jahr als „Leistungsschau“ angekündigt hat und die er nun wohl wie ein Ass im Wahlkampf zücken will. Denn sie soll auch gleich der Probelauf für eine neue Kunsthalle sein. Paris hat sich in den siebziger Jahren ein Centre Pompidou geleistet, benannt nach dem ehemaligen Staatspräsidenten und dazu gedacht, den Ruf als Basislager der Moderne doch noch zu retten. Nun also ein Zentrum Wowereit. 110
Drei Profis wurden als Berater angeheuert: Der Schweizer Hans-Ulrich Obrist und der Deutsche Klaus Biesenbach sind zwei der bekanntesten Kuratoren, der eine ist in London, der andere in New York ansässig. Biesenbach gilt noch dazu als der Pate der jungen Berliner Kunstszene, er hat hier Karriere gemacht. Die Dritte ist Christine Macel, sie kommt vom Centre Pompidou in Paris. Die drei haben fünf Kollegen als Kuratoren vorgeschlagen, auch eine kosmopolitische Truppe. Der jüngste ist gerade 24 Jahre alt, die älteste 32. Und diese Jungkuratoren wiederum wählten über 80 Künstler aus – eben die angeblichen Leistungsträger. Die Kuratoren hatten Scouts und Assistenten losgeschickt, sich umgehört, sind selbst durch die Ateliers gezogen und haben außerdem einen Aufruf an die Berliner Künstlerschar gerichtet, Mappen einzusenden. Mehr als 1200 gingen ein. Sie haben Künstler eingeladen, die schon fast berühmt sind, und solche, die kaum jemand kennt. Alle müssen als „aufstrebend“ gelten, das war der Auftrag. So viel Aufwand ist in der Hauptstadtkultur ungewöhnlich, plötzlich war auch ziemlich viel Geld da, knapp 1,4 Millionen Euro. Weniger als geplant, weil der ursprünglich von Wowereit favorisierte Ausstellungsort aufgegeben werden musste, und doch sehr viel angesichts der D E R
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Kultur
Finanzlage vieler Institutionen. Und natürlich fühlte sich ein großer Teil des Kunstbetriebs, also halb Berlin, übergangen. 2500 Menschen unterzeichneten eine Petition gegen das Konzept der Schau. Viele der teilnehmenden Künstler halten die Kritik für richtig. Auch das ist Berlin. Doch die meisten von ihnen sind nicht aus dem Ausland nach Berlin gekommen, um eine Ausstellung zu boykottieren, deren Eröffnung so clever gelegt wurde, dass auch das Vernissagepublikum von der Biennale in Venedig ohne großen Zeitverlust einfliegen kann, Direktoren, Kuratoren, Sammler. Diese Ausstellung ist eine Chance. Jenseits der Galerien gibt es in Berlin gar nicht so viele Möglichkeiten auszustellen. Wie aber sieht sie aus, die Kunst der Besten in Berlin im Jahr 2011? Es gebe keinen Berlin-Stil, aber einen Karrierestil, spottet Maler McLaughlin, das sei die Kunst der Frankfurter StädelSchule. Die Absolventen dieser Akademie bilden tatsächlich so etwas wie eine junge Elite, viele leben – logisch – in Berlin, ihre Werke gelten als tendenziell verkopft. Die Ästhetik der Gegenwartskunst wird jedenfalls nicht in der Hauptstadt geprägt, sondern in der Geldstadt ein paar hundert Kilometer entfernt am Main. McLaughlin ist ein Außenseiter, schon deshalb, weil er Maler ist. Seine Bilder,
LUDWIG-RAUCH-FOTOGRAFIE.DE
die er gemalte Collagen nennt, haben rade an einem Nachbau der amerikani- meisten Leute bannt. Das Video „WedWitz und Farbe, das ist ungewöhnlich, sie schen Freiheitsstatue in Originalgröße, in ding“ des Künstlers Köken Ergun ist ein spielen mit der Kunstgeschichte und dem Berlin stellt er ein Gerüst auf, an dem Zusammenschnitt türkischer Hochzeiten Mainstream, nicht selten taucht ein Stück Teile des Arms mit der Fackel installiert in Berlin. Es wird getanzt, geklatscht, Geld verschenkt, alles in hohem Tempo, Pizza als Motiv auf, für ihn eine „globale sind. Und manchmal sieht die immer noch denn jede Minute eines solchen Fests Währung“. Es sind Gemälde, die wirken, als könnten sie über sich selbst lachen. hoch gehandelte Konzeptkunst genauso ist kostbar. „Rituale der Desintegration“ Immerhin macht er manchmal minima- ernst aus wie früher, doch selbst da hat nennt er diese Hochzeiten. Ergun stammt aus Istanbul, er hat listische Skulpturen, die wie abstrakte Ge- sich etwas eingeschlichen, was man als Schauspielerei studiert, war Regieassistent mälde aussehen, und vielleicht rettet das neue Nettigkeit bezeichnen kann. Die Deutsche Kitty Kraus schreibt seit des berühmten amerikanischen Theaterseinen Ruf in einer Kunstszene, die seit vielen Jahren eine eher spröde Ästhetik Jahren an einem absichtlich unverständ- regisseurs Robert Wilson. Sein Großraumlichen Text über Guillotinen und hat in atelier, das er sich mit ein paar anderen bevorzugt. Leuten teilt, liegt in einer Womöglich gehört es aber zu Hinterhausetage in Kreuzberg, den Überraschungen der Schau, an der Grenze zu Neukölln. dass die Kunst insgesamt ein „In der Türkei feiern wir Hochwenig lockerer zu werden zeiten im Freien, in Deutschscheint, weil die Künstler zwiland werden die Türen geschen 30 und 40 weniger verschlossen, die deutschen Türkrampft sind als die Generation ken ziehen sich zurück, weil vor ihnen, sie kennen die Vorsie es müssen und weil sie Orte urteile gegen die Gegenwartsbrauchen, um ihre Traditionen kunst und machen sie zum Thezu wahren.“ ma. Manche Werke wirken wie Ergun ist einer dieser juneine scharfsinnige Satire. gen, global vernetzten und Der Kalifornier Lloyd samreisenden Bohemiens, auf die melt Abbildungen von Hunden Berlin so stolz ist, heute New oder zeichnet mit geschlosseYork, morgen Tel Aviv und nen Augen immer neue Porzwischendurch eben immer träts seiner Mutter, unbeholfewieder Berlin. Und er betont, ner als jede Kinderzeichnung, er werde jedes Mal, wenn er und darum geht es: um das in Berlin einfliege, warmhermetaphysische Bild des Kindes zig von der Stadt empfangen. von der Mutter. Er scheint es Er weiß aber auch – und das selbst nicht ganz ernst zu nehirritiert ihn –, dass er einen men (und seine Mutter auch Sonderstatus besitzt, weil er nicht, wie er gesteht). Künstler ist. Simon Dybbroe Møller, der Dass man in Berlin in ParalDäne und einer dieser Städellelgesellschaften leben kann, Absolventen, findet sowieso, er dass man hier ankommen und mache „dumme Kunst“. Doch sich heimisch fühlen darf, das heißt nur, dass er sich den aber nicht muss, wenn man Kopf zerbricht, weil er das Innicht will, ist ein Vorteil. tellektuelle überwinden will, Das aber wird tatsächlich das ihn offenbar seit seiner nur Künstlern und sonstigen Kindheit verfolgt. In der AusKreativen zugestanden, diestellung zeigt er monochrome sen modernen Gastarbeitern, Gemälde, über die er Fischermit denen Berlin eine Art Aufnetze geworfen hat, als wollte schwung bewältigen will – er die Farbe einfangen, und er und vor denen hier viele sogar lässt einen Pianospieler auftreeine gewisse Ehrfurcht haben. ten, der ein Buch liest und für So freundlich ist man mit den jeden Buchstaben eine Note anursprünglichen Gastarbeitern schlägt. Der Künstler bezeichund ihren Nachkommen nie net es als eine Skulptur zur Ausstellungsgelände im Monbijoupark: Metropole oder Klischee? umgegangen. bourgeoisen Langeweile. Dabei benehmen sich gerade KünstUnd Mandla Reuter, Südafrikaner und einer Berliner Galerie mehrere Compuebenfalls vielgefragter ehemaliger Städel- terausdrucke davon aufgehängt. Das ist ler selten so, als wollten sie sich inteSchüler, reißt in einem der Ausstellungs- Konzeptkunst alter Schule. Doch dazu grieren, sie sprechen ihre eigene Sprahäuser von „Based in Berlin“ einfach ein hat sie eine Metallkappe gelegt, wie sie che (die Kunstszene redet in Berlin am Stück Fassade ein und legt den Raum da- zur Zeit der Französischen Revolution als liebsten Englisch) und bleiben meistens hinter offen. Der Titel: „Nichts zu sehen, Mittel gegen Depression getragen wurde. unter sich. Viele werden nicht für immer bleiben, nichts zu verbergen“. Er lacht, als er da- Die Schwere des Metalls sollte gegen die Kopflosigkeit wirken. Gegen die Kopf- „denn für immer wäre vielleicht ein wenig von erzählt. Der Kanadier Jeremy Shaw hängt in losigkeit nach der Guillotine half nichts. lang“, sagt Maler McLaughlin. Aber wenn „Jede Umgebung beeinflusst einen“, die einen gehen, kommen die Nächsten, der Stadt Poster vom ehemaligen Drogenso weit ist das in Ordnung. kind Christiane F. auf. Der Däne Danh sagt Kitty Kraus. Doch das gilt nur, solange Berlin arm Und dann gibt es noch Kunst, die eher Vo, ein gebürtiger Vietnamese und noch ein früherer Städel-Schüler, arbeitet ge- buntes Fernsehen ist, aber womöglich die und erschwinglich bleibt. ULRIKE KNÖFEL D E R
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Kultur
POP
Böses reden, Gutes tun
EMI
Die Vergangenheit und die Zukunft des HipHop: Superstar Snoop Dogg und der Nachwuchs-Rapper Tyler, the Creator, haben neue Alben veröffentlicht.
Kiffer-Ikone Snoop Dogg: Popstar für die ganze Familie
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as erste Lebenszeichen kommt, gut anderthalb Stunden nachdem das Interview mit Snoop Dogg eigentlich hätte beginnen sollen. Zwei Männer in HipHop-Klamotten, in den Händen riesige Tüten von Kentucky Fried Chicken, verschwinden im Fahrstuhl eines Amsterdamer Luxushotels, in dem der Rapper zwei Etagen gemietet hat. Kurze Zeit später das nächste Lebenszeichen: Zwei andere Männer aus Snoops Entourage schlurfen aus dem Fahrstuhl in die Lobby, sie kommen aus einem Zimmer, in dem offensichtlich mächtig gekifft wurde, noch aus einigen Metern Entfernung riecht man das Gras. Dann passiert wieder für lange Zeit nichts. 112
Snoop Dogg zu interviewen, hatte der Mann von der Plattenfirma gesagt, sei keine einfache Aufgabe. Man müsse Zeit mitbringen; es könne dauern, bis man vorgelassen werde. Außerdem dürfe man auf kein langes Gespräch hoffen, dazu sei der Rapper wahrscheinlich schlicht zu bekifft. Langweilig werde es trotzdem nicht, das mögliche Scheitern eines Interviews müsse man eher als Teil des „Gesamtpakets“ sehen. Tatsächlich werden während des Wartens aus den ursprünglich versprochenen 20 Minuten rasch 15, daraus 10, und aus dem Einzelinterview wird eines, das zu zweit geführt werden muss. Schließlich wird das Interview ganz abgesagt, dann D E R
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soll es doch wieder stattfinden, nun zusammen mit drei anderen Journalisten. Es geht in ein Hotelzimmer, den Raum neben der Suite, in der Snoop und seine Freunde sitzen, ab und zu dringen ihre Stimmen herüber. Nichts passiert. Irgendwann klopfen die Journalisten dann einfach und öffnen die Zwischentür: Ein knappes Dutzend Männer sitzt kiffend vor einer Playstation. Snoop hat wohl schlicht vergessen, dass da jemand wartet. Das könnte man als Zumutung auffassen, aber alles andere wäre eine Enttäuschung gewesen. Snoop Dogg, 39, ist einer der großen Exzentriker des Pop, und wenn überhaupt, ist es eher ein wenig traurig, dass eine der großen Figuren des HipHop im Spätsommer ihrer Karriere vor allem ein leicht überforderter Mann ist, der nach Amsterdam fährt, weil er in Ruhe mit seinen Kumpels kiffen will. HipHop, diese lebendigste Jugendkultur der vergangenen Jahrzehnte, steckt in einer Krise, und niemand kann sie wirklich benennen. Die CD-Verkäufe gehen zurück, sagt die Statistik, aber das ist überall so im Pop. Es zählt nur noch der Kommerz, nicht mehr die Begeisterung, sagen die eingefleischten Fans, aber das sagen sie immer. Es kommt keine interessante Musik mehr heraus, nichts Neues, aber das sagen Kritiker oft. Woher also dieses Gefühl, dass die aufregenden Tage vorbei sind? Vielleicht ist die Krise in Wirklichkeit gar keine. Vielleicht geht es dieser Musik nur wie Snoop Dogg. HipHop ist einfach älter geworden. Sicherer Indikator dafür sind keine neuen Alben, sondern zwei Bücher: „Decoded“ heißt das eine, es ist die Autobiografie und Selbstexegese des New Yorker Rappers Jay-Z. „The Anthology of Rap“ das andere, Adam Bradley und Andrew DuBois haben es herausgebracht, zwei amerikanische Professoren für englische Literatur. Es ist die wohl erste übergreifende Darstellung von HipHop-Texten als amerikanische Lyrik, ein Kompendium von rund 300 Rapsongs, gesetzt wie Gedichte. Bradley und DuBois haben sie mit einer Einleitung versehen, außerdem stellen sie die Epochen und Künstler in kleinen Texten vor. Ein verdienstvolles Buch und gerade für Nichtmuttersprachler oft erhellend – HipHop, diese Musik, die Bradley und DuBois mit transkribiertem Party-Rap aus den Siebzigern beginnen lassen, ist heute also eine gereifte Kultur, mit der sich eine akademische Karriere führen lässt. Unvorstellbar für die Ghettokids, die sich damals in der Bronx Reime ausdachten, um die Tänzer zu animieren. Auch Snoop Dogg ist in der „Anthology“ vertreten, mit drei Songs aus der Frühphase seiner Karriere, als er ein berüchtigter Gangsta-Rapper war, der wegen Mordes vor Gericht stand und freigesprochen wurde. Tatsächlich aber zeigen
Ende der Siebziger zum ersten Mal, wie gerappt wurde, in den Achtzigern wurde er Drogendealer. Aus diesen beiden Schlüsselerlebnissen erklärt er in seinem Buch die HipHopKultur. Was für Snoop Dogg der Pimp ist, ist für Jay-Z der Hustler, der Straßendealer und kleinkriminelle Geschäftsmann. HipHop, so Jay-Z, sei die Triumphmusik einer Generation schwarzer Männer, die eine prägende Erfahrung teilen: die Crack-Epidemie, die ab Mitte der
diese jungen Männer meist der erste selbstbestimmte Akt ihres Lebens. Daraus entwickelte HipHop die Kraft, in den Neunzigern zur weltumspannenden Popkultur zu werden. In diesem Ellenbogendrama konnte sich fast jeder wiederfinden. Wobei die Reichtümer, die Rapper in ihren Videos zur Schau stellten, im Vergleich mit den Bonuszahlungen, die überall in der Welt verteilt wurden, natürlich Peanuts waren. Dieser Schwung läuft langsam aus. Niemand kann sich
JOSH HANER / NEW YORK TIMES / REDUX / LAIF
sich da die Grenzen des Buchs. Bei Snoop ging es noch nie um das, was er sagte, und auch nicht um seine Fähigkeiten als Lyriker. Es war immer der Ton, der bei ihm die Musik machte, der superelegante, samtweiche Schmeichelsound seiner Stimme. Auf den bekifften Zuhälter-Blödsinn kam es eigentlich nie an. Sein größtes Kunststück nämlich ist die Umwandlung des Pimp, der berüchtigten Figur des schwarzes Zuhälters, in einen sympathischen Comic-Helden, in eine
Rapper Tyler, the Creator: „Ich bin ein wandelndes Paradox – nein, bin ich nicht“
Identifikationsfigur für Kinder wie Erwachsene. Snoop Dogg dürfte der einzige Popstar der Welt sein, der, ohne sich zu verstellen, die Orgien in einem Pornofilm choreografiert, in Mainstream-Hollywood-Komödien mitspielen und eine Kinder-Football-Mannschaft trainieren kann. In einem einzigartigen Sinn ist er der einzige wirkliche Popstar für die ganze Familie. Auch Jay-Z findet sich mit sechs Liedern in der „Anthology“, in „Decoded“ erzählt er sein Leben in Form von 36 detaillierten Besprechungen eigener Songs. Mit einer großen Geste setzt Jay-Z dabei sein Leben als beispielhaft für die gesamte HipHop-Kultur. Als Kind sah er
Achtziger die Schwarzen-Ghettos überschwemmte. Fast alle wichtigen Rapper seien Hustler, hätten an irgendeinem Punkt ihres Lebens an einer Straßenecke gestanden und Drogen verkauft. Sie hätten Freunde sterben sehen und sich mitschuldig an deren Misere gefühlt. Die Erkenntnis, die sie aus dieser Zeit mitnahmen, sei die zentrale Einsicht des HipHop: Wenn niemand dir hilft, musst du dir selbst helfen. Etwas Neues im schwarzen Amerika: Noch die Bürgerrechtsbewegung war von dem Gefühl der Solidarität getragen. Dieses Gefühl ist von den jungen Männern an den Straßenecken denkbar weit weg. Nicht die Politik, sondern die Kunst, das Rappen war für D E R
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ewig an die Erfahrungen seiner Teenagerzeit klammern, die Generation der Überlebenden aus der Crack-Zeit ist heute 40 Jahre oder älter, viele sitzen im Gefängnis, viele sind tot, ein paar sind reich und berühmt – die Rapper. Jay-Z sagt mit „Decoded“: Erkennt mich als Künstler an, und ich sage euch, wie ich Künstler geworden bin. Snoop ist da etwas einfacher. Für die zehn Minuten, die das Gespräch dauert, hat er sich drei Joints mitgebracht. „Man muss einfach machen, was man will, und darf sich nicht verstellen“, sagt er auf die Frage, wie er Pimp und Kinderidol sein könne. Als Snoop Doggs Debütalbum „Doggystyle“ 1993 die Spitze der amerikani113
Kultur schen Charts erreichte, war Tyler Okonma oder Tyler, the Creator, wie er sich heute als Rapper nennt, zwei Jahre alt. Seine Kindheit und seine Jugend verliefen ohne besondere Vorkommnisse, außer dass er ohne Vater aufwuchs und oft die Schule wechselte. Aus einem Armenviertel kommt er wohl nicht, genauso wenig wie der Rest von Odd Future Wolf Gang Kill Them All, einer HipHop-Truppe aus Los Angeles, deren Kopf Tyler ist und die als die Rettung des Genres gefeiert wird. Tyler ist heute 20 Jahre alt und ebenfalls kein einfacher Interviewpartner. Vor dem Berliner Konzert von Odd Future sitzt er in einem Biergarten und tut so, als würde er auf Fragen antworten, aber eigentlich redet er nur Unfug, lustigen Kram, wie ein Kind, das heute sein Ritalin nicht genommen hat. Berlin ist die letzte Station seiner ersten Europa-Tour, vorher war er in London, Amsterdam, Brüssel und Paris. Wie sehr sich HipHop verändert hat, lässt sich schon an seiner Körpersprache ablesen: Tyler hat nichts von der verpanzerten Schüchternheit, mit der sich die meisten Rapper bei ihren ersten Europa-Trips bewegen, Ghetto-Kids, die nicht wissen, was sie von diesen fremden Ländern halten sollen, denen man ansieht, wie wenig ihr innerer Kompass funktioniert. So bleiben
sie meist im Hotel und ernähren sich von Fastfood, das sie sich aufs Zimmer bringen lassen. Tyler dagegen bewegt sich mit der geschmeidigen Coolness des Skaters, fragt nach Berliner Frühstückscafés und geht nach dem Interview mit einem Skateboard die Gegend erkunden. Vor wenigen Monaten kannten nur ein paar Blogger Tyler und seine Crew; sie hatten eine Website, über die sie ihre Musik veröffentlichten, zum kostenlosen Download. „Goblin“, sein neues Album, ist nun kürzlich bei einer Plattenfirma veröffentlicht worden. Seine Raps leben
Er redet lustigen Kram, wie ein Kind, das heute sein Ritalin nicht genommen hat. vor allem von Gewaltphantasien und Selbstzweifeln: Er mag keine Frauen, keine Schwulen, keine Lehrer, keine Eltern. Er mag im Grunde niemanden, nicht mal sich selbst. Die ersten Worte seines bekanntesten Songs „Yonkers“ lauten: „I’m a fuckin’ walking paradox / No, I’m not“, er lässt offen, wie ernst ihm all der Welthass wirklich ist. Diese Musik hat ihre existentiellen Abgründe, aber wahrscheinlich geht es Tyler, the Creator, vor allem um die Provokation. Er wirkt wie jemand, der
vielleicht eine Weile düster gebrütet hat, aber jetzt gemerkt hat, wie sehr die Welt es liebt, von ihm gehasst zu werden. Es ist eine Welt, die die Odd-FutureMitglieder sich vor dem Computer zusammengebastelt haben, beim Horrorund Splatterfilme-Schauen. Die echte Gewalterfahrung, die HipHop bisher sonst so oft antrieb, bildet hier eher nicht den Kern. Das ist neu. Dazu passt die Geschichte von Earl Sweatshirt, dem wahrscheinlich begabtesten Rapper von Odd Future. Er veröffentlichte vor einem Jahr ein kurzes Album und verschwand dann plötzlich. Als seine Freunde die „Free Earl“Kampagne starteten, Aufkleber druckten und auf Konzerten seine Freilassung forderten, gingen die meisten Fans davon aus, er müsse wohl verhaftet worden sein, schließlich sind Dutzende Rapper im Gefängnis, einige sitzen lange Strafen ab. Nach ein paar Monaten hieß es, seine Mutter habe ihn nach Samoa geschickt, in eine Schule für schwererziehbare Jugendliche, nachdem sie im Internet seine Musik und seine Gewaltphantasien gehört hatte. Die wirkliche Geschichte ist noch harmloser: Er ist freiwillig gegangen. Seine Mutter sorgte sich um die Folgen des Ruhms, Earl willigte ein, das Rappen sein zu lassen. TOBIAS RAPP
Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin „buchreport“; nähere Informationen und Auswahlkriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller
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C. Bertelsmann; 19,99 Euro
dtv; 12,90 Euro
18 (16) Matthias Matussek Das katholische Abenteuer
18 (17) Nicholas Sparks Wie ein Licht in der Nacht
DVA; 19,99 Euro
Heyne; 19,99 Euro
19 (19) Dora Heldt Kein Wort zu Papa dtv; 12,90 Euro
20 (14) Elke Heidenreich Nero Corleone kehrt zurück
19 (–) Gisela Graichen / Rolf HammelKiesow / Alexander Hesse Die deutsche Hanse Rowohlt; 24,95 Euro 20 (20) Rhonda Byrne The Power MensSana; 16,99 Euro
Hanser; 13,90 Euro
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FOTOS: RAPID EYE MOVIES
Kultur
Szenen aus „Life in a Day“: „Auf der Suche nach dem Verrückten, das hinter dem Banalen lauert“ D O K U M E N TAT I O N E N
Ein Tag im Juli Der Oscar-Preisträger Kevin Macdonald hat aus Tausenden Amateurvideos den Kinofilm „Life in a Day“ zusammengestellt. Die Zukunft der Filmkunst oder eine Kapitulation vor YouTube?
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er Mond ist aufgegangen, einmal, zweimal, dreimal, Vollmond über Vietnam, über Südafrika, über Chile. Überall auf der Welt haben Menschen in dieser Nacht den Mond gefilmt, und als es hell wurde, filmten sie sich beim Zähneputzen, beim Schuheputzen, beim Kinderkriegen oder beim Sterben, ein ganz normaler Tag, beinahe jedenfalls. Der Tag war ein Samstag, der 24. Juli 2010, ein Datum, das vielleicht irgendwann als Zeitenwende gelten wird, als Beginn einer neuen Ära in der Geschichte des Kinos, möglicherweise aber auch als der Anfang vom Ende traditioneller Filmkunst. In jedem Fall ist es der Tag eines 116
radikalen Experiments: die wohl größte Mitmach-Aktion der Filmgeschichte und zugleich der Versuch, die Gegenwart so in Bilder zu fassen, dass jeder Zuschauer darin auch sein eigenes Leben entdecken kann, mit freundlicher Unterstützung von Google. Vor einem Jahr hatte der britische Regisseur Kevin Macdonald über das Internet-Videoportal YouTube Menschen in aller Welt dazu aufgerufen, am 24. Juli ihren Alltag mit der Kamera zu dokumentieren. Sie sollten filmen, was sie erfreut, was sie erschreckt, was ihnen wichtig ist im Leben, und ihre Aufnahmen dann an Macdonald schicken, via YouTube, einer Tochter des Google-Konzerns. D E R
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Die Resonanz war groß, fast überall. Macdonald erhielt mehr als 80 000 Videos aus 192 Ländern, 4500 Stunden Material insgesamt, darunter Aufnahmen vom tödlichen Gedränge bei der Love Parade in Duisburg und ein Propagandafilm islamistischer Extremisten aus Pakistan. Besonders viele Teilnehmer kamen aus den USA, einige der laut Macdonald besten Beiträge stammten aus der Ukraine, „keine Ahnung, woran das liegt“, sagt der Regisseur. In Ländern wie Papua-Neuguinea oder Angola verteilten die Macher über lokale Hilfsorganisationen Kameras an die Einheimischen, erklärten ihnen die Handhabung der Geräte und sammelten nach dem Dreh die Speicherkarten ein. Nur ein paar der üblichen Spielverderber machten nicht mit, Nordkorea zum Beispiel; in Staaten wie Iran gelang es Hobbyfilmern, die rigide Internetzensur zu umgehen. Gemeinsam mit seinem Cutter Joe Walker stellte Macdonald aus dem Wust von Amateuraufnahmen einen Film von 90 Minuten zusammen, Titel: „Life in a Day“, die Chronik eines Tages, mal be-
GRAHAM JEPSON / TSPL / CAMERA PRESS
YouTube ist voll von solchen Aufnahrührend, mal banal, oft heiter, mitunter Die Weltpremiere des Films beim Festival traurig, aber immer radikal subjektiv. In in Sundance Anfang des Jahres wurde men, aktueller Hit derzeit: „Cat mom dieser Woche startet das Werk in den bereits live auf YouTube übertragen. Im hugs baby kitten“, Katzenmami knuddelt Herbst, nach der Vermarktung in den ihr Baby, 18,4 Millionen Klicks innerdeutschen Kinos. Macdonald, 43, bewegt sich seit Jahren Kinos in Deutschland oder den USA, soll halb von sechs Tagen. Aus solchem Bilim Grenzbereich zwischen Fakten und der Film erneut komplett im Netz zu se- dermüll einen Film zu destillieren, der Fiktion. Für „Ein Tag im September“, hen sein, zu festen Zeiten, wie bei einem über 90 Minuten trägt, ist eine Meisterleistung, vor allem in der Kunst des Wegeine Dokumentation über das Attentat Fernsehsender. Als Inspiration für „Life in a Day“, sagt lassens. auf israelische Sportler bei den OlympiDie Aufnahmen von den Folgen eines schen Spielen in München 1972, gewann Macdonald, habe ihm die „Mass Obserer im Jahr 2000 einen Oscar. Macdonalds vation“ gedient, ein Projekt im England Bombenanschlags in Pakistan mussten Spielfilme – „Der letzte König von Schott- der dreißiger Jahre. Soziologen, Anthro- draußen bleiben („ein Extremisten-Video, land“ mit Forest Whitaker als Ugandas pologen und Künstler um den Avantgar- vermutlich nicht mal vom 24. Juli“, sagt Diktator Idi Amin oder „State of Play“ disten Humphrey Jennings überredeten Macdonald), ebenso eine Sequenz mit mit Russell Crowe als Zeitungsreporter – damals Hunderte Briten, ihre Lebensge- HipHop-Tänzern („offenbar Werbung suggerieren Authentizität; seine Dokus, wohnheiten zu protokollieren und Zeug- einer Plattenfirma“). Auch pornografietwa das Bergsteigerdrama „Sturz ins nisse ihres Alltags zu sammeln, vom Ein- sche Szenen gibt es nicht in „Life in a Leere“, sind spannend wie Thriller. kaufszettel bis zum Flugblatt. Die Doku- Day“, „schon deshalb nicht, weil wir keiBesucher empfängt Macdonald im Kon- mente wurden mit wissenschaftlicher ne bekommen haben“, so Macdonald. Was der Regisseur stattdessen zeigt: ferenzraum der Produktionsfirma CowMenschen in aller Welt beim Aufwachen, boy Films im Londoner Stadtteil Soho. beim Frühstücken, betende Muslime, ZieAn den Wänden hängen Porträts von Elgenhirten auf einer Weide, Massai-Hirten vis, Muhammad Ali und Winston Churam Feuer. Die panischen Gesichter der chill, durchs Treppenhaus hallt Reggae, Besucher der Love Parade in Duisburg. ein paar Takte aus Bob Marleys „No WoEr zeigt eine Geburt im Kreißsaal, bis die man, No Cry“, immer wieder dieselben, Kamera samt Kameramann, offenbar der wie von einer kaputten Schallplatte. werdende Vater, plötzlich umkippt. Und „Ein Alptraum“, sagt Macdonald. Nein, er zeigt einen Mann, der im Bett Zeitung nicht die Musik selbst, sondern die ungeliest. Erst als der Mann das Blatt sinken klärten Urheberrechte. Bob Marley ist lässt, erkennt man, dass er eine Atemdas Thema von Macdonalds nächster Domaske trägt und umgeben ist vom Makumentation, einem Projekt, an dem zuschinenpark einer Intensivstation. Eine vor bereits zwei noch berühmtere RegieKrankenschwester nimmt ihm kurz die Kollegen, Martin Scorsese und Jonathan Maske ab, und der Mann beginnt von seiDemme, gescheitert waren. Macdonald ner Herzoperation zu erzählen. muss das Ganze jetzt zu Ende bringen. In den USA filmte ein Mann, wie seine In ein paar Tagen, sagt der Regisseur, wolFrau dem gemeinsamen Sohn von ihrer le der Produzent einen Rohschnitt sehen. Krebserkrankung berichtet. „Hör auf zu Macdonald lacht, als könne er selbst nicht filmen“, schreit der Junge Richtung Kaglauben, wie das zu schaffen sein soll. Regisseur Macdonald mera. „Das ist ein Familienprojekt“, verDer Regisseur drückt seinen linken Fuß Kunst des Weglassens sucht ihn die Mutter zu beruhigen. „Es gegen die Tischkante und kippelt mit seinem Stuhl wie ein Grundschüler. Akribie ausgewertet. Das Projekt „May ist ein fröhlicher Film“, sagt der Vater aus Verglichen mit dem Marley-Film er- 12th“ etwa erforschte die Stimmung im dem Off, „er hat ein glückliches Ende.“ Es ist eine verstörende Szene, die einscheint ihm die Produktion von „Life in Jahr 1937 rund um die Krönung von a Day“ im Nachhinein sehr einfach, „und George VI. Auch Filme entstanden im zige, bei der Macdonald die Einsender dabei bin ich wirklich notorisch schlecht Geist der Massenbeobachtung. Heute ver- kontaktierte und fragte, ob er das Mateim Organisieren“, sagt Macdonald, Vater stauben die Unterlagen, archiviert in rial wirklich in seinem Film verwenden von drei Söhnen. dürfe. Er durfte; die Familie wurde zur Pappkisten, in der Universität Sussex. „Jennings war auf der Suche nach dem Weltpremiere von „Life in a Day“ nach Der Auftrag zu „Life in a Day“ kam, vermittelt vom „Blade Runner“-Regisseur Verrückten, das hinter dem Banalen lau- Sundance eingeladen, gemeinsam mit Ridley Scott, der als Produzent dabei ist, ert“, sagt Macdonald, eine Methode, die 20 anderen Teilnehmern, darunter ein von YouTube – jenem Teil des Google-Kon- auch in seinem Film erkennbar wird. Der Schuhputzer aus Peru, ein Radfahrer aus zerns, der bislang keinen Profit macht. Kul- Regisseur ordnete das Filmmaterial nach Südkorea und ein Mann aus Japan, der turell ist YouTube, seit 2005 im Netz, eine verwandten Themen, er suchte in der mit seinem kleinen Sohn in einer vollder bedeutendsten Erfindungen der ver- Anarchie der eingesandten Netz-Filme gemüllten Wohnung um die verstorbene Ehefrau und Mutter trauert. gangenen Jahre. Eine Bibliothek der be- nach Strukturen, inhaltlich und formal. Vor einem Jahr, bei der Vorstellung des Unzählige Amateurfilme bei YouTube, wegten Bilder, in der professionelle Musikvideos gleichberechtigt neben Handy-Auf- aber auch große Teile des Urmaterials zu Projekts, hatte Macdonald angekündigt, nahmen von den Aufständen in Nordafrika „Life in a Day“ erinnern an die Anfänge am 24. Juli 2010 auch selbst eine Sequenz stehen, Hobbyfilmchen von Katzenfreun- des Kinos. Ende des 19. Jahrhunderts für sein Projekt zu filmen. Der Zufall den neben Vorlesungen von Nobelpreis- filmten die Gebrüder Lumière, wie ein wollte es, dass er an diesem Tag ins Kranträgern. Wirtschaftlich erinnert YouTube Vater ein Kleinkind füttert, wie Bau- kenhaus musste, ein Besuch bei seiner dagegen eher an ein Start-up-Unterneh- arbeiter eine Mauer einreißen, wie ein Schwiegermutter, die kurz zuvor einen Zug an einem Bahnsteig hält. Kamera- Schlaganfall erlitten hatte. men: große Visionen, keine Gewinne. Im Film ist diese Szene nicht zu sehen. Langfristig will YouTube deshalb ver- positionen und Bildausschnitte ergaben mehrt selbst Inhalte anbieten; „Life in a sich eher zufällig; es waren bewegte Bil- „Wir waren nicht tapfer genug“, sagt KeDay“ ist eine Art Testlauf, begleitet von der, keine Filme, die eine gestalterische vin Macdonald. Er hat sie gar nicht erst gedreht. einer aufwendigen Marketingkampagne. Absicht erkennen ließen. MARTIN WOLF D E R
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Jeder ein lieber Gott Mehr als die Hälfte der Deutschen bestellt einen Garten. Sie buddeln, zupfen, rupfen – und geben Milliarden dafür aus. Warum eigentlich? Von Katja Thimm
Gartenbesitzerin Kohlrusch im Wendland: „Ich bin bloß verrückt, und ich bin ja nicht die Einzige“
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va Kohlrusch hat auch in diesem Frühling wieder achthundert tiefblaue Stiefmütterchen in die alte Schweinewiese gepflanzt. Jahrelang war sie Städterin, meistens im Getümmel, Konferenzen, Machtkämpfe, Artikel, ein Journalistenalltag eben. Nun ist ihr Haar ergraut, und sie verlässt Hamburg, sooft es geht. In einem Dorf im Wendland hat sie die Wiese entdeckt, groß wie sieben Fußballfelder; dort blühen die blauen Stiefmütterchen zwischen Felsenbirne, Buchsbaum, tausend Rosenbüschen und eintausendvierhundert Meter grüner Hecke. Ganz hinten, am Horizont, hat sie ein Freiluftschachspiel angelegt, vorn, nahe der Terrasse, steinerne Putten aufgestellt. Sie hat die Knaben und Mädchen zuvor mit Joghurt eingerieben. Schimmelbefall bedeutet Patina, und verwunschen soll 118
es aussehen im Garten der einst stellvertretenden Chefredakteurin, mystisch, weltentrückt. „Ich sage immer, ich bin bloß verrückt“, sagt sie. „Und ich bin ja nicht die Einzige.“ Die Schriftstellerin Ulla Hahn liebt Unkrautjäten. Der Fernsehmoderator Dieter Moor biobauert im Brandenburgischen. Die eigenen Freunde ziehen seit kurzem Waldmeisterstecklinge, und der literaturbegeisterte Kollege geht wochenends auf den Pflanzenflohmarkt. Zu beinahe 60 Prozent der deutschen Haushalte gehört ein Garten. Millionen Männer und Frauen beackern Laubenpieper-Parzellen, selbsternannte „Guerillagärtner“ umzäunen Bürgersteigbäume und pflanzen dort Vergissmeinnicht. Es arbeiten mehr Menschen lieber in einem Beet, als in einem Theater oder Konzertsaal zu sitzen. Und dass die erfolgreichste neu gegründete D E R
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MAURICE WEISS / DER SPIEGEL
Zeitschrift der vergangenen Jahre „Landlust“ heißt und eine Auflage von 800 000 Exemplaren erreicht, auch das ist kein Zufall. Eva Kohlrusch hat selbst zwei Gartenbücher verfasst, und noch immer beschreibt sie für die Illustrierte „Bunte“ Wirrnis und Irrnis von Prominenten. Es ist ein ungewöhnliches Geschäft für eine 68-Jährige. Doch die alte Schweinewiese ist anspruchsvoll: Tausend Euro Unterhalt braucht sie im Monat, mindestens, und dann ist noch keine Pflanze bezahlt. Nicht überall geht es derart gewaltig zu, derart perfekt, doch in der Regel ebenso bedingungslos. Die Branche „Gartenmöbel, Geräte und lebendes Grün“ wird, eine Schätzung, in diesem Jahr fast 16 Milliarden Euro umsetzen. Gärtnern in Deutschland gleicht einem Exzess, einem Rausch. Aber warum nur?
sie, und auch die Sonnenbrille schimmert violett und zyklampink der Lippenstift. „Bald ist es so weit. Dann wird es voll.“ Spätestens im Frühsommer, wenn an bestimmten Tagen Hunderte deutsche Privatgärtner ihr Tor für neugierige Besucher öffnen, fahren auch bei Eva Kohlrusch die Gäste vor. Meist sind es Frauen, und manchmal rollen sie in Reisebussen an. 60 wetterfeste Stühle und 120 Kaffeebecher hat Eva Kohlrusch für diese Frem-
ACHENBACH & PACINI / VISUM
Eine Frau aus der Gegend hilft ihr bei alledem und ein Gärtner, er schneidet auch die Hecke, sie darf nicht höher wachsen, als er selbst groß ist. „Wenn er alle paar Meter eine Leiter verschieben muss, schafft er es nie“, sagt Eva Kohlrusch. Er braucht auch so jedes Mal zwei Wochen. „Bald ist es so weit“, sagt sie. „Bald wird es lila, pink und rosa lodern.“ Nie würde sie überbordendes Gelb akzeptieren, „zu aggressiv, zu vernünftig“, sagt
MICHAEL HADDENHORST/OSTKREUZ
Wer nach einer Antwort sucht, bei abgeblühten Tulpen, Erntetaumel, erstem Grün und Schnecken im Salat, landet bald bei allem, was ihn selbst ausmacht: Hoffen und Bangen, Glück und Niederlage, Demut und Größenwahn, Werden und Vergänglichkeit. Gärtnern sei der Mega-Ausdruck des Spitzentrends Individualisierung, sagen Marktforscher. Wer also buddelt, zupft und rupft, beschäftigt sich aufs Schönste mit dem eigenen Leben. „Seitdem die Kamelien aufgeblüht sind, denke ich viel an das Ernsthafteste, was es geben kann, nämlich Blumen“, schrieb der Schriftsteller Rudolf Borchardt einmal. „Denn was kann ernsthafter sein als diese größte Metapher, die das Menschengeschlecht besitzt“, mit ihrem „Begriff der Wurzel und der Blüte, des Samens und der Frucht, des Welkens und Sprießens“. Ein Garten sei Ausdruck „des Wesens der Menschen“, so sagt es der amerikanische Literaturwissenschaftler Robert Harrison. Er lehre Freundschaft, Hingabe, Pflichtgefühl, Leidensfähigkeit, Geduld – im Grunde alles, was einer braucht, um sein Leben zwischen all den anderen zu meistern. Ein Sparringspartner im Training für den Alltag also. Denn auch in der Rabatte finden sich die Diven und die Unscheinbaren, Sonnenbraut und Fette Henne, Venusschuh und Fleißiges Lieschen. Es kämpfen die Maßlosen gegen die Zaghaften, es konkurrieren Lückenfüller mit Saisonschönheiten, überall Gewächse, die andere zu überwuchern drohen. So lockt das vermeintliche Paradies, ähnlich dem biblischen Eden, auch die Allmachtsphantasie des Menschen. Hier kann er sich an dem versuchen, was im wahren Leben nur wenigen erlaubt ist. Ein Gärtner spielt Schöpfer, Herrscher, weist andere in ihre Grenzen – so lange jedenfalls, bis die Natur ihn selbst zurechtstutzt. Auf Unkraut, Wucher, Ungeziefer folgt unausweichlich Wut, dann Demut. Eine Urerfahrung nach der anderen. „Ein Garten“, sagt Eva Kohlrusch und erhebt sich vom Terrassenstuhl, „gibt einem das Gefühl, das eigene Dasein als etwas Bewunderungswürdiges zu begreifen. Aber wir sollten nun endlich einen Rundgang machen.“ Weit über eine Stunde dauert die Führung, auf grauen Pumps und in schwerem Kleid lotst sie den Gast durch 19 buchsbaumumwachsene Karrees: der weiße Garten wie in Sissinghurst, dem berühmten Landsitz der Schriftstellerin Vita Sackville-West. Der Gemüsegarten mit Rhabarberblättern, groß wie Elefantenohren. Der geheime Garten, eine einsame gewaltige Eisentür aus China steht darin. Ein Schattengarten, ein blauer Garten, Sichtachsen und Symmetrien, Kapitelle aus der Prignitz. Und überall sirrende Wassersprenger.
Kleingarten in Dortmund, Anwesen in Berlin: Ein Zaun gegen die kalte, schreckliche Welt D E R
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FRANK ROTHE / VISUM
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Laubenpieper in Berlin: Er ist auch ein Narkotikum, der Garten unserer Zeit
den angeschafft, die drei Euro für den Eintritt in einen Metallkasten werfen und dann selig verzweifelt seufzen, weil all das so unerreichbar scheint. „Ich habe mir immer einen geräumigen Garten gewünscht, durch den man unterm Himmel hindurchschreiten kann“, sagt Eva Kohlrusch und huscht unterm Tropfenstrahl des Wassersprengers hinweg. „Ich wollte diese Umarmung, diese magische Verwobenheit mit der Natur.“ Sehr blumig mag das alles klingen, doch selbst der ungebremste Gärtner hat in seinem Überschwang die Wissenschaft auf seiner Seite. Die Biophilie, die Liebe zum Lebendigen, sei im Menschen tief verankert, sagen Evolutionsforscher. Auch der moderne Hightech-Bürobürger strebe unbewusst nach dem uralten Zustand seiner Vorfahren – dem Leben mit Gras und Grün und allen fünf Sinnen. Daran habe der Gang der Entwicklung den Menschen gewöhnt. Denn in der heutigen Welt mit ihren künstlichen Räumen lebt er, gemessen an seiner Stammesgeschichte, gerade mal seit einem Tag. Studien belegen, dass Gartenfreunde seltener unter Stress leiden. Der Blutdruck sinkt, das Herz schlägt ruhig, die Muskeln lockern sich. Allein der Blick auf eine Pflanze signalisiert dem Gehirn bereits Entspannung. Ein Garten, so drücken es Mediziner und Psychologen aus, evoziere die heilsame Erfahrung von Ruhe und Ordnung – und die Gewissheit, dass alles Leben nach langen Monaten der Dunkelheit noch immer irgendwie weitergegangen ist. 120
Allein 324 Rosenstöcke sind im vergangenen Jahr auf der alten Schweinewiese eingegangen. „Aber die Niederlagen im Garten sind absichtslos“, sagt Eva Kohlrusch. „Da ist niemand, der einem Böses will.“ Als Kind saß sie auf einem Schemel in einer Nische zwischen Wand und Schrank, stundenlang und traumverloren, mit angezogenen Beinen und ihrer Puppe auf den Knien. „Später ist dieses sichere Gefühl, wie in einer Kugel zu leben, am ehesten im Garten möglich. Man zieht einen Zaun gegen die etwas kalte und schreckliche Welt und schafft einen Zufluchtsort für sich selbst.“ Lange eigneten sich im westlichen Kulturkreis allenfalls die Anlagen antiker Tempel oder christlicher Klöster als Gärten der Versenkung. Die meisten Menschen kultivierten das Land rund um ihre Behausungen, um sich ernähren zu können. Oder sie benutzten Blüten, Büsche und Bäume im Namen von Moral, Macht und Weltanschauung. So dienten die Labyrinthe in den Schlossgärten des Rokoko zwar immer auch den Lusttollen, gedacht aber waren sie als Sinnbild für die schwierige Suche des Menschen nach dem rechten Weg. Die streng geometrischen Beete des Absolutismus spiegelten, wie in Versailles, die unbedingte Autorität des Herrschers. Die Aufklärung befreite auch die Natur aus derlei Zwängen und schenkte Landschaftsgärten englischen Stils, der Zweite Weltkrieg machte aus Gärten wieder Orte für Rübe und Kartoffel, und die fünfziger Jahre brachten Deutschland den Goldregen und D E R
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die anständige Grünanlage. Und wer sich darin aufhielt, der arbeitete. Oder er beaufsichtigte die spielenden Kinder. Da draußen zu entspannen, zu genießen gar, hieß lange Gammelei. Allenfalls Hippies lagen zwischen Klatschmohn auf der Wiese. „Die Bank“, ruft Eva Kohlrusch der Angestellten zu, freundlich, doch alarmiert, ein Ton, der keine Widerrede duldet. „Magst du bitte mit anfassen? Die steht an der falschen Stelle.“ Irritationen im Idyll, die kann sie schlecht ertragen. Der Zustand der Gärten spiegle immer auch die Befindlichkeit der Gesellschaft, sagen Kulturwissenschaftler. Und so klingt das meiste, was Landschaftsarchitekten über ihre Kunden erzählen, als lebten die Deutschen in einem Gefühl permanenter Bedrohung und Überforderung. Gärten werden heute angelegt, als seien sie der einzig sichere Ort des eigenen Lebens – als Gegenentwurf zu Hektik und Mobilität und Angst und Terrorgefahr und Handystrahlung und pestizidversetzter Landwirtschaft. Noch vor zwanzig Jahren war das anders, da gab es den Rasen, darin auch manchmal einen Baum, und drum herum Gehölz. Forsythie, Birke, Konifere. Mittlerweile sollen sich Nischen, Teich und Wasserlauf vereinen, mehrere Sitzplätze an lauschigen Stellen und in den Beeten eine Symphonie, wie sie früher allenfalls britischen Landgütern eigen war. Dill zwischen Rosen zwischen Gräsern und Himbeersträuchern zwischen Orchideen und Spalierobst. Naturreine Romantik. Heutige Gärten konterkarieren, wie Soziologen es ausdrücken, die technischökonomische Zivilisation. Sie verkörpern das Ideal jener sauberen, nachhaltigen Erde, die sich draußen vor dem Zaun vielleicht nie mehr wird erleben lassen. Und sie entlasten den Menschen – so wie es ihn entlasten kann, auf Fleisch zu verzichten oder die Grünen zu wählen. Einem, der gießt und säet und hegt, sollen andere erst einmal nachsagen, er missachte die Zukunft des Planeten. Selbst wenn er gerade nur die gemeine Blattwanze bekämpft und die Leere genießt, die sich dabei im Kopf einstellt. Er ist auch ein Narkotikum, der Garten unserer Zeit. Es war schon einmal so. Biedermeier hieß die Epoche. Damals erfand das deutsche Bürgertum den heimelig dekorierten Wohnraum unter freiem Himmel und zog sich zurück. Die Zustände im Land aber blieben, wie sie waren. Auf der Schweinewiese neigt sich der Rundgang dem Ende. Im letzten Karree hat Eva Kohlrusch zwei Buchsbäume in die Erde gesetzt, sie stehen da in Gestalt einer Ente und eines Eichhörnchens. Man müsse das alles schon auch ein bisschen spielerisch sehen, sagt sie noch und entlässt den Gast, zurück auf die Straße, zurück in die Welt.
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Doktor Freud in Partylaune Kinokritik: Mike Mills’ Lebens- und Liebeskomödie „Beginners“
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eigensinnigen Heranwachsenden schilderte, trug ihm das den Ruf ein, er habe das Zeug zu einem neuen Woody Allen. So lernen sich in „Beginners“ die beiden Liebenden auf einer Halloween-Party kennen: Er ist als Sigmund Freud kostümiert, sie als Charlie Chaplin. Irgendwann legt sich die junge Frau (gespielt von Mélanie Laurent, die auch schon eine Rolle in Tarantinos „Inglourious Basterds“ hatte) vor dem verkleideten Oliver auf die Couch. Sie ist anscheinend stumm und kritzelt ihm Sätze auf einen Zettel, doch es klärt sich bald, dass sie nur wegen einer Kehlkopfentzündung schweigen muss. Mills’ Bilder, Worte und sein Ton haben eine Leichtigkeit, die „Beginners“ meilenweit erhebt über die üblichen Romantic Comedies aus Hollywood. Sein essayistisches Kino will zugleich autobiografisches Traktat und das Stimmungsporträt einer ganzen Generation sein, es ist Klamauk und Melodram und manchmal so klug, dass der Film sogar schon die Einwände zu kennen scheint, die man gegen ihn erheben könnte. Eine liebesentscheidende Rolle spielt ein Jack-Russell-Terrier. Der Hund heißt Arthur. Irgendwann heißt es in „Beginners“, es sei reine Willkür, dass die Menschheit sich eines Tages entschlossen habe, ausgerechnet diese Hundesorte hübsch und niedlich zu finden – und natürlich kommt dieses Statement genau dann, wenn auch der Zuschauer sich gerade fragt, ob dieser Film nicht manchmal doch ein bisschen zu hübsch und zu niedlich sei angesichts der Verzweiflung, die er auch verhandelt. Der Regisseur Mike Mills sagt, ihm komme es ohnehin nur auf ein Urteil an: „Ich bin sicher: Meinem Vater hätte der Film gefallen.“ WOLFGANG HÖBEL FOTOS: UIP
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apa hatte ein Geheimnis: Als im ander verschränkt, wie er sie auflädt mit Jahr 1999 die Mutter des Regisseurs Einfällen, Narreteien und GefühlsausbrüMike Mills starb, der damals vor chen, das verleiht seiner Komödie einen allem Werbefilme und Musikvideos dreh- geradezu sensationellen Charme. Mills ist 45 Jahre alt und seit mehr als te, eröffnete ihm sein 75-jähriger Vater bald nach dem Begräbnis, dass er zeit einem Jahrzehnt berüchtigt als Tausendseines Lebens homosexuell gewesen sei. sassa der amerikanischen Kunst-, PopNach so langer Heimlichtuerei wolle er und Filmwelt. Er hat in New York bei dem jetzt offen als Schwuler leben. Das tat Konzeptkünstler Hans Haacke studiert er, erkrankte aber bald an Lungenkrebs. und gehörte zur Skaterszene der Lower Er starb 2004. Der Vater habe sich im- East Side. Er hat als Grafikdesigner Tmer einen Film über sein Leben gewünscht, sagt Mills, „also beschloss ich, ihm einen zu widmen“. Es hätte ein finsteres Werk werden können. In den ersten Bildern von „Beginners“ räumt ein junger Mann (Ewan McGregor) ein teures, helles Haus irgendwo in den grünen Hügeln von Los Angeles leer, er schüttet die Arzneimittel in die Toilette und trägt die letzten Müllsäcke vor die Tür. Dazu hört man die OffStimme des Helden, der anscheinend gefangen ist in zentnerschwerer Trauer – und der Zuschauer gleich mit ihm. Doch dann taucht plötzlich die Gestalt des toten Vaters auf. Er trägt ein verschwitztes Flatterhemd, hat beste Laune und zischt die Rhythmusgeräusche eines Tanz„Beginners“-Darsteller Laurent, McGregor, Regisseur Mills songs, weil er wissen will, zu welcher Musik er gerade auf der Tanzfläche des tollsten Schwulenclubs der Shirts mit schlauen Sprüchen bedruckt Stadt herumgesprungen ist. „House-Mu- und Plattencover gestaltet, darunter auch das aktuelle der Beastie Boys. Er hat Musik? Okay, House. House-Musik!“ Der Film „Beginners“ erzählt zwei Ge- sikvideos gedreht, die alles Mögliche, aber schichten, eine in Rückblenden und eine nicht eine Band beim Musizieren zeigten. nach vorn. Die eine handelt von der spä- Er hat einen sehr erfolgreichen Werbespot ten Nähe zwischen dem von McGregor gedreht, in dem sich zwei Tennissocken gespielten jungen Helden Oliver und sei- miteinander unterhalten. Er gilt als dicker nem endlich befreit auflebenden Vater Freund der Regisseurin Sofia Coppola und (Christopher Plummer), die andere von ist verheiratet mit der Künstlerin, Schriftder aufkeimenden Liebe zwischen Oliver stellerin und Filmemacherin Miranda July. Als Mills 2005 in seinem ersten Kinound der Schauspielerin Anna. Doch wie Mills diese beiden Geschichten inein- film „Thumbsucker“ die Story eines sehr
Prisma
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Gewissenlos Ein schwarzer Tag für die Ärzteschaft. Von Michael de Ridder De Ridder, 63, ist Chefarzt der Rettungsstelle des Vivantes Klinikums Am Urban in Berlin und Autor des Buches „Wie wollen wir sterben? Ein ärztliches Plädoyer für eine neue Sterbekultur in Zeiten der Hochleistungsmedizin“. RETO KLAR
stand schwerster unumkehrbarer Versehrtheit um ärztliche Beihilfe zum Suizid nachsuchte. Herr Hoppe antwortete mir: „Wenn Sie dieser Patientin helfen, haben Sie nichts zu befürchten.“ Diese Äußerung Hoppes gab den Anstoß zu einer innerärztlichen Diskussion, die der neue gewählte Präsident der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, nunmehr beendet sehen möchte. Ich hoffe, dass das Gegenteil der Fall ist. Denn in der vorigen Woche beein schwer erkrankter Freund, der betagte Philosoph Claus schlossen die Delegierten des 114. ÄrzteKoch, schied im November letzten tages in Kiel mit 166 gegen 56 StimJahres aus dem Leben. Frei verant- men bei 7 Enthaltungen den bisher in wortlich hat er die Aufnahme von der ärztlichen Berufsordnung geltenNahrung und Flüssigkeit beendet. Auf den Satz „Ärztinnen und Ärzte dürfen seine vielen Fragen, wie er dies be- das Leben der oder des Sterbenden werkstelligen könne, habe ich ihm als nicht aktiv verkürzen“ durch die neue Arzt Rede und Antwort gestanden Formulierung „Ärztinnen und Ärzte und darüber hinaus versprochen, da- dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung für zu sorgen, sein Vorhaben so zu be- leisten“ zu ersetzen. Die alte Formugleiten, dass sein Sterben kein qual- lierung ließ zumindest Spielräume ofvolles sein würde. Sein Wille war un- fen, die auch Hoppe, und mit ihm anerschütterlich, die Hoheit über sein dere, nutzte, als er im Februar dieses Sterben wollte er nicht aus der Hand Jahres sagte: „Beihilfe zum Suizid gehört nicht zu den ärztligeben. Er hat es auch chen Aufgaben. Sie soll nicht getan. aber möglich sein, wenn Kein Zweifel, mein „Habe ich gegen der Arzt das mit seinem Freund hat sich – auf eidie neu gefasste Gewissen vereinbaren ne ungewöhnliche Weise kann. Damit gehen wir zwar – das Leben genomBerufsordnung nicht über das Strafrecht men, planvoll und im verstoßen, die hinaus.“ Letzteres verbieWissen darum, die ihm die Beihilfe zum tet weder den Suizid zugleich auferlegte und geschenkte Freiheit bis in Suizid verbietet?“ noch die Beihilfe zu ihm. Hoppe berührte hierseine letzten Lebenstage mit eine zentrale Frage hinein zu gestalten. Die Gründe waren plausibel: Sein Lebens- des bisher geltenden ärztlichen Selbstentwurf war, in aussichtsloser Krank- verständnisses: die Gültigkeit des individuellen ärztlichen Gewissens nämheit, an ein Ende gekommen. Ich habe ihn in seinem Entschluss lich als oberste und letzte Instanz aller nach bestem Wissen und Gewissen be- ärztlichen Behandlungsentscheidunraten und aktiv begleitet. Habe ich da- gen. Dieses ist seit letztem Mittwoch mit gegen die neu gefasste ärztliche liquidiert, Gewissen wird nunmehr Berufsordnung verstoßen, die nun- durch die Bundesärztekammer verordmehr die Beihilfe des Arztes zum Sui- net – basta! Dieser Mittwoch wird als zid eines Patienten explizit verbietet? schwarzer Tag in die Geschichte der Anlässlich eines öffentlich mit mir Ärzteschaft eingehen, die sich diese am 22. April letzten Jahres geführten Niederlage selbst beigebracht hat. Mit Radiogesprächs berichtete ich dem in ihr hat sie unter Beweis gestellt, dass der vergangenen Woche aus seinem sie komplexen ethischen HerausfordeAmt verabschiedeten Präsidenten der rungen, die zunehmen, nicht gewachBundesärztekammer, Jörg-Dietrich sen ist. Doch die Diskussion ist jetzt Hoppe, von einer Patientin, die im Zu- erst recht erforderlich.
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Puls der bösen Absicht
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m Kampf gegen Terroristen testen die USA eine neue Überwachungstechnik, die wie eine Art Lügendetektor auf Entfernung funktionieren soll. Über spezielle Sensoren erfasst das Gerät Atemgeschwindigkeit, Herzschlag und Mimik von Menschen, die eine Kontrollstelle passieren. Eine Psycho-Software errechnet daraus, ob ein Mensch eine böse Absicht hegt. Ein Feldversuch, so hat das Heimatschutzministerium bestätigt, läuft derzeit an einem geheimen Ort im amerikanischen Nordosten. Als Teil der Tests erhalten Personen die Anweisung, eine „Störhandlung“ vorzutäuschen. Im Labor liegt die Trefferquote des Systems angeblich bei etwa 70 Prozent. Der Böse-AbsichtDetektor könnte künftig auf Flughäfen zum EinTerrorpilot Atta beim satz kommen. Einchecken 2001
Wissenschaft · Technik
Mozart statt Mama
MEDIZIN
SUCHT
Ruhe im OP!
Impfung gegen Drogen
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ünftig sollen Impfungen Jugendliche vor Suchtstoffen schützen. Allerdings ist die Entwicklung entsprechender Medikamente schwierig, da das Immunsystem normalerweise nur auf größere Moleküle wie Proteine reagiert. Die meisten Suchtstoffe aber sind viel kleiner und können sich an der Körperabwehr vorbeischleichen. Mit einem Trick konnten jetzt Forscher um Kim Janda vom Scripps Research Institute in Kalifornien das Immunsystem von Mäusen doch auf das Aufputschmittel Methamphetamin aufmerksam machen. Am Computer entwickelten sie Stoffe, die die räumlichen Anordnungen der gefährlichen Modedroge nachbilden, vom Abwehrsystem aber besser erkannt werden. Als den Mäusen die Substanzen gespritzt wurden, lernte deren Immunsystem damit auch, auf Methamphetamin zu reagieren. Die Idee besteht darin, dass die Suchtstoffe vom Immunsystem abgebaut werden und deswegen nicht mehr ins Gehirn gelangen – der Rausch bliebe aus. Ähnliche Impfversuche laufen mit Kokain und Nikotin. Methamphetamin-Pfeife
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ROBIN NELSON / ZUMA PRESS
er Patient bekommt von einer Operation unter Vollnarkose zwar nichts mit, trotzdem hat er womöglich unter den Folgen zu lauter Eingriffe zu leiden. Denn je höher der Geräuschpegel im OP, desto wahrscheinlicher ist es, dass sich die OperaChirurgen bei Operation tionswunde entzündet und der Kranke länger in der Klinik bleiben muss. Das berichten Schweizer Ärzte um den Chirurgen Guido Beldi von der Uni-Klinik Bern im „British Journal of Surgery.“ Bei 35 großen Bauchoperationen zeichnete das Team die Geräuschkulisse auf und verglich die Messergebnisse mit dem Verlauf der Genesung. Bei jenen Patienten, die eine postoperative Infektion erlitten, erreichte der Geräuschpegel im Schnitt 43,5 Dezibel; bei den Patienten ohne Komplikationen lag der Wert nur bei 25 Dezibel. Die Forscher glauben allerdings nicht, dass der OP-Lärm ursächlich ist für eine schlechtere Genesung: „Ein erhöhter Lärmpegel im OP könnte auf Schwierigkeiten während des Eingriffs hindeuten“, vermutet Beldi, „aber auch auf nachlassende Konzentration und Disziplin der Beteiligten.“
DOMINIK BUTZMANN / LAIF
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PETR JOSEK / REUTERS
In einem slowakischen Krankenhaus soll klassische Musik Neugeborene beruhigen, die aus medizinischen Gründen vorübergehend von ihrer Mutter getrennt werden.
Titel
Outbreak in Deutschland Epidemiologen, Mikrobiologen, Lebensmittelkontrolleure – ein ganzes Heer von Experten jagt das gefährliche EhecBakterium. Doch der Darmkeim ist nicht zu fassen. Das Problem: Gleich zu Beginn wurde wertvolle Zeit vergeudet.
CHRISTIAN CHARISIUS / DPA (O.); ANGELIKA WARMUTH / DPA (L.)
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s sollte ein Kurzurlaub werden, in einem schicken Hotel in Niedersachsen, mit Kaminzimmer, Sauna und nahem 18-Loch-Platz. Gemeinsam mit 30 Mitgliedern ihres Golfclubs in Alingsås bei Göteborg setzten die Eheleute Lena und Göran Broberg von Trelleborg nach Travemünde über, die Stimmung war gut, die Gruppe hatte einen Bus gechartert. Im Hotel hatten die schwedischen Gäste Vollpension gebucht, drei Mahlzeiten pro Tag. Dazwischen spielten sie Golf, sie wollten sich von der Arbeit erholen – Göran, 64, arbeitet als Logistiker für ein Technologieunternehmen, auch seine 63jährige Frau ist noch berufstätig. Die Brobergs werden die vier Tage in Deutschland wohl immer in Erinnerung behalten – als Horrortrip. Eine Woche nach ihrer Rückkehr begannen die Beschwerden. Die Eheleute hatten beide Blut im Stuhl und heftige Bauchkrämpfe. Sie ließen sich in der Göteborger Sahlgrenska Universitätsklinik untersuchen. Göran weiß noch genau, dass es der 19. Mai war: Das ist sein Geburtstag. Er durfte wieder nach Hause gehen, seine Frau jedoch hängt nun seit zwei Wochen an der Dialyse. Die Ärzte sprechen von einem schweren Krankheitsbild. Bei der Hälfte der schwedischen Golfer wurde inzwischen der Ehec-Erreger nachgewiesen. Eine Frau aus der Gruppe ist gestorben, die Gesunden treffen sich im Clubhaus und grübeln, woran es gelegen haben kann: „Wir reden und reden“, sagt Broberg. Auch die schwedischen Seuchenkontrolleure haben die Fahndung aufgenommen: Wo haben sich die Reisenden infiziert – auf der Hinfahrt? Auf der Rückfahrt? Oder war es im Hotel? „Unser Haus ist auf den Kopf gestellt worden“, sagt der deutsche Hoteldirektor. Ehec-Kulturen, Dialyse im UKE in Hamburg
Zerstörungswerk im Blut D E R
Acht Experten seien eingerückt: „Dienstpläne, Speisekarten, Kassenbelege, alles wollten sie sehen.“ Gerade erst habe er ihnen 45 Seiten Rechnungen, Lieferscheine und andere Belege geschickt. Auch von Sprossen, Kräutern und anderen Zutaten wurden Proben genommen, sogar aus bis dahin ungeöffneten Mineralwasserflaschen. Er selbst und alle seine Mitarbeiter wurden nach ihren Essgewohnheiten befragt, auch eine Stuhlprobe mussten sie abgeben. Suppe, Hauptgericht, Dessert; Spargel und Fisch, aber keine Gurke: „Immerhin ließ sich gut nachvollziehen, was die Gäste gegessen hatten. Sie hatten ein Arrangement mit einheitlichem Menü gebucht“, sagt der Direktor. Laut Robert Koch-Institut bezog das Hotel sein Gemüse vom Hamburger Großmarkt. Nach einigen Tagen teilten ihm die Experten per E-Mail das Ergebnis ihrer Untersuchungen mit: kein Befund. Für den Hotelchef ist es beruhigend, dass in seinem Haus nichts gefunden wurde. Für alle anderen eher nicht: Wieder hat sich eine heiße Spur zur Quelle des Erregers als Sackgasse erwiesen. Die Suche geht nun andernorts weiter, im ganzen Land schwärmen die Fahnder aus, im Visier einen stabförmigen Winzling, wenige Tausendstel Millimeter lang und ausgesprochen säurebeständig. Der Keim fühlt sich in exakt 37 Grad Celsius warmer Flüssigkeit am wohlsten und nistet bevorzugt an Darmwänden. Sein Name: Enterohämorrhagische Escherichia coli, kurz Ehec. Vor drei Wochen noch war dieser Organismus allenfalls den Experten ein Begriff. Nun hält er ganz Deutschland in Atem. Krankenwagen rasten von Hamburg bis nach Hannover und Berlin, um Patienten mit versagenden Nieren zu den wenigen noch verfügbaren Dialyseplätzen zu schaffen. Kliniken warfen ihre OPPläne um, um mehr Personal für die EhecFront mobilisieren zu können. In den Notaufnahmen drängelten sich die Durchfall-
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WOLFGANG RINK
sich Michael Durst von der Hamburger Fleischerinnung über gesteigerte Nachfrage nach Wurst und Koteletts freut. „Wollen Sie ein paar Gurken?“, fragt ein Händler auf dem Hamburger Großmarkt und lacht, „ich hätte da ein paar über.“ Seinen Namen will der Mann nicht nennen, das schade nur dem Geschäft, und das laufe in diesen Tagen, „gelinde gesagt, beschissen“. Er habe in den vergangenen Tagen nur knapp die Hälfte von seinem Vollsortiment verkauft. Da mischt sich die Frau vom Stand nebenan ein: Dann solle er mal ganz zufrieden sein. Sie mache derzeit „allenfalls noch ein Drittel“ ihres üblichen Umsatzes. Verzweifelte Bauern sahen sich unterdessen gezwungen, mitten in der Erntezeit ihre Gurken in den Schredder zu werfen und zartgrüne Salatköpfe unterzupflügen (siehe Seite 68). Und die Spanier forderten Wiedergutmachung ein, weil sie sich durch die voreiligen WarRinder: Der Pansen ist eine gewaltige Brutstätte gefährlicher Erreger nungen der Hamburger Behörden zu Unkranken. Und unter den Ärzten regt sich dem maritimen Terrorismus widmen recht an den Pranger gestellt sahen. Auf 200 Millionen Euro beziffern sie den die Angst vor einer Plasmaverknappung. kann. Auch auf norddeutschen Märkten, in Schaden. Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz ließ Bis Freitagabend hatten die Seuchensich deshalb schon mal publikumswirk- Hamburger Restaurants und Supermärkten ist die Seuche allgegenwärtig. Um die wächter des Robert Koch-Instituts (RKI) sam Blut abzapfen. Nirgendwo sonst in Deutschland liegen Gemüsetheken von Edeka, Real und Aldi 2000 Ehec-Infektionen gezählt. Bei jeder so viele schwerkranke Ehec-Patienten wie macht die Kundschaft einen Bogen. Die vierten von ihnen war es zum gefürchteim Universitätsklinikum Hamburg-Ep- Kantinen streichen die Salate von der ten hämolytisch-urämischen Syndrom pendorf (UKE). Im fünften Stock des Neu- Speisekarte. Jeder zweite Hamburger gibt (Hus) gekommen, in mindestens 18 Fällen baus befindet sich die Station 5B. Ein ro- an, derzeit Rohkost zu meiden, während endete die Krankheit mit dem Tod. „Ein beträchtlicher Teil der Pates „Stop“-Schild klebt an der Glastür, 751* 751* tienten wird die Nierenfunktion auf darunter steht „Isolierstation“ – „die Iso“, Dauer verlieren und lebenslänglich wie die Krankenschwestern sagen. Bestätigte Bestätigte Fälle Fälle vo vonn abhängig von der Dialyse sein“, In Zwölfstundenschichten wechseln Ehec und mahnt der Nephrologe Rolf Stahl sich die Wachmänner eines privaten SiHus vom UKE. Wie so viele Ärzte dercherheitsdienstes ab. Peinlich achten sie 2 zeit, so rät auch er: keine Rohmilch, darauf, dass jeder, der die Station betritt, 18 TTodesfälle odesfälle o 17 5517 kein rohes Fleisch, Gemüse gründsich einen der dunkelblauen oder grünen lich waschen und schälen – und Einwegkittel anzieht und EinweghandSCHLESWIGwährend er das sagt, greift er zu eischuhe überstreift. Ihr Essen (am verganHOLSTEIN 5 2 1444 14 nem Fläschchen mit blauer Desingenen Freitag war es Kartoffelsuppe) be1118 18 2 fektionsflüssigkeit auf seinem kommen die Patienten in Plastikgeschirr, HAMBUR A AM G 1533 HAMB 15 38 Schreibtisch und reibt sich die Händas anschließend vernichtet wird. 34 *inkl. * innkl. VVerdachtsfälle e dach er chtsfäll ch tsfälle sfäl de damit ein. Tim S., ein 27-jähriger Jurist mit VollME CKL KL L .. 21 VORPOMM M MM MMERN Besondere Sorge bereiten Stahl bart und Brille, liegt seit vorletztem DonBREM BREM EMEN die neurologischen Symptome seinerstag hier. Er ist wissenschaftlicher Mit3 31 ner Patienten. Erschreckend viele arbeiter an der Bucerius Law School und 309 NIEDERR seien verwirrt, sie wüssten nicht, schreibt seine Doktorarbeit über Piraterie 16 4 SACHS HS HSEN 27 wo sie sind, oder sie würden von und maritimen Terrorismus. Im EinheitsBERLIN ERLIN 7 253 epileptischen Anfällen geschüttelt: schlafanzug des Klinikums liegt er in sei4 3 86 4 BRANDEN N- „Die Neurologen sind mit einem nem Bett, auf dem Nachttisch eine PaS A CHSEN71 BURG völlig neuen Krankheitsbild konckung Gummibärchen. Rechts von seinen ANHAL HALLT NORDRHEINfrontiert“ (siehe Seite 132). Nie zuHals herab baumeln zwei Katheter: „Das 17 24 WESTFFAALEN N 41 vor hat ein Ehec-Keim ähnlich agDing heißt Shaldon-Katheter, das hab ich 2 45 3 gressiv gewütet. Eine neue Seuche hier gelernt.“ 33 SACHSEN C THÜRINGEN THÜRINGE N ist damit in der Welt. Und diesmal Fünf Tage lang bekam Tim S. täglich HESSEN 6 ist sie nicht, wie Ebola oder Aids, dem eine Blutwäsche, danach haben ihm die RHEINLANDDschungel entsprungen. Diesmal stammt Ärzte des UKE den neuen, weithin unerPFAALZ PF sie nicht, wie die Vogelgrippe, aus dem forschten Antikörper Eculizumab gegeSAARfernen China, wo Menschen auf dem ben (siehe Kasten Seite 138). Inzwischen LAND D Lande mit Hühnern und Schweinen unsind Tims Nierenwerte wieder ganz gut, 6 79 69 ter einem Dach hausen. Ground Zero der sagt er, auch die Gleichgewichtsstörungen 5 16 BADEN- 18 Seuche ist diesmal in Hamburg – Outseien verschwunden. Nun hofft er, dass WÜRTTEMBERG BAYYERN break mitten in der norddeutschen Tiefer keine bleibenden Nierenschäden daDPA, PA, Stand: 3. Juni ebene. vongetragen hat – und sich bald wieder Quelle: DP
Infizierter Infizierter Norden Norden
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Anzucht von Ehec-Erregern im Bundesinstitut für Risikobewertung: Die Mikroben halten immer neue Tricks bereit
Und die ganze Welt schaut zu: Wenn deutsche Seuchenwächter über Mikroben auf Gurken und Tomaten spekulieren, dann drängen sich Kamerateams aus Spanien, Frankreich und Großbritannien im Saal. Seit Tagen berichtet die „New York Times“ auf ihrer Titelseite vom Seuchendrama im fernen Deutschland. Und im US-Seuchenkontrollzentrum CDC in Atlanta verfolgen die Spezialisten jede neue Meldung aus deutschen Labors. Schmerzhaft rückt der unvermittelte Ausbruch ins Bewusstsein, wie viele Überraschungen die Welt der Bakterien noch bereithält. Pest, Typhus, Cholera, Schwindsucht, Scharlach, Diphtherie – über all die großen bakteriellen Geißeln hofften die Ärzte den endgültigen Sieg davongetragen zu haben. Diesmal jedoch versagen die Antibiotika, ihre wirkmächtigsten Waffen im Kampf gegen die einzelligen Gegner. Die Mikroben, das ruft der Hamburger Ehec-Alarm in Erinnerung, halten immer neue Tricks bereit. Und weder Kliniken noch Behörden waren darauf so recht vorbereitet. Die Geburt des neuen Keims, so lautet eine der wenigen Gewissheiten im ansonsten noch immer weitgehend rätselhaften Seuchengeschehen, trug sich an einem wenig appetitlichen Ort zu. Dort, wo Milliarden von Bakterien verschiedenster Arten aufeinandertreffen, ist die Entstehung neuer Erreger programmiert: im Gedärm. „Ein Darm ist ein Supermarkt für Gene“, sagt Helge Karch, Leiter des Ehec-Konsiliarlabors des RKI in Münster, der sich seit fast 30 Jahren mit Ehec-Bakterien beschäftigt. Besonders der Pansen, der größte der drei Vormägen der wiederkäuenden Rinder und zugleich die Heimat von Ehec, ist nichts anderes als eine gewaltige Brutstätte, ein riesiger Bioreaktor zur Entstehung potentiell gefährlicher Erreger.
Trübe wabert die Flüssigkeit in diesem tibiotika. Andere binden ihn stärker an rund 100 Liter fassenden Hohlmuskel. die Darmzellen oder sie lassen ihn die Mehr als eine Billiarde Bakterien mindes- Zellen stärker schädigen. Auch Teile der tens 200 verschiedener Arten sowie zahl- Erbinformation von Pestbakterien hat reiche Viren tummeln sich in den rund O104:H4 offenbar übernommen, diese zwei Eimern voll Verdauungssaft. Die Mi- kommen allerdings auch schon in andekroorganismen spalten die schwer ver- ren Darmbakterien vor. „Die Genpassadauliche Zellulose des Grases auf. Nur so gen des Pestbakteriums machen diesen kann sich die Kuh von dieser kargen Kost Ehec-Keim fit“, sagt Karch, „zum Beiernähren. Über der Verdauungsflüssigkeit spiel, weil er dadurch besser Eisen aufbildet sich dabei eine übelriechende Blase nehmen kann.“ Begonnen hatte die Jagd auf den tödliaus Biogas. Dicht aneinandergedrängt tauschen chen Erreger am Donnerstag, dem 19. die Bakterien ständig Erbmaterial mit- Mai, als die Befunde aus dem Hamburger einander aus. Und irgendwann landen UKE Ehec-Alarm im Berliner RKI auslössie dabei einen Volltreffer: Eine neue Seu- ten. Bereits am nächsten Morgen reisten vier Mitarbeiter der obersten Seuchenche ist da. Genau so muss es bei den nun grassie- kontrollbehörde in die Hansestadt, um renden Ehec-Bakterien gewesen sein: die Patienten, die noch ansprechbar waWeil die Nährstoffe des Grases für ein ren, peinlichst genau nach ihrem LebensRind kaum ausreichen, dienen auch die mittelkonsum der letzten zehn Tage zu Bakterien selbst den Tieren als Nahrung. befragen. Was dann folgte, sah zunächst nach eiMit Hilfe von Viren spalten sie die Keime auf und zerlegen sie in ihre Einzelteile. nem rasanten Fahndungserfolg aus: In Ohne diese Verdauung der eigenen Be- den Befragungen kristallisierten sich siedler würden die Kühe schlicht verhun- rasch Blattsalate, Tomaten und Gurken als Hauptverdächtige heraus. Am Dongern. Doch die Viren schleusten auch einen nerstag vorletzter Woche schließlich saß gefährlichen Gencode in die eigentlich die Hamburger Gesundheitssenatorin harmlosen, im Pansen ansässigen E.-coli- Cornelia Prüfer-Storcks auf einer PresseBakterien ein: die Information zur Bil- konferenz im Rathaus neben zwei Experten des Instituts für Hygiene und Umwelt dung des zerstörerischen Shiga-Toxins. Der jetzt grassierende Erreger gehört und hatte einen „echten Durchbruch“ zu zum Stamm O104:H4, der bislang welt- verkünden: „Man kann der Bevölkerung weit nur in Einzelfällen beschrieben ist. jetzt eindeutig sagen“, so die Senatorin, Was ihn neu macht, ist, dass er weitere, „Salatgurken sind eine Quelle.“ Und deren Ursprung, fuhr sie triumneue Genpassagen anderer Bakterien in sein Erbgut eingebaut hat, solche, die ihn phierend fort, liege „nicht in Nordbesonders aggressiv machen. „Der Keim deutschland, sondern eindeutig in Spaist hochgefährlich“, sagt Karch, der sich nien“. Auf vier Salatgurken vom Hamin dieser heißen Phase der Ehec-Fahn- burger Großmarkt hätten die Lebensmitdung derzeit meist schon nach vier Stun- telmikrobiologen Ehec-Keime dingfest den Nachtschlaf wieder ins Labor begibt. gemacht, drei dieser Gurken stammten Einige der Genschnipsel, so berichtet nachweislich aus Spanien. Es könne zwar er, machen den Keim resistent gegen An- sein, sagte Prüfer-Storcks damals, dass D E R
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Titel sich der Erreger auch noch auf weiteren Proben finde. Für eine Entwarnung bei Salat und Tomaten sei es also noch zu früh. Doch immerhin könne man nun gezielt die Spur der verseuchten Gurken zurückverfolgen. Die Erleichterung währte fünf Tage. Dann mussten die Hamburger kleinlaut zugeben, dass die Ehec-Keime auf den spanischen Gurken gar nicht die Quelle der Seuche sein konnten – genauere Analysen hatten ergeben, dass sie nicht zum gefährlichen Serotyp O104:H4 gehörten. Damit stand alles wieder auf null. An die tausend Experten suchen inzwischen landesweit nach einer neuen, heißen Spur, während Ärzte und Pflegepersonal in den Kliniken Freizeit und Schlaf opfern und
Lauernde Gef Gefahr ahr
Ein letztes Mal noch hatte die Cholera RKI-Experte Gérard Krause sogleich ein. Nicht einmal, ob sich das „Vehikel“, also in der aufstrebenden deutschen Industriejenes Lebensmittel, mit dem die Keime nation gewütet. Und es bedurfte des übertragen werden, im Laufe des Aus- Scharfsinns eines Robert Koch, um das bruchs geändert habe, lasse sich mit Ge- Seuchengeschehen zu begreifen. Schnell wissheit ausschließen. Die Jagd auf erkannte der herbeigerufene Experte aus Berlin die mangelnde Hygiene als UrO104:H4 wird immer mysteriöser. Dabei scheint das Muster so klar: Das sprung des Übels. Schaudernd sagte er Epizentrum der Epidemie liegt erkennbar nach dem Rundgang durch das Gängein Hamburg. Beinah jeder dritte Infizierte viertel: „Meine Herren, ich vergesse, dass lebt in der Hansestadt, und auch fast alle ich in Europa bin!“ Wenige Jahre zuvor hatte Koch den 90 Ehec-Fälle im Ausland lassen sich bis ins Hamburger Umland zurückverfolgen. „Commabazillus“ als Erreger der gefürchDie Opfer sind überwiegend Frauen, teten Durchfallerkrankung identifiziert Kinder dagegen waren seltener betroffen und nachgewiesen, dass er sich im Wasser als bei den meisten bisher bekannten vermehrt und verbreitet. Deshalb fiel es Ehec-Ausbrüchen. Vor allem aber gibt es ihm nicht schwer zu erkennen, dass die deutlich erkennbare Cluster: Reisegesell- Flut schuld an dem Desaster war: Sie hatQuelle: Food Food Research Research Institute, Institute, Madison; M. W Wadl adl et al.
1 Risikofaktor Fleisch
Ehec-Ausbrüche, bei denen der Über Übertragungsweg tragungsweg ausgemacht wur wurde de (Aus (Auswahl) wahl) Land Land
1982 1982 11992 992 1992/93 1992/93 11992/93 992/93 1994 1994 11995 995 1995/96 1995/96 11996 996 1999 1999 20022 200 200 20022 2004 2005
USA USA Frankreich Fr ankreich USA U SA Frankreich Fr ankreich Frankreich Fr ankreich Australien Austr alien Deutschland Japan USA USA Frankreich Fr ankreich Deutschland Australien Austr alien Italien Frankreich Fr ankreich Deutschland Norw Norwegen egen USA U SA USA U SA Belgien Australien Australien U USA SA Deutschland
2006
200 20077 2008 2009
Ehec-Fälle Ehec-Fälle
davon davon HusErkrankte Erkrankte
47 26 501 4 4 88 28 12 12 680 11 10 38 4 6 16 59 18 69 204 13 3 341 6
0 10 45 4 4 23 28 121 3 2 38 2 6 16 1 10 4 31 5 1 25 1
den Ansturm schwerstkranker Hus-Patienten kaum noch bewältigen können. Jeden Morgen beraten die Experten des RKI aufs Neue, ob sie ihre Empfehlung, Tomaten, Gurken und Salat nicht roh zu verzehren, aufrechterhalten. Bisher aber habe sich immer nur bestätigt, was ihre erste Studie ergeben hatte: dass nämlich auffällig viele der Erkrankten diese drei Nahrungsmittel zu sich genommen hatten. Auch die jüngste Studie vom vergangenen Freitag kam wieder zu diesem Schluss. Dass eine dieser drei Gemüsesorten tatsächlich die Keimquelle ist, wird damit immer wahrscheinlicher. Das aber heiße nicht, dass am Ende nicht vielleicht doch Radieschen oder Erdbeeren der Auslöser waren, schränkt der 130
Übertragungsweg Übertragungsweg
Hambur Hamburger rgger 1 Mensch zu Mensch 1 Hamburger Hamburrgger 2 Rohmilchkäse Rohmilchkäse Ziegen-Rohmilchkäse Ziegen-Rohmilchkäse 2 1 kurz gebratene gebratene Rohwurst Rohwurst 1 Mortadella/Teewurst Mortadella/Teeewurst* Radieschensprossen Radieschensprossen 3 Seewasser Seewasser rosa rosa gebratenes gebrrat a enes Schafsfleisch 1 nicht pasteurisierter Apfelsaft, elsaft, Quark* pasteurisierter Apf K Kontakt ontakt mit Vieh, Mensch zu Mensch 2 Büffelmilch Büffelmilch Rohmilchkäse Rohmilchkäse 2 2 Rohmilch Rohmilch ger geräucherte äucherte Schafs Schafswurst wurst 3 Salat 3 Spinat 2 Eiscreme Rohmilch Eiscreme aus R ohmilch Kontakt K ontakt mit Vieh Restaurantessen Restaurantessen *unsicher Spielplatz, Sandk Sandkasten asten* schaften wie jene Golfer-Truppe aus Schweden, ein Gewerkschafterinnen-Seminar in Lübeck, die Kantinen einer Unternehmensberatung in Frankfurt – ist es wirklich möglich, dass das nicht ausreicht, um den Seuchenherd dingfest zu machen? Gerade die Stadt Hamburg ging einst in die Seuchengeschichte ein als Paradebeispiel für die erfolgreiche Suche nach den Nestern eines Killerkeims: Vor knapp 120 Jahren, im heißen Sommer des Jahres 1892, ging in der Stadt schon einmal ein aggressiver Durchfallerreger um. Fast 17 000 Kranke wurden von den Behörden gezählt, viele verloren so viel Flüssigkeit, dass sie innerlich vertrockneten. Die offizielle Zahl der Toten belief sich am Ende auf 8605. D E R
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JACQ J A C Q U E S B R I N O N / A P ; MYC M Y CHE H E LLEE DAN D A N I AU A U / A F P ; L E N N A RT R T P RREE IISS S S / DA D APP D
Jahr
te das von Fäkalien verseuchte Hafenwasser wenige Kilometer flussaufwärts geschoben, dorthin, wo das Trinkwasser aus der Elbe entnommen wurde. Im benachbarten Altona, so konstatierte Koch, gab es eine Sandfilteranlage. Entsprechend glimpflich verlief dort die Cholera-Epidemie. Wird es den Forschern diesmal wieder gelingen, den Seuchenzug des neuen Erregers nachzuvollziehen? Ende letzter Woche schwand unter den Forschern die Hoffnung. Tomaten, Gurken, Salat: Auch nach all ihren Recherchen hatten sie nicht mehr als Mutmaßungen zu bieten. Umso reger verbreiteten sich die Gerüchte: Könnte der Erreger nicht vielleicht auch mutwillig in Umlauf gebracht worden sein?, argwöhnten die einen; an-
dere glaubten zu wissen, dass die Tomaten und Gurken unter den Planen an der spanischen Mittelmeerküste noch immer mit Brauchwasser besprenkelt werden; und im Internet kursierte die Theorie von Keimen auf Schnittblumen: kein Wunder, hieß es dort, dass nach dem Muttertag bevorzugt Frauen zu den Opfern zählten. Indizien immerhin scheint es zu geben – und sie führen erneut zum Hamburger Großmarkt, dem Ort, an dem auch die vier Ehec-verseuchten Salatgurken entdeckt wurden. „Wir haben in den vergangenen Tagen lange Schaltkonferenzen mit anderen Behörden gehabt und festgestellt, dass immer wieder Spuren auf den Hamburger Großmarkt hindeuten“, sagt ein
te noch ein Infektionsherd schlummern, ersten schweren Hus-Fälle auftraten, war ausschließen lässt sich das nicht. Aber das Gemüse dann möglicherweise bereits verspeist oder verdorben – und vom wie soll man ihn finden? Etliche der Großhändler, die hier in ih- Keim nicht mehr viel übrig. Bei den meisren Parzellen Obst und Gemüse anbieten, ten Ehec-Ausbrüchen bleibt die Quelle haben ihre Ware schon freiwillig auf Ehec- deshalb unbekannt. „Dass man nichts finBakterien überprüfen lassen. Gefunden det“, sagt Andreas Hensel, Präsident des haben die Prüfer rein gar nichts, wie man Bundesinstituts für Risikobewertung auf der Internetseite des Großmarktes se- (BfR), „ist völlig normal.“ Deshalb ist es so fatal, dass gerade am hen kann. Aber was heißt es schon, wenn zehn, elf Früchte unbedenklich sind? Wel- Beginn der Seuche wertvolle Zeit vergeuche Beweiskraft hat es, wenn ein Händler det wurde. Spätestens am 1. Mai, so ist sechs Gurken an ein Labor sendet und inzwischen bekannt, erkrankte der erste ein anderer drei Kohlrabi, wie in den Be- Patient an Durchfall. Danach vergingen richten zu lesen ist? Weil es überall Zwei- 18 kostbare Tage, ehe das RKI alarmiert fel gibt, bleiben auch an diesem Tag wie- wurde. Das mag auch daran gelegen haben, der Tausende Kartons stehen. Einiges lässt sich morgen noch einmal anbieten, dass viele Kranke gezögert haben, mit ei-
2 Risikofaktor Rohmilch
Bremer Gesundheitsbeamter und folgert: „Der scheint in irgendeiner Form eine Rolle zu spielen.“ Freitagmorgen, sechs Uhr. Auf dem Gelände des Hamburger Großmarktes, das so groß ist wie 30 Fußballfelder, wird schon seit vier Stunden gearbeitet. Gabelstapler flitzen durch die knapp 200 Meter langen Hallengänge, Arbeiter wuchten Plastikkisten auf Sackkarren, Einkäufer fahren mit Klapprädern, weil die Wege zwischen den Anbietern so weit sind. Über 150 Obst- und Gemüsegroßhändler verkaufen hier Waren aus über 100 Ländern: Bananen aus Equador, Tomaten aus Italien, Blumenkohl aus Polen. Meterhohe Kartontürme werden jede Nacht aufgebaut, Abermillionen Früchte lagern darin. Irgendwo in der Halle könn-
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das meiste geht in die Kompostierung und an Biogasanlagen. Dabei ist es möglicherweise längst zu spät, um in diesen Gebirgen aus Kohl, Gurken, Zucchini und Lauch noch den gesuchten Winzling aufzuspüren. Denn gegen ein Grundgesetz jeder wirksamen Seucheneindämmung wurde gleich am Anfang verstoßen: Schnelligkeit ist oberstes Gebot. Sonst sind die Spuren, die zur Quelle einer neuen Seuche führen, verwischt. „Als die ersten Leute nach einigen Tagen krank wurden“, sagt Lothar Wieler, Geschäftsführender Direktor des Instituts für Mikrobiologie und Tierseuchen an der Freien Universität Berlin, „war die belastete Charge vielleicht längst verkauft.“ Als dann nach einer weiteren Woche die D E R
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Risikofaktor Rohkost
nem vermeintlich harmlosen Durchfall zum Doktor zu gehen. Eine Darmgrippe, so die landläufige Erfahrung, klingt ohnehin nach wenigen Tagen ab. Wichtiger aber ist, dass die Hausärzte die Möglichkeit einer Ehec-Infektion allzu oft nicht in Betracht ziehen. Oftmals schicken sie die Patienten mit guten Ratschlägen und vielleicht noch einem Rezept für ein Antibiotikum wieder nach Hause. Viel zu selten schicken sie eine Stuhlprobe zur Abklärung ins Labor. Wie unvorbereitet die meisten Ärzte auf den Ehec-Ausbruch waren, zeigt das Beispiel einer 24-jährigen Wirtschaftspsychologie-Studentin aus Hamburg, die, im vierten Monat schwanger, Ende vorletzter Woche mit Bauchschmerzen und Durchfall zu ihrem Hausarzt ging. Der 131
B. BEHNKE/DER SPIEGEL (L.); J. MÜLLER/AGENTUR FOCUS/DER SPIEGEL (R.)
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Ehec-Behandlung in Hamburg, Neurologe Wertheimer: „Wir leben in einem fragilen System“
„Ein Erreger für die Demut“ Anfangs sorgten sich die Ärzte vor allem um die Nieren der Ehec-Patienten. Jetzt zeigt sich, dass die Gefahr für das Gehirn der Kranken das größere Problem sein könnte.
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ie hat den Ärzten hier beschrieben, wie zuerst der Durchfall kam, wie sie immer schwächer wurde, nicht mehr aß und den Weg zur Toilette kaum noch schaffte, dann sah sie das Blut im Stuhl und bekam Todesangst. Die junge Frau auf der Intensivstation im Krankenhaus Hamburg-Eilbek hat den Verdacht, Salat habe sie in diese fatale Lage gebracht. Sie weint, ist völlig aufgelöst. Sie wird das hämolytisch-urämische Syndrom (Hus) dank mehrerer Blutwäschen wohl überstehen, ihren Nieren geht es von Tag zu Tag besser. Aber sie kann ihren rechten Arm nicht richtig heben. Essen mit dem Löffel? Schreiben? Schwierig, jedenfalls im Moment, und wie es weitergeht, weiß keiner. Den Umgang mit dem Löffel müsse man ganz genau beobachten, sagt Daniel Wertheimer, Leitender Arzt des Zentrums für Neurologie und Neurologische Frührehabilitation an der Schön Klinik Hamburg-Eilbek. Und auch die auffällige Aufgelöstheit der jungen Frau. Es könnten subtile Vorboten für sehr viel schwerere neurologische Komplikationen der Ehec-Infektion sein. Sie sind die unheimlichste Begleiterscheinung dieses Seuchen-Ausbruchs. „Anfangs haben wir alle auf die Nierenerkrankungen geguckt“, sagt Wertheimer. „Aber vielleicht wird Ehec einmal als Erreger in die Geschichte einge-
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hen, der schwere Schäden im zentralen Nervensystem hervorrief.“ Der Austausch des Blutplasmas dürfte die meisten Patienten vor einem Leben an der Dialyse bewahren – solange die Blutkonserven nicht ausgehen und das Personal. In dieser Hinsicht sind die beiden Hamburger Schwerpunkt-Krankenhäuser in Eppendorf und Altona hart am Rand ihrer Kapazitäten angelangt. Die bitterste Erkenntnis der letzten Tage ist jedoch: Eine Erkrankung des Gehirns kann nicht nur die Patienten mit voll ausgeprägtem Hus treffen, wie man bisher dachte, sondern alle Patienten, deren Blutplättchenzahl sich stark vermindert – und das sind deutlich mehr: „Vor drei Wochen hätte ich gesagt: 15 bis 20 Prozent der schweren Fälle entwickeln neurologische Komplikationen. Heute würde ich sagen: etwa die Hälfte.“ Die Symptome können sehr früh auftreten. Deshalb fragen sie hier Patienten, die mit unklaren neurologischen Symptomen wie epileptischen Anfällen oder Lähmungen in die Klinik kommen, zuerst nach Durchfällen. Alle Ehec-Patienten mit schweren Verläufen, fordert Wertheimer, sollten so früh wie möglich von einem intensivmedizinisch erfahrenen Neurologen begleitet werden. „Sie müssen mindestens einmal am Tag neurologisch untersucht werden.“ Gerade die leichten
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Alarmzeichen könne man sonst übersehen: die auffallende Aufgelöstheit der jungen Frau etwa, eine kleine Bewegungsunsicherheit, Wesensveränderungen. „Zu Beginn sind die Patienten vielleicht nur sehr aufgeregt, haben Gefühlsausbrüche, schreien herum, doch am Ende mündet es in schwerste neurologische Defizite.“ Die Mediziner erleben Patienten, die Worte nicht mehr finden, die sich nicht erinnern können, die schwerste epileptische Anfälle erleiden oder ins Koma fallen. „Neurologisch betrachtet ist Ehec wie ein Chamäleon“, erklärt Wertheimer. Man findet in seinem Gefolge praktisch alle bekannten Komplikationen, die auch ein Schlaganfall, ein SchädelHirn-Trauma oder eine Hirnhautentzündung hervorrufen können. Aber warum ist das so? Wandert der Ehec-Erreger bis ins Gehirn? Nein, sagt Wertheimer. Die Sache ist komplizierter: Der Erregerstamm O104:H4 produziert das Gift Shiga-Toxin. Das Gift selbst ist nicht allein das Problem, sondern auch die immunologische Antwort, die der Körper dafür parat hält: Die Wände aller Gefäße entzünden sich und schwellen an, auch im Gehirn. Man kann sich das vorstellen wie ein Rohr, dessen Innenverkleidung immer dicker wird, bis irgendwann nichts mehr durchfließt. Dann werden Hirnareale nicht mehr versorgt und können im schlimmsten Fall irreversibel geschädigt werden. Gleichzeitig werden die Blutgefäße abnorm durchlässig. Körpereigene Giftstoffe wandern in die Organe, aber auch Wasser sickert ins Gewebe ein. Der ganze Körper wird von Ödemen aufgeschwemmt. Im Gehirn, das von seinem Schädel so fest umfasst wird wie eine Nuss von der Schale, steigt der Druck.
Dadurch können epileptische Anfälle entstehen, ganze Areale können ausfallen, zeitweise oder dauerhaft. Das kann lebensgefährlich sein. Natürlich kann man all diese Symptome behandeln. Aber kann man sie auch beherrschen? Oder werden am Ende der Epidemie viele Menschen als Pflegefälle zurückbleiben, weil sie eine verkehrte Tomate oder die falsche Wurst gegessen haben? Wertheimer findet, es sei zu früh, etwas über die neurologische Prognose all dieser Patienten zu sagen. Zwar kommt bei ihm zu Hause schon seit einer Woche nichts Ungekochtes mehr auf den Tisch, aber das sei eine rein persönliche Entscheidung. Er will keine Panik schüren. Er will stattdessen lieber den Fokus auf die frühzeitige Behandlung und Rehabilitation dieser Defizite richten. „Wenn Gehirnregionen ausfallen, sind sie erst mal weg, möglicherweise für immer.“ Genau wie beim Schlaganfall dürfe deshalb keine wertvolle Zeit vergehen. „Man muss akut behandeln, aber gleichzeitig mit der frühen Reha beginnen: Ergo-, Logo- und Physiotherapie, das volle Programm.“ Allein in Hamburg gibt es Hunderte Ehec-Patienten. Wie viele von ihnen noch neurologische Symptome entwickeln und solch eine intensive Betreuung brauchen werden, weiß niemand. Auch nicht, wie lange die Epidemie noch andauern kann. Finden die Kollegen in den Labors nicht bald ein probates Mittel, muss man kein Hellseher sein, um sich den Kampf um die knappen Ressourcen vorzustellen. Unterdessen beschert O104:H4 der Welt der Medizin ein lange nicht empfundenes Gefühl von Machtlosigkeit. Wertheimer vergleicht das mit dem Ausbruch von Aids in den achtziger Jahren: „In der Ära der Antibiotika hatten wir plötzlich eine Infektion, die wir nicht behandeln konnten. Das war ein Schock.“ Auch jetzt wieder erobern Kleinstlebewesen Terrain zurück, und zwar ziemlich perfide: Die Ehec-Bakterien produzieren ihr Gift vermehrt beim Absterben. Setzte man Antibiotika gegen sie ein, würde der Körper mit dem Toxin geradezu überschwemmt. Und das schöne Bild vom Menschen, wie er über die Infektionskrankheiten des Mittelalters triumphiert? Ein Phantasma, meint Wertheimer. „Ehec ist ein Erreger für die Demut. Wir leben in einem fragilen System und sind gefährdet, im dümmsten Fall sogar durch eine Tomate. Das ist eine Absurdität unserer modernen Welt.“ BEATE LAKOTTA
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diagnostizierte eine Gastritis; die junge Frau blieb zwei Tage zu Hause und ging dann wieder zur Arbeit. Erst als sie erfuhr, dass eine Kollegin an Ehec erkrankt war, suchte sie erneut den Hausarzt auf – vor allem aus Sorge um ihr ungeborenes Kind, wie sie sagt. Zu diesem Zeitpunkt jedoch hatte das Bakteriengift bereits mit dem Zerstörungswerk in ihrem Blut begonnen: Die Schwangere, so zeigte sich nun, war an Hus erkrankt. Aber selbst wachsame Hausärzte werden oft nicht schnell genug gehört. Zwar ist Ehec meldepflichtig – doch dürfen sich die Gesundheitsämter mit der Weitergabe des Ehec-Alarms reichlich Zeit lassen: Laut Paragraf 11 des Infektionsschutzgesetzes müssen die Ämter Erkrankungen, Todesfälle sowie Nachweise von Krankheitserregern bloß wöchentlich, spätestens aber am dritten Arbeitstag der folgenden Woche, an die zuständige Landesbehörde melden. Diese wiederum ist verpflichtet, die Meldungen innerhalb einer weiteren Woche ans RKI weiterzuleiten. Und der Berliner Tierseuchenexperte Wieler fragt sich: „Warum kann man so etwas nicht einfach direkt elektronisch schicken?“ Unbedingt müsse das Meldewesen schneller werden. Allzu lange war der unheimliche Erreger Ehec ein blinder Fleck der deutschen Gesundheitswächter. „Über die heimliche Seuche hüllt sich Deutschland – anders als viele andere Industrieländer – in Schweigen“, schreibt der ARD-Journalist Klaus Weidmann in einem aufrüttelnden Recherchebericht, den er bereits 1999 über die Ehec-Gefahr verfasste. „Über viele Jahre hinweg haben deutsche Ärzte, Behörden und Verbraucherverbände den neuen Killer-Erreger ignoriert.“ Auch die deutschen Medien hätten das Thema „verschlafen“. Die Warnungen von EhecWissenschaftlern wie Karch blieben ungehört. Während hierzulande die Berichte über das potentiell tödliche Geschehen ganz offiziell bis zu zwei Wochen lang in den Schubladen der Ämter verstauben dürfen, wurde in den USA und in Japan ein Frühwarnsystem für Ehec-Erreger installiert. „Eine schnelle Reaktion ist entscheidend in solchen Situationen“, sagt Robert Tauxe, Vizedirektor der Division of Foodborne, Bacterial and Mycotic Diseases am CDC in Atlanta. Schon 1993, kurz nach dem bis dahin schwersten Ehec-Ausbruch der USA, reagierten die Behörden. Seither wird jede verdächtige Häufung von Infektionen mit Darmkeimen registriert. Seit 2001 gibt es flächendeckend in jedem der 50 US-Bundesstaaten und in manchen großen Städten wie New York Labors, die verdächtige Bakterienstämme
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ALEXANDER WITTKE / DAPD
aus den Stuhlproben sämtlicher Erkrank- burg eine seltene Variante des toxischen ter analysieren und die genetische Infor- Escherichia-coli-Bakteriums im Kot von mation der verschiedenen Stämme re- Würzburger Tauben. Zuvor hatten britische Forscher Ehec in den Exkrementen gistrieren. „Die Datenbank, in der all das zusam- von Möwen ausgemacht. Manche Fälle muten an wie ein schlechmengetragen wird, ist für alle zugänglich“, sagt Tauxe, „und wir am CDC che- ter Scherz: So wurden vor wenigen Jahcken sie natürlich täglich.“ Sollte der glei- ren die Lebensmittelexperten der Univerche Erreger plötzlich an mehreren Stellen sität Hohenheim hinzugerufen, als bei eiauftauchen, wird es auf diese Weise sehr nem Straßenfest im Großraum Stuttgart schnell bemerkt. „Ein ähnliches System mehrere Besucher schwer erkrankten. sollte nicht nur in Deutschland, sondern Die Spurensuche führte die Wissenschaftin ganz Europa eingeführt werden“, rät ler rasch auf ein Salatfeld in Südfrankreich. Tauxe. Unter dem Druck von AkkordschichImmerhin wird seit 2008 der interdisziplinäre Forschungsverbund „FBI Zoo“, ten und weil ein Toilettenhäuschen fehlte, der sich auch intensiv mit Ehec beschäf- hatten sich Erntehelfer mitten im Gemüse tigt, vom Bundesforschungsministerium erleichtert. Derart schnelle Aufklärung ist allergefördert. Direkte Forschung an Rindern allerdings ist in diesem Rahmen nicht dings nicht die Regel. Nur in etwa 25 Prozent der Fälle werde die Quelle des Erremöglich. Dabei ist immer noch ein Haupt- gers ausgemacht, sagt Herbert Schmidt, problem bei der Bekämpfung der Ehec- Lebensmittelmikrobiologe von der UniErreger, dass erschreckend wenig über versität Hohenheim. In Deutschland taucht sie bekannt ist. „Es gibt Ehec immer wieder auf. bestimmt mehrere tauMehr als 800 vereinzelte send Varianten von Ehec, Fälle pro Jahr werden von aber wer soll sich die alle Ärzten und Kliniken geangucken?“, fragt FBImeldet. Aber auch zu kleiZoo-Leiter Lothar Wieler. neren Ausbrüchen kam es Lediglich 42 verschiedene immer wieder: In SüdEhec-Typen sind bislang deutschland war es verbei Menschen gefunden mutlich Apfelsaft, der vor und genau untersucht knapp neun Jahren 48 worden. Menschen, vor allem KinFür viele gilt, dass die der, krank machte. Viele Nahrung ihnen den Weg der betroffenen Eltern erin den menschlichen Orinnerten sich daran, Saft ganismus geebnet hat. von einer kleinen Mosterei „Ehec-Keime auf Lebensund einem Bauernhof gemitteln sind relativ häu- Aufbereitete Salatprobe kauft zu haben. In Niederfig“, sagt Wieler. Der Fund Die Jagd wird mysteriöser auf den spanischen Gursachsen erkrankten vor ken hat ihn deshalb nicht wirklich über- drei Jahren mehr als 30 Grundschüler an rascht. Aber am Ende landet nur ein klei- Ehec, nachdem sie bei einem Schulausner Teil der Ehec-Keime wirklich im flug auf einem Bauernhof Rohmilch geDarm des Menschen und macht ihn trunken hatten. krank. „Warum?“, fragt Wieler und antDass jedoch selbst die vorsichtigsten wortet sich sogleich selbst: „Wir wissen Esser nicht vor Ehec sicher sind, zeigte es nicht.“ sich 1993 in New York: 35 000 Einwohner Anfang der achtziger Jahre machte der mussten ihr Trinkwasser abkochen, nachneuartige Erreger erstmals von sich re- dem der Erreger in ihrer Wasserversorden. Einer der ersten, gut dokumentier- gung entdeckt worden war. ten Ausbrüche ereignete sich 1982 in den Zum bislang schwersten Ausbruch kam US-Bundesstaaten Oregon und Michigan. es 1996 in Japan: Rund 10 000 Kinder und 47 Menschen erkrankten dort schwer, Erwachsene infizierten sich durch Radiesnachdem sie bei McDonald’s Hamburger chensprossen aus einer Schulkantine; gegessen hatten, die nicht ganz durchge- zwölf Menschen starben. braten waren. In Kalifornien gelangte mit Rinderkot Etliche Jahre später traf es Dutzende verschmutztes Wasser im September 2006 Filialen der Burger-Kette „Jack in the auf ein einzelnes Spinatfeld – mit verheeBox“: Ihr verseuchtes Fleisch ließ über render Wirkung. Denn auf dem Feld 500 Menschen im Bundesstaat Washing- wuchs Baby-Spinat, der nach Meinung ton erkranken; 45 Infizierte entwickelten des Produzenten besonders gut roh geHus, 4 starben. nossen werden kann: „Die Blätter sind Seitdem entdeckten Wissenschaftler wunderbar im Salat.“ In den folgenden Wochen wütete der immer neue, unberechenbare Wege, über die sich der Erreger verbreiten kann. 1999 Ehec-Erreger in 26 US-Bundesstaaten, etwa fanden Mikrobiologen aus Würz- über 200 Menschen erkrankten zum Teil 136
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schwer, 3 starben. Die US Food and Drug Administration brauchte sieben Monate „und mühevolle Detektivarbeit“, um den Fall aufzuklären. Entwarnung geben die Experten hinWie der Ehec-Serotyp gegen bei Dünger aus KompostierungsO104:H4 den Körper und Biogasanlagen. Dessen Nutzung sei angreift unbedenklich, wenn die gesetzlichen Vorschriften eingehalten würden. Kompost muss mindestens zwei Wochen TemperaE I N FFAC A C H E R V E RL RLA AU UF turen von 55 Grad Celsius ausgesetzt sein. In Biogasanlagen müssen über eine StunEhec-Bakterien werden de lang Temperaturen von über 70 Grad mit verunreinigter Nahrung Celsius herrschen. Das überlebt kein aufgenommen oder sie Ehec-Keim. gelangen durch SchmierAuf jeden Fall gibt es allen Grund, infektion in den Körper. Ehec sehr ernst zu nehmen. Gleichgültig ob Pocken, Typhus oder Aids: Fast alle großen Seuchen der Menschheit sind in Tieren entstanden. Oft reichte am Ende eine kleine Veränderung des Erregers oder eine Umstellung in der Umwelt, um eine unbedeutende Krankheit zu einer Störungen in den Kabösartigen Plage werden zu lassen. pillaren der Lunge führen BSE etwa brach aus, nachdem man bezu Atemnot. Die Bauchgonnen hatte, Rinder mit Tiermehl zu speicheldrüse kann sich füttern. Der verheerende Seuchenzug entzünden. der Spanischen Grippe, die weltweit 50 Millionen Menschen dahinraffte, nahm seinen Ausgang, als Virenstämme von Huhn, Schwein und Mensch miteinander in Berührung kamen. Und Aids kam in S C H W E RE R E R V E RL RLA AU UF die Welt, als einem Affenvirus der Shigatoxin 2 überSprung in den menschlichen Körper geschwemmt den Blutkreislang. lauf, heftet sich an die Wird vielleicht auch O104:H4 dauerGefäßwände und zerstört haft im Menschen bleiben? NormalerweiBlutkörperchen und Blutse ist dies bei Ehec-Bakterien nicht der plättchen. Es kommt Fall, darin sind sich alle Experten einig. zu kleinen Blutgerinnseln Bislang habe man bei diesem Ausbruch und inneren Blutungen. auch nur selten den Fall einer MenschBeim „Hämolytisch-uräzu-Mensch-Übertragung beobachtet, so mischen Syndrom“ (Hus) Krause. werden die Nieren „Aber das kann sich verändern“, warnt geschädigt. Karch. „Es gibt einige wenige, meist sehr aggressive Ehec-Stämme, deren Reservoir nicht in Tieren, sondern in Menschen ist.“ Ob auch O104:H4 zu diesen Stämmen gehört, ist offen. Einige Ehec-Erreger werden nach einer Infektion noch monatelang mit dem Stuhl ausgeschieden. Ob genesene O104:H4-Patienten vielleicht auch noch monatelang ansteckend sind, Zellen der Ehec-Erreger Darmwand wird derzeit in einer Studie überprüft. Sollte dies der Fall sein, werden diese Menschen, um eine immer weitere Ausbreitung zu verhindern, möglicherShigatoxin Shi gatoxin weise doch mit Antibiotika behandelt werden müssen – obwohl die BakEinblutung terien so dazu gereizt werin den Darm den, besonders viel des geEindringen Ein ndringe gen in diee Blutgefäße Blutg tgeefä effäß ße fährlichen Shiga-Toxins abzusondern. Welche Antibiotika für
Entfesselter Erreger
Etwa die Hälfte der schwer Erkrankten leidet unter neurologischen Störungen. Die Symptome reichen von Verwirrtheit, Muskelzuckungen, Sprachoder Sehstörungen bis zu Wesensveränderungen oder epileptischen Anfällen. Einzelne Patienten fallen ins Koma.
Die widerstandsfähigen Keime passieren trotz der aggressiven Magensäure den Magentrakt.
Im Darm finden die Bakterien ideale Bedingungen, um sich zu vermehren. Angeheftet an die Zellen der Darmwand, produziert der Erreger Shigatoxin 2, einen Giftstoff, der die Darmzellen auflöst und die unter der Zellschicht verlaufenden Blutgefäße durchdringt. Der Patient leidet unter wässrigem, später blutigem Durchfall.
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„Keiner weiß, was optimal ist“ Eculizumab ist eines der teuersten Medikamente der Welt. Dennoch verschenkt es der US-Pharmahersteller Alexion in der Ehec-Krise an Kliniken in Deutschland.
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dreijährigen Sophie erzielte. Eine deutliche Besserung nach 24 Stunden? Stahl schüttelt nur ungläubig den Kopf. Eculizumab ist eines der teuersten Medikamente der Welt. Eine Monatsbehandlung kostet in Deutschland mehr als 37 000 Euro – pro Patient. Zugelassen ist das Präparat nur für eine seltene Bluterkrankung, die paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie. Jeder schwerkranke Ehec-Patient, der das Präparat nun erhalten will, muss deshalb aufgeklärt werden, dass er an einem riskanten Heilversuch teilnimmt. Hergestellt wird Eculizumab von der US-Pharmafirma Alexion, die damit im vergangenen Jahr mehr als 540 Millionen Dollar Umsatz erzielte, eine Steigerung von 40 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Nach Ausbruch der EhecKrise hat sich die Firma bereit erklärt, Eculizumab gratis nach Deutschland zu liefern. Gegenüber dem SPIEGEL versicherte Thomas Bock, Vizepräsident bei Alexion: Sollten die Patientenzahlen in Deutschland stark ansteigen, sei selbst eine Verfünffachung Alexion-Labor, Präparat Eculider Liefermenge kein Prozumab: Strohhalm für Ärzte blem. „Wir sind zurzeit in tägzulässt, ob das Me- lichem Austausch mit den Ärzten und dikament wirklich Behörden in Deutschland, aber wir nützt. Eingesetzt wissen auch nicht, was optimal ist.“ Bock berichtet, dass die Auswirwird es zurzeit dennoch in allen Klini- kung in den Blutgefäßen noch Monate ken mit schweren anhalten kann, selbst wenn die HusEhec-Fällen. Allein Patienten anscheinend beschwerdefrei am Hamburger Uni- sind. Auf die Frage, ob die GratislieKlinikum UKE gab ferung des Medikaments auch für eine es am vergangenen Freitag 49 Patien- monatelange Behandlung gelte, antten, die mit Eculizumab behandelt wortet Bock: „Unsere Zusage ist, dass worden waren, in Kiel waren es 28, in wir alles tun, was zur Bewältigung der Hannover 20. Professor Rolf Stahl Krise nötig ist.“ Den hohen Preis des Präparats vom UKE sagt: „Wir behandeln damit die Patienten, weil wir nicht zusehen rechtfertigt Bock übrigens mit der exkönnen, dass sie sterben, zentralner- trem risikoreichen Strategie des Unvöse Störungen haben oder ihre Nie- ternehmens, nur Präparate für seltene renfunktion verlieren.“ Stahl und sei- und aussichtslose Krankheiten zu entne Kollegen in Kiel und Hannover wickeln. Allerdings ist Eculizumab das einbeobachten bisher allerdings keine so durchschlagenden Erfolge, wie sie ihr zige Präparat, das Alexion vertreibt. Heidelberger Kollege Schäfer bei der MARKUS GRILL Ehec-Alarm aus Deutschland, und die Redaktion stellte Schäfers Bericht am 25. Mai sofort online. Viele Ärzte, die zurzeit schwerkranke Ehec-Patienten behandeln, klammern sich an diesen Fachartikel wie an einen Strohhalm – obwohl die Fallbeschreibung einer Heilung von drei Kindern fast keine Aussagen darüber
JOCHEN LÜBKE / DPA (U.); BRUCE ANDO / ALEXION (L.)
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ine gute Therapie für Ehec-Patienten, die derzeit unter epileptischen Anfällen, Nierenversagen oder Schlaganfällen leiden, gibt es nicht. Bisher versuchen Ärzte vor allem, mit einer Blutwäsche die bakteriellen Giftstoffe aus dem Körper zu spülen. Seit einigen Tagen setzen Kliniken nun versuchsweise auf ein weitgehend ungeprüftes Medikament namens Eculizumab (Markenname: Soliris) – ob es hilft, ist bisher unklar. Die Hoffnung, die sich jetzt regt, ist vor allem Franz Schäfer zu verdanken. Der Nierenspezialist an der Uni Heidelberg wusste im Herbst vergangenen Jahres nicht mehr weiter. Einem seiner kleinen Patienten, der dreijährigen Sophie, ging es immer schlechter. Das Mädchen war mit Ehec infiziert, litt an Krampfanfällen, halbseitiger Lähmung, und auch der Austausch von Blutplasma brachte keine Besserung. „Wir haben schließlich alles auf eine Karte gesetzt und ihr Eculizumab gegeben“, sagt Schäfer. Das Präparat ist unter Nierenkundlern bekannt, allerdings bei einer Ehec-Erkrankung weder getestet noch zugelassen. Schäfer war überrascht, wie gut die kleine Sophie reagierte: Innerhalb von 24 Stunden habe sich der Zustand des Mädchens dramatisch verbessert. Nach drei Tagen war keine Dialyse mehr notwendig, nach neun Tagen konnte Sophie aus dem Krankenhaus entlassen werden. „Ich hab noch heute Kontakt zu der Familie“, sagt Schäfer, „Sophie besucht ganz normal den Kindergarten.“ Professor Schäfer war von Eculizumab so angetan, dass er den Fall der renommierten Medizinzeitschrift „New England Journal of Medicine“ vorschlug. Die Zeitschrift wollte Sophies Fall zusammen mit zwei ähnlichen Patientengeschichten aus Paris und Montreal in einigen Wochen veröffentlichen. Doch dann kam der
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MARCUS BRANDT / DPA
Gencode des Ehec-Erregers O104:H4: Irgendwann landen die Bakterien einen Volltreffer – und eine neue Seuche ist da
Im neuen Interviewleitfaden „Husdiese riskante Form der Behandlung am ehesten in Frage kommen, wird derzeit Ausbruch in Deutschland, Frühjahr 2011“ fehlt indes kaum noch ein Lebensmittel. ebenfalls untersucht. Im ersten Stock der Berliner RKI-Zen- Die Seuchenexperten interessieren sich trale trifft man sich derweil noch immer nun für jede erdenkliche Art von Fleisch, jeden Morgen um 8.30 Uhr zur Lagekon- Fisch und Wurstwaren, für Milch, Milchferenz. Gérard Krauses Mitarbeiter haben produkte, Brotaufstrich, Gemüse, Obst andere Projekte, Dienstreisen und Urlaub und Eier, Getränke, Tiefkühlkost und verschoben, Ehec geht jetzt vor. Von au- Süßigkeiten. Selbst nach getrockneten ßen dringt der Lärm der Straße herauf, Kräutern wie Oregano oder Majoran fradas Fenster bleibt deshalb meist geschlos- gen sie; nach dem durchschnittlichen sen. Vorn, auf einer Pinnwand, hängen Konsum von Leitungswasser; und auch die Aufgaben des Tages. Ein Kärtchen für nach kürzlich gekauften Schnittblumen. jede Studie, für jedes Cluster, für jeden Bisheriges Ergebnis: Blattsalat, Tomaten, Gurken. neuen Auftrag. Während die Seuchenfahnder ihr Netz Ende vergangener Woche ließ Krause noch einmal mehrere Teams von Befra- immer engmaschiger knüpfen und immer gern ausschwärmen. „Wir haben den ex- weiter auswerfen, scheint sich der Feind plorativen Fragebogen um zusätzliche Le- im Nirgendwo zu verflüchtigen. Wie hilfbensmittel erweitert, um auch die absur- los die Experten in diesen Tagen sind, desten Gedanken nicht auszulassen“, sagt lässt sich im Niedersächsischen Landeser. Sogar phantasievolle Ideen besorgter amt für Verbraucherschutz und LebensBürger, die zurzeit stapelweise bei ihm mittelsicherheit (Laves) erfahren. Die Zentrale der Essensübereingehen, nahm er auf. wacher ist in einem Der neue, 34 Seiten diEhec- und Hus-Fälle schmucklosen Bau in Warcke Fragebogen liest sich im Ausland denburg bei Oldenburg wie ein Dokument der davon Ehec Hus untergebracht. Die MänRatlosigkeit. Der bis dahin Schweden 43 15 ner und Frauen hier vergültige Leitfaden für die Dänemark 17 7 stehen etwas von LandBefragung von Ehec-Pawirtschaft, Niedersachsen tienten umfasste gerade Niederlande 8 4 ist ein wichtiges Agrarmal 4 Seiten. Gefragt wurGroßbritannien 7 3 land. de darin nicht nur nach Frankreich 6 0 Seit der Rohkost-Wardem verdächtigen Trio SaUSA 2 2 nung des RKI arbeiteten lat-Gurke-Tomate. Auch Österreich 2 0 die Veterinäre, Chemiker der Verzehr von MozzarelSchweiz 2 0 und Laborangestellten „im la, Ziegen- oder SchafskäSpanien 1 1 Akkord“, sagt Silke Klotzse, rohen Möhren, Spargel, Norwegen 1 0 huber aus der Leitung der Erdbeeren und HackTschechien 1 0 Stabsstelle. Trotzdem gefleisch wurde dokumenStand: 2. Juni; Quelle: WHO be es keine schnellen Ertiert. D E R
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gebnisse: Erste Hinweise, ob eine Probe mit Ehec kontaminiert ist, habe das Labor nach 36 Stunden. Das endgültige Ergebnis stehe erst nach zwei bis drei Tagen fest. Und selbst das heißt noch nicht, dass der Erreger wirklich zum Stamm O104:H4 gehört. Das kann nur das nationale Referenzlabor ermitteln – so vergehen weitere Tage. Bislang konzentrierten sich die LavesFahnder auf Gurken, Tomaten und Salate. Inzwischen haben sie alle heimischen Hersteller kontrolliert und die Warenströme und Vertriebswege der Lebensmittel nachvollzogen – ohne Befund. Schließlich haben sie Proben von Lebensmitteln genommen, die nach den Befragungen der Gesundheitsämter als verdächtig galten, darunter Erdbeeren, Auberginen und Milch. Das Ergebnis, auch hier: negativ. Mittlerweile habe er nur noch wenig Hoffnung, die Quelle der Seuche zu finden, gesteht Anselm Lehmacher, Lebensmittel-Mikrobiologe am Institut für Hygiene und Umwelt, wo sämtliche Proben aus Hamburg auf Ehec-Keime untersucht werden. „Wir analysieren jetzt prioritär Proben aus den Haushalten Erkrankter und aus Gaststätten, wo die Patienten gegessen haben“, sagt Lehmacher. „Und der Hamburger Großmarkt wird natürlich intensivst beprobt.“ Auch die Kollegen vom Berliner BfR seien vergangene Woche nochmals auf dem Großmarkt gewesen. Gefunden, sagt Lehmacher, hätten auch sie bislang – nichts. JAN FRIEDMANN, MARKUS GRILL, JOHANN GROLLE, VERONIKA HACKENBROCH, GUIDO KLEINHUBBERT, GUNTHER LATSCH, UDO LUDWIG, SAMIHA SHAFY, FRANK THADEUSZ, MARKUS VERBEET
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Wissenschaft Dass in der Friesenfestung einst Solda- „maurprechn“ wog 697 Kilogramm. Bald ten kampierten, wird auch durch zerbro- danach steckten Tüftler auch Bleibälle, chene Tabakpfeifen, Stiefel und rostige glühende Eisenkugeln oder mit Scherben Handgranaten belegt. Zudem fanden sich und Schrott gefüllte Lederbälge in die Kanonenschlünde. Trümmer explodierter Bomben. Die Geschichte der Granate hingegen, Hüser ist sicher, dass die Waffen zum Kriegsarsenal Galens gehörten, der das die am Zielort mittels eines Zünders zerBollwerk einst erstürmen ließ. Mit einer kracht, verlief ruhmlos und voller Pleiten. Archäologen haben in Ostfriesland 25 000-Mann-Armee ging er gegen die Viele Details liegen im Dunkeln. Wohl aufmüpfigen Holländer vor. Quellen zu- ab 1450 begannen Büchsenmeister damit, zwei zentnerschwere folge prasselte damals ein Granatenhagel „hol eyssnen Kugeln“ mit Schwarzpulver Metallbomben aus der Frühzeit zu stopfen und zu verschießen. auf Groningen. der Artillerie entdeckt. Das bekam ihnen oft gar nicht. Der Manche Forscher mochten die historiFlogen sie brennend durch die Luft? sche Nachricht allerdings kaum glauben. Grund: Der Kanonier musste zuerst in die Mündung des Mörsers greifen, die Lunte der Bombe anzünden und urch Fleiß und strenge Liesodann hurtig das Geschütz selbst be zum Herrn brachte es scharf machen. Bei schlechtem TiChristoph Bernhard von ming flog ihm die ganze Kanone Galen (1606 bis 1678) bis zum um die Ohren, bevor das Geschoss Fürstbischof. Weil der Mann auch das Rohr verlassen hatte. gern mit Generälen speiste und Häufig misslang auch die Beden Worten Jesu mit Schwarzpulrechnung der Flugbahn mit Hilfe ver Nachdruck verlieh, nannten von Quadranten. Oder aber die ihn seine Zeitgenossen „BombenLunte ging im Flug aus. Bernd“. Immer wieder sei „in geheimen Vor allem die freiheitsliebenVersuchen experimentiert“ worden Niederlande bekamen den den, erklärt Schmidtchen. Doch Zorn des papsttreuen Waffennardie Technik des Bombenwurfs ren aus Münster zu spüren. Im blieb tückisch und ließ sich nur Jahr 1672 ließ er schwere Mörser schwer verbessern. Noch im USgen Norden rollen, die seine ArBürgerkrieg 1861 bis 1865 beschostilleristen mit über 70 Kilogramm sen sich die Amerikaner auch mit schweren Hohlkugeln füllten. Vollkugeln aus Eisen. Krawumm! Im Steilschuss sausBischof Galen, der Doktor Seltten die merkwürdigen Sprengsam der Katholiken, war seiner bälle in den Himmel. Einer fiel in Zeit womöglich voraus. Die jetzt einen Wassergraben und erlosch. aufgetauchten Granaten haben Bald 350 Jahre nach dem Fehlein Füll-Loch, in dem ein durchschuss ist der Blindgänger nun unbohrter Holzpflock steckt. In dem ter den sumpfigen Soden OstfriesKanal befindet sich Schwarzpullands wieder zutage gekommen. ver, das bis zur Sprengladung im Bei Grabungen an der „Dieler Inneren der Kugel reicht. Schanze“, einer um 1580 errichAußen ist ein Netz aus dicken teten Wallanlage, wurde das urige Schnüren befestigt, die alle auf Kriegsgerät entdeckt. den Holzzünder zulaufen. „Die Größer als ein Medizinball ist Kugel war zudem mit Bitumen eindas Trumm. Seine Wandungen gestrichen und mit einem groben aus Gusseisen messen fünf ZentiStoff umwickelt“, erklärt Hüser. meter. Nur, was bedeutet das? „Es enthält noch immer rund Der Forscher vermutet, dass sieben Kilo Schwarzpulver, auch der Metallball im Moment des Abder Zünder ist erhalten“, erklärt schusses durch die heißen Pulverder Archäologe Andreas Hüser. dämpfe von selbst Feuer fing und Das gab es noch nie. brennend durch die Luft zischte. „Mehr als bedeutsam“ nennt „Eine verlockende Idee“, gibt der Kartätschen-Kenner und VerSchmidtchen zu. fasser militärhistorischer Bücher, Chemische Untersuchungen Volker Schmidtchen, den Fund. und Röntgenaufnahmen sollen Ein Experte der mittelalterlichen das Rätsel des Zündmechanismus Festung Coburg spricht von einer Fürstbischof Galen, Ausgräber Hüser*: Uriges Kriegsgerät nun lösen. Ein altes Bildnis des „Sensation“. Bereits im vergangenen Jahr war in Zwar berichten Dokumente von 1326 erst- Kanonenbischofs scheint Hüsers Theorie der Dieler Schanze eine baugleiche mals, dass Armeen mit Schwarzpulver zu stützen. Es zeigt den Kirchenmann Granate zum Vorschein gekommen. Die Kanonenkugeln aus Stein in die Luft mit strengem Blick und schwarzem Ornat Ausgräber waren so beunruhigt, dass wuchteten. Der schwerste Koloss zum vor einem Himmel, über den feurige Geschosse zischen. sie den Räumdienst der WehrtechniWas an den Stern von Betlehem erinschen Dienststelle 91 in Meppen riefen * Oben: vor dem Hintergrund einer bombardierten Stadt – und die Entdeckung vorerst ver- (zeitgenössischer Stich); unten: mit Granatenfund in der nert, sind Galens göttliche Granaten. schwiegen. MATTHIAS SCHULZ Dieler Schanze. M I L I TÄ R G E S C H I C H T E
Feuerkugel im Sumpf
BEN BEHNKE / DER SPIEGEL
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MONIKA ZUCHT / DER SPIEGEL
Wissenschaft
Chemische Behandlung von Palmen in Bordighera: „Wenn du ihn triffst, bring ihn um“ U M W E LT
Die Gier des Rüsselkäfers Die Palmen am Mittelmeer siechen dahin: Ein Insekt aus Südostasien frisst sich durch die Bestände. Mit Giftkuren und Abholzung wollen Forscher die befallenen Bäume retten.
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MONIKA ZUCHT / DER SPIEGEL
laudio Littardi ist ein vergnügter Mit hängendem Schopf und gelben WeKiller. Mit seinen Taten könne er deln siechen die majestätischen Bäume da„gut leben“, sagt der italienische hin, bis sie zusammenbrechen. „Die Wissenschaft ist spät dran“, räumt Wissenschaftler, sie seien „eine Investition in die Zukunft“. Littardi, den manche Littardi ein. Die Gier des Rüsselkäfers den „Palmenmörder“ von Sanremo nen- Rhynchophorus ferrugineus sei lange unnen, lässt seinen Lieblingsbaum umlegen, terschätzt worden, sagt der 57-jährige Leiter des Zentrums für Palmenforschung im um ihn vor dem Untergang zu retten. Mit der scheinbar absurden Strategie Badeort Sanremo an der palmengesäumwill der Forscher das Wahrzeichen des Sü- ten Riviera. Schon verändere sich, etwa dens vor seinem schlimmsten Feind be- in Sizilien, das Landschaftsbild. Die altwahren: dem Palmenrüssler. Der in Süd- vertrauten sechs Riesen vor dem Normanostasien heimische Schädling, in den neun- nenpalast in Palermo stehen nicht mehr. ziger Jahren nach Spanien eingeschleppt, Rom, so fürchtet er, werde in vier, fünf Jahren palmenfrei sein. In droht die Palmen rund ums ganz Italien hat der SchädMittelmeer zu vernichten. ling bereits mehr als 40 000 Gefährdet sind vor allem PalPalmen zerstört. men der Gattung Phoenix, Schlimmer noch ist Spadie als Zierbäume weit vernien betroffen von der breitet sind. Die Larven des „menschengemachten KataKäfers bohren sich ins Herz strophe“, wie Forscher Mider Stämme und fressen von chel Ferry, Leiter des Fordort meterlange Gänge, bis schungszentrums von Elche sie sich schließlich in einem bei Valencia, sagt: Mit beKokon aus Palmenfasern verhördlicher Genehmigung puppen. sind ganze Schiffsladungen In Italien, Spanien, Griechenland und Frankreich hat der Käfer bereits Zehntausen- Palmenforscher Littardi* * Mit geflochtenen Palmblättern für de Palmen zu Tode genagt. Fraß bis ins Herz Palmsonntag. 142
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Palmen aus kontaminierten nordafrikanischen Regionen nach Spanien geschafft worden, als Dekor für neue Golfplätze. Nun ist der Kampf gegen den Schädling voll in Gang gekommen: Die EU hat Pflanzenpässe verordnet und eine einjährige Quarantäne für Palmen aus Befallsgebieten. Die Forscher testen unterdessen Gifte, Duftfallen, Fadenwürmer, Pilze und Mikrowellen als Waffen gegen die gefräßigen Larven. Selbst Hunde werden auf ihn angesetzt: Im Labor der Universität von Catania lernen Retriever und Rottweiler, infizierte Palmen frühzeitig zu erschnüffeln. Doch die Erfolge sind bislang bescheiden: „Es gibt noch kein wirklich effizientes Heilmittel“, so Littardi. Die Baumchirurgen, die befallene Teile wegschneiden, setzen den Baum unter Stress und gefährden seine Stabilität. Zudem entgehen ihnen immer wieder einzelne Larven, die flugtüchtigen Käfer entkommen. In Palermo etwa zeigte sich, dass von 100 operierten Palmen bald 90 aufs Neue heimgesucht wurden. Giftstoffe wiederum schädigen auch harmlose und nützliche Insekten und gelangen ins Trinkwasser. Volle zwei Jahre lang müssen die Chemikalien in die Palme geleitet werden – und dringen dennoch nicht immer bis zu den Larven vor. „Null Toleranz“ gegenüber dem Palmenrüssler heißt deshalb Littardis Devise. Der Forscher setzt ausschließlich auf Früherkennung und sofortige Zerstörung der Wirtspalmen. Der Franzose Ferry allerdings lehnt die Radikalkur ab, er hält vom Fällen wenig. Beim Abtransport der Baumruinen werde der Rüssler nur noch weiter verbreitet. Ferry versucht deshalb, die Bäume mit Chemotherapien zu retten. Um den als Unesco-Welterbe geschützten, noch von den Arabern angepflanzten Wald von Elche bei Valencia hat er eine Sicherheitszone ziehen lassen. Bislang hält sich die Zahl der befallenen Palmen dort in Grenzen. In den Baumschulen der Umgebung allerdings sind bereits viele Tausende Palmen abgestorben. Der Palmenkiller von Sanremo dagegen verweist darauf, dass er mit seinen rigorosen Maßnahmen Ligurien zu einer „Bastion im Verteidigungskampf“ gemacht habe: Nachdem hier, im Palmengarten der Villa Winter in Bordighera, ab Herbst 2006 die ersten sechs Fälle aufgetreten waren, ließ das Gartenamt die Bäume sofort absägen. Die gefällten Stämme wurden staubfein geschreddert – nicht etwa vergraben oder auf die Mülldeponie geworfen wie andernorts. Die Kosten für dieses Verfahren allerdings sind mit 1000 Euro pro Stamm beträchtlich. „Wenn du ihn triffst, bring ihn um“: Mit solchen Parolen wurde die Bevölkerung an der ligurischen Riviera dei Fiori frühzeitig auf den Rüssler vorbereitet. In den
Befallene Regionen Regionen SPANIEN Valencia
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Larve des Palmenrüsslers (Originalgröße)
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Quelle: Directorate-General en for Health & Consumers, Stand 2009/2010 0
Dörfern um Sanremo und Imperia hingen Steckbriefe mit der genauen Beschreibung des „schrecklichen Räubers“ in allen drei Stadien: von der dicklichen, fünf Zentimeter langen Larve über die Puppe bis zum roten gepunkteten Käfer mit dem langen Rüsselkopf. Aufklärung und sofortiges Handeln konnten die Ausbreitung des Schädlings bislang stoppen: Seit dem ersten Auftreten vor vier Jahren in Sanremo mussten dort nur zehn befallene Palmen gefällt werden. Riskant ist auch die Praxis der Palmenschneider: Der dekorative Baum, der mit dem boomenden Tourismus des späten 19. Jahrhunderts an der ganzen Riviera in Mode kam, wird traditionell gestutzt. Je nach Wunsch im französischen Stil, wie Diamantenschliff, oder italienisch, in Form einer Lotusblüte, schneiden immer noch erfahrene Meister wie Giovanni Colombo die Palmen in Privatgärten, aber auch an den Promenaden. Mit Steigeisen klettert er die Stämme hoch. Für die Bäume birgt das Gefahren: Verletzte Palmen sind besonders anfällig für die Attacke des Rüsslers, der, dem Geruch folgend, kilometerweit anfliegt.
A L A MY / MAUR I TI US I MAG ES
FRANKREICH
PORTU PORTUGAL
40 Kilometer weiter östlich, in Alassio, zeigt sich die Misere einer zu zögerlichen Käferpolizei: In dem einst mondänen Badeort stehen massenhaft triste Palmenstümpfe. Schwerkranke Bäume, deren Wedel kaum noch Halt haben, hängen am Tropf der Chemotherapie, die über dünne Schläuche in den Gipfel geleitet wird. Wer mit viel Aufwand einzelne Bäume retten wolle, tappe in die „Gefühlsfalle“ und riskiere damit die Existenz zehntausend anderer, meint Littardi. Denn der Schädling vermehrt sich exponentiell. In einer einzigen Palme hocken rund zweihundert der unersättlichen Larven. Wenn man das Ohr an den Stamm hält, sind sogar ihre Fressgeräusche hörbar. Berühmt für ihre alten Palmen ist die Villa Ormond in Sanremo, in der Littardis Forschungszentrum seinen Sitz hat. Hier, im heute öffentlichen Park, sind im Laufe von 120 Jahren auch die Phoenixpalmen zu stolzer Höhe herangewachsen. 300 Exemplare des Baums zieht Littardi alljährlich aus Samen heran. Der Weg durch die Palmenkinderstube im Freien führt zum Gewächshaus, das nur durch eine Schleuse zu betreten ist.
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Rhodos
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Ein feinmaschiges Stahlnetz kleidet die Glasüberdachung aus. Hier findet in 20 Kübeln das jüngste Experiment der Rüsslerforschung statt. 16 Palmen der besonders anfälligen Art Phoenix canariensis sind künstlich infiziert: Die puddinggelben Larven, geliefert von der Universität Catania, ragen noch aus dem Stamm ins Reagenzglas, über das sie jeweils in die Rinde eingedrungen sind. Zwei Kübel sind mit nicht infizierten, aber verletzten, zwei mit unversehrten Palmen bepflanzt. Eine elektronische Nase fängt die unterschiedlichen Moleküle auf, ein Gaschromatograf trennt sie. „Wenn wir verstehen, welche Botschaft der Geruch der Pflanzen ausströmt“, hofft Littardi, „können wir den Rüssler viel früher fassen.“ Dass der Kämpfer für die Palmen seinem ärgsten Feind dennoch etwas abgewinnen kann, zeigt Littardis Rezept, das er gern am Ende seiner öffentlichen Vorträge verrät: „Man nehme 300 Gramm Rüsslerlarven, wende sie in 100 Gramm Mehl und reihe sie abwechselnd mit Palmherzen auf Holzspieße. Fünf Minuten auf den Grill, dann würzen mit Salz und Peperoncino.“ RENATE NIMTZ-KÖSTER
BEN BEHNKE / DER SPIEGEL
Wissenschaft
Trainerin Jongebloed, Sportlerin: „Die meisten meiner Klienten sind erst einmal geschockt“ SPORTMEDIZIN
Pumpmuskel im Alarmzustand Viele Freizeitsportler trainieren falsch und ineffizient. Mit neuen Messgeräten können Laien ihre Leistungen ebenso gut überprüfen wie die Profis.
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inst scharte Turnvater Jahn seine Getreuen, bekleidet mit nichts als „grau leinerner Turntracht“, in der Berliner Hasenheide um sich. Die Leibesertüchtigung stand unter dem strengen Gebot des seligen Trimm-Dich-Urahnen: „Und so soll ein Jeder nach unserm löblichen Turnbrauch sich richten und nicht neusüchtig Neuerungen aufbringen.“ Die Zeiten, in denen Hobbyathleten nur mit Hose, Leibchen und frohgemutem Geist zur Leibesertüchtigung antraten, gehören wohl bald endgültig der Vergangenheit an. Neuerdings können Freizeitsportler auf hochmoderne Analysegeräte der Leistungsdiagnostik zurückgreifen, die bislang nur Spitzensportlern in Speziallaboren zur Verfügung standen. Der Sportwissenschaftler Kuno Hottenrott von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, selbst ein passionierter Läufer, spricht bereits von einer „Zeitenwende“. 144
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Selbst Einsteiger vermögen mit ihrem Rechner jetzt präzise Diagramme ihres Fitnesszustandes zu erstellen. Alles begann vor ein paar Jahren mit vergleichsweise simplen Mikrochips, die den Kalorienverbrauch und die zurückgelegten Kilometer errechneten. Inzwischen messen sogenannte Pulsoxymeter von der Größe einer Stoppuhr permanent die Sauerstoffsättigung im Blut, die unter Belastung absackt. Unter dem von Sportmedizinern definierten Schwellenwert von 94 Prozent droht ein rapider Leistungseinbruch. Beschleunigungssensoren am Turnschuh wiederum errechnen anhand der gejoggten Kilometer die „Laufökonomie“ des Trainierenden und die Stimmigkeit seiner Schrittlänge – eine bislang nur von Profi-Marathonläufern betriebene Geheimwissenschaft. Mit den neuen, erschwinglichen Apparaten diverser Hersteller kann jeder Läufer für sich eine optimale Schrittfrequenz ermitteln – mit großem Gewinn für die eigene Ausdauer. Lange Schritte gelten dabei als schädlich, weil auf Dauer zu kraftraubend. Laufpäpste empfehlen einen verkürzten Tritt, mit dem der Läufer auch bei höherem Tempo Sauerstoff spart. Zudem werde auf diese Weise die Stoßbelastung auf Knochen und Gelenke gedämpft. In Zukunft, prophezeit Sportwissenschaftler Hottenrott, würden auch laufende Laien nichts mehr dem Zufall überlassen: „Einfach die Turnhose überziehen und losrennen, das war einmal.“ Nie zuvor sei es Freizeitaktiven möglich gewesen, das Training derart präzise auf
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ihren individuellen Leistungsstand abzustimmen. Als fragwürdig gelten unter Leistungsdiagnostikern inzwischen jene über Jahrzehnte von Ärzten postulierten groben Richtwerte, an denen sich noch immer viele Jogger orientieren – etwa die Faustformel für den maximalen Puls beim Sport: 180 minus Lebensalter. „Für manche ist dieser Wert zu niedrig, für andere hingegen schon gefährlich hoch“, kritisiert Hottenrott. Während sich die einen womöglich hoffnungslos überfordern, wundern sich andere, dass der erhoffte Trainingseffekt ausbleibt. Hottenrott: „Der Rhythmus des Herzschlags ist wie ein Fingerabdruck – einzigartig.“ So kann die Ruhefrequenz des Herzens auch bei Menschen gleichen Alters und Geschlechts erheblich voneinander abweichen. Bis zu 50 Herzschläge pro Minute können zwei beliebige, kerngesunde Vierzigjährige auseinanderliegen. Überdies ist das Herz von Frauen im Durchschnitt kleiner als das der Männer und braucht deshalb bis zu sieben Schläge mehr in der Minute. Herkömmliche Trainingspläne erhoben die Gleichmacherei zum Prinzip und zwangen alle Fitnesstreibenden zum gleichen Takt, obwohl deren mögliche Herzbelastung während des Trainings enorm variierte. Hottenrott hat deshalb komplexe Formeln entwickelt, mit denen Sportler ihre maximale Herzfrequenz am PC ausrechnen können. Eine wirklich verlässliche Zahl lässt sich jedoch nur während eines sogenannten Ausbelastungstests im Sportlabor ermitteln – für die meisten Hobbysportler ein zu hoher Aufwand. Viele Sportmediziner setzen daher inzwischen auf einen neuen Parameter, der weit mehr Aussagekraft hat als der Puls: die „Herzratenvariabilität“. Ihr Wert
Gestresste Pumpe Wenn das Herz zu gleichmäßig schlägt, sind Ärzte beunruhigt. Denn je größer die Variabilität in der Herzfrequenz, desto besser. Wie gestresst oder erholt der Pumpmuskel ist, zeigen neue Geräte in Diagrammen, die auch Laien verstehen können. 1. Harmonische Kurven Den Verlauf deuten Experten als Zeichen eines gesunden Herzens. 120 100
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2. Gestörter Rhythmus Die Linie belegt eine geringe Herzfrequenzvariabilität – und mangelnde Fitness. 120 100 80 60
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in Schlägen pro Minute Quelle: Biocomfort Diagnostics
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zeigt sehr genau, wie viel Stress auf dem Pumpmuskel lastet. Die Ärzte messen dazu die Zeit, die zwischen zwei Herzschlägen vergeht. Laien wähnen sich umso gesünder, je gleichmäßiger diese Spanne verläuft – weit gefehlt. Gut fürs Herz ist, was allgemein eher als Arrhythmie verstanden wird: Wenn zwischen den Kontraktionen beispielsweise mal 0,4 Sekunden, mal aber auch 1,1 Sekunden vergehen, diagnostizieren die Mediziner eine beruhigende Variabilität. Schlägt das Herz hingegen starr etwa alle 0,5 Sekunden, schlagen Ärzte Alarm. „Es gibt eine chinesische Spruchweisheit, die diesen Zustand gut beschreibt“,
sagt die Hamburger Sportwissenschaftlerin Ina Jongebloed: „Wenn der Herzschlag schlägt wie ein Specht, klopft der Tod an die Tür.“ Bislang war die Herzratenvariabilität nur mit einem äußerst aufwendigen Verfahren zu ermitteln. Neuerdings reichen Fitnesstrainerin Jongebloed dazu ein Ohrclip und eine Spezialsoftware. Die Messwerte werden in einem Diagramm dargestellt, das auch für Ungeübte leicht zu deuten ist. Bei optimaler Frequenz gleicht der Herzschlag einer Abfolge von Berg-undTal-Kurven. Weniger erfreulich ist jene schraffierte Linie, die sich bei dauergestressten Betroffenen zeigt, deren Herz fast immerzu im Alarmzustand pocht. „Die meisten meiner Klienten sind erst mal völlig geschockt, wenn sie das sehen“, berichtet Jongebloed. Allerdings seien dies oft nur Momentaufnahmen: Eine durchzechte Nacht etwa verschlechtert die Herzratenvariabilität ebenso wie ein nerviger Tag im Büro. Viele Freizeitsportler fragen sich, warum ihre Leistungen stagnieren, sie häufig mit lästigen Infekten kämpfen oder immerzu müde sind. Die Ursache dafür liegt auch darin, dass viele Lauf- und Gymnastikfreunde zu hart trainieren, wenn sie eigentlich einen Gang runterschalten sollten – oder ihr Potential nicht ausschöpfen, wenn sie Gas geben könnten. Können die neuen Messapparate den Hobbyathleten weiterhelfen? Hottenrott zumindest ist überzeugt, dass sich die Leistungsdiagnostik für jedermann durchsetzen wird. Wenn er recht behält, gehört die Messung von Sauerstoffsättigung und Herzratenvariabilität schon bald ebenso zur Trainingsroutine wie heute der Gang zur Toilette vor dem Lauf. FRANK THADEUSZ
Sport
Szene SCHWIMMEN
Verseuchtes Fleisch D
er Deutsche Schwimm-Verband (DSV) macht sich Sorgen um das Essen seiner Athleten bei der WM in Shanghai im Juli. Weil Fleisch in China durch den Wirkstoff Clenbuterol verunreinigt sein kann, wird die Ärztekommission die Schwimmer über Gefahren aufklären. Ein Ratschlag lautet, nie außerhalb des Teamhotels zu essen. Die DSV-Ärzte stehen mit den Hotelköchen in Kontakt, um die Nahrungsmittelketten bestmöglich nachzuvollziehen, auch der Weltverband Fina überprüft die Lebensmittelzubereitung in der Unterkunft. Auf Fleisch will die Mannschaft trotz des Risikos nicht verzichten. „Ein Steak gehört dazu. Ich kann Paul Biedermann nicht sagen, iss vegetarisch, aber schwimm einen Weltrekord“, sagt DSV-Leistungssportdirektor Lutz Buschkow. Clenbuterol wird in China illegal in der Tiermast eingesetzt und fördert das Muskelwachstum. Die geringste Menge im Körper von Sportlern gilt als Dopingvergehen. Buschkow fordert von der Welt-Anti-Doping-Agentur „einen Grenzwert, um Sportler zu schützen, die Clenbuterol unbewusst über die Nahrung aufgenommen haben“. Der Tischtennisspieler Dimitrij Ovtcharov wurde 2010 positiv auf Clenbuterol getestet und freigesprochen, weil er in der Nähe von Profisportler Shanghai verunreinigtes Fleisch gegessen sind seit März haben soll. Das Kölner Anti-Doping-La2010 bei bor hat jüngst 28 Privatpersonen nach Dopingproben ihrer Rückkehr aus China auf Clenbutepositiv auf rol getestet. In 22 Proben fanden die ForClenbuterol gescher den Wirkstoff in einer „für Sportler testet worden. problematischen Konzentration“.
„In zwei, drei Jahren in der Bundesliga“ Der jordanische Multimillionär Hasan Ismaik, 34, über sein Investment beim finanziell angeschlagenen Zweitligisten TSV 1860 München SPIEGEL: Sie sind der erste ausländische Geschäftsmann, der in großem Stil bei einem deutschen Proficlub einsteigt. Was versprechen Sie sich davon, einen Zweitligisten mit 18 Millionen Euro vor der Insolvenz zu retten? Ismaik: Deutschland ist ein neues Feld für mich. Es geht mir darum, das Vertrauen des Marktes zu gewinnen, auch für künftige Investments. In Kürze möchte ich einen Fonds über 200 Millionen Euro auflegen. Der soll sich ausschließlich auf Firmenkäufe und Beteiligungen hierzulande konzentrieren und wird deshalb auch aus Deutschland heraus geführt. Mein Engagement
bei 1860 soll zeigen, dass ich ein seriöser Geschäftsmann bin, der langfristig denkt. Der Verein hat enormes Potential. Wir wollen in zwei, spätestens drei Jahren wieder in der ersten Bundesliga sein. SPIEGEL: Sie übernehmen 49 Prozent der Kommanditgesellschaftsanteile des Clubs. Die Deutsche Fußball Liga muss noch die Lizenz erteilen. Haben Sie auch vor, sich in die sportlichen Entscheidungen einzumischen?
Ismaik D E R
Ismaik: Ich werde keinen Einfluss neh-
RAUCHENSTEINER/AUGENKLICK/PICTURE-ALLIANCE/DPA
INVESTOREN
Weltmeister Biedermann
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men auf das Tagesgeschäft und die sportlichen Belange. SPIEGEL: Wie wollen Sie einem maroden Verein wie 1860 München wirtschaftlich wieder auf die Beine helfen? Ismaik: Die Arbeit fängt gerade erst an. Auf jeden Fall werden Vermarktung und das Merchandising neu strukturiert und gestärkt, denn das ist heutzutage eine der Grundvoraussetzungen für wirtschaftlichen Erfolg. SPIEGEL: Leidenschaftliche 1860-Fans sind dagegen, dass ein arabischer Millionär in ihren Verein einsteigt. Ismaik: Ich habe bisher durchweg hohe Zustimmung erfahren. Zweifler gibt es immer. Was wäre denn die Alternative gewesen? Hätten es diese Leute besser mit ihrem Gewissen vereinbaren können, wenn ihr Verein insolvent gegangen wäre? Kein ernsthafter Investor, egal ob Deutscher, Araber oder Russe, schmeißt sein Geld aus dem Fenster raus. Am Erfolg von 1860 München sind wir alle interessiert. Das Projekt darf nicht scheitern. 147
ROBERT SCHLESINGER / DPA
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MOHAMED FARAG / DPA (L.); VALERIANO DIDOMENICO / WITTERS (O.)
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Fifa-Präsident Blatter, jubelnde Katarer nach Zuschlag der WM 2022: Machtmensch aus den Bergen
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FUSSBALL
Tiefe Taschen Bei ihrem Kongress gab die Fifa ein desolates Bild ab, das Milliardenspiel mit der WM hat den Weltverband komplett korrumpiert. Solange der wiedergewählte Präsident Joseph Blatter in Zürich regiert, ist eine Reform des Systems aus eigener Kraft eine Illusion.
A
n gewöhnlichen Arbeitstagen in Zürich pflegt Joseph Blatter, für seine Freunde nur der Sepp, ein Ritual. Um sechs Uhr in der Früh, das vertraute der Präsident des Weltfußballverbands Fifa einer Schweizer Klatschreporterin an, wache er auf, auch ohne Wecker. Dann tanzt der kleingewachsene Mann aus dem Kanton Wallis ein wenig durch seine Wohnung. Er sei „ein rhythmischer Mensch“, verriet Blatter, „ich bewege mich, wann immer ich Musik höre“. Ein paar Klimmzüge an der Reckstange, ein paar Minuten auf dem Hometrainer, eine Tasse Kaffee, um halb sieben die Nachrichten im Radio, dann wartet sein Chauffeur vor der Tür und fährt den 75-Jährigen in zehn Minuten ins Hauptquartier der Fifa. Um sieben sitzt Blatter im Büro, immer als einer der Ersten. So hat er es gern, übersichtlich und nach Plan. Blatter ist ein Kontrollfetischist. Auch deshalb lässt sich sagen, dass die vorige Woche lange nicht nach Blatters Woche aussah. Denn vor und während des 61. Fifa-Kongresses, der Dienstag und Mittwoch im Zürcher Hallenstadion über die Bühne ging, schien ihm alles zu entgleiten, was er in mehr als 36 Jahren Funktionärsleben um sich herum errichtet hatte; einerseits ein Geflecht getreuer Gefolgsleute in einem Verband, der unter seiner Leitung zu einer Art Weltregierung des Fußballs aufgestiegen ist; andererseits sein Führungsanspruch als Präsident der Fifa, der er seit 1998 vorsteht. Am Ende hat der Machtmensch aus den Bergen seine Karriere doch noch gerettet. Nach dem Rückzug des Katarers Mohamed Bin Hammam wurde Verbandsboss Blatter ohne Gegenkandidaten mit 186 von 203 Stimmen für vier weitere Jahre in seinem Amt bestätigt. Die Institution Fifa allerdings, nach Blatters Verständnis für die Bewahrung des Weltfriedens mindestens so bedeutsam wie die Vereinten Nationen, hat in Zürich ein desolates Bild abgegeben. Eine Garde alter Männer bestätigte innerhalb weniger Tage sämtliche Vorbehalte gegen einen Verband, der als Monopolist mit seinem einzig bedeutsamen Gut, der Weltmeisterschaft, jährlich über eine Milliarde Dollar umsetzt, dreistellige Millionengewinne macht und sich außer-
halb der „Fußballfamilie“ nichts und niemandem verpflichtet zu fühlen scheint: keinem Strafrecht, keinem Steuerrecht, keiner Geschäftsethik. Und immer wieder geht es um denselben Verdacht: Bestechung oder Bestechlichkeit. Am vorvergangenen Samstag erlebte der Fußball einen Moment, für den die Fans dieses Spiel lieben. Im WembleyStadion gewann der FC Barcelona mit der besten Vereinsmannschaft der Welt das Champions-League-Finale gegen
Mutmaßliches Bestechungsgeld*
„Es tut weh, das zurückzugeben“
Manchester United. Nicht der Kapitän Carles Puyol nahm den Pokal entgegen, sondern der Verteidiger Eric Abidal, der vor wenigen Wochen noch wegen eines Krebsgeschwürs im Krankenhaus lag. Fifa-Präsident Blatter war nicht in London. Er hatte mit der anderen Seite des Fußballs zu tun. Die Ethikkommission des Weltverbands hatte Blatter sowie die Fifa-Funktionäre Jack Warner aus Trinidad und Tobago und den Katarer Mohamed Bin Hammam einbestellt. Die Vorwürfe waren gravierend. Bin Hammam, bis dahin einziger Herausforderer Blatters im Wahlkampf um das Präsidentenamt, soll versucht haben, mit einer Million Dollar die Stimmen karibischer Fifa-Mitglieder für seine Wahl zu kaufen; Warner soll Bin * Angebliches Beweisfoto eines Delegierten des Fußballverbands der Bahamas nach Übergabe von 40 000 Dollar in Port of Spain, Trinidad und Tobago, am 10. Mai nach einem Wahlkampfauftritt des damaligen Fifa-Präsidentschaftskandidaten Mohamed Bin Hammam. D E R
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Hammam dabei unterstützt haben; Blatter wiederum habe von der Verschwörung gewusst, aber nichts unternommen. Der Vorgang ist in einem 47-seitigen Dossier, das der Fifa-Ethikkommission vorlag, gut dokumentiert. Zusammengestellt hat es eine Rechtsanwaltskanzlei aus Chicago, Auftraggeber war Fifa-Funktionär Chuck Blazer, ein US-Amerikaner. Die Vereinigten Staaten waren im Dezember bei der Vergabe der WM 2022 an Katar gescheitert. Demnach funktioniert Stimmenkauf im Weltfußballverband genauso, wie man den Plot in einem B-Movie erwarten würde: Geschmiert wird mit Dollarbündeln im Hinterzimmer eines karibischen Hotels, verbunden mit der Aufforderung zur Omertà. Zum Schweigen. Am 10. Mai, so steht es in den Unterlagen, hielt Blatter-Herausforderer Bin Hammam im Hotel Hyatt Regency in Port of Spain, der Hauptstadt von Warners Heimat Trinidad und Tobago, vor Vertretern von 25 Verbänden der karibischen Fußballunion (CFU) eine Wahlkampfrede. Die dauerte 40 Minuten. Anschließend soll Warner einen Verbandsvertreter nach dem anderen in einen Konferenzraum geführt haben, wo jedem ein Umschlag überreicht wurde – angeblich ein „Geschenk“ der CFU, nach Aktenlage aber Geld, das Bin Hammam bei seinem Besuch mitgebracht haben soll. Drei Delegierte, so heißt es in den Unterlagen, lehnten dankend ab. Ein Abgesandter der Bahamas namens Frederick L. nahm das Geld zunächst an. Mit der Frau, die es ihm aushändigte, soll es zu folgendem Wortwechsel gekommen sein: „He, ich muss mit 40 000 Dollar durch die Zollkontrolle.“ – „Überweise es dir selbst.“ – „Machst du Witze?“ Dann schickte L. seinem Verbandspräsidenten eine Kurznachricht: „Ruf mich dringend an. Viele der Kerle nehmen Geld. Es ist traurig.“ Der Fußballboss der Bahamas antwortete L.: „Ich bin enttäuscht, aber nicht überrascht. Es ist wichtig, dass du deine Integrität bewahrst.“– „Soll ich ein Foto machen?“– „Natürlich. Ich habe noch nie so viel Geld gesehen. Ich muss wissen, wie das aussieht.“ So kam es zu dem Bild, das sich in der Akte findet und das vier Bündel zu je149
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Es war ein pikanter Vorgang. Auch er weils hundert 100-Dollar-Noten zeigt. doch sportpolitisch ist die Region höchst Nachdem er auf seinem Hotelzimmer das bedeutsam – die Concacaf stellt beim blieb ohne Folgen. Dass sich die Fifa von Beweisfoto geschossen hatte, reichte Weltfußballverband 35 von 208 Delegier- innen heraus erneuert, das war die BotL. den Umschlag samt Inhalt zurück. Sei- ten, selbst die Turks- und Caicosinseln schaft der turbulenten Tage in Zürich, nem Präsidenten teilte er mit: „Es tut haben bei der Wahl des Fifa-Präsidenten scheint ausgeschlossen. weh, das zurückzugeben. Aber es ist die eine Stimme. Das Internationale Olympische Komitee, Und so brachte es Warner, auch „Jack die Weltregierung des Sports, verabschierichtige Entscheidung.“ Die Ethikkommission schloss Warner the Ripper“ genannt, in seinem Ehrenamt dete sich erst im Jahr 2001 nach einem mound Bin Hammam, die sich in der Affäre auf wundersame Weise zum Multimillio- numentalen Korruptionsskandal um die keiner Schuld bewusst sind, vom Kon- när. Auch als führender Kopf der Partei Vergabe der Winterspiele an Salt Lake City gress aus, beide wurden vorerst für United National Congress versteht er sich von seinem Alleinherrscher Juan Antonio 30 Tage von ihren Ämtern suspendiert; offensichtlich darauf, Mehrheiten zu be- Samaranch. Er hatte als treibende Kraft Blatter hingegen sei unschuldig, befand schaffen. In einer Depesche an das US- die Kommerzialisierung Olympias seit Außenministerium beschreibt ein Infor- Beginn der achtziger Jahre verkörpert, er das Gremium. Bin Hammam ist blamiert. Warner ein mant Warner als Mann mit den „tiefen stand wie kein Zweiter für das rasant gewenig zurechtgestutzt. Ansonsten endete Taschen“. wachsene und korruptionsanfällige System. Warner war jahrelang ein enger Wegder brisante Fall wie so viele in der Fifa: Der Reformprozess dauerte Jahre. HeuDer Präsident bleibt unangetastet. Auch gefährte Blatters, und häufig hat er sich te räumen selbst Kritiker ein, dass das der deutsche Fußballboss Theo Zwanziger damit gebrüstet, bei dessen Wahlen seit globale Geschäft mit den fünf Ringen so stimmte am Ende wieder für den Schwei- 1998 für die nötigen Stimmen gesorgt zu transparent ist wie niemals zuvor. zer. Niemand stand bei dem absurden haben. „Ich habe Herrn Blatter immer geIn der Fifa fehlt es an Figuren, die eine sagt: Wann immer er sich im Wahlkampf Erneuerung durchboxen würden. Die Kongress in Zürich gegen Blatter auf. Außer den Schotten und EnglänOrganisation hat daran auch kein dern. Der englische Verband (FA) Interesse. Die Geschäfte laufen ist beleidigt, weil nicht England, prächtig, rund 1,3 Milliarden Dollar sondern Russland den Zuschlag für Umsatz machte der Weltverband die WM 2018 bekam. Seit Wochen im vergangenen Jahr. erheben britische Funktionäre und Von außen kommt kaum Druck. Politiker Anschuldigungen gegen Sponsoren wie Coca-Cola oder die Fifa. In Zürich forderte FAAdidas ist der Fußball als ReklameChef David Bernstein, dass die fläche zu kostbar, als dass sie sich Wahl des Fifa-Präsidenten verschomit der Fifa anlegen würden. Das ben werden sollte. Schweizer Strafgesetzbuch verBernstein wurde vom Kongress schont korrupte Mitglieder internaheruntergeputzt wie auch die kritionaler Sportorganisationen, die tische britische Presse. „Wir lassen wie die Fifa ihren Hauptsitz in dem uns von diesen Leuten nicht mehr Alpenland haben. Die Stadt Zürich runtermachen!“, rief der spanische stellt das Steuerprivileg der Fifa bisFifa-Vizepräsident Angel María Villang nicht in Frage. Im vorigen Jahr lar Llona nach einer Lobeshymne entrichtete der Weltfußballverband auf Blatter in die Halle. Die Delegerade einmal eine Million Frangierten applaudierten heftig. ken an Abgaben – bei einem GeBlatter wird weiterregieren. Die winn von 191 Millionen Franken. Tage in Zürich waren hysterisches Fifa-Funktionäre Warner, Bin Hammam: „Treuer Diener“ Nachdem Blatter vorigen MittTheater. Einmal rannte eine Hunwoch gewählt wurde, umarmte er dertschaft Journalisten zum Luxushotel befindet, muss er seine kostbare Zeit nicht zuerst sein Enkelkind und dann seine Dolder Grand hoch über dem Zürichsee, damit verschwenden, in der Karibik um Tochter. Anschließend marschierte er beweil sich die Nachricht verbreitet hatte, Stimmen zu kämpfen. Die Concacaf hat schwingt ans Rednerpult und hielt einen ein früherer Fifa-Mann wolle über 35 Stimmen, ich garantiere ihm 35 Stim- seiner pathetischen Vorträge. Schmiergeldzahlungen in Millionenhöhe men.“ Er weiß viel über Blatter. Zuvor hatten sie auch Jack Warner wieAm Tag nach seiner Degradierung der eingefangen. In einem Brief an die bei der letzten WM-Vergabe auspacken. Es gab keine Pressekonferenz und keine durch die Ethikkommission stand Warner Mitglieder der karibischen Verbände bat im Erdgeschoss des Zürcher Savoy-Hotels der suspendierte Fifa-Mann, keinen weiEnthüllung. Der Termin war ein Bluff. Aber das System Fifa hat Risse be- am Paradeplatz, ein kleiner, sehniger teren Ärger zu machen. Mann mit Halbglatze, seine Augen waren kommen. „Ich, Jack Warner, ein treuer Diener, Jack Warner, 68, ist der Prototyp des gerötet, seine Gesichtszüge hart. Blatter der an die Grundsätze dieses wunderFifa-Paten. Seit fast 30 Jahren sitzt der müsse „gestoppt werden“, sagte Warner. schönen Spiels glaubt, bitte Sie, meine frühere Geschichtslehrer aus Trinidad Seine Stimme überschlug sich fast. Brüder und Schwestern, demütig, die EinWarner präsentierte eine Mail, die ihm leitung einer Protestaktion beim Fifaund Tobago in der Exekutive des Weltverbands, seit 1990 ist er Präsident des Jérôme Valcke, der Generalsekretär der Kongress zu unterlassen. Bei unserem nord-, zentralamerikanischen und karibi- Fifa, wenige Tage zuvor geschrieben hat- letzten Treffen haben wir vereinbart, als schen Dachverbands Concacaf. Zudem te. Darin erweckt Valcke den Eindruck, eine Union den Amtsinhaber Blatter bei hat er in seiner Heimat eine vergleichs- Katar hätte Geld bezahlt, um den Zu- seiner Mission, Präsident zu bleiben, zu weise steile politische Karriere gemacht – schlag für die WM 2022 zu bekommen. unterstützen. Ich möchte Ihnen versiDer Inhalt der Mail ging durch die Welt- chern, dass sich daran nichts geändert Warner ist stellvertretender Premierminister sowie Arbeits- und Verkehrsminis- presse. Valcke beschwichtigte. Es handele hat.“ sich um ein privates Schreiben, deshalb ter von Trinidad und Tobago. Es wird nicht lange dauern, bis Warner Fußballerisch ist der größte Teil von der saloppe Ton. Von Schmiergeldzahlun- wieder fest zur Familie gehört. Warners Einflussbereich unterentwickelt, gen Katars könne keine Rede sein. JENS WEINREICH, MICHAEL WULZINGER 150
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Fußballprofis in Italien*: „Die Beweise sind schwerwiegend und unwiderlegbar“
lang ungeahntem Ausmaß. Zu den 16 Verhafteten, darunter Sportmanager und aktive Profifußballer, gehört auch der ehemalige Nationalspieler Guiseppe Signori, 43. Sein Anwalt bestreitet dessen Tatbeteiligung. Signori ist ein Idol in seiner Heimat. Er spielte unter anderem für Lazio Rom. 188 Tore erzielte der für seinen Fintenreichtum bekannte Stürmer in Italiens Fußball wird von einem der Serie A, der höchsten Spielklasse in Manipulationsskandal erschüttert. Italien. Erstligaspiele sollen verschoben Die Ermittler gehen davon aus, dass „Beppe-Gol“, wie der einstige Torjäger worden sein, auch ein früherer von den Fans genannt wurde, zu den Nationalspieler wurde verhaftet. Schlüsselfiguren der Bande gehört. Er sei n der Szene ahnten sie es schon lange: ein „zentrales Element“, sagt der leitende dass da was nicht stimmt im Fußball Staatsanwalt Guido Salvini. Mindestens 18 Spiele sollen die Zocker in Italien. Im Berliner „Café King“, der einstigen Schaltzentrale des Wettbe- verschoben haben, darunter auch Partien trügers Ante Sapina, sprachen die Zocker schon vor Monaten offen über die auffälligen Quotenverläufe bei Spielen der italienischen Profiligen. Eine große Sache laufe da, eine ganz große Sache, hieß es. Die Zocker aus Berlin lagen offenbar richtig. Bei einer landesweiten Razzia hob die Staatsanwaltschaft Cremona vergangenen Mittwoch eine 44-köpfige Bande von mutmaßlichen Wettbetrügern aus. Der internationale Fußball wird abermals von einem Skandal erschüttert – mit bisW E T T M A N I P U L AT I O N
Schlafmittel in der Halbzeit
MILESTONE MEDIA / IMAGO
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* In der Partie Juventus Turin gegen Atalanta Bergamo im März 2010.
Ex-Nationalspieler Signori
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des Erstliga-Aufsteigers Atalanta Bergamo. Allein Signori, der während seiner Zeit als Profi gern am Roulettetisch saß oder Karten spielte, soll Hunderttausende Euro auf diverse manipulierte Partien gesetzt haben. Die Bande agierte offenbar ohne Hemmungen. So soll der Torhüter des Drittliga-Clubs US Cremonese im Spiel gegen Paganese Calcio seinen eigenen Mannschaftskameraden Schlafmittel mit dem Wirkstoff Lormetazepam in die Flaschen mit den isotonischen Getränken gekippt haben. Schon während der Partie meldeten fünf Kicker Beschwerden wie Übelkeit und Müdigkeit. Ein Profi schlief nach dem Spiel auf dem Heimweg am Steuer seines Autos ein und verursachte einen Unfall. Verantwortliche in Cremonese ahnten den Betrug. Der Club meldete sich bei der Polizei. Dies war vor einem halben Jahr der Auslöser für die Staatsanwaltschaft, verdeckte Ermittlungen einzuleiten. „Die Beweise sind schwerwiegend und unwiderlegbar“, sagt der Leiter des Sondereinsatzkommandos, Sergio Lo Presti. Auch drei Erstliga-Schiedsrichter sollen in die Verschwörung verstrickt sein. Die Ermittler untersuchen derzeit Spiele, die von den Referees geleitet wurden. Auf den italienischen Fußball kommen mal wieder unruhige Zeiten zu. Schon fordern aufgebrachte Fans, der Aufstieg von Atalanta Bergamo müsse rückgängig gemacht werden. Dabei hatten sich die Tifosi gerade erst vom sogenannten Calciopoli-Skandal erholt. Funktionäre von fünf Teams der Serie A hatten im Jahr 2006 gestanden, jahrelang Schiedsrichter manipuliert zu haben. Der ehemalige Champions-LeagueSieger Juventus Turin wurde in die zweite Liga strafversetzt. Während damals dreiste Vereinspatrone die Strippenzieher waren, gibt es nun Vermutungen, die albanische Mafia könne hinter dem Geschäft mit den manipulierten Spielern stecken. Auch die Rolle des italienischen Verbandes FIGC wird hinterfragt, der nie eigene Ermittlungen anschob, obwohl in Zockerkreisen schon lange die Gerüchteküche brodelte. So auch im April beim Spiel Chievo Verona gegen Sampdoria Genua. Viele führende Wettanbieter boten die Partie überhaupt nicht an. Andere setzten die Quote für ein Unentschieden von marktüblichen 3,3 Punkten auf 1,5 Punkte herunter. Die Einträge in einschlägigen WebForen überschlugen sich wegen des Absturzes. Das Spiel endete 0:0. Der ehemalige Volksheld Signori schweigt bislang zu den Anschuldigungen. Bei seiner Verhaftung rief er nur in die Mikrofone der Reporter: „Habt Mitleid!“ RAFAEL BUSCHMANN, MIKE GLINDMEIER 151
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Berufswunsch: Promi – Berühmt werden ist alles
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Das Wort Prominenz hat einen Bedeutungswandel erlebt: Heute reicht es schon, irgendwie bekannt zu sein für irgendetwas, und man gehört dazu, irgendwie. Inzwischen tauchen auf Filmbällen oder ähnlichen Events auch immer mehr Menschen auf – etwa die Millionärsgattin Gisela
Angela Merkel, Barack Obama: Beziehung ohne Begeisterung
Muth in Abendgarderobe
POLITIK | Außen Ehre, innen Leere
NETZWELT | Apfel fliegt in Wolke
Muth –, die sich so lange vor den Kameras präsentieren, bis man sie wahrnimmt. Doch wer so fest an sein Recht auf Ruhm glaubt, braucht Unterstützung von Fotografen, Klatschreportern, Casting-Agenturen.
Am Montag stellt Apple neue Software und Dienste für das Internet vor – vermutlich auch ein Cloud-Computing-Angebot für jedermann. Ortstermin in San Francisco.
SAMSTAG, 11. 6., 22.15 – 0.10 UHR | VOX DIE SAMSTAGSDOKUMENTATION
Präsident Obama verleiht Kanzlerin Merkel den höchsten zivilen Orden der USA – doch das Verhältnis der beiden gilt als angespannt. SPIEGEL ONLINE ist beim Besuch in Washington dabei.
PANORAMA | Schöner glauben
Nachhilfe beim Therapeuten – Wenn das Haustier Probleme hat
Der Dorfkirche im baden-württembergischen Goldscheuer drohte die Schließung. Ein junger Künstler baut den Sakralraum zu einem Kunstobjekt um und erschließt vielen Menschen so einen neuen Zugang zum Glauben.
Wenn die Katze nicht stubenrein ist, der Hund sich in Herrchens Hand verbeißt oder das Pferd sich nicht sat-
KULTUR | Begnadeter Anfänger Früher drehte er Musikvideos für Moby und Air, heute tritt er in Woody Allens Fußstapfen: Interview mit US-Regisseur Mike Mills über seinen autobiografischen Film „Beginners“.
SPORT | Siegen vor der Sommerpause SPIEGEL TV
Vor dem Urlaub muss die deutsche Nationalmannschaft im EM-Qualifikationsspiel gegen Aserbaidschan antreten. Liveticker und Spielanalysen aus Baku. Pferdeheiler Hanken
| Geraubte Kinder Im besetzten Osten fahndeten die Nazis nach „rassisch wertvollem“ Zuwachs. Tausende Jungen und Mädchen wurden vermessen, verschleppt und deutschen Pflegeeltern zugeteilt – an ihrer zerbrochenen Kindheit leiden die meisten noch heute.
teln lässt, ist das Ungemach für die Besitzer groß. Hundeschulen, Tierpsychologen oder Tiertherapeuten wie der Ostfriese Tamme Hanken haben Hochkonjunktur. Die Experten bieten die unterschiedlichsten Methoden an, um das Zusammenleben zwischen Mensch und Kreatur wieder zu harmonisieren. In einem sind sich die meisten von ihnen allerdings einig: Das Problem ist immer der Mensch. SPIEGEL TV MAGAZIN
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Entfällt wegen des Pfingst-Sonderprogramms. 153
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MISCHA RICHTER / XL
Gil Scott-Heron, 62. In seinem Leben spiegeln sich Triumph und Tragödie des schwarzen Amerika. Aufgewachsen in einer Kleinstadt in Tennessee und in New York, brachte Gil Scott-Heron auf seinen ersten Platten in den frühen Siebzigern Jazz und Funk, Poesie und Politik, die Kunst der Performance und die Weisheit der Straße zusammen. „The Revolution Will Not Be Televised“ hieß sein berühmtestes Stück, es war ein Song gegen die politische Passivität. Mit seinem nervösen Sprechgesang nahm er den Sprachgestus des Rap vorweg, als schwarzer Künstler und Revolutionär erfand er ein neues Bild afroamerikanischer Männlichkeit. Aber schon in seinem Junkie-Song „Home Is Where the Hatred Is“ deutete sich an, worüber Gil Scott-Heron stolpern sollte: seine Drogenabhängigkeit. Während die Rapper ab Mitte der Achtziger begannen, sich auf seine Musik zu berufen, lebte Scott-Heron monatelang in Crack-Häusern und landete mehrfach wegen Kokainbesitzes im Gefängnis. Gil Scott-Heron starb am 27. Mai in New York.
FRANK MÄCHLER / DPA
Josef von Ferenczy, 92. Der gebürtige Ungar lebte in den deutschen Wirtschaftswunderjahren in München als eine Art Vermarktungsgenie, für das es damals noch keine Berufsbezeichnung gab. So erfand er den Begriff selbst und wurde Münchens erster Medienmanager. Der Gentleman brachte Politiker und Künstler zusammen, führte Schreiber zu Zeitungen und Verlagen. Ferenczy war der Macher von Bestsellerautoren wie Oswalt Kolle oder Heinz G. Konsalik. Der Agent wurde reich, viele seiner Autoren mit ihm wohlhabend. Doch der Glamour des Traumfabrikanten täuschte vielleicht über einiges Unglück hinweg. In den neunziger Jahren starben seine beiden Söhne. Sein Imperium, nun ohne Nachfolger, zerbrach an Schulden. Josef von Ferenczy starb am 29. Mai in Grünwald bei München. Sergej Bagapsch, 62. Der Präsident Abchasiens war ein besonnener Politiker in der armen, aber an Hitzköpfen reichen Region des Kaukasus. Überraschend für die Welt erreichte er im August 2008 nach 154
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dem russisch-georgischen Fünf-Tage-Krieg die Anerkennung seiner von Georgien abgespaltenen Republik durch Russland. Ins Amt gewählt im Januar 2005, gegen den Willen des Kreml, bemühte sich der studierte Agronom und ehemalige sowjetische Parteifunktionär, einen Krieg mit Georgien zu vermeiden. So wurde er im Juli 2008 Gesprächspartner des damaligen deutschen Außenministers Frank-Walter Steinmeier. Dessen Reise zu einer Friedensmission nach Abchasien empfand Bagapsch als „sehr beeindruckend“. Sergej Bagapsch starb am 29. Mai in Moskau.
Jack Kevorkian, 83. Seinen Vorsatz gab er am Ende auf, ohne jedoch seine Überzeugungen zu revidieren. Er wolle nun nie mehr einem Menschen zum Tod verhelfen, sagte der US-Pathologe nach seiner Entlassung aus der Haft, die von maximal 25 Jahren auf 8 Jahre verkürzt worden war. Kevorkian war 1999 des Mordes schuldig gesprochen worden, nachdem er einem unheilbar kranken Mann beim Suizid geholfen und dies auch öffentlich gemacht hatte – das Video lief im USFernsehen. Der Mediziner war ein vehementer Verfechter des Rechts auf ein selbstbestimmtes Lebensende, etwa 130 Menschen assistierte er in den neunziger Jahren beim Sterben. In den USA, wo die Sterbehilfe nur in zwei Bundesstaaten erlaubt ist, löste „Dr. Death“ eine heftige öffentliche Debatte aus. 2010 erschien der TV-Film „You Don’t Know Jack“ mit Al Pacino in der Hauptrolle. Jack Kevorkian starb am 3. Juni bei Detroit. MICHAEL LOCCISANO / GETTY IMAGES
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Hans Keilson, 101. Allein durch sein langes und aktives Leben schlug der Schriftsteller und Psychoanalytiker den Zeitläuften ein Schnippchen: Der jüdische Kaufmannssohn aus Bad Freienwalde bei Berlin konnte 1933 noch sein erstes Buch veröffentlichen, „Das Leben geht weiter“. Ein Jahr später wurde es von den Nazis verboten. Er entging der Deportation durch die Emigration nach Holland. Seine Eltern jedoch starben in Auschwitz, ein Verlust, der Keilson für immer prägen sollte und den er symbolisch im 1959 erschienenen Roman „Tod des Widersachers“ aufarbeitete. Nach dem Krieg kümmerte er sich als Arzt um traumatisierte jüdische Kinder, schrieb weiter Prosa und Lyrik und promovierte im Alter von 70 Jahren. Erst spät wurde ihm literarischer Ruhm zuteil, vor allem dank begeisterter Rezensionen in den USA. Hans Keilson starb am 31. Mai in Hilversum.
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Personalien fen und sich selbst fotografiert. Er sei – bei seiner Ehre – „kein Frauenschläger“, vielmehr habe seine Gattin die Angewohnheit, eher ihre Fäuste einzusetzen, als Dinge auszudiskutieren. Die beiden waren in ihrer zumeist traditionellen nigerianischen Tracht gerngesehene Gäste auf den Empfängen von Nairobi. Damit dürfte es nun wohl vorbei sein.
Peter Paul Gantzer, 72, bayerischer SPDLandtagsabgeordneter und Oberst der Reserve, gelangte zu ungewöhnlichen militärischen Ehren. Der Politiker, einst Kommandeur eines Jägerregiments der Bundeswehr, ist seit neuestem Träger des russischen Fallschirmjäger-Abzeichens und firmiert als „Verdienter Fallschirmjäger“ der Russischen Föderation. Um den in Deutschland gemeinhin unbekannten Titel zu erringen, schreckte der Sozialdemokrat nicht davor zurück, höchste politische Kreise zu aktivieren. Gantzer schrieb an den russischen Ministerpräsidenten Wladimir Putin, um sich 66 Jahre nach Kriegsende aus einem Flugzeug des einstigen Feindes stürzen zu können. Putin gewährte dem Deutschen sieben Tage bei der 76. Luftsturmgardedivision Pskow im Nordwesten des Landes. Gantzer sprang zweimal und schwebte inmitten einer russischen Kommandoeinheit zu Boden. Den Orden will der Bayer künftig an seiner Uniform tragen – unter dem deutschen Fallschirmjäger-Abzeichen.
JACK OWUOR
Jean-Vincent Placé, 43, Spitzenpolitiker
Chijioke, Tess Wigwe
Chijioke Wigwe, 60, Botschafter Nigerias in der kenianischen Hauptstadt Nairobi, hat womöglich zugeschlagen – und nun ein Problem. Nachdem sich seine Frau Tess, mit der er seit 33 Jahren verheiratet ist, mit eindrücklichen Fotos ihrer offenbar schweren Gesichtsverletzungen einer kenianischen Tageszeitung anvertraut hatte, wurde er umgehend nach Hause zurückbeordert. Der kenianische Polizeichef hatte die nigerianische Regierung bereits um Aufhebung von Wigwes Immunität gebeten. In einer langatmigen Erklärung räumte der Karrierediplomat einen Streit und eine „Rauferei“ mit seiner Frau bei einem Abendessen in seiner Residenz ein. Sie sei jedoch keineswegs schwer verletzt gewesen, sondern habe nach dem Streit nach einer Kamera gegrif-
der französischen Grünen, wurde in Südkorea unvermutet zum Star. Das liegt an seiner Herkunft: Der untypische Grüne, der am liebsten Anzug und Krawatte trägt und von seinen Gegnern gehässig „der Chinese“ oder „Toshiba“ genannt wird, war nach der Geburt in Seoul 1968 von seinen Eltern verlassen worden. Sieben Jahre lang lebte er in einem Waisenhaus, bis ein französisches Paar aus der Normandie ihn via Katalog als Adoptivkind auswählte. Die Tageszeitung „Chosun Ildo“ machte die dramatische Lebensgeschichte nun in Südkorea publik und startete eine Suchaktion nach den biologischen Eltern des Polit-Aufsteigers. „Ich bin nicht sicher, ob das alles richtig ist“, sagte Placé zunächst ein wenig befremdet über das plötzliche Interesse an seiner Person. Als ihn aber Staatspräsident Lee Myung Bak offiziell zu einem Besuch einlud, wurde er doch ein wenig stolz: „Es ist berührend, wenn man ein Waisenhaus verlässt und dann – 36 Jahre später – auf persönliche Einladung des Staatschefs wieder zurückkehrt.“
Gantzer (l.)
JIM LO SCALZO / PICTURE-ALLIANCE / DPA
Sarah Palin, 47, konservative US-Poli-
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tikerin, gibt mit ihrer aktuellen Imagekampagne Rätsel auf. Am vorvergangenen Wochenende startete die potentielle Präsidentschaftsanwärterin ihre „One Nation“-Tour, eine Reise durch weite Teile der USA. Erste Station war Washington D. C., wo sich Palin ohne Einladung und ohne Vorankündigung dem traditionellen Motorradkorso der Kriegsveteranen anlässlich des Memorial Day anschloss. Der nationale Feiertag zum Gedenken amerikanischer Kriegsopfer brachte wie immer Tausende auf die Straßen der Hauptstadt. In schwarzer Lederjacke ließ sich Palin auf einer Harley-Davidson durch die Menge kutschieren. Ein 64-jähriger Veteran bemerkte angesäuert, die Aktion sei respektlos. Die Veranstalter sorgten dafür, dass der selbstgeladene Gast keine Gelegenheit für eine Ansprache erhielt. Freundlicher gesinnte Zuschauer riefen „President Palin!“. Noch hat die Politikerin allerdings nicht verraten, ob sie sich um das höchste USAmt bewerben will.
Carl XVI. Gustaf, 65,
RIKSBANKEN
wegen angeblicher Sex-Eskapaden in Erklärungsnot geratener schwedischer König, kann sich über einen Mangel an Spott nicht beklagen. Der Vorsitzende des mo- 10-Kronen-Münze narchiekritischen Republikanischen Vereins, Peter Althin, schlug der Reichsbank in einem Brief vor, man möge das Konterfei von Durchlaucht als Motiv auf schwedischen Münzen ersetzen – am liebsten durch einen Elch. Der „König des Waldes“ würde sich auf den Geldstücken sicher besser machen als Carl Gustaf, so Althin.
ELLIS PARRINDER / BAFTA / CAMERA PRESS
Nicolas Sarkozy, 56, französischer Staats-
Kate Winslet, 35, Oscar-preisgekrönte Hollywood-Aktrice, singt ein Loblied auf den Fernsehfilm. Die Dreharbeiten für den Fünfteiler „Mildred Pierce“ nach dem gleichnamigen Roman von James M. Cain seien „sehr viel intensiver“ gewesen als alle Kinofilme, die sie je gemacht habe, sagte Winslet der „Sunday Times“. Die von den Feuilletons hochgelobte Neuverfilmung des Dramas, das Joan Crawford in der Titelrolle 1946 den Oscar bescherte, feierte in den USA bereits im März Premiere. Ende Juni kommt sie in Großbritannien auf die Bildschirme. Winslet werden für die Verkörperung einer alleinerziehenden Mutter in den wirtschaftlich harten Zeiten der dreißiger Jahre in den USA etliche Auszeichnungen prophezeit. Nur die Länge des Werks – insgesamt gute fünf Stunden – rief zum Teil negative Kritik hervor. Doch genau jenes sei die Stärke und das besondere Verdienst der Mini-Serie, findet Winslet: „Fürs Fernsehen konnten wir mehr von der Geschichte erzählen, das war ein Luxus.“ Fernsehen sei eben viel anspruchsvoller, als viele glaubten.
chef, macht nun auch Karriere als ComicHeld. Nach dem Vorbild der Kinderbücher „Wo ist Walter?“ des Briten Martin Handford geht es bei „Où est Sarko?“ („Wo ist Sarko?“) darum, den Präsidenten unter Hunderten winziger Figuren zu finden. Zu erkennen ist Sarkozy an seiner spitzen Nase, dem markanten Kinn und kühn gewellten schwarzen Haaren. Nachdem Mitte Mai bekannt geworden war, dass Sarkozy erneut Vater wird, musste der Zeichner Herlé in aller Eile noch einmal zum Stift greifen: Das Ergebnis ist die Seite „Sarko in der Krippe“. Wer genau hinsieht, kann den Präsidenten dreimal in einer Schar von Kleinkindern entdecken – etwa beim Spielen in einem Bällebad. Andere Seiten zeigen Sarkozy beim Marathonlauf in New York, beim Besuch des Vatikans oder im Pariser Disney-Park. Das Buch soll in Frankreich Ende Juni auf den Markt kommen.
minister mit Imageproblemen, beeindruckte in Indien durch Freizügigkeit. Einer illustren Gesellschaft von Ministern, Schriftstellern und Journalisten, die sich während einer Buchvorstellungsparty rauchend in den Garten des Luxushotels Taj Mahal zurückgezogen hatten, bot sich vergangene Woche ein ungewohnter Anblick: der deutsche Staatsmann, ohne Krawatte und – ohne Hosen. In Begleitung zweier schwitzender Leibwächter in Schlips und Kragen schritt
bademantel bekleidet durch die indische Nacht gen Pool. Allerdings kehrte er trockenen Fußes wieder zurück ins klimatisierte Hotel; Beobachter mutmaßten, Neu-Delhis Mücken könnten ihn vertrieben haben. Einen bleibenden Eindruck hinterließ der Liberale dennoch. Hotelangestellte staunten über den „unschüchternen Minister eines sonst so formalen Volkes“; und eine junge Inderin aus der festlichen Gästeschar seufzte beim Anblick Westerwelles gar: „Nice legs.“ D E R
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EDITIONS DE L'OPPORTUN
Guido Westerwelle, 49, deutscher Außen- Westerwelle mit einem kurzen Frottee-
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Hohlspiegel
Rückspiegel
Aus dem „Tagesspiegel“: „Wie viele Scherben man doch ohne Not zerschlagen kann, bevor überhaupt zu Tisch gebeten wurde!“
Zitate
Von der Speisekarte des Hamburger Restaurants „Parlament“ Aus einer Meldung zur Volkszählung in der „Heilbronner Stimme“: „Die Adressbestände seien teilweise bereits vor mehr als zwei Jahren abgerufen worden. Teils wurden Daten von Ver- und Entsorgungsbetrieben genutzt. Wenn bei einem Sterbefall die Müllabfuhr nicht benachrichtigt wurde, könnten die Daten sogar noch älter sein.“
Aus einer Anzeige der Fachmarktkette Aro Aus dem „Gemeindebrief der evangelisch-reformierten Kirchengemeinde Lübeck“: „Die Gartenabfälle wurden geschreddert, die Bücher entstaubt und dann gemeinsam gegessen.“
Die „Börsen-Zeitung“ zum SPIEGEL-Bericht „Finanzmärkte – Auf schmalem Grat“ über die Risiken in der Bilanz der Europäischen Zentralbank (Nr. 21/2011): Das irische EZB-Ratsmitglied Patrick Honohan hat Medienberichte über Fehlbewertungen von Sicherheiten bei Kreditgeschäften mit Banken aus klammen Euro-Ländern bestätigt. „Die Fehler wurden geprüft und dann korrigiert“, sagte Honohan am Montag in Dublin mit Blick auf einen Bericht des SPIEGEL … Irlands Notenbank hat allein über spezielle NotLiquiditätslinien für die Banken des Landes (ELA) bis Ende vorigen Jahres 182 Mrd. Euro an Krediten vergeben. Die „New York Times“ zur SPIEGEL-Szene-Meldung Kultur „Kunstmarkt – Hollywoods falscher Campendonk“ (Nr. 22/2011): Außer seinen Talenten für Komik, Schriftstellerei und Banjospielen besitzt Steve Martin auch ein gutes Auge für Kunst. Allerdings hat er ein gefälschtes Bild anscheinend nicht erkannt … In einem Bericht des deutschen NachrichtenMagazins SPIEGEL sagten Ermittler, dass das Gemälde „Landschaft mit Pferden“, angeblich ein Werk des modernen Künstlers Heinrich Campendonk, von einer Expertin für echt erklärt wurde, bevor es im Juli 2004 für 700 000 Euro von der Galerie Cazeau-Béraudière in Paris an Mr. Martin verkauft wurde.
Ehrungen Cordula Meyer, 39, SPIEGEL-Redak-
Aus der „Eßlinger Zeitung“ Aus dem „Kölner Stadt-Anzeiger“: „Am Donnerstagabend hat ein Quintett (14, 15, 16, 19) in der Kölner Innenstadt versucht, einen Mann (30) zu berauben.“
Überschrift in der Düsseldorfer „Bild“ Aus der „WAZ“: „Das WAZ-Medizinforum Gelsenkirchen lockt heute mit dem Thema ,Wenn die Galle hochkommt‘.“ 158
teurin, erhielt den Arthur F. Burns-Preis 2010. Der Preis wird verliehen an deutsche und amerikanische Journalisten, die einen herausragenden Beitrag zur politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Situation des jeweiligen Partnerlandes veröffentlicht haben. Meyer erhält den Preis für ihre Reportage „Dämonen im Kopf“ (SPIEGEL 12/2010) über einen USSanitätsgefreiten, der an seinen Kriegstraumata zugrunde geht. Die Jury befand, dass Meyers Artikel „alle Kennzeichen eines journalistisch erstklassigen Textes“ besitze.
Steffen Winter, 42, SPIEGEL-Redakteur, wurde mit der sächsischen Verfassungsmedaille ausgezeichnet. Die Ehrung erhielt er für seine „kritische und engagierte Beobachtung der sächsischen Landespolitik, für sein Aufgreifen von Themen, die oftmals auch schmerzhaft und konfliktbelastet waren“, hieß es in der Begründung. D E R
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