DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN - MAGAZIN
Hausmitteilung 20. Dezember 2010
Betr.: Titel, Sarrazin, Moltke
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DER SPIEGEL
ekka, der Mittelpunkt des islamischen Universums, entspricht auf den ersten Blick nicht den Erwartungen an eine heilige Stadt. Die Metropole wird dominiert von Wolkenkratzern, Einkaufszentren, Menschenmassen und Baustellen. Für die fast anderthalb Milliarden Muslime auf der Erde aber hat die Geburtsstadt des Propheten trotz ihrer Hektik mythische Bedeutung. Wer gesund ist und es sich leisten kann, muss einmal im Leben auf Pilgerfahrt nach Mekka gehen. Und er muss die Kaaba umrunden, den von schwarzen Tüchern umhüllten Kubus, den der Patriarch Abraham errichtet haben soll. Titelautor Bernhard Zand, 43, selbst Muslim, seit er eine Muslimin geheiratet hat, beschreibt am Beispiel Mekkas die Widersprüche einer Religion, deren Bild zurzeit von gewaltbereiten Dschihadisten geprägt wird, die sich gleichzeitig aber in rasendem Tempo verändert. Viele junge Muslime, so Zand, seien „ihr Stigma im Westen ebenso leid wie den Terror, dem sie dieses Stigma verdanken“ Zand in Mekka (Seite 88).
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charf war die Kritik der Eliten, als Thilo Sarrazin, 65, Ende August sein Buch „Deutschland schafft sich ab“ veröffentlichte. Er verlor seinen Vorstandsjob bei der Bundesbank, und seine Partei, die SPD, leitete ein Ausschlussverfahren ein – in Umfragen aber fand er auch viel Zustimmung. Seit das umstrittene Buch erschienen ist, das Sarrazin Einnahmen in Millionenhöhe bescherte, hat SPIEGEL-Autor Jan Fleischhauer, 48, regen Kontakt mit ihm gehalten. Der frühere Berliner Finanzsenator verheimlichte nicht, wie sehr ihm die Kritik anfangs zusetzte und ihn unter Schlafstörungen und Appetitlosigkeit leiden ließ. Fleischhauer erfuhr auch, welche Verachtung Sarrazin inzwischen für seine Kritiker empfindet, und gewann Einblicke in das Seelenleben des Bestsellerautors. „Seine Auseinandersetzung mit den in Deutschland lebenden Muslimen trägt die Züge einer Obsession“, sagt der SPIEGEL-Mann, „es scheint für ihn nur noch dieses eine Thema zu geben“ (Seite 40).
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COREY HENDRICKSON / POLARIS / DER SPIEGEL
ie 184 Briefe, die SPIEGEL-Redakteurin Susanne Beyer, 41, sichtete und für diese Ausgabe auswertete, sind erschütternde Dokumente des Aufbegehrens gegen Hitler-Deutschland und Zeugnisse einer großen Liebe: Häufig, mitunter sogar mehrmals am Tag, hatten der Widerstandskämpfer Helmuth James Graf von Moltke und seine Frau Freya einander geschrieben, bevor er im Januar 1945 von den Nazis gehängt wurde. Freya von Moltke war 1960 in die USA ausgewandert und hatte in ihrem Haus in Norwich im US-Staat Vermont die Briefe aus den letzten vier Monaten vor der Hinrichtung unter Verschluss gehalten. Sie starb Anfang des Jahres im Alter von 98 Jahren und hatte verfügt, dass der Briefwechsel ein Jahr nach ihrem Tod veröffentlicht werden darf. In Norwich traf Beyer Helmuth Caspar von Moltke, 73. Der einzige noch lebende Sohn der Familie erzählte ihr, wie allgegenwärtig die Erinnerung an seinen Vater war. Seine Mutter sei zwar eine neue Beziehung eingegangen, aber sie habe „auch immer gesagt, dass sie mit meinem Vater nach seiner Hinrichtung Moltke, Beyer einfach weitergelebt hat“ (Seite 138). Im Internet: www.spiegel.de
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In diesem Heft Titel Mekka – die Metropole der Muslime ............. 88
Gesellschaft Szene: Foto-Shooting mit 91 / Der kanadische Arzt und Menschenrechtler James Orbinski über die Grenzen der Medizin ....................... 57 Eine Meldung und ihre Geschichte – warum ein Mann wegen eines Hundes seine Familie verließ ....................................... 58 Armut: Das Leben eines Obdachlosen, der beinahe in einer Müllpresse getötet worden wäre .................................................. 60 Ortstermin: Michel Friedman diskutiert die Frage, was man in Deutschland sagen darf – und was nicht ................................................. 71
MICHAEL GOTTSCHALK / DAPD
Deutschland Panorama: Deutsche Botschaften sollen Visa gegen Schmiergeld erteilt haben / Linke-Fraktionschef Gysi rückt von Nato-Austrittsforderung ab / Merkels Euro-Bonds-Absage stößt bei CDU-Politikern auf Widerstand ..................... 17 FDP: Machtkampf um Guido Westerwelle ...... 22 Innere Sicherheit: SPIEGEL-Gespräch mit Innenminister Thomas de Maizière über die Terrorwarnungen und sein Unbehagen über WikiLeaks .............................................. 26 Klima: Was tun die Europäer nach Cancún? ... 29 Bundeswehr: Muss Verteidigungsminister Guttenberg weniger sparen? ........................... 32 Stuttgart 21: Staatskanzlei und Ministerpräsident Mappus waren eng in die Planungen des umstrittenen Polizeieinsatzes eingebunden .... 36 Katastrophen: Der Panikforscher Michael Schreckenberg erhebt wegen des Love-Parade-Desasters schwere Vorwürfe gegen Stadt und Veranstalter ......................... 38 Linke: Aus Ärger über Parteichef Klaus Ernst drohen die Realos mit Spaltung ..................... 39 Intellektuelle: Die Veränderungen des Thilo Sarrazin ................................................ 40 Währung: SPIEGEL-Streitgespräch mit den Ökonomen Peter Bofinger und Stefan Homburg über die Euro-Krise und die Folgen eines deutschen Ausstiegs aus der Währungsunion ... 52
Sein letztes Gefecht
Seite 22
Guido Westerwelles Position wird unhaltbar. Seine Partei demontiert ihn öffentlich, intern kursieren Putschpläne. Doch der FDP-Chef will bis zum Ende kämpfen.
Guttenbergs riskantes Spiel
Seite 32
Kanzlerin Merkel und Finanzminister Schäuble ringen mit Verteidigungsminister Guttenberg um die Finanzierung der Bundeswehrreform. Der Ressortchef fordert eine Ausnahme vom allgemeinen Spardiktat.
Ein Banker teilt aus
Seite 78
Hilmar Kopper, Oberaufseher der maroden HSH Nordbank, bläst im SPIEGELGespräch zur Attacke – gegen die Sicherheitsfirma Prevent („Spinne im Netz“), die Ermittler („ein Trauerspiel“) und die Landespolitik, die ihn „bisweilen entsetzt“.
Wirtschaft Trends: Eklatante Mängel im AKW Krümmel / Mercedes baut Transporter in Russland / SteuerCDs bringen dem Staat 1,8 Milliarden Euro ... 72 Mobilfunk: Nokia kämpft gegen den Abstieg zum bedeutungslosen Massenhersteller ......... 74 Landesbanken: SPIEGEL-Gespräch mit Aufsichtsratschef Hilmar Kopper über die Affären der HSH Nordbank ........................... 78 Dubiose Zahlungen an Detektive und Berater erhärten den Korruptionsverdacht gegen die HSH ............................................... 81 Affären: Ließ die Sicherheitsfirma des Immobilienentwicklers Josef Esch Journalisten bespitzeln? ................................. 82 Verkehr: Dem privat finanzierten Ausbau von Autobahnen droht das Aus ..................... 84 Verbraucher: Ethanol-Kamine sind gefragt – aber auch gefährlich ....................................... 85
MARCELO THEOBALD / AFP (L.); ABACA / PIXATHLON (R.)
Tödliche Affäre Seite 116
Ausland Panorama: Neue Hinweise zum Attentäter von Stockholm / Russen geizen beim Schutz der Reaktorruine von Tschernobyl ................. 86 Europa: Ein Kontinent klagt über die Deutschen ...................................................... 98
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Der populäre brasilianische Torwart Bruno soll einen Killer zur Ermordung seiner Ex-Geliebten Eliza Samudio angeheuert haben, die Leiche der Frau ist verschwunden. Der Mordprozess bewegt das Land – und zeigt, wie ungebrochen die Machokultur des südamerikanischen Fußballs ist. Samudio, Bruno
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Italien: Proteste nach dem abgewehrten Misstrauensvotum gegen Berlusconi ............. 102 Kosovo: Schwere Vorwürfe gegen Premier Thaçi ............................................... 104 Mexiko: Der aussichtslose Kampf gegen die Drogenkartelle ........................................ 106 Global Village: Warum deutsche Weihnachtsbäume aus Georgien kommen .... 112
Sport
Seite 40
CHRISTIAN THIEL / DER SPIEGEL
Buch des Jahres
Der enorme Erfolg seines Buchs hat Thilo Sarrazin nicht gelassener gemacht, ganz im Gegenteil. Für seine Kritiker hat der Autor vor allem Verachtung übrig.
Europas Empörung über die Deutschen
Seite 98
Auf dem Kontinent hagelt es Kritik: Deutschland sei seit Beginn der Finanzkrise egoistisch und arrogant geworden, es habe nur noch sein eigenes Scheckbuch und nicht mehr Europa im Blick. Erwartet wird mehr Führung aus Berlin.
Szene: Irans Geheimdienst soll prominente Fußballer im Land bespitzelt haben / Die Grenzerfahrungen der Extremsportler ... 115 Fußball: Ein Mordprozess offenbart das zügellose Leben brasilianischer Profis .......... 116 Wintersport: Interview mit Michael Vesper, Generaldirektor des Deutschen Olympischen Sportbunds, über den Widerstand gegen Olympia 2018 in München .................. 119 Karrieren: Die Nähe der Klitschko-Brüder zum tschetschenischen Herrscher Kadyrow ... 120
Wissenschaft · Technik Prisma: Virtueller Blick auf die Sonne / Die Pueblo-Indianer waren Kannibalen ....... 123 Soziobiologie: Ist der Mensch von Natur aus selbstlos? ...................................... 126 Religion: Kreationisten in den USA wollen die Arche Noah nachbauen .......................... 129 Automobile: Revolution in der Fahrzeugfertigung – BMW entwickelt Kunststoffautos ........................... 130 Unterhaltungselektronik: Die Lesegeräte für digitale Bücher haben noch Schwächen ........ 134 Geschichte: Der mumifizierte Schädel des legendären französischen Königs Heinrich IV. ist aufgetaucht .............................................. 135
Kultur
Die Biologie der Nächstenliebe
Seite 126
Warum spenden Menschen zu Weihnachten Geld und helfen Fremden? Mit spielerischen Experimenten haben Forscher den biologischen Ursprung des Altruismus ergründet: Wer sich selbstlos verhält, will seinen guten Ruf fördern.
Szene aus „Drei“
Szene: Der Berliner Technoclub Berghain verzichtet auf Senatsmillionen / Der Bratschist Ulrich von Wrochem über sein gescheitertes Weihnachtskonzert in Afghanistan ............... 136 Zeitgeschichte: Der bewegende Briefwechsel zwischen dem inhaftierten Widerstandskämpfer Helmuth James von Moltke und seiner Frau Freya ................ 138 Bestseller ..................................................... 147 Kino: Tom Tykwers erotische Beziehungskomödie „Drei“ .......................... 148 Kunst: Die texanische Kleinstadt Marfa ist das kurioseste Gesamtkunstwerk der Welt ... 150 Buchkritik: Hans Magnus Enzensbergers gesammelte Erkenntnisse und Niederlagen ... 154
Medien
X- VERLEIH
Trends: Gebührenreform könnte an NRW scheitern / Disney-Stadt wird von der Realität eingeholt ................................... 157 Talkshows: Interview mit TV-Moderatorin Anne Will über den Abschied vom Sonntagabend und ihr Verhältnis zur ARD ... 158 Affären: Der Skandal um verschwundene Kika-Millionen weitet sich aus ...................... 162
Tom Tykwers Berliner Sexkomödie
Seite 148
Im Kinofilm „Drei“ schildert der Regisseur Tom Tykwer die Liebeswirren restlos aufgeklärter Berliner Intellektueller, die ihr Sexleben kaum in den Griff kriegen: eine grelle, clevere Komödie über den erotischen Zeitgeist.
Briefe ............................................................... 8 Impressum, Leserservice .............................. 164 Register ........................................................ 166 Personalien ................................................... 168 Hohlspiegel / Rückspiegel ............................. 170 Titelbild: Fotos dpa, Axel Schmidt / dapd
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Briefe WikiLeaks und Julian Assange verdienen einen Preis. Sie haben gezeigt, dass diejenigen, die glauben, die Welt sei schlecht, irren: Sie ist noch viel schlechter.
„Es ist schon paradox: Da führt die greise Weltmacht USA ein knappes Jahrzehnt lang einen recht sinnlosen Krieg gegen den demokratieverachtenden Terrorismus und stellt plötzlich die zu schützende Meinungs- und Pressefreiheit selbst in Frage.“
Lackmustest für die Meinungsfreiheit Nr. 50/2010, Titel: Der Fall WikiLeaks: Kampf um das Netz – Vom Streit um die Meinungsfreiheit zum Cyber-Krieg; Nr. 49/2010, Affäre WikiLeaks: Die Woche der Enthüllungen
Das zutiefst Erschreckende an der Affäre Assange ist, dass die Mehrzahl der Politiker in den sogenannten demokratischen Staaten die Prinzipien der Demokratie weder begriffen noch verinnerlicht hat. REMSHALDEN (BAD.-WÜRTT.)
zu sorgen, dass geheime Informationen auch geheim bleiben. Das alles ist nicht sehr demokratisch im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. MÖRFELDEN-WALLDORF (HESSEN) ENNO SANDNER
GÖTTINGEN
Das ist interessant. Endlich wieder ein SPIEGEL-Bericht, der unabhängig und unbeirrt recherchiert und aufklärt – wie in früheren politischen Zeiten. Dank gebührt den engagierten Journalisten.
Eine öffentlich ausgesprochene Unterstützung für WikiLeaks Ihrerseits wäre ein mutiges und konsequentes Zeichen für die Meinungs- und Informationsfreiheit.
BERLIN
BERLIN
MARC GRIMWADE / GETTY IMAGES
Die Pressefreiheit wurde in den letzten Jahren gesellschaftlich domestiziert. Das Internet ist nun zum Leidwesen der Mächtigen Plattform einer wahren Pressefreiheit. Insofern ist der Umgang mit den WikiLeaks-Veröffentlichungen der Lackmustest dafür, ob Meinungs- und Pressefreiheit ernst gemeint oder nur eine Illusion sind. Trotzdem entbindet die Freiheit nicht von einem verantwortungsvollen Umgang mit ihr. Dies wäre nun der Lackmustest für die Internetteilnehmer.
MÜNCHEN
ULRIKE PERPLIES
Was soll die ganze Aufregung? WikiLeaks pflegte sicherlich einen unsensiblen Umgang mit teils brisanten Datensätzen. Das Problem liegt doch aber bei den staatlichen Lecks, die nicht verhindert wurden. WESSELING (NRDRH.-WESTF.) RONALD KAUFMANN
Eine Weltmacht, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in den Nürnberger Prozessen Recht gesprochen hat, sollte gegen die eigenen Kriegsverbrecher gleichermaßen vorgehen. Das geht nur, wenn die Allgemeinheit davon erfährt. Sehr bedenklich sind Äußerungen einiger USPolitiker, die den Überbringer der Informationen kriminalisieren, anstatt dafür 8
TOMAS BALEK
Nette Unterhaltung, solange niemand Julian Assange für den größten Aufklärer seit Spinoza, Locke und Voltaire hält. Dass die USA mal wieder hysterisch reagieren, zeigt: Solche Veröffentlichungen sind offenbar dringend nötig. Peinlich für die USA, aber sie sollten froh sein, dass sie immerhin gut beobachtende Diplomaten haben. Überrascht hat mich bisher nur, dass auch unsere alpinen Nachbarn eine erfrischende Renitenz an den Tag legen. Gratuliere! STUTTGART
Pro-Assange-Demonstration in Brisbane
Durch WikiLeaks ist bisher niemand körperlich zu Schaden gekommen, durch amerikanische Außenpolitik schon viele Menschen. Dies diente oft nicht dem Frieden, stets aber einem zumindest kurzfristigen Vorteil der USA. Solche Politik ist nicht schützenswert. Dank dem SPIEGEL, dass er zur vernünftigen Darstellung der WikiLeaks-Veröffentlichungen beiträgt. MÜNCHEN
RICHARD GEIST
UTE HIRSCHFELD
Natürliche Auslese
Zutiefst erschreckende Affäre
Das Internet bringt eine neue Form von Tyrannei, die Informationen über Dritte nutzt, um diesen zu schaden. Spenden an WikiLeaks sollten nicht steuerlich absetzbar sein, solange WikiLeaks’ Taktik rechtlich ungeklärt ist.
DR. MICHAEL SCHWIBBE
GERDA FÜRCH
MARTIN GLAUNER
DR. THOMAS WAGNER
GUNTHER CARSTENSEN
Nicht die Veröffentlichungen von WikiLeaks haben dem Ansehen der USA geschadet, sondern die Reaktionen amerikanischer Politiker auf die vermeintlichen Enthüllungen. Wenn Sarah Palin verlangt, Julian Assange wie Osama Bin Laden jagen zu lassen, wenn Mike Huckabee die Todesstrafe für die Weitergabe der Dokumente fordert, wenn Mitglieder des Repräsentantenhauses Assange von den Geheimdiensten liquidieren lassen wollen, erhalten wir einen ausgezeichneten Eindruck davon, wes Geistes Kind die politischen Vertreter der „leading nation of the world“ sind.
Jens Enders aus Berlin zum Titel „Der Fall WikiLeaks: Kampf um das Netz – Vom Streit um die Meinungsfreiheit zum Cyber-Krieg“
SPIEGEL-Titel 50/2010
WEIMAR
MÜNCHEN
Nr. 49/2010, Politiker: Jenseits der Sache – Rache ist eine starke Triebfeder im politischen Betrieb
Als langjähriges Parteimitglied kann ich Ihre Feststellung nur unterschreiben, dass Rache – wie übrigens auch andere vollkommen menschliche Emotionen – einen großen Anteil daran trägt, wie politische Entscheidungen gefällt werden. Ihr Artikel macht es sich jedoch nicht so einfach, dieses Phänomen als grundsätzlich mo-
Diskutieren Sie auf SPIEGEL ONLINE ‣ Titel Sind Islam und Moderne vereinbar? www.spiegel.de/forum/Mekka ‣ FDP Wird Guido Westerwelle zur Belastung für seine Partei? www.spiegel.de/forum/Liberale ‣ Sicherheit Sollen Bundeskriminalamt und Bundespolizei zusammengelegt werden? www.spiegel.de/forum/BKA D E R
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Briefe ralisch verwerflich zu beschreiben. Stattdessen stellt er Politiker schlicht als das dar, was sie nun mal sind: Menschen. HANNA SAMMÜLLER
MICHAEL URBAN / DAPD
MÜNCHEN
Zeit der Revolution – vorbei? Nr. 49/2010, Einspruch: Ferdinand von Schirach über Feminismus und Justiz
CSU-Politiker Beckstein, Stoiber, Huber 2008
Vollkommen menschliche Emotionen
Danke für das wunderbare Plädoyer! Auf dieselbe Weise müsste aber auch die schreckliche Dominanz der Frauen im (unteren) Bildungsbereich abgebaut werden, wenn man sich künftig nicht mit den Deformationen einer weiblichen Gesellschaft befassen will. Parität sichert Chancenvielfalt und Qualität und ist Bereicherung gerade dort, wo geschlechtsspezifische Sichtweisen zum Tragen kommen. SPRINGE (NIEDERS.)
HEIDE JAHN
Ferdinand von Schirachs treffende Analyse ist nicht zu toppen, sie sollte nicht übersehen werden und damit die Altfeministin versöhnt, ihre ahnungslose Profiteurin Kristina Schröder beschämt sein.
Ihre Artikel über die Rolle der BundesFRITZ BURKHARDT kanzlerin beim Niedergang des Anden- TRAUNSTEIN (BAYERN) pakts und das Ausleben politischer Rache lassen einen interessanten Schluss zu: Im Namen aller berufstätigen Frauen danFrau Dr. Merkel beweist, dass kühle Cle- ke ich Herrn von Schirach für seinen „Einverness über politische Karrieregeilheit spruch“. Frau Minister Schröder wäre theund Beziehungsgeflechte siegt. Man kann matisch in der deutschen Bischofskonfeihr viel vorwerfen, aber sie sorgt damit renz gut aufgehoben. Doch ihre Rubrik für natürliche Auslese, die Intelligenz vor „Ziele überarbeiten“ ist auf diese oder Parteitreue überleben lässt. Und das ist ähnliche Institutionen sicher nicht ausgeeigentlich gut für das politische System richtet, will sie doch die vorherrschende Männerquote unbedingt erhalten. der Republik. GARCHING (BAYERN)
DR. ROBERT SCHMOHL
DÜSSELDORF
URSULA J. LYTTON
Zu Recht gewehrt Deutschland hat im Verfahren seine Einsparverpflichtungen, wie sie auch die EUKommission verlangt hatte, erfüllt. Dennoch trat die erwünschte Defizitminderung nicht ein. Grund: Die Rezession und die folgende langanhaltende wirtschaftliche Stagnation ließen die öffentlichen Einnahmen verfallen. Die Kommission wollte Deutschland deshalb zwingen, dem Einnahmeeinbruch hinterherzusparen, also eine prozyklische Finanzpolitik zu betreiben. Dagegen hat sich Deutschland zu Recht gewehrt. In der anschließenden Reform des Stabilitätspaktes haben sich alle EU-Mitgliedstaaten darauf verständigt, dass die Haushaltskonsolidierung schwerpunktmäßig in „guten Zeiten“ stattfinden muss, in „schlechten Zeiten“ unter Umständen mehr Zeit zur Korrektur gegeben werden muss. Die Fiskalpolitik soll also antizyklisch sein – ökonomisch richtig. Die expansive Ausgabenpolitik der griechischen Regierung Karamanlis in vergleichsweise „guten Zeiten“ hätte gerade nach den Regeln des reformierten Paktes gebremst werden müssen, was nicht geschehen ist. KASSEL
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HANS EICHEL BUNDESFINANZMINISTER A. D. D E R
SHOOTING STAR / EYEVINE / PICTURE PRESS
Nr. 49/2010, Titel: Das letzte Gefecht – Wie Europa seine Währung ruiniert
Szene aus der TV-Serie „Mad Men“
Deformationen weiblicher Gesellschaft
Sicher haben die Frauen Alice Schwarzer eine Menge zu verdanken. Aber ich denke, ein(e) Revolutionär(in) sollte erkennen, wann die Zeit der Revolution vorbei ist. Das gilt auch für Befürworter einer gesetzlichen Frauenquote, die sich fragen sollten, ob derartig radikale Maßnahmen in Bezug auf die Situation der Frau in Deutschland, die nun wirklich nicht mehr beklagenswert ist, gerechtfertigt sind. DÜSSELDORF
JOEL-MBISSANE DIOUF
Kleiner Beitrag Nr. 49/2010, Prisma: Schlechte Noten für Biogemüse
In ökologisch hergestellten Gemüsesorten sind also nicht mehr Nährstoffe enthalten als in konventionell hergestellten. Gegen-
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Briefe
JOERG AXEL FISCHER / VISUM
bevor (!) diese gigantische Abwrackprämie für die Bauindustrie geplant wurde. Fahrgäste sind keine Regenwürmer, die sich unter der Erde wohl fühlen. KÖLN
VOLKER FREIESLEBEN
Idol der deutschen Linken Nr. 49/2010, Verbrechen: Titos Killerkommandos mordeten auch in Deutschland
Biomöhren
frage: Sind also in konventionell hergestellten Gemüsesorten nicht mehr Nährstoffe drin als in ökologisch hergestellten? Dann lohnt sich etwa Pestizid- und Düngereinsatz gar nicht? Es geht also auch ökologisch? Nachhaltig? Behutsam? SAARBRÜCKEN
LARS WENZEL
Biogemüse wird aus Verantwortung gegenüber der Erde angebaut und auch deshalb gern von Verbrauchern gekauft. So klein der Beitrag auch im Hinblick darauf scheinen mag, dass Wissenschaft mehr denn je nur ein Mittel zum Zweck und immer der Profitsucht unterworfen ist. KIEL
ANNE JAEKEL
Abwrackprämie für die Bauindustrie Nr. 49/2010, Stuttgart 21: SPIEGEL-Gespräch mit Schlichter Heiner Geißler über Bürgerbeteiligung, das Recht auf Demonstration und die Argumentationsdefizite der Union
Das SPIEGEL-Gespräch mit Heiner Geißler trieft leider nur so von Eigenlob und Selbstzufriedenheit. Schlimmer noch: Geißler geniert sich nicht, als Trostpflästerchen für die ausgemachten Verlierer seiner Schlichtungsanstrengungen noch den hirnverbrannten Vorschlag von der Verpflanzung ausgewachsener Bäume dazuzupacken: gigantisch teuer, Überleben ungewiss und ohne Angabe, auf welchen städtischen Leerflächen die Bäume denn untergebracht werden sollen. HAMBURG
PETRA OSINSKI
Ich höre aus der Schlichtung heraus: So, ihr Zukunftsverweigerer, jetzt habt ihr euer Forum gehabt, aber jetzt geht es wieder weiter wie bisher. Herr Geißler beugt sich entweder dem Fraktionszwang, oder ihm ist das Ergebnis egal, da er diesen Bahnhof eh nicht mehr erleben wird. STUTTGART
OLIVER STORZ
Das Schlichtungsergebnis konnte doch nur den derzeitigen Machtverhältnissen sowie den bereits geschaffenen Fakten entsprechen. Ich glaube keinesfalls, dass das Aufwand-Nutzen-Verhältnis des Projektes Stuttgart 21 aus Sicht der Fahrgäste, der Sozial- und der Umweltverträglichkeit verantwortbar ist. In einer richtigen Demokratie hätte man das Volk befragt, D E R
Als ehemaliger Exilkroate zolle ich dem SPIEGEL Anerkennung dafür, dass er sich eines wichtigen Themas angenommen hat. In Kroatien findet keine Aufarbeitung statt, vielmehr kooperiert das Land nicht mit den deutschen Gerichten und schützt sogar international mit Haftbefehl gesuchte Verdächtige, indem es diese nicht ausliefert. Die Gründe liegen auf der Hand, in Kroatien sind noch der alte kommunistische Kader und dessen Nachkommen am Ruder. DUISBURG
MILE ZOVKO
Das, was bis zur Unabhängigkeit Kroatiens in Deutschland in Angst lebende Kroaten wussten, wird endlich publik gemacht. Ein Kompliment an das deutsche Rechtsstaatssystem, das Fälle selbst nach 25 Jahren nicht ad acta legt, und ein Dankeschön an den SPIEGEL, der diese Story veröffentlicht hat! DARMSTADT
DANIJEL LUČIĆ
ESPRIT / DER SPIEGEL
Geht’s auch nachhaltig?
Tito-Staatsbesuch in Bonn 1974
Die Kader sind noch am Ruder
Tito war für die deutsche Linke ein Idol. Erst nach dem Untergang des Kommunismus wurde er von einigen Historikern als grausamer Verbrecher bezeichnet. Dessen ungeachtet wird er von der kroatischen politischen Klasse hoch verehrt. In manchen Schulbüchern wird Tito bis heute als einer der bedeutendsten Staatsmänner in der kroatischen und jugoslawischen Geschichte bejubelt. Die notwendige und längst fällige Lustration unter den Politikern und Intellektuellen in Kroatien lässt immer noch auf sich warten. Ein unbrauchbarer Zustand für eine Eintrittskarte in die Europäische Union. KÖLN
GOJKO BORIĆ
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit Anschrift und Telefonnummer – gekürzt und auch elektronisch zu veröffentlichen. Die E-Mail-Anschrift lautet:
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Deutschland
HARTMUT SCHWARZBACH / ARGUS
ULRICH BAUMGARTEN / VARIO-PRESS
Panorama
Hamburger Rotlichtmilieu
Auswärtiges Amt
A F FÄ R E N
Visa gegen Schmiergeld D
as Auswärtige Amt steht offenbar vor einer neuen VisaAffäre. Mitarbeiter mehrerer deutscher Botschaften stehen im Verdacht, im Auftrag internationaler Schleuserringe Hunderte erschlichener Visa ausgestellt und Schmiergelder kassiert zu haben. Nach Hinweisen aus dem Auswärtigen Amt ermittelt die Staatsanwaltschaft Berlin in acht Tatkomplexen wegen des Verdachts der bandenmäßigen Schleusung und Bestechlichkeit. Betroffen sind deutsche Vertretungen in Afrika, Südamerika und in Ländern, die vormals Teil der Sowjetunion waren. Die Beschuldigten sind sogenannte Ortskräfte, Mitarbeiter in den Konsularabteilungen aus dem jeweiligen Land. Sie sollen zumindest in den vergangenen zwei Jahren systematisch Visa für die Einreise nach Deutschland
F I NA N ZAU S GL E I C H
Unionsländern droht Rechtsstreit
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wischen den Ministerpräsidenten der Union wird der Streit über den Länderfinanzausgleich heftiger. Nachdem die Regierungschefs der zahlungskräftigen Flächenstaaten Bayern, Baden-Württemberg und Hessen verfassungsrechtliche Schritte gegen Hilfsleistungen für ärmere Länder vorbereiten, droht Saarlands Ministerpräsident Peter Müller (CDU) seinerseits nun mit einem Gang nach Karlsruhe. Es sei
erteilt haben, die auf offensichtlich falschen Angaben basierten. Die Antragsteller zahlten, so die Erkenntnisse der Staatsanwaltschaft, neben den normalen Gebühren an die Konsularmitarbeiter pro Visum mehrere hundert Euro in bar. Für einige der Ausländerinnen, die auf diesem Wege nach Deutschland kamen, endete die Reise in Hamburger Bordellen. Die beschuldigten Mitarbeiter wurden vor Ort von Beamten der Bundespolizei verhört und sind inzwischen entlassen. Die Ermittler haben derzeit keine Hinweise, dass deutsche Botschaftsangehörige in die illegalen Praktiken verwickelt sind, gehen aber davon aus, dass die Auftraggeber für die Schleusungen in Deutschland sitzen. Martin Steltner, Sprecher der Berliner Generalstaatsanwaltschaft, bestätigte den Vorgang, wollte sich aber zu Details wegen der noch andauernden Ermittlungen nicht äußern. 2004 war im Rahmen eines Schleuserprozesses eine ähnliche Praxis aufgeflogen. Im Zentrum stand damals die deutsche Botschaft in Kiew, die mehrere tausend erschlichene Visa erteilt hatte.
„schlicht und einfach falsch“ zu behaupten, dass das Saarland über seine Verhältnisse lebe. „Bei objektiver Betrachtung geben wir keineswegs mehr für Bildung oder Kultur aus als Hessen, Baden-Württemberg oder Bayern“, sagte Müller. „Wenn sich diese drei Länder trotzdem dazu entschließen sollten, gegen den Länderfinanzausgleich zu klagen, dann werden wir unsererseits ein gegenwärtig ruhendes Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht wiederaufnehmen.“ Das Gericht habe bereits Anfang der neunziger Jahre festgestellt, dass sich das Saarland und Bremen in einer unverschuldeten Haushaltsnotlage befänden, betonte D E R
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Müller. Bayern, Baden-Württemberg und Hessen beschweren sich schon lange, dass sie der Finanzausgleich für ärmere Länder über Gebühr belaste.
Die großen Zahler im Länderfinanzausgleich 2009 Bayern Hessen BadenWürttemberg
3,4 Mrd. € 1,9 Mrd. € 1,5 Mrd. € 17
Panorama ENERGIE
EU prüft Bohrungen
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FEDERICO GAMBARINI / DPA
ie EU-Kommission überprüft die Pläne von Energiekonzernen, in Deutschland mehr Erdgas zu fördern. Gutachter sollen im kommenden Jahr in Deutschland und in drei anderen EU-Ländern untersuchen, ob die Umweltauflagen für neue Bohrungen angemessen sind. Die Kommission fürchtet, dass eine forcierte Förderung von sogenanntem unkonventionellem Erdgas wie in den USA gravierende Umweltschäden verursacht. Derzeit erkunden die Konzerne, ob sich Erdgas in bisher nicht genutzten Lagerstätten ausbeuten lässt. Um diese Vorkommen zu nutzen, wären deutlich mehr Bohrungen nötig als bei normaler Förderung. Zudem würden große Wassermengen in erheblichem Umfang verschmutzt. Vor allem die Grünen drängen die Bundesregierung dazu, strenge Auflagen zu verfügen. In etlichen Regionen der USA führt die forcierte Förderung zu Umweltschäden. In einem Dokumentarfilm wird gezeigt, wie Gas aus der Wasserleitung eines Privathaushalts austritt und angezündet werden kann.
Löhrmann, Kraft
Glühwein und Visionen Vorweihnachtliches Chaos im nordrhein-westfälischen Landtag
TEICH / CARO / ULLSTEIN BILD
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eihnachtsmärkte gibt es derzeit fehlten drei Abgeordnete – zwei entgenug, auch in Düsseldorf. So schuldigt wegen Krankheit sowie Exscheint unverständlich, weshalb die elf Ministerpräsident Jürgen Rüttgers, der Landtagsabgeordneten der Linken am wohl keine Lust mehr auf parlamentavergangenen Donnerstag nicht das ta- rischen Kleinkram hat. Er weilte in ten, was einige von ihnen angeregt hat- Rom. Eine ganz wichtige Tagung der Konrad-Adenauer-Stiftung blockierte ten: Glühwein trinken gehen. Stattdessen verharrten sie im Parlament, schon lange seinen Kalender: Es ging als über den Nachtragshaushalt von Rot- um 150 Jahre Italien. Grün abgestimmt wurde. Ewig hatten Zum Auftakt der Veranstaltung um die Linken zuvor gestritten: Einerseits 13.30 Uhr wurde ein Imbiss gereicht, wollte man nicht dagegenvotieren – das knapp fünf Stunden später bekam Rütthätte die fragile Minderheitsregierung gers als 24. Redner für 20 Minuten das zu Fall bringen können; andererseits Wort. Das Thema: „Einheit: Geschichte sind den Linken die vorgesehenen so- – Mythos – Vision“. Kurz danach war zialen Verheißungen einfach zu mickrig. Schluss in Rom. Da hatten sich die Abgeordneten im ferWas also bleibt? Enthaltung. Genossin Landtagsvizepräsidentin Gun- nen, kalten Düsseldorf bereits ihren hild Böth leitete die entscheidende Pha- nächsten Coup gegönnt. Diesmal stand ein Mediengesetz zum Schutz se der Sitzung. Von dieser SeiJugend auf der Agenda. te drohte also kein Ungemach. „Es kam der Die ganze Sache schien längst Böth selbst schaute dann alim Sack, noch als Regierungslerdings recht irritiert in Richalles so hatte Rüttgers im Juni tung der Ihren: Sechs Linke plötzlich.“ chef dem mühsam föderalistisch stimmten nämlich auf einmal ausgehandelten Staatsvertrag mit Ja. „Es kam alles so plötzlich“, klagte eine Abgeordnete; „ein Irr- zugestimmt. Fehlte nur noch die Enttum“, barmte Fraktionschef Wolfgang scheidung des Parlaments, damit das Gesetz 2011 in Kraft treten könnte. Zimmermann. Und irgendwie war es auch ziemlich Doch nun will die CDU nichts mehr davon wissen, und die FDP, einst ebenfalls laut im Plenarsaal. Wie dem auch sei: Ministerpräsidentin dafür, quält auf einmal verfassungsHannelore Kraft und ihre grüne Mit- rechtliches Bauchweh. Rot-Grün hat eh streiterin Sylvia Löhrmann hatten un- Bedenken, und die Linken sind sowieso erwartet eine gemütliche Mehrheit für dagegen. Breiter Ablehnungskonsens den Nachtragshaushalt, der allerdings der Demokraten im NRW-Landtag also, auch ohne die Trotteligkeit der Linken weshalb das Gesetz nun tot ist. durchgekommen wäre: Bei der CDU Aber dafür gleich bundesweit.
Erdgasförderung in Sachsen-Anhalt 18
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Deutschland SAARLAND
„Option auf Karlsruhe“ SPIEGEL: Platzt die Jamaika-Koalition,
wenn Müller im Herbst 2011 als Verfassungsrichter nach Karlsruhe geht? Ulrich: Nein. Wenn er geht, müssen wir einen neuen Ministerpräsidenten wählen – oder eine Ministerpräsidentin. Nicht mehr und nicht weniger. SPIEGEL: Jamaika kann auch ohne Müller fortgesetzt werden? Ulrich: Ja, das ist von ihm unabhängig. Im Saarland liegen die Dinge anders als in Hamburg. Dort gab es mit dem neuen Ersten Bürgermeister Christoph Ahlhaus einen Richtungswechsel, von liberal zu konservativ. Das ist hier nicht zu erwarten. SPIEGEL: Warum nicht? Ulrich: Es gibt drei wahrscheinliche Nachfolger in der CDU: SozialministeUlrich rin Annegret KrampKarrenbauer, Fraktionschef Klaus Meiser und Innenminister Stephan Toscani. Alle liegen inhaltlich auf der Linie von Peter Müller. Da dürfte es nicht zu Verwerfungen kommen. SPIEGEL: Der amtierende Ministerpräsident galt bisher als Schlüsselfigur für Jamaika. Und jetzt sagen Sie: Der ist einfach zu ersetzen.
Ulrich: Müller hat beim Zustandekommen von Jamaika eine ganz zentrale Rolle gespielt. Er hat die CDU dazu gebracht, in der Energie- und Bildungspolitik einige Kompromisse zu schließen, damit wir Grüne mitmachen. Diese Linie wird sich nicht verändern. SPIEGEL: Wie lange kann das Saarland noch von einem Ministerpräsidenten auf Abruf regiert werden? Ulrich: Müller muss sich erst mal selbst entscheiden. Das hat er noch nicht getan. Er hat, wie es aussieht, eine Option auf Karlsruhe. Wenn er sie zieht, müssen wir den Übergang organisieren. Dabei muss man nichts überstürzen. Das Land wird so oder so gut und zuverlässig regiert. SPIEGEL: Und wie schnell gehandelt wird, entscheidet der Ministerpräsident Müller? Ulrich: Die CDU müsste sich erst mal auf einen Nachfolger einigen. Der oder die müsste dann im Laufe des nächsten Jahres gewählt werden. Ein Zeitplan lässt sich seriöserweise erst dann festlegen, wenn Klarheit über Müllers Zukunft herrscht. SPIEGEL: Darf die CDU allein bestimmen, wen sie auswählt? Ulrich: Wir haben mit keinem der drei genannten Kandidaten ein Problem. THOMAS WIECK / DAPD
Der saarländische Grünen-Fraktionschef Hubert Ulrich, 53, über die Karrierepläne von Ministerpräsident Peter Müller (CDU) und die Folgen
LOBBYISTEN
Freier Zugang
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obbyvertreter von Wirtschaftsunternehmen und Verbänden finden im Deutschen Bundestag offene Türen – auch zu Sitzungen, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. So konnte FDP-Mitglied Patrick Alfers, der als Lobbyist für die Lebensmittelbranche arbeitet, in diesem Jahr mindestens an drei internen Sitzungen des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz teilnehmen. Den Zugang verschaffte Alfers ein Mitarbeiter der FDP-Bundestagsfraktion. Der Lobbyist konnte so live miterleben, wie die Abgeordneten hinter verschlossenen Türen über Verschärfungen des Lebensmittelrechts debattierten, zum Beispiel das weitgehende Verbot, bestimmte Nahrungsmittel als gesundheitsfördernd zu bewerben. Erst auf der Ausschusssitzung am vorigen Mittwoch ist der stille Gast aufgefallen. Auf Initiative der Grünen musste er schließlich den Raum verlassen. Alfers kann die Aufregung nicht verstehen. Er habe sich „immer ordentlich angemeldet“, und das Büro des Ausschussvorsitzenden sei informiert gewesen. Mit dem Vorgang beschäftigt sich nun der Ältestenrat des Bundestags. D E R
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Panorama FINANZKRISE
CDU-Streit um Euro-Bonds
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rünen-Fraktionschefin Renate Künast hat das anfängliche Nein ihrer Fraktion zu einer Papstrede im Bundestag kassiert. „Der Papst ist eingeladen, das ist in Ordnung so“, sagt sie. „Da gehen wir hin, und zwar respektvoll.“ Damit korrigiert Künast ihren Parlamentarischen Geschäftsführer Volker Beck, der noch am Freitag namens der Bundestagsfraktion beharrt hatte: „Einvernehmen für die Einladung des Bundestages an den Papst, vor dem deutschen Parlament zu sprechen, gab es mit uns
WIKILEAKS
Gysis Nato-Taktik
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uch Linken-Chef Gregor Gysi gerät durch eine Depesche von US-Botschafter Philip Murphy in Bedrängnis: Gysis Einschätzungen zur Nato-Mitgliedschaft Deutschlands, die Murphy nach einem Gespräch mit dem Politiker in die Heimat sandte, dürften in seiner Partei für Diskussionen sorgen. Offizielle Linie der Linken ist bislang die Forderung nach einem Ersatz 20
LAVANDEIRA / DPA
Benedikt XVI.
Künast stoppt Papstgegner nicht.“ Begründet hatte Beck die Ablehnung damit, dass Benedikt XVI. homophob sei. „Der Papst hält mich für ,objektiv ungeordnet‘, so viel zur Toleranz des Papstes gegenüber Schwulen und Lesben“, sagte Beck. Das grüne Nein war nicht nur von der CDU, sondern auch parteiintern kritisiert worden. Künast plädiert nun dafür, nach Benedikt XVI. auch anderen Glaubensführern Rederecht im Bundestag einzuräumen: „Uns liegt am Herzen, alle Religionsgemeinschaften gleich zu behandeln.“
des Bündnisses durch ein Sicherheitssystem unter Einbeziehung Russlands. Im November vergangenen Jahres erläuterte Gysi – dem Dokument zufolge „gesellig und in Plauderlaune“ – dem US-Botschafter bei einem Besuch, die Forderung der Linken nach Abschaffung der Nato sei in Wirklichkeit ein Weg, den gefährlicheren Ruf nach einem Rückzug Deutschlands aus dem Bündnis zu verhindern. Für eine Auflösung der Nato sei ja die Zustimmung der USA, Frankreichs und Großbritanniens nötig. Und das sei unrealistisch. D E R
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GRÜNE
it ihrem kategorischen Nein zu gemeinsamen Euro-Anleihen, den sogenannten Euro-Bonds, stößt Bundeskanzlerin Angela Merkel in den eigenen Reihen auf Widerstand. Der saarländische CDU-Ministerpräsident Peter Müller sagte, er könne sich derartige Anleihen durchaus vorstellen. „Es kommt darauf an, wie man diese gestaltet.“ Durch entsprechende Bedingungen könne das Zinsrisiko begrenzt und dafür gesorgt werden, dass disziplinierende Wirkungen auf die Haushaltsgestaltung damit verbunden seien. Auch Finanzminister Wolfgang Schäuble hält die Euro-Bonds unter bestimmten Bedingungen für sinnvoll. Der luxemburgische Ministerpräsident Jean-Claude Juncker hatte solche Gemeinschaftsanleihen zur Rettung finanzschwacher EUStaaten ins Gespräch gebracht. Merkel ist strikt dagegen. Inzwischen wachsen aber auch in der Unionsfraktion die Zweifel, ob der bislang geplante EuroRettungsschirm ausreicht. Die SPD hat mittlerweile eine gemeinsame Linie zum Thema Euro-Bonds gefunden. Zunächst hatte Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier Verwunderung bei Parteichef Sigmar Gabriel und Ex-Finanzminister Peer Steinbrück ausgelöst, weil er in einem Interview gesagt hatte, er sehe derzeit „keine Chance“ für Euro-Bonds. Gabriel und Steinbrück dagegen waren für die Anleihen. Nach einer internen Klärung korrigierte sich Steinmeier dann via „Bild“ und schloss Euro-Bonds nicht mehr aus: Sie seien „ein Werkzeug, aber noch keine Politik“. Schäuble
Linke Realos fürchten nun, dass nach Bekanntwerden von Gysis Äußerungen die Fundis in den eigenen Reihen wieder auf Deutschlands Austritt aus der Allianz drängen würden. Gysi selbst kann sich an den genauen Wortlaut des Gesprächs nicht erinnern, vermutet aber Übersetzungsfehler, da „das Gespräch auf Deutsch geführt wurde“. So sei die Behauptung in dem Dokument, er habe gegenüber dem Botschafter geprahlt, allein für den bundesweiten Erfolg der Linken verantwortlich zu sein, „auf jeden Fall falsch“.
Deutschland
FDP
Die letzte Etappe
Die Liberalen haben genug von Guido Westerwelle. Große Teile der Partei wollen ihn noch vor den Landtagswahlen 2011 stürzen, weil sie ihm nichts mehr zutrauen. Aber der Vorsitzende hat sich entschieden, um seine Ämter zu kämpfen.
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s gibt Gespräche, in denen etwas zerreißt. Danach ist allen klar, dass die Phase der unterschwelligen Aggression zu Ende ist, dass der offene Krieg beginnt. Guido Westerwelle hatte ein solches Gespräch am 2. Dezember. FDP-Fraktionschefs aus sieben Bundesländern besuchten ihn im Berliner Thomas-Dehler-Haus. Vorher hatten sie ihre Botschaft an den Parteivorsitzenden untereinander abgestimmt: Westerwelle verschrecke die Wähler, seine Strategie sei falsch, nur eine radikale Änderung helfe noch. Das schließe auch einen Wechsel an der Spitze nicht aus. Die Delegation kam allerdings kaum dazu, ihre Botschaft loszuwerden, weil Westerwelle sie rüde abfertigte. Als einer der Ersten sagte der Berliner Christoph Meyer, dass das Erscheinungsbild der Parteispitze schlecht sei. So könne man die Mitglieder nicht motivieren, für die FDP 22
Vertrauen verspielt
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Ergebnisse der FDP bei der Sonntagsfrage: „Welche Partei würden Sie wählen, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre?“
Bundestagswahlergebnis vom 27. September 2009
14 12 10 8 6 4
Angaben in Prozent
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Quelle: Infratest dimap für ARD-Deutschlandtrend
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zu werben. Westerwelle ging rasch dazwischen. Der Kollege könne sich sicher sein, dass er, Westerwelle, etwas von Wahlkampf verstehe, sagte er. Der baden-württembergische Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke berichtete von wachsender Wut und Frustration in der Partei, die sich gegen die Führung richteten. Er wisse sehr gut, wie die Stimmung sei, unterbrach Westerwelle. Man dürfe sich nicht von Stimmungen abhängig machen. Der sachsen-anhaltische Fraktionschef Veit Wolpert sagte vorsichtig, die Wähler in seinem Land liebten keine Polarisierungen. Westerwelle bügelte ihn ab. Die Atmosphäre in Westerwelles Büro sei eisig gewesen, berichten Teilnehmer. Der Parteivorsitzende hatte gemerkt, worum es eigentlich ging: seinen Rücktritt. „Es ist mir nicht verborgen geblieben, was Ziel des Treffens ist“, sagte er.
Parteichef Westerwelle
HANNIBAL HANSCHKE / DPA
Empfindlich und verletzt
Er werde aber weiterhin das tun, was er im Interesse der Partei für richtig halte. „Ich habe in WikiLeaks gelesen, dass Sie aggressiv werden, wenn Sie von politischen Schwergewichten herausgefordert werden“, sagte Rülke zum Abschluss des Gesprächs süffisant. „Nun darf ich mich wohl auch als politisches Schwergewicht fühlen.“ Die Runde löste sich auf, ohne Ergebnis. Sollte Westerwelle gehofft haben, dass er seine Gegner mit seiner harschen Reaktion eingeschüchtert hat, sieht er sich nun getäuscht. Die FDP ist in Aufruhr. Eine Partei hat genug, sie will ihren Vorsitzenden nicht mehr, der Abstoßungsprozess ist in vollem Gange. Das Signal für die vielleicht letzte Etappe setzte in der vergangenen Woche der Vorsitzende der FDP-Fraktion in Schleswig-Holstein, Wolfgang Kubicki, in einem SPIEGEL-Gespräch, in dem er den Zu-
stand seiner Partei mit der „Spätphase der DDR“ verglich. Seitdem prasseln die kritischen Stimmen wie ein Geschosshagel auf Westerwelle nieder. Bei Veit Wolpert aus Sachsen-Anhalt entlädt sich die Enttäuschung über das Gespräch am 2. Dezember in den vernichtenden Sätzen: „Wir verlangen keine Unterstützung aus Berlin. Wir wären schon froh, wenn sich der Schaden in Grenzen hielte.“ In Sachsen-Anhalt wird im März 2011 gewählt, und es ist kein Zufall, dass sich jetzt vor allem die Landespolitiker auf Westerwelle stürzen. Im nächsten Jahr gibt es sieben Landtagswahlen. Bislang ging es vor allem um Umfragen, aber 2011 geht es um Mandate, um Ämter, und da werden viele Politiker ungemütlich. Westerwelle ist jetzt in einem Zustand wie Kurt Beck kurz vor seinem Rücktritt als Bundesvorsitzender der SPD. Es ist D E R
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noch nicht lange her, da wurde er als Held gefeiert, nun soll er an allem schuld sein. Längst gibt es zwei Realitäten. Wenn er anwesend ist, wird er behandelt wie ein Amtsträger. Wenn er nicht dabei ist, geht es nur um seinen Sturz und die Zeit nach ihm. In solchen Phasen sind Politiker wie Geister, als führten sie das politische Leben, das eigentlich schon vorbei ist. Und da ist schon jemand, der sich Westerwelles Leben vorstellen kann. Man nennt ihn „Mister X“. Er hat sich vorgenommen, beim Bundesparteitag im Mai gegen Westerwelle anzutreten. Sein Name wird von dem kleinen Kreis seiner Unterstützer als Geheimnis behandelt. Er ist wahrscheinlich kein Prominenter mit Chancen, sondern einer, der zeigen will, dass so viel Unmut ein Ventil braucht. Die Frage ist nur, ob Westerwelle im Mai noch antritt. Ob er nicht schon vorher abdankt oder vertrieben wird. Bislang ist sein Glück, dass es niemanden gibt, der allen als Nachfolger einleuchtet. Die vergangene Woche muss für Guido Westerwelle wie ein Alptraum gewesen sein. Am Montag erscheint das KubickiInterview, am selben Tag sprechen die Führungsleute im Präsidium nur kurz darüber, man will ihn nicht zu ernst nehmen, das Thema soll schnell verschwinden. In der Fraktionssitzung am Dienstag brechen die Dämme. Westerwelle ist nicht da, er steckt auf der Rückreise von Brüssel in einem Stau fest. Fraktionschefin Birgit Homburger eröffnet die Sitzung mit den üblichen Worten, sie sagt, die FDP müsse nur ihre Erfolge besser verkaufen, doch dieser Appell wirkt jetzt fast albern. Dem Abgeordneten Rainer Stinner platzt als Erstem der Kragen. „Wenn ich das an der Basis erzähle, dann halten die mich für bescheuert“, ruft Stinner. „Wir müssen uns doch mal inhaltlich mit Kubickis Kritik auseinandersetzen. Im Kern hat er ja recht.“ Heiner Kamp sieht es ähnlich: „Es ist schon lustig, dass wir hier über unsere Mini-Erfolge reden. Die Realität sieht doch anders aus. Die Basis ist entsetzt über uns.“ Der Finanzpolitiker Frank Schäffler sagt: „Das viele Klein-Klein reicht nicht aus. Wir brauchen jetzt einen Urknall.“ Über eine Stunde dauert der kollektive Wutausbruch, kaum jemand nimmt Westerwelle in Schutz. Am Abend kommen in der Parlamentarischen Gesellschaft in Berlin 17 Mitglieder des „Schaumburger Kreises“ zusammen, es ist eine verschworene Runde konservativer FDP-Politiker, die nicht als Westerwelles Fanclub gilt. Hermann Otto Solms ist da, ein Feind Westerwelles, seit der ihn nicht zum Bundesfinanzminister 23
Deutschland tei unter Zurückstellung persönlicher Interessen und jeder ‚Bunkermentalität‘ aus dem Tief, indem Sie – spätestens an Dreikönig – ankündigen, nicht wieder für den Parteivorsitz kandidieren zu wollen“, heißt es in dem Brief, den vier prominente Mitglieder des Landesverbands unterschrieben haben. So ist die Stimmung auf allen Ebenen der Partei. „Die Leute winken schon ab, wenn sie nur seinen Namen hören“, sagt Andrea Daum, die Vorsitzende des FDPOrtsverbandes im hessischen Groß-Umstadt. In Hessen sind in gut drei Monaten Kommunalwahlen, und die Groß-Umstädter Liberalen grübeln im holzgetäfelten
Der hessische Landesvorsitzende JörgUwe Hahn fühlt sich vom Chef der Bundespartei um die Früchte seiner Arbeit gebracht. Seit die Umfragewerte eingebrochen sind, ließ Hahn kaum eine Gelegenheit aus, um eine Spitze gegen Westerwelle abzusetzen. Er trifft sich jetzt viel mit zwei anderen hessischen Liberalen, dem ehemaligen Bundesvorsitzenden Wolfgang Gerhardt und dem Finanzpolitiker Solms. Derzeit wollen sie Westerwelle nicht öffentlich attackieren. Er werde noch „bis nach Weihnachten auf der Zuschauertribüne bleiben“, sagt Hahn. Danach werde er „weitersehen“. Das Dreikönigstreffen sei „eine gute Gelegenheit für den Bundesvorsitzenden, eine Initiative zu starten, mit der die Partei wieder nach vorne kommt“, umschreibt der rheinland-pfälzische FDP-Fraktionschef Herbert Mertin seinen Appell an Westerwelle, endlich ernsthaft über personelle Konsequenzen nachzudenken. „Immer wieder“, beklagt Mertin am vergangenen Montag, habe sein Landesverband in den vergangenen Wochen und Monaten an die Berliner Parteizentrale gemeldet, dass die Anhänger „Probleme“ mit dem Auftreten und der Politik Westerwelles haben. Nie habe es eine Reaktion gegeben. Mitte vergangener Woche entschließt sich Mertin dazu, Westerwelle einen Klotz am Bein zu nennen. Insbesondere „jüngere Männer, Typ IT-Berater“, verließen in diesen Wochen die Partei, hat die Bundestagsabgeordnete Ulrike Flach aus Mülheim an der Ruhr beobachtet. „Das sind Menschen, die enttäuscht sind von Guido Westerwelle und den nicht eingelösten Wahlversprechen“, sagt sie. Bei den Landtagswahlen im März gehe es „um die Zukunft der Partei“, warnt Veit Wolpert, Spitzenkandidat der FDP in Sachsen-Anhalt und Teilnehmer des Treffens am 2. Dezember in Westerwelles Büro. In den jüngsten Umfragen liegt die Partei dort bei gerade noch fünf Prozent. Wolpert, Rechtsanwalt aus Würzburg, führt die FDP-Fraktion im Landtag seit vielen Jahren. Seit Wochen reist er durch das Land. Er spricht mit Unternehmern, Wahlkämpfern, Funktionären. An einem Dienstagmorgen steht er im Anzug und Wintermantel in der Werkstatt eines regionalen Fahrradherstellers. „Nicht ganz einfach gerade, wa?“, sagt der BetriebsBERTHOLD STADLER / DAPD
machte, und Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle, den die Partei als Westerwelles Nachfolger handelt. Seit Monaten beklagen die Schaumburger die Lage der Partei, aber noch nie haben sie Westerwelle frontal angegriffen. Das ändert sich jetzt. Besonders sein ungelenker Umgang mit der Affäre um seinen Büroleiter Helmut Metzner, der Interna aus den Koalitionsverhandlungen an die amerikanische Botschaft lieferte, entsetzt die Parteifreunde. Das sei völlig unprofessionell gelaufen, sagt der hessische Abgeordnete Stefan Ruppert, die anderen stimmen zu. Viele
Vizekanzler Westerwelle*: Er war nie beliebt, obwohl er sich das sehr gewünscht hat
in der Runde sind sich einig, dass Westerwelle sofort abtreten müsste, und zwar nicht nur als Parteichef, sondern auch als Außenminister. Man beschließt, Emissäre zu Westerwelle zu schicken, sie sollen ihn über die schlechte Stimmung informieren. Die Hoffnung ist, dass er dann selbst die Konsequenzen zieht. Am nächsten Tag steigt der Druck auf Westerwelle weiter. Herbert Mertin, der Spitzenkandidat der FDP in RheinlandPfalz, nennt den Parteichef einen „Klotz am Bein“. Er solle dem Landtagswahlkampf besser fernbleiben. Zeitgleich mit Mertins Kritik wird ein Brief aus dem Landesverband BadenWürttemberg publik. „Helfen Sie der Par* Mit Bundeskanzlerin Angela Merkel am 26. November im Bundestag.
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Séparée des Orts-Italieners, wie sie den Wahlkampf hinbekommen sollen, ohne für die Fehler der Bundespartei in Haftung genommen zu werden. „Wir haben schon vor acht Monaten nach Berlin geschrieben und Westerwelles Rücktritt gefordert“, sagt Fritz Roth, Schriftführer des Ortsverbands. Damals sei ihnen klargeworden, dass sich der Parteichef bei den Koalitionsverhandlungen über den Tisch habe ziehen lassen, nur um selbst Außenminister werden zu können. „Einem Genscher wäre das nicht passiert“, schimpft Roth. Auch beim örtlichen Parteinachwuchs hat der FDP-Chef keine Fans mehr. „Wenn wir Leute ansprechen, sagen die, wir würden ja vielleicht zu euch kommen, aber dieser Westerwelle“, sagt der Juli-Kreisvorsitzende Benjamin Schäfer. „Das kann so nicht weitergehen.“ D E R
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leiter. Wolpert lächelt müde. Er führt redete Westerwelle nicht lange um das einer hektischen Ablösung des Vorsitzenlängst auch Wahlkampf gegen die eigene Thema herum. Wenn es den Wunsch den völlig im Chaos versinkt. Partei, gegen die Negativschlagzeilen aus gebe, über die Lage der FDP oder über Der zweiten Gruppe sind solche Beseine Person zu sprechen, sagte er, dann denken egal. Sie fordern einen BefreiBerlin. Wolpert überfliegt die Nachrichten auf könne man das gern tun. Zwei Stunden ungsschlag, sie wollen Westerwelle wegseinem BlackBerry: Kubicki legt nach. debattierten die Teilnehmer über die Kri- haben, und zwar sofort. Wer Nachfolger Wolpert seufzt. „Niemand wählt eine zer- se der Partei. Zum Kern des Problems wird, ist zweitrangig. Ihr Motto lautet: strittene Partei.“ Dann sagt er: „Wester- kam schließlich Hessens FDP-Chef Hahn. Jeder ist besser als Westerwelle. Angewelle muss am 6. Januar endlich liefern.“ Westerwelle solle sich wirklich überlegen, führt wird dieses Feindeslager vom LanDer Frust an der Basis sei groß. „Meine ob von allen Szenarien sein Rücktritt desverband Hessen. Leute müssen sich seit einem Jahr am nicht die beste Alternative wäre, sagte Die dritte Gruppe stützt Westerwelle Stammtisch beschimpfen lassen. Das er. Danke für den Ratschlag, antwortete noch, vor allem sein Landesverband in Westerwelle, aber das komme für ihn Nordrhein-Westfalen zählt dazu. Dessen macht keinen Spaß.“ Was macht das alles mit Guido Wes- nicht in Frage. neuer Chef Daniel Bahr hat Westerwelle Seine Chance ist, dass er bislang ein- in der vergangenen Woche Rückhalt zuterwelle, diese Stimmung in seiner Partei, von der er weiß? Er liest die Zeitungen, sam an der Spitze stand, andere, starke gesichert. Allerdings wird die Gruppe der er hört die Kritik und die Berichte seiner Getreuen. Einer, der ihn in der vergangenen Woche mehrmals gesehen hat, im Kabinett, im Bundestag, berichtet von einem Mann, der nicht so aufgekratzt ist wie sonst, der sich empfindlich zeigt und verletzt. Er redet über seinen Zustand, manchmal wirkt er verloren, dann wieder kämpferisch. Westerwelle war nie beliebt, obwohl er sich das sehr gewünscht hat. Er musste sich seine Erfolge hart erarbeiten, oft gegen heftige Anfeindungen auch aus den eigenen Reihen. Er hat viele Krisen überstanden, und er hat die FDP am Ende mit einem triumphalen Ergebnis von 14,6 Prozent nach elf Jahren Opposition wieder in die Regierung geführt. Das haben ihm viele nicht zugetraut. Seither nimmt Westerwelle den Widerstand gegen seine Person als Gradmesser dafür, wie richtig er Mögliche FDP-Chefs Brüderle, Lindner*: Noch gibt es niemanden, der allen als Nachfolger einleuchtet liegt. Je heftiger er befehdet wird, desto starrköpfiger wird er. Hat er Führungsfiguren gibt es nicht. Weil die Unterstützer immer kleiner, und auch sie nicht am Ende immer recht behalten? Das Partei sich jahrelang allein auf ihren Vor- sehen in Westerwelle nur noch einen Parist zwar nachweislich falsch, aber er ist sitzenden ausrichtete und damit in der teichef auf Abruf. Sie schonen ihn nur, Oppositionszeit erfolgreich war, brachten solange ihm keine Wahlniederlage angefest davon überzeugt. Die Steuererleichterung für Hotelbe- sich in der FDP keine anderen Anführer hängt werden kann. sitzer, das böse Wort von der „spätrömi- in Stellung. Erst jetzt, in der FührungsSollte Westerwelle stürzen, gibt es derschen Dekadenz“, das Pochen auf weitere krise, formieren sich die Lager. zeit zwei Kandidaten für seine Nachfolge. Drei Gruppen gibt es in der Partei. Die Einer ist Wirtschaftsminister Brüderle. Er Steuersenkungen, obwohl es dafür keine Spielräume gibt – all das geht auf sein einen wollen Aufruhr in Wahlkampfzei- treibt gerade ein Doppelspiel. Nach außen Konto. Und er hat es nicht geschafft, in ten vermeiden, sie wollen Westerwelle steht er zu Westerwelle. In internen Runder Außenpolitik bedeutende Akzente zwar loswerden, aber nicht um jeden den zeigt er seine langjährige Abneigung. zu setzen. Sein einziger Erfolg war der Preis. Selbst manche Wahlkämpfer in BaBrüderle ist der einzige FDP-Minister, Sitz im Weltsicherheitsrat für die Deut- den-Württemberg wie der Spitzenkandi- der aus seinem Amt etwas gemacht hat. dat Ulrich Goll treten daher eher gemä- Er hat sich früh gegen staatliche Hilfen schen. Aber wird er zurücktreten? Am Don- ßigt auf, sie fürchten, dass ein Sturz Wes- für Opel ausgesprochen und gegen lännerstagabend trafen sich, wie immer vor terwelles ihnen im Wahlkampf mehr gere Steinkohlesubventionen. Das reichBundesratssitzungen, die stellvertreten- schadet als nutzt und dass die Partei nach te, um in einer schwachen Mannschaft den FDP-Ministerpräsidenten mit Homzum Star aufzusteigen. burger und Westerwelle. In der Berliner * Am 6. Januar dieses Jahres beim Dreikönigstreffen in Aber seine Wahl zum Parteichef wäre Landesvertretung von Schleswig-Holstein Stuttgart. die Rückkehr zur alten FDP, die sich vor D E R
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ANDREA BRANDT, MARKUS FELDENKIRCHEN, SIMONE KAISER, DIRK KURBJUWEIT, RALF NEUKIRCH, JÖRN PETRING, MAXIMILIAN POPP, MERLIND THEILE
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SPI EGEL-GESPRÄCH
„Ich stehe für einen starken Staat“ Bundesinnenminister Thomas de Maizière, 56, über die Psychologie von Terrorwarnungen, den geplanten Umbau der Sicherheitsbehörden und sein Unbehagen gegenüber WikiLeaks
CHRISTIAN THIEL / DER SPIEGEL
allem für den konservativen Handwerksmeister zuständig fühlte. Für einen Aufbruch stünde er nicht. Mit den smarten jungen Liberalen hatte Brüderle nie viel gemein. Diese Gruppe könnte sich eher mit Generalsekretär Christian Lindner anfreunden. Aber auch der eignet sich kaum als Königsmörder. Lindner trat als Teenager unter anderem wegen Westerwelle in die FDP ein, lange eiferte er ihm nach. Lindner hat ihm viel zu verdanken, auch deshalb scheut er den Aufstand. Zudem wäre er sehr jung für einen Parteivorsitzenden, er ist erst 31, er traut sich die ganz großen Aufgaben jetzt nicht zu. „Der muss noch ein paar Jahre durch die Kreisverbände reisen“, sagt ein Kenner der Partei. Deshalb ist der Wunsch der vielen, dass Westerwelle verschwindet, nicht so leicht umzusetzen. Einige Gegner haben verabredet, dass sie den Druck bis zum Dreikönigstreffen erhöhen wollen. Tritt er gleichwohl nicht zurück und finden sich keine Königsmörder, schleppt ihn die Partei mit in die Landtagswahlen. Sollte die FDP in Baden-Württemberg oder Rheinland-Pfalz untergehen, wird sich Westerwelle auf keinen Fall halten können. Dann geht es um Brüderle oder Lindner. Schafft es Westerwelle wider Erwarten bis zum Bundesparteitag im Mai, wartet „Mister X“ auf ihn. Schon vor Wochen hat sich im kleinen Kreise ein Mitglied des Bundesvorstands bereit erklärt, gegen Westerwelle um den Bundesvorsitz zu kandidieren, wenn es sonst niemand tun sollte. Der Name soll bis zu diesem Zeitpunkt geheim bleiben. Ziel der Aktion ist, der Partei mit einer Kampfkandidatur zu zeigen, dass es durchaus Alternativen zu Westerwelle gibt, man müsse sich nur trauen. Mister X, der zu Westerwelles Alterskohorte gehört, würde für sich mit dem Anspruch werben, im Gegensatz zum Vorsitzenden für ein breiteres FDP-Programm und einen ganzheitlichen Liberalismus zu kämpfen. Den Kreis, der ihn unterstützt, stört es schon lange, dass die Partei in den vergangenen Jahren auf eine Person und deren Lieblingsthema, die Steuersenkung, reduziert wurde. Auf eine weit radikalere Kritik trifft Westerwelle im Internet. Auf seiner persönlichen Facebook-Seite sah sich der User „Guido Westerwelle“ genötigt, auf die „Regeln des Anstands und der Höflichkeit“ hinzuweisen. Die Tonlage der Beiträge sei in den letzten Tagen „zunehmend rauer und bisweilen respektlos“ geworden. Das Strafgesetzbuch finde „für beiliegende und verleumderische Aussagen auch im Internet Anwendung“. MATTHIAS BARTSCH,
Innenpolitiker de Maizière: „Al-Qaida versucht uns zu treiben“ SPIEGEL: Herr Minister, bedeutet der
Selbstmordanschlag in Stockholm, dass die von Ihnen befürchtete Terrorwelle nun in Europa angekommen ist? De Maizière: Nein. Das hat mit den Warnungen vor Anschlägen, die uns seit Monaten erreichen, wenig zu tun. Wahr ist leider, dass große öffentliche Diskussionen immer auch zu Nachahmern führen, die nicht eng in weltweite konspirative Netzwerke eingebunden sind. So könnte es hier gewesen sein. SPIEGEL: Die laute öffentliche Diskussion und der spürbare Erregungspegel waren also ein Fehler? De Maizière: Keineswegs, aber diese möglichen negativen Folgen sind der Grund, warum ich mir die Frage, ob und wann ich öffentlich warnen soll, fast ein Jahr lang genau überlegt habe. Der Terrorismus ist auch eine Form von Psychologie. Im Nachhinein wissen wir zum Beispiel, dass die Drohung vor der Bundestagswahl 2009 nur psychologisch gemeint war. Auch dass und wie sich al-Qaida vor sechs Wochen zu den Paketbomben auf der araD E R
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bischen Halbinsel bekannt hat, diente vor allem der psychologischen Wirkung: Seht her, mit ein paar tausend Dollar können wir den internationalen Frachtverkehr angreifen. Diese psychologischen Versuche darf man nicht durch eine öffentliche Debatte unterstützen. SPIEGEL: Aber genau das haben Sie doch getan, als Sie im November vor die Kameras getreten sind und vor einem Anschlag gewarnt haben. De Maizière: Da war die Einschätzung der Lage anders. Und außerdem: Wenn der Eindruck entsteht, es wäre gar nichts los, ist es auch falsch. Zwischen diesen Polen müssen sich die Äußerungen des verantwortlichen Ministers bewegen, ohne dass man letztlich genau weiß, was das eine oder andere hervorruft. SPIEGEL: Warnen Sie lautstark, haben die Terroristen ihr Ziel erreicht, die Gesellschaft zu verunsichern. Warnen Sie nicht, fällt es den Terroristen leichter, ihre Pläne zu verwirklichen. Ist der deutsche Innenminister ein Getriebener von al-Qaida?
De Maizière: Nein. Natürlich versucht al-
setze. Ich will mich nicht dem Vorwurf aussetzen, die Situation für parteipolitische Vorhaben irgendwelcher Art zu instrumentalisieren. Im Übrigen sollte ein Innenminister nicht zu viele Dinge fordern, bei denen die Wahrscheinlichkeit gering ist, sie durchzusetzen. SPIEGEL: Hegt der Bundesinnenminister den heimlichen Wunsch, gefährliche Islamisten einfach wegzusperren? De Maizière: Nein, denn das würde auch nicht funktionieren, wie wir bei der Sicherungsverwahrung gerade gelernt haben. Wenn Sie nach einem heimlichen Wunsch fragen: Ich hielte eine Grundge-
ben haben, was der Hintergrund Ihrer Terrorwarnung gewesen ist. In anonymisierter, abstrakter Form ging es um einen Anrufer, der vor einem Anschlag gewarnt hat und dessen Anruf zur Absperrung des Reichstags geführt hat. De Maizière: Da ärgert sich ein Innenminister schon. Mich hat auch geärgert, dass sich Landesinnenminister zur geplanten Reform der Sicherheitsbehörden mit einem Vokabular äußern, das der Sache nicht angemessen ist. SPIEGEL: Sie meinen die umstrittene Fusion der Bundespolizei mit dem Bundeskriminalamt, Ihrer neuen Superpolizei.
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Qaida, uns zu treiben. Andererseits müssen wir reagieren, und dabei gibt es eine faszinierende Beobachtung. Nachdem ich die Warnung ausgesprochen hatte, hat sich laut Umfragen eine deutliche Zahl von Bürgern sicherer gefühlt als vorher. Ich erkläre mir das damit, dass man schlecht mit diffusen, abstrakten Gefahren umgehen kann, die nicht klar zu erkennen sind. Wenn es dagegen eine konkrete Gefahr gibt, wachsen den Menschen Flügel. Das ist ein schöner Sieg über die psychologische Kriegführung der Terroristen.
Streitthema Bundespolizei: „Erst anschauen, dann losschimpfen“ SPIEGEL: Für den Innenminister bedeutet setzänderung für richtig, um den Bundesdas: präzise informieren und warnen, wehreinsatz im Inneren zu ermöglichen. wenn es etwas Konkretes gibt. Ansonsten: Aber die politischen Mehrheiten sind, wie sie sind, und deshalb beiße ich mir bei Klappe halten? dieser Frage auf die Zunge und fordere De Maizière: So kann man das deuten. SPIEGEL: Der von Ihnen genannte Termin das nicht. Dabei bleibt es. Vergessen Sie für einen Anschlag Ende November ist also Ihre Vorabmeldung. verstrichen. Wann und wie werden Sie SPIEGEL: Die „Zeit“ hat Ihnen vorgeworfen, Entwarnung geben? Sie würden so reden, wie angeblich „Zeit“De Maizière: Noch gibt es keinen Grund Redakteure reden: abwägend, differenziezur Entwarnung, und es wäre auch tak- rend, reflexiv. Ärgert Sie der Vorwurf? tisch falsch, jetzt einen Zeitpunkt anzu- De Maizière: Bei Leuten, die entscheiden, kündigen. Aber wenn ich das mitteilen ohne abzuwägen, sind Sicherheitsinterkann, werde ich wieder an die Öffentlich- essen nicht gut aufgehoben. Ansonsten keit gehen. Die Menschen haben nach spricht daraus ein gewisser intellektueller diesem Vorlauf ein Anrecht darauf, so et- Hochmut der Journalisten. was zu erfahren. SPIEGEL: Thomas de Maizière polternd, SPIEGEL: Bislang hat in einer solchen Kri- attackierend – geht das überhaupt? sensituation jeder Innenminister nach De Maizière: Na klar. dem Umbau des Rechtsstaates gerufen. SPIEGEL: Wann zum Beispiel? Otto Schily wollte die Vorbeugehaft für De Maizière: Wenn ein wichtiges PresseGefährder. Wonach rufen Sie? organ Informationen veröffentlicht, die De Maizière: Wir ringen bekanntlich in der gegebenenfalls Ermittlungen erschweren Koalition um die Vorratsdatenspeiche- können. rung und die Visa-Warndatei. Aber im SPIEGEL: Sie meinen den SPIEGEL-Artikel Großen und Ganzen reichen unsere Ge- „Vorbild Mumbai“, in dem wir beschrieD E R
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De Maizière: Den Begriff Superpolizei fin-
de ich gut. Aber wenn ein Land wie Bayern 33 000 Polizisten hat und im Bund eine Polizei mit 35 000 Vollzugsbeamten entsteht, weiß ich nicht, warum eines eine schlagkräftige Landespolizei sein soll und das andere eine Mammutbehörde. SPIEGEL: Das Verfassungsgericht hat 1998 festgeschrieben, dass es keine bundesweite Polizei der Bundesregierung geben darf, weil Polizei laut Grundgesetz Ländersache ist. De Maizière: Ich will doch gar keine neuen Befugnisse, sondern nur die Polizisten, die wir jetzt schon haben, mit ihren bestehenden Befugnissen anders organisieren. Das hätten sich meine Innenminister-Kollegen erst einmal anschauen sollen, ohne gleich loszuschimpfen. Unter Familienmitgliedern übt man öffentlich keine Kritik. Ich halte mich daran. Leider waren es gerade Unionsinnenminister, die sich besonders laut geäußert haben ... SPIEGEL: ... der Bayer Joachim Hermann zum Beispiel und der Niedersachse Uwe 27
* Mit den Redakteuren Holger Stark und Marcel Rosenbach in Berlin.
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Autobombenanschlag in Stockholm am 11. Dezember: „Kein Grund zur Entwarnung“
auf totale Transparenz gibt. Regierungen müssen auch vertraulich miteinander reden können. Vertraulichkeit und Transparenz sind kein Widerspruch, sondern bedingen einander. SPIEGEL: WikiLeaks ist letztlich ein Teil des in demokratischen Gesellschaften bestehenden Prinzips der Checks and Balances. Wo besteht für Sie der Unterschied zu Medien wie dem SPIEGEL? De Maizière: Medien fordern nicht den totalen Zugang, die totale Transparenz. Sie freuen sich natürlich, wenn Sie an geheime Dokumente kommen. Aber Journalisten würden nicht staatstheoretisch argumentieren, es dürfe überhaupt keine Regierungsgeheimnisse mehr geben. Das vertritt nicht einmal der SPIEGEL, aber WikiLeaks tut es, und das ist falsch. Ich finde schlimm, dass sich ausgerechnet diejenigen, die sich als Jünger der Schattenwelt aufführen, von anderen die totale Transparenz fordern. SPIEGEL: Die Empörung hat doch viel mit Betroffenheit zu tun. Würde es sich um Enthüllungen aus Burma, Russland oder China handeln, würden die meisten Kritiker applaudieren. De Maizière: Wenn wir hier schon von Checks and Balances sprechen, würde ich mir in der Tat wünschen, dass WikiLeaks weniger auf die transparenten und offenen westlichen Demokratien zielte, sondern auf Diktaturen und repressive Regime in der Welt. Dann gäbe es wenigstens einen echten Aufklärungsanspruch. SPIEGEL: Das hat WikiLeaks getan, etwa in Kenia, Somalia, China oder Thailand.
De Maizière: Nur zu, kann ich da nur sagen. Leider waren die letzten Veröffentlichungen anders. Ich bleibe dabei: Die Vertraulichkeit des Gesprächs ist Voraussetzung für erfolgreiches Regierungshandeln. SPIEGEL: Dann müssen Sie sich als Erstes bei Hillary Clinton beschweren, die diese Vertraulichkeit bricht, indem sie amerikanische Diplomaten zur Spionage bei der Uno auffordert. De Maizière: Ich habe das mit Erstaunen gelesen. SPIEGEL: Gilt für WikiLeaks die Meinungsfreiheit? De Maizière: Ja, aber nicht grenzenlos. Sie ist an die allgemeinen Gesetze gebunden, und es gibt auch für Presseorgane keine Freiheit ohne Verantwortung. Das klingt vielleicht wie ein naiver Appell, aber das Prinzip Verantwortung gilt für jedermann. SPIEGEL: Ist es zulässig, dass Amazon, PayPal und andere WikiLeaks boykottieren? De Maizière: Wenn das auf Druck der USRegierung geschehen sein sollte, finde ich es nicht in Ordnung. Wenn Unternehmen das frei entscheiden, ist es einerseits Teil ihrer unternehmerischen Entscheidung, andererseits politisch problematisch. Ich bin ein großer Befürworter der sogenannten Netzneutralität. Das bedeutet, dass die Provider gezwungen sind, Inhalte ohne politische oder geschäftliche Selektion zu transportieren. SPIEGEL: Dann müssten Sie sich jetzt mit WikiLeaks solidarisieren, weil genau diese Netzneutralität verletzt wird, wenn der französische Industrieminister dazu auffordert, keine WikiLeaks-Inhalte mehr zu verbreiten. De Maizière: Solche Ausgrenzungen führen tatsächlich zu schwerwiegenden Fragen, die uns noch über Jahre beschäftigen werden. Und dann geht es irgendwann auch um die Meinungsfreiheit. Diese Debatte gehört zu den schwierigsten, die ich im Internet auf uns zukommen sehe. SPIEGEL: Der Staat könnte die Netzneutralität gesetzlich regeln. CHRISTIAN THIEL / DER SPIEGEL
Schünemann. Ihre Unionskollegen erwarten, dass Sie mehr Kante zeigen. De Maizière: Stärke zeigen ist etwas anderes als Kante zeigen. Ich stehe für einen starken Staat, der die Freiheit schützt. Dafür brauche ich keine Kante. SPIEGEL: Im Bundeskriminalamt herrscht seit Bekanntwerden der Reformpläne eine Art Schockstarre. Warum haben Sie sich für Ihre Pläne den denkbar schlechtesten Zeitpunkt ausgesucht? De Maizière: Die Terrorlage ist jetzt schwierig und wird es in einem Jahr auch sein. Ich erwarte, dass sich Polizisten professionell verhalten, wir wollen ja gerade das BKA stärken. Wenn Terrorismus und Kriminalität international wachsen, ist ein BKA mit mehr Kompetenzen im Bereich der Organisierten Kriminalität gerade jetzt eine richtige Antwort. Die Zusammenarbeit zwischen BKA und Bundespolizei ist verbesserungswürdig. Es gibt zu wenig gemeinsame Lagebilder, wenig gemeinsame Ermittlungen, zu wenig Informationen, die geteilt werden. Das geht so nicht. Wir werden unsere internationalen Ermittlungen mit der Reform deutlich ausbauen. SPIEGEL: Sie sind also schon entschieden? De Maizière: Nein. Ich rede jetzt mit den betroffenen Behörden sowie mit den Ländern und werde im Frühjahr zu einer Entscheidung kommen. Unmittelbar danach wird die Reform umgesetzt. SPIEGEL: Ein großer Wurf wäre die Fusion von BKA und Bundespolizei mit dem Zollkriminalamt gewesen. Da fehlte Ihnen offenbar der Mut. De Maizière: Ach, ich höre von den einen, die Reform sei zu groß, und von den anderen, sie sei zu klein. SPIEGEL: In Wirklichkeit scheuen Sie den Konflikt mit Finanzminister Wolfgang Schäuble, der für den Zoll zuständig ist. De Maizière: Das ist Quatsch. Gehen Sie mal davon aus, dass Wolfgang Schäuble und ich aufs engste zusammenarbeiten. Aber man kann sich seinen Rucksack auch so voller Steine füllen, dass man nicht mehr laufen kann. Dann ist er zwar toll gepackt, aber die Beweglichkeit ist dahin. SPIEGEL: Wir würden mit Ihnen gern über WikiLeaks reden. Ist die Organisation eine Bedrohung der Demokratie oder eine Bereicherung? De Maizière: Für Deutschland ist WikiLeaks lästig und ärgerlich, aber keine Bedrohung. International gesehen halte ich deren Treiben für total unverantwortlich. Man kann sich allerdings auch fragen, ob eine Regierung klug handelt, wenn sie den gesamten diplomatischen Verkehr über ein Netz organisiert, auf das 2,5 Millionen Menschen Zugriff haben. Ich bezweifle aber, dass es ein Menschenrecht
De Maizière (M.) beim SPIEGEL-Gespräch*
„Unverantwortliches Treiben“ D E R
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Deutschland kommen nämlich nur für jene Staaten, die seit 1997 dem sogenannten Kyoto-Protokoll angehören: Man werde sich am Weltklimarat IPCC orientieren, der ein Minus von 25 bis 40 Prozent gegenüber 1990 gefordert hatte, gelobten diese Länder in Cancún, samt EU. Amerika und China, die den Kyoto-Pflichten nicht unterliegen, kamen dagegen mit vagen ZieNach dem Gipfel von Cancún len davon. Und die anderen Kyoto-Staaverlangt Deutschland von den ten, etwa Japan, Kanada, Australien und EU-Partnern, ihre CO2-Ziele Russland, senden Signale, dass sie ihre CO2-Ziele nicht verschärfen wollen. drastisch zu erhöhen. Berlin will Der Ökonom Reimund Schwarze vom nicht länger Zugpferd sein. staatsfinanzierten Climate Service Center eim Finale des Uno-Klimagipfels in Hamburg sieht schon rein rechnerisch von Cancún herrschte Partystim- die EU in der Pflicht: „Die 30 Prozent mung. Die Teilnehmer aus aller sind nach dem Cancún-Paket für die EU Welt klatschten im Rhythmus. Die Gast- gesetzt, vielleicht muss es sogar deutlich geberin, Mexikos Außenministerin Patri- mehr sein“, sagt er. Umweltorganisatiocia Espinosa, wurde als „Göttin“ verklärt. nen halten nach Cancún einen Alleingang Man war erleichtert, dass es keinen zwei- der EU für den einzigen Weg, den globaten Absturz wie beim Klimagipfel von len CO2-Ausstoß überhaupt zu mindern: Kopenhagen geben würde. Doch nun be- Die Staats- und Regierungschefs sollten deshalb im Frühjahr das EUZiel deutlich verschärfen. So sieht das grundsätzlich auch Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU). Man müsse nach Cancún „entschlossen voranschreiten“, sagt er und verweist auf Hunderttausende Arbeitsplätze, die durch einen Öko-Boom neu entstehen könnten. Doch würde die EU-weite Verschärfung nach dem alten Verteilungsschlüssel passieren, müsste auch Deutschland sein nationales Ziel anheben – auf 42 bis 50 Prozent. Während Röttgen anfänglich dafür offen war, lehnt Kanzlerin Merkel dies knallMinister Röttgen in Cancún: „Entschlossen voranschreiten“ hart ab. Zu stark ist der Druck aus der Wirtschaft. ginnt in der EU ein harter Verteilungs- Falls die EU ihr CO2-Reduktionsziel erkampf. Im Zentrum steht Bundeskanzle- höhe, dann müssten alle 27 Länder einen rin Angela Merkel. Sie verweigert sich ei- „fairen Beitrag“ erbringen, wird im Kanzner Rolle, auf die sich die anderen 26 Län- leramt betont. „Mit dem nationalen Minder bisher verlassen haben. Deutschland derungsziel von 40 Prozent bis 2020 liegt soll nicht länger das schwerbeladene Zug- Deutschland am oberen Rand“ der Zielgröße von Cancún, heißt es. In anderen pferd beim Klimaschutz spielen. Als einziges EU-Land hat Deutschland EU-Ländern bestehe „erheblicher Nachsich das Ziel gesetzt, seine CO2-Emissio- holbedarf“. Röttgen wechselt deshalb nun vom nen bis 2020 um 40 Prozent im Vergleich zu 1990 zu reduzieren. Die anderen EU- Zwist mit der Kanzlerin in die Offensive Staaten nahmen das dankbar auf, sie lie- gegen andere EU-Länder: Er klingt jetzt gen mit ihren Zielen meist weit darunter. fast so wie Merkel während der Euro-KriDas Gemeinschaftsziel der EU fällt mit se und verlangt, „dass die übrigen euro20 Prozent viel niedriger aus. Der deut- päischen Länder einen Beitrag leisten, sche Spitzenwert ist darin eingerechnet. der dem deutschen Beitrag entspricht“. Der Klimagipfel von Cancún hat nun Dass die anderen EU-Länder sich sogar aber den Druck auf die EU erhöht, das auf das deutsche Reduktionsziel von 40 Gemeinschaftsziel von minus 20 auf mi- Prozent zubewegen sollen, verspricht ernus 30 Prozent anzuheben. Eine konkrete heblichen Streit. Im Zweifelsfall wird eine Zahl, wie stark die CO2-Emissionen bis Verschärfung daran scheitern. 2020 sinken sollen, gibt es im Cancún-AbCHRISTIAN SCHWÄGERL, GERALD TRAUFETTER KLIMA
An der Obergrenze
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De Maizière: Das ist schwierig. Das Internet ist eine moderne Infrastruktur, an der die Zukunft des Staates, der Freiheit und der Wirtschaft hängt. Bei anderen Infrastrukturen wie bei Strom und Wasser hat der Staat eine Gewährleistungsfunktion. Aber was heißt das, wenn der Staat das auch beim Internet hat? Denn jeder Schutz bedeutet auch einen Eingriff. Meine Sorge ist aber eher, dass wir den Staat bald kritisieren, weil er seiner Schutzfunktion gegenüber dem Bürger im Internet nicht gerecht werden kann – und nicht etwa, weil er zu viel oder zu stark eingreift. Aus meiner Sicht muss der Staat eine Verantwortung für die Integrität der internationalen Kommunikation übernehmen. SPIEGEL: Und wie? Bislang gibt es in Bonn das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, das BSI. De Maizière: Wenn wir das Internet als kritische Infrastruktur betrachten, müssen wir uns ganz anders aufstellen. Dann müssen Störungen vermieden oder zumindest möglichst schnell wieder abgestellt werden. Für die Verbraucher ist es dabei egal, ob eine technische Störung, eine Sabotage durch Hacker oder ein militärischer Angriff dahintersteckt. SPIEGEL: Planen Sie eine Art Cyberwache? De Maizière: Wir brauchen dringend ein Nationales Cyber-Abwehrzentrum, das die Sicherheit und die Integrität des Internets beobachtet und versucht sicherzustellen – unter Federführung des Bundesinnenministeriums. Das BSI wird darin eine wichtige Rolle spielen, aber wir müssen beispielsweise auch die großen privaten Internetprovider beteiligen, die diese Infrastruktur ja in großem Umfang betreiben. SPIEGEL: Hinter vielen Angriffen, mit Spionage-Software etwa, verbergen sich offenkundig staatliche Interessen. De Maizière: Das stimmt, eine Reihe von Angriffen kommt von anderen Staaten. An der Art des Angriffs ist das aber nicht zu erkennen. Ein militärisches Flugzeug hat eine Kennung, es gilt das Kriegsvölkerrecht, das ist alles geregelt. Hier verbirgt sich der eigentliche Angreifer im Dunkeln. Deshalb ist das geplante Abwehrzentrum so wichtig. Wir werden uns in der Bundesregierung darüber jetzt eng abstimmen, unter anderem mit dem Verteidigungsministerium. SPIEGEL: Jetzt kommen Sie doch noch mit Ihrem Traum von neuen Betätigungsfeldern für die Bundeswehr, diesmal im Internet. De Maizière: Nein. Beim Erkennen, Abwehren, Unschädlichmachen von Bedrohungen von außen sehe ich keine verfassungsrechtlichen Probleme. Aber dass wir hier insgesamt an nationalstaatliche, technische und rechtliche Grenzen stoßen, auch von Innen- und Verteidigungspolitik, ist wahr. SPIEGEL: Herr Minister, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
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Ehepaar Guttenberg beim Truppenbesuch in Afghanistan: Wichtigere Fragen als der Faltenwurf eines Rollkragenpullovers BUNDESWEHR
Riskantes Spiel Nach seinem glamourösen Paarlauf am Hindukusch soll Karl-Theodor zu Guttenberg die Bundeswehr eigentlich reformieren – und billiger machen. Bekommt er doch mehr Geld?
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leich wird wieder Geschichte gemacht. Zwei Tage nachdem KarlTheodor zu Guttenberg als erster Verteidigungsminister seine Ehefrau an der Front zum Einsatz gebracht hat, federt der Amtsinhaber im Westflügel des Bundestags an der Seite einer anderen jungen Frau in Richtung eines vorbereiteten Mikrofonwaldes. „Fang du ruhig mal an“, raunt ihm Familienministerin Kristina Schröder zu. Es ist Mittwochnachmittag kurz vor 14 Uhr, und Karl-Theodor zu Guttenberg fängt dann ruhig mal an. Das Kabinett habe heute mit der Aussetzung der Wehrpflicht eine „sehr weitreichende, historische Entscheidung getroffen“, sagt er mit einer Bedeutung in der Stimme, die in einem seltsamen Widerspruch zu dem provisorischen Ambiente steht. „Ein wichtiger, ein großer Moment“ sei das, „in dem uns bewusst wer-
den sollte, dass die Wehrpflicht eine Erfolgsgeschichte war“. Die Familienministerin, zuständig für Deutschlands Zivis, ergänzt noch etwas von einem „neuen Spirit“, einem „Spirit der Bundesfreiwilligkeit“, dann federt der Verteidigungsminister der Bundesrepublik Deutschland wieder von dannen. Ein historischer Moment im Parlamentsflur. Die Wehrpflicht hat in Deutschland nach mehr als 50 Jahren ausgedient, und Verteidigungsminister Guttenberg steht nicht mehr vor der Herausforderung, in einem Flugzeughangar in Masar-i-Scharif Johannes B. Kerner ein Interview zu geben, sondern vor einer der größten Aufgaben seines Lebens. Der Umbau der Bundeswehr in eine Freiwilligenarmee wirft größere Fragen auf als der Faltenwurf des Rollkragens seiner Gattin in Afghanistan. Der Finanz-
minister erwartet von seinem Kabinettskollegen offiziell immer noch die 8,3 Milliarden Euro Sparbeitrag in den nächsten vier Jahren. Wie das gehen soll, bleibt offen. Denn der Beschluss des Kabinetts, eine Freiwilligenarmee von „bis zu 185 000 Mann“ auf die Beine zu stellen, ist nicht finanziert. Selbst bei Guttenbergs Minimalmodell von 163 500 Mann wäre das Sparziel noch nicht erreicht. Nicht nur die Zahlen passen nicht zusammen. Die Worte tun es auch nicht. Der Verteidigungsminister erzählt bei einer Weihnachtsfeier davon, die Kanzlerin gewähre ihm einen Sparrabatt. Das wird in Kanzleramt und Finanzministerium bestritten. Es gibt dafür nur eine Erklärung: Da läuft ein großer Politpoker. Der Einsatz beläuft sich auf 80 Milliarden Euro. Darauf hat sich die Bundesregierung verständigt: Das sparen wir gemeinsam bis 2015. Und der Verteidigungsminister steuert mehr als 8 Milliarden Euro dazu bei. Der aber sagt: Sorry, ich baue eine Armee um und brauche deshalb erst mal nicht weniger, sondern mehr Geld. Die Haushälter des Bundestags sind alarmiert. „Der Bundesverteidigungsminister scheint sich außerhalb der Richtlinienkompetenz der Bundeskanzlerin bewegen zu dürfen“, sagt der haushaltspolitische Sprecher der SPD, Carsten
Hohe Hürde Was der Verteidigungsminister bis einschließlich 2014 einsparen soll, in Milliarden Euro Sparvorgaben des Finanzministers
Mögliche Einsparungen* durch Reduzierung der Truppenstärke auf 163 500 Soldaten
4,4
AXEL SCHMIDT / DAPD
8,3 Mittlerweile ist von bis zu 185000 Soldaten die Rede, wodurch die Einsparungen noch wesentlich geringer ausfallen dürften. Minister Schröder, Guttenberg
„Fang du ruhig mal an“
* Quelle: Generalinspekteur der Bundeswehr
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Deutschland Schneider. „Guttenberg ist ein Drückeberger, kein Großreformer“, sagt Alexander Bonde, Verteidigungs- und Haushaltsexperte der Grünen. Das derzeit nicht durchschaubare Spiel des Verteidigungsministers ärgert auch die Parlamentarier in den eigenen Reihen. „Die Eckpunkte für die Finanzplanung ab 2012 sind zurzeit noch offen. Da müssen wir bald für Klarheit sorgen“, verlangt die FDP-Verteidigungsexpertin Elke Hoff. „Im Prinzip fahren wir bei der Geschichte auf Sicht“, räumt der CDU-Abgeordnete Ernst-Reinhard Beck ein, der Verteidigungsfachmann der Unionsfraktion. Um Klarheit zu erlangen, versuchten die Oppositionshaushälter, Guttenberg am vergangenen Mittwoch persönlich in den Haushaltsausschuss zu zitieren. Doch Union und FDP blockierten das Vorhaben. Stattdessen versicherte Finanzstaatssekretär Steffen Kampeter (CDU), es bleibe bei den Sparvorgaben für Guttenberg. Im Sommer hatte sich der Shootingstar eine Strategie zurechtgelegt, die er vor Vertrauten selbst als „risky“ bezeichnet. Er stellte die Wehrpflicht zur Disposition und markierte mit 163 500 Mann seine Untergrenze für eine künftige Bundeswehr. Dann kam die Parteipolitik ins Spiel, und CDU und CSU erhöhten auf 185 000 Mann – gewissermaßen als Bedingung dafür, bei ihren Parteitagen im Herbst der Aussetzung der Wehrpflicht zuzustimmen. Guttenberg sieht sich am Zug. Gegenüber Parlamentariern verweist er darauf, dass der Kabinettsbeschluss wohlweislich „bis zu 185 000 Mann“ formuliere – was ihn für den Fall der knallharten Sparvorgabe die Möglichkeit offenließe, jederzeit scheibchenweise Richtung militärische Untergrenze abzuschichten – 10 000 Mann weniger bringen etwa 500 Millionen Euro im Jahr. Das wiederum würde die Wahlkämpfer in den sieben Landtagswahlen 2011 auf den Plan rufen, denn weniger Soldaten sind weniger Standorte. Guttenberg wagte vor zwei Wochen einen dreisten Vorstoß gegen den Sparzwang. „Dass eine große Reform von diesem Umfang einer Anschubfinanzierung bedarf“, behauptete er ungerührt, „steht, glaube ich, außer Frage.“ Außer Frage? Die Kanzlerin reagiert gereizt auf diese Ausreißversuche ihres Ministers. Guttenberg, heißt es im Kanzleramt, habe „sich nicht übertrieben gekümmert, sein Sparziel zu erreichen“. Er könne es nun „nicht klammheimlich“ aufheben, und die Neigung anderer, ausgerechnet für ihn zu sparen, sei „sehr begrenzt“. Guttenberg wiederum beruft sich auf Verhandlungen mit Kanzleramtschef Ronald Pofalla und Finanzminister Schäuble. Nach Guttenbergs Lesart dieser Gespräche wurde ihm signalisiert, dass vier Milliarden Euro Sparbeitrag für die Jahre D E R
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Deutschland
ZINKEN / DAVIDS
2013 und 2014 erlassen werden könnten, braucht – die Grundlage für alle weiteren der Anteil der sogenannten globalen Min- Verhandlungen mit Schäuble. Aber in derausgabe. sechs Wochen, das war den SpitzenmänAm Mittwochabend vergangener Wo- nern schnell klar, kann nicht die detailche hatte Guttenberg seine wichtigsten lierte Struktur der künftigen kleineren Verbündeten im Parlament zum Weih- Bundeswehr feststehen, schon gar nicht nachtsessen eingeladen. In kleiner Runde mit den Details für Rüstungsprojekte, die saß er drei Stunden mit den Verteidigungs- Infrastruktur- und Bauvorhaben und die experten von CDU und CSU zusammen. Betriebskosten. Guttenberg verwies auf eine informelle Die Runde verständigte sich auf eine Abrede, die er am Vormittag im Kabinett sogenannte generische Bedarfsableitung, getroffen habe. Da habe Merkel gesagt, die nur eine feststehende Größe hat, nämam Sparziel der Regierung werde nicht lich die vom Kabinett gebilligte Zahl der gerüttelt. Allerdings müsse die Bundes- Soldaten von 180 000 bis 185 000 Mann. wehr ihre von der Verfassung und durch Das heißt: Der Verteidigungsminister internationale Abkommen vorgegebenen geht im kommenden Jahr in die HausVerpflichtungen auch erfüllen können. haltsverhandlungen, ohne genau zu wisAls Beispiele nannte sie Verpflichtungen sen, was seine Truppe im folgenden Jahr in der Nato und die deutsch-französische brauchen wird. Ein riskantes Spiel, weil Brigade. Wenn da zusätzliches Geld nötig die Bundeswehr dringend auf finanzielle werde, müsse es im Haushalt anderer Mi- Spielräume angewiesen ist: Das Ende der nisterien eingespart werden. Wehrpflicht zum 1. Juli 2011 erfordert Kesse Interpretation oder Wahrheit? neue finanzielle Anreize für junge MänJedenfalls hören sich die Stellungnahmen ner und Frauen, sich für den neuen freiaus dem Hause Schäuble neuerdings selt- willigen Kurzdienst zu verpflichten. sam defensiv an: KanzleNoch heikler ist die rin und Finanzminister Standortfrage. Niederhätten den Sparbeitrag sachsens MinisterpräsiGuttenbergs von rund dent David McAllister acht Milliarden Euro sagt, die Briten hätten an„noch keineswegs abgegekündigt, bis 2020 ganz schrieben“. Man wisse aus Deutschland abzuziesehr wohl, dass der Verhen, wovon Niedersachteidigungsminister nach sen besonders betroffen jetziger Planung für sich sei. „Das muss bei den in Anspruch nehme, daPlanungen des Verteivon allenfalls ein Viertel digungsministeriums bezu bringen. Doch einen rücksichtigt werden.“ DarRabatt von bis zu sechs über hinaus sagte er mit Milliarden Euro wollen Blick vor allem auf Baysie Guttenberg nicht ge- Partner Merkel, Schäuble ern, dass es „objektive währen. Sie fürchten, „Nicht sonderlich gekümmert“ militärische Kriterien“ dass das Beispiel Schule geben müsse. „Kein Bunmacht und das gesamte Sparpaket be- desland darf bevorzugt oder benachteiligt droht. Mit Recht: Eine Teilamnestie für werden.“ Die Thüringer MinisterpräsidenGuttenberg würde eine Kaskade im Ka- tin Christine Lieberknecht nimmt in Anbinett auslösen. spruch, ihre Standorte seien seit der WenWeihnachten aber soll Ruhe sein und de für rund 600 Millionen Euro renoviert nicht die Zeit, in der nach dem Beispiel worden und „in einem Topzustand, wenn des Verteidigungsministers andere Res- man sie mit vielen Standorten in Westsorts Weihnachtswünsche anmelden – deutschland vergleicht“. Zudem gebe es oder in Unruhe darüber geraten, dass sie in Thüringen „bei den jungen Menschen die fehlenden Milliarden dann aufbringen eine überdurchschnittliche Bereitschaft, müssen. Deshalb gibt man sich im Kanz- bei der Bundeswehr zu dienen“. leramt derzeit kompromisslos. Aber im Bayerns Ministerpräsident Horst SeeSommer war Merkel mit dem Satz aufge- hofer, von Guttenberg im Kampf um die fallen: „Wegen zwei Milliarden kann ich Wehrpflicht niedergerungen, will seine nicht die deutsche Sicherheit aufs Spiel Standorte und die bayerische Rüstungssetzen.“ Und sie ergänzte: „Finanzen sind industrie schützen und wünscht Guttenwichtig, aber Finanzen sind nicht die trei- berg daher alles Geld der Welt. Dem Thebende Kraft einer Bundeswehr der Zu- ma wird hohe Bedeutung beigemessen in kunft.“ München. An diesem Dienstag setzt das Ende November legte im Ministerium bayerische Kabinett eine Arbeitsgruppe die sogenannte Kleine Lage aus Staats- ein, die streng darüber wachen soll, was sekretären, Generalinspekteur Volker die Großreform des fränkischen Sohns in Wieker und Planungsstabschef Ulrich der Berliner Fremde für dessen bayeriSchlie mit Guttenberg die Marschrichtung sche Heimat bedeutet. PETER MÜLLER, RENE PFISTER, fest. Bis Ende Januar soll klar sein, wie CHRISTOPH SCHWENNICKE, THOMAS WIEGOLD viel Geld die Truppe für 2012 bis 2015 34
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Deutschland men, an diesem Mittwoch nun muss der jedoch, dass durchaus ein späterer Termin Ministerpräsident selbst aussagen. Er hat im Oktober denkbar gewesen wäre. Der stets betont, zu keinem Zeitpunkt die Po- Termindruck war offensichtlich hausgemacht. In der Villa Reitzenstein, dem Relizei beeinflusst zu haben. Der vertrauliche Vermerk des Landes- gierungssitz in Stuttgart, drängte man polizeipräsidenten und weitere Doku- wohl zur Eile. In einer Mail von Michael Pope, dem mente zeigen jedoch, wie eng die Staatskanzlei und Mappus in die Vorbereitun- Referatsleiter Innenpolitik und Verkehr im Staatsministerium, wird deutlich, gen der Polizei eingebunden waren. Interne Dokumente zeigen, wie Bereits am 20. September, also zehn warum. Unter dem Stichwort „Schlosseng Staatskanzlei und MinisterTage vor dem geplanten Einsatz, schrieb park/Bäume“ hält der Beamte am 17. Seppräsident in die Vorbereitungen ein Protokollant anlässlich eines Besuchs tember fest: „Details werden – mit StM von Ministerpräsident Mappus in Beglei- (Staatsministerium –Red.) – in einer sedes katastrophalen Polizeitung von Verkehrsministerin Tanja Gön- paraten ‚Baumbesprechung‘ am 20.09. einsatzes eingebunden waren. ner im Polizeipräsidium Stuttgart: „MP abends besprochen, auch im Hinblick auf ie Hundertschaften waren angefor- erwartet offensives Vorgehen gegen die Terminierung und die geplante RE dert, die Absperrgitter aufgeladen, Baumbesetzer.“ Im weiteren Verlauf des (Regierungserklärung –Red.) des MP am die Wasserwerfer betankt. Doch Protokolls heißt es, die Anwesenden sei- 7.10. Anschließend Info MP.“ Dass die Mappus-Regierungserklärung 24 Stunden vor dem seit Wochen geplan- en sich darin einig, die Baumfällarbeiten ten Polizeieinsatz im Stuttgarter Schloss- sollten „möglichst schnell (möglichst un- offenbar entscheidend für den Zeitdruck garten wollte Landespolizeipräsident Wolf mittelbar nach Ende der Wachstumspe- war, bestätigten überraschend auch zwei Zeuginnen, die am vorigen Dienstag vor Hammann den Einsatz plötzlich abblasen. riode) beginnen“. Das Fällen der Platanen durfte aus Na- dem Ausschuss aussagten. „Ich hatte den Denn seit 12.09 Uhr an diesem 29. September war klar, dass die Pläne der Poli- turschutzgründen zwar nicht vor dem 1. Eindruck, dass die Polizeiaktion vor der zei durchgesickert waren. In den einschlä- Oktober beginnen. Sowohl Zeugen der Regierungserklärung des Ministerpräsidengigen Internetforen forderten erste Stutt- Polizei als auch führende Mitarbeiter der ten stattfinden sollte“, sagte Beate Schuler, gart-21-Gegner ihre Mitstreiter auf, am Deutschen Bahn bestätigten im Ausschuss Ministerialrätin im Verkehrsministerium. Allen sei klar gewesen, dass man nächsten Tag wegen der Baumauf diesen Termin Rücksicht nehfällarbeiten unbedingt in den men wollte. Eine Kollegin aus Park zu kommen. „Damit ist der dem Finanzministerium teilte auf Überraschungseffekt hinfällig“, Nachfrage diese Einschätzung. schrieb der Polizeichef in einem Mappus, der zu diesem Zeitinternen Vermerk. punkt noch eine konservative „Wenn sich im Park zu Beginn Law-and-Order-Politik gegen die der Polizeimaßnahmen mehrere „Berufsdemonstranten“ am tausend Personen befinden, ist Bahnhof verfolgte, „wollte sich mit verhältnismäßigen Mitteln in seiner Regierungserklärung als eine Räumung – und damit ein starker Mann präsentieren“, Beginn der Fällarbeiten – nicht glaubt Andreas Stoch, SPD-Obmöglich“, meldete Hammann mann im Ausschuss. „Da hätte vertraulich an den Amtssitz von ein aufgeräumter Schlossgarten CDU-Ministerpräsident Stefan gut ins Bild gepasst.“ Der GrüMappus und den Stuttgarter Ponen-Abgeordnete Uli Sckerl werlizeipräsidenten. Der erfahrene tet die Unterlagen „als eindeutiJurist riet den Adressaten einge Hinweise dafür, dass sich dringlich, „die Baumfällarbeiten Mappus ganz persönlich in die auf einen taktisch günstigeren Planungen eingemischt hat“. Zeitpunkt im Laufe des Oktobers Ministerpräsident Mappus: Hausgemachter Termindruck Der endgültige Beweis für diezu verschieben“. se These ließe sich vielleicht in Doch in der Staatskanzlei wurden Protokollen zu zwei wichtide Hammanns Warnung ignoriert. gen Besprechungen am 20. und Die Stuttgarter Polizei führte den 27. September im VerkehrsminisEinsatz durch – nur um einige terium finden, bei denen die Stunden vorgezogen, die Lage esBaumfällaktion im Schlossgarten kalierte, der Tag ging als „schwarausführlich thematisiert wurde. zer Donnerstag“ in die GeschichDabei waren jedes Mal sowohl te des Schwabenlandes ein. 6 PoliVertreter des Staatsministeriums zisten und 130 Protestler wurden als auch der Polizei anwesend. verletzt, die Bilder brachten nicht Doch ausgerechnet zu diesen nur die baden-württembergische wichtigen Besprechungen finden Polizei in Erklärungsnot. sich in den Akten keine UnterlaSeit Ende Oktober versucht gen. Als der verantwortliche Miein Untersuchungsausschuss im nisterialdirektor des VerkehrsmiStuttgarter Landtag zu klären, nisteriums dazu befragt wurde, wie groß der politische Einfluss erklärte er, es seien damals abauf den Einsatz war. Dutzende sichtlich keine Protokolle angeZeugen wurden bereits vernomfertigt worden – aus Gründen der Geheimhaltung. SIMONE KAISER * Am 30. September. Polizeieinsatz im Schlossgarten*: Warnung ignoriert STUTTGART 21
Fatale Rücksicht
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Gedränge bei der Love Parade*
„Wiederholt und nachhaltig“ gewarnt
ERIK WIFFERS / DPA (O.); CLEMENS BILAN / DAPD (U.)
K ATA S T R O P H E N
Politisch gewünscht Der Panikforscher Michael Schreckenberg hatte das Konzept der Love Parade befürwortet. Nun erhebt er schwere Vorwürfe gegen Stadt und Veranstalter.
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ie Strafsache mit dem Aktenzeichen 112 UJs 300/10 sprengt die Dimensionen gewöhnlicher Ermittlungsverfahren. Auf bislang 13 000 Seiten haben 80 Polizisten und vier Staatsanwälte das Desaster der Duisburger Love Parade minutiös seziert. Mit Hilfe des gewaltigen Papierbergs soll – irgendwann einmal – geklärt werden, wie es am 24. Juli im Gedränge des Techno-Spektakels zum Tod von 21 Menschen kommen konnte. Vor wenigen Wochen kamen weitere 60 Blatt hinzu, die politischen Zündstoff bergen. Verfasst hat sie der Rechtsanwalt des Duisburger Panikforschers Michael Schreckenberg, 54. Der Professor für Physik von Transport und Verkehr sollte die Stadt bei der Planung des Großereignisses beraten. Seit der Katastrophe wird Schreckenberg von den Duisburger Amtsträgern gern zur eigenen Entlastung angeführt, weil er angeblich die Vorbereitungen der Veranstaltung geprüft und für gut befunden hatte. Doch nun verweigert sich der Wissenschaftler auf einmal der undankbaren Kronzeugenrolle. Auch Schreckenberg muss befürchten, juristisch für sein Handeln bei der Love Parade belangt zu wer38
Panikforscher Schreckenberg
Undankbare Kronzeugenrolle
den – und geht präventiv in die Offensive. In dem Schriftsatz für die Staatsanwaltschaft erhebt er schwere Vorwürfe gegen die Stadt und den Veranstalter Lopavent. Beide hätten ihm gezielt Informationen vorenthalten und eine kritische Prüfung der Planungen offenbar überhaupt nicht gewollt. Auf Basis der dürren Daten habe er dann nur Empfehlungen geben können, die die Großveranstaltung nicht grundsätzlich in Frage stellten. Genau das war angeblich auch die Absicht seines Auftraggebers, der Stadt Duisburg. „Weil die Durchführung der Love Parade politisch gewünscht war“, wie es in dem Schreiben von Schreckenbergs Kölner Anwalt Thomas Herbert an die Duisburger Staatsanwaltschaft heißt. Demnach ‣ sei Schreckenberg „zu keinem Zeitpunkt in die Planungen eines Sicherheitskonzeptes einbezogen worden“; ‣ habe man ihm weder das Sicherheitskonzept vom 28. Juni noch die Veranstaltungsbeschreibung vom 16. Juli vorgelegt; ‣ sei er nicht zu den Sitzungen des wichtigen Arbeitskreises Sicherheit eingeladen und nicht darüber informiert wor* Am 24. Juli in Duisburg. D E R
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den, dass es im Zugangsbereich, wo es später zu dem tödlichen Gedränge kam, eine Treppe gab; ‣ habe sich der Veranstalter Lopavent zudem geweigert, Schreckenberg konkrete Zahlen zu nennen, wie viele Besucher man erwartete. Keineswegs habe der Wissenschaftler ein eigenes Gutachten verfasst, sondern lediglich auf Anfrage zu einzelnen Aspekten, wie Plänen zur „Entfluchtung“ des Geländes, Stellung genommen. „Zusammenfassend“, heißt es in dem Schreiben, „kann man sagen, dass Nachfragen, Anregungen und Verbesserungsvorschläge nicht gewünscht waren.“ Trotzdem habe Schreckenberg „wiederholt und nachhaltig vor dem Karl-LehrTunnel“ gewarnt, durch den sowohl die herein- als auch die herausströmenden Massen geleitet wurden. Für mehr fühlte sich der Forscher auf dem Veranstaltungsgelände offenbar nicht zuständig. Er sei „zu keinem Zeitpunkt“ beauftragt gewesen, „aufgefundene Mängel“ zu beseitigen. Zusammen mit den 60 Seiten ging am 8. November bei der Duisburger Staatsanwaltschaft auch der Antrag von Schreckenbergs Anwalt ein, kein Ermittlungsverfahren gegen den Wissenschaftler einzuleiten. Bislang wird das Verfahren noch gegen unbekannt geführt. Der Veranstalter Lopavent und die Stadt Duisburg wollten sich zu den Vorwürfen unter Hinweis auf die laufenden Ermittlungen am vergangenen Freitag nicht äußern. Die Staatsanwaltschaft muss nun etliche Fragen klären. Stimmt es, dass ein Dezernent der klammen Stadt Duisburg am 12. Mai dem Experten Schreckenberg ein Honorar von 20 000 Euro anbot, ohne zuvor „die exakten Leistungsanforderungen“ zu vereinbaren, wie es in dem Schriftsatz heißt? Und wieso wurden die Dienste des teuren Fachmanns dann doch nur sehr eingeschränkt in Anspruch genommen? Wollte sich die Stadt tatsächlich nur mit dem Namen Schreckenbergs schmücken, um „kritische Stimmen zu beruhigen“, wie es der Anwalt des Wissenschaftlers formuliert? Aber auch der Panikforscher wird sich Fragen gefallen lassen müssen. Warum hat er das Geld angenommen, das ihm eigenen Angaben zufolge nach der Katastrophe unaufgefordert per Verrechnungsscheck ins Haus geschickt wurde? Die Staatsanwaltschaft prüft zurzeit das umfangreiche Schreiben aus der Kölner Kanzlei. Von dem Ergebnis dürfte einiges abhängen – nicht nur für Schreckenberg, sondern auch für andere an der Love Parade Beteiligte. Demnächst wollen die Ermittler die ersten Beschuldigten in dem Großverfahren benennen. ANDREA BRANDT, SVEN RÖBEL
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Deutschland Immer schwerer fällt es der Führung, thisiere mit der jüngsten Satzungsänderung der Saar-Linkspartei, eröffnete Ernst ihre Mitglieder noch zu motivieren: Ein dort seinen verdatterten Genossen. Es sei eigens gebuchter Sonderzug für 36 000 gut vorstellbar, so der Vorsitzende, die Euro aus Berlin zu einer Stuttgart-21-Derigide Regel auch in der Bundespartei ein- monstration musste wieder storniert werden – es gab zu wenig Anmeldungen. zuführen. Im Saarland, dem Heimatverband La- Streit gab es unter den linken Lagern sofontaines, hat die Linke kürzlich den Pas- gar über die Frage, ob die Bundestagssus „Parteischädigendes Verhalten“ in fraktion noch eine gemeinsame WeihIn der Linken droht der ihre Satzung eingefügt, angeblich um no- nachtsfeier hinbekommt. Aufstand gegen den Vorsitzenden torische Streithansel zur Räson zu brinSeitdem SPD und Grüne wieder eine Klaus Ernst. Die Realos in der gen. Vor allem den Ex-PDSlern geht das eigene Mehrheit besitzen, leidet die Linke Partei denken über einen Austritt zu weit. Denn als parteischädigend gilt unter ihrer Bedeutungslosigkeit. Statt auch, wer „vertrauliche Parteivorgänge“ neue Themen zu entwickeln, widmen oder eine Spaltung nach. an die Öffentlichkeit bringt. Außerdem sich die Genossen verbittert innerparteier 11. Januar dieses Jahres ist vie- werden die Genossen verpflichtet, „sich lichen Grabenkämpfen um das Grundlen Linken noch in schmerzhafter loyal gegenüber der Partei zu verhalten“, satzprogramm, das bis Ende kommenden Erinnerung. Es war der Tag, an wobei unklar ist, wer Loyalität definiert. Jahres verabschiedet werden soll. dem Fraktionschef Gregor Gysi seinen früheren Mitstreiter Dietmar Bartsch öffentlich demütigte, indem er dem damaligen Bundesgeschäftsführer Illoyalität vorwarf und ihn zum Rückzug zwang. Damit war der Machtkampf zwischen dem Realo Bartsch und dem Fundi-Lager um Oskar Lafontaine entschieden. Dessen Vertrauter Klaus Ernst hatte am Sturz von Bartsch mitgearbeitet und wurde kurz darauf neuer Bundesvorsitzender. Genau ein Jahr später, am 11. Januar 2011, sinnen nun die Realos, die vor allem im Osten der Republik stark sind, auf Rache. In der Einladung zu einem Treffen an dem symbolträchtigen Datum heißt es neutral, man wolle die Gründung einer „Landesgruppe Ost“ diskutieren. Was harmlos klingt, könnte am Ende die Partei spalten. Die Landesgruppe Ost soll ein Bollwerk gegen die fundamentalistische Ausrichtung der Partei werden und einen Gegenpol zum glücklosen Vorsitzenden Ernst bilden. Die mühsam aus alter PDS und der SPD-Abspaltung WASG neukonstruierte Linke würde da- Genossen Gysi, Ernst: Leiden an der Bedeutungslosigkeit mit womöglich wieder in ihre UrsprungsDoch „die Art und Weise, wie Klaus Angeblich mangelnde Treue zur Parbestandteile zerfallen. Der Frust über die Parteiführung sei so teilinie war ein beliebter Vorwurf in der Ernst an die Programmdebatte herangeht, groß, sagt der sächsische Bundestagsab- alten SED, um unliebsame Genossen zu macht aus der Debatte eine Farce“, klagt geordnete Michael Leutert, dass nichts disziplinieren oder loszuwerden. Die Ost- die Vizevorsitzende Katja Kipping. Einige mehr ausgeschlossen werden könne. Or- Linken befürchten nun einen Rückfall in verstünden offenbar „unter Programmdeganisatorisches Vorbild für die „Opera- längst überwunden geglaubte SED-Me- batte das Anrühren von Zement“. Kipping tion Widerstand“ könnte ausgerechnet thoden und drohen mit Austritt. „Wenn wirft dem Linke-Vorsitzenden „Tricks“ die Union sein mit ihrer Arbeitsteilung das so komme, „ist das nicht mehr meine vor, mit denen er missliebige Änderungen Partei“, kündigt die stellvertretende Bun- am Programmentwurf verhindere. zwischen CDU und CSU. Die Landtagswahlen Anfang nächsten Lange hatten die Realos in der Partei desvorsitzende Halina Wawzyniak an. stillgehalten aus Rücksicht auf die immer Bundesschatzmeister Raju Sharma fürch- Jahres werden so zum großen Test für noch fragile Westerweiterung der Partei. tet: „Damit sollen Kritiker eingeschüch- die Führung, die bislang keine eigenen Erfolge vorweisen kann. Ob es gelingt, in Das schwache Erscheinungsbild der Lin- tert werden.“ Und Kritiker in den eigenen Reihen die Landtage von Baden-Württemberg ken, die kaum noch wahrgenommen wird in den politischen Debatten, dafür aber gibt es genug. Selbst im Westteil der Par- und Rheinland-Pfalz einzuziehen, ist ofdie ständigen Negativschlagzeilen über tei verfügt Ernst über keine Hausmacht. fen. Klappt es nicht, steht die FührungsErnst als Luxus-Linker mit Porsche, Mehr- Auf dem Landesparteitag seines Heimat- frage sofort auf der Tagesordnung. In facheinkommen, seltsamen Reiseabrech- verbandes Bayern wurde er kürzlich laut- Sachsen-Anhalt hingegen steht die Linke nungen und teuren Sonderwünschen bei stark ausgepfiffen, viele Genossen verlie- bei 30 Prozent und konkurriert mit der Dienstreisen, hat nun zum Ende der Zu- ßen demonstrativ den Saal. Seine Gegner CDU bei der Wahl im März um Platz eins. hielten ein Plakat hoch: „Weg mit den In der ostdeutschen Realo-Hochburg will rückhaltung geführt. Der seit langem schwelende Konflikt korrupten Opportunisten“. Ernst wurde man jedenfalls nichts riskieren. Ein Wahleskalierte auf der Vorstandssitzung am als „antidemokratischer Zentralist“ be- kampfauftritt von Ernst ist dort nicht vorgesehen. vorvergangenen Wochenende. Er sympa- schimpft. MARKUS DEGGERICH LINKE
Zug ins Nirgendwo
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Deutschland
INTELLEKTUELLE
„Da sind wieder vier in Kopftüchern“
CHRISTIAN THIEL / DER SPIEGEL
Seit 14 Wochen führt Thilo Sarrazin mit seinem Abgesang auf Deutschland die Bestsellerlisten an; alle hat dieser Erfolg überrascht, vorneweg seine Kritiker. Das Buch hat das Land verändert, aber auch den Verfasser. Von Jan Fleischhauer
Autor Sarrazin: Andere macht der Erfolg gelassener, ihn lässt er kalt und hochfahrend werden
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r betritt den Saal durch die Vordertür, normalerweise kommt er durch einen Seiteneingang. Die beiden Leibwächter, die zu seinem Schutz abgestellt sind, spähen jetzt noch grimmiger als sonst ins Publikum. „Ich gehe in mein altes Gymnasium vorne rein“, hat er der Frau vom Verlag gesagt, als sie ihm die Details für den Abend durchgab. Thilo Sarrazin ist zum Vortrag in seine Heimatstadt Recklinghausen gekommen. Aus der Buchhandlung, in der er lesen sollte, musste man wegen der Nachfrage in die Aula seiner ehemaligen Schule umziehen. Die Karten waren binnen drei Stunden ausverkauft. Von den Demonstranten vor dem Haus hat sich offenbar keiner rechtzeitig eine besorgen können. 40
Sarrazin sitzt an einem alten Schultisch, über den jemand ein rotes Tuch gelegt hat. Das Licht fällt aus zwei Schreibtischlampen so ungünstig nach unten, dass sein Gesicht merkwürdig erhitzt wirkt. Er braucht eine halbe Stunde, bis er endlich bei dem Thema ist, das ihn berühmt gemacht hat, aber das scheint niemanden zu stören. Als es so weit ist, redet er über die verfehlte Einwanderungspolitik der Vergangenheit, die Versäumnisse bei der Integration, die kulturelle Rückständigkeit des Islam. Er trägt das ganz ruhig vor, ohne jede erkennbare Emotion, aber gerade deshalb entfaltet es Wirkung. Hinterher fragt ein junges Mädchen, ob er die Dinge nicht ein wenig menschlicher sehen könne. Es gebe doch viele D E R
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positive Beispiele. Da guckt Sarrazin es von seinem Pult aus fast mitleidig an und sagt, dass er natürlich auch ein Buch über das Zusammenleben von Deutschen und Migranten hätte schreiben können. „Wie ich mich kenne, wäre es sicher ebenfalls sehr dick geworden, ich bezweifle nur, dass es viele Leute gekauft hätten.“ Da lachen die meisten, und das Mädchen wird ein wenig rot. Seine Frage bleibt die einzige kritische Äußerung. Sarrazin ist jetzt 65 Jahre alt, die eine Gesichtshälfte hängt seit einer Operation, bei der eine Geschwulst nahe dem Facialisnerv entfernt werden musste; das rechte Ohr ist nahezu taub. Manchmal stottert er, wenn er müde ist. Auf einem der Fotos, die seit September im Umlauf sind, trägt
er einen Rucksack. Er sieht darauf eher wie jemand aus, mit dem man Mitleid haben muss, nicht wie einer, der die Massen hinter sich versammelt. Fast 1,2 Millionen Exemplare seines Buchs sind inzwischen ausgeliefert, und noch immer ist kein Ende absehbar. Bei den SPIEGEL-Sachbuchbestsellern führt es nun seit 14 Wochen die Liste an. Der Kauf ist eine Demonstration. Es kommt gar nicht mehr darauf an, Sarrazins Buch zu lesen, es reicht jetzt schon, es nach Hause zu tragen. Auch der Nichtkauf ist zum Bekenntnis geworden, ob man will oder nicht. Es gibt kein unschuldiges Desinteresse mehr. Aber was wollen die Leute mit dem Kauf sagen? Warum nicken sie einander zu, wenn sie sich mit dem roten Einband unter dem Arm begegnen? Was meint die Sicherheitsbedienstete am Berliner Flughafen, wenn sie bei einem Blick auf den Buchrücken den Daumen hebt? Es ist kein einfaches Buch, so viel lässt sich gleich sagen. Die Kapitel sind vollgestellt mit Zahlen und Statistiken. Es ist das Buch eines Menschen, der es gewohnt ist, den Dingen auf den Grund zu gehen. Man kann auch sagen: Es ist das Buch eines Mannes, der unbedingt etwas beweisen will. Aber was genau? Warum schreibt jemand so ein Buch? Man muss noch einmal an den Anfang zurück, in die Wochen, als alles begann. Die Geschichte von Sarrazins Buch ist auch die Geschichte einer Erregung – erst der Kreise, die von Berufs wegen darüber urteilen, wie die Dinge zu bewerten sind, dann des großen Publikums. Direkt vor und nach der Publikation von „Deutschland schafft sich ab“ gab es ein paar Tage, an denen alles in der Schwebe hing. Man kann den Erfolg nicht verstehen ohne diese Zwischenphase, in der es kurz so aussah, als wäre der Autor erledigt. Das Buch hat nicht nur das Land verändert, sondern auch den Mann, der es schrieb. Der Redner, der die Bühne in Recklinghausen betritt, ist ein anderer Mensch als derjenige, der noch vor drei Monaten um sein Überleben kämpfte. Zu seinem Ingrimm über die Nichtsnutze am Rande, die vom Fleiß anderer Leute leben, ist die Verachtung für die Elite gekommen, die ihn, so sieht er das, mundtot machen wollte. Zu erzählen ist die Geschichte eines Ungeheuers zwischen Buchdeckeln, das alle überwältigt hat – den Autor, die Kritiker und erst recht den Verlag, der es freisetzte. *** Thomas Rathnow sieht abgekämpft aus, er hat einen langen Tag am Schreibtisch hinter sich. Am liebsten würde der Chef der Deutschen Verlags-Anstalt (DVA) auch weiterhin nichts zu dem bestverkauften Buch seiner Verlegerkarriere sagen, er hat bislang jeden Interviewwunsch abgelehnt.
Seit drei Jahren ist Rathnow bei der zwischen anderen Titeln unter dem DVA für das Programm verantwortlich, Fenster. Fragt man Rathnow, ob er stolz auf seiein nachdenklicher Mann mit jener freundlichen Geduld, wie sie gute Ver- nen Erfolg sei, blickt er auf seine Hände. leger im Umgang mit Autoren auf- „Stolz ist nicht die richtige Kategorie“, zubringen gelernt haben. Im Regal hin- sagt er. Er will sich nicht öffentlich von ter ihm stehen wichtige Bücher der dem Autor distanzieren, der ihm so viel Herbstproduktion, eine Handke-Biogra- Geld einbringen wird, dass er davon viele fie, „JR“ von William Gaddis. „Deutsch- schlecht verkäufliche Bücher finanzieren land schafft sich ab“ ist nicht dabei. Man kann. Aber er schafft es auch nicht, den muss etwas suchen, um es zu finden; der Text richtig zu verteidigen. Die DVA ist ein traditionsreiches Haus, rote Buchrücken steckt eingeklemmt fast zwei Jahrhunderte deutscher Geistesgeschichte hat es mitgeprägt. 12 NoSPIEGEL-UMFRAGE belpreisträger, 13 Kanzler und 4 BundesSarrazin präsidenten gehören zu den Autoren. Weltoffen, liberal, „getrübt weder von reaktionärer Gesinnung noch von avantgarFinden Sie es im Nachhinein gut, dass Thilo distischem Übereifer“, so beschreibt der Sarrazin über die deutschen Probleme mit Verlag selbst seine Haltung. Und nun also Zuwanderung, Integration und Missbrauch ein Buch, in dem schon auf der ersten des Sozialstaats ein Buch geschrieben hat Seite von „Fäulnisprozessen“ in der Geund dass darüber diskutiert wurde? sellschaft die Rede ist. Ja So wie Rathnow die Geschichte seines 72 größten Erfolgs erzählt, ist es die Geschichte eines verhängnisvollen Zufalls. Ein Nein Griff, von dem andere Verleger ein Leben 17 lang träumen und der ihm nun den Schlaf raubt. Ein Lektor hatte Sarrazin in einer Talkshow gesehen und daraufhin angeWie stehen Sie zu Sarrazins Kernschrieben, ob man nicht einmal reden wolaussagen, dass sich Deutschland durch le. Niemand habe ahnen können, was falsche Zuwanderungs- und Integrationsdaraus wird, sagt Rathnow erschöpft. Den politik, durch fremde kulturelle Einflüsse Namen des Kollegen möchte er lieber und verbreiteten Missbrauch des deutschen nicht nennen, der Mann wolle sich nicht Sozialsystems im Niedergang befinde? auch noch in der Presse wiederfinden. Das erste Treffen verlief gut, die DVA Stimme voll und ganz zu wünschte sich einen Text über den deut16 schen Sozialstaat, eine Kritik aus der Feder eines führenden Sozialdemokraten. Stimme teilweise zu Von Ausländern sei am Anfang nie die Rede gewesen, sagt der Verleger, schon 67 gar nicht von Intelligenzforschung und Vererbung. Im Herbst 2008 lag ein VerStimme gar nicht zu trag vor, der Vorschuss war mit 10 000 13 Euro deutlich unter dem, was andere Autoren verlangen. So standen die Dinge, als sich Sarrazin an die Arbeit machte. Würden Sie sagen, Thilo Sarrazins Thesen ... Es hatte sich einiges bei ihm angesammelt. Sarrazin ist ein gebildeter Mann, ... fordern die Politik heraus, sich selbst als Finanzsenator in Berlin schaffte der Probleme endlich anzunehmen er noch ein Lesepensum von 25 Büchern Ja 76 im Jahr. Gleichzeitig ist er ein sehr systematischer Mensch, wie die Excel-Tabelle ... haben mit einem Tabu gebrochen zeigt, in die er jedes gelesene Buch mit Titel, Datum, Inhaltsangabe und einer Ja 57 Schulnote einträgt. Womit er sich einmal beschäftigt hat, geht nicht so schnell wie... werden in Deutschland der verloren. nichts verändern Lange sah es so aus, als ob sich die DinJa 44 ge normal entwickeln würden. Die Vertreter, die mit dem Herbstprogramm im ... schaden dem Miteinander Buchhandel unterwegs waren, meldeten zwischen Deutschen und Bürgern ein ordentliches Interesse, aber nichts, mit Migrationshintergrund was auf einen großen Verkaufserfolg hinJa 37 wies. Die DVA ließ nach Eingang der VorTNS Forschung am 7. und 8. Dezember; 1000 Befragte; bestellungen 25 000 Exemplare drucken. Angaben in Prozent; an 100 fehlende Prozent: Wenn es zu diesem Zeitpunkt eine Sor„Weiß nicht“/keine Angabe, „Nein“ ge im Verlag gab, dann nur die, dass der D E R
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Anti-Sarrazin-Demonstration in Duisburg am 29. November: Er weiß, dass nicht mehr viel fehlt,
Im Verlag setzt Panik ein. Die Mitarschluss, ihm seinen Vorstandsposten in beiter werden darauf angesprochen, wie Frankfurt zu nehmen. Den Anlass bietet ein Interview mit sie ein solches Buch machen konnten. der „Welt am Sonntag“, in dem sich der Man hat Sorge, dass sich Autoren abwenAutor zu der Behauptung hat hinreißen den. Es passieren immer neue Fehler. Die lassen, alle Juden teilten ein bestimmtes Nachfrage ist jetzt so groß, dass auch bei Gen. Sarrazin selbst schiebt es auf sei- der DVA alle Bücher weg sind. Um die ne Übermüdung, dass er den Satz bei Anfragen der Journalisten zu befriedigen, der Autorisierung des Interviews stehen die den Text lesen wollen, verschickt die ließ. Aber Leute, die ihn näher kennen, Pressestelle die Fahne als PDF. Zu spät halten es eher für wahrscheinlich, dass stellt man fest, dass die Fassung, die das er ihn nicht anstößig fand, weil er nahe Haus verlassen hat, nicht auf dem letzten an den Gedanken ist, die ihn umtreiben Stand ist. An einer Stelle ist noch vom und die er unbedingt unters Volk bringen „hohen Anteil an angeborenem Schwachsinn“ bei Einwanderern aus dem Nahen will. Osten die Rede, obwohl das gestrichen wurde. Es wird jetzt in den Zeitungen mit Zitaten gegen den Autor gearbeitet, die im Buch gar nicht vorkommen. Wenn man heute mit Sarrazin über die Woche der Veröffentlichung spricht, gibt er sich ungerührt. Als er sich in der ersten Septemberwoche erstmals zu einem verabredeten Gespräch am Telefon meldet, ist ihm die Erschütterung deutlich anzumerken. Es ist der Freitag nach der Buchvorstellung, Sarrazin hat über sein Büro in der Bundesbank die private Telefonnummer übermitteln lassen. Er sitzt zu Hause in seinem Arbeitszimmer, aber es geht ihm nicht gut. Er schläft nicht richtig, höchstens drei bis vier Stunden pro Nacht, er kann auch nicht mehr richtig essen. Einmal muss er das Telefonat unterbrechen, um einen Techniker hereinzulassen, der den Internetanschluss repariert. Dann ruft auf der anderen Leitung jemand vom „Tagesspiegel“ an, aber den lässt er von seiner Frau abwimmeln. Er sagt, dass er Verleger Rathnow sich jetzt erst einmal eine „Mediensperre“ „Stolz ist nicht die richtige Kategorie“ DIETER MAYR / DER SPIEGEL
Text zu trocken ausfallen würde, weil der Autor ständig neue Zahlen anschleppte. Die Arbeit am Buch besorgte eine freie Lektorin in Berlin, der eigentlich zuständige Sachbuchlektor war mit anderen Projekten beschäftigt. Am Anfang war noch nicht einmal klar, ob es einer der Spitzentitel sein würde, mit denen ein Verlag auf seine wichtigsten Neuerscheinungen aufmerksam macht. Als Verleger Rathnow die Fahnen im Juli zum ersten Mal ganz zu sehen bekam, war ihm an einigen Stellen unwohl. Ihm gefielen Formulierungen nicht, die er für missverständlich hielt. Außerdem fand er die Ausflüge in die Genetik überflüssig, sie passten nach seiner Einschätzung nicht wirklich zur sonstigen Argumentation. Am Telefon sprach er mit Sarrazin über seine Einwände. Das Wort „Rasse“ wurde durch „Ethnie“ ersetzt, die Stellen zur Vererbung von Intelligenz blieben stehen, da wollte der Autor nicht mit sich reden lassen. Er referiere nur den Stand der wissenschaftlichen Forschung und ziehe daraus seine Folgerungen, sagt Sarrazin heute, wenn man ihn auf die Passagen anspricht, die seinen Text zum Skandal machten. Im September hat er noch einmal zwei Änderungen vornehmen lassen. An einer Stelle über die Bevölkerungsentwicklung steht nun ergänzend „auf lange Sicht“, ein Satz über die nachteiligen Folgen der Verwandtenheirat in muslimischen Großfamilien ist seit der elften Auflage entfallen. Auch diese Korrekturen will er nicht als Selbstberichtigung verstanden wissen: „Die Aussage zum Inzest ist nicht falsch, aber sie führt den Leser auf ein Gebiet, das man länger behandeln müsste.“ Die öffentliche Erregung beginnt mit zwei Vorabdrucken, der eine im SPIEGEL, der andere als mehrteilige Serie in der „Bild“. Noch ist das Buch nicht im Handel, aber die Auszüge reichen, um eine lebhafte Debatte in Gang zu setzen. Spätestens am Nachmittag des 25. August weiß Rathnow, dass er sich mit dem Text, den er verlegt hat, vielleicht doch ausführlicher hätte beschäftigen sollen. Auf der Bundespressekonferenz hat ein Journalist gefragt, was denn die Regierung von den Thesen halte. Bei der Vorbesprechung im Kanzleramt waren auch die Sarrazin-Auszüge ein Thema gewesen. Man legte für den Fall, dass es dazu Fragen geben sollte, die Formulierung fest, Kanzlerin Angela Merkel halte das Buch für „nicht hilfreich“. Das ist das Signal für eine Verdammung, der sich fast die gesamte politische Klasse anschließt. Es setzt jetzt Schlag auf Schlag: Am Mittag der Buchvorstellung, in der Sarrazin fünf Tage später sein Werk präsentiert, kündigt SPD-Chef Sigmar Gabriel ein Parteiausschlussverfahren gegen den Autor an. Die Bundesbank fasst den Ent-
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und er wird zum Ausgestoßenen
auferlegt habe, es sei alles zu viel für ihn, er dürfe keine Fehler mehr machen. Er weiß, dass nicht mehr viel fehlt, und er ist ein Ausgestoßener, jemand, den man nicht mehr einladen kann. „Ich habe mir das nicht vorstellen können, dass man so über ein Buch urteilt, ohne es überhaupt gelesen zu haben“, sagt Sarrazin. Es hört sich so an, als ob er sich wünschte, er könnte die Uhr zurückdrehen. Seine Frau Ursula, die an einer Grundschule in Berlin unterrichtet, berichtet von scheelen Blicken, gezischten Kommentaren. Er trifft sich mit Bekannten, um über das weitere Vorgehen zu beraten. Als ein paar Fotografen vor dem Haus auftauchen, in dem man zusammengekommen ist, versucht Sarrazin, über den Hof zu entkommen. Aus dem Provokateur ist ein Gejagter geworden. Es ist im Nachhinein nicht genau zu sagen, wann die Stimmung dreht. Der langjährige Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi verteidigt Sarrazin in der „Süddeutschen Zeitung“ gegen den Vorwurf, er sei ein Rassist. Selbst wenn sie einige Thesen für verkehrt halten, nehmen viele wie Dohnanyi oder der ehemalige SPD-Finanzminister Peer Steinbrück doch Anstoß daran, wie hier mit einem Buchautor umgesprungen wird. Mit der Zustimmung wächst bei Sarrazin auch das Selbstbewusstsein. Beim nächsten Telefongespräch ist er ganz aufgekratzt. Er spricht von einer „großen Wutblase“, die er unwissentlich angestochen habe. Er erzählt, dass ihm der „FAZ“-Herausgeber Frank Schirrmacher prophezeit habe, dass „Deutschland schafft sich ab“ das bestverkaufte
Sachbuch seit 1945 sein werde. „Mal beschimpft mich die Kanzlerin, zack, 100 000 mehr“, ruft er fröhlich ins Telefon. „Mal hängt sich der Bundespräsident zu weit aus dem Fenster, zack, noch mal 100 000. Dann schreibt Sigmar Gabriel verrückte Aufsätze, 50 000 mehr.“ In einem Telefonat zwei Wochen später ist Sarrazin schon im Jahr 1929 als Referenzpunkt angekommen und vergleicht sein Buch mit Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“, das es bis heute auf eine Gesamtauflage von 20 Millionen brachte. Für seine Kritiker empfindet er nur noch Geringschätzung. Sie sind entweder unwissend, weil sie sein Buch nicht kennen – oder aber ignorant, wenn sie es bis zur letzten Seite gelesen haben und trotzdem bei ihrer Kritik bleiben. Sarrazin steht nun gegen die Elite des Landes, es ist ein Spiel, bei dem er nicht mehr verlieren kann. Einiges kommt zusammen und verbindet sich mit seinem Namen: die Verachtung für die Politik, von der sich die Leute hintergangen fühlen, die Angst vor dem Absturz, die viele nach der Finanzkrise nicht mehr verlassen hat, die Wut auf die Ausländer, über die man sich schon lange geärgert hat, ohne es laut sagen zu dürfen. Jetzt stehen sie auf dem Zahlenteppich, den Sarrazin gewebt hat, und lassen alles raus. Die DVA druckt in Sonderschichten nach, aber kaum liegen die Bücher im Buchhandel, sind sie schon wieder weg. „Die Bücher verdampfen einfach“, sagt Pressesprecher Markus Desaga bei einem Termin mit einem nervösen Lachen. Ende September ist der Autor auf Einladung des Literaturhauses in München, um mit dem Soziologieprofessor Armin Nassehi und dem „Handelsblatt“-Chefredakteur Gabor Steingart zu diskutieren. 800 Leute sind in die Reithalle nahe dem Olympiapark gekommen, ein sehr bürgerliches Publikum, die Männer mit Einstecktuch, die Frauen im Kostüm. Kopfschüttelnd berichtet der Chef des Literaturhauses im Anschluss, dass ihn ein befreundeter Notar aus Traunstein noch am Morgen geradezu verzweifelt um eine Karte angefleht habe. Es sind die gleichen Leute, die sonst zu Lesungen mit Monika Maron oder Roger Willemsen pilgern, aber als der „Handelsblatt“-Chef zu einer Gegenrede ansetzt, hält es sie kaum noch auf den Stühlen. „Aufhören, aufhören“, rufen sie, und immer wieder aus voller Kehle: „Buh, buh“. Sarrazin sitzt nur da und sieht ungerührt zu, wie seine Kontrahenten niedergebrüllt werden. „Er hat mein Buch geistig nicht aufgenommen“, sagt er anschließend verächtlich über Steingart. „Er ist zu Recht vom Publikum abgestraft worden.“ Andere macht der Erfolg gelassener, Sarrazin lässt er kalt und hochfahrend werden. D E R
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Am folgenden Tag schickt Rathnow einen Brief an seinen Autor nach Berlin, in dem er ihn bittet, dafür Sorge zu tragen, dass die Dinge nicht außer Kontrolle geraten. Zu einem Kollegen sagt der Verleger, der das Treiben aus der ersten Reihe mitverfolgt hat, er sei entsetzt über den Ablauf der Veranstaltung: „Das war keine Diskussion mehr, das war Mob.“ *** Warum schreibt einer ein Buch, in dem er auszurechnen versucht, wie sich die Ausländer vermehren und was sie das Land gekostet haben? „Zorn“, sagt Ulrich Pfeiffer und blickt freundlich über den Tisch. „Zorn auf die Politiker, die dem Land so viel Schaden zugefügt haben.“ Wenn Sarrazin einen Freund hat, dann den Gründer des Berliner Forschungsinstituts Empirica. Die beiden haben sich
SPIEGEL-UMFRAGE Integration Haben Sie persönlich Angst vor in Deutschland lebenden Muslimen?
Ja, grundsätzlich 4 Ja, manchmal 25 Nein, grundsätzlich nicht 69 Hat Ihrer Meinung nach die Fremdenfeindlichkeit in Deutschland in den vergangenen Jahren eher zu- oder eher abgenommen?
Eher zugenommen 54 Eher abgenommen 21 spontan: Keine Veränderung
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Würden Sie sich wünschen, Deutschland hätte seit den sechziger Jahren weniger Migranten islamischen Glaubens ins Land gelassen?
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Ja
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Nein Weiß nicht
11 TNS Forschung am 7. und 8. Dezember; 1000 Befragte; Angaben in Prozent; an 100 fehlende Prozent: „Weiß nicht“/keine Angabe
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RAINER KRUSE / WAZ FOTOPOOL
Sarrazin-Fans*: Es gibt kein unschuldiges Desinteresse mehr
Gefällt ihm denn der Text? Na ja, sagt Pfeiffer und legt den Kopf schief. Sie haben einmal darüber geredet, im März 2009, da hatte sein Freund gerade zu schreiben begonnen. „Ich bewundere die Breite der Analyse.“ Fast alle, die näher mit Sarrazin zu tun hatten, loben seinen Verstand, seine Auffassungsgabe und seine Fähigkeit, komplexe Sachverhalte zu durchdringen. Alle beschreiben allerdings auch eine an Hybris grenzende Selbstgewissheit, eine Arroganz im Urteil, die viele nur schwer erträglich finden. Wenn er sich einmal eine Meinung zugelegt hat, zieht Sarrazin diese ungern wieder in Zweifel, was dazu führen kann, dass er nur noch die Argumente und Fakten zur Kenntnis nimmt, die seine Position stützen. Unter Experten
* Bei einer Lesung mit Thilo Sarrazin in Recklinghausen am 4. November.
Sarrazin-Freund Pfeiffer
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MAURICE WEISS / DER SPIEGEL
1976 getroffen, Pfeiffer war damals Abteilungsleiter im Bauministerium in Bonn, Sarrazin Referent im Bundesfinanzministerium. Ihre erste Begegnung war eigentlich ein Affront. Die Koalitionspartner hatten eine Reform des sozialen Wohnungsbaus verabredet, aber das Finanzressort schickte zur ersten Besprechung seinen völlig unbekannten Mitarbeiter, womit gleich klar war, wie wenig es von dem Termin hielt. Sarrazin kümmerte das wenig. „Er hatte sich Abrissstatistiken angesehen und argumentierte streng ökonomisch. Er hatte einfach nachgedacht, er fiel aus dem Rahmen“, erinnert sich Pfeiffer. Nach der Sitzung lud er den jüngeren Kollegen ein, einmal ausführlicher zu reden. Der intellektuelle Austausch verbindet sie bis heute, „eine warme, emotionale Beziehung entwickelt man ja eher nicht zu ihm“, sagt der Freund. Für Pfeiffer ist der Erfolg von „Deutschland schafft sich ab“ ein gigantisches Missverständnis. Seit seinem Bestseller gilt Sarrazin nun als Menschenfänger, in den Zeitungen wird bereits über die Gründung einer Sarrazin-Partei spekuliert, aber wenn Pfeiffer recht hat, richtet sich Sarrazin gar nicht in erster Linie an das Publikum, das in die Buchhandlungen rennt, sondern an die politische Klasse, der er lange als Beamter gedient hat. „Es ist schon schwierig, wenn man sich ständig im Recht sieht, aber nicht recht bekommt“, sagt Pfeiffer. „Stellen Sie sich vor, Sie legen nach Ihrer Meinung die ganze Zeit die richtigen Prognosen vor, aber immer gibt es Gründe, warum die Politik anders handeln muss. Das ist sehr frustrierend, da staut sich einiges auf.“
„Da staut sich einiges auf“ D E R
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ist umstritten, ob die Zuwanderung den Wohlstand des Landes gemehrt haben wird; bei Sarrazin ist klar, dass der Saldo bei Muslimen schon jetzt negativ ist. Wie bei vielen Menschen mit einem ausgeprägten Zahlenverständnis mangelt es Sarrazin an Einfühlungsvermögen. Die Zahlenwelt ist immer abstrakt, wer sich in ihr bewegt, sieht vom Einzelfall ab und betrachtet das Generelle. Seine Einsichten sind oft originell, das macht das Vergnügen aus, mit ihm zu diskutieren. Weil er kaum Rücksicht auf einmal getroffene Sprachregelungen nimmt, führen seine Schlussfolgerungen aber auch regelmäßig zu Verstörungen. „Er denkt bis zum Verzweifeln rationalistisch“, sagt Pfeiffer über seinen Freund. „Man muss auch das Menschliche sachlich sehen“, antwortet Sarrazin selbst, wenn man ihm vorhält, mitleidlos zu wirken. Als er noch in der Finanzverwaltung tätig war, richtete sich sein kalter Furor gegen die Verschwendung öffentlicher Mittel. Berlin verdankt ihm, dass es 2007 nach 20 Jahren Schuldenpolitik zum ersten Mal einen ausgeglichen Haushalt vorlegen konnte. Aber schon in den jährlichen Etatverhandlungen zeigte sich gelegentlich ein Eifer, der deutlich über das normale und nach Ansicht der anderen Senatsmitglieder auch menschlich vertretbare Maß hinausging. Der Berliner Bildungssenator Jürgen Zöllner berichtet, wie Sarrazin einmal zu Beginn eines Schuljahres einfach die Einstellung neuer Lehrer blockierte. Als Zöllner sich nach zähen Gesprächen über den Einstellungsstopp hinwegsetzte, um einen Aufstand an den Schulen abzuwenden, habe Sarrazin schriftlich gedroht, ihn persönlich für die Mehrausgaben in Haftung zu nehmen. Zöllner schrieb zurück, dass der Finanzsenator möglicherweise die Kameralistik auf seiner Seite habe, er aber die politische Stimmung. Erst da gab sich Sarrazin geschlagen und zog seine Ankündigung zurück, den Kabinettskollegen pfänden zu lassen. „Wenn man mit Thilo ums Geld stritt, musste man bereit sein, bis zum Äußersten zu gehen“, sagt Zöllner im Rückblick. Für jemanden mit seinen analytischen Fähigkeiten hätte es höher hinausgehen können, eigentlich auch müssen. Sarrazin hat eine ordentliche Karriere gemacht, er war lange im Bundesfinanzministerium, dann Staatssekretär in RheinlandPfalz unter Rudolf Scharping. Aber als die Reihe an ihm gewesen wäre, Finanzminister in Mainz zu werden, bekam jemand mit mehr diplomatischem Geschick den Posten. Berlin war schon so weit am Boden, dass es auf so etwas nicht mehr ankam, doch auch dort ging es nicht ewig gut. In der zweiten Amtszeit als Finanzsenator war das Verhältnis zwischen Bürgermeis-
FEDERICO GAMBARINI / PICTURE ALLIANCE / DPA
SPD-Parteichef Gabriel, türkischer Imam*: Sarrazin steht nun gegen die Elite des Landes
steht Thelen in der Danksagung gleich an erster Stelle. Es sieht nicht so aus, als ob er darüber besonders froh wäre. *** Am Morgen war Sarrazin in Speyer, wo er einen Lehrauftrag für Finanzwirtschaft hat. Es war das erste Kolloquium im neuen Semester; weil er jetzt berühmt ist, waren doppelt so viele Studenten da wie sonst. Falls sie allerdings gehofft hatten, ihr Dozent würde neben der inflationstreibenden Wirkung von Schulden auch über die degenerative Folge ungesteuerter Einwanderung sprechen, musste er sie enttäuschen. Er hielt sich streng ans Manuskript, so dass bald wieder die übliche Schläfrigkeit im Auditorium einzog.
MAURICE WEISS / DER SPIEGEL
ter Klaus Wowereit und seinem Finanzsenator so angespannt, dass Sarrazin am Ende auch deshalb nach Frankfurt zur Bundesbank ging, weil Wowereit ihn loswerden wollte. So stellt sich die Frage, ob Sarrazin jetzt am Ziel angekommen ist. „Ich bezweifle das“, sagt Friedrich Thelen. „Er findet den Beifall der Masse, aber die Eliten haben ihm ihre Anerkennung bislang verweigert.“ Thelen kennt Sarrazin aus seiner Zeit als Korrespondent der „Wirtschaftswoche“. Seit vier Jahren unterhält er in einem schönen Bürgerhaus in Berlin-Mitte neben einer Beratungsagentur einen kleinen Salon, in den er regelmäßig Ärzte, Anwälte, Unternehmer einlädt, hin und wieder auch ein paar Kulturleute. Er ist ein aufmerksamer Gastgeber, an diesem Nachmittag reicht er zur Begrüßung englischen Tee und Gebäck. Aus dem Nachbarzimmer erklingt klassische Musik. Man kann mit Thelen wunderbar über bürgerliche Werte reden und die Welt der Konventionen, in der man sich auch unter Freunden siezt und die Kinder auf Schulen im Ausland schickt, damit sie richtig Englisch und Französisch lernen. Es ist eine Welt, aus der auch Sarrazin kommt, der am Gymnasium noch Latein und Altgriechisch hatte. Vorbehalte gegen Ausländer gehören in diesen Kreisen nicht dazu, und wenn man sie doch hat, äußert man sie nicht. „Das ist eigentlich ein bisschen igitt“, sagt Thelen. Der Journalist war einer der wenigen, die Sarrazins Buch vor Druck zu lesen bekamen. Er hatte viele Anmerkungen, außer zu den genetischen Teilen, weil er sich da nicht auskennt, wie er sagt. Jetzt
Sarrazin-Gegenleser Thelen * Beim Besuch einer Moschee in Essen am 26. März.
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„Das ist eigentlich ein bisschen igitt“ D E R
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Wer länger Zeit mit Sarrazin verbringt, bekommt einen Eindruck, wie ungemein populär er inzwischen ist. Ständig treten fremde Menschen an ihn heran, um ihm zu seinem Buch zu gratulieren oder sich mit ihm fotografieren zu lassen. Die Betreiberin des Bahnhofskiosks in Speyer will ihm unbedingt einen Kaffee ausgeben; beim Umsteigen in Mannheim hält ihm ein Mann ein Buch zum Signieren hin, das er schnell noch in der Bahnhofsbuchhandlung erstanden hat. „Welche Auflage haben wir denn hier?“, fragt Sarrazin und schlägt die letzte Seite auf. „Die elfte, na, das ist ja noch Restbestand.“ Er weiß genau, wie viele Bücher er gerade verkauft hat. Jedes Exemplar ist eine Bestätigung, dass er richtigliegt. Eine Sarrazin-Stimme, gegen die Kritiker, die sagen, dass er das Land spalte. Am Mittag sitzt er im ICE nach Köln. Sarrazin ist ein unkomplizierter Mitreisender. Er stellt sich nicht an, was die Wahl des Sitzplatzes angeht, zur Mittagszeit folgt er bereitwillig in den Speisewagen. Als der Kellner erklärt, dass der Herd in der Küche ausgefallen ist, begnügt er sich eben mit Schwarzbroten, dazu trinkt er eine Apfelsaftschorle. Er wirkt auf den ersten Blick ganz unprätentiös: ein älterer Herr mit Rollkoffer, der fleißig seine BahnCard 100 abfährt. Man darf nur nicht über sein Buch mit ihm reden, so lange ist alles gut. Er habe ursprünglich gar nicht viel über Ausländer schreiben wollen, sagt Sarrazin, sie seien eher ein Unterthema zum „Unterschichtenproblem“ gewesen. Aber dann kam im Herbst 2009 das Interview mit der Kulturzeitschrift „Lettre International“ über „türkische Wärmestuben“ und „Kopftuchmädchen“ in Berlin dazwischen, und er begann noch einmal nachzudenken. Er nennt die Aufregung, die das Interview hervorrief, einen „emotionalen Brandbeschleuniger“. Wie Sarrazin die Entstehung seines Buchs schildert, ist es auch das Produkt einer Selbstradikalisierung. „Gewisse Kritik bewegt einen ja, also habe ich eine stark verschärfte Lektüre begonnen. Dann war klar, daraus mache ich ein eigenes Kapitel. Es ist jetzt das meistgelesene.“ Er räumt freimütig ein, dass er niemanden islamischen Glaubens näher kenne. Im Berliner Westend, wo er sein Haus hat, gibt es keine Integrationsprobleme, und in den Vierteln, in denen viele Türken und Araber leben, war er höchstens mal auf Durchfahrt. Aber er kann ja Statistiken lesen, und aus denen, sagt Sarrazin, füge sich ein klares Bild. Draußen gleitet deutsche Landschaft vorbei. Bäume im Herbstlicht, eine Hügelkette, dazwischen eine leere Straße. „Nach dem Krieg hat man sich bei jedem gefragt, was hat der wohl zwischen
Deutschland lung in einer Gesellschaft hergestellt. Das ist der Kurzschluss, den Sarrazin machte. Es ist ein radikaler, auch abstoßender Gedanke, wenn man ihm zum Ende folgt. Er bedeutet, dass ein Staat, der die Aufgabe des Selbsterhalts im sarrazinschen Sinne ernst nimmt, die Fortpflanzung nicht einfach seinen Bürgern überlassen kann. Wenn sich die angeblich Dummen schneller vermehren als die Schlauen, sinkt die Intelligenzleistung eines Volks. Also müsste man dieser Überlegung zufolge dafür sorgen, dass sich die weniger Klugen nicht mehr so schnell vermehren. Der einfachste Weg wäre demnach, den falschen Leuten das Kinderkriegen zu verbieten, aber das geht in einer Demokratie
Der Zug ist zum Stillstand gekommen. Auf einer Bank vor dem Fenster sitzen vier junge türkische Mädchen, alle im schwarzen Mantel, um den Kopf ein buntes Tuch. Sie lachen und giggeln ausgelassen, eines wirft den Kopf nach hinten, so dass für einen Augenblick ein Schwall schwarzen Haares sichtbar wird. Sarrazin sieht regungslos aus dem Fenster. Sein Blick ruht auf der kleinen Gruppe, das Gesicht ist völlig ausdruckslos. Man fragt sich unwillkürlich, was er sieht: vier Freundinnen, die auf den Zug nach Hause warten? Vier Bildungsverweigerinnen, die schon bald dem deutschen Sozialstaat zur Last fallen? Oder vier Migrantinnen, die jede in ihrem Bauch viele
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1933 und 1945 gemacht. Nach dem 11. September denken wir so über die Muslime.“ Er macht eine kleine Pause. „Ich denke so.“ Eine weitere Pause. Dann lässt er den Gedanken aus dem Fenster segeln, ohne ihn zu vollenden. Ein Gespräch mit Sarrazin ist wie der Gang über einen Boden mit lauter Falltüren. Eben hat man noch über seine Jugendzeit im Ruhrgebiet geplaudert, und plötzlich ist man bei Terror, Genen und Rassenfragen. Er berichtet von einem Buch des amerikanischen Psychologen Martin Seligman, wonach selbst die Neigung zu unkontrollierten Gewaltausbrüchen weitgehend angeboren sei, er habe es leider erst nach
Vortragsreisender Sarrazin in Berlin: Je länger man redet, desto mehr treten seine Obsessionen hervor
Abgabe seines Manuskripts gelesen. „Se- nicht. So bleibt nur der Weg übers Geld. neue Migrantenkinder austragen werden ligman ist übrigens Jude, wie man am Na- Davon versteht Sarrazin etwas, und des- und damit das Gleichgewicht zwischen men erkennen kann“, fügt er hinzu, als ob halb will er das Kindergeld streichen und Deutschen und Ausländern immer weiter diese Information die Sache in einem an- alle anderen Transferleistungen, die an verschieben, so dass am Ende seine Prophezeiung über die Abschaffung Deutschderen Licht erscheinen ließe. Kinder gebunden sind. Sobald es sich für die Unterschicht lands in Erfüllung geht? Je länger man redet, desto mehr treten Auf einem Nachbargleis rollt ein langer seine Obsessionen hervor. Sarrazin sagt, nicht mehr lohnt, Nachwuchs in die Welt dass er sich schon in den siebziger Jahren zu setzen, wird sie über die Zeit auf na- Güterzug vorbei, der riesige Rollen Stahl intensiv mit der Intelligenzforschung be- türlichem Wege kleiner und verkümmert. geladen hat. „Das ist das alte Ruhrgebiet“, sagt die schäftigt habe, er nennt diese Zeit seine Das ist die Sarrazin-Lösung für das „Un„psychologische Phase“. Übrig geblieben terschichtenproblem“. Sie erscheint, wie tonlose Stimme aus dem roten Stoffsitz. „Hier vorne haben wir das neue.“ sind zwei Regalmeter Literatur zum The- immer bei ihm, ziemlich logisch. Es ist dunkel geworden, der Zug fährt ma und ein anhaltendes Interesse an FraFür einen Augenblick starrt Thilo Sarim Bahnhof von Gelsenkirchen ein. Über razin noch in die Dunkelheit. Dann lacht gen der Vererbung. Auf die sinkenden Geburtenzahlen der Sarrazin ist eine Lesebirne angegangen, er sein schiefes Lachen, der Zug setzt Deutschen haben schon andere hingewie- sein Gesicht liegt jetzt im Dunkeln, das sich in Bewegung, und an der Stelle des sen, allen voran „FAZ“-Herausgeber graue Haar leuchtet hell im Schein der bösen Geistes, der für einen Moment unSchirrmacher, der aus der demografischen Lampe. Er hat die Hände unter dem Kinn ter dem Schein der Leselampe Platz geBedrohung vor Jahren einen Bestseller verschränkt, die Ellbogen ruhen auf den nommen zu haben schien, sitzt wieder machte, aber kein ernstzunehmender Armlehnen seines Sitzes. Er guckt aus der Mann, der einfach nur das meistMensch hat bislang einen Zusammenhang dem Fenster in den dämmrigen Bahnhof. diskutierte Sachbuch der Nachkriegsgezwischen Fertilität und Intelligenzvertei- „Da sind wieder vier in Kopftüchern.“ schichte geschrieben hat. 50
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„Schrecken ohne Ende“ Die Wirtschaftswissenschaftler Peter Bofinger und Stefan Homburg über die Euro-Krise, die Folgen eines deutschen Ausstiegs aus der Währungsunion und die Frage, was Euro-Bonds und Spätzle miteinander verbindet SPIEGEL: Herr Bofinger, Herr Homburg, ist
Bofinger: Auf jeden Fall. Wenn Italien
der Euro noch zu retten? Homburg: Der große Philosoph und Europapolitiker Ralf Dahrendorf hat 1995 vorausgesagt, dass der Euro den Kontinent nicht einigen, sondern spalten wird. Was wir gerade erleben, ist der Beginn dieses Prozesses. Die politischen Spannungen in Europa nehmen zu, und die Deutschen werden als Zuchtmeister wahrgenommen. Deshalb wäre es besser, einen Schlussstrich zu ziehen und zur D-Mark zurückzukehren. Bofinger: Das wäre unverantwortlich. Der Euro ist ein Erfolgsmodell. Wir sollten ihn unbedingt erhalten. Das Problem ist nur, dass die bisherigen Maßnahmen dafür nicht ausreichen. Was wir jetzt brauchen, ist ein mutiger Schritt hin zu mehr wirtschaftlicher Integration. SPIEGEL: Was schwebt Ihnen vor? Bofinger: Wir sollten den Vorschlag des luxemburgischen Premierministers JeanClaude Juncker aufgreifen und gemeinsame Staatsanleihen für die Euro-Zone einführen. Solche Euro-Bonds würden die Zinskosten für Problemländer wie Griechenland, Irland oder Portugal deutlich drücken. Diese Länder hätten es dann leichter, mit ihren Sparprogrammen die Staatsfinanzen wieder in Ordnung zu bringen. Homburg: Das bezweifele ich. Euro-Bonds verstoßen gegen den Maastricht-Vertrag, wonach in der Euro-Zone kein Staat für einen anderen haftet. Die Euro-Bonds erheben die Haftung sogar zum Prinzip und zwingen Deutschland, für Schulden anderer Länder einzustehen, deren Finanzgebaren wir nicht kontrollieren können. Die dafür erforderlichen Steuererhöhungen und Transferkürzungen würde unsere Bevölkerung nicht tolerieren. Bofinger: Doch, man müsste ihnen erklären, dass der Euro nur so zu bewahren ist. Mit den heutigen Rettungsschirmen wird das nicht gelingen. Die reichen höchstens für Griechenland, Irland, Portugal und vielleicht noch Spanien. Aber sie wären überfordert, wenn ein Land wie Italien dazukäme. Homburg: Meinen Sie im Ernst, Deutschland sollte einspringen, wenn Italien seine Schulden nicht mehr bedient?
kippt, kippen auch zig Milliarden, die deutsche Banken und Versicherungen an italienischen Anleihen halten. Die Folge wäre ein gewaltiger Finanzcrash, das Risiko könnte keine Regierung eingehen. Deshalb haben wir keine Wahl: Wir müssen das System stabilisieren. Homburg: Entschuldigung, aber das ist reine Angstmache. Es hat in der Geschichte Hunderte Staatspleiten gegeben, denken wir etwa an Argentinien oder Russland. Niemals ist dabei das Finanzsystem zusammengebrochen. Natürlich gefällt es der Finanzindustrie, hohe Risikoprämien ohne Risiko zu kassieren. Es kann aber nicht richtig sein, dass Deutschlands Steuerzahler unter dem Deckmantel der Staaten- oder Euro-Rettung den Bankensektor alimentieren. Bofinger: Ich bin durchaus Ihrer Meinung. Wenn es möglich wäre, die Folgen einer Bankpleite zu isolieren, sollten wir jene Kreditinstitute, die sich verspekuliert haben, ruhig pleitegehen lassen. Das Problem ist nur, dass wir die Folgen leider nicht isolieren können. Dazu sind die heutigen Banken zu groß und zu sehr untereinander vernetzt. Zudem halten sie keinerlei Eigenkapital für Staatspapiere. Die Finanzkrise hat uns gelehrt: Die Märkte neigen zu unkontrollierbaren Kettenreaktionen. SPIEGEL: Wollen Sie damit sagen, dass sich die Euro-Krise zu einem neuen Fall Lehman auswachsen könnte?
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Peter Bofinger lehrt an der Universität Würzburg und ist seit 2004 Mitglied im Sachverständigenrat. Das besondere Interessen- und Spezialgebiet des Volkswirts ist die Geldtheorie. Bofinger, 56, gilt als führender deutscher Vertreter der keynesianischen Wirtschaftstheorie, die im Fall von Wachstumsschwäche und Wirtschaftskrisen fordert, dass der Staat die Nachfrage stabilisiert. Er studierte an der Universität Saarbrücken und promovierte über einen Vorschlag des Neoliberalen Friedrich August von Hayek, das Geldwesen zu privatisieren. Danach arbeitete er einige Zeit bei der Bundesbank. D E R
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Bofinger: Die Lehman-Pleite war ein
Klacks gegen das, was uns bei der Insolvenz eines Euro-Staates erwarten würde. Homburg: Das sehe ich vollkommen anders. Die Ursache der Euro-Krise liegt auch nicht in einer Irrationalität der Finanzmärkte, sondern darin, dass manche Staaten über ihre Verhältnisse gelebt haben. Ein griechischer Lokführer verdient 5000 Euro netto im Monat, spanische Fluglotsen kommen auf 300 000 Euro im Jahr. Wollen Sie den deutschen Arbeitnehmern, die seit langem Schlusslichter bei der Lohnentwicklung sind, wirklich zumuten, derartige Einkommen mit noch höheren Steuern zu finanzieren? Bofinger: Nun mal langsam. In Spanien und Irland hat nicht der Staat über seine Verhältnisse gelebt, es war der Privatsektor. Der irische Staat hatte 2007 einen ausgeglichenen Haushalt, der spanische sogar einen Überschuss, die Finanzindustrie dagegen hat über Jahre ohne Sinn und Verstand Kredite vergeben. Die Schäden sind beträchtlich, aber sie ließen sich eindämmen, wenn Europa Euro-Anleihen einführen würde. Eine Euro-Anleihe ist schließlich keine Transferunion. Homburg: Was denn sonst? Ökonomen haben seriös berechnet, dass der Zinssatz eines Euro-Bonds rund einen Prozentpunkt über dem einer Bundesanleihe liegen wird. Das würde den Staat rund 2o Milliarden Euro jährlich kosten und käme einer Mehrwertsteuererhöhung um zwei Prozentpunkte gleich. Bofinger: Ich bestreite, dass die Zinsen eines Euro-Bonds über denjenigen einer Bundesanleihe liegen. Das aktuelle Problem besteht ja gerade darin, dass die Risiken der Euro-Länder separat bewertet werden. Würden sie dagegen gemeinsam am Finanzmarkt auftreten, wäre das Risiko einer Insolvenz gering, und die Zinsaufschläge würden verschwinden. Der wichtigste Wettbewerber wären USStaatsanleihen. Da die Neuverschuldung der Euro-Zone insgesamt deutlich niedriger als diejenige der USA ist, wäre der Euro-Bond im internationalen Vergleich ein attraktives Investment, zumal der
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Stefan Homburg ist Professor für öffentliche Finanzen an der Universität Hannover. Nach dem Leipziger CDU-Parteitag im Jahr 2003 war Homburg daran beteiligt, für Angela Merkel das Konzept einer Kopfprämie im Gesundheitswesen zu entwickeln. Er beriet den damaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Christian Wulff und den früheren UnionsFraktionschef Friedrich Merz. Gewerkschafter charakterisierten ihn damals als „wildgewordenen Neoliberalen“, doch Homburg, 49, mag sich nicht parteipolitisch vereinnahmen lassen. Neben seiner Lehrtätigkeit arbeitet er auch als Steuerberater. D E R
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Markt für Euro-Bonds erheblich größer wäre als der für Bundesanleihen. Homburg: Euro-Bonds wären weniger sicher als Bundesanleihen und somit höher verzinslich, weil sie zu noch stärkerer Verschuldung anreizen. Schon durch die bisherigen Rettungsmaßnahmen hat die Bundesregierung dem Steuerzahler Risiken von 200 Milliarden Euro aufgebürdet. Die Risikoprämien für Bundesanleihen haben sich im letzten Jahr verdoppelt. Mehr ist nicht drin. Bofinger: Wenn Sie Eier, Wasser und Mehl zusammenrühren, kommen dabei nicht 50 Prozent Mehl, 25 Prozent Wasser und 25 Prozent Eier heraus, sondern ein Teig für Spätzle. Es entsteht etwas Neues, und so wäre es auch beim Euro-Bond. Homburg: Sie träumen. Durch Euro-Bonds entsteht eine Haftungsgemeinschaft zu Lasten Deutschlands. Inzwischen hat die Europäische Zentralbank die Mitgliedstaaten um eine Kapitalerhöhung gebeten, weil sie seit Ausbruch der Krise fast 75 Milliarden Euro an problematischen Staatsanleihen gekauft hat. Wer bringt den Löwenanteil ein? Die Bundesrepublik. Bisher klappt das Hütchenspiel von Politik und EZB noch. Schlimmer wird es, wenn Griechenland und andere ihre Schulden nicht mehr bedienen. Dann stehen wir für Beträge gerade, die sich heute noch niemand vorstellen kann. In Deutschland werden dann massive Einschnitte notwendig sein. Bofinger: Dazu wird es nicht kommen, wenn der Vorschlag richtig umgesetzt wird. Er sieht ja nicht nur neue Anleihen vor, sondern vor allem mehr Macht für die Brüsseler EU-Kommission. Sie soll künftig darüber wachen, dass alle Mitgliedstaaten eine solide Haushaltspolitik betreiben. Es ist ganz einfach: Wer gegen die Kriterien des Stabilitätspakts verstößt, darf keine Euro-Bonds mehr ausgeben. SPIEGEL: Mal angenommen, das System würde so eingeführt, wie es Herr Bofinger vorschlägt. Wäre das die Lösung, Herr Homburg? Homburg: Nein. Der Stabilitätspakt hat nicht funktioniert, und er wird auch nie funktionieren. Die Bundesregierung ist mit allen Versuchen, den Stabilitätspakt zu härten, grandios gescheitert. Bofinger: Das ist eine Frage des Verhandlungsgeschicks. Ich bin überzeugt: Wenn sich die Bundesregierung bereitfinden würde, Euro-Bonds einzuführen, könnte sie den anderen Ländern Bedingungen stellen, nach dem Motto: Wir geben dem Euro noch eine Chance, aber nur, wenn sich unsere Partner zu strikter Haushaltsdisziplin verpflichten. Homburg: Wenn wir am Euro festhalten, gibt es einen Schrecken ohne Ende. Ich plädiere für ein Ende mit Schrecken, also ein Ende des Währungsexperiments. Europa würde dadurch befriedet und unter dem Strich besser fahren. 53
Deutschland
* Christian Reiermann und Michael Sauga in der Universität Hannover.
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Bofinger, Homburg, SPIEGEL-Redakteure*
„Das ist reine Angstmache“ D E R
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Deutschland aus dem Euro aussteigt. Die Frage ist nur, ob die wirtschaftlichen Folgen verkraftbar sind? Homburg: Technisch ist der Ausstieg aus dem Euro genauso einfach wie vor einigen Jahren der Einstieg. Allerdings wird er wohl kaum mit langem Vorlauf angekündigt werden: Eines Morgens wachen wir auf und hören im Radio, dass wir eine neue Währung haben. Bofinger: Das hört sich jetzt richtig idyllisch an, wie Sie den Deutschen über Nacht wieder zu ihrer geliebten D-Mark verhelfen wollen. Es wird aber nicht idyllisch, es wäre ein Horrortrip. Würden die Deutschen aus dem Euro aussteigen, Karnevalsthema Mark: „Das Experiment beenden“ würden ihre Vermögen im EU-Ausland auf einen Schlag an Wert verlieren. SPIEGEL: Das müssen Sie uns erklären. Vor allem Banken und Versicherungen Bofinger: Schauen Sie sich doch einmal könnten dadurch in Existenznot geraten. an, wie viel Geld andere Länder aufbrinZudem würde eine Kapitalflucht in die gen, um ihren Wechselkurs gegenüber neue D-Mark einsetzen, die alles sprengen dem Dollar und anderen Währungen dürfte, was wir bislang erlebt haben. halbwegs stabil zu halten. Die Japaner Homburg: Gemach, gemach. Was Sie Ka- haben fremde Anleihen im Wert von eipitalflucht nennen, also die Umschich- ner Billion Dollar erworben. Und die tung von Griechenland-Bonds oder Ir- Chinesen haben Papiere im Wert von 2,6 land-Bonds in Bundesanleihen oder fran- Billionen Dollar im Tresor. Das ist ein zösische Staatsanleihen, läuft doch seit Vielfaches dessen, was die Deutschen bislangem. Das sind normale Kapitalmarkt- her für den Zusammenhalt Europas aufgewendet haben. Ist es wirklich besser, bewegungen. Bofinger: Bei einer Rückkehr zur Mark US-Anleihen als spanische Anleihen zu würde der Prozess aber zusätzlich in kaufen? Schwung kommen. Unsere Währung Homburg: Einspruch, Euer Ehren. Ging es würde auf einen Schlag um 30 oder 40 uns vor zehn Jahren, als die D-Mark exisProzent aufwerten. Das wäre der Overkill tierte, tatsächlich so schlecht? Das sind für die deutschen Exporteure, weil ihre doch alles unbegründete HorrorszenaWaren auf den wichtigsten Absatzmärk- rien, die Sie hier malen. Nüchtern beten entsprechend teurer würden. So et- trachtet ist im letzten Jahrzehnt enorm was haben wir schon einmal Mitte der viel Kapital aus Deutschland ins europäineunziger Jahre erlebt, als die Mark ge- sche Ausland geflossen. Dieser Strom genüber Pfund, Lira und Franc stark an würde sich bei Rückkehr zur D-Mark Wert gewann. Die deutsche Wirtschaft umkehren, es würde wieder mehr in hat über ein Jahrzehnt gebraucht, um sich Deutschland investiert. von diesem Schlag zu erholen. SPIEGEL: Herr Bofinger, Ihr Kollege meint, Homburg: Die Schwierigkeiten Mitte der dass Deutschland der europäischen Idee neunziger Jahre beruhten auf den Folgen geradezu einen Dienst erwiese, wenn es der Wiedervereinigung und nicht auf dem aus dem Euro ausstiege. Sehen Sie das Wechselkurs. Die D-Mark würde zwar auch so? etwas aufwerten, aber längst nicht so stark, wie Sie suggerieren. Andererseits käme der damit verbundene Kaufkraftgewinn unseren Konsumenten zugute. Das ist doch genau das, was Sie jahrelang gefordert haben. Bange machen gilt nicht, denn eine Transferunion, die am Ende ohnehin zusammenbricht, ist ökonomisch wie politisch viel gefährlicher als eine Rückkehr zur D-Mark. Bofinger: Nur auf den ersten Blick. Wenn wir den Euro aufgeben, würden wir statt unserer Partnerländer bald andere Weltregionen finanzieren.
Bofinger: Im Gegenteil: Würde Deutschland den Euro verlassen, würde das Europa um Jahrzehnte zurückwerfen. Der Kontinent würde wieder als Ansammlung von Kleinstaaten wahrgenommen und nicht als starker Wirtschaftsraum, der den USA und den aufstrebenden Schwellenländern Asiens wirtschaftlich Paroli bieten kann. SPIEGEL: Kanzlerin Merkel hat in der Euro-Krise bisher eine moderate Linie vertreten: Sie will den Euro erhalten, lehnt aber EuroBonds ab. Wie beurteilen Sie ihr bisheriges Krisenmanagement? Bofinger: Die Bundesregierung war viel zu zaghaft, viel zu kleinteilig. Sie hat bei all ihren Aktionen immer nur gehofft, dass alles schon nicht so schlimm kommt. Aber die bisherigen Einzelaktionen werden auf die Dauer nicht ausreichen. Homburg: Da stimme ich Ihnen zu 100 Prozent zu. Die Bundesregierung hat sich von den Ereignissen nur treiben lassen und immer erst nein gesagt, um dann doch einzuknicken. Das war im Falle Griechenlands so, beim sogenannten Euro-Rettungsschirm und zuletzt im Fall Irlands. Dieses perspektivlose Durchwursteln hat die Finanzmärkte weiter verunsichert. SPIEGEL: Das klingt hinreichend düster. War die Währungsunion von Beginn an ein Fehler? Bofinger: Nein. Die Währungsunion ist ökonomisch wie politisch eine vernünftige Sache. Und wir haben von dem Gemeinschaftsgeld profitiert. Ohne den Euro wäre Deutschland eine Art Japan geworden, mit schwachem Wachstum und stets am Rande der Deflation. Wie Japan hätten wir jeder Abwertung des Dollar mit Lohnzurückhaltung begegnen müssen, um die Wettbewerbsfähigkeit wiederherzustellen. Das haben wir dank des Euro vermieden, und deshalb lohnt es sich auch, alles zu tun, damit er uns erhalten bleibt. Homburg: Jeder Ökonom unterschreibt, dass Einheitswährungen theoretische Vorteile bieten. Sie vergrößern die Märkte und verringern die Kosten. Praktisch ist das Euro-Experiment aber gescheitert. Ich halte die Europäische Union für eine gute Sache und will sie nicht durch krampfhaftes Festhalten an einem fehlgeschlagenen Währungsexperiment gefährden. Genau das aber tut die Politik. SPIEGEL: Herr Bofinger, Herr Homburg, wie lange geben Sie dem Euro noch? Homburg: Keine zehn Jahre. Bofinger: Wenn er die nächsten zwei Jahre übersteht, hat er eine gute Überlebenschance. SPIEGEL: Herr Bofinger, Herr Homburg, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. JENS MEYER / AP
SPIEGEL: Sie fordern also, dass
Gesellschaft
Szene
Was war da los, Frau Goldberger? „Das Problem war die Dose Spinat. Mein Enkel Sacha hat sie mir auf den Oberarm geklebt. Bis sie endlich hielt, fiel sie zweimal herunter, mitten auf einer Kreuzung in New York. Spinat steht für Stärke, aber mit 91 Jahren lässt meine Kraft nach. Bis zu meinem 80. Lebensjahr habe ich in der Modebranche gearbeitet. Es fiel mir schwer, aufzuhören, das Telefon klingelte nicht mehr, ich fühlte mich allein, zu wenig gebraucht. Sacha hat das gemerkt. Um mich zu beschäftigen, hat er diese verrückten Fotos von mir gemacht und sie auf seiner MySpace-Seite ausgestellt. Er hat mir gezeigt, wie ich ins Internet gehe und die Kommentare über mich nachlese. Immer mehr Leute wollten unsere Bilder sehen, also haben wir ein Buch gemacht. Dieses Projekt macht mir Spaß, es hält mich jung.“
SASCHA GOLDBERGER
Die französische Rentnerin Frederika Goldberger, 91, über die Schönheit des Alters
Goldberger
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Der kanadische Arzt und Menschenrechtler James Orbinski, 50, über die Grenzen der Medizin SPIEGEL: Herr Orbinski,
so fatal neutral. Durch falsche Entwicklungshilfe unterstützt man am Ende die kriminellen Regime. SPIEGEL: Wieso? Orbinski: Viele Länder sind so korrupt, dass Geld und Hilfsgüter nicht bei den Hilfsbedürftigen ankommen. Außerdem behindern einige Regime die Hilfsorganisationen bei ihrer Arbeit. SPIEGEL: In welchem Land haben Sie so eine Behinderung erlebt?
Sie waren Präsident von „Ärzte ohne Grenzen“ und haben 1999 für die Organisation den Friedensnobelpreis entgegengenommen. Sie haben in der Entwicklungshilfe viel erreicht, trotzdem heißt Ihr Buch „Ein unvollkommenes Angebot“. Orbinski: Humanitäre Hilfe ist bisher leider oft unvollkommen. Sie kann nur wenig erreichen, wenn die Politik keine fundamentalen Veränderungen einleitet. SPIEGEL: Wie sollte Entwicklungshilfe aussehen? Orbinski: Wir müssen Entwicklungshilfe stärker an Bedingungen knüpfen, wir dürfen kriminellen Regimen gegenüber nicht tolerant sein, nicht Cholerakranke in Haiti D E R
RON HAVIV / VII
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„Ärzte allein machen die Welt nicht gesund“
Orbinski: In Nordkorea zum Beispiel. Einerseits brüstet sich das Regime damit, dass es ausländische Helfer ins Land lässt, andererseits versucht Nordkorea, den Helfern vorzuschreiben, wie sie arbeiten sollen. Das dürfen wir uns nicht gefallen lassen. SPIEGEL: Sollen Hilfsorganisationen die Menschen alleinlassen in solchen Situationen? Orbinski: Im schlimmsten Fall ja. „Ärzte ohne Grenzen“ hat das in anderen Ländern bereits getan. Wo etwa, wie in Ruanda, ein ganzes Volk ermordet wird, kann man keine geordnete humanitäre Hilfe leisten. Wir brauchen ein Mindestmaß an demokratischen Strukturen, an Respekt und an ökonomischer Transparenz. SPIEGEL: Sind Sie mehr Arzt oder mehr Politiker? Orbinski: Als junger Mann dachte ich, ein guter Arzt sollte sich aus der Politik raushalten. Heute halte ich das für naiv. Ärzte allein machen die Welt nicht gesünder. Ein Arzt muss politisch sein.
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James Orbinski: „Ein unvollkommenes Angebot – Humanitäre Hilfe im 21. Jahrhundert“. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main; 418 Seiten; 19,95 Euro.
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EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE
Der wollte nur spielen Warum ein Australier seine Familie für einen Hund verließ
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man teilte ihm mit, dass sein Hund on Gilbertson ist jetzt wieder zu eine Gefahr für die Allgemeinheit sei Hause. Er hat die Flucht überund getötet werden müsse, innerhalb standen, die Wochen im Gefängvon 28 Tagen. Gilbertson besorgte sich nis, er hat mit seiner Partnerin gesproeinen Anwalt. chen, mit den Kindern, sie sind froh, Der riet ihm, Widerspruch einzuledass er wieder da ist. gen. Der Widerspruch wurde abgeDie Kinder lärmen im Hintergrund lehnt. „Was nun?“, fragte Gilbertson herum, während Gilbertson am Teleseinen Anwalt. Der antwortete sinnfon sitzt und zu erklären versucht, wargemäß: Das war’s, da geht nichts mehr. um er tun musste, was er tat: „Es ist eine Frage der Loyalität. Der Hund Gilbertson war anderer Meinung. Er war loyal zu mir. Ich war loyal zu ihm.“ würde Max nicht aufgeben, nur weil er Eigentlich sei das doch ganz logisch. Gilbertson lebt im Süden Australiens, am Rand von Mount Gambier, einer Kleinstadt auf halbem Weg zwischen Adelaide und Melbourne. Er ist hier aufgewachsen, er hat hier einen Großteil seines Lebens verbracht, und er hat immer Hunde besessen, schon als Kind. Meist waren es Bullterrier, kompakte Muskelpakete, die Gilbertson schätzt wegen ihres Muts, ihrer Treue und weil sie in der Lage sind, Einbrecher aus dem Haus zu treiben, wenn sie nur die Lefzen heben. In den vergangenen zehn Jahren gehörte der Stafford- Gilbertson mit Hunden und Tochter shire-Bullterrier-Mischling Max zu Gilbertsons Familie, ein Rüde mit schwarzem Fell, Gilbertson hatte ihn als Welpe bekommen, und Max war, so berichtet es Gilbertson, ein problemloses Tier. Er war Menschen gegenüber freundlich, und mit anderen Hunden kam er auch gut aus, im Prinzip jedenfalls. Vor ein paar Monaten traf Max auf einer Wiese Rusty, einen Nachbarshund. Rusty ist ein Mischling, ungefähr halb so groß wie Max, nicht muskulös, Aus der „B.Z.“ eher wuschelig. Rusty erinnert an Woody Allen, Max dagegen mehr an einen anderen Hund in den Hintern geMike Tyson. Wie es zu dem Kampf bissen hatte. Wenn Anwälte ihm nicht kam, wer angefangen hat und warum, weiterhelfen wollten, dann musste er lässt sich nicht mehr klären, sicher ist sich eben selbst um die Lösung des Pronur, dass Rusty den Kampf verloren blems kümmern, auf seine Art. Gilberthat. „Die Verletzungen waren nicht so son hat 20 Jahre lang geboxt, auch als schlimm“, sagt Gilbertson. Der EigenProfi, er löst Probleme gern direkt. tümer von Rusty war anderer Meinung Max war mittlerweile im Tierheim und zeigte Gilbertson an. gelandet, die Stadtverwaltung hatte Wenige Tage später erhielt Gilbertdafür gesorgt, und dort besuchte Gilson Post von der Stadtverwaltung, bertson seinen Hund. Er parkte den 58
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Wagen vor der Tür, sagte den Angestellten, dass er sich von seinem Hund verabschieden wolle, allein wenn möglich, man gewährte ihm eine halbe Stunde. Als Gilbertson mit seinem Hund allein war, zog er eine Zange aus der Hosentasche und kniff den Draht von Max’ Käfig durch. Wenig später saßen Mann und Hund im Auto. Gilbertson fuhr nach Westen, 3000 Kilometer lang. Sein Ziel war Perth, dort fand er Unterschlupf bei einem Bekannten. Er war mit Max zusammen, aber vom Rest seiner Familie getrennt. Er vermisste die Kinder, er suchte nach einer Lösung und fand keine. Er blieb einfach, wo er war. Joana Fuller hörte von Gilbertson in den Nachrichten. Sie ist Anwältin in Adelaide, sie verteidigt vor allem Kriminelle, sie ist auch eine große Tierfreundin. Sie rief Gilbertsons Familie an und ließ sie wissen, dass sie ihn verteidigen würde, umsonst. Gilbertson nahm ihr Angebot an. Fuller zog vor das Landgericht, ein Richter hörte ihre Argumente. Und verwarf sie. Gilbertson hatte den Hund innerhalb von vier Tagen vorzuführen, tue er das nicht, mache er sich der Missachtung des Gerichts schuldig. Gilbertson ließ die Frist verstreichen. Fuller zog in die nächste Instanz, um eine Haftstrafe für Gilbertson zu verhindern. Es gelang ihr nicht. Gilbertson erschien widerwillig vor Gericht, der Richter hielt ihm zugute, dass er keine Vorstrafen hatte, dass er einer geregelten Arbeit als Fitnesstrainer nachgeht. Gilbertson wurde zu sechs Wochen Haft verurteilt. Seinen Hund Max hat Gilbertson den Behörden bis heute nicht übergeben. Als sich die beiden noch zusammen in Perth versteckt hielten, war es zu einem unangenehmen Zwischenfall gekommen. Max hatte sich erneut über einen anderen Hund hergemacht, der Kampf endete blutig. Gilbertson sagt, als er den anderen Hund gesehen habe, wie er so dalag, habe er an seine beiden Kinder denken müssen, Kloe ist drei, Coby ein Jahr alt. Da sei ihm klargeworden, Max müsse weg. Er ließ Max einschläfern. Gilbertson hat jetzt nur noch einen Hund, Zena, sie ist ein RidgebackMischling, ähnlich gebaut wie Max, nur größer. UWE BUSE
HARTMUT SCHWARZBACH / ARGUS
Gesellschaft
Obdachloser Finke
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Der Mann im Müll Der Hamburger Jens Finke ist einer von 20 000 deutschen Obdachlosen. Eines Nachts legt er sich in eine Papiertonne, wird am Morgen in einen Müllwagen geschüttet und beinahe von einer Presse zerquetscht. Seit 17 Jahren lebt er an der Grenze zum Tod. Von Hauke Goos und Ralf Hoppe
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Geld hat, Schwarzer Krauser, Tabak zum Drehen, die Stummel saugt er aus auf eine Länge von weniger als einem Zentimeter, bis die Glut fast die Lippen versengt. In Deutschland kamen im vergangenen Winter 17 Obdachlose ums Leben. Die Lebenserwartung bei obdachlosen Männern liegt bei 46,5 Jahren. Jens Finke ist 49. Um viertel nach sieben fährt ein Müllwagen der Firma Otto Dörner vor, ein Hecklader mit aufgesetzter Drehtrommel.
dererseits hat er immer noch etwa 2,6 Promille Alkohol im Blut. Er schreit um Hilfe. Niemand hört ihn. Seit 17 Jahren lebt Jens Finke ein Leben, das bedroht ist von Kälte und Gewalt. Oft hat er daran gedacht zu sterben. Aber jetzt, als der Tod ihn überfällt, kämpft er, mit aller Kraft. Sein Bein ist unmittelbar vor der Pressschnecke, als der Fahrer des Müllwagens ein geparktes Auto touchiert und dessen
HARTMUT SCHWARZBACH / DER SPIEGEL
n der Nacht zum 16. November 2010, einem Dienstag, klettert der Obdachlose Jens Finke in einen grünen Müllcontainer mit Runddeckel, 1100 Liter Fassungsvermögen. Finke hat sich zu diesem Zeitpunkt „einen getüdelt“, eineinhalb Liter Rotwein, mindestens, der Verschnittsorte „Wappentrunk/Lieblich“ zu 1,39 Euro. Da die Mülltonne, in die er steifgliedrig steigt, nur Papier enthält, Pappe und brockenweise Verpackungsstyropor, erscheint sie als brauchbarer Unterschlupf. Finke kauert sich hinein und zieht die Klappe zu. Dann sackt er weg. Die Mülltonne steht in einer Unterführung, an der Rückseite einer Einkaufszeile im „Bahrenpark“, einem Shoppingund Bürozentrum in Bahrenfeld, im Westen Hamburgs: Deichmann, Takko, Aldi, gegenüber ein Wellness-Center, eine Tanzschule. Die Unterführung, wo Finke seit zwei Jahren immer mal wieder übernachtet, ist ein betonierter Tunnel, durch den der Wind pfeift, mit vergitterten Rampen für die Warenanlieferung. Ein paar ausrangierte Einkaufswagen, eine verrostete Schubkarre, ein Berg mit gelben Müllsäcken. Davor sechs Container, darunter der, den Finke sich ausgesucht hat. An den Müllsäcken fiepen Ratten. Es hat in den vergangenen 24 Stunden in Hamburg einen Temperatursturz gegeben, Nebel senkt sich auf die Stadt. Jens Finke schläft. Die letzten 17 Jahre hat Finke auf der Straße gelebt. Er ist ein hagerer, knochiger Typ, rothaarig, hellhäutig, mit blutunterlaufenen Augen, das Gesicht schuppig. Es gibt Tage, vier, fünf, sechs, manchmal neun Tage hintereinander, an denen er keine Gelegenheit findet oder nicht daran denkt, sich zu waschen, seine Kleidung zu wechseln. An solchen Tagen mischt sich Schweißgeruch mit dem von Urin, Nikotin, Kot. Jens Finke kann sich nicht erinnern, wann er sich zum letzten Mal die Zähne geputzt hat. Früher haben ihm Kieferentzündungen zugesetzt, aber das ist vorbei, die Zähne sind ausgefallen, bis auf vier bräunliche Stummel im Unterkiefer. Seine Fingernägel sind krallenhaft lang und schmutzverkrustet, er raucht, wenn er
Finkes Schlafplatz in Hamburg-Bahrenfeld, Müllcontainer: Oft hat er daran gedacht zu sterben
Zwei Männer in orangefarbener Kluft bilden die Besatzung: der Fahrer und ein Arbeiter, dessen Job es ist, die Container an das Hebegeschirr zu schieben. So rutscht Jens Finke, immer noch schlafend, mitsamt dem Papiermüll in die Trommel. An der Schüttungsklappe des Wagens befindet sich die Förderschnecke, die den Müll verdichtet und nach vorn schiebt, wo er von der Pressschnecke zerkleinert wird. Es ist dunkel, Finke findet keinen Halt, alles um ihn herum bewegt sich. Er drückt sich weg von den rotierenden Metallteilen, deren Kreischen im Trommelinnern widerhallt, er muss was tun, sofort. AnD E R
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Außenspiegel abbricht. Der Fahrer bemerkt den Schaden, bremst, steigt aus, und jetzt endlich hört er Finkes Schreie aus dem Innern der Mülltrommel. Und so geschieht es, dass ein Mann, der seit Jahren an der Grenze zwischen Leben und Tod herumstreicht, noch einmal davonkommt. Ein Zufall rettet ihn, ein Außenspiegel. Und jeder, der von diesem Mann hört, fragt sich: Wie überlebt man in dieser Trostlosigkeit? Was hält einen Menschen wie Jens Finke am Leben? Und wie verändert sich ein Leben, das noch einmal gerettet wurde? Ändert es sich überhaupt? 61
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Gesellschaft
Bettler Finke: „Du kannst mich mit nichts umbringen, nur mit zu viel Geld“
Mit einer blutenden Stirn und Schürfwunden wird Jens Finke ins Krankenhaus gebracht. Etwa eine Woche später liegt er in einem Kellerwinkel eines Bürotreppenhauses in Bahrenfeld. Er hat sich am Vorabend einschließen lassen, es ist seine neue Schlafstelle, windgeschützt und warm. Er hat jetzt einen Schlafsack, auf dem er liegt, ein Geschenk der Diakonie, er deckt sich zu mit der Abdeckplane eines Motorrads, die er in einer Tiefgarage gefunden hat. Halb sechs Uhr morgens. Er kann nicht schlafen, er raucht und liest, ein Buch aus dem Sperrmüll, Die Fahrt nach Feuerland, von einem Typen namens Konsalik. Losskow zog sein Hemd aus. Um den Hals trug er an einem goldenen Kettchen ein geschlossenes Medaillon. Es war eine alte Arbeit, ziseliert mit Blüten und Ranken. Seit seiner Rettung aus dem Müllwagen ist Finke eine Lokalberühmtheit. Er hat Schuhe bekommen, fast neu, man hat ihm Strümpfe ausgehändigt, einen neuen Parka, eine Taschenlampe, ein Paar Handschuhe, ein paar Papiertaschentücher, eines nimmt er als Lesezeichen. Während des Sockentauschs hat er sich seine Füße angesehen: keine offenen oder eiternden Stellen, keine Geschwüre. „Er hat recht!“ Helena warf ihre Schwimmweste ab. Sie zeigte nach links und rechts. „Da ist Argentinien, dort sind die Falkland-Inseln! Und ich bin nass und muss weiterleben!“ Finke hört jetzt aus dem Treppenhaus Geräusche. Die schwere Eingangstür wird aufgeschlossen, die Putzfrauen kommen, schwatzend, klappernd. 62
Sie zog die nasse Bluse aus, löste den BH, streifte die Jeans und den Slip herunter und rutschte, völlig unbefangen in ihrer Nacktheit, auf den Knien zum Eingang. Sie hatte eine sehr weiße Haut, kräftige, runde Brüste, glatte, muskulöse Schenkel und schöne Beine. Finke rafft seine Habseligkeiten zusammen. Er muss verschwunden sein, bevor die Putzfrauen ihn entdecken könnten, sie würden den Hausmeister benachrichtigen, Security-Leute würden ihn hinausscheuchen, er kennt das. Er schiebt Buch, Taschenlampe, Tabak in den Rucksack, knüllt den Schlafsack zusammen und macht sich davon. Es ist noch dunkel. Jens Finke stapft los, ge-
Die Lebenserwartung bei Obdachlosen liegt bei 46,5 Jahren, Finke ist 49. beugt, krummbeinig, biegt in den Bahrenfelder Kirchenweg ein, erreicht den SBahnhof. Ein Zitherspieler sitzt auf einem Hocker vor dem Treppenaufgang und spielt zeitlupenhaft einen Walzer. Finke mischt sich am Gleis unter die Schüler und Berufstätigen. In dem morgendlichen Dunst könnte Finke auch ein Mann auf dem Weg zur Arbeit sein. Norburger Straße, Regerstraße, Bahrenfelder Chaussee: Wo Jens Finke aufwächst, in Hamburg-Bahrenfeld, in den sechziger und frühen siebziger Jahren, ist die Welt aufgeräumt und eng. Hier wohnen Leute, die sehen müssen, dass sie durchkommen. Sechs Parteien in einem Haus, Innenhof mit Teppichstange, Sandkiste. Finkes wohnen im Erdgeschoss, D E R
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rechts, 56 Quadratmeter, ofenbeheizt. Jens ist das jüngste von vier Kindern, der Vater hat als Schweißer bei Blohm + Voss gearbeitet. Er ist Frührentner und verbringt seine Tage, so erinnert sich Finke, grummelnd und trinkend auf dem Sofa. Mit seinen drei älteren Geschwistern teilt sich Jens Finke das Zimmer, das eigentlich als Schlafraum für die Eltern vorgesehen ist, stets ist er der Kleinste, der Dümmste, der Lauteste. Er wird nicht gelobt dafür, dass es ihn gibt, sondern nur dafür, dass er sich unsichtbar macht. Manchmal darf er mit seinem Vater ins Kino gehen, das ist das Äußerste an Nähe. Anders als die drei älteren Geschwister besucht Jens Finke nicht die Volksschule, er gilt als lernschwach und wird zur Sonderschule geschickt. Damit aus Jens Finkes Leben eine Tragödie wird, braucht es kein großes Unglück. Es reichen Widrigkeiten, um ihm sein Scheitern klarzumachen. Wenn er heute in seinen Kindheitserinnerungen nach den wenigen Glücksmomenten stochert, fällt ihm ein, wie sie an Sommerabenden Fahrrad fuhren. Wie seine Mutter ihm Bratkartoffeln mit Spiegelei vorsetzte. Zum Frühstück bekam er Haferschleim, den er sich mit acht Löffeln Zucker und einer Dose Kondensmilch schmackhaft machte. Finke soll sich nützlich machen, aber keiner sagt ihm, wie. Vor allem soll er nicht im Weg sein, möglichst verschwinden. Wohin, wenn man unerwünscht ist? Ein Ausweg bietet sich, als Jens Finke sich mit einem Nachbarsjungen anfreundet, dessen Eltern eine Hausbar haben. Er ist 16, als die beiden sich zum ersten Mal betrinken. Finke hat ein Türchen gefunden. Es gibt hinter der Welt eine zweite Wirklichkeit, in der alles milder, freundlicher erscheint. Von hier kann er nicht vertrieben werden. Der Himmel ist kreidig-grau, als Finke an der S-Bahn-Station Landungsbrücken aussteigt. Er stakst die Treppen hoch, biegt ein in die Seewartenstraße. Der Kellerraum des ehemaligen Hafenkrankenhauses ist die früheste Anlaufstelle am Morgen für Männer wie ihn. Hier gibt es einen Frühstücksraum, Brötchen vom Vortag, Joghurt, Käse. Der erste Kaffee ist umsonst, jeder weitere kostet zehn Cent. Zwanzig Männer, eine Frau. Wortlos mümmeln die Gäste ihre ein, zwei Brötchen, zapfen sich Kaffee aus den Standkannen, bald ist die Luft blau vom Zigarettenrauch. Unter den Männern gibt es drei Gruppen: die Veteranen, die Unauffälligen und jene, die keinen Gedanken mehr an ihre Wirkung verschwenden. Die Veteranen, mit ihren langen Bärten und wallenden Flickenmänteln, mit Tätowierungen auf Stirn und Handrücken, strahlen Würde aus und Stolz. Die Unauffälligen wollen genau das sein: unauffällig. Unter ihnen sind die
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Gesellschaft
Finkes Tagesversteck: „Schlafsack, Ende der Durchsage“
Hartz-IV-Empfänger, Männer mit einem Er hat die Zigarette aufgeraucht, bis er ordentlichen Haarschnitt, glattrasiert, die fast nur noch Glut zwischen den FingerNachbarn haben, denen sie Normalität spitzen hält. Er hustet, zieht Schleim vorspielen, Martin* etwa, der jetzt Jens hoch. Finke zu sich winkt, auf den Platz ihm „Zu meinen Geschwistern hab ich keigegenüber. nen Kontakt, vom Winde verweht. Und Und dann gibt es die dritte Gruppe, meine Eltern sind tot, beide. Keine AhMänner wie Jens Finke. Der nicht mehr nung, wo die begraben liegen. Hab mich weiß, wie er aussieht, der nur darauf ach- nie drum gekümmert.“ tet, sich zu ducken, niemanden anzuEr wischt sich das Tsatsiki aus dem schauen, keinen anzurempeln, keinen Är- Schnurrbart, steht auf, um sich den dritger zu kriegen, wissend, dass er sich Streit ten Becher Kaffee zu holen. nicht leisten kann, weil er seine ganze Martin ist arbeitslos, bezieht Hartz IV, Kraft zum Überleben braucht. hat aber noch eine kleine Wohnung, mit Er holt sich seinen ersten Kaffeepott, Bett, Fahrrad, Mail-Adresse. Er hat mit in den nächsten Stunden wird er vier gro- Bewunderung, aber auch Schrecken zuße Becher trinken, sein Körper giert nach gehört. Selbst in diesem Frühstücksraum, Heißem. Dazu zwei Brötchen mit Tsatsiki. Als er das Gefängnis verlässt, hat Martin, Anfang fünfzig, gelernter Gärtner, gutmütig, munter, sagt, dass er und er drei Jahre an nichts anderes Jens befreundet seien. „Oder, Jens?“ Finke rührt mit dem Messergriff im Kafals an den ersten Schluck gedacht. feebecher und schweigt. Unter Obdachlosen gibt es, entgegen morgens um sieben, gibt es so etwas wie der romantischen Vorstellung, kaum Abstiegsangst. Freundschaften. Der Schicksalsgenosse Ab und an bringt Martin seine Kamera ist vor allem Konkurrent im Kampf um mit, fotografiert, verteilt am nächsten Tag Schlafplätze, Geld, Schnaps. Am besten, die Fotos, er hat auch mal Geschenke dasagt Finke, geht man sich gegenseitig aus bei, die wenig oder nichts kosten, eine dem Weg und schläft allein. gebrauchte Armbanduhr für Jens, einen „Andere Menschen brauch ich nicht. Kugelschreiber, eine Postkarte. Jens’ wunIch brauch sowieso nichts mehr. Nur mei- dersame Rettung beschäftigt Martin. Sone Jolle Wein am Abend, damit ich mir lange er sich um andere sorgen kann, ist einen tüdeln kann. Es ist auch immer we- er selbst nicht verloren. Deshalb redet er niger geworden bei mir, was ich brauche, ihm zu, sich nicht vollends aufzugeben. nur ’n’ warmen Mantel. Wenn ich was zu Er will, dass Jens nach Hamburg-Barmessen oder zu trinken hab, dann ess oder bek fährt, wo es ein Containerdorf gibt. trink ich’s doch gleich, was weg ist, ist „Damit du den Winter überlebst!“ weg.“ Ums Überleben ging es schon immer. Den ersten, deutlichen Hinweis, dass er * Name geändert. dem Dasein nicht gewachsen sein könnte, 64
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erhält Finke bei der Bundeswehr. Er rückt 1980 ein, wird Richtschütze bei einem Panzerbataillon. Aber er erträgt den Druck nicht, der von Appellen, Dienstplänen und Befehlen ausgeht, die wortlose Übereinkunft, mit der eine Männergemeinschaft den Schwächsten unter sich ausmacht, um ihn zu quälen. Der Gefreite Finke bricht immer wieder zusammen, haut aus der Kaserne ab, wird unehrenhaft entlassen. Zurück in Hamburg, findet er einen Job als Hafenarbeiter. Ladung löschen bei Hitze, bei Kälte. Im Sommer wird Bier getrunken, gleich nach dem Frühstück, im Winter die harten, wärmenden Sachen, Korn, Rum. Trinkend zieht Finke sich zurück, sieht die Welt wie durch eine Milchglasscheibe. Gleichzeitig wird er zunehmend gereizt gegen alle, die durchs Bild laufen. Noch heute können sich Finkes ehemalige Nachbarn erinnern, wie er immer unberechenbarer wurde. Einmal habe er ein Auto angezündet, erst vier Polizisten konnten ihn bändigen. Am Ende wird er in die Psychiatrische Klinik Ochsenzoll eingeliefert: Mit 1210 Betten gehört sie zu den großen Kliniken in Norddeutschland, eine Stadt der Verrückten. In den achtziger Jahren werden den Patienten noch starke Neuroleptika und Tranquilizer verabreicht. Sechs Jahre verbringt Finke dort, sechs Jahre, die ihn nahezu auslöschen. Man setzt ihn auf Haloperidol und Diazepam, gängige Mittel bei Wahnvorstellungen. Finke erinnert sich, ganze Tage auf dem Bett verdämmert zu haben. Angebote zur Gruppentherapie schlägt er aus, er erträgt das irre Karussell der Aufgebrachten und Brabbelnden nur, indem er sich noch mehr in sich selbst zurückzieht. Jens Finke beschließt, bevor seine Persönlichkeit vollends zerrieben wird, nicht mehr dazuzugehören. Er wird straffällig. Das Gefängnis scheint ihm weniger bedrohlich als die Psychiatrie. Zu diesem Zeitpunkt besitzt Finke noch immer eine eigene Wohnung, in der Virchowstraße in Altona. Im Dezember 1989, als Freigänger, legt er es zum wiederholten Male darauf an, seine Ausweglosigkeit aktenkundig zu machen, durch Diebstähle, Körperverletzung. Am Ende wird er zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Er verlässt das Gefängnis HamburgFuhlsbüttel in leidlicher Verfassung. Drei Jahre lang hat er nichts getrunken, drei Jahre lang hat er an nichts so sehnsuchtsvoll gedacht wie an den ersten Schluck, den ersten Rausch. Seine Eltern sind mittlerweile gestorben. Er hat keinen Job, die Wohnung ist gekündigt, in seinen Worten: „Schlafsack, Ende der Durchsage.“ Die nächsten 17 Jahre sind eine Abfolge von Festnahmen, Gefängnisstrafen und Momenten der Hoffnung, in denen er wenigstens eine Meldeadresse besitzt, gefolgt von erneuten Abstürzen. Bis heu-
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Gesellschaft
Finkes Mittagsmahlzeit: Er trinkt, um abzustumpfen gegen Kälte und Einsamkeit
te sind 41 Ermittlungsverfahren gegen ihn teleien war er immer geschickt, so konnte aktenkundig: Diebstahl, Beleidigung, Er- er einen Fernseher betreiben. Über eine schleichen von Leistungen, Erregung öf- Stehlampe stülpte er einen weißen Eimer, fentlichen Ärgernisses, Hausfriedens- über den er eine rote Penny-Plastiktüte bruch, Körperverletzung, Sachbeschädi- zog, so dass er am Ende rotes, gemütliches Licht hatte in seinem Keller. gung. Er lacht, als er davon erzählt, bis sein Um sich vor der Welt zu schützen, nimmt er die Zerstörung seines Körpers Lachen in einen Hustenanfall übergeht. Ein andermal entdeckte er, gemeinsam in Kauf. Zähne, Haut und Magenschleimhaut werden als Erstes aufgegeben, wie mit einem Kumpel, im Hauptbahnhof Vorposten in einem verlustreichen Krieg. zwei Taschen. In einer waren Bündel mit Aus Finkes Krankenakte des Krankenhau- französischen Francs, umgetauscht rund ses Hamburg-Altona vom 14. November 6000 Mark. Was sie damit machten? 1995: „Zähne gruselig, soweit noch vor- „Scheiß haben wir gemacht“, sie kamen handen.“ Außerdem: „Pat. ist ruhig und die nächsten Tage nicht mehr aus der geordnet, meint, er trinke sich zu Tode, Kneipe. „Du kannst mich mit nichts umdenke auch gelegentlich daran, sich das bringen, nur mit zu viel Geld.“ Leben zu nehmen. Er sei oft unruhig, Für ihn ist alles Gegenwart. habe das Gefühl zu platzen.“ Es gibt Tage, an denen Finke es fast Er will die Rettung, schafft, mit 4,5 Promille und mehr. Finke trinkt, um abzustumpfen, gegen Kälte, aber nur für den Moment. Schmutz, Einsamkeit, gegen die Tatsache, Zwei Erinnerungen aus 17 Jahren. Der dass ihn schon lange niemand mehr berührt, auf die Schulter geklopft, geküsst Rest: Langeweile, Demütigungen. Gelegentlich in dieser Zeit kehrt er zuhat. „Alleinsein, das macht mir nichts. Mit rück in den Hinterhof seiner Kindheit. den Weibern, das ist auch vorbei. Ich war Seine ehemalige Nachbarin, die dort noch wohl mal in so ’ner Peepshow-Kabine. wohnt, hat ihn erkannt, den Jungen von Aber da wollt ich die Frau da gar nicht damals, hat ihn beobachtet, wie er sich angucken. Ich wollt nur die Tür zuma- auf den Rand der Sandkiste setzte, den Rucksack abstellte, ein Bier öffnete. Und chen, meine Ruhe haben.“ Aus dem trüben Durcheinander seiner irgendwann einschlief. Manchmal steigert Jens Finke sich in eiErinnerungen treten wenige Bilder hervor. Jens Finke, daran erinnert er sich in nen Erzählrausch. Phantasiert von Selbstplötzlicher Klarheit, hatte mal einen mördern, die er beobachtet haben will, die Kriechkeller entdeckt, in einem unbe- vor die S-Bahn sprangen, sechs, sieben, nutzten Trakt seines früheren Kranken- acht Suizide an der Zahl, mit abgerissenen hauses. Der Raum war groß genug, um Köpfen, die ihm vor die Füße kullerten – eine Matratze hineinzuschaffen, er zapfte vielleicht braucht er solche Geschichten, ein Stromkabel an, bei elektrischen Bas- um sich klarzumachen, dass er noch lebt. D E R
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„Immerhin bin ich noch am Leben. Und Martin sagt, ich hätt ’ne zweite Chance verdient.“ Das Containerdorf, zu dem ihn Martin, der Freund aus dem Frühstückscafé, geschickt hat, befindet sich in HamburgBarmbek, unterhalb eines U-Bahnhofs. Etwa zwei Dutzend Wohncontainer sind dort aufgestellt. Niemand ist gezwungen, mit anderen Männern im selben Container zu schlafen, was Jens Finke auch nicht aushalten würde. Die Sozialarbeiterin, die das Containerdorf leitet, ist gerade nicht da, der Hausmeister auch nicht. Jens Finke stapft an den Wohnkästen vorbei, schaut hier durch ein Fenster, klopft dort mal, prüft die Schlösser. Aus einer der Behausungen tritt ein Mann mit langen Haaren. Er ist gerade einzogen. Wie es hier so ist, will Finke wissen. Hat man seine Ruhe? Gibt’s wirklich heißes Wasser? Und man wird nicht eingeschlossen? „Gefallen mir, die Dinger. Auf jeden Fall besser als erfrieren“, sagt Finke dann. Es gäbe eine Rettung für ihn. Die Bürokratie, verblüffend engmaschig und beharrlich, führt ihn immer noch als Nummer, als Akte. Beim Amt existiert eine 150 Seiten starke Sammlung von Schriftstücken, beginnend mit einem grauen Haftschein. Finke könnte sich in das System wieder einklinken – wenn er die Kraft fände. Er müsste nur beim Sozialamt auftauchen, eine Nummer ziehen, einen Bogen ausfüllen. Dann bekäme er 359 Euro monatlich, sogar die Kosten für den Wohncontainer, 330 Euro, würde das Amt übernehmen. Offiziell müsste er für drei Stunden Arbeit am Tag zur Verfügung stehen, aber ernsthaft würde ihn niemand einsetzen, weil er nicht mehr einsetzbar ist. Von außen betrachtet wäre es für Jens Finke ein kleiner Schritt, ein bisschen Vorausdenken. Aber genau das kann er nicht, schon lange nicht mehr. Für Finke ist alles Gegenwart. Er will Rettung, aber nur für den Moment. Muss man einen Menschen nicht trotzdem retten, auch wenn der nicht gerettet werden will? Wenn er einfach nicht genug Kraft hat? Finke lässt das Tor zum Containerdorf hinter sich zufallen, macht sich auf den Weg zu seinem Schlafplatz, krummbeinig, gebeugt. Zuvor holt er sich von dem Geld, das er am Tag erbettelt hat, noch eine Tüte Wein, „Wappentrunk/Lieblich“. An seinem Schlafplatz, am Abend, angenehm betrunken, liest Jens Finke noch ein paar Seiten, knipst dann die Taschenlampe aus und zieht die Motorradplane über sich. Wenn er nichts unternimmt, wird seine Akte am 2. Januar 2016 vernichtet werden, das wird sein Ende sein als behördlich geführte Existenz. 67
Gesellschaft
Negerprinzessin Ortstermin: In Berlin diskutiert Michel Friedman über die Frage, was man in Deutschland sagen darf und was nicht.
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FOTOS: CARSTEN KOALL / VISUM
riedman sitzt vor einem Wasserglas wörter, die eine Minderheit beleidigen. liminnen schrien auf, die Zeitungen und rührt mit den Händen in der Interessant, sagt Friedman, sei, dass es schrieben Kritisches und Zustimmendes Luft. Er lauert. Er wartet auf den nie sehr lange dauert, bis sich die Min- in der K-Wort-Sache, aber darum geht es derheiten ihre Schimpfwörter aneignen schließlich beim Tabubruch: um BeachKnall. Irgendetwas muss passieren. Das Thema heißt „Diskriminierende und alles daransetzen, sie umzudeuten. tung und Aufmerksamkeit. Je stärker die Sprache in Politik, Medien & Alltag“. Auf „Du Nigger“ oder „du Kanake“, von ei- Provokation, desto größer ist die Aufdem Podium in der Berliner „Werkstatt nem Afro-Deutschen oder einem tür- merksamkeit, eine Logik, die sich Michel der Kulturen“ diskutieren eine Drehbuch- kischstämmigen Deutschen ausgespro- Friedman schon früh erschlossen hat. Während der neuen K-Wort-Debatte schreiberin, eine Filmemacherin, die Che- chen, ist kein Tabuwort mehr. Es ist lieb fin eines „postmigrantischen Theaters“, gemeint, beinahe ein Kosewort. „Das kroch auch das L-Wort wieder hoch, das man schon für gestorben und beerdigt geeine Publizistin und der Geschäftsführer Wort dreht sich um“, sagt Friedman. Rechts neben ihm sitzt Imran Ayata, halten hatte: die Leitkultur, der Zombie einer PR-Agentur die Frage, was man in Deutschland sagen darf und was nicht. der PR-Mann. Ayata hat Ende der Neun- unter den Debattenbegriffen. Friedman Das Thema ist nicht ganz ungefährlich, ziger die Bewegung „Kanak Attack“ mit- hasst das L-Wort. „Ehrlich gesagt, ich will von niemandem geleitet werden.“ es hat das Land in den letzten MoEr bleibt am liebsten seine eigene naten unter Feuer gehalten, und Randgruppe. Die Ein-Mann-ParalFriedmans Gäste sind entsprechend lelgesellschaft. vorsichtig. Während seine Finger einen KuMichel Friedmans Gesichtsmusgelschreiber foltern, steuert er allkeln zucken. Er ist der Piranha unmählich einen Punkt an, an dem er ter den deutschen Talkmastern. Er seine Thesen nur noch notdürftig ist auch ständig auf Futtersuche. als Fragen verkleidet. „Wenn ich Früher, zu seinen besten Zeiten, hat jetzt sagen würde, es gibt keinen es meistens Geschrei gegeben in seirassistischeren, diskriminierenderen nen Sendungen, weil er seinen GäsBegriff als Integration, hätte ich ten auf den Leib rückte wie kaum dann Unrecht?“ ein Zweiter. Es lief gut für Friedman Integration. Das I-Wort. Friedund sein Provokationsprogramm, man sieht es als unheilvolles Konso lange jedenfalls, bis bekannt wurstrukt, das dazu dient, Individuen de, er habe etwas mit ukrainischen dem Willen einer grauen Mehrheit Zwangsprostituierten gehabt. Es ist zu unterjochen. Sein liebstes I-Wort ein Unterschied, ob man etwas Verlautet „ich“. Er klingt jetzt wie ein botenes macht oder nur etwas VerLied von Tocotronic. „Ich wollte botenes sagt. mich bei meinen Eltern nicht inteAus der Sicht von Michel Friedgrieren, bei Helmut Kohl nicht, bei man, 54, liefen die vergangenen WoGerhard Schröder nicht“, ruft er in chen und Monate nicht übel, erst den Saal. „Ich will mich überhaupt ging es um Ausländerfeindlichkeit, nicht integrieren. Im Prinzip will dann um Deutschenfeindlichkeit, Moderator Friedman: „Ich will mich nicht integrieren“ ich nur ich selber sein.“ und Thilo Sarrazins Auflage kletterEr kämpft und strampelt, aber die Einte auf 1,2 Millionen. Wer Dinge sagt, die gegründet, er sagt nicht mehr „Kanake“, andere sich nicht trauen, lebt auskömm- sondern „Kanakster“. Ayata meint, an gliederung des Dr. Dr. Michel Friedman der Art, wie sich die Wörter verformen, in die Gesellschaft ist längst vollzogen. lich in Deutschland. Das Gespräch auf dem Podium blub- könne man die Einstellung der Mehrheit Das ist sein großes Problem. Wer intebert leise vor sich hin, politisch läuft alles zu den Minderheiten ablesen. Migranten griert ist, ragt nicht aus der Masse. Als vollkommen korrekt. Politische Korrekt- hießen in den sechziger Jahren Gastar- im Saal nach zwei Stunden das Licht heit ist der Tod von Michel Friedman. beiter, in den Siebzigern Ausländer, in hochgefahren wird, sagt ein Mann zu seiDer Piranha droht dann zu verhungern. den Achtzigern ausländische Mitbürger, ner Begleiterin, er sei glücklich, Friedman Friedman holt Luft und sagt: „Bei Pippi in den Neunzigern Asylanten oder endlich einmal live erlebt zu haben. Friedman steigt von der Bühne, gräbt Langstrumpf gibt es noch das Wort ‚Ne- Flüchtlinge. Ausländer wurden allmählich zu Hilfsbedürftigen. Derzeit heißen die Hände in die Anzughose und beklagt gerprinzessin‘. Was heißt das für uns?“ Der Neger. Jetzt ist es raus. Es gibt das sie Migranten, das M-Wort, das zumin- sich darüber, dass bei den vorherigen PoN-Wort sogar noch in den Büchern, aus dest weniger nach „ist hoffentlich bald diumsdiskussionen in Berlin unter seiner denen Friedman seinen Söhnen vorliest. weg“ klingt als Asylant oder Gastar- Moderation keine Journalisten im Publikum saßen, nicht einmal welche von den Das N-Wort ist verbreitet, auch das S- beiter. Sarrazin hat vor einigen Monaten ein Lokalzeitungen. Schlimmer als integriert Wort, schwul, und das K-Wort Kanake. Die N-, S- und K-Wörter wehen jetzt neues K-Wort auf den Markt gebracht, ist nur noch ignoriert. durch den Raum, Schimpfwörter, Tabu- Kopftuchmädchen. Viele deutsche MusCHRISTOPH SCHEUERMANN D E R
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Trends KRANKENKASSEN
Fusionen häufig überflüssig enn sich gesetzliche Krankenkassen zusammenschließen, bringt dies kaum Vorteile. Das ist das Ergebnis eines Prüfberichts des Bundesrechnungshofs zum Thema „Freiwillige Vereinigung von Krankenkassen der Gesetzlichen Krankenversicherung“. Die Fusionen führten „zu keinen deutlichen Synergieeffekten“ und seien mit „erheblichen, z. T. dauerhaften, zusätzlichen Aufwendungen verbunden“, schreiben die Beamten. „Daneben zeigen sich – im Verhältnis zu den Gesamtausgaben einer Krankenkasse – nur geringe Einsparungen.“ Auch habe ein Großteil der geprüften Kassen nicht das Ziel erreicht, „durch die Fusion ihre Marktanteile zu steigern und dadurch bei den Einzelverträgen mit Leistungserbringern günstigere Konditionen auszuhandeln“. Für den Bericht hatten die Beamten Daten aus dem Bundesgesundheitsministerium, dem Bundesversicherungsamt und beteiligten Krankenkassen ausgewertet. Dabei untersuchten sie 10 der 36 Fusionen, die zwischen April 2007 und Januar 2009 wirksam wurden.
Abgebaut
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Zahl der gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland
960
642 554 482
1994 96
Quelle: GKVSpitzenverband; Stand: 1. Juli 2010
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98 2000 02
287 254 221 163
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PATRICK LUX / ACTIONPRESS
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Mitarbeiter des Atomkraftwerks Krümmel VA T T E N F A L L
Erhebliche Mängel in Krümmel D
er geplante Ausstieg des schwedischen Stromkonzerns Vattenfall aus der deutschen Atomstromerzeugung erfolgt möglicherweise weit weniger freiwillig, als der Energiekonzern öffentlich suggeriert. Bereits vor gut einem Jahr hatte Vattenfall einen Versuch gestartet, seinen 50-prozentigen Anteil am Pannenreaktor Krümmel dem Miteigentümer E.on anzudienen. Doch dem Düsseldorfer Stromkonzern war der Preis zu hoch – und das Geschäft zu riskant. Ein angefertigtes Gutachten bescheinigte Vattenfall „erhebliche“ Sicherheitsmängel beim Betrieb des Reaktors. Wartungs- und Betriebspersonal, hieß es, seien ungenügend vorbereitet und teilweise schlecht qualifiziert. So fehle es an Wissen über den Reaktor, selbst Handbücher waren zum Teil nicht auf dem für einen zuverlässigen Betrieb notwendigen Stand. Zwar versuchte Vattenfall, die Mängel zu beheben. Doch das Vertrauen sank. Vergangene Woche lehnte die Kieler Atomaufsicht eine neue Betriebsleiterin mangels Qualifikation ab. Auch E.on erhöhte den Druck. Nach internen Berechnungen hat der Konzern durch Stillstände in Krümmel schon Einnahmeverluste in Höhe von fast einer Milliarde Euro zu verbuchen. Bis Januar sollen die Betriebsführung und weitere Anteile auf den im Betrieb von deutschen Atomkraftwerken erfahreneren E.on-Konzern übergehen. Das stillstehende Atomkraftwerk in Krümmel, glaubt man, könnte dann schnell wieder ans Netz gebracht werden.
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Ergiebige CDs
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RIEDMILLER / CARO
ür den Fiskus hat sich der umstrittene Ankauf von CDs mit Daten von Bankkunden in Liechtenstein und der Schweiz gelohnt. Insgesamt können die Finanzämter mit 1,8 Milliarden Euro an Nachzahlungen von Deutschen rechnen, die ihre Kapitalerträge von Konten in diesen Ländern bislang undeklariert ließen. Das geht aus noch Steueroase Liechtenstein nicht veröffentlichten Berechnungen 5 1 / 2 0 1 0
der Steuerschätzung hervor. 1,6 Milliarden Euro an Nachzahlungen fallen demnach in diesem Jahr an, 200 Millionen im nächsten. Bund, Länder und Gemeinden dürfen nach Einschätzung von Steuerexperten zudem darauf hoffen, dass die neue Ehrlichkeit die Steuereinnahmen auch auf Dauer steigert. Nach den massenhaften Selbstanzeigen können die Steuerzahler in den nächsten Jahren ihre Zinseinkünfte nicht sofort wieder verheimlichen. Die Steuer-CDs kosteten den Staat nur einige Millionen Euro.
Wirtschaft KONZE RNE
Mercedes-Transporter für Russland urz vor Weihnachten will DaimlerChef Dieter Zetsche noch ein wichtiges Projekt auf den Weg bringen. Am 23. Dezember will der Stuttgarter Konzern einen Vertrag mit der Gaz-Gruppe, dem zweitgrößten russischen Automobilproduzenten, unterschreiben. Gaz soll in seinen Werken den Mercedes-Benz-Transporter Sprinter für den russischen Markt produzieren. Durch diese Auftragsfertigung erhält Gaz Zugang zu neuer Technologie, und Daimler verbessert seine Chancen auf einem wachstumsträchtigen Markt. Im laufenden Jahr wird Mercedes-Benz in Russland noch nicht einmal 2000 Transporter verkaufen.
S P O R TA R T I K E L I N D U S T R I E
Christoph Bronder, 49, Chef des Skiherstellers Völkl, über das Winterwunder, Krisen und Chancen SPIEGEL: Deutsch-
land versinkt im Schnee. Läuft das Weihnachtsgeschäft besser als in den vergangenen Jahren? Bronder: Ja, im Markt läuft es gut zehn Prozent besser als im letzten Jahr. Modelle wie der Klassiker Racetiger sind teilweise ausverkauft. SPIEGEL: Dabei fehlen der Branche Innovationen: Der Carving-Ski ist über zehn Jahre alt, und unter Jugendlichen gelten die Bretter als wenig cool.
Zetsche
Bronder: Das stimmt nicht ganz. Gera-
de die Jungen kaufen inzwischen die neuen Free-Ski. Mit denen kann man vorwärts und rückwärts fahren und den Snowboardern in der Halfpipe die lange Nase zeigen. Dieses Segment macht bei uns schon knapp 25 Prozent der Verkäufe aus. SPIEGEL: Trotzdem schrumpft der weltweite Markt – von ehemals acht Millionen Paar Ski auf gerade noch drei Millionen. Merken Sie das nicht? Bronder: Nein, weil die Kunden offenbar noch „Made in Germany“ honorieren. Wir fertigen das Gros unserer Produkte in Bayern und konnten in den vergangenen zehn Jahren unseren Marktanteil verdoppeln. SPIEGEL: Gibt es bei Ihnen nicht auch „Made in China“? Bronder: Kinderski lassen wir dort fertigen, wie alle anderen Hersteller auch. Auch Snowboards werden unter unserer Kontrolle in China gemacht.
BONNY MAKAREWICZ / PICTURE-ALLIANCE / DPA
ALTROFOTO.DE
„Die lange Nase zeigen“
Hohe Einfuhrzölle verteuern die aus Deutschland gelieferten Modelle stark. Dieser Wettbewerbsnachteil soll durch die Auftragsfertigung bei Gaz künftig beseitigt werden.
GETTY IMAGES
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Wirtschaft
Nokia-Flagship-Store in New York 2006 : Den wichtigen amerikanischen Markt nahezu kampflos aufgegeben
MOBILFUNK
Die Regeln der anderen Jahrelang dominierte Nokia den Handy-Markt – bis Apple und Google das Geschäft neu aufrollten. Seither droht dem erfolgreichen europäischen Konzern der Abstieg zum bedeutungslosen Massenhersteller. Ein Kanadier soll die Wende schaffen.
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tephen Elop ist nicht zu sprechen. Der Mann mit dem Spitznamen „der General“ taucht in der Öffentlichkeit kaum auf. Er habe zu tun, sagen seine Mitarbeiter. Das stimmt zweifellos. Er muss Nokia retten. Seit drei Monaten führt der ehemalige Microsoft-Manager den finnischen Handy-Konzern, und in dieser Zeit folgte eine Schreckensmeldung auf die andere. Vergangene Woche zog Elop schließlich die Konsequenzen, er feuerte 560 Software-Entwickler. Wegen erwiesener Unfähigkeit, könnte man annehmen. 74
Im Oktober war das mit vielen Hoffnungen beladene Spitzenmodell N8 auf den Markt gekommen – verspätet, weil die Software nicht sauber lief. Dann stürzten etliche der neuen Geräte ab und waren nicht wieder in Gang zu bringen. Ein PRGAU ohnegleichen: In Technik-Blogs wurde das neue Produkt schon für tot erklärt. Vor wenigen Tagen stoppte Elop den Start des E7 Smartphones, offenbar um eine weitere Blamage zu vermeiden. Und, ach ja: Auch die Revolution ist verschoben worden. Das neue Betriebssystem MeeGo, das Nokia wieder ganz nach vorn bringen und die Konkurrenz schoD E R
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ckieren soll, wird erst 2011 durchstarten, irgendwann. Nichts, so scheint es, will Nokia mehr gelingen – der Firma, die jahrelang unangefochten den Handy-Markt beherrschte. Die vielen als Beweis diente, dass es die Europäer in Sachen Hightech mit den Amerikaner aufnehmen können. Managementbücher wurden darüber geschrieben, wie Jorma Ollila, der langjährige Vorstandschef und heutige Vorsitzende des Aufsichtsrats, einen ehemaligen Gummistiefelproduzenten zum TechKonzern umkrempelte. Damals, Mitte der Neunziger, glückte Nokia nahezu alles.
LEHTIKUVA OY / ACTION PRESS
Nokia-Chef Elop, Vorvorgänger Ollila: „Wir werden uns aggressiv verbessern“
Schrumpfender Vorsprung Smartphone-Betriebssysteme und ihre Verfechter, Weltmarktanteil 3. Quartal 2010 in Prozent Symbian
36,6
Nokia
Android
25,5
Google
iOS
MARK LENNIHAN / AP
Apple
Die Handys waren technisch ausgereift, zuverlässig, unverwüstlich. Und sie trafen den Zeitgeist: Es war schick, ein Nokia zu haben. Rund um den Globus genossen die Mobiltelefone aus Finnland Kultstatus. Zur Jahrtausendwende war die Firma aus dem hohen Norden 300 Milliarden Euro wert, sie erwirtschaftete einige Prozent des finnischen Bruttosozialprodukts. „Wir haben panische Angst davor, zu fett und unbeweglich zu werden“, sagte Ollila damals. Und doch waren es seine Entscheidungen, die Nokia so fett und träge gemacht haben, dass die Firma nun gegen den Abstieg kämpfen muss. Sicher: Auch heute noch verkaufen die Finnen weltweit mehr Geräte als jede andere Firma, nahezu jedes dritte Handy trägt den Nokia-Schriftzug. Doch den Löwenanteil der Verkäufe machen relativ billige Telefone für Schwellenländer aus. Auf dem entscheidenden, dem zukunftsträchtigen Markt, dem für internetfähige Smartphones, schrumpft der Anteil Nokias dagegen rapide. Und zwar zugunsten von Konkurrenten, die vor wenigen Jahren noch nicht einmal im Geschäft waren: Apple und Google. Den Kaliforniern gelang mehr, als nur eine neue Qualität von Smartphones und
BlackBerry OS RIM
Windows Mobile 2,8 Microsoft
16,7 14,8
Quelle: Gartner
Betriebssystemen zu kreieren: Sie stellten das gesamte Geschäft auf den Kopf. In der Vergangenheit beruhte dieses Geschäft vor allem auf Hardware – und auf Regeln, die Nokia bestimmte. Diese Regeln wurden praktisch über Nacht außer Kraft gesetzt. „GameChanger“ nennt man Unternehmen, die das Spiel einer Branche neu definieren. Für Nokia waren es eher Spielverderber. Apple-Chef Steve Jobs präsentierte 2007 mit dem iPhone nicht nur ein schickes und einfach zu bedienendes Mobiltelefon, sondern auch ein eigenes Betriebssystem und eine eigene Apple-Welt. Deren Herzstück ist der App Store mit seinen mittlerweile rund 300 000 kleinen Programmen. Mit ein paar Klicks kann sich jeder Kunde Software herunterladen, die aus dem iPhone etwas anderes machen: einen Navigator, einen Währungsumrechner, eine Spielkonsole. So entstand aus dem Nichts ein Riesengeschäft. Tausende freie Entwickler erweitern ständig das Sortiment des App Stores – und Apple verdient an ihren Produkten kräftig mit. Außerdem versorgen sie die Handy-Welt mit Spaß und Leichtigkeit. Mit dem iPhone eroberte das mobile Internet endgültig den Massenmarkt. D E R
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2010 gegenüber 2007:
– 42%
zum Vergleich 3. Quartal 2007
63,1
Gleichzeitig drängte der Suchmaschinenspezialist Google ins Geschäft. Er setzte der perfekten Apple-Verwertungskette ein eigenes Handy-Betriebssystem entgegen: Android. Zwar floppte das Google-Phone Nexus, aber das für Entwickler offene Android-System setzte sich durch. Mittlerweile ist Android zum Alptraum für Nokia geworden. Handy-Hersteller wie Sony Ericsson oder Samsung, die bislang Nokias Betriebssystem Symbian nutzten, laden nun das elegantere und von Software-Entwicklern geliebte Google-System auf ihre Geräte. Im dritten Quartal 2010 liefen bereits knapp über ein Viertel aller Smartphones auf der Android-Plattform. Im Jahr zuvor waren es erst 3,5 Prozent. Nokias Marktanteil bei Smartphones schmolz im selben Zeitraum um acht Prozentpunkte auf 36,6 Prozent. Es klingt absurd: Die größte Gefahr für den Weltmarktführer für Mobiltelefone ist eine Firma, die selbst (noch) keine Mobiltelefone herstellt. Genau das ist es, was sich so grundlegend verändert hat: Das Smartphone-Geschäft ist größtenteils von einem Hardware- zu einem Software-Wettbewerb geworden. Die Nokia-Manager erkannten früh, dass das passieren würde. Schon in den Neunzigern sagte Ollila, dass das Telefonieren auf dem Handy bald nur noch eine Dreingabe sein würde. Das mobile Internet mit all seinen Diensten und Anwendungen war die Zukunft, da war er sich sicher. Und er wusste: Nokia musste sich zusätzlich zur Software-Firma wandeln. Die ersten Versuche waren durchaus vielversprechend. 1996 landete Nokia mit 75
dem Communicator 9000 eine Sensation. Zum Verkaufsschlager wurde dieses erste Handy mit Fax, Kalender, Internet und E-Mail allerdings nicht. Anfang 1999 präsentierte Nokia das Mediahandy 7110, es ermöglichte erstmals WAP-Abfragen aus dem Internet. Umständlich noch und zeitraubend, aber immerhin. Zu diesem Zeitpunkt entwickelte Nokia etwa zwei Modelle pro Jahr. Das änderte sich im Jahr 2000. Ollila wollte den boomenden Markt umfassend bedienen. Die neue Order aus Helsinki lautete: 40 oder 50 Modelle pro Jahr, für jeden Typ, jeden Geschmack sollte etwas dabei sein. So blieb es bis heute. Keiner achtete auf die fatalen Nebenwirkungen, die eine Umstellung auf Massenproduktion mit sich brachte. Statt die Geräte von geschlossenen Teams entwickeln zu lassen, wurde die Arbeit aufgeteilt. Eine Gruppe kümmerte sich um Kameras, die andere um Browser – und keiner mehr richtig um das Gesamtkunstwerk. „Die Produkte wurden charakterlos; aus Standardteilen zusammengesetzte Telefone, die sich kaum noch voneinander unterschieden. Der Würgegriff dieses Fabrikdenkens löschte jede wilde Idee, jede Vision wirkungsvoll aus“, erklärte ein ehemaliger Manager der finnischen Zeitung „Helsingin Sanomat“.
Mit der Menge an Geräten wuchs auch die Zahl der Verantwortlichen. Das mittlere Management schwoll mächtig an. Hunderte Vice Presidents mussten sich beweisen, konkurrierten miteinander, blockierten auch manche gute Idee eines Kontrahenten. Schlimmer noch: Weil sie als eigene Profitcenter von Quartal zu Quartal an den Zahlen gemessen wurden, vermieden es Projektleiter, Risiken einzugehen. In den Entwicklungsabteilungen wuchs der Frust. Immer öfter verendeten kreative Ideen auf dem bürokratischen Weg durch die Entscheidungsinstanzen. Denn es war keineswegs so, dass Nokia die Ideen ausgegangen wären. Manche kamen zu früh, oft fehlte es auch am Glauben an die eigene Idee. Den Touchscreen etwa, mit dem Apple 2007 die Mobilfunk-Welt eroberte, hatte Nokia früher. 2004 kam das Modell 7710 mit einem großen, berührungsempfindlichen Farbbildschirm auf den Markt. Es verkaufte sich nicht gut und wurde aufgegeben. Auch kleine Dienstprogramme zum Runterladen, die heute als Apps den Markt bestimmen, boten die Finnen bereits vor acht Jahren an. Als sie nicht sofort einschlugen, verkümmerte die Entwicklung. Erst 2007 reanimierte Nokia sein AppGeschäft und eröffnete zwei Jahre später
ED KASHI / AGENTUR FOCUS
Wirtschaft
Handy-Produktion in Indien: „Wenn man 15 Jahre
den Online-Store Ovi. An die 20 000 Programme sind dort für Nutzer des NokiaSystems herunterzuladen. Für das iPhone und Android stehen dagegen Hunderttausende zur Verfügung. Heute spotten Marktbeobachter gern über Nokias vertane Chancen. Doch tatsächlich waren sie nicht unschuldig daran. Besonders bei den amerikanischen Analysten, deren Urteil sich oft unmittelbar auf den Börsenkurs auswirkte, fielen Nokias Neuerungen regelmäßig durch. Der Touchscreen? Bloß etwas für Businesskunden, kein Massenmarkt. Applikationen? Spielerei, braucht kein Mensch.
Erfolg hat, glaubt man, die Regeln zu bestimmen“
Vor dem Start des iPhone war der amerikanische Mobilfunkmarkt vergleichsweise veraltet. Die Visionen aus Europas Norden trafen im Handy-Entwicklungsland USA auf Unverständnis. Ollila hätte das sehen müssen. Er hätte den US-Markt von Nokia-Smartphones überzeugen und eine Infrastruktur dafür aufbauen müssen, so wie es Apple später gemacht hat. Stattdessen begnügte sich Nokia damit, Amerika mit zweitklassigen Geräten zu beliefern. Die Folge: Nokia gilt in den USA als Billigmarke und findet praktisch kaum noch statt. Im Mai dieses Jahres schloss Nokia seinen FlagshipStore in New York. Der wichtige Markt wurde nahezu kampflos aufgegeben. Vielleicht wäre dieser Fehler zu korrigieren gewesen, wenn Ollila das Unternehmen in die richtigen Hände gegeben hätte – an einen Mann mit Visionen und Überzeugungskraft. Doch stattdessen baute Ollila 2006 seinen langjährigen Weggefährten Olli-Pekka Kallasvuo zum Nachfolger auf. Der Jurist führte das Geschäft im Grunde so weiter wie gehabt. Nokia blieb weiter ein Hardware-Konzern. Ein HandyBauer. „Unser Problem war: Wir waren einfach zu gut in dem, was wir machten“, erklärt Sebastian Nyström, bei Nokia für Apps und Services zuständig. „Selbst als Apple uns ins Mark traf, machten wir erst einmal weiter. Schließlich verdienten wir immer noch viel Geld.“ Der ehemalige McKinsey-Berater kennt die Mechanismen in Unternehmen. „Wenn man 15 Jahre lang Erfolg hat, glaubt man, die Regeln zu bestimmen. Man kann sich einfach nicht vorstellen, dass jemand daherkommt und einfach die Regeln ändert.“ Bis heute haben es die Finnen nicht geschafft, Apple und Google ein konkurrenzfähiges Modell entgegenzusetzen. Das ist mehr als eine Frage der Ehre: Ohne Erfolg im Smartphone-Segment wird Nokia seine Marktführerschaft verlieren. Es ist der Bereich mit den höchsten Renditen und dem schnellsten Wachstum.
Jedes fünfte Handy ist bereits ein Smartphone, Tendenz stark steigend. Da mögen die Finnen noch so stolz sein auf den massenhaften Absatz ihrer preiswerten Handys in den Schwellenländern: Das Geld wird langfristig mit den Hosentaschencomputern verdient. Nokia schwächelt, der Aktienkurs sinkt. Heute ist die Firma knapp 30 Milliarden Euro wert, neun Zehntel weniger als im Jahr 2000. „Unsere Smartphones sind solide. Doch uns fehlt der Zauberstaub“, räumt die verantwortliche Managerin Jo Harlow ein. Um den zu produzieren, müsste sich Nokia ganz neu erfinden – und auf ein modernes Betriebssystem umstellen. Doch davon schreckt auch Stephen Elop, der neue Nokia-Chef, zurück.
Unter Druck
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Aktienkurs, in Euro
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Quelle: Thomson Reuters Datastream
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Gewinn in Millionen Euro 3889 260
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Umsatz in Milliarden Euro 51,1
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Spät hat sich der Nokia-Aufsichtsrat vom glücklosen Kallasvuo getrennt und einen Software-Experten angeheuert. Erstmals in der 145-jährigen Firmengeschichte leitet ein Nichtfinne das finnische Vorzeigeunternehmen. Doch alles umschmeißen kann auch der Kanadier nicht. Schließlich sind das Unternehmen, die Produktionsprozesse und die Wertschöpfungskette stark auf die Symbian-Plattform ausgerichtet. Mögen die Entwickler das System wegen seiner Umständlichkeit auch noch so sehr hassen: Ein eigenes Betriebssystem sichert Nokia zumindest die Unabhängigkeit. Würden die Finnen nur noch Geräte produzieren und die Software fremdeinkaufen, könnten sie enden wie die PCHersteller. Ohne eigene Programme lieferten die sich einen selbstmörderischen Preiskampf. Den aber kann Nokia gegenüber der günstigen Konkurrenz aus Asien nur verlieren. Nokia versucht deshalb, Symbian am Leben zu erhalten. Im Herbst versprach Elop eine kontinuierliche Überarbeitung des in die Jahre gekommenen Systems. Für Symbian 3, die neueste Version, gibt es bereits 250 Verbesserungen. Die Technikgemeinde kann er damit nicht mehr locken. Die einflussreichen Gerätetester von Gizmodo.com weigerten sich anfangs gar, das neue N8 auch nur auszuprobieren. „Das Telefon war irrelevant, bevor es überhaupt auf den Markt kam. Wie eine hochgezüchtetes Pferdekutsche zu Zeiten von Neil Armstrongs Landung auf dem Mond.“ Fatal an dieser Einschätzung ist, dass Nokia sie indirekt nährt. Denn trotz aller Bekenntnisse zu Symbian ruhen Nokias Hoffnungen, den Konkurrenten Einhalt zu gebieten, auf einem Betriebssystem namens MeeGo, das gemeinsam mit dem Chip-Hersteller Intel entwickelt wird. Eine ganz neue Qualität sei das, schwärmt Marko Ahtisaari, Nokias Designdirektor, etwas noch nie Dagewesenes, eine neue Ära werde anbrechen. Mit MeeGo werde man sich die Vorherrschaft im Smartphone-Bereich wieder zurückholen, sagt auch Nokia-Managerin Harlow. Warum der leitende MeeGo-Entwickler vor einigen Monaten gegangen ist, sagt sie nicht. Doch Nokia abzuschreiben, dafür sei es definitiv zu früh. „Wir werden uns aggressiv verbessern“, sagt Stephen Elop. „Wir sind grimmige Kämpfer“, sagt Harlow. „Wir spielen, um zu siegen“, sagt Manager Nyström. Sie klingen ein wenig wie Krieger, die sich Mut machen vor der entscheidenden Schlacht. Und um nichts Geringeres wird es im kommenden Jahr für Nokia gehen. MICHAELA SCHIESSL
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Wirtschaft
SPI EGEL-GESPRÄCH
„Die Spinne heißt Prevent“ Hilmar Kopper, 75, Aufsichtsratschef der HSH Nordbank, über die Suche nach den Hintermännern der Spitzel-Intrigen, den Wechsel an der Vorstandsspitze und seine Sehnsucht nach einem neuen Investor SPIEGEL: Herr Kopper, warum haben Ban-
ker mittlerweile ein derart mieses Image? der vergangenen Jahre ist das doch nicht überraschend. Banker sind auch nur Menschen. Viele haben sich vor und in der Krise nicht sonderlich intelligent verhalten. SPIEGEL: Haben Sie selbst Mitschuld an dem ramponierten Bild? Kopper: Von Schuld würde ich nicht sprechen, auch wenn die Medien das gern hören. Ein Banker, der keine Fehler macht, ist keiner. Unsereins geht dauernd Wetten ein. Dumme Menschen nennen das Spekulation. Wir räumen Kredite ein und hoffen darauf, dass die in einigen Jahren zurückgezahlt werden. SPIEGEL: Sie waren in Ihrem Leben insgesamt in 63 Aufsichtsräten tätig. Ist Ihr Job als Oberaufseher der maroden HSH Nordbank der anstrengendste? Kopper: Nein, der ist nur besonders unangenehm. Hier muss ich mich pausenlos mit Dingen beschäftigen, mit denen ich eigentlich nichts zu tun habe. Manchmal ist dieser Job auch interessant und gewinnbringend, aber die Beseitigung des Mülls vergangener Affären ist anstrengend, ja. SPIEGEL: Warum tun Sie sich mit 75 so was überhaupt noch mal an? Kopper: Es war wohl ein Gefühl der Verpflichtung. Nach dieser Krise wollte ich einen Beitrag leisten, die am stärksten betroffenen Institute wieder auf vernünftige Fundamente zu stellen. Die Landesbanken hat es am schwersten erwischt. Ein patriotischer Dienst sozusagen. SPIEGEL: Wie oft haben Sie den HSH-Job bereits bereut? Kopper: Noch gar nicht. Nur meine Frau findet, dass wenigstens die Sonntagsruhe eingehalten werden könnte. SPIEGEL: Wir rekapitulieren mal die in den vergangenen Monaten ans Licht gekommenen HSH-Affären: Der New Yorker Filialleiter wurde mit fingierten Kinderporno-Vorwürfen aus dem Job gedrängt. Der Ex-Vorstand Frank Roth wurde Opfer einer Intrige … Kopper: … was nicht auszuschließen ist. SPIEGEL: Erst hieß es, er soll Interna verraten haben, was sich später als Lüge herausstellte. Aber da hatte man ihn schon Das Gespräch führten die Redakteure Jörg Schmitt und Thomas Tuma.
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MANFRED WITT / DER SPIEGEL
Kopper: Nach all den Skandalen und Pleiten
Banker Kopper: „Ich fühle mich wie die Trümmerfrau, die nun saubermacht“
rausgeschmissen. Die Staatsanwaltschaft ermittelt zudem wegen des Verdachts der Untreue gegen HSH-Manager. Entweder hat der bisherige Vorstandschef Dirk Jens Nonnenmacher von alldem Schmutz gewusst, dann hätte er früher gehen müssen. War er dagegen ahnungslos, wie er beteuert, hatte er seine Bank nicht im Griff. Kopper: Wie tief soll und kann ein Vorstandsvorsitzender in das Tagesgeschäft eindringen? Aber klar, wenn was schiefgeht, ist immer er es. Die staatsanwaltschaftlichen Untersuchungen laufen seit zwei Jahren und haben bisher zu nichts geführt. Das ist doch ein Trauerspiel für die hiesige Rechtspflege! Auch die FiD E R
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nanzaufsicht BaFin hat bislang keinerlei Anlass gesehen, auch nur mit der Wimper zu zucken. SPIEGEL: Die BaFin hat im Juli immerhin eine Sonderprüfung gestartet … Kopper: … und auch da wurde keinerlei Pflichtverstoß von Herrn Nonnenmacher festgestellt. SPIEGEL: Es ist überraschend, wie fest Sie weiter zu ihm halten. Kopper: Ich kann und muss zwischen Recht und Unrecht unterscheiden – vor allem aktienrechtlich. Weder an Verdächtigungen noch an Vorverurteilungen oder gar Verleumdungen darf ich mich beteiligen. Für mich zählen allein Fakten.
ROLAND MAGUNIA / DDP
MANFRED WITT / DER SPIEGEL
SPIEGEL: Arbeitsrechtler sagen, Sie hätten oder gar erfinden. Da war der SPIEGEL einen oder anderen Prevent-Auftrag. Bis gegen Nonnenmacher eine „Verdachts- weder fair noch sachkundig, sondern ein- heute ist die HSH wie ein Schweizer fach beleidigt, dass ihm der Zusatzbericht Käse. Jedes Papier, das hier produziert kündigung“ aussprechen können. Kopper: Verdacht auf was? Das ist völliger nicht auch zugespielt wurde. Diese Bank wird, ist innerhalb von 24 Stunden in den Nonsens. Ich vertraue nach wie vor dem ist doch dauernd gelackmeiert worden … Medien. Eine unerträgliche Situation für Bankprofi und dem Menschen Nonnen- SPIEGEL: … und wir wüssten wenigstens jedes Management. Der Auftrag an Prevent war in erster Linie, die undichten macher – professionell wie charakterlich. gern: von wem? SPIEGEL: Die HSH Nordbank gehört zu Kopper: Die HSH hat die Firma Prevent Stellen zu finden. 85,5 Prozent den Ländern Hamburg und mit etlichen internen Nachforschungen SPIEGEL: Unter Nonnenmacher herrschte Schleswig-Holstein. Empfinden Sie Non- und Security-Aufgaben betraut. Ich kann- in der Bank Paranoia. HSH-Manager nenmachers erzwungene Abberufung te die Firma seit langem und hielt sie für trauten sich untereinander nicht mehr weiter als „Rachefeldzug der Politik“? seriös. Im Nachhinein war es wohl ein über den Weg. So wurde auch der Vorstand Frank Roth offenbar ausKopper: Ich bin dem Aktienrecht verpflichtet, nicht der Politik. gespäht und am Ende zu UnÜber deren Tonalität bin ich bisrecht entlassen. weilen schon entsetzt. Da raste Kopper: Prevent scheint mir so unich manchmal auch aus – als ter Druck gewesen zu sein, dass Staatsbürger, nicht als Banker. die Firma meinte, Erfolgsmeldungen produzieren zu müssen. SPIEGEL: Politiker der beiden SPIEGEL: Und Nonnenmacher Bundesländer hatten es einfach hat dabei geholfen, indem er satt, nie korrekt informiert worpräparierte Papiere selbst mit den zu sein. eingetütet hat. Kopper: Davon kann schon lange keine Rede mehr sein. Es mag Kopper: Es ist nicht nur sein sein, dass in früheren Zeiten Recht, sondern auch seine nicht immer korrekt und umfasPflicht als Vorstandsvorsitzensend informiert worden ist. In der, nach Lecks zu suchen. Aber meiner und Nonnenmachers gewenn meine Vorgänger im Aufmeinsamer Zeit hat jedenfalls sichtsrat schon all das gewusst niemand Grund zur Klage. hätten, was ich heute weiß, dann hätten sie im Fall Roth SPIEGEL: Nonnenmacher hat der wohl anders handeln müssen. Politik Verträge mit der Sicher- Prevent-Sitz in Hamburg: „Die lieben Geheimdienst-Schnurren“ heitsfirma Prevent vorenthalSPIEGEL: Seit kurzem berät der ten. Und Sie selbst sagten vor Rechtsanwalt Klaus Landry die dem Kieler Kabinett, es gebe HSH. Er erklärte jüngst, Roth kein Ermittlungsverfahren in sei „grob, falsch und schlecht New York. Es gibt aber eins. behandelt“ worden. Stimmen Kopper: Die US-Untersuchung Sie zu? ist nicht das, was man in Kopper: Ja, aus heutiger Sicht. Die Deutschland unter einem Erfristlose Kündigung, die Strafmittlungsverfahren versteht. anzeige gegen ihn, das ist schon eine schlimme Geschichte. SPIEGEL: Das ist Wortklauberei! Kopper: Ich muss schon korrekt SPIEGEL: Haben Sie sich bei Roth bleiben in meinen Aussagen. mittlerweile entschuldigt? Aber ich sage Ihnen voraus: Kopper: Bei ihm sollten sich meiDieses US-Verfahren gegen ner Ansicht nach jene entschulHerrn Nonnenmacher wird nie digen, die diese Vorwürfe gegen eröffnet werden. ihn in die Welt gesetzt haben. SPIEGEL: In derselben Sitzung Aber der Vorfall tut mir leid, behaupteten Sie, es gebe den und ich drücke Herrn Roth Bericht einer US-Kanzlei, der mein Bedauern darüber aus. Es beweise, dass Nonnenmacher Landeschefs Carstensen, Beust*: „Bisweilen entsetzt“ bleiben allerdings noch viele ofmit der Kinderporno-Intrige fene Fragen. nichts zu tun habe. Warum haben Sie das Fehler, Prevent zu engagieren. Bei allem, SPIEGEL: Wenn wir Sie richtig verstehen, Papier nicht mal vorgelegt? was wir jetzt aufdecken: Dauernd stoßen könnte Prevent aus Wichtigtuerei BeweiKopper: Ich bin nicht danach gefragt wor- wir auf Prevent. Da kann ja was nicht se fingiert haben … stimmen. den. Kopper: … um eigene UntersuchungserSPIEGEL: Ministerpräsident Peter Harry SPIEGEL: Die Zahl der Prevent-Aufträge folge nachweisen zu können, ja. So stellt Carstensen hat nachgefragt. wuchs erst in der Ära Nonnenmacher. sich mir das heute dar. Kopper: Alle zuständigen Stellen haben 2009 hat die Bank mehr als sieben SPIEGEL: Prevent hat immer betont, man diesen Bericht, von der Staatsanwalt- Millionen Euro gezahlt, bei vielen der habe sich an Recht und Gesetz gehalten. schaft bis zur BaFin. Ich bin nur nicht be- Honorare weiß man noch immer nicht, Wenn das stimmt, muss jemand aus der reit, ihn auch noch dem SPIEGEL in die wofür. Bank Verantwortung für die illegalen AkHand zu drücken. Kopper: Das war eben auch die Zeit, in tionen tragen. Kommt dafür der mittlerSPIEGEL: Das Gutachten der US-Kanzlei der die Bank pausenlos unter öffentlichen weile freigestellte HSH-Chefjustitiar enthält Dossiers zu allen Beteiligten – au- Beschuss geriet. Das löste intern extreme Wolfgang Gößmann in Frage? Nervosität aus – und sicher auch den Kopper: Das weiß ich nicht. Und ich habe ßer Nonnenmacher. Schon komisch … mit ihm nie direkt zusammengearbeitet. Kopper: … aber kein Grund, mir zu unterstellen, ich würde etwas unterdrücken * Bei einer Pressekonferenz zur HSH am 24. Februar 2009. Aber es ist möglich, dass er in irgendD E R
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Wirtschaft
MARKUS HANKE
RONALD SAWATZKI
welche Mühlen geraten ist, die ihm nicht Kopper: Gerade diese Expertise kann der Kopper: Ohne ins Detail gehen zu wollen: angenehm sein konnten. Ich will auch HSH nur guttun. Er ist nämlich keiner In den alten Verträgen gab es Formulienicht ausschließen, dass manche Leute dieser Risiko-Dealer, sondern ein sorg- rungen, die sogar mich sprachlos gemacht in der Bank von dem vermeintlichen Un- fältiger Großkundenbetreuer. haben. Aber alles ist nun in beiderseititersuchungserfolg selbst fasziniert wa- SPIEGEL: Wie lange läuft sein Vertrag? gem Einvernehmen gelöst. ren. Kopper: Drei Jahre. Aufgrund der momen- SPIEGEL: Wie kann die Bank überhaupt SPIEGEL: Auch Gößmann sagt, er habe tanen Umstände schließe ich zurzeit kei- wieder Vertrauen schaffen bei Beschäfnichts Unrechtes getan. Dennoch klingt ne Verträge mit längeren Laufzeiten. tigten, Kunden und Aktionären? vieles nach James-Bond-Spielen in einer SPIEGEL: Was nimmt Nonnenmacher noch Kopper: Durch gute Arbeit. Denn erst die trutschigen Landesbank. an Sonderzahlungen mit? sorgt für jenes Selbstvertrauen, das der Kopper: Diese Sicherheitsleute lieben Ge- Kopper: Nichts. Und über eventuell noch Bank vor allem fehlt. Alle hier sind doch heimdienst-Schnurren und halten sich ge- zu zahlende Boni kann erst entschieden fürchterlich verunsichert. Was meinen legentlich selbst für Agenten. werden, wenn der Jahresabschluss 2010 Sie, was HSH-Leute sich alles schon anhören mussten von ihren FamiSPIEGEL: Und Nonnenmacher lien und Freunden. Zorn und spielte mit, ließ sein Büro vor Hohn! Jetzt muss wieder Ruhe Wanzen schützen und sich einkehren. schusssichere Folie auf die Fenster kleben. Wer war nun die SPIEGEL: Die Bank hat sich mit Spinne im HSH-Affärennetz? vielen Milliarden Euro an staatsverbürgten Anleihen vollKopper: Die Spinne heißt Pregesogen. Wie soll sie die zuvent, glaube ich. Die Firma rückzahlen? wollte sich wohl auch unersetzlich machen. Kopper: Deshalb braucht die Bank ja auch dringend neue EiSPIEGEL: Es gab aber eine auffälgentümer mit frischem Kapital lige Nähe zwischen Prevent, und frischem Renommee. Gößmann und Nonnenmacher, der nie stutzig wurde. SPIEGEL: Es gibt Gerüchte, bei der HSH könnte auch mal ChiKopper: Für Zweifel hatte er na einsteigen. doch lange gar keinen Anlass. Heute ist auch er schlauer. Kopper: Chinesische Banken suchen zurzeit Anlagen. Die wolSPIEGEL: Die Sicherheitsmechalen eben nicht mehr alles in nismen und das Controlling der Dollar anlegen. Kontakte sollBank haben völlig versagt. HSH-Chef Nonnenmacher: „Heute ist auch er schlauer“ ten wir ausbauen. Kopper: In diesem Haus wäre vieles nicht passiert, wenn ArSPIEGEL: Könnten Sie sich eine beitsabläufe besser funktioniert chinesische Staatsbank als hätten. Vieles wurde einfach HSH-Großaktionär vorstellen? nicht korrekt dokumentiert. Da Kopper: Warum nicht? In der Not hat es hier an vielem gefehlt. frisst der Teufel Fliegen. Aber Deshalb arbeiten wir jetzt wie im Ernst: Die Crux der HSH im die Verrückten nach. Meine Markt sind die Eigner. Ich bin Aufgabe ist auch, dass sich dernicht der Diener zweier Landeslei nicht wiederholt. regierungen, ich arbeite im Interesse der Bürger dieser beiden SPIEGEL: Wann wird NonnenmaLänder. Wir brauchen Gesellcher nun endgültig gehen? schafter, die den Rating-AgenKopper: Am 31. März. Die vier turen Vertrauen vermitteln. Mit Wochen davor wird er seinen Private-Equity-Firmen können Nachfolger noch einarbeiten … Sie mir gestohlen bleiben! Ich SPIEGEL: … den früheren Citisuche jemanden mit Renommee group-Manager Paul Lerbinger. und langem Atem. Die Abgabe Wie schwer war es, einen neuen der Aktienmehrheit durch HamVorstandschef zu finden? burg und Schleswig-Holstein Kopper: Der Zeitdruck und die Skyline von Shanghai: „In der Not frisst der Teufel Fliegen“ würde ich gern beschleunigen. enorme Geräuschkulisse rund um die Bank machten es jedenfalls nicht fertig ist. Er bekommt lediglich seinen SPIEGEL: Die norddeutsche Politik steht einfacher. bis Ende 2012 laufenden Vertrag ausbe- mit der HSH auch vor den Trümmern des eigenen früheren Größenwahns. SPIEGEL: Muss es Ihnen nicht sogar ver- zahlt. dächtig sein, wenn Sie jemanden finden, SPIEGEL: Er kassiert noch Boni, obwohl Kopper: Und ich fühle mich wie die Trümder diesen Wahnsinnsjob bei der HSH die Vorstandsgehälter auf 500 000 Euro merfrau, die nun saubermacht. Ein übernehmen will? gedeckelt sind? Freund sagte: Du bei einer Landesbank Kopper: Stimmt, da muss man schon ganz Kopper: So steht es in seinem Vertrag. Der – das ist wie der Papst auf dem Evangegenau hingucken, ob neben der Kompe- Deckel bezieht sich nicht auf die Boni. lischen Kirchentag. Im Ernst: Ich bin hier tenz auch das mentale Gerüst stimmt. SPIEGEL: Müsste er was zurückzahlen, nicht angetreten, um auf halber Strecke Nach wie vor ist das hier ja vor allem ein wenn man ihm eine Schuld nachweist? abzuspringen. Reparaturjob. Herr Lerbinger hat eine Kopper: Sicher. Das steht alles im Abgel- SPIEGEL: Ein Kopper gibt nicht auf? Menge Erfahrung … tungsvertrag. Ich bin doch kein Anfänger. Kopper: Ich werde jedenfalls länger bleiSPIEGEL: … und ist ausgerechnet gelernter Aber zugegeben, einfach war das alles ben, als ich ursprünglich wollte. Investmentbanker. Das sind die, die gern nicht. SPIEGEL: Herr Kopper, wir danken Ihnen mal Risiken eingehen. für dieses Gespräch. SPIEGEL: Wieso? 80
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den die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG jüngst für die Bank erstellt hat. Darin monieren die Prüfer, dass der Bericht billig zusammengeschustert sei. Bei 139 Seiten handle es sich um Kopien aus dem Internet. Und in manchen KapiNoch mehr dubiose HSHteln hätten Überschrift und Inhalt nichts Zahlungen an Detektive und miteinander zu tun: „So findet sich in KaBerater. Der Korruptionspitel eins des Gutachtens ‚Ermittlung des verdacht erhärtet sich. tatsächlichen Marktanteils der Auftraggeber am türkischen Markt‘ keinerlei Hins sind Weisheiten, mit denen man weis auf die Stellung der HSH im türkichinesische Glückskekse füllen schen Markt.“ könnte, und dennoch waren sie Merkwürdig auch: „Abgesehen von eine siebenstellige Summe wert: „In der der Übermittlung des Beratungsvertrages, Schifffahrt und deren Finanzierung be- des Rechnungsentwurfs und der Gutachkommt der Satz ,Auf zu neuen Ufern‘ ten liegen uns keine Nachweise über Koneine neue Dimension“, lautet die eine. takt bzw. Rücksprachen zwischen der „Immer wenn Gier sich vor Vernunft HSH und der Kanzlei Hoffmann vor.“ reiht, werden viele klassische FinanzieUnd wirklich gelesen habe das famose rungsregeln missachtet“ die andere. Gutachten bei der HSH auch keiner, so Zu finden sind diese Platituden in ei- die KPMG-Prüfer. nem Gutachten, das die Hoffmann & Wolfgang Hoffmann weist die Kritik Kammerstetter Wirtschaftsprüfung und zurück. Seine Kanzlei habe „offensichtSteuerberatung GmbH 2009 lich zur Zufriedenheit“ der im Auftrag der HSH NordHSH gearbeitet. „Die von Ihbank erstellt hat. „Ökononen wiedergegebenen Kritikmie- und Situationsanalyse punkte begründen keine Finanzierungsumfeld türkiernsthaften Zweifel an der scher Reedereien“, lautet der Richtigkeit und Qualität unTitel. 1,59 Millionen Euro serer Stellungnahme.“ (netto) hat das zu 85,5 ProNeben dem Gutachten zent den Ländern Hamburg stießen die Experten auf weiund Schleswig-Holstein gehötere, bislang unbekannte Dorende Institut dafür bezahlt. kumente und auf dubiose Angeblich sollte der rund Zahlungen, die womöglich 400 Seiten starke Report der als Bestechungsgeld gedient Bank in einem Rechtsstreit haben könnten. mit einem türkischen Reeder Nach Aktenlage hatte das helfen. Der hatte in seiner Sicherheitsunternehmen PreHeimat einen Titel über 80 vent für ihre „Projekt Shisha“ Millionen Dollar gegen die (Wasserpfeife) genannten HSH erstritten, nachdem die Türkeiaktivitäten mit der Bank fünf Schiffe versteigert Jurist Gößmann HSH Nordbank einen Festhatte, für die er die Kredite „Sachlich richtig“ preis von rund 250 000 Euro nicht mehr bedienen konnte. vereinbart. Doch „die PreDoch geholfen haben die teuren Tipps vent“, so KPMG, „rechnete für ihre Täaus der Salzburger Wirtschaftskanzlei tigkeit über den im Vertrag vereinbarten ebenso wenig wie die Aktivitäten des Festpreis hinaus weitere Leistungen i.H.v. umstrittenen Sicherheitsunternehmens 932 000 Euro (brutto) ohne vertragliche Prevent AG, dem die HSH Nordbank im Grundlage ab. Schriftliche Nachweise der April 2009 eine Erfolgsprämie von rund abgerechneten Leistungen liegen uns 3,5 Millionen Euro gezahlt hatte. Der nicht vor.“ Reeder hat noch immer einen Titel gegen Dennoch habe der inzwischen freigedie Bank. Dafür besteht seit Anfang stellte HSH-Chefjurist Wolfgang GößDezember der Verdacht, dass mit dem mann auch zweifelhafte Rechnungen für Geld Amtsträger in der Türkei ge- das Projekt Shisha mit dem Vermerk schmiert worden sein könnten, um das „sachlich und rechnerisch richtig“ abgeProblem aus der Welt zu schaffen (SPIE- nickt, heißt es in dem Bericht. Gößmanns GEL 49/2010). Anwalt teilte mit, seinem Mandanten lieEin Verdacht, der nun durch die „Öko- ge der KPMG-Bericht nicht vor. Deshalb nomie- und Situationsanalyse“ von Hoff- könne er „derzeit nicht klären“, ob die mann & Kammerstetter erhärtet wird. in der SPIEGEL-Anfrage „aufgelisteten Denn die Expertise war womöglich nur Zahlungen zutreffend wiedergegeben ein Vehikel, um eine große Summe für sind“. Unabhängig davon „wurden alle dunkle Zwecke unverdächtig verbuchen Leistungen“, auch „etwaige weitere Zahzu können. lungen, gegebenenfalls durch den Bereich Das zumindest legt ein als „streng Shipping unter Mitwirkung des Shippingvertraulich“ klassifizierter Bericht nahe, Vorstandes veranlasst“. GUNTHER LATSCH LANDESBANKEN
Zu neuen Ufern
THOMAS EISENKRÄTZER / DPA
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die sorgfältig abgeschottete Gruppe ein Leck. In den Journalisten-Dossiers befindet sich ein Foto vom 11. November 2005, das Sören Jensen zeigt, einen Reporter des „manager magazins“. Jensen hatte zuvor gemeinsam mit dem WDR-Journalisten Jens Gleisberg Akten zu Esch und Sal. Oppenheim gesichtet. Eine weitere Aufnahme zeigt Jensen, wie er seine Wohnung in Hamburg verlässt. Auf einem dritten Bild ist sein Privatwagen zu sehen, die Observationsfotos von Jensen, Privatwagen, Gleisberg Bremslichter des grauen Saab leuchten auf. „Sie wollten an meine Informanten kommen“, glaubt A F FÄ R E N Jensen. Consulting-Plus-Geschäftsführer Uwe Gerstenberg räumt ein, dass das Material seiner Firma „teilweise bekannt“ sei. In Einzelfällen stelle Consulting Plus „Unterlagen für Mandanten“ zusamMehrere Journalisten, die über men. Das könnten „Fotos von Sal. Oppenheim und den ImmobiPersonen oder auch Fahrzeulienmann Josef Esch berichteten, gen sein“, die auffällig im Umfeld einer „schutzbefohlenen wurden observiert. Im Verdacht: Person“ auftauchten. Eschs eigene Sicherheitsfirma. Die Steckbriefe der Journalisten seien nicht von Conenn die Personenschützer der sulting Plus „erstellt oder in Sicherheitsfirma Consulting Auftrag“ gegeben worden, Plus in den Kölner Villenviersondern der Firma „seitens teln Marienburg und Hahnwald Streife Dritter zugestellt“ worden. fuhren, legten sie Wert auf Diskretion. „Maßnahmen unsererseits erKeine Uniformen und schon gar keine folgten in diesem ZusammenWerbung an ihrem silbernen Ford Focus. hang jedoch nicht.“ Niemand sollte merken, wie das „KomDoch wer sind diese „Dritmando Partnerschutz“ unauffällig die Vil- Partner Ullmann, Esch: Sorgfältig abgeschottet ten“, und weshalb wollten sie len der Chefs der feinen Privatbank Sal. Oppenheim bewachte, darunter die An- bereit, Esch erfand Fondsmodelle, die den Journalisten beschatten? Gerstenberg will wesen von Georg Baron von Ullmann Reichen dabei halfen, Steuern zu sparen. darauf nicht antworten. In der Branche Voraussetzung für die Geschäfte war Dis- ist es üblich, heikle Aufträge an Subunund Matthias Graf von Krockow. ternehmer auszulagern. Insider vermuten, Im Handschuhfach des Wagens lag ein kretion. 1997 wurde das Sicherheitsunterneh- das sei auch hier passiert. Ordner mit Dossiers über vier JournalisDie Oppenheim-Esch-Gruppe lässt mitten des „manager magazins“ und des men Consulting Plus gegründet, das WDR. Farbfotos, private Anschriften, Te- mehrheitlich der Oppenheim-Esch-Hol- teilen, „ein über eine Fotorecherche zu lefonnummern, eine Aufnahme von der ding gehört. Die Personenschützer bewa- Erkennungszwecken hinausgehender Ehefrau eines Reporters, sogar Daten der chen die Esch-Villa in Troisdorf. An jeder Wunsch“ habe nicht bestanden. Ein Sprecher von Sal. Oppenheim erEcke des Hauses hängen BewegungsmelKinder. Observationsmaterial. Doch wer hat es in Auftrag gegeben? der, Scheinwerfer, Kameras. Davor steht klärt, man habe keine Hinweise, dass die ein Wagen von Consulting Plus, der mit Bank in den Vorgang involviert war. Nach Und warum? der Übernahme durch die Deutsche Bank Alle vier Journalisten recherchierten dem Haus verkabelt ist. Es reicht schon, sich den Bau von der sei man auch nicht mehr an der Oppenim Umfeld des Troisdorfer Immobilienentwicklers Josef Esch und der Privat- Straße aus nur kurz anzugucken, schon heim-Esch-Holding beteiligt. Die Chefs von Consulting Plus müssen bank Sal. Oppenheim aus Köln. Seit 1993 steigt ein Wachmann aus dem Auto und verband Esch und Oppenheim eine der fragt: „Kann ich Ihnen helfen?“ Wer das jetzt zumindest um ihren Ruf fürchten. geheimnisvollsten Geschäftsbeziehungen nicht möchte, dem schleicht der Wach- Geschäftsführer Stefan Bisanz wurde erst mann nach, bis man das Haus von Esch im Februar zum öffentlich bestellten Sachder Republik. verständigen für Personenschutz durch Die Oppenheim-Esch-Gruppe entwi- nicht mehr sehen kann. Für den öffentlichkeitsscheuen Immo- die Bonner Industrie- und Handelskamckelte milliardenschwere Immobilienfonds. Die Partner beteiligten sich an bilienentwickler und die Führung der mer ernannt. Sein Kollege Gerstenberg ist VizepräGroßprojekten wie dem Bau der heutigen Bank muss es ärgerlich gewesen sein, Lanxess-Arena in Köln, ehe das Bank- als 2005 gleich mehrere Enthüllungs- sident des Kuratoriums der Stiftung Deuthaus 2009 in eine Krise geriet und an die geschichten über sie veröffentlicht wur- sches Forum für Kriminalprävention. Präden. Es ging um den Einfluss Eschs auf sident des Kuratoriums ist Innenminister Deutsche Bank verkauft wurde. Doch bis dahin hatten Esch und das Sal. Oppenheim und um die zweifelhafte Thomas de Maizière (CDU). In seiner SatGeldhaus ein scheinbar perfektes Ge- Finanzierung des Neubaus der Kölner zung schreibt das Forum, man verfolge schäftsmodell gefunden. Sal. Oppenheim Messehallen. Immer wieder wurden in- das Ziel, „das Sicherheitsgefühl der Bestellte vermögende Kunden und Kredite terne Unterlagen zitiert. Offenbar hatte völkerung zu stärken“. SVEN BECKER STEFAN WORRING / KÖLNER STADTANZEIGER
Kommando Partnerschutz
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andere Projekte in Gefahr. „Hier geht es nicht um irgendeinen Abschnitt der A 8. Die Kritiker wollen ÖPP im Ganzen torpedieren“, sagt Ramsauer. Dabei wirkt die Idee der Partnerschaft mit Privaten angesichts leerer Kassen auf den ersten Blick bestechend. Statt selbst Milliarden in den Straßenbau zu investieren, steuert der Bund nur eine AnschubDer Bundesrechnungshof kritisiert finanzierung bei. Private Bauherren verden privat finanzierten pflichten sich nicht nur zum Ausbau der Ausbau der Autobahn A 8. Strecke, sondern auch dazu, sie über 30 Jahre zu erhalten und zu betreiben, also Die Politik will beispielsweise Leitplanken zu reparieren sich darüber hinwegsetzen. und Schlaglöcher zu schließen. Der entscheidende Vorteil für den ahrzehntelang galt die Autobahn A 8 Bund: Die Privaten treten bei den Bauzwischen München und Augsburg als kosten in Vorleistung, der Staat stottert längster Parkplatz Deutschlands. seine Schulden ab, indem er den UnterKünftig wird der Verkehr auf sechs Spunehmen die auf der Strecke anfallende ren rauschen. Lkw-Maut überträgt. Mit dem 37 Kilometer langen Abschnitt Minister Ramsauer Ob sich solche Verträge für beide Seiwurde am vorvergangenen Donnerstag Zum ungünstigen Zeitpunkt erwischt ten rechnen, hängt im Wesentlichen von auch der erste privat finanzierte Autobahnausbau Deutschlands eröffnet. „Öf- Ausbau der A 8 bis Ulm sollte eigentlich der Prognose des künftigen Verkehrsauffentlich-Private Partnerschaften sind ein Anfang 2011 beginnen, doch das Bieter- kommens und der Mauteinnahmen ab. Erfolg“, jubelte Verkehrsminister Peter verfahren für das 300-Millionen-Euro-Pro- Genau das lässt sich jedoch kaum seriös Ramsauer (CSU). „Jetzt geht es darum, jekt ist noch nicht abgeschlossen. Der vorhersagen, monierte der BundesrechCSU-Abgeordnete Georg Nüßlein fürch- nungshof 2009 in einem Gutachten. schnell weiterzubauen.“ Kritiker solcher Partnerschaften fühlen Um dieses Ziel zu erreichen, ist Ram- tet „ein tägliches Nadelöhr“, wenn sich sauer offenbar sogar bereit, sich über die die sechs Spuren im Westen Augsburgs sich durch diese Bedenken bestätigt. Expertise des Bundesrechnungshofs hin- auf vier Spuren verengen, und warnt vor „ÖPP-Projekte sind extrem intransparent“, sagt Toni Hofreiter, Verkehrspoliwegzusetzen. Während die Beamten des „massivem Unmut“ der Wähler. Doch es geht um mehr. Das Vorhaben tiker bei den Grünen. Diese GeheimnisVerkehrsministers behaupten, dass es sich für den Bund rechne, auch den weiteren zwischen Augsburg und Ulm ist das erste krämerei nährt Zweifel, ob bei der VerBau von Augsburg bis Ulm in Öffentlich- der zweiten Staffel von acht ÖPP-Projek- gabe alles korrekt abläuft. Die Wirtschaftlichkeitsuntersuchung Privater Partnerschaft (ÖPP) zu verwirk- ten mit einem Volumen von insgesamt lichen, kommen die Regierungskontrol- 1,5 Milliarden Euro. Kippt es, wären auch für den Ausbau der A 8 hat die Firma Alfen Consult erstellt, nach eigenen leure zum genau gegenteiligen BeWorten ein Ableger der Professur fund. „Wir sehen keinen wirtschaftBetriebswirtschaftslehre im Baulichen Vorteil für den Bund, die wesen an der Uni Weimar. InhaAutobahnstrecke mit einem ÖPP- Autobahnausbau in Öffentlich-Privater Partnerschaft ber der Professur und geschäftsProjekt auszubauen“, heißt es Ankündigung führender Gesellschafter der Bebeim Rechnungshof. Das teilte die Vergabeverfahren ratungsfirma ist Hans Wilhelm Behörde dem VerkehrsministeA7 Bordesholm–Hamburg in Betrieb Alfen. Der Ingenieur war bis 2000 rium Ende November in einem als Projektentwickler beim Bausechsseitigen Schreiben mit. Hamburg konzern Hochtief, dann wechselte Die Kritik erwischte Ramsauer A1 Buchholz–Bremen er an die Hochschule. Der Kontakt zu einem ungünstigen Zeitpunkt. zum alten Arbeitgeber riss nicht Kurz zuvor hatte er bei BundesA30 Rheine–Lotte Berlin ab. Hochtief finanzierte ÖPP-Forfinanzminister Wolfgang Schäuble schungsprojekte bei Alfen. (CDU) die Freigabe des Geldes für Lotte– A1 Ausgerechnet Hochtief bemüht die Anschubfinanzierung des wei- Münster A7 Salzgitter–Drammetal sich jetzt um den Ausbau der A 8 teren Ausbaus der A 8 beantragt. RUHRGEBIET zwischen Augsburg und Ulm. ZuSchäuble zögerte nun, das Geld A4 Landesgrenze Hessen–Gotha sammen mit der Strabag-Tochter zu bewilligen. „Ein Schreiben des Kirchner hat Hochtief die „A-MoRechnungshofs kann man nicht dell A 8 Ulm-Augsburg GmbH & einfach ignorieren“, sagte ein MitA9 AS Lederhose– arbeiter des Ministers noch vor Frankfurt Grenze Thüringen Co. KG“ gegründet. Alfen sieht keine Interessenkonkurzem. flikte wegen der Hochtief-UnterDoch jetzt geschieht genau das: stützung. „Drittmittel für die ProWeil Ramsauer und die privaten A6 Wiesloch-Rauenberg–Weinsberg fessur bringen mir keinerlei wirtBieter in wenigen Punkten nachMalsch– A5 schaftlichen Vorteil“, sagt er. bessern, will das FinanzministeOffenburg A8 Ulm–Augsburg Den Grünen Hofreiter überrium das Geld vor Jahresende zuA8 Augsburg–München zeugt das nicht. „Ich begegne bei teilen. „Das wird laufen“, heißt es ÖPP-Projekten immer wieder denübereinstimmend in beiden MinisMünchen selben wenigen Personen, die terien. schon oft aneinander verdient haGrund dafür ist Druck aus der ben.“ Bauindustrie und der CSU. Der SVEN BECKER, PETER MÜLLER Quelle: VIFG VERKEHR
Bremsende Prüfer
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Privat finanziert
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Wirtschaft
Ethanol-Kamine sind ein Renner im Weihnachtsgeschäft. Doch nach dem Todesfall einer Nutzerin wächst die Kritik an dem beliebten Deko-Möbel.
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s war nachts gegen 1.20 Uhr, als eine Explosion die Bewohner eines Mietshauses in Glinde aus dem Schlaf riss. Dann hörten sie Schreie, in einer Wohnung im dritten Stock lösten die Rauchmelder Alarm aus. Die 40jährige Mieterin schleppte sich noch zur Tür, um ihren Nachbarn zu öffnen. Ihre Brandverletzungen waren jedoch so schwer, dass sie nur Stunden später in einem Krankenhaus bei Hamburg starb. Der Unfall ereignete sich am 25. November. Noch sind die Ermittlungen nicht abgeschlossen, doch für die zuständige Polizei in Ratzeburg scheint der Fall klar: Ein Ethanol-Ofen-Brand: Verpuffte Zündung Bedienungsfehler beim Befüllen des Wandkamins sei die Unglücksursache, sagt eine Sprecherin. Kaum ein Deko-Möbel gilt als so gefährlich wie Ethanol-Kamine. Die Stiftung Warentest warnte bereits vor den Öfen. Ethanol ist extrem leicht entzündlich, das Nachfüllen des Brennstoffs riskant, die Sicherheit vieler Geräte fragwürdig. Schadensersatzprozesse häufen sich, Unfälle auch: Mal zerbersten vermeintlich sichere Scheiben, mal lassen sich Flammen nicht löschen, mal stürzt ein Wandofen auf seine Besitzerin, weil die Kunststoffdübel in der Wand durch die Hitze schmelzen. Doch derartige Horrormeldungen scheinen – wie manche Ethanol-Zündung – zu verpuffen. Gerade zur Weihnachtszeit sind die Heimfeuerstellen ein Verkaufsschlager in Baumärkten und Internetshops. Ein bisschen flackernde Gemütlichkeit gibt’s schließlich schon für 50 Euro. Die Anbieter heizen die Nachfrage noch an und preisen die Öfen als günstige Alternative zum Kamin, als „sauber“, „energiesparend“ und unkompliziert. „Alles leere Versprechen“, sagt Immo Terborg von der Hamburger Verbraucherzentrale. Zwar gäben auch die Designkamine ein wenig Wärme Deko-Kamin: „Alles leere Versprechen“ D E R
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nen entsteht das klimaschädliche Kohlendioxid, der Brennstoff selbst wird etwa aus Getreide gewonnen und steht in Konkurrenz zur Lebensmittelproduktion. Die neue Heimeligkeit hat noch einen weiteren Haken: Es gibt überhaupt keine überwachten Sicherheitsregeln für die Geräte. Eine geplante DIN-Norm ist noch in Arbeit. „Jedes Billigprodukt kann quasi ungeprüft auf den Markt gebracht werden“, sagt Christiane Böttcher-Tiedemann von der Stiftung Warentest. In Frankreich ist das anders, da gelten nach einer Reihe von Unfällen seit 2009 erhöhte Sicherheitsnormen. Nun verfügen die Öfen dort über einen Sensor, der die CO2-Konzentration im Raum, die Brenndauer und die Schräglage des Geräts messen kann – und es im Notfall abschaltet. Es gäbe also durchaus die Möglichkeit, die Gefährlichkeit der beliebten Brenner einzudämmen. Doch im deutschen Normentwurf ist so ein Sensor nicht vorgesehen. Verantwortlich für den Entwurf war, wie so häufig, auch nicht das Deutsche Institut für Normung (DIN), sondern ein externer Normenausschuss beim Industrieverband Haus-, Heiz- und Küchentechnik. Die Industrie schrieb sich den Standard, der demnächst ohne große Änderungen in Kraft treten soll, quasi selbst. Er sieht weder eine automatische Löschvorrichtung noch einen Sicherheitssensor vor. Und obwohl es die Norm noch gar nicht gibt, kleben auf diversen Geräten bereits Gütesiegel des TÜV Süd und des TÜV Rheinland. Der TÜV Süd prüft seit geraumer Zeit nach einem eigenen Programm, der TÜV Rheinland zertifiziert nach der geplanten Norm. Dass die womöglich nicht reicht und trotz des Siegels erhebliches Restrisiko besteht, schwante kürzlich auch den Prüfern. Mitte November warnte der TÜV Rheinland: „Ethanol-Öfen: Nie in geschlossenen Räumen betreiben.“ Für den Einzelhandel war die Warnung ein Schock, der Verkaufshit drohte zum Ladenhüter zu werden. Komischerweise war die Warnung wenig später entschärft – „Vorsicht beim Nachfüllen“, hieß es jetzt nur noch. Zugeständnisse an die Industrie habe es nicht gegeben, so der TÜV. Von den Prüfzeichen, so die Stiftung Warentest, sollte sich niemand „täuschen lassen“. Das Gefahrenpotential der Geräte bleibe enorm hoch – und verantwortlich sei am Ende der Nutzer. FEUERWEHR WIEN
Gefährliche Gemütlichkeit
ab, und die Kontrolle durch den Schornsteinfeger entfalle. Verschwiegen werde aber mitunter, dass regelmäßiges Lüften erforderlich ist. „Sonst sinkt der Sauerstoffgehalt im Raum bedrohlich ab.“ Ein Kaminhersteller und die Heimwerkerketten Praktiker und Hornbach unterschrieben der Verbraucherzentrale inzwischen Unterlassungserklärungen, sie dürfen die Produkte künftig nicht mehr als energiesparend oder als Heizgeräte anpreisen. Fraglich ist auch das Sauber-Image der Bio-Ethanol-Öfen, denn sie sind alles andere als umweltschonend. Beim Verbren-
JANNE PETERS / PICTURE PRESS
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NILS KLAWITTER
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Panorama S U DA N
„Staat und Religion werden streng getrennt“ KRAUSE/DER SPIEGEL
Ruben Marial Benjamin, 43, Vertreter des Südsudan in Kairo, über die Zukunft seines Landes
AFTONBLADET BILD / AGENCE ANGELI
SPIEGEL: Am 9. Januar 2011 werden die Südsudanesen über die Loslösung von der Republik Sudan abstimmen. Sind Sie sich der Mehrheit sicher? Benjamin: Ja, wir hissen auf unserer Vertretung bereits die Fahne eines unabhängigen Staates. Die Zentralregierung in Khartum hat nichts dagegen. SPIEGEL: Die Afrikanische Union plädiert für einen geeinten Sudan. Benjamin: Das stimmt. Dahinter steht die Angst, dass sich in anderen Teilen unseres Kontinents die Grenzen, die im 19. und 20. Jahrhundert von europäischen Staaten willkürlich gezogen wurden, verschieben könnten. SPIEGEL: Auch Ägypten unterhält enge Beziehungen zu Khartum und befürwortet einen ungeteilten Sudan.
Anschlagsort in Stockholm, Selbstmordattentäter Abdaly TERRORISMUS
Anschlagsspur führt in den Irak REUTERS
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Demonstration für Südsudan in Juba Benjamin: Kairo stellt sich schon auf
unsere Unabhängigkeit ein. Die staatliche Fluggesellschaft Egypt Air hat Direktflüge in unsere Hauptstadt Juba eingerichtet. Das Generalkonsulat dort wird den Status einer Botschaft erhalten. Schon jetzt prüfen ägyptische Geschäftsleute mögliche Investitionen. SPIEGEL: Was wird die Staatsreligion des neuen Landes sein? Benjamin: Rund 80 Prozent der Südsudanesen sind Christen. Im 20-jährigen Bürgerkrieg hat der muslimische Norden versucht, die Anhänger von Naturreligionen zum Islam zu bekehren. Doch die Menschen haben sich dem Christentum zugewandt. Wir wollen ein laizistisches Staatswesen aufbauen, das Staat und Religion streng trennt. 86
chwedische Ermittler glauben, dass der Selbstmordattentäter von Stockholm sehr wahrscheinlich Verbindungen zum „Islamischen Staat Irak“ hatte – einem TerrorDachverband unter Führung von al-Qaida. Taimour Abdulwahab al-Abdaly, ein Bagdader mit schwedischem Pass, war bei dem Anschlag als Einziger ums Leben gekommen, vermutlich weil einer seiner Sprengsätze früher als beabsichtigt zündete. Einer Theorie der Ermittler zufolge hatte der 28-Jährige womöglich geplant, mehrere Explosionen herbeizuführen. In jedem Fall sei der Anschlag wesentlich komplexer gewesen als bisher bekannt, heißt es in Stockholm. „Wäre alles nach Plan gelaufen“, vermutet der schwedische Terrorforscher Magnus Ranstorp, „hätte es sehr viele Tote gegeben.“ Die Ermittler suchen jetzt nach den mutmaßlichen Mitverschwörern Abdalys. Am Tatort war ein Walkie-Talkie gefunden worden. Eine Zeugin berichtete, sie habe 15 Minuten vor der Explosion beobachtet, wie ein Mann in einer möglicherweise nahöstlichen Sprache laut und aufgebracht in ein solches Gerät gesprochen habe. Der Attentäter hatte zudem eine Audiobotschaft an den Geheimdienst und eine Nachrichtenagentur geschickt. Darauf, so ein Tontechniker, sei zu erkennen, dass eine weitere Person bei der Aufnahme anwesend gewesen sei. Abdaly lebte zuletzt mit seiner Frau und drei Kindern in Luton nahe London, in einem Reihenhaus mit einer Blumenampel neben dem Eingang. Erst im Juni hatte das Paar einen Sohn bekommen, den es Osama nannte. Skandinavien war in diesem Jahr bereits mehrmals Ziel islamistischer Anschläge: Im Januar hatte ein Dschihadist versucht, den dänischen Zeichner Kurt Westergaard zu ermorden. Im Juli wurde in Oslo eine mutmaßliche Qaida-Zelle entdeckt. Die irakischen Behörden warnen unterdessen, al-Qaida im Irak plane zur Weihnachtszeit in den USA und Europa zuzuschlagen. Es gebe einen regelrechten Wettbewerb darum, welcher Gruppe ein Anschlag gelänge, sagte der Chef der Terrorabwehr im Innenministerium, Generalmajor Dhia Hussein. D E R
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Ausland A F G H A N I S TA N
Tödlicher Schutz
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m vergangenen Donnerstag zog die Regierung von US-Präsident Barack Obama die seit langem zuversichtlichste Zwischenbilanz des Krieges am Hindukusch: Der Bericht des Nationalen Sicherheitsrats bescheinigte den US-Streitkräften „bemerkenswerte operative Erfolge“. Der Vormarsch der Taliban in einigen „Schlüsselregionen“ sei gestoppt. Nahezu zeitgleich legten Hilfsorganisationen ein erschreckendes Resümee ihres Einsatzes vor. Die zivilen Helfer verloren dieses Jahr mindestens 100 Mitarbeiter. Die mit 80 Opfern größ-
KERNKRAFT
Moskaus teure Sünden
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gelnde Zahlungsbereitschaft zur Sprache. Bei dem Schutz handelt es sich um ein Projekt der EU und der G-8Staaten, zu denen auch Russland zählt. Moskau will aber bislang nur gut ein Prozent der Kosten, 23 Millionen Euro, übernehmen. Rund die Hälfte der zugesagten Gelder kommen von europäischen Staaten und aus Brüssel. Ungleich großzügiger zeigt sich der Kreml bei der Finanzierung neuer Atommeiler. 1,7 Milliarden Euro gab Moskau allein 2010 für den Neubau von Atomkraftwerken aus. Bis 2020 soll über ein Dutzend neuer Reaktorblöcke ans Netz gehen. Weitere Kraftwerke plant oder errichtet der staatliche RosatomKonzern in Ländern wie China und Indien. Den Überlebenden von Tschernobyl zahlt der Kreml eine Monatsrente von nur rund 50 Euro.
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Zentrum der Illegalen
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as US-Konsulat in Barcelona sieht sich ganz vorn an der Front im Kampf gegen militante Islamisten. Es richtete schon vor Jahren ein eigenes Anti-Terror-Büro ein. Das geht aus vertraulichen Berichten an das US-Außenministerium hervor. Nach Einschätzung der Diplomaten ist Spaniens zweitgrößte Stadt ein Zentrum für Dschihadisten aus dem gesamten Mittelmeerraum. Die Region Katalonien sei eine logistische Basis für die Terrorfinanzierung, schrieb der damalige Botschafter in Madrid, Eduardo Aguirre, nach Washington. Nach Eingang des Reports vom 2. Oktober 2007, den nun die Tageszeitung „El País“ auswertete, reagierte die Regierung von Präsident George W. Bush umgehend: Das Konsulat bekam eine eigene Abteilung, in der Vertreter verschiedener US-Sicherheitsdienste die Gefahren-
AP
ie russische Regierung will für die Folgen des Atomunfalls von Tschernobyl nicht zahlen. Der Reaktor, der am 26. April 1986 explodierte, als die Ukraine noch zur Sowjetunion gehörte, muss gesichert werden. Er benötigt dringend eine neue Schutzhülle, da der alte Beton-Sarkophag brüchig geworden ist. Rund zwei Milliarden Euro kostet das Projekt, derzeit fehlen jedoch noch 740 Millionen. Russland, das sich gern als Rechtsnachfolger der Sowjetunion bezeichnet, hat von allen Geberländern den kleinsten Beitrag zugesagt. Auf dem EU-Russland-Gipfel brachte Kommissionspräsident José Manuel Barroso daher Moskaus man-
ten Verluste verzeichnete die amerikanische Entwicklungshilfebehörde USAID. Deren Helfer arbeiten mit militärischen Einheiten in Wiederaufbauteams zusammen. Gerade die als Schutz dienende Anbindung an die Streitkräfte gerät den USAID-Experten offensichtlich zum Verhängnis: Für die Aufständischen stünden die zivilen Experten auf Seiten der Militärs und würden deshalb gezielt angegriffen, kritisiert ein Report der amerikanischen Gruppe Refugees International den Pakt mit den Streitkräften. Organisationen, die bewaffneten Schutz oder Arbeit unter Obhut von NatoTruppen ablehnen, verloren 20 Mitarbeiter durch Attentate, obwohl sie in denselben Regionen arbeiten.
Wie die Reaktor-Ruine in Tschernobyl neu ummantelt wird
Bisheriger Sarkophag des schwer beschädigten Reaktors
Laufschiene
150 m
105 m 257,5 m
Der bogenförmige Stahlmantel wird direkt vor dem Reaktor montiert und auf Schienen an den Endplatz geschoben. D E R
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Verhaftete in Barcelona
abwehr koordinieren sollten. Tatsächlich reisen besonders viele Nordafrikaner und Muslime aus Südasien illegal nach Katalonien ein. Rund 25 000 Pakistaner, meist alleinstehende Männer, lebten im Großraum Barcelona, heißt es in einem weiteren Schreiben der US-Botschaft. Darüber hinaus hätten südamerikanische Drogenhändler, Schleuser- und Geldwäscherbanden, Mafia-Clans aus China, Rumänien und dem Kosovo in der Stadt an Einfluss gewonnen. Die Botschaft schickte auch Erfolgsmeldungen: Dank ihrer Experten und der Kooperation mit den Spaniern seien von 30 ausgehobenen Zellen 18 allein in Katalonien aufgeflogen. Erst kürzlich wurden in Barcelona sechs Pakistaner und ein Nigerianer verhaftet. Sie sollen Terroristen mit gestohlenen Pässen versorgt haben. 87
Titel
Der Marktplatz der Muslime Mekka, die heilige Stadt des Islam, ist eine der unzugänglichsten und zugleich offensten Metropolen der Welt. Ausgerechnet in Saudi-Arabien, der Heimstatt des Dschihadismus, trifft der Islam auf die Globalisierung. Es ist ein Ringen um die Zukunft der Weltreligion.
U
m Mitternacht machen sich die ersten Gläubigen auf den Weg. Das Morgengebet in Mekka beginnt um 5.30 Uhr früh, schon Stunden vorher ist die Autobahn von der Hafenstadt Dschidda hinauf in die Berge des Hedschas dicht. Männer, die meisten in das Pilgergewand aus zwei nahtlosen weißen Tüchern gehüllt, Frauen in schwarzen Abajas, mit schlafenden Kindern im Arm, die Scharen aus der ganzen Welt 88
des Islam, Araber, Afrikaner, Asiaten, be- bahn gespanntes, zehn Meter hohes Portrachten einander müde aus den Fenstern tal und eine kleine maurische Säule die amerikanischer Limousinen und Reise- Grenze zum heiligen Bezirk. Die Pilger busse. Keiner hupt, keiner drängt. Es ist richten sich in ihren Sitzen auf: „Hier bin eine stille, andächtige Karawane auf ich, Gott“, beginnen sie ihre Gebete, ihrem Weg durch eine vom Halbmond „hier bin ich zu Deinem Befehl.“ Brücken wechseln mit Unterführungen beschienene Wüstenlandschaft. Jahraus, jahrein zieht sie hinauf, nie reißt der Pil- ab, Rampen mit Tunnels und eilig hinbetonierten Autowerkstätten. Dann endet gerstrom ab. Eine letzte Senke, eine letzte Anhöhe für die meisten die Fahrt in einem unternoch, dann markieren ein über die Auto- irdischen Busbahnhof im Zentrum. Die D E R
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Pilger sind am Ziel: Mekka, die heilige Stadt des Islam. Es fühlt sich an wie die Hölle. Die eben noch andächtig Betenden sind plötzlich eingetaucht in ein Inferno aus rotem Neonlicht, aus Lärm und Staub, aus Hitze und Dieselgestank. Acht JetFans, Ventilationsmaschinen, so groß wie Flugzeugmotoren, dröhnen an der Decke; Reisebusse drücken Autos zur Seite, Autos die Fußgänger. Polizisten mit Atem-
MOHAMMED SALEM / REUTERS
Große Moschee mit Kaaba, Shopping- und Hotelkomplex in Mekka
masken und Ohrenschützern brüllen Kommandos. Dazwischen, mit weit aufgerissenen Augen nach den Ausgängen suchend, Männer, Frauen, Kinder, Humpelnde, Hustende, Alte in Rollstühlen. Auf den Treppen ins Freie löst sich allmählich der Ruf des Muezzins aus dem Lärm. 5.30 Uhr. Unwillkürlich bleiben die oben Angekommenen einen Augenblick lang stehen. Zur Rechten: ein 24-stöckiger Marmor- und Glasquader, das IntercontiD E R
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nental-Hotel Dar al-Tawhid, wörtlich: „Haus des Monotheismus“. Daneben: das Makkah Hilton&Towers, kürzlich renoviert in arabisiertem Art déco mit hölzernen Erkern bis in die 28. Etage hinauf. Ganz oben eine Uhr mit dem Schriftzug des Schweizer Uhrenherstellers Omega, unten der Eingang zu einer ShoppingMall, die Schilder von Fast-Food-Restaurants: Kentucky Fried Chicken, Hardee’s, House of Donuts. Zur Linken, wie ein Gebirge alle anderen Wolkenkratzer dominierend, die sieben Türme des Abraj-al-Bait-Komplexes, sechs davon fertig, bis zu 48 Etagen hoch, einer noch im Bau: Auch dies ist ein Uhrturm, der dem Big Ben in London nachgebildet ist, allerdings mehr als sechsmal so hoch, mit einem Ziffernblatt, das 43 Meter misst. Es wird, nach seiner Fertigstellung diesen Winter, mit 601 Metern das zweithöchste Gebäude der Welt sein. „Wo ist die Kaaba?“, fragt, verwirrt und vom Flutlicht geblendet, ein türkischer Pilger. Die Kaaba, der von schwarzen Tüchern umhüllte Kubus, den der Patriarch Abraham, Stammvater der Muslime wie der Israeliten, errichtet haben soll, das Heiligtum, um das der Prophet Mohammed Krieg führte, der Ort, zu dem sich seit 14 Jahrhunderten die Muslime beim Gebet hinwenden – die Kaaba ist das Letzte, das die Pilger zwischen den Baustellen, Hochhäusern und Einkaufslandschaften des modernen Mekka zu Gesicht bekommen. Doch die Kaaba ist jener Ort, ohne den kein Pilger käme. Sie muss er sehen, siebenmal umrunden und möglichst auch berühren, wenn er einem der fünf Grundgebote seines Glaubens folgen will – genau dafür kommt er, zur Umra und zum Hadsch, zur kleinen und zur großen Pilgerfahrt. In Mekka al-Mukarrama, der gebenedeiten Stadt des Islam, zählen Gebete hunderttausendfach. Mekka ist nicht, wie die Stadt Jerusalem, ein politisches Symbol, um dessen Herrschaft Juden, Christen und Muslime seit Jahrhunderten ringen. Es ist nicht, wie Rom, Regierungssitz und Verwaltungshauptstadt einer Weltreligion. Mekka ist weniger und mehr zugleich: Mittelpunkt des islamischen Universums und Kern des individuellen Glaubens. Es ist kein Thron, kein Kirchenfürst, von dem diese Weihe ausgeht. Sie geht vom Ort selbst aus, von den ewigen Koordinaten der Kaaba, um die Tag und Nacht die Pilger kreisen. Und nun soll Mekka, so haben die Hüter der heiligen Stätten beschlossen, noch einmal neu entstehen, zum Ruhme Gottes glänzen und alles in den Schatten stellen, was die Moderne auf anderen Kontinenten hervorgebracht hat. Vor einem Menschenalter noch war das Wadi, in dessen Talgrund die Kaaba steht, bei jedem Regenguss meterhoch überflutet. Heute 89
Titel ist dieser Talgrund das teuerste Stück Bauland der Welt, ein Quadratmeter hier kostet doppelt so viel wie vor dem Casino von Monte Carlo. „Mekka“, zitierte das Wirtschaftsmagazin „Arabian Business“ einen Investmentbanker, „ist so ziemlich die krisensicherste Anlage, die sich heute finden lässt. Mekka hat immer Saison.“ Doch damit steht die heilige Stadt auch für die Suche des Islam nach dem rechten Weg zwischen Glaubensstrenge und Weltlichkeit. Für die Herrscher Saudi-Arabiens ist diese Stadt ein widerspenstiger Ort, zugleich Kronjuwel und Pfahl im Fleische des Wahhabismus, einer der striktesten und unerbittlichsten Auslegungen des Islam. Denn das Königreich muss auch allen anderen Richtungen dieser Religion Gastgeber sein, den gemäßigten, aber auch jenen, die eine noch dunklere Gottesfurcht verbreiten wollen. Mekka ist das Amalgam all dieser Unvereinbarkeiten. Hier treffen Islam und Globalisierung aufeinander, Einheit und Vielfalt, Scholastik und Logistik, Glaube und Geldgier. Hier wird sich erweisen, ob diese Religion und die Kultur, die sie hervorgebracht hat, sich wieder einklinkt in die Weltgeschichte: ob sie ihre flachen Hierarchien, ihr entspanntes Verhältnis zum Handel und zum Geldverdienen, ihr profundes Desinteresse an Herkunft und Klasse zum Fortschritt der Muslime nutzen kann. Oder ob ihre Anfälligkeit für Extremismus, ihr ungeklärtes Verhältnis zur Gewalt und ihr antiquiertes Frauenbild sie weiter Fremdling bleiben lassen in der Moderne. Das ganze Leben frommer Muslime ist nach Mekka ausgerichtet. In welcher Richtung die Stadt des Propheten liegt, ist das Erste, was ein Gläubiger herauszufinden versucht, wenn er an einem unbekannten Ort ankommt. Wenn er als Kind zu beten lernt, zeigen ihm die Imame in der Moschee die Kibla, die Gebetsnische, hinter der, und sei es in 20 000 Kilometer Entfernung, Mekka liegt. Und wenn sie den Verstorbenen zu Grabe tragen, dann wird sein Kopf in Richtung Mekka liegen. Das Ziel der Pilger ist, aller profanen Ablenkung, allem Kommerz zum Trotz, ein Ort der Reinheit und der Reinigung. Der „Ihram“, der Weihezustand, in den der Pilger sich vor den Toren der Stadt versetzt, verbietet ihm zu fluchen, sich einzucremen, sich zu rasieren, sich die Nägel zu schneiden oder zu onanieren. Er darf nicht jagen, keine Waffen tragen, keinen lebenden Halm abbrechen, er darf buchstäblich keiner Fliege etwas zuleide tun. Dieses strikte Verbot, sich an der Schöpfung zu vergehen, diese Botschaft des Friedens klingt merkwürdig leise in dieser dröhnend kriegerischen Zeit. Denn Mekka ist das Zentrum einer Weltreligion, die mit sich ringt. Neun Jahre nach der Katastrophe des 11. September 2001 wirkt dieser 90
Pilger vor der Kaaba während des Hadsch 2008: „Wir müssen uns gegen das Eindringen fremden,
Akt des Terrors so unverändert nach wie men: die Burka, das Minarett, die Moschee die Exzesse, die ihm folgten, von Bali bis – vom New Yorker Ground Zero bis in die Beslan, von Mumbai bis Madrid, von Lon- hintersten Täler der Schweiz verbreiten don bis Stockholm, das bei einem Bom- die sichtbaren Zeichen des Islam ein anbenanschlag am vorvergangenen Samstag haltendes Gefühl der Bedrohung. Vor einer nur knapp einer Katastrophe entging. „Islamisierung Amerikas“ warnen in den Es ist ein Ringen um die Frage, wer USA die Gegner eines islamischen Zenden Islam dominiert: die breite Mehrheit trums an der Südspitze von Manhattan, der Gläubigen oder die Fanatiker, deren eine schleichende Unterwanderung, ein „Eurabia“, in dem binnen Generationen mehr Muslime als Christen leben werden, „Hier bin ich, Gott“, sagen Populisten in Europa voraus. beten sie, „hier bin ich zu Wie viel auch immer die eigenen ÄngsDeinem Befehl.“ te des Westens vor ökonomischem Machtverlust und demografischem Niedergang zu diesem Unbehagen beitragen mögen Ideologie genau hier, im Königreich – eines ist nicht zu leugnen: Der DschihaSaudi-Arabien, ihren Anfang nahm und dismus ist nicht besiegt. Die Qaida ist die seit einem Jahrzehnt fast jeden Monat gefährlichste Terrorbewegung der Gegenweltweit Dutzende Menschenleben for- wart, und sie prägt seit einem Jahrzehnt dert – die meisten von ihnen muslimische das Bild einer Religion, die als aggressiv, Menschenleben. als rückschrittlich und gefährlich wahrgeKein Schurkenstaat, kein feindliches Im- nommen wird. Aber stimmt dieses Bild noch? Beperium löst im Westen solche Ängste aus wie der Islam, kein Feindbild kann es heute schreibt es die Gesamtheit eines Kulturmit den Symbolen dieser Religion aufneh- raums, der von den Archipelen IndoneD E R
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MOHAMMAD KHEIRKHAH / UPI / LAIF
feindlichen Gedankenguts wehren!“
siens bis zum Atlantik, von den afrikanischen Steppen bis in den Kaukasus reicht – und den die Globalisierung in den vergangenen Jahren gewiss noch viel stärker verändert hat als den vergleichsweise statisch gebliebenen Westen? Eine neue Generation von Gläubigen hat seit den Anschlägen von New York und Washington ihr Selbst- und ihr Weltbild geformt. Sie sind fromm und modern, konservativ und kritisch, sie sind so ungleich wie die Pilger, die im Busbahnhof von Mekka aus den Autos steigen. Der Islam verbindet sie, und für die meisten von ihnen ist es ein anderer Islam als der, vor dem sich der Westen fürchtet. Vor allem aber: Es ist nicht nur ein einziger Islam. Es sind deren viele. Auf 1,57 Milliarden Menschen, stellt eine Studie des Pew Research Center in Washington fest, ist die Zahl der Muslime im vergangenen Jahr gestiegen. Das ist etwa ein Viertel der Weltbevölkerung. Nur jeder fünfte von ihnen stammt aus dem Nahen Osten und Nordafrika. Nur jeder fünfte spricht Arabisch. Die vier größ-
ten muslimischen Gemeinden der Welt sind die von Indonesien, Pakistan, Indien und Bangladesch. In Russland allein leben mehr Muslime als in Libyen und Jordanien zusammengenommen, in China mehr als in Syrien – und in Deutschland mehr als im Libanon. In Mekka ist diese Vielfalt zu besichtigen. Sie drückt sich aus in Hautfarben, in Gesichtern, in Kulturen und Lebensstilen. Es ist eine Vielfalt, so der iranischamerikanische Politologe Vali Nasr, die von unten kommt und nach oben strebt. Der verordnete Säkularismus des 20. Jahrhunderts, so Nasr in einem wegweisenden Buch über den Aufstieg der „neuen muslimischen Mittelklasse“, habe in der islamischen Welt seinen Glanz verloren – der verordnete Fundamentalismus aber nicht minder: „Die muslimische Welt ist dabei, sich auf etwas ganz anderes einzurichten: auf Pluralismus.“* * Vali Nasr: „The Rise of Islamic Capitalism. Why the New Muslim Middle Class Is the Key to Defeating Extremism“. Free Press, New York; 320 Seiten. D E R
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Der Islam sei „nicht wegen der Extremisten, die in seinem Namen Gewalt verbreiten, zur Weltreligion geworden – sondern wegen seiner kulturellen Diversität“. Und, so schreibt Nasr: „Es werden nicht säkulare Diktatoren oder aufgeklärte Geistliche sein, die den muslimischen Extremismus bezwingen, sondern Unternehmer und Geschäftsleute.“ Die Völker der islamischen Welt sind jung (mehr als die Hälfte der Bevölkerung im Nahen Osten ist jünger als 25 Jahre), und sie wollen teilhaben an einer Moderne, die sie ebenso verunsichert wie fasziniert. Viele junge Muslime sind ihr Stigma im Westen so leid wie den Terror der Qaida, der ihnen dieses Stigma eingetragen hat. Sie marschieren nicht mit den Kohorten der organisierten Islamisten. Aber sie gehen, als Männer, selbstverständlich zum Gebet, als Frauen tragen viele von ihnen das Kopftuch, selbst wenn sie dazu in den Shopping-Malls von Dubai oder an der Corniche von Beirut niemand zwingt. Der Islam ist das Zentrum ihrer Identität, er diktiert bis in die Twitterund Facebook-Einträge ihre Sprache. Noch hat diese Bewegung keinen Namen, doch die Autoritäten, die alten Herren des Patriarchats, spüren ihre Kraft genau. Auf Websites wie „muftisays.com“ oder „fatwa-online.com“ gibt sie Antworten auf Fragen, die traditionelle Scheichs ihnen schuldig bleiben. In den Vereinigten Arabischen Emiraten geht der Ökologe Abd al-Asis Al Nuaimi gegen die Verschwendungssucht seiner Landsleute vor und propagiert einen „grünen Dschihad“. In Dubai hat die vollverschleierte Eheberaterin Widad Lutah einen Beziehungsratgeber veröffentlicht, in dem sie das Vorurteil genereller Lustfeindlichkeit des Islam widerlegt: Oralsex sei – jedenfalls unter Verheirateten – nach den Quellen der Schrift erlaubt. In Indonesien, dem bevölkerungsreichsten islamischen Land der Welt, predigt der Televangelist Abdullah Gymnastiar seit Jahren über moralische Betriebswirtschaft, ethisches Verhalten am Arbeitsplatz und die Tugend der Höflichkeit. Er ist selbst erfolgreicher Unternehmer. Als einen „Yuppie-Islam“, einen Abklatsch der reinen Lehre, diffamieren radikale und traditionelle Gelehrte das Phänomen. Ihre Sorge ist begründet, denn die neue, selbstbewusste Glaubensbegeisterung trägt die Veränderung bis in die Amtsstuben des erzkonservativen Königreichs Saudi-Arabien hinein. Im vorigen Jahr entließ König Abdullah einen Obersten Richter, der dazu aufgerufen hatte, Fernsehmacher umzubringen, die im Ramadan „unmoralische“ Serien ins Programm stellen. Wenig später feuerte er ein Mitglied des einflussreichen Gelehrtenrates, das sich dagegen ausgesprochen 91
Titel hatte, junge Männer an einer neuen Universität bei Dschidda gemeinsam mit jungen Frauen auszubilden. Die Scharia, die Frauen: Nirgendwo ist der Graben zwischen dem fundamentalistischen Islam und seinen liberaleren Spielarten so tief wie an diesen beiden Fronten – und nirgendwo ist so deutlich zu sehen, wie viel in den Jahren seit dem 11. September in Bewegung geraten ist. Fassungslos nimmt der Rest der Welt immer wieder barbarische Urteile muslimischer Richter zur Kenntnis: Im Sudan ließen sie 1994 zwei zum Christentum konvertierte Männer erst hinrichten und dann kreuzigen, in Ägypten verurteilten sie 1995 den angesehenen Koran-Forscher Nasr Hamid Abu Said zur Zwangsscheidung von seiner Frau (das Paar entzog sich der Vollstreckung durch Flucht in die Niederlande); in Saudi-Arabien wurde ein junger Mann zu 1000 Peitschenhieben verurteilt, weil er im Fernsehen mit seinen erotischen Eroberungen geprahlt hatte; in Iran windet sich das Regime gerade, das Steinigungsurteil für Sakine Mohammadi Aschtiani als ein „symbolisches“ Verdikt auszugeben, das gar nicht vollzogen werden soll. Aber ist ein Rechtsbewusstsein, dem solche Urteile entspringen, überhaupt reformierbar? Wie soll ein moderner Rechtsstaat auf dem Fundament einer heiligen Schrift gebaut werden, die fordert,
Es dauerte nur Minuten, bis die ersten Leichen auf dem Marmor des Moscheehofs lagen. Dieben seien die Hände abzuhacken und Ehebrecherinnen auszupeitschen oder zu steinigen? Gerade das Strafrecht aber, die wichtigste Domäne der Fundamentalisten, gerate unter dem Einfluss der Globalisierung unter Druck, sagt der Erlanger Jurist, Islamwissenschaftler und führende deutsche Scharia-Experte Mathias Rohe: „Die Ideen sind mobil geworden. Nicht nur die Gelehrten – jeder redet heute mit.“ Der islamische Rechtsdiskurs erlebe derzeit einen „Quantensprung“ wie seit dem 9. Jahrhundert nicht mehr, eine nie dagewesene „Pluralisierung der Argumente“. Von modernen Denkern wie dem türkischen Theologen Yaşar Nuri Öztürk bis zu islamistischen Haudegen wie dem Sudanesen Hassan al-Turabi und dem ägyptisch-katarischen Fernsehprediger Jussuf al-Karadawi wächst das Unbehagen an einer Koran-Auslegung, die sklavisch am Buchstaben klebt. „Idschtihad“ ist das Schlagwort, das von etablierten Autoritäten bis zu Islam-Bloggern viele Muslime heute verbindet: die Fähigkeit zu selbständigem Urteilen und Forschen. 92
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Und unter den Urteilenden und Forschenden sind zum Verdruss der Traditionalisten immer mehr Frauen. Die Abiturergebnisse der Mädchen in Saudi-Arabien sind so viel besser als die ihrer männlichen Altersgenossen, dass die traditionelle „Liste der besten 100“ seit einigen Jahren nicht mehr publiziert wird – es standen zuletzt nur eine Handvoll junger Männer darauf. Zwei Drittel der Studierenden in Saudi-Arabien sind Frauen. Das ist die eine Realität. Die andere erfuhr Dr. Mohammed al-Sulfa, als er vor einigen Jahren als Abgeordneter des saudi-arabischen Konsultativrates einen Gesetzentwurf einbrachte, der Frauen endlich das Recht einräumen sollte, selbst Auto zu fahren. „Mein Telefon klingelte ununterbrochen“, sagt er. Was eine Frau denn machen solle, wenn ihr Auto liegenbliebe, fragte ihn ein Anrufer. „Na, was schon“, fragte Sulfa zurück. „Den Pannendienst anrufen.“ Darauf der Anrufer: „Findest du denn, Frauen sollen eigene Mobiltelefone besitzen?“ Noch ist nicht entschieden, wer die Oberhand behält, der Reformer Sulfa oder seine empörten Anrufer. Der Ausgang dieses Kulturkonflikts ist offen, in Saudi-Arabien ebenso wie in der islamischen Welt insgesamt. Es wird ein unübersichtliches Gemenge, doch wenn es einen Ort gibt, an dem alle Parteien aufeinanderstoßen, die religiösen, politischen, kulturellen und wirtschaftlichen, dann ist es Mekka, der Marktplatz der Muslime, eine der unzugänglichsten und zugleich offensten Städte der Welt. Aus Mekka gingen – lange vor dem 11. September – die ersten Bilder um die Welt, die vom zerstörerischen Potential des Fundamentalismus kündeten: Am Morgen des 20. November 1979, dem ersten Tag des 15. islamischen Jahrhunderts, besetzte eine Gruppe schwerbewaffneter Islamisten die Große Moschee. Ihr Anführer Dschuhaiman al-Utaibi, ausgebildet von höchsten religiösen Würdenträgern des Königreichs, entriss dem Vorbeter das Mikrofon und teilte den Pilgern mit, dass er ihnen nun den Mahdi präsentiere – den prophezeiten Erlöser, der gekommen sei, um die Welt vom Unrecht zu befreien. Es dauerte nur Minuten, bis die ersten Schüsse fielen und die ersten Leichen auf dem weißen Marmor des Moscheehofs lagen, es sollte zwei Wochen dauern und Hunderte Menschenleben kosten, bis die Kaaba befreit war – zur Schande ihrer Hüter: Die Saudis mussten Ausländer um Hilfe bitten, französische Spezialagenten leiteten die Einsatzgruppen. Erst nach 2001 dämmerte der Welt, dass damals die Saat für den modernen Dschihadismus und für den Todeskult der Qaida gelegt worden war: die Forderung der Terroristen – heiliger Krieg dem Westen und dem mit ihm im Bunde ste-
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Lagezentrum der Polizei in Mekka
VERONIQUE DE VIGUERIE / GETTY IMAGES
BERNHARD ZAND / DER SPIEGEL
Der Dschihadismus ist nicht besiegt
henden Haus Saud – war exakt die Botschaft, die Osama Bin Laden bis heute predigt. Mekka selbst, die Stadt, in der die arabischen Terroristen Dolmetscher gebraucht hatten, um den Pilgern aus aller Welt ihre Befehle verständlich zu machen, blieb davon unberührt, wandte sich wieder seinem Geschäft zu, die Pilger zu beherbergen und ihnen Andenken an ihre Wallfahrt zu verkaufen. Acht Millionen Gläubige kamen 1980, etwa 12 Millionen waren es in diesem Jahr, an die drei Millionen zum Hadsch im November. Diese Zahlen, schätzt das zuständige Ministerium, werden sich in den nächsten zehn Jahren vervierfachen. Die Zahl der Muslime steigt weiter, vor allem aber steigt die Zahl derer, die in der Lage sind, sich eine Pilgerfahrt zu leisten. Nur ihnen legt der Koran diese Pflicht auf, und Mekka empfängt sie alle: Das im Westen scheinbar einheitliche Gesicht des Islam fällt hier in seine Teile auseinander. Es kommen Männer wie der Eisendreher Mohammed Chalifa, 63, aus Alexandria, der mit fünf anderen Ägyptern den heiligen Berg Arafat hinaufstapft, nach jeder dritten Stufe innehält, „mein Gott, mein Gott“ keucht und oben sein Frühgebet spricht. Es kommen Frauen wie Dr. Rashida Carrim, 58, aus Durban in Südafrika, die das Penthouse 2826 im Hilton gebucht hat. Ihr Mann folgt ihr mit einem kleinen schwarzen Rollkoffer: Da sind die Medikamente drin, welche die an Krebs Erkrankte für ihre Chemotherapie braucht. „Ich habe keinen Zweifel“, sagt sie, „dass mir diese vier Wochen helfen werden.“ Es kommen Ehepaare wie Bassam, 50, und Marjam Ibrahim, 43, gebürtige Palästinenser, inzwischen Software-Entwickler in Houston, Texas. Er, barfuß und im Pilgergewand, führt seine Frau vom König-Fahd-Tor der Großen Moschee auf einen Laden zu, in dem kanisterweise Wasser aus der heiligen Samsam-Quelle verkauft wird. Es kommen Männer wie der Fernsehprediger Jussuf al-Karadawi, der eine Gelehrtenkonferenz im Königspalast von Mekka zuruft: „Wir müssen uns gegen das Eindringen fremden, feindlichen Gedankenguts wehren!“ Und es kommen Männer wie der kenianisch-britische Muslim-Aktivist Fuad Nahdi, der auf der gleichen Konferenz sagt: „Wir haben ein Problem, das über unsere Religion weit hinausgeht. Wenn ich in Saudi-Arabien meinen Töchtern ein Eis kaufe, bestimme ich, ob sie Erdbeere oder Vanille nehTaliban-Kämpfer in Afghanistan
Heiliger Krieg dem Westen 93
GRASSANI / INVISION / LAIF (O.L.); MARKUS KIRCHGESSNER / LAIF (O.R. + U.R.); ALI JAREKJI / REUTERS (U.L.)
Moderne Muslime in Kisch (Iran), Kairo, Mekka, Dubai: Der Islam diktiert bis in die Twitter- und Facebook-Einträge ihre Sprache
men. Wenn ich in Großbritannien bin, frage ich sie vorher, was sie möchten.“ Es kommen Gemäßigte und Radikale, Sunniten und Schiiten, Hanafiten, Ibaditen, Ismailiten, hippe junge Muslime aus London und Frankfurt, kriegserfahrene Scheichs aus Kaschmir und Somalia. Sie beten, sie shoppen, sie streiten mit den Mekkanern um astronomische Hotelrechnungen und mit Glaubensbrüdern, deren Sprache sie nicht sprechen, wo genau beim Gebet die Hände zu halten seien – ob am Ohr, wie in Bosnien, oder an der Schulter, wie am Golf. Wenn es nach dem Emir von Mekka geht, Prinz Chalid Bin Faisal Al Saud, 69, dann wird seine Geburtsstadt der Welt in den nächsten Jahren ein Lehrstück in Fortschrittlichkeit erteilen. Chalid ist der Sohn des 1975 ermordeten Königs Faisal, der selbst als Gouverneur in Mekka begann, und Enkel des Staatsgründers Ibn Saud. Ihm gehört die liberale Tageszeitung „Watan“, und er ist Generaldirektor der King Faisal Foundation, einer der größten philanthropischen Stiftungen der Welt. 94
Männer seines Geblüts zucken, wenn jemand sagt, der Islam habe die Moderne verpasst. Vor drei Jahren ernannte ihn sein Onkel König Abdullah zum Gouverneur der Westprovinz, nun zieht er ein Papier aus seiner Schublade und sagt: „Das ist mein Plan. Wir werden eine moderne Stadt bauen. Wir fangen noch einmal ganz von vorn an.“
Sie sind ihr Stigma im Westen so leid wie den Terror, dem sie dieses Stigma verdanken. Der Prinz gilt als Reformer. Er hielt sich vor neun Jahren nicht mit der Frage auf, ob 15 der 19 Attentäter des 11. September tatsächlich aus Saudi-Arabien stammten oder nicht, stattdessen zog er gegen die „abartigen Ideen“ der Fundamentalisten zu Felde, die sich in „unsere Schulen, Fakultäten, Privathäuser und überhaupt in die Gesellschaft eingeschlichen haben“. D E R
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Er und sein Bruder, Außenminister Saud Bin Faisal, sind treibende Kräfte des Prozesses, den der König vor drei Jahren mit einem Besuch beim Papst in Rom begann und der sich, nach Konferenzen in Mekka und Madrid, zu einem „Dialog der Zivilisationen“ entwickeln soll. Von einem „Dialog der Religionen“ ist vorläufig noch nicht die Rede, weil Saudi-Arabiens Ulama, die Rechtsgelehrten, Hindus und Buddhisten für gottlos halten. Und weil von einer Gleichberechtigung der Religionen keine Rede sein kann, solange an jeder Einfahrt nach Mekka ein Schild darauf hinweist, dass der Zutritt zur heiligen Stadt nur Muslimen gestattet ist. Noch immer ist es verboten, eine Bibel nach Saudi-Arabien zu bringen, noch immer dürfen christliche Diplomaten nicht einmal in ihren exterritorialen Botschaften einen Gottesdienst feiern, werden Missionare mit drakonischen Strafen bedroht, noch immer ist der Bau einer Kirche im Königreich völlig undenkbar. Dennoch will der Prinz, wie der König, Saudi-Arabiens Verhältnis zum Islam auf
Titel neue Grundlagen stellen. „Alles“, sagt der Prinz, „beginnt und endet an der Kaaba.“ Was er vorhat, ist eine komplette Neugestaltung Mekkas, für die in den kommenden zehn Jahren 100 Milliarden Dollar veranschlagt sind. Gleich von „ein paar hundert Milliarden“ in den nächsten 25 Jahren spricht Osama al-Bar, der Bürgermeister von Mekka. Er führt, in unmissverständlicher Symbolik, die Kaaba und einen Bulldozer im Wappen seiner Stadtgemeinde. Bar sitzt ungern im Büro, er residiert am liebsten unten vor der Großen Moschee, den Blick auf den nie abreißenden Strom der Pilger gerichtet. Alles, was er zum Management seiner Stadt benötigt, hat er griffbereit vor sich: ein Festnetztelefon, ein weißes Smartphone und vier seiner Leutnants, die sich, von links nach rechts vor ihm sitzend, um Sicherheit, Energie, Gesundheit und Finanzen kümmern. Der Bürgermeister hat an der Universität Nottingham Umwelttechnologie studiert, sein Englisch ist perfekt, doch mitunter ist nicht zu unterscheiden, ob er gerade „Mega“ oder „Mekka“ sagt. Drei „Mega-Projekte“ zählt er auf – und er spricht nur von denen, die bereits in Arbeit sind oder kurz vor dem Abschluss stehen. Da sind: ‣ die Westflanke des Wadi Mekka, das sogenannte Dschabal-Omar-Projekt. Hier sollen 39 Türme von 80 bis 200 Meter Höhe entstehen, dazu 9000 Parkplätze, 2400 Einkaufsläden, Hotels und Luxusappartements. Wie ein Amphitheater an den Hang gebaut, wird sich aus fast allen Wolkenkratzern der Blick auf die Große Moschee eröffnen; ‣ die Nordflanke des Wadi, die Schamija-Stadt. Hier sind 100 Wohntürme für 250 000 Menschen geplant, davor eine Plaza für 65 000 Betende und ein Wolkenkratzer so groß wie der LaDefense-Würfel in Paris; ‣ und schließlich die Südseite des Wadi, wo das Pilotprojekt des neuen Mekka kurz vor seinem Abschluss steht, die Turmkaskade Abraj alBait der König-Abd-al-AsisStiftung. Um für sie Platz zu schaffen, wurden hier vor neun Jahren ein Berg und eine Festung aus der Osmanenzeit geschleift; es gab diplomatische Verstimmungen mit der Türkei. „Selbst mein Büro wird abgerissen“, sagt Bürgermeister Bar. „Na und? Wir werden ein neues bauen.“ Inzwischen ragt an dieser Stelle ein riesiger Uhrturm empor, mit derzeit 550 Metern nur mehr zehn Etagen von seiner endgültigen Höhe entfernt. Selbst die sechs Wolkenkratzer, die ihn, je etwa 250 D E R
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Meter hoch, einrahmen, sehen von der oberen Plattform aus wie Zwerge. Das ganze Ensemble, 1,5 Millionen Quadratmeter groß, ist ein brachiales Bauwerk – und Ausdruck des Selbstbewusstseins eines Ölstaats, an dem die Wirtschaftskrise der vergangenen zwei Jahre wie ein lauer Herbstwind vorübergegangen ist. Ganz oben tickt seit diesem Sommer die von einem schwäbischen Unternehmen gelieferte größte Turmuhr der Welt. „Wir wollen Greenwich Mean Time den Zeit-Standard von Mekka gegenüberstellen“, sagt Mohammed al-Arkubi, der Direktor eines der Hotels, die zum Komplex gehören. Shopping Malls und Restaurants, Suiten und Time-Share-Appartements mit KaabaBlick: Was bleibt, wenn das alles gebaut ist, eigentlich von Mekka übrig? Ein „LasVegas-Strip ohne Glücksspiel“, wie ein Architektur-Blogger kommentierte? Eine Art Dubai mit metaphysischem Mehrwert? Der Bürgermeister kennt diese Fragen, er zeigt auf zwei alte Stadtansichten, die in seinem Baucontainer hängen. „Pilger haben Bedürfnisse, und diese Stadt war immer auf der Höhe ihrer Zeit: Dieses Foto hier ist von circa 1870. Wo auf der Welt gab es damals sonst siebenstöckige Gebäude?“ Mekkas Anfänge liegen im Dunkeln, doch seit diese Stadt in Dokumenten er-
Verbreitung des Islam Muslime in Prozent der Bevölkerung 90% und mehr 50% bis 90% 10% bis 50% unter 10%
wähnt wird, war sie stets Pilger- und Handelsplatz zugleich. Leder, Goldstaub und Gewürze aus dem Jemen und Indien werden in der Spätantike durch die Bresche des Hedschas-Gebirges nach Syrien und weiter nach Europa gebracht; Leinen, Waffen und Getreide kommen zurück. Als sich Anfang des siebten Jahrhunderts nach Meinung der meisten Wissenschaftler – eine Minderheit hält den Propheten für geschichtlich nicht nachweisbar – Mohammed in Mekka einen Namen macht, liegen Byzanz und das persische Sasanidenreich, die beiden Supermächte ihrer Zeit, im Krieg; die antike Handelsroute über den Euphrat ist zu gefährlich. Davon profitieren Südarabiens Karawanenstädte, vor allem Mekka, die wichtigste von ihnen: Schon lange vor dem Islam treffen sich die Nomadenstämme der Region einmal im Jahr zu einer Handelsmesse, setzen ihre Kämpfe aus und regeln ihre Streitigkeiten. Sie umkreisen einen schwarzen Stein, wahrscheinlich einen Meteoriten, der, zusammen mit ein paar hundert anderen Kultgegenständen, in einem kleinen Steintempel aufbewahrt wird, der Kaaba. Um das Jahr 610 soll Mohammed seine ersten göttlichen Eingebungen empfangen haben. Die Botschaft des Koran findet sofort Verbreitung – vor allem unter den einfachen Leuten, den Barfüßigen, nicht unter den wohlhabenden Kaufleuten von
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Länder mit den meisten Muslimen Muslime in Millionen
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74 74
79 79
Türkei
203 74 74
Iran
78 78
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Pakistan
Indien
Ägypten
Bangladesch
Indonesien
Nigeria
Weltbevölkerung 2009 ca. 6,8 Mrd. davon muslimisch muslimisch ca. 1,5 1,4 Mrd. Quelle: Pew Research Center’s Forum on Religion & Public Life; Oktober 2009
davon christlich ca. 2,3 Mrd.
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Mekka, deren Profitsucht und Vielgötterei der Prophet geißelt. Im Jahr 622, dem Beginn der islamischen Zeitrechnung, zieht er mit seinen Anhängern nach Medina. Von dort gelingt es dem Kaufmann, der nun zum Feldherrn und Religionsstifter aufsteigt, seine Geburtsstadt zurückzuerobern. Der Religionsgründer etabliert eine mächtige, in Teilen mit dem Alten Testament übereinstimmende Geschichte, die bis heute die Riten der Pilgerfahrt bestimmt: Demnach hat Abraham, nachdem er Satan trotzte, die Kaaba gebaut – an jener Stelle, an der seine Magd Hagar für ihrer beider Sohn Ismail nach Wasser suchte und jene Samsam-Quelle fand, die noch heute Wasser spendet. Mit der Ausbreitung des Islam steigen die Pilgerzahlen, und die Geschichte der Stadt Mekka – von den frühen Kalifen über die Umajjaden und Abbasiden bis zu den Osmanen – liest sich wie ein Wirtschaftskrimi, bei dem es vorwiegend um die Verteilung der Einnahmen geht, die der Besucherstrom mit sich bringt. Die Herrscher der einander ablösenden islamischen Reiche in Damaskus, Bagdad, Kairo und Istanbul investieren zwar in der heiligen Stadt, doch politisch spielt Mekka keine Rolle – bis nach dem Ersten Weltkrieg ein Beduinenfürst aus Zentralarabien die Wirren nutzt, um seinem entstehenden Reich auch den gebirgigen Küstenstreifen des Hedschas einzuverleiben: Sultan Abd al-Asis Ibn Saud, der künftige König von Saudi-Arabien. Als er am 5. Dezember 1924 Mekka im Pilgerkleid betritt, haben seine Soldaten in der Stadt eingesammelt und zerstört, was seine Vorgänger geduldet hatten, was unter dem neuen Regime nun aber des Teufels ist: Gitarren, Trommeln, Wasserpfeifen, Tabakvorräte. Abgerissen werden das Geburtshaus des Propheten, die Häuser seiner Frau Chadidscha und seines Nachfolgers Abu Bakr. Nach der Lehre des Wanderpredigers Mohammed Bin Abd al-Wahhab, dessen Nachfahren mit den Sauds im Bunde stehen, ist es Götzendienst, historische Denkmäler zu verehren, und Verkommenheit, zu musizieren oder zu rauchen. Da triumphiert eine beduinischstrenge Form der Religion, eine simple Theologie, die ihr harsches Schwarzweiß, ihre Sinnenfeindlichkeit und ihre Kargheit dem Leben in der arabischen Wüste schuldet. Die islamische Welt ist damals tief beunruhigt, ihre heilige Stadt von fanatischen Beduinen überrannt zu sehen. Gut 20 Jahre später, als das Königreich SaudiArabien fest etabliert ist, in der Ostprovinz die ersten Ölquellen sprudeln und die Schatullen des Hauses Saud allmählich überlaufen, merken die Ersten, dass in Mekka bald noch mehr Geld zu verdienen sein wird. 96
Uhrturm von Mekka: „Selbst mein Büro wird abgerissen, na und? – wir werden ein neues
An der Seite des Königs taucht ein ehrgeiziger junger Mann auf, der aus dem Jemen zugewandert ist, als Gelegenheitsarbeiter in Dschidda begann und es zu einem erfolgreichen Bauunternehmer gebracht hat. Sein Name ist von nun an aufs engste mit der Geschichte von Mekka und Medina verknüpft – und 50 Jahre später, als er schon lange tot ist, mit einer Zeitenwende im Verhältnis der Muslime zum Rest der Welt: Mohammed Bin Awad Bin Laden.
„New York ist etwas Physisches, Lhasa ist etwas Spirituelles. Mekka ist beides.“ Zwei Modelle, so groß, dass man auf ihren Granitsockeln selbst kleine Moscheen errichten könnte, stehen im Atrium der „Saudi Binladin Group“ in Dschidda – rechts die von Medina, links die von Mekka. Der Konzern baut Straßen, Eisenbahnen, Wolkenkratzer, er baut ganze Städte in Ägypten, Indien und Kasachstan, doch diese beiden Gebetshäuser, das ist die Botschaft an den Besucher, sind seine wichtigsten bleibenden Projekte. In dem Komplex haben zehn der Brüder von Osama Bin Laden ihre Büros. D E R
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Seit der Staatsgründer den Firmengründer 1949 mit dem Umbau der Innenstadt von Medina betraute, waren stets mehr als die Hälfte der Bin-Laden-Ingenieure und -Arbeiter in den beiden heiligen Städten beschäftigt. Oft nahm der Alte seine Söhne mit, um ihnen das Werk seiner Abrissbirnen, Bagger und Betonmaschinen vorzuführen. Auch Osama war dabei und hat später anerkennend über die Leistung seines Vaters gesprochen. Mohammed Bin Laden hatte eine Lizenz zum Gelddrucken aufgetan: Auch wenn der Ölpreis tief stand – die Pilgerzahlen stiegen beständig. In einer stillen, von Platanen überschatteten Straße ein paar Kilometer vom BinLaden-Hauptquartier entfernt, wohnt ein Mann, der sich geschworen hat, den Bauherren von Mekka einen Strich durch ihre kühnen Pläne zu machen. Sein Zorn ist über die Jahre so gewachsen, dass er zu einem Wortspiel greift, das an Blasphemie grenzt: Was die Binladin Group in Mekka mache, sei „la din“, sagt er. „La“ heißt auf Arabisch Nein, „din“ heißt Religion. Für Sami Angawi, 60, sind die Bin Ladens gottlos. Angawi ist in Mekka geboren, als Spross einer wohlhabenden Familie von Pilgerführern. Es gibt wenig in seinem Alltag, von der Zuverlässigkeit seines deutschen Geländewagens bis zum Talent
BERNHARD ZAND / DER SPIEGEL
Titel
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seines Sohnes, eines Produkt-Designers, zu dem ihm nicht ein passender KoranVers einfiele. Er hat in Texas, London und in Stuttgart bei Frei Otto, dem deutschen Meister der Leichtbau-Architektur, studiert. Als er nach Saudi-Arabien zurückkam, gründete er ein Institut, das sich zum ersten Mal wissenschaftlich mit dem Hadsch befasste. Er vermaß die Pilgerströme, er schrieb Verkehrsstudien und Notfallpläne, er dokumentierte auf Abertausenden Fotos die von Christen angelegten Bewässerungssysteme, die marokkanischen Erker, die syrisch-byzantinischen Säulen, die indonesisch feinziselierten Holztüren der Stadt. Als die Terroristen 1979 die Große Moschee besetzten, war er der Einzige, der sofort die Baupläne bereit hatte, die dann zum Sturm der Anlage genutzt wurden. „New York“, argumentiert er, „ist etwas Physisches, Lhasa ist etwas Spirituelles. Mekka ist beides. Mekka ist das kollektive Gedächtnis der Muslime.“ Doch gegen die Beton-Lobby der Baukonzerne haben Angawis Bedenken keinen Bestand. Oft fährt er monatelang nicht nach Mekka hinauf, der Anblick deprimiert ihn. Dann wieder packt ihn die Wut, und er entdeckt, wie Anfang der neunziger Jahre, dass die Bagger gerade dabei sind, das Haus zu zerstören, in dem
der Prophet gelebt haben soll, bevor ihm chenen Weltmacht, gegen die das Königdie Offenbarung zuteil wurde. Streit mit reich vor 25 Jahren seine jungen Wahhaden Bin Ladens folgte: Mit Osamas Bru- biten nach Afghanistan in den Krieg der Salim, sagt Angawi, dem genialischen, schickte, soll jetzt die Gefahren verdeut1988 verunglückten Chef der Firma, habe lichen, die in dogmatischer Verknöcheman reden können, mit dessen Bruder rung liegen: „Wer könnte ernsthaft behaupten, dass das, was Stalin tat, auch und Nachfolger Bakr nicht. Am Ende kam ein Kompromiss heraus: das war, was Marx sich einst ausgedacht Angawi durfte die Fundamente des Pro- hatte?“, fragt Madani. Wer ist dann aber der Stalin des Wahpheten-Hauses archäologisch dokumentieren, dann wurde die Stätte mit Sand habismus? Osama Bin Laden? Die Betonzugeschüttet. Heute steht, keine 50 Meter Theologen in Riad? „Das Schöne ist“, übergeht er die Frage, entfernt, eine öffentliche Toilettenanlage „dass der Mensch zuletzt doch klüger ist an der Stelle. „Das hier ist das Herz des Islam“, sagt als die Ideologen, im einen wie im andern er und deutet auf ein Bauloch direkt ne- Fall.“ Der Widerstand gegen die Fundaben der Großen Moschee, an dem mit mentalisten werde siegen, der unbewegschwerem Gerät gearbeitet wird. „Wenn liche Block des Wahhabismus löse sich die Israelis in Jerusalem einen Stein am auf, allein der Schock des 11. September Tempelberg verrücken, geht ein Aufschrei 2001 habe keinen Stein auf dem anderen durch die Welt des Islam. Zu Recht. Und gelassen. Nichts aber, stimmt ihm der Anthropohier?“ Auch andere Herrscher hätten in Mek- loge Abdullah Bakader, 60, zu, sei für ka gebaut, die Kalifen, die Abbasiden, den Islam gesünder als das kreative Chaos die Osmanen. Doch niemand habe je alles der heiligen Stadt. Im Auftrag des Königs ausgelöscht, was vorher war. „Was hier hat der Wissenschaftler begonnen, eine passiert, ist eine Herzoperation mit einer Datenbank aller Autoren und aller Texte Bohrmaschine. Wir beleidigen unsere aus der Geschichte Mekkas anzulegen – eigene Geschichte. Wir sind am Ground ein „Who’s who?“ der heiligen Stadt und ein Generationenprojekt, in dem, wenn Zero unserer Identität.“ Noch, sagt er, seien die vielen Erschei- es denn erst einmal abgeschlossen ist, sich nungsweisen seiner Religion nicht wieder die strengen Fatwas von heute so lesen heimisch geworden in seiner Geburts- werden, wie sich heute die Texte der ersstadt. Es gab Zeiten, da haben Frauen in ten Wahhabiten lesen. „Wir haben Gelehrte aus Samarkand Mekka Theologie gelehrt. Es gab Zeiten, da hatten die Hanafiten, die Schafiiten, gefunden, die im zehnten Jahrhundert die Malikiten und die Hanbaliten – alle von den hübschen Mädchen vor der vier Rechtsschulen des sunnitischen Islam Kaaba schwärmten. Wir fanden Chroni– ihre eigenen Seminare hier, ganz vorn ken des mittelalterlichen Soziologen Ibn an der Moschee, und ihre Meisterprediger Chaldun aus Tunis, der auf seinen Reisen kamen für ein halbes Jahr zum Beten und hier war und gegen seine verbohrten zum Streiten: „Vorbei“, sagt der Kritiker Zeitgenossen wetterte.“ Es gab Zeiten, Angawi: „Der Wahhabismus ist in der Re- in denen sich die Konfessionen des Islam ligion, was Bin Laden im Bauwesen ist: so spinnefeind waren, dass sie nicht der Architekt, der Statiker, der Bauherr, einmal miteinander beteten. Und dann gab es Zeiten, in denen eine Gruppe so der Entscheider – alles in einem.“ Angawis Thesen kratzen an der Staats- dominierte, dass alle anderen das Weite räson des Königreichs. Hohe Regierungs- suchen mussten. Das Pendel in der heiligen Stadt beamte lächeln gequält, wenn sein Name fällt. Der ehemalige Pilger- und Kultur- schwang immer zwischen Einheit und minister Ijad Madani setzt dagegen, es Vielfalt hin und her. Bakaders Vorfahren müsse über Einheit und Vielfalt im Islam kamen, wie die Bin Ladens, aus dem Jediskutiert werden. Denn die verloren- men; die seines ehemaligen Studenten gegangene Mannigfaltigkeit in seinem Kö- Dschamil Fallata, der die Worte des Pronigreich beschäftige auch den König und fessors gleich für die Datenbank festhält, kommen aus Westafrika: „Wir beide hier Wächter der beiden heiligen Stätten. Der Wahhabismus, sagt Madani philo- sind Mekka“, sagt der Wissenschaftler. Und beide sehen in dieser Stadt einen sophisch, habe als eine Revolution begonnen – gegen den grassierenden Aberglau- Umschlagplatz, einen Durchlauferhitzer ben, der Arabiens Hinterland vor 200 Jah- des Islam: Über Mekka sind Keramikmusren prägte. „Doch wie wir wissen, neigen ter aus Buchara nach Marrakesch gelangt, revolutionäre Bewegungen dazu, über die nigerianische Gebetsketten nach Bosnien, Jahre immer unerbittlicher zu werden indonesische Freiheitskämpfer aus den und den Menschen in eine Gussform pres- Niederlanden nach Jakarta – und die Masen zu wollen. Auch unsere Revolution laria von Indien nach Russland. „Die Puristen hatten nie wirklich eine ist immer dogmatischer geworden.“ Überraschend ist die Analogie, die ihm Chance in Mekka“, sagt Bakader. „Nieeinfällt – der Kommunismus. Ausgerech- mand kann Mekka kontrollieren.“ net die Ideologie jener zusammengebroBERNHARD ZAND D E R
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Koloss ohne Kompass Deutschlands Sonderweg in der Euro-Krise spaltet die EU-Staaten. Die einen klagen über den rigiden Kurs Berlins, die anderen über den Verrat an der gemeinsamen Idee. Einigkeit herrscht in einem Punkt: Ohne die Deutschen als Zugpferd droht der Traum von Europa zu scheitern.
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ochen ist eine Kunst. Am Hofe von Ludwig XIV. besorgte das ein gewisser François Vatel – bis er einmal nicht in der Lage war, etwas adäquat Köstliches für seine Herrschaft aufzutischen. Vatel brachte sich um. Die europäischen Staats- und Regierungschefs schließen bei ihren Gipfeltreffen Risiken von vornherein aus: Der Koch wird per Ausschreibung bestimmt, und in der Regel hat er Sterne-Niveau. Das Menü, das es am vergangenen Donnerstag im EU-Ratsgebäude am Brüsseler Schuman-Platz gab, trug eine mediterrane Note: Es gab Rote-BeteGazpacho mit Königskrabben, provenzalische Seezunge mit würzigem Erbsenpüree, schließlich mallorquinisches Hefegebäck mit Passionsfrüchten. Alles zubereitet von einem Deutschen: Gerhard Schwaiger, Sternekoch, Geschäftsführer des Nobelrestaurants Tristán auf Mallorca. Ein Zufall, sicher. Aber auch politisch dominierten die Deutschen auf der Brüsseler Bühne, wieder einmal. Die 26 anderen Staats- und Regierungschefs beugten sich der Forderung von Angela Merkel, den EU-Vertrag zu ändern, um von 2013 an einen permanenten Krisenmechanismus für die Euro-Zone einzuführen. Sie fügten, ebenfalls auf Bitten der deutschen Kanzlerin, einen Passus ein, wonach der Rettungsschirm nur aktiviert wird, „wenn dies unerlässlich ist, um die Stabilität des Euro als Ganzes zu gewährleisten“. Auch die deutsche Forderung nach einer Beteiligung privater Gläubiger im Falle einer Staatsinsolvenz wurde von der Runde abgesegnet. „Wir haben uns geeinigt“, verkündete Merkel, sichtlich zufrieden: „Das war ein guter Tag für Europa.“ So oder ähnlich sagten es, notgedrungen, auch die anderen Gipfelteilnehmer in die Mikrofone. Ruhe, Besonnenheit und Solidarität – das waren die Signale, die von diesem Gipfel ausgehen sollten, schon um die Finanzmärkte zu beruhigen, nur war die Geschlossenheit nicht viel mehr als eine Show. Hinter den Kulissen schwelte der Konflikt weiter, vor allem der Streit über gemeinsame Euro-Schuldverschreibungen. Der luxemburgische Premier JeanClaude Juncker warb noch einmal für diese Idee und bekam Zuspruch von vielen
Kanzlerin Merkel, Kollegen auf dem Gipfel in Brüssel*: „Wir haben uns geeinigt“
der Anwesenden. Sofort widersprach die Kanzlerin: Das würde Haushaltssünder belohnen und disziplinierte Staaten wie Deutschland bestrafen. * EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso, die Premierminister Sloweniens, Borut Pahor, und Portugals, José Sócrates, sowie Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy. D E R
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Nichts ist also gelöst. Je mehr sich die Krise des Euro zu einer Existenzkrise der Europäischen Union ausweitet, desto kritischer ist der Blick auf Deutschland gerichtet: auf die größte Volkswirtschaft des Kontinents und die viertgrößte weltweit. „Alles dreht sich um das Ende der deutschen Bereitschaft, Schecks auszuschrei-
JOCK FISTICK / LAIF
VICTOR R. CAIVANO / AP
WIKTOR DABKOWSKI / ACTION PRESS
ben für Länder an der europäischen Peri- niel Cohn-Bendit schimpft, dass die deut- gen und gerade mal 35 Jahre alt, kennt pherie“, urteilt der Harvard-Historiker sche Regierung ihre EU-Politik nur noch die Gründungsgeschichte der EU nur aus Niall Ferguson. Sein britischer Kollege Ti- an Boulevardblättern ausrichte. Auch Hel- den Geschichtsbüchern. Er bezeichnet mothy Garton Ash beklagt einen Mangel mut Kohl habe auf deutsche Interessen sich aber gern als überzeugten Europäer an Vision: „Heute ist viel klarer, was gepocht, das große Ganze aber nie aus und preist die deutsch-französische ZuDeutschland von Europa will, als was es den Augen verloren. „Wenn Merkel da- sammenarbeit, ohne die es „für Europa mals Kanzlerin gewesen wäre“, so Cohn- keine Grundlage“ gebe. für Europa will.“ Das klingt, als sei alles noch so wie früDeutschland ist nicht mehr die Loko- Bendit, „hätte es die Einigung Europas her – wie unter den Kanzlern Adenauer, motive bei der europäischen Integration, nicht gegeben.“ An der Haltung gegenüber Berlin schei- Schmidt oder Kohl und den Präsidenten die es lange Zeit gewesen war, soll das besagen. Immer mehr Länder hatten sich den sich die Geister. Es gibt versöhnliche de Gaulle, Giscard und Mitterrand. Auch in den letzten Jahrzehnten dem Eini- Signale aus Paris und brennende Deutsch- Merkel hatte sich nach der Vereidigung für ihre zweite Amtszeit zuerst auf den gungsprozess angeschlossen, weil sie darWeg nach Paris gemacht, erst dann war in einen Weg zu gemeinsamem Wohlsie nach Washington und Brüssel gereist. stand in Frieden und Freiheit sahen. Nicolas Sarkozy aber, den jetzigen HausDie Europäische Staatengemeinschaft, herrn im Elysée-Palast, treiben derzeit einst vor allem von Frankreich herbeigeweniger die Probleme Europas um als insehnt, um die Furien des europäischen nenpolitische Reparaturarbeiten. Nationalismus zu zähmen, steht vor einer Allein die Tatsache, dass Wauquiez binBelastungsprobe – einer, die alte Ängste nen vier Jahren schon das vierte Regiewachruft. rungsmitglied auf diesem Posten ist, Es war Jean Monnet, Spross eines Coweckt Zweifel an dem Wert, den Paris gnac-Händlers, der 1950 den Plan entwarf, der deutsch-französischen Verbindung die westeuropäische Schwerindustrie zur Montanunion zusammenzuschließen, aus Bundeskanzlerin Merkel hat sich „aus der beimisst. Immerhin: Nach der Zeit der Missverständnisse, Vorwürfe und Anfeinder sich die Europäische Union entwickelEuropa-Avantgarde verabschiedet“. dungen pflegen beide Seiten jetzt einen te. Paris wollte sich so vor deutscher Wirtschaftsmacht und politischer Revanche Guy Verhofstadt, früherer Premierminister Belgiens pragmatischen Umgang miteinander. Berlin macht sich nicht mehr über den hyschützen; Kanzler Konrad Adenauer peraktiven Franzosen lustig. Und Paris konnte auf diesem Weg die internationale mokiert sich nicht mehr über Angela MerIsolierung Deutschlands durchbrechen. kel als biedere Bedenkenträgerin. Monnet, der als „Vater Europas“ gilt, Die EU-Rettungsaktion für Griechenwollte alle Länder in einen Superstaat land und Irland hat Franzosen und Deutüberführen, „ohne dass die Bevölkerung sche näher zusammenrücken lassen. versteht, was geschieht. Dies kann schrittPlötzlich gilt die Berliner Sparpolitik in weise geschehen, jeweils unter einem Paris nicht mehr als Ausdruck unsolidariwirtschaftlichen Vorwand“. Ganz in diescher Knauserigkeit, sondern als Modell sem Sinne handelten später offenbar die auch für Frankreich. Finanzminister WolfVäter des Euro: Das neue Geld wurde gang Schäuble wird von der Zeitung „Les zum Vehikel, die EU eine Währungs-, Echos“ mit dem „Großen Wirtschaftsaber keine Wirtschafts- und schon gar Wichtig sei, „dass Deutschland aktiv an nicht eine politische Union. Und so übereinem stärker geeinten Europa arbeitet“. preis“ ausgezeichnet, und der frühere EUKommissionspräsident und sozialistische fordert die jetzige Finanzkrise den KonFinanzminister Jacques Delors verkündet: tinent und den Koloss EU. Elena Salgado, Finanzministerin Spaniens „Wir bedürfen der Tugenden und der StärFührt die Euro-Krise 2010 auch zu einer ke Deutschlands.“ Existenzkrise der Union? Droht in ihrem Geradezu vorbildlich, heißt es im ElySog statt eines europäischen Deutschsée, sei die Zusammenarbeit bei der Retlands ein deutsches Europa? Will der tung Irlands gelaufen: Erst hätten sich Prälangjährige Zahlmeister sich zum Zuchtsident und Kanzlerin geeinigt, dann sei meister der Gemeinschaft aufschwingen? der Kurs mit den Brüsseler Instanzen abGanz Europa sieht in diesen Tagen gestimmt worden, und schließlich habe nach Berlin – weil es sich den Euro-Bonds man die anderen Europäer an Bord geverweigert, private Gläubiger an Staatsholt. Als „europäische G-2“ wird die Eninsolvenzen beteiligen will und Szenarien tente in Paris verkauft, als Weg von der für ein Ende der bisherigen Währungs„bilateralen Initiative zur kollektiven Dyunion diskutiert. „Diese Art, in Europa Tabuzonen zu errichten und sich gar nicht „Wer nur das innenpolitische Logbuch sieht, namik“ (Wauquiez). Beim Gipfel letzte Woche stand Sarkomit den Ideen anderer zu beschäftigen, kann Europa auf dem Atlas nicht finden.“ zy in Sachen Euro-Bonds treu zu Merkel – ist eine sehr uneuropäische Art, euro„mit Argumenten, die wie ein Direktpäische Geschäfte zu erledigen“, klagte Jean-Claude Juncker, Premierminister Luxemburgs import aus Deutschland wirkten“, stellte der Luxemburger Juncker. Auch wenn auf dem Weihnachtsgipfel land-Fahnen in Athen, schneidende Kri- der regierungsnahe „Figaro“ verwundert von Brüssel jetzt Frieden angesagt war: tiker wie die Spanier, Skeptiker wie die fest. Offenbar setze sich „das Recht des Es hagelt weiter Kritik. Ein hochrangiger Italiener und die solidarischen Skandi- Stärkeren durch“. Dahinter steckt innenpolitisches Kalkül. Sarkozy, in einem hisBeamter der EU-Kommission erregt sich, navier. Laurent Wauquiez, frischernannter Mi- torischen Umfragetief angelangt, will sein dass „in Berlin Europapolitik in den letzten Jahren hauptsächlich als ein nister für Europafragen in Paris, damit Image durch staatsmännischen Glanz aufKampf gegen Brüssel aufgefasst“ wurde. im Außenministerium auch Kontaktmann polieren, an der Seite von „chère AngeUnd der grüne Europaparlamentarier Da- für die deutsch-französischen Beziehun- la“. Neben seiner Rolle als Vorsitzender D E R
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schen Kanzler Helmut Kohl, und der bezog den jungen Spanier in die deutschfranzösische Achse ein. Es war ein Geben und Nehmen: Kohl half beim Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft 1986, González unterstützte bedingungslos die deutschen Pläne in Sachen Wiedervereinigung und Währungsunion. Der Bundeskanzler sorgte in Brüssel für die Erhöhung der Zahlungen aus den Strukturfonds für Spanien, González befürwortete die Osterweiterung. Sein konservativer Nachfolger Aznar störte das bilaterale Verhältnis empfindlich. Selbst als 2004 wieder ein Sozialist in den Moncloa-Palast einzog, blieben die
„Ich kann nur warnen vor einem Machtanspruch, der Überheblichkeit ausdrückt.“ Jean Asselborn, Außenminister Luxemburgs
VANDEVILLE ERIC / LAIF
der G-20- wie der G-8-Staaten würde er zu gern auch tonangebend in der deutschfranzösischen Zusammenarbeit sein. Bisher hatte er damit aber keinen Erfolg. Denn ob Schuldenfrage, Haushaltsdefizit oder Wirtschaftsbilanz – Frankreichs Medien blicken mit Anerkennung und Neid auf das deutsche Wachstumswunder. Die Vorstellung von einem gleichberechtigten Bündnis zwischen Paris und Berlin sei unter diesen Bedingungen absurd, stellt das Nachrichtenmagazin „Marianne“ fest: „Wenn man von einem deutsch-französischen Tandem spricht, ist mehr als klar – die Deutschen sitzen am Lenker, die Franzosen treten in die Pedale.“ Auch von den Spaniern wurden die Deutschen einst geachtet, in Umfragen schnitten sie stets als die beliebtesten Europäer ab, weit vor den französischen Nachbarn oder den Briten. Aber damit ist es nun vorbei und nicht erst, seit sich Berlin gegen die Euro-Bonds sperrt. Der Unmut schwelt seit Anfang Mai, Äußerungen deutscher Politiker über eine dringend nötige Rettung Spaniens hatten damals die Märkte in Aufruhr versetzt. Eine Analyse des Königlichen Elcano Instituts, einer privaten Stiftung für internationale Studien, wirft der konservativen Presse in Deutschland gar eine Hetzkampagne gegen die Wirtschaftskraft des iberischen Landes vor. „Spanien und Deutschland scheinen jetzt so weit voneinander entfernt wie nie zuvor in den vergangenen 50 Jahren“, schließt Javier Noya, der Autor der Studie. Es ist die Geschichte einer zerbrochenen Beziehung. José Ignacio Torreblanca, Europaexperte des European Council on Foreign Relations in Madrid, beschreibt das Zerwürfnis mit einem Bild: Deutschland habe sich – wie der griechische Mythen-Held Odysseus – am Mast Europas festbinden lassen, über 40 Jahre lang. „Jetzt haben die Sirenen des Calvinismus gesungen, und Deutschland hat beschlossen, sich vom Mast zu lösen und ein neues Schiff zu suchen.“ Torreblanca hat in Kommentaren für die Tageszeitung „El País“ häufig über Deutschland geschrieben. In den Jahren des Übergangs zur Demokratie, nach dem Tod des Diktators Francisco Franco, war die Bundesrepublik das große Vorbild für Spanien – etwa bei der Überwindung des faschistischen Regimes oder der Annahme der neuen Verfassung von 1978, die dem föderalen Modell Deutschlands ähnelt. Aber auch das Streben, die eigene Identität über die europäische Integration zu definieren, hat den Spaniern imponiert. So waren sie 2005 die Ersten, die per Referendum den Entwurf einer europäischen Verfassung annahmen. Es folgte eine Phase, die Torreblanca als Partnerschaft sieht. Der sozialistische Ministerpräsident Felipe González verbündete sich mit dem christdemokrati-
„Mir liegt viel daran zu verstehen, welche Interessen Deutschland vertritt.“ Romano Prodi, früherer italienischer Premier
Beziehungen kühl. „Die politischen und psychologischen Brücken sind gesprengt“, sagt Torreblanca. José Luís Rodríguez Zapatero sei zu passiv geblieben, besonders seit in Berlin Merkel regiert. Oft genug in diesem Krisenjahr hat die Madrider Regierung sich von den „inkompetenten Kommentaren“ deutscher Politiker zur europäischen Schuldenkrise (Finanzministerin Elena Salgado) brüskiert gefühlt. Die Verbitterung sitzt tief, die Spanier erwarten von den reichen Deutschen mehr Solidarität. Als die deutsche Wirtschaft stagnierte, so der PolitoD E R
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loge José Fernández Albertos aus Barcelona, habe die Europäische Zentralbank Deutschland und damit auch anderen niedrige Zinsen garantiert. Dies habe in den südlichen Ländern Europas erst zu höherer privater Verschuldung und Immobilienblasen geführt. Spanien und Irland hätten den Stabilitätspakt weit weniger oft gebrochen als Berlin und Paris. „Eine mächtige Koalition aus deutscher Regierung, Bundesbank, Verfassungsgericht und der kriegerischen öffentlichen Meinung“ blockiere jetzt die Rettung durch eine expansivere Finanzpolitik in Europa, sagt Fernández. Halte Deutschland an seinen egoistischen Prinzipien fest, hinge die Zukunft des Euro von der Opferbereitschaft der Länder an Europas Peripherie ab – und die müssten dann mit Arbeitslosigkeit und Nullwachstum den deutschen Wohlstand bezahlen. Die Italiener haben einen anderen Blick. In Rom galt Merkel bislang als Kanzlerin, die all das kann, was Berlusconi nicht gelingt: Sie ist glaubwürdig und ehrlich, die Italiener bewundern sie für ihre Ernsthaftigkeit und dafür, nicht sich selbst zu dienen, sondern ihrem Staat und dem Volk. Dass sie Erfolg hat mit ihrer Wirtschaftspolitik, entnehmen sie den Berichten über den deutschen Aufschwung, sie staunen über die schwindenden Arbeitslosenzahlen. Während der anhaltenden Regierungskrise um Premier Silvio Berlusconi vergeht keine Parlamentsdebatte, in der die Opposition nicht Vergleiche mit Deutschland bemüht: Warum macht uns die Krise so zu schaffen? Föderalismus, Kurzarbeit, Reformen – warum gelingt das in Berlin und nicht uns? Seit den deutschen Alleingängen in der EU jedoch scheint Merkel den Italienern unheimlich, ja sogar zur Bedrohung geworden zu sein, plötzlich ist sie wieder die „Eisenharte“, die Sittenwächterin. „Rigore tedesco“, deutsche Strenge, wird ihr vorgehalten, ja sogar Erpressung. Italiener wollen sich von den Deutschen nicht diktieren lassen, wie sie ihren Haushalt zu sanieren haben. Wie andere Länder beugen auch sie sich den Vorschlägen zur Lösung der Euro-Krise, aber sie mögen nicht das neue, selbstbewusste Auftreten der Deutschen. Es ist der Ton, der sie nervt. Dahinter steckt vor allem der Minderwertigkeitskomplex des – gemessen an seiner Wirtschaftskraft – zweitgrößten Schuldnerlandes Europas und die Angst vor Deutschland, das sich lieber an Franzosen und Briten hält. Italien war Gründungsmitglied der EU, aber es spielt keine Rolle mehr in Brüssel. Spanien oder EUNeuzugänge wie Polen haben jetzt mehr Gewicht. Das wissen die Italiener, und sie leiden darunter. Aber es gibt auch Länder in Europa, in denen Kritik an den Deutschen, wenn überhaupt, nur dezent vorgetragen wird –
wie Schweden und Finnland. Die Erklä- jetzt internationale Ökonomie an der rung ist einfach, und sie zeigt zugleich, schwedischen Universität Kalmar lehrt: warum europäische Integration so schwie- „Es fehlt das positive Vorausdenken“. rig ist. Die Interessen von Schweden und Warum könne die Bundesregierung nicht Finnen sind mit denen der Deutschen fast ein Sondertreffen in Berlin arrangieren, identisch. Beide Nordländer haben in den um Zeichen zu setzen, wie es weitergehe vergangenen Jahren immer wieder Über- mit dem Euro? schüsse erwirtschaftet, ihre Handels- und Aber es dreht sich ja eben nicht alles Exportbilanzen sind meist positiv. Sie ha- nur um finanztechnische Fragen: Das EUben bereits in den neunziger Jahren ihre Projekt an sich steht auf dem Spiel. Ein Haushalte durch harte Reformen saniert Projekt, das über Jahrzehnte zum Erfolgsund sind ebenso wie die Deutschen ex- modell geworden ist und Deutschland in portorientiert. der Mitte Europas verankert hat. Gleichzeitig pochen alle Nordländer Die Rückbesinnung auf nationale Interauf nationale Eigenständigkeiten, ganz essen, im EU-Verbund bislang Vorrecht besonders Dänemark und Schweden, bei- von Franzosen und Briten, fällt bei de nicht Mitglied der Euro-Zone. Deutschland besonders ins Gewicht, weil Finnlands Finanzminister Jyrki Katai- die vertrauten Bekenntnisse zur europäinen äußert sich nach dem deutsch-fran- schen Idee rar geworden sind. Die Genezösischen Drängen auf einen neuen Euro- ration der Luftwaffenhelfer oder RésisKrisenmechanismus zurückhaltend. Ein tance-Kämpfer in den Regierungen beid-
müsse in der aktuellen Weltwirtschaftskrise „akzeptieren, dass sich jede Regierung zunächst einmal für die Wahrung ihrer eigenen Anliegen und der ihrer Bürger engagiert“. Berlin könne es, zusammen mit Frankreich, den anderen Mitgliedsländern ohnehin nicht recht machen. Einige Staatenlenker, so kritisiert dagegen der ehemalige Kommissions-Vizepräsident Günter Verheugen mit Blick auf Deutschland und Frankreich, hätten ihren europäischen Kompass verloren. Es fehle an „politischer Führung, die das europäische Gemeinwohl vor nationalen Egoismus stellt“. Auch bei den Europapolitikern der Koalition wächst die Sorge um das Ansehen des Landes. „Wir müssen die kleinen EULänder wieder stärker einbinden“, sagt der Vorsitzende des Europa-Ausschusses im Bundestag, Gunther Krichbaum.
Alleingang der beiden Großen sei das schon und eine „ernste Angelegenheit“. Auch die Leiterin des Finnischen Instituts für internationale Fragen, Teija Tilikainen, befürchtet, dass die Vorabsprache zwischen Merkel und Sarkozy „kein Einzelfall ist, sondern zur Gewohnheit wird“. Es sei aber „sehr pädagogisch“, Schuldnern wie Griechenland Sanktionen anzudrohen, heißt es bei Banken oder in Wirtschaftsinstituten. Und auch „normal“, wenn Deutschland seine eigenen Interessen in der Union vertrete, sagt ein hoher Beamter des finnischen Finanzministeriums. Das besondere Gewicht der großen Länder sei Teil der Demokratie: „Kleine Länder können nicht den gleichen Einfluss haben wie die großen.“ Ist also alles nur ein Sturm im Wasserglas? Nein, sagt Hubert Fromlet, der lange Chefökonom der Swedbank war und
„Wenn diese sich als Komparsen behandelt fühlen, darf man sich über manche Reaktion nicht wundern.“ Die deutsche Europapolitik müsse den Partnern zudem besser erklärt werden. Das ist eine Ansicht, die in der Umgebung von Kanzlerin Merkel nur bedingt geteilt wird. Die kritischen Reaktionen aus dem Ausland müsse man aushalten, heißt es dort. Es ist die Position, die auch Merkel vertritt. Im Auswärtigen Amt aber sorgt vor allem Merkels Sprache und die ihrer Mitarbeiter für Unmut. Westerwelles Diplomaten ärgert, dass Merkel auch zu kleinen Gesten gegenüber den Partnern nicht bereit sei. Im Kanzleramt seien Krämer am Werk, sagen sie. Es fehle eine Idee von Europa.
seits des Rheins ist nicht mehr im Amt. Und das Europa von unten krankt daran, dass nun jene den Ton angeben, die niemals an Grenzbalken und Wechselstuben haltgemacht haben. Der Unmut über das Brüsseler Gezänk überwiegt die Freude über ein zunehmend grenzenloses und trotz allem prosperierendes Europa. In Berlin macht sich niemand Illusionen über das Image, das Deutschland derzeit in Europa hat. „Das DeutschlandBild hat sich durch die Haltung zur Bewältigung der Euro-Finanzkrise in einigen EU-Mitgliedstaaten nochmals deutlich verschlechtert“, hieß es bereits im Juli in einer Analyse der Europa-Abteilung des Auswärtigen Amts. Was aber tun, wenn sich nicht einmal die Deutschen einig sind, wie dem abzuhelfen ist? Günther Oettinger, deutscher EU-Kommissar für Energie, sagt, man D E R
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FIONA EHLERS, MANFRED ERTEL, WALTER MAYR, RALF NEUKIRCH, CHRISTOPH SCHULT, STEFAN SIMONS, HELENE ZUBER
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I TA L I E N
Politik in der Südkurve Premier Silvio Berlusconi scheint unabwählbar, die Opposition gelähmt. Außerhalb des Parlaments, auf der Straße, wächst der Zorn über die unhaltbaren Zustände.
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auch Politiker eine moralische Erneuerung ihres Landes forderten. Wie sie ihren Wertekatalog verlasen, mit Sätzen wie „Wer Italien regiert, muss anständig sein“, es klang wie ein Abgesang auf Berlusconi. Im Innern des Palazzo Montecitorio, in der Wandelhalle des Parlaments, „Transatlantico“ genannt, weil sie aussieht wie das Deck eines Kreuzfahrtschiffes im Fin de siècle, wurde indessen hinter vorgehaltener Hand über die Abfindungen für Überläufer getuschelt. Bis zu einer halben Million Euro soll man den Abtrünnigen versprochen haben oder irgendeinen hohen Posten. Staatsanwälte haben inzwischen Ermittlungen wegen der mutmaßlichen Bestechung aufgenommen.
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s war, als hätten sie etwas geahnt. gebastelten Rauchbomben die VeranstalAls müssten sie sich vor der Welt tung störten. Bilder der Straßenschlacht dort draußen schützen, sich abkap- von Rom gingen um die Welt. Tränengas, seln vor den Menschen und ihren Nöten, Rauchwolken, ausgebrannte Polizeiwaum drinnen im Palast weitermachen zu gen, 124 verletzte Polizisten, 110 verletzte können wie bisher. In den frühen Mor- Demonstranten. Es sah aus wie das Ende genstunden, die Abgeordneten hatten der Demokratie, aber das wäre eine zu noch nicht einmal Platz genommen unter dem Deckenfries, da zogen Hundertschaften bewaffneter Polizisten vor das Parlament im Palazzo Montecitorio. Gepanzerte Polizeifahrzeuge machten aus Roms historischer Altstadt ein Sperrgebiet, niemand durfte hinein, auf den Dächern standen Scharfschützen. Die Politik verschanzte sich im Palazzo, draußen versammelten sich wütende Italiener. Zwei Welten prallten da am vergangenen Dienstag aufeinander: Die italienische Politik war mit sich selbst beschäftigt, wie immer, sie spielte ihr abgekartetes Spiel und amüsierte sich königlich. Die andere Welt, die der Italiener, war fassungslos, sie wollte nicht glauben, was im Palazzo vor sich ging. Die Abgeordneten wurden zu Statisten einer unwürdigen PolitShow, mit einem Verräter, wie Berlusconi seinen Herausforderer, Gianfranco Fini, nannte, der nun ein Verlierer ist, weil er Verräter in den eigenen Reihen hatte. Und mit Dauer-Premier Silvio Berlusconi, der an diesem Tag zum 38. Mal die Vertrauensfrage stellte und es wieder einmal schaffte. „Ein Premier Berlusconi, Demonstrationen in Rom am vergangenen Dienstag: „Italien erwacht aus dem Koma, Überlebender, kein Gewinner“, Das Misstrauensvotum war dann nur schrieb der „Corriere della Sera“. Sel- schnelle, zu oberflächliche Erklärung in ten war Politik so weit entfernt von der diesem skandalerprobten Land. Italiens noch ein vulgärer Abklatsch von Politik, Demokratie existiert, sie ist lebendiger der Montecitorio glich einer ZirkusRealität. Die Italiener sind die Dauerpropagan- denn je. Nicht in den Institutionen der manege: Drei hochschwangere Abgeordda ihres Premiers leid: die Beteuerungen, Politik – aber auf der Straße, im Internet nete kamen ins Parlament, eine davon es gebe keine Krise, alles laufe bestens. und, man mag es kaum für möglich hal- im Rollstuhl, ein Tattergreis erhielt Szenenapplaus, einfach nur, weil er gekomAus dem ganzen Land waren sie ange- ten, im italienischen Fernsehen. Vier Wochen lang lief auf Rai 3 sehr men war. Fini, der Kammerpräsident, reist, um Berlusconi das Misstrauen auszusprechen, von unten, mit Transparen- erfolgreich die Sendung „Vieni via con verkündete das Wahlergebnis, die hauchten und Sprechchören. Seit Monaten tun me“, zu deutsch „Komm, gehe fort mit dünne Mehrheit für Berlusconi: 314 zu sie das, sie gehen auf die Straße in Nea- mir“, erfolgreicher, als es den Machern 311 Stimmen. Er war kaum zu verstehen pel, wo wieder die Müllberge brennen, des Staatsfernsehens lieb war. Zum im Tumult, dann zog er ab, allein. Luca Telese, 40, ein kleiner, vorlauter besetzen kaputtgesparte Universitäten in Schluss zahlten sie den Darstellern keine Honorare mehr. Doch elf Millionen Italiener mit Ziegenbart, hatte da schon Florenz und Bari. Die Demonstranten waren friedlich an Italiener konnten sich nicht sattsehen, längst die Zuschauertribüne verlassen, er diesem Tag. Bis ein paar hundert Ver- wie der Anti-Mafia-Kämpfer Roberto Sa- hatte Wichtigeres vor. Als er vor den Parmummte mit Schlagstöcken und selbst- viano, der Komiker Roberto Begnini und lamentspalast trat, brannten Autos in den 102
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Und doch bleibt die Frage – warum hat es Berlusconi schon wieder geschafft? Noch einmal den Kopf aus der Schlinge gezogen, als sein politisches Ende so gut wie feststand, noch einmal seine Gegner vorgeführt? Es gibt viele Erklärungsversuche, seit Jahren schon, und doch ist die Frage nicht beantwortet, warum die Mehrheit von 60 Millionen Italienern immer wieder diesen Mann wählt. Warum sich bei den Linken keine Alternative gehalten hat, keiner, der es besser machen konnte? Fini, „der Verräter“, ist geschasst, er hat bewiesen, dass er nicht die Statur hat, gegen Berlusconi zu gewinnen. Nichi Vendola, erfolgreicher Präsident von Apulien, ist schwul und zu intellektuell für die Italiener. Finanzminister Giulio
da dieser Versuch eines Aufruhrs. Italien, heißt es, sei ein altes Land, auf jung geschminkt, wie der Premier, aber voller Angst vor Wandel und Neuerung. Es stimmt, dieses alte Italien existiert, das Land der Komödianten und Trickser, bestaunt und belächelt in ganz Europa. Aber es gibt zaghafte Ansätze der Erneuerung, junge Italiener, die wieder an eine längst totgesagte Zivilgesellschaft glauben und Selbsthilfegruppen gründen. Die keinen „pizzo“, kein Erpressungsgeld, mehr an die Mafia zahlen und Netzzeitungen lesen, um etwas über die wahren Zustände in diesem Land zu erfahren. Italien kann sich Müdigkeit nicht leisten. Darum geht es in diesen Tagen. Laura Garavini, 44, Italienerin mit deutschem Pass und Abgeordnete der Demokratischen Partei, ist die Frage, warum es Berlusconi immer wieder schafft, leid. Man müsse sich einfach vorstellen, Angela Merkel würden die ARD, Sat.1, RTL, der SPIEGEL und der „Stern“ gehören. Berlusconis Medienmacht, das sei die Antwort. Auch Garavini saß am vergangenen Dienstag im Parlament, sie sagt, sie habe sich wie in der „curva sud“, der Südkurve in Roms Fußballstadion, gefühlt. Sie habe sich geschämt wegen des erkauften Wahlsiegs. Garavini ist Vorsitzende ihrer Partei im Anti-Mafia-Ausschuss, sie will nicht länger Teil dieser korrupten Politikersippe sein, sie will endlich arbeiten, Gesetze auf den Weg bringen. Fünf Tage nach dem Aufruhr sieht es nicht mehr nach Bürgerkrieg aus in Rom, die Bankautomaten spucken wieder Geld aus, die Autowracks sind abgeschleppt. Italien hat sich erst einmal selbst repariert, aber wie lange wird es dazu noch in der Lage sein? Verzweifelt kämpft Gianfranco Fini nun um sein politisches Überleben, zwei Tage nach der Wahl hat er den „Pol für die Nation“ mit gegründet, ein neues Oppositionsbündnis aus etwa 80 Parlamentariern. Ist sie das, die vielbeschworene Alternative für mögliche Neuwahlen in drei Monaten, im März 2011? Bekommt er nun doch noch eine Chance? Oder wird Silvio Berlusconi bis dahin wieder einzelne Abgeordnete überzeugen können, für ihn zu stimmen? „Ich befürchte, ihr werdet mich noch zweieinhalb Jahre aushalten müssen“, sagte der Ende vergangener Woche zu europäischen Kollegen. Gleich im Januar wird das Verfassungsgericht über die Aufhebung von Berlusconis Immunität entscheiden. Der Premier ist optimistisch, dass er auch das überstehen wird. FIONA EHLERS ALESSANDRA TARANTINO / AP
Straßen. Telese hat bei Berlusconis Hofblatt „Il Giornale“ gelernt, er war mutig, fiel auf und wurde gefeuert. Heute ist er einer der bekanntesten Blogger Italiens, ein Star, nicht apathisch oder desinteressiert. Ein italienischer Demokrat. Seine Arbeit nennt er „Selbstverteidigung“, seine Anhänger lieben ihn dafür. Täglich dreht er ein Video-Tagebuch zur Krise, das „Diario della crisi“. Er drehte in Pisa, wo Studenten den schiefen Turm besetzten, bei Arbeitslosen in Mailand und in Italiens traurigster Stadt: Neapel im Müll. Er hat den Reformstau im Land beschrieben, die vom Premier zurechtgebogenen Immunitätsgesetze, die horrenden Staatsschulden, den Sparkurs bei Kulturdenkmälern wie Pompeji. Es ist ein Tagebuch der Wut. Telese be-
wir sollten stolz sein“
richtet aus beiden Welten, aus der Politik und von der Piazza, er sieht sich als Vermittler. An diesem Tag rannte der Blogger die Via del Corso hinunter zur Piazza del Popolo, Hubschrauber kreisten über seinem Kopf, Rauchschwaden verdunkelten den Himmel. An ihm vorbei zogen Verletzte, Verhaftete, er stand dazwischen und sprach in sein Mikrofon: „Mein heutiges Tagebuch endet im Chaos. In der totalen Krise, die der politischen Institutionen und die auf der Straße, sie sind voller Tränengas und Blut.“ Später sagt er: „Ein schrecklicher Tag. Aber ich spüre neue Energie. Italien erwacht aus dem Koma, wir sollten stolz sein.“
Tremonti zu beschäftigt, er muss Italien retten, die gigantischen Schulden bezwingen, die Euro-Krise aushalten. Umberto Eco hat gesagt, nicht nur Menschen, auch Länder seien manchmal krank und dass er Italien gute Besserung wünsche. Berlusconi ist krank, das sagt auch seine, inzwischen von ihm getrennte Frau – aber ist es auch das Land? Italien ist ein Labor, Europa kann hier lernen, was aus einem Land wird, das nicht rechtzeitig für frisches Personal gesorgt hat. Was passiert, wenn junge Menschen nicht mehr an ihre Zukunft glauben. Bei Berlusconis Wiederwahl 2008 ist Rom ruhig geblieben, keine Hupkonzerte, niemand regte sich auf. Jetzt aber war D E R
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Ausland
Blutspuren im gelben Haus Hashim Thaçi, soeben Sieger bei der Parlamentswahl, soll in den Handel mit Organen Ermordeter verwickelt gewesen sein. Er ist ein Günstling Washingtons.
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ie Todgeweihten bekamen genug zu essen und durften schlafen, so lange sie wollten, berichten die Zeugen. Auch sollen sich ihre Bewacher von der Kosovo-Befreiungsarmee (UÇK) mit Prügeln zurückgehalten haben. Doch eines Tages sei ein Arzt in das gelbgestrichene Haus am Ende der Hauptstraße von Rribe, einem Dorf in den Hügeln Nordalbaniens, gekommen. Er habe die Gefangenen untersucht und Blutproben genommen. „Zeugenaussagen belegen glaubwürdig und übereinstimmend, dass die Gefangenen getötet wurden, üblicherweise durch einen Kopfschuss, bevor man sie zur Entnahme eines oder mehrerer Organe operierte“, heißt es in einem nun vorgelegten Bericht des Schweizer Europaratsabgeordneten Dick Marty über die angeblichen Machenschaften der UÇK. „Wir stellten fest, dass es um einen Handel mit ,Kadaver-Nieren‘ ging, das heißt: Die Nieren wurden postum entnommen.“ Zusammengefasst lauten Martys Vorwürfe: Die Befreiungsarmee hat nach dem Ende des Nato-Bombardements 1999 rund 500 Menschen aus dem Kosovo entführt, die meisten waren Serben. Sie wurden eingesperrt, misshandelt und viele von ihnen ermordet. Und einige Gefangene wurden getötet, um ihre Organe zu verkaufen. Der Westen habe von diesen Ungeheuerlichkeiten gewusst, doch nichts dagegen unternommen, behauptet Marty. „Die internationalen Akteure haben sich entschieden, die Augen vor den Kriegsverbrechen der Kosovo-Befreiungsarmee zu verschließen.“ Nur so sei es der UÇK gelungen, das Uno-Protektorat Kosovo in eine Drehscheibe für den Drogen-, Waffen- und Menschenhandel zu verwandeln. Pate des kriminellen Imperiums soll der von den USA protegierte ehemalige UÇK-Führer Hashim Thaçi gewesen sein, der Martys Vorwürfe zurückweist und nun mit Verleumdungsklage droht. Vorvergangenes Wochenende siegte der 42Jährige bei einer umstrittenen Wahl. Er wird wohl erneut Ministerpräsident des Kosovo werden. Thaçi, so der Bericht, sei der Kopf der „Drenica-Gruppe“, einer „kleinen, aber unglaublich mächtigen kri104
minellen Organisation“, die aus der UÇK hervorgegangen sei. Kosovos amtierender Ministerpräsident schloss sich in den neunziger Jahren als Student dem radikalen Flügel der Unabhängigkeitsbewegung für das Kosovo an. 1995 ging er ins Schweizer Exil, hielt aber stets Kontakt zur Heimat, wo er half, die UÇK mit aufzubauen. Im Februar 1999 zwangen Amerikaner und Europäer Serben und Kosovo-Albaner im französischen Rambouillet an den Verhandlungstisch. Auf keinen Fall sollte sich in der mehrheitlich von Albanern bewohnten Provinz ein ethnisches Massaker wie in Bosnien wiederholen. Thaçis politisches Gewicht war inzwischen so gewachsen, dass er bei den Gesprächen in
sie ein „brillantes Potential“ zuschrieb. Rugova, so sahen es die Amerikaner, hatte viel von seinem Rückhalt bei der Bevölkerung eingebüßt. Die UÇK, deren Führer sich bis heute damit brüsten, die „wahren Bodentruppen“ der Nato im Kosovo-Krieg gewesen zu sein, schien ihnen besser geeignet, für stabile Verhältnisse zu sorgen. UÇK-Mann Thaçi galt ihnen, das ist den nun veröffentlichten Botschaftsberichten zu entnehmen, als respektabler Politiker, dem sie einen Beitrag zur „Konsolidierung der Demokratie“ zutrauten. Als Veteran des Befreiungskampfes würde es ihm viel leichter fallen, irgendwann auf die im Kosovo verbliebenen Serben zuzugehen, heißt es in einer Depesche vom 11. September 2001. Thaçis UÇK war von Anfang an Widerstandsbewegung und Mafia-Organisation zugleich. Ein geheimer Bericht des Bundesnachrichtendienstes wies schon 2005 ehemaligen UÇK-Größen in der Provinz Mafia-Kontakte nach und beschrieb Thaçi als „Key-Player“. Doch das ignorierten Washington und die EU: Zu groß war die Angst, die internationale Schutztruppe könnte in Kämpfe mit der Mafia gezogen werden, wenn sie gegen die Gangster vorgehen würde. Dem US-Kongress war ohnehin schwer zu erklären, warum Amerikas Soldaten in der winzigen Balkanprovinz im Einsatz waren, und auch die europäische Öffentlichkeit sah das Engagement im Kosovo kritisch. Denn die Nato-Jets hatten ihre Bomben ohne Erlaubnis der Uno abgeworfen. Die Erste, die über die Gräueltaten von Rribe schrieb und auch auf die fahrlässige Kosovo-Politik des Westens hinwies, war Carla Del Ponte, die frühere Chefanklägerin des UnoKriegsverbrecher-Tribunals für Ex-Jugoslawien. Sie sei „betroffen und schockiert“, viele der Details nun im Bericht von Marty wiederzufinden, sagte sie. Tatsächlich hatte bereits 2004 eine Gruppe von Ermittlern das Grundstück hinter dem „gelben Haus“ von Rribe besucht und dort Spritzen und anderes medizinisches Material gefunden. Auf dem Fußboden im Erdgeschoss entdeckten sie Blutspuren. Das habe nichts zu bedeuten, sagte damals ein Bewohner des „gelben Hauses“. „Wir haben nur Tiere geschlachtet.“ AP (O.); HAZIR REKA / REUTERS (U.)
KOSOVO
UÇK-Mann und Politiker Thaçi*
„Brillantes Potential“
Rambouillet Ibrahim Rugova, die Symbolfigur des gewaltlosen Widerstands der Kosovo-Albaner gegen die Serben, ausstechen konnte. Den Amerikanern passte das. Rugova, der sanfte Intellektuelle mit dem weißen Seidenschal, sei ihr immer wie „ein exzentrischer Akademiker“ vorgekommen, so die damalige US-Außenministerin Madeleine Albright. Viel lieber traf sie sich zu Vier-Augen-Gesprächen mit Thaçi, dem * Oben: als UÇK-Verhandler 1999; unten: auf einer Wahlveranstaltung am 10. Dezember. D E R
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JAN PUHL
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M EXI KO
Unter Narcos Seit vier Jahren versucht die Regierung, die Macht der Drogenkartelle zu brechen, die Armee geht systematisch gegen deren Bosse vor. Doch das Land versinkt in Gewalt. Von Mathieu von Rohr
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vana García floh nicht, als zwei Geköpfte vor dem Rathaus lagen, und sie blieb auch, als eine Leiche ohne Arme und Beine auf dem Platz im Stadtzentrum hing. Aber als der Krieg ausbrach auf der Straße vor ihrem Haus, als Söldner der Drogenkartelle mit Kalaschnikows aus gepanzerten Wagen feuerten, sich stundenlange Scharmützel um Häuser lieferten, als läge Ciudad Mier nicht an der Grenze zu den USA, sondern in Afghanistan, da blieb ihr nur die Flucht. Fast alle, die hier gelebt hatten, verließen die Stadt, rund 6000 Menschen. Sie packten ihre Habseligkeiten, ließen ihre Häuser zurück, es war ja niemand da, der sie hätte beschützen können, kein Staat, keine Armee. Ciudad Mier war ein unauffälliges mexikanisches Nest gewesen, ein paar rechtwinklig angelegte Straßenzüge, ein koloniales Stadtzentrum, gelegen am Rio Grande, an der Grenze zu den USA. Nun ist es im ganzen Land bekannt als Geisterstadt, als einer dieser symbolischen Orte, von denen es so viele gibt in Mexiko. Alle erzählen sie auf ihre Weise die Geschichte eines Staates, der in Gewalt versinkt. Da ist Ciudad Juárez, mit mehr als 3000 Morden in diesem Jahr die gewalttätigste Stadt der Welt. In Acapulco, dem Touristenort, bekriegen Banden sich auf offener Straße. Im Dorf Praxedis wurde eine 20Jährige Polizeichefin, niemand anderer traute sich. Und auf einer Ranch im Norden schoss ein 77-jähriger Mann vier der Killer nieder, die nach ihm geschickt worden waren, bevor die restlichen ihn töteten. Er wurde als Held gefeiert. Mexiko ist ein Land der Schreckensnachrichten. In den vergangenen vier Jahren starben 29 000 Menschen im Drogenkrieg, im vorigen Jahr verdoppelte sich die Zahl der Auftragsmorde auf knapp 12 000. Ungeheuerliche 98 Prozent aller Verbrechen bleiben ungesühnt. Es ist vier Jahre her, dass Präsident Felipe Calderón ins Amt kam und versprach, die Drogenkartelle zu besiegen, diese Multimilliarden-Unternehmen, die die USA beliefern, den größten Drogenmarkt der Welt, mit Kokain, Crystal Meth, Heroin, Marihuana. Calderón mobilisierte für seinen Kampf 45 000 Soldaten und Bundespolizisten. Er konnte auf niemanden sonst 106
vertrauen, nicht auf die Polizei, die Gou- sanfte Stimme, Brille, grauer Vollbart. verneure. Die Armee ist alles, was er hat. „Wer das Gesetz bricht, büßt nicht. DesUnd ja, es gab spektakuläre Festnah- wegen glauben viele, der ehrliche Weg men seither, berühmte Bosse wurden fest- bringe nichts. Wir Mexikaner sind in der genommen oder niedergeschossen, ver- Hölle, das ist sicher, ich weiß nur nicht, gangene Woche starb der Anführer des in welchem Höllenkreis wir gerade sind.“ Kartells „La Familia“. Aber sind die Drogenkartelle dadurch schwächer geworn einem heißen Tag im Spätnovemden? Es gibt wenig, was dafürspricht. ber hat sich Ivana García zurückgeViele Bürger sahen die Exzesse der Ge- wagt nach Ciudad Mier, das erste Mal seit walt zu Beginn als notwendiges Übel. ihrer Flucht. Sie geht durch die menschenDoch seit kurzem lehnt in Umfragen eine leeren Straßen der Stadt, die einmal die Mehrheit die Strategie der Regierung ab. ihre war, eine Frau in Jeans, 34, sie trägt Die Zeitungen sind voller Berichte über goldene Ohrringe und eine Handtasche Entführungen, Erpressungen und Enthaup- aus Plastik. Die Armee hat ihr den Auftungen. Es gibt Blogs, die sich auf Handy- trag erteilt zu zählen, wer hier noch Fotos von abgetrennten Gliedmaßen spe- wohnt, aber es gibt nicht viel zu zählen. zialisiert haben. Sie haben ihr 700 Pesos geboten pro Es ist leicht, sich ein Bild zu verschaffen Woche, 42 Euro, und weil sie die Wuchervon der Grausamkeit, mit der dieser miete für die Wohnung im Nachbarort Krieg ausgetragen wird. Aber es ist zahlen muss, hat sie ja gesagt, obwohl sie schwer zu verstehen, warum die Gewalt Angst hat. nicht aufhört, was ihre Ursachen sind und Sie sind drei junge Frauen, sie gehen wie ihr begegnet werden könnte. von Haus zu Haus und klopfen an Türen, Mit einer Legalisierung der Drogen, die niemand öffnet. Die wenigen Menwie manche Experten fordern, mit mehr schen, die sie antreffen, konnten sich die Grenzkontrollen? Mit einer neuen Polizei, Flucht nicht leisten oder sind sehr alt. In einer Reform des Staates? Soll man die Klarsichtmappen tragen die Frauen ForKartelle einfach wieder in Ruhe lassen? mulare mit sich: „Durchschnittliches EinDas sind die Fragen, die Mexiko sich im kommen?“ – „Ihre Meinung zur UnsicherJahr 2010 stellt, im 200. Jahr nach dem heit?“ Es ist der unbeholfene Versuch des Beginn des Unabhängigkeitskriegs. Der Staates zu zeigen, dass es ihn noch gibt. Filmemacher Luis Estrada hat seiner Zwei Dutzend Soldaten folgen ihnen, Heimat zum Jubiläum einen bitteren Film zu Fuß, auf Pick-ups mit Maschinengegeschenkt: „El Infierno“, die Hölle. Das wehren, sie sichern die Straßen. An kaum Porträt einer Welt, in der es nur Narcos, einem Haus gehen sie vorbei, das ohne Huren und Korruption gibt. Einschusslöcher ist. Verhungernde Hunde „Wir haben ein nationales Problem, schleichen über die Schotterpisten. und das heißt Straflosigkeit“, sagt Estrada, Im Nachbarort leben immer noch 400 Menschen in einem Flüchtlingslager, seit San Diego mehr als vier Wochen, und die meisten Tijuana ARIZONA NEW MEXICO wollen nicht zurückkehren. Sie sagen, die U SA Armee werde abziehen, in ein paar WoCiudad Juárez chen, in ein paar Monaten. Dann werde TEXAS alles wieder von vorn beginnen. Ciudad Mier liegt im Bundesstaat TaM E X I KO Ciudad maulipas, der hier nur ein schmaler Mier Grenzstreifen zu Texas ist. Es ist eine jeMonterrey Culiacán ner Gegenden, die manche Experten mit Nuevo einem „failed state“ vergleichen. Sinaloa León Einer von ihnen, Edgardo Buscaglia, Fachmann für Drogenkriminalität, arbeiTamaulipas tet gerade in Kandahar, am Telefon sagt er, er wolle nicht länger von der „KolumMexiko-Stadt bianisierung“ Mexikos reden, denn „es 300 km gibt inzwischen Gegenden in einigen Bun-
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JANET JARMAN / DER SPIEGEL CARLOS JASSO / AP
Armeepatrouille in der von der Bevölkerung verlassenen Stadt Ciudad Mier: Der Staat will zeigen, dass es ihn noch gibt
Mordopfer am Stadtrand von Monterrey: Ein Schock für die reichen Bürger, als die Banden auch auf ihren Straßen kämpften D E R
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Ausland Gittern und gezwirbelten Säulen. Ihre Besitzer ergriffen die Flucht, als es zum Bruch mit dem Golfkartell kam. Sie leben heute in den USA oder in Mexiko-City. Es war ein Triumphzug, als das Golfkartell am 22. Februar die Stadt einnahm. Eine Kolonne von 60 SUVs und Pick-ups fuhr in Ciudad Mier ein, auf den Ladeflächen schwerbewaffnete Kämpfer. Sie töteten fünf Polizisten, die für die Zetas gearbeitet hatten, köpften einen Polizeichef und eine Dealerin und legten die Überreste auf dem Dorfplatz aus. Danach, sagen die Bewohner, seien die Neuen aber nett gewesen. Sie hätten auf der Straße gegrüßt, anders als die Zetas. Doch es war nicht vorbei. Mitte Oktober fand Ivana García einen toten Zeta-Kämpfer auf der Straße. Sie hatte ihn noch nie
DARIO LEON / AFP
desstaaten, die mich eher an das erinnern, was ich hier in Afghanistan sehe“. Rund zwölf Prozent des mexikanischen Territoriums werden von Narcos, Drogenhändlern, kontrolliert. In weiten Teilen von Tamaulipas und dem südlichen Nuevo León, zwei Bundesstaaten im Nordosten, gibt es keine Polizisten und keine Bürgermeister mehr, sie sind geflohen oder tot, auf den Straßen stehen Checkpoints der Narcos. Die beiden Drogenkartelle, die sich in Tamaulipas bekämpfen, waren bis vor einem Jahr Verbündete: das Golfkartell und sein paramilitärischer Arm, die Zetas. Das Wort Drogenkrieg ist hier nicht nur eine Metapher für eine Serie von Bandenmorden wie in Ciudad Juárez. Es steht für fast militärische Gewalt zwi-
Armee-Einsatz gegen Drogenkartell: Die einzige Institution, die nicht korrupt ist
gesehen, es musste ein Söldner von außerhalb sein, ein junger Mann in einer kakaobraunen Hose, mit muskulösem Oberkörper. Er lag in einer Blutlache. Am 2. November kehrten die Zetas zum Rathaus von Ciudad Mier, der Geis- rück, in 40 schwergepanzerten Geländeterstadt, steht der Bürgermeister, ein wagen, aus denen Gewehrläufe ragten. parfümierter Mann mit offenem Hemd. Es begann eine Schlacht, die Tage und Er könne kein Interview geben, sagt er, Nächte dauerte, zum Auszug der Bewohsonst – er zieht einen Finger über den ner führte und zur Ankunft der Armee. Die Soldaten, die hinter Ivana García Hals seines Gegenübers, um zu verandurch Ciudad Mier pirschen, halten ihre schaulichen, was ihm drohe. Seine Bürger wollen reden, aber ihren Waffen bereit, als könne jeden AugenNamen nicht nennen. Drogenschmuggel blick jemand auf sie schießen. Sie stürgab es immer hier, sagen sie, die Zetas men Häuser, die verdächtig scheinen. Der hatten seit je die Macht. In einem Ort, in vermummte Kommandant sagt, er wisse dem es für junge Männer kaum Arbeit nicht, ob alle Banditen vertrieben wurgab, lockten sie mit schnellem Geld, Koks den. Die Regierung von Tamaulipas hat die Bevölkerung aufgerufen, zurückzuund den schönsten Mädchen. Noch immer stehen hier die Villen im kehren in ihre Häuser, die Stadt sei sicher. ornamentalen Narco-Stil, mit vergoldeten Am Ende ihres ersten Arbeitstages hat
schen Kartellen, die Heere von jugendlichen „Sicarios“, von Killern, ins Feld schicken, oft besser ausgerüstet als die Armee.
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Ivana García sechs bewohnte Häuser gezählt.
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s gibt kaum ein Geschäft in der Welt, das so viel Geld einbringt wie der Drogenhandel. 72 Milliarden Dollar werden jährlich damit umgesetzt, schätzt die Uno. Von allen Drogen ist Kokain die profitabelste. In Kolumbien kostet Kokainpaste 800 Dollar pro Kilo, in Chicago zahlt ein Käufer 100 Dollar pro Gramm – das heißt, der Preis steigt auf der Reise um 12 400 Prozent. Schätzungsweise 192 Tonnen schmuggeln die mexikanischen Kartelle jedes Jahr in die USA. Sieben Drogenkartelle gibt es in Mexiko, und sie betreiben ihre Geschäfte in wechselnden Allianzen. Aber fast alle haben ihren Ursprung im Bundesstaat Sinaloa an der Westküste des Landes, der Wiege der Narcos. Es ist die Heimat von Joaquín Guzmán, genannt El Chapo, Anführer des Sinaloa-Kartells. Er ist der schillerndste Drogenboss der Welt, was man auch daran sieht, dass das Magazin „Forbes“ ihn auf seiner Liste der reichsten Menschen der Welt führt, obwohl keiner seinen Kontostand kennt. Culiacán, die Hauptstadt von Sinaloa, ist das Rotterdam des Kokainhandels, der Ort, an dem die Preise festgelegt werden. Es liegt zwischen dem Pazifischen Ozean und den grünen Hügelzügen der Sierra, in denen die Bauern Marihuana und Mohn anbauen. Es ist eine freundliche Stadt mit weiß getünchten Häusern, 600 000 Einwohner, doch Culiacán steht in der Liste der Städte mit den meisten Morden hinter Ciudad Juárez auf dem zweiten Platz. Seit zwei Jahren kämpft der Drogenboss El Chapo hier gegen seine früheren Verbündeten, die Brüder Beltrán Leyva. Es ist ein Krieg der Könige, und wenn Elmer Mendoza, der Schriftsteller, diese Geschichte erzählt, klingt sie wie eine griechische Tragödie. Elmer Mendoza, 61, ist ein bärtiger Mann mit weicher Stimme, geboren in Culiacán, wo seine Kriminalromane spielen. Er schildert diese Welt so nah, dass manche ihm vorwerfen, ein Narco-Schriftsteller zu sein. „Seit ich Kind war, habe ich ihre Legenden gehört“, sagt er. „Diese Leute hatten größere Häuser, die schönsten Mädchen, manche gar ein Lied zu ihren Ehren.“ Es gibt in Sinaloa einen Heiligen der Narcos, Jesús Malverde, einen Robin Hood, der von den Reichen nahm und den Armen gab. Für viele Leute ist der Chapo sein Wiedergänger, ein Volksheld. Elmer Mendoza sagt, er finde schlimm, was mit seinem Land geschehe. „Doch als Autor bewundere ich Leute, die Außergewöhnliches leisten. Hat es nicht etwas Episches, eine Ladung Kokain von Medellín nach Los Angeles zu bringen?“ Der Familienkrieg, der von Culiacán ausging und aufs halbe Land übergriff, begann am 21. Januar 2008, als der Drogenboss Alfredo Beltrán Leyva, genannt Mo-
chomo, von der Armee verhaftet wurde, in einem Haus im Viertel Tierra Blanca. Hatte der Chapo ihn verraten? Das glaubten die Beltrán Leyva. Sie holten Söldner in die Stadt, Zetas, und begannen alle zu töten, die für ihn arbeiteten, Polizisten, Richter, Politiker, Journalisten. Die Menschen hätten geglaubt, der Chapo werde sie retten, doch dann erschossen die Zetas einen seiner Söhne, auf dem Parkplatz eines Shopping-Centers. „Die Leute begannen an ihrem Helden zu zweifeln. Sie spürten Angst“, sagt er. „Ist das nicht schön, rein literarisch? “ Elmer Mendoza steht auf dem Friedhof von Culiacán, der letzten Ruhestätte der Narcos. Es ist eine Totenstadt aus Marmor und runden Kuppeln, genannt Jardines del Humaya, so groß wie mehrere Fußballfelder, und sie wächst immer weiter, überall wird gebaut und begraben. Hier liegen sie alle wieder beieinander, die Bosse und ihre Gegner, ihre Kinder und die 18-jährigen Killer, die sich am Ende ihres zu kurzen Lebens wenigstens etwas Prunk leisten konnten. Die überlebensgroßen Porträts von jungen Männern mit harten Gesichtszügen hängen in zehn Meter hohen Mausoleen, daneben Bilder ihrer Freundinnen und ihrer Waffen. Nirgends in Culiacán ist die Macht der Drogenkartelle so spürbar wie hier. Dies
ist ihre Tempelstadt, und wer ihre Totenruhe stört, muss nicht lange warten, bis er selbst Todesdrohungen bekommt von den Spähern und den Wachen.
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arum sitzt El Chapo, der mächtigste aller Bosse, nicht im Gefängnis, sondern seit Jahren in seinem Versteck? Weil der Staat unfähig ist? Oder weil er ein Kartell protegiert? Es gibt viele ernstzunehmende Leute, die sich sicher sind, dass die Regierung
„Hat es nicht etwas Episches, eine Ladung Kokain von Medellín nach Los Angeles zu bringen?“ mit dem Drogenboss ein Abkommen habe. Manche glauben, sie wolle das Problem der Gewalt lösen, indem sie den Drogenhandel einem Kartell überlasse. In einem neu erschienenen Buch schreibt die investigative Journalistin Anabel Hernandez, Präsident Vicente Fox habe dem Chapo 2001 gegen 20 Millionen Dollar die Flucht aus einem Hochsicherheitsgefängnis gestattet. Die Regierung Calderón kenne seinen Aufenthaltsort, doch statt ihn zu verhaften, schalte sie seine Feinde aus. Es gibt viele Gerüchte in Mexiko und viele Verschwörungstheorien, und vielleicht ist das Bemerkenswerteste daran,
was die Menschen ihrem Staat alles zutrauen. Das Vertrauen in die Institutionen ist gering, und sie sind schwach. Erst seit 10 Jahren ist Mexiko eine wirkliche Demokratie, 70 Jahre lang herrschte eine Staatspartei, die Partei der Institutionalisierten Revolution. Sie protegierte das organisierte Verbrechen und hielt es zugleich in Schranken. Präsident Calderón sagte den Kartellen zwar den Kampf an, doch ihm fehlten die Mittel. Die Polizei ist auf fast allen Ebenen korrupt, in Gemeinden sogar oft identisch mit dem herrschenden Kartell, deswegen werden auch so viele Beamte ermordet. Das Justizsystem gilt als genauso korrupt, die Staatsanwälte sind abhängig von der Politik, die meisten Fälle gelangen nie zur Anklage, weil sie verschlampt werden oder Angeklagte sich freikaufen. Die Armee ist die einzige Institution, der Calderón vertrauen kann. Aber die Geschichte von Ciudad Mier zeigt, wie wenig sie auszurichten vermag. Soldaten können ein Territorium besetzen. Sie können aber nicht ermitteln, nicht die Strukturen eines Kartells durchdringen. Man müsse sich ein Kartell vorstellen wie ein Logistikunternehmen mit einem militärischen Arm, sagt der Sicherheitsberater Alberto Islas. Anstatt die Strukturen unter die Lupe zu nehmen, liefere sich der Staat Scharmützel mit 18-jährigen Fußsoldaten.
Ausland mit Sicherheit wissen – etwa ob der Staat mit einem Kartell kooperiere oder nicht. Es gibt viele Leute, die sich nach einfachen Lösungen sehnen. Die glauben, man könne zurückkehren zu den Zeiten, als man die Kartelle gewähren ließ. Selbst Politiker sagen in Hintergrundgesprächen, das Problem sei der Konsum in den USA, man müsse einfach nur Marihuana legalisieren. Dabei sind die Kartelle in bis zu 22 Typen von Verbrechen verwickelt – darunter Filmpiraterie, Menschenhandel, Erpressung. Vanda Felbab-Brown vom Think-Tank „Brookings Institution“ in Washington sagt, es sei zwar unvermeidbar gewesen, die Armee zu involvieren, doch wichtig sei es nun, endlich eine funktionierende Polizei aufzubauen. Es gibt zwar Pläne für eine nationale Polizeireform, aber sie kommen nur langsam voran.
den Kartellen, das schnell zu Ende sein kann. Es gibt viele Ideen, aber wer soll sie umsetzen?
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JANET JARMAN / DER SPIEGEL
Der Staat hat kaum funktionierende Ermittlungsbehörden. Die entscheidenden Informationen erhält Mexiko von USDiensten, etwa der Drogenermittlungsbehörde DEA. Die USA informieren die Armee über den Aufenthaltsort von Drogenbossen, die mexikanischen Soldaten nehmen sie gefangen oder töten sie. Diese „Enthauptungsstrategie“ führt zwar zu Erfolgsmeldungen, doch nicht zum Erfolg. Die Kartelle ersetzen ihre Anführer rasch. Der massive Einsatz der Armee ist auch eine Gefahr für die Gesellschaft: Im ganzen Land werden den Soldaten Hunderte Fälle von Menschenrechtsverletzungen und Folter vorgeworfen, sogar Morde. Kritiker sagen, die große Zahl von Militäroperationen sei überhaupt erst für die Gewalt verantwortlich, weil sie Verteilungskämpfe auslösten.
Narco-Friedhof in Culiacán: Ein wenig Prunk am Ende eines zu kurzen Lebens
Die eigentlichen Probleme Mexikos kann die Armee nicht lösen: die Armut, die fehlende Bildung, die Schwäche des Staates. Die meisten Experten sind sich einig, was Mexiko machen müsste, um sich zu befreien. Die Frage ist nur, ob jemand die politische Kraft hat, es zu tun. Das Land sei weit davon entfernt, eine demokratisch gefestigte Gesellschaft zu sein, sagt Luís Astorga, Sozialwissenschaftler in Mexiko-City, und die große Aufgabe sei, einen Rechtsstaat zu schaffen, der so stark ist, dass er der Macht und dem Geld der Kartelle widerstehen kann. Dafür brauche es einen politischen Willen über alle Parteien hinweg. Aber Vertreter jeder der drei großen Parteien hätten ihre Hände im Drogengeschäft. Solange es keine unabhängigen Richter gebe, sagt Astorga, werde man nie etwas 110
Edgardo Buscaglia, der Fachmann für Drogenkriminalität, hat mit einem Team 17 Länder untersucht, die erfolgreich das organisierte Verbrechen bekämpft haben. Er sagt, alle hätten die gleichen vier wichtigen Schritte unternommen. Es brauche erstens eine Reform des Justizwesens. Zweitens: Gesetze gegen die Korruption in der Politik, denn 70 Prozent aller Wahlkämpfe im Land würden teilweise mit Drogengeldern finanziert. Drittens müsse Mexiko die Gelder untersuchen, die vom Drogengeschäft in die Wirtschaft fließen – 78 Prozent der mexikanischen Wirtschaft hätten Verbindungen zu den Drogenkartellen. Und viertens: Sozialprogramme für die Jugend, wie es in Kolumbien Medellín vorgemacht hat. Sie sollen andere Perspektiven aufzeigen als ein Leben bei D E R
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avier Treviño, der Vizegouverneur von Nuevo León, hat einen Plan, der aus vielen Powerpoint-Folien besteht. Er soll Monterrey, seine Stadt, und seinen Bundesstaat befreien von der Gewalt. Treviño, ein kleiner Mann mit Schnurrbart und Brille, spricht Englisch mit amerikanischem Akzent, er hat in Harvard studiert, war Diplomat und danach in der Privatwirtschaft, bis er in die Politik zurückkehrte. Er ist einer der wenigen Menschen in Mexiko, die den Glauben an die Gestaltungsmacht der Politik noch nicht verloren haben. Vielleicht ist es auch eine Frage der Ehre für Monterrey, die reichste Stadt Mexikos. Sie liegt im Nordosten des Landes, 140 Kilometer südlich der US-Grenze, zu drei Seiten umgeben von Bergen, eine amerikanisch wirkende Stadt mit neuen Türmen aus Glas und Marmor. Sie beherbergt viele der wichtigsten Unternehmen des Landes. Es war ein Schock für ihre wohlhabenden Bürger, als zu Beginn dieses Jahres plötzlich Kämpfer der Zetas und des Golfkartells auf ihren Straßen aufeinander schossen. Der Kampf, der auch in Ciudad Mier ausgetragen wurde, fand nun mitten in der Wirtschaftsmetropole statt, die immer immun war gegen die Unordnung im Rest Mexikos. Viele der Reichen verließen Monterrey oder gar das Land, der Verleger der wichtigsten mexikanischen Zeitung floh nach Dallas. Javier Treviño ist stolz auf die 29 Folien seiner Präsentation, er führt sie jedem Besucher vor. Sein Plan sieht all die Dinge vor, die die Think-Tanks fordern: Sozialprogramme, eine Justiz- und Strafrechtsreform. Der Staat Nuevo León hat außerdem eine Einheitspolizei gegründet, die endlich sauber und effektiv sein soll. Die Polizisten sollen regelmäßig Lügendetektortests absolvieren, sie sollen so gut bezahlt werden, dass sie nicht mehr auf Bestechungsgelder angewiesen sind, und Stipendien für ihre Kinder bekommen. Nuevo León soll ein Vorbild werden für ganz Mexiko, sagt Treviño. Es ist ein gut klingender Plan. Es könnte sogar klappen, man weiß es nicht. Es gäbe dann immerhin einen Bundesstaat in Mexiko mit einer funktionierenden Polizei. Javier Treviño will den Anfang machen, er will die Institutionen stärken und damit die Gesellschaft. Und von wo aus sollte das gelingen, wenn nicht von Monterrey, der modernsten Stadt des Landes? Er klickt weiter, die nächste Folie zeigt das Straßennetz des Staates, zwei der fünf Hauptverkehrsachsen in den Norden sind dunkelrot markiert, das heißt, sie sind sicher befahrbar. Das Ziel für 2011 sei, sagt er, auch die drei anderen sicher zu machen.
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Tannen für die Welt Global Village: In den Bergen Georgiens riskieren Familienväter ihr Leben, um Deutschland mit Weihnachtsbäumen zu versorgen.
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DMITRY BELIAKOV / DER SPIEGEL
or der Tür des Backsteinhauses kommen sie einen Lari, das sind umge- le und Gurte nicht leisten. Und die Aufsteht ein rostiger Lada, daneben rechnet 42 Cent. In einer guten Saison käufer stellen den Zapfensammlern keine stellt Dato Tschichardse einen Plas- bringt Dato 1000 Euro nach Haus, vier- Ausrüstung zur Verfügung, die Nächstentikkanister ab. Er hat gerade Wasser aus mal so viel, wie er und seine Frau, auch liebe hat auch im Weihnachtsgeschäft klar dem nahen Fluss geholt. Das Leben hier sie Lehrerin, zusammen monatlich ver- umrissene Grenzen. Die Nutzungsrechte für die Planquaoben in den Bergen ist einfach und ent- dienen. behrungsreich. Der Lohn für die strapaziösen Zwölf- drate in den georgischen Wäldern sind Dato ist Lehrer von Beruf, der 44-Jähri- Stunden-Tage, die harzverschmierten auch unter internationalen Investoren ge unterrichtet an der Dorfschule, er hat Hände und ein zerkratztes Gesicht, ist so umkämpft, die Lizenzen werden auf AukGlück, er gehört damit zu den 22 der 300 verlockend, dass Hunderte Wanderar- tionen versteigert und, so heißt es, nach Einwohner Tlugis, die eine Festanstellung beiter zur Ernte nach Ambrolauri kom- Mafia-Methoden vergeben. Viele dänische Baumschulen arbeihaben, wenn auch eine schlecht bezahlte. men. Für Dato und seine Kollegen ist das Jedes Jahr im September aber, drei Mo- nicht gut, die Fremden drücken die Kilo- ten mit den Georgiern, auch in Datos Holzschuppen hängt das weiße Schild nate vor Weihnachten, machen sich Dato preise. einer dänischen Firma. Eine und die anderen Männer von ihnen will nun die polides Dorfes auf, um dazuzutisch korrekte Tanne züchverdienen. Dann gehen sie ten, „einen Weihnachtsin die Wälder des abgelegebaum, den europäische nen Mittelgebirges nahe der Familien mit reinem GewisKleinstadt Ambrolauri, um sen in ihre Wohnungen stelTannenzapfen zu pflücken, len können“, wie „Fair Samen für die reichen EuroTrees“-Gründerin Marianpäer, die unter gutgewachne Bols sagt. Sie will „mehr senen Nordmann-Tannen Transparenz im WeihWeihnachten feiern wollen. nachtsbaumgeschäft“, eine Aus Tlugi und den ansozial verantwortliche Proderen Dörfern im Nordosduktion und bessere Arten Georgiens kommt weit beitsbedingungen für die mehr als die Hälfte aller Georgier. Samen, aus denen dann Für die „gerechten Tanspäter unter anderem deutnen“ hat die dänische Orsche, dänische und britische ganisation in der Region Weihnachtsbäume wachmehr als ein Dutzend Sisen. Die georgischen Tancherheitsausrüstungen vernensamen gelten als besonteilt und Kranken- und Leders hochwertig, mit ihnen bensversicherungen für 30 lassen sich haltbare, stattliZapfenpflücker abgeschlosche Bäume mit weichen Na- Zapfenpflücker Tschichardse: „Andere machen riesige Gewinne“ sen. Noch aber wird es deln züchten. Zwei Milliarden Euro werden im WeihSie alle setzen dabei ihre eigene Ge- einige Zeit dauern, bis die erste „Fairnachtsbaumgeschäft in Europa jedes Jahr sundheit, manchmal sogar ihr Leben aufs Trade-Tanne“ aus Georgien auf den umgesetzt, 700 Millionen waren es im Spiel. Denn die Zapfen wachsen nur in Markt kommt: Erst in sieben bis zehn vergangenen Jahr allein in Deutschland. den Wipfeln, die höchsten Bäume sind Jahren sind aus den Setzlingen Weihnachtsbäume geworden. Es ist ein hart umkämpfter Markt, und 30 Meter hoch. Dato glaubt, dass „etwas falsch läuft ohne georgische Tannenzapfen wäre dort „Ich bin so oft abgerutscht, dass ich es nicht so viel Geld zu verdienen. nicht mehr zählen kann“, sagt Dato. Ein- in der Welt, wenn wir in Armut leben Für ein Kilogramm Nordmann-Tannen- mal hat er sich dabei eine Rippe gebro- und andere riesige Gewinne machen“. In samen werden zwischen sieben und zehn chen, vor acht Jahren verlor er seinen diesem Jahr will er seiner Frau zu WeihKilo Zapfen benötigt. Georgische Zwi- Freund Schora bei der Ernte. „Sein Bru- nachten ein Parfum schenken, er wird es schenhändler verkaufen das Kilo für rund der stand abends bei uns in der Tür, vol- im sieben Autostunden entfernten Tiflis 25 Euro an ausländische Firmen weiter. ler Sorge, weil Schora nicht zurückge- kaufen. Dort, in den neuen Luxusläden In Europa wird es dann für mehr als 100 kommen war“, sagt Dato. Am nächsten der Hauptstadt, gibt es seit kurzem aus Euro gehandelt, das ist das 50-fache von Morgen fanden sie ihn tot unter einer Dänemark importierte „Abies nordmanniana“, Nordmann-Tannen aus georgiDatos ursprünglichem Lohn. Tanne. Ein Serpentinenweg führt den Berg Danach kam Datos Frau beinahe um schen Samen. Ein zwei Meter hoher Baum kostet umhinauf zu dem Holzschuppen, an dem vor Angst, es könnte auch ihren Mann Dato und die anderen Zapfenpflücker zur erwischen. Er kaufte sich eine Sicher- gerechnet 125 Euro, doppelt so viel wie Erntezeit Abend für Abend ihre Ausbeu- heitsausrüstung. Die meisten Tannen- auf manchen deutschen Weihnachtsbaumte abliefern. Für zwei Kilo Zapfen be- kletterer aber können sich die teuren Sei- märkten. MATTHIAS SCHEPP 112
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Sport
Szene
SPORTPOLITIK
Lösung im Beitragsstreit
IRAN
Ausgespähte Fußballer
I
m Streit um die massive Erhöhung der Pflichtbeiträge, die Proficlubs zur gesetzlichen Unfallversicherung ihrer Sportler an die Verwaltungs-Berufsgenossenschaft (VBG) zahlen müssen, hat das Bundesarbeitsministerium dem Druck der Sportverbände nachgegeben. Im Juli hatte die VBG angekündigt, die Beitragssätze um bis zu 100 Prozent anzuheben. Ausgenommen davon sollten nur Berufsfußballer sein, deren Tarife anders berechnet werden. Nach Verhandlungen zwischen Vertretern des Bundesarbeitsministeriums, das die VBG beaufsichtigt, und dem Deutschen Olympischen Sportbund einigten sich beide Seiten Mitte voriger Woche darauf, dass die Beiträge allenfalls moderat steigen werden. „Die zukünftige Belastung der Vereine wird deutlich begrenzt“, sagte Andreas Storm, Staatssekretär im Arbeitsministerium. Nach Auskunft der Behörde ist es sogar möglich, dass es bei den bisherigen Beitragssätzen bleibt – dafür müsse „nochmals genau gerechnet und Rücksprache mit der Berufsgenossenschaft gehalten werden“. Gegen die angekündigte Verdoppelung der Beiträge hatten viele Sportvereine protestiert, so auch der Dresdner SC, dessen Frauenteam in der Volleyball-Bundesliga spielt. So zahlt die DSC Volleyball GmbH bislang jährlich 52 000 Euro, das sind etwa sechs Prozent des Etats. Eine Anhebung auf jährlich über 100 000 Euro wäre nach Meinung von Jörg Dittrich, dem Chef der Volleyball-Abteilung des Clubs, „ein Desaster und eine echte Gefahr“ für das Team.
EXTREMSPORT
„Was soll der Käse?“ Ausdauersportler Uwe Schiwon, 48, über Grenzerfahrungen beim längsten Triathlon seines Lebens SPIEGEL: Sie haben sich bei der Weltmeisterschaft im mexikanischen Monterrey durch einen 20fachen Triathlon gequält. Das sind 76 Kilometer Schwimmen, 3600 Kilometer Radfahren und 844 Kilometer Laufen. Wie geht es Ihnen nach dieser Tortur? Schiwon: Wie nach einer schweren Erkältung. Mein Kreislauf braucht noch Erholung, ich komme ziemlich schnell aus der Puste. Ich habe fünf Blasen am Fuß, aber die verheilen langsam. Und ich fahre schon wieder mit dem Rad zur Arbeit. SPIEGEL: Nach 20 Tagen, 11 Stunden und 26 Minuten kamen Sie als Zweiter
ins Ziel. Hat Ihr Körper während des Wettkampfs rebelliert? Schiwon: Ich war vernünftig und habe öfters kleine Pausen eingelegt. Nachts habe ich mir im Schnitt fünf Stunden Schlaf gegönnt. Meinen Körper konnte ich immer weiter antreiben, der Kopf war das größere Problem. SPIEGEL: Haben Sie ans Aufhören gedacht? Schiwon: Natürlich. Ich habe mich irgendwann gefragt: Was soll der ganze Käse? Doch den Gedanken habe ich dann schnell beiseitegeschoben. Immerhin habe ich ein ganzes Jahr für den Wettbewerb trainiert. Ich wollte es durchziehen. SPIEGEL: Warum tut ein vernünftiger Mensch sich solche Qualen an? Schiwon: Ich mag es, meine Grenzen zu verschieben, denn in Extremsituationen lernt man sich besser kennen. Außerdem schätze ich jetzt die Kleinigkeiten des Alltags. Nach zehn Tagen im Fahrradsattel fühlt sich das Wohnzimmersofa an wie der Himmel. D E R
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EIBNER-PRESSEFOTO / PICTURE-ALLIANCE / DPA
er iranische Geheimdienst soll Dossiers über die bedeutendsten Fußballer des Landes angelegt haben. Dies berichteten US-Diplomaten im Juni 2009 in einer vertraulichen Depesche an das US-Außenministerium in Washington. Nach ihrer Einschätzung würden die meisten iranischen Nationalspieler „privat die Reformkräfte unterstützen“, seien aber „vorsichtig, um keine politischen Grenzlinien zu überschreiten“. In dem Bericht, der in der US-Botschaft in Abu Dhabi verfasst wurde, beschrei- Fußballfans im Teheraner Azadi-Stadion 2004 ben die Analysten detailliert, wie Präsident Mahmud Ahmadine- machen. Zudem soll Ahmadinedschad dschad nach ihren Erkenntnissen die nach einer Niederlage gegen SaudiPopularität des Nationalteams für sei- Arabien im März 2009 „persönlich in ne politischen Zwecke instrumentali- die Entlassung des Trainers Ali Daei siert und wie er sich in Teambelange involviert“ gewesen sein. Das iranische einmischt. So soll der Staatspräsident Regime sei von der Sorge getrieben, im Juni 2008 „erfolgreich den Verband dass „öffentlicher Unmut“ nach Nieunter Druck gesetzt“ haben, um die derlagen des Nationalteams „zunehSuspendierung des früheren FC-Bay- mend aufgeheizte politische Demonern-Profis Ali Karimi rückgängig zu strationen befeuern“ könnte.
BERND WEISSBROD / PICTURE-ALLIANCE / DPA
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Volleyballspielerinnen des Dresdner SC 115
Sport
Torwart Bruno
Vermisste Samudio
Groupie Pittelli FELIPE DANA / AP (O.L.); MARCELO THEOBALD / AFP (O.R.); THOMAS MILZ / DER SPIEGEL (U.);
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FUSSBALL
Mord ohne Leiche Der brasilianische Torwart Bruno Fernandes de Souza wird beschuldigt, die Ermordung seiner früheren Geliebten in Auftrag gegeben zu haben. Der Prozess offenbart das zügellose Leben von Fußballstars, die in Südamerika wie Heilige verehrt werden. FC São Paulo ging sie ein und aus. Bei einer Menage à trois mit einem weiteren Spieler von Flamengo kamen Bruno und Samudio sich näher. Der Torwart sagt, er habe 15 Minuten Sex mit ihr gehabt, das Präservativ sei geplatzt. Samudio wurde schwanger. Bruninho, „kleiner Bruno“, heißt der Junge. Die Chance, dass er der Vater sei, betrage 99 Prozent, bekannte Bruno. Er habe ihr zu wenig Unterhalt im Monat bezahlt, klagte Samudio kurz nach der Geburt im Chat mit Freundinnen. Sie kam aus armen Verhältnissen, in der Liaison mit dem Keeper von Flamengo sah Samudio wohl die Chance ihres Lebens.
REUTERS
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eute nur fünf Minuten, sagt die Richterin des Strafgerichts von Contagem vor einer Sitzungspause, heute nur fünf Minuten für Filmaufnahmen und Bilder. Die Tür des Verhandlungssaals öffnet sich, und mehrere Dutzend Fotografen wie Kameraleute, die zuvor stundenlang vor dem Justizgebäude ausgeharrt haben, drängen auf einen der Angeklagten zu: einen großgewachsenen, schlanken, muskulösen Mann. Er trägt eine rote Hose und ein rotes Hemd. Sträflingskleidung. Bis vor wenigen Monaten war Bruno Fernandes das Dores de Souza, 25, genannt Bruno, einer der populärsten Fußballprofis Brasiliens. Mit seinem Club Flamengo aus Rio de Janeiro gewann der Torhüter im vorigen Dezember die Meisterschaft, er bekam sogar ein Millionenangebot des AC Mailand. Es zog ihn nichts weg aus Brasilien, hier führte er das Leben, von dem er wohl immer geträumt hatte. Doch nun muss sich Bruno vor dem Strafgericht von Contagem verantworten, einem Vorort der Millionenmetropole Belo Horizonte, seiner Heimatstadt. Die dortige Staatsanwaltschaft wirft ihm ein ungeheuerliches Verbrechen vor. Mitte dieses Jahres, so die Anklage, habe der Fußballprofi seine frühere Geliebte, die ein gemeinsames Kind zur Welt gebracht hatte, von einem Killer umbringen lassen. Die Leiche des Opfers, der 25jährigen Eliza Samudio, sollen weitere Mittäter aus dem Weg geräumt haben. Bruno beteuert seine Unschuld. Der Fall ist die südamerikanische Version des Prozesses gegen den US-Footballstar O. J. Simpson, der in den neunziger Jahren des Mordes an seiner Frau beschuldigt worden war. Wie eine Telenovela verfolgen die Brasilianer gebannt jede Wendung des Verfahrens. Vor ihnen offenbart sich das zügellose Leben von Fußballstars, die in dem Land des fünfmaligen Weltmeisters wie Heilige verehrt werden. Der Torwart Bruno lernte Eliza Samudio auf einer Fete eines Mannschaftskollegen kennen. Die junge Frau aus dem Süden Brasiliens hatte in einigen Pornofilmen mitgewirkt, nun suchte sie die Nähe zu berühmten Fußballern. Beim
Inhaftierter Fußballprofi Bruno
Vier Liebhaberinnen gleichzeitig
Sie drohte ihm mit der Presse. Einmal sorgte Samudio für einen Eklat in dem Hotel, in dem Brunos Mannschaft untergebracht war. Seit Anfang Juni ist Eliza Samudio spurlos verschwunden, zuletzt wurde sie in Brunos Wochenendhaus nahe Belo Horizonte gesehen. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass der Fußballprofi seine Geliebte umbringen ließ. Der mutmaßliche Auftragsmörder, ein früherer Polizist, soll die Leiche zerhackt und seinen Rottweilern zum Fraß vorgeworfen haben. Es ist ein monströser Fall, ein Fest für die Medien, die fast täglich berichten. Die Anwälte und die Ermittler bringt der Prozess seit Monaten an ihre Grenzen. Ercio Quaresma wirft eine Pille gegen Bluthochdruck ein, dann holt er einen D E R
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Revolver aus der Schreibtischschublade. Er werde bedroht, sagt der Anwalt und spielt mit der Waffe. Der Prozess habe ihn an den Rand eines Nervenzusammenbruchs getrieben. „Dieses Verfahren ist ein Skandal“, schnaubt er. „Kennen Sie einen Rottweiler, der Menschenfleisch frisst?“, fragt Quaresma. Straßenlärm dringt in seine Kanzlei im Zentrum von Belo Horizonte, der untersetzte Mann springt auf und gestikuliert wild mit beiden Armen. „Eigentlich müssten die Angeklagten sofort aus der Untersuchungshaft entlassen werden. Es gibt keine Indizien für ein Verbrechen.“ Quaresma hat mittlerweile nichts mehr mit dem Fall zu tun. Journalisten veröffentlichten ein Video, das ihn beim CrackRauchen in einer Kneipe zeigte. Bruno entzog Quaresma Ende November das Mandat, nachdem der Anwalt zugegeben hatte, dass er drogensüchtig sei. Es war eine von vielen überraschenden Wendungen in einem Prozess, in dem es drunter und drüber geht. Weitere Angeklagte in dem Fall behaupten, sie seien von der Polizei gefoltert und zu Falschaussagen genötigt worden. Die Version mit den Rottweilern erzählte den Ermittlern ein minderjähriger Cousin Brunos, der die Aussage mittlerweile wieder zurückgezogen hat. Aber wo soll die Leiche dann sein? Die Polizei hat die Wände des Hauses einreißen lassen, in dem Samudio umgebracht worden sein soll. Spezialisten haben Brunos Range Rover auseinandergenommen und den Mageninhalt der Rottweiler untersucht. Taucher haben Tümpel und Seen in der Umgebung von Belo Horizonte durchsucht. Doch von der Vermissten fehlt jede Spur. Der Staatsanwalt baut jetzt darauf, dass irgendeiner der Mitangeklagten die Nerven verliert. Sie kommen aus einfachen Verhältnissen, sie sind dem Rummel nicht gewachsen, Brunos Freundin sitzt meist weinend auf der Anklagebank im Gerichtssaal. Bruno stammt aus Ribeirão das Neves, dem ärmsten Vorort von Belo Horizonte. Seine Mutter hat ihn nach der Geburt verstoßen, er wuchs bei der Großmutter auf. Seinen Vater lernte er nie kennen. An 117
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Nationalspieler Adriano, weibliche Fans: Drogengeschichten und Alkoholexzesse
den Wochenenden bolzte der Junge mit Freunden auf einem Erdplatz zwischen Müllhalde und Autobahn. Ein Späher von Atlético Mineiro wurde auf ihn aufmerksam, bald stieg er zum ersten Torwart auf. Flamengo holte ihn nach Rio de Janeiro. Sein Gehalt schnellte auf 240 000 Real im Monat, über 100 000 Euro. Aus dem jungen Mann wurde ein reicher junger Mann. Flamengo ist Brasiliens beliebtester Club, jeder Provinzspieler möchte bei dem Verein in Rio landen. Aber die Schwarz-Roten sind auch berüchtigt für ihre Eskapaden. Stürmer Vágner Love ließ sich von bewaffneten Drogenhändlern zu einer Party in einer Favela eskortieren. Adriano, heute beim AS Rom, machte mit Drogengeschichten und Alkoholexzessen Schlagzeilen. Der frühere Nationalspieler Zico, Brasiliens Fußballikone der achtziger Jahre, gab jüngst nach wenigen Monaten seinen Job als Sportdirektor von Flamengo auf. „In Europa werden die Spieler mit harten Geldbußen bestraft, wenn sie über die Stränge schlagen“, sagt er. „In Brasilien gelten sie als unberührbar.“ Im südamerikanischen Fußball herrscht noch immer eine ausgeprägte Machokultur. Viele der brasilianischen Profis glauben, durch ihren Ruhm und ihren schnell verdienten Reichtum auch das Recht auf Maßlosigkeit erworben zu haben – sexuelle Affären mit möglichst vielen Frauen einzugehen gilt in ihren Kreisen als Ausweis besonderer Klasse. Der Angeklagte Bruno, auch das kam im Laufe des Verfahrens heraus, hatte zeitweise vier Liebhaberinnen. Meist ist es ein ganz bestimmter Typ von Frau, mit dem sich die Profis einlassen, im Wortschatz der Brasilianer gibt es für sie einen feststehenden Begriff: Maria Chuteira. Nach allem, was man über die ermordete Eliza Samudio weiß, war auch sie eine Maria Chuteira. Gemeint sind Groupies, die ganz gezielt die Fußballpromi118
nenz ansteuern – und die als Gegenleistung auf eine Karriere als Sängerin, Model oder Fernsehsternchen hoffen. Suzana Pittelli lenkt ihren schwarzen Ford Ecosport durch die Nacht von São Paulo, ihr Ziel sind die angesagten Bars, Clubs und Discotheken der Millionenmetropole: das O’Malley’s im Reichenviertel Jardins, das Bamboo, der Tanzclub Unha de Gato. Am liebsten ist sie sonntags und montags unterwegs, wenn die Spieler der großen Clubs frei haben. Pittelli, platinblond, nach eigenen Angaben 300 Milliliter Silikon in jeder Brust, sagt, sie habe Medizin studiert. Fremden stellt sie sich als „Sängerin und Model“ vor. Sie hat in ein paar Pornofilmen mitgespielt und war Covergirl in Männerzeitschriften. Sie tritt in Nachtclubs in
„In Europa werden die Spieler mit harten Geldbußen bestraft, in Brasilien gelten sie als unberührbar.“ ganz Brasilien auf, ihre Spezialität ist brasilianischer Funk. Die Texte sind pornografisch, ihre Hüftbewegungen sind eine ziemlich eindeutige Aufforderung zur Paarung. Es ist die Lieblingsmusik vieler brasilianischer Fußballer. Einmal hat sie sich vor versammelter Mannschaft im Stadion des FC Coritiba ausgezogen. Früher gehörte Pittelli einem Duo an, die beiden nannten sich nach ihrem Idol „Ronaldinhas“. Dreimal reiste sie dem Superstar nach Europa nach, auch bei seiner Abschiedsparty in Barcelona war sie dabei. Sie habe den früheren Weltklassestürmer sogar im Hotel besucht, es sei aber nichts passiert. Den Namen des Spielers, mit dem sie jetzt ein Verhältnis habe, möchte sie nicht nennen: Er sei nämlich verheiratet. „Ich kenne keinen Fußballprofi“, sagt Pittelli, „der nicht mehrere Frauen gleichzeitig hat.“ D E R
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Einmal sei auch sie zu einer Party des Flamengo-Torwarts Bruno eingeladen worden. 20 Männer und 12 Frauen hätten sich in seinem Wochenendhaus vergnügt, behauptet Pittelli: „Die Männer hatten zusammengelegt, jedes Mädchen bekam 1500 Real.“ Sexuelle Dienste musste sie für die umgerechnet etwa 660 Euro angeblich nicht leisten. „Sie boten eine große Summe, wenn ich mit ihnen ins Bett gehen würde, aber das habe ich ausgeschlagen.“ In ihrer Kanzlei in São Paulo sitzt Gislaine Nunes, eine korpulente Frau Mitte vierzig. Sie ist in Brasilien eine bekannte Sportanwältin, viele Fußballer verehren sie als eine Art Ersatzmutter. An den Wänden hängen Trikots mit Danksagungen ihrer Klienten. Auch Lúcio, der früher bei Hertha BSC Berlin spielte, hat ihr eine Widmung geschrieben. Nunes gilt als Krisenexpertin, ihre zwei Mobiltelefone lässt die Advokatin rund um die Uhr eingeschaltet. Sie löst die Fußballer aus Knebelverträgen der Clubs, leistet praktische Lebenshilfe. Spieler rufen sie an, wenn sie in einen Autounfall verwickelt sind oder ihre Kreditkarte gesperrt wurde. Nunes hilft auch bei den zahlreichen Problemen mit den Maria Chuteiras: Eifersucht, Geldforderungen, Erpressungsversuche, Schwangerschaften. Nunes ermahnt ihre Spieler zum Gebrauch von Präservativen, als Geschenk hat sie immer ein paar Packungen dabei. „Aber viele verzichten auf Verhütung“, sagt sie. Die Juristin glaubt, dass die Mehrheit der Maria Chuteiras professionell anschafft. „Die meisten von ihnen sind Edelprostituierte“, sagt Nunes, „und die Spieler wissen das genau.“ Die Karriere des Torwarts Bruno Fernandes de Souza ist vorbei. Vor ihrem Verschwinden soll er seine Geliebte einmal in seiner Wohnung gewürgt und gefoltert haben. Damals hatte ihn Eliza Samudio angezeigt. In diesem Fall wurde Bruno kürzlich zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt. Der Prozess im Mordfall Samudio wird wohl noch Monate weitergehen. Das Geschäft der Maria Chuteiras ist seit Beginn des Mordverfahrens eingebrochen. „Mit Fußballspielern läuft seit diesem Fall kaum noch was“, sagt Suzana Pittelli, das Profi-Groupie aus São Paulo. Viele der Kicker würden öffentliche Bars und Clubs meiden. Auch aus Angst vor selbsternannten Sittenwächtern. So haben Anhänger von Atlético Mineiro eine Hotline eingerichtet. Wer einen Spieler des Clubs bei Saufgelagen, beim Drogenkonsum oder mit Maria Chuteiras sichtet, soll den Partygänger denunzieren. Der Name des Sünders wird dann auf einer Website des Fanclubs veröffentlicht. JENS GLÜSING
Sport
WINTERSPORT
„Der olympische Geist siegt“ Michael Vesper, 58, Generaldirektor des Deutschen Olympischen Sportbundes und Ex-Grünen-Politiker, über den Widerstand gegen Olympia in München Tourismus dort würde einen gewaltigen Schub bekommen. SPIEGEL: Was Sie aber nicht so einfach wegwischen können, ist die Entscheidung Ihrer eigenen Partei gegen die Spiele auf dem Freiburger Bundesparteitag. Vesper: Ich lebe nicht nach dem Motto, die Partei hat immer recht. Schon gar nicht in diesem Fall. Da gab es nach einer emotionalen Kurzdebatte zu mitternächtlicher Stunde eine knappe relative Mehrheit gegen Olympia, bei 70 Enthaltungen. Wir hatten nicht einmal Gelegenheit, die Bewerbung darzustellen oder das Umweltkonzept zu erläutern. Unser Konzept ist ökologisch das beste, das es je bei Olympiabewerbungen gab. SPIEGEL: Also gehören Sie einer Partei von notorischen Spielverderbern an? Vesper: Zumindest hätte man mit der Haltung eines Teils meiner bayerischen Parteifreunde auch die Fußballweltmeisterschaft 2006 bekämpfen müssen, die dann zum Sommermärchen wurde. Aber ich kann Sie beruhigen, die meisten Grünen spielen gern mit. Ich vermute, dass mindestens die Hälfte der Grünen-Delegierten sich bei diesem schönen Winterwetter
FRM / DPA
ARNE DEDERT / DPA
SPIEGEL: Herr Vesper, Ihre Bewerbung für die Olympischen Winterspiele 2018 in München und Garmisch-Partenkirchen scheint unter keinem guten Stern zu stehen. Jetzt haben sich auch noch 59 Bauern und Grundbesitzer in Garmisch-Partenkirchen zusammengeschlossen, um die Spiele zu blockieren. Vesper: Dass es da offene Fragen gibt, ist nicht neu. Aber nur eine Handvoll dieser 59 Eigentümer ist überhaupt von den Planungen betroffen. Und nur ein Grundstück liegt direkt im Bereich einer Sportstätte. Die bayerische Staatsregierung führt freundliche Gespräche, es wird ganz sicher eine Lösung gefunden. Die Bewerbung steht. SPIEGEL: Schöne olympische Bilder erzeugt das aber nicht, wenn die Bauern zusammen mit den bayerischen Grünen, die ebenfalls gegen die Spiele sind, am Rande der Pisten Protestplakate und Mistgabeln schwenken. Vesper: Das wird nicht passieren, dazu sind die Menschen in Garmisch-Partenkirchen viel zu gastfreundlich. Sie wissen genau, dass die Olympischen Spiele eine einmalige Chance für ihre Stadt sind. Der
Grüner Protest gegen München 2018: „Nicht jedes Großprojekt ist falsch“ D E R
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selbst die Ski anschnallt und munter die Berge runterrutscht. SPIEGEL: Es könnte ja auch nüchternes Kalkül dahinterstecken: Bisher hat sich der Protest der Grünen gegen Großprojekte politisch fast immer ausgezahlt. Vesper: Mag sein, kurzfristig. Aber nicht jedes Großprojekt ist falsch. Auch bei den Grünen wächst, wie bei allen Parteien, wenn sie nicht selbst regieren, die Neigung zum Konjunktiv. Ich halte es eher mit dem Indikativ. Man muss sich vor so einer Entscheidung unvoreingenommen und seriös mit dem Projekt auseinandersetzen, das ist hier einfach nicht passiert. SPIEGEL: Ihre Parteifreunde fragen sich, warum man die Skiwettbewerbe ausgerechnet in einem Ort wie Garmisch-Partenkirchen austragen muss, der nur etwas mehr als 700 Meter hoch liegt und in dem alle Pisten und Loipen künstlich beschneit werden müssen. Vesper: Heute werden Pisten überall beschneit. Das ist Standard, auch im Freizeit-Skisport. Der Vorteil von GarmischPartenkirchen ist, dass die Anlagen dort schon fast alle stehen und sowieso benutzt werden. Wir müssen fast nichts Neues bauen. SPIEGEL: Für Langlaufstrecken brauchen Sie schon noch einige zusätzliche Beschneiungsanlagen. Ihre Kritiker sagen, da hätten Sie besser auf bestehende Anlagen in Ruhpolding und Oberstdorf ausweichen sollen. Vesper: Das würde die Ökobilanz eher verschlechtern und vor allem unser kompaktes Konzept zerbröseln. Der Vorteil unserer Bewerbung ist doch gerade, dass die Wettkampfstätten an den zwei Standorten München und Garmisch-Partenkirchen so nah beieinanderliegen. Mit zwei weiteren Standorten würden wir nur mehr Verkehr produzieren und zusätzliche Flächen versiegeln, weil wir zum Beispiel noch weitere dezentrale Unterkünfte für Sportler bauen müssten. SPIEGEL: Einige bayerische Grüne warnen, dass sich die Proteste ausweiten und aus München 2018 ein zweites Stuttgart 21 werden könnte. Vesper: Die Gefahr sehe ich nicht. Es geht hier um ein Sportfest, in dem sich Deutschland als weltoffenes Land präsentieren kann. SPIEGEL: Aber dem Internationalen Olympischen Komitee, das die Spiele vergibt, dürfte aufgefallen sein, dass es Widerstand gibt. Gefährdet das die Bewerbung? Vesper: Nein. In jeder demokratischen Gesellschaft gibt es Kritik und Opposition. In Vancouver strengten die Gegner kurz vor der Entscheidung sogar ein Bürgerbegehren an, bei dem sich zwei Drittel für Olympia aussprachen. Nachher waren es wunderbare Spiele mit begeisterten Gastgebern. Ich bin optimistisch, dass auch bei uns der olympische Geist siegt. INTERVIEW: MATTHIAS BARTSCH
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Sport
Die Brüder Klitschko bezeichnen sich als Botschafter der Demokratie. Die Nähe der Boxer zu Tschetscheniens Herrscher Kadyrow passt nicht dazu.
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n der Welt des Boxsports sind die Klitschkos ohne Zweifel Ausnahmeerscheinungen. Die Brüder Wladimir, 34, und Vitali, 39, sammelten Titel und Trophäen en masse – mehrere Weltmeisterschaften inklusive. Im Ring teilten sie kräftig aus, ohne außerhalb je als Schläger zu gelten. Zum schillernden Boxmilieu hielten sie erfolgreich Distanz. Zwei sympathische Herren, so kennt das Publikum die beiden Ukrainer, gepflegtes Äußeres, dazu wohlformulierte Sätze. Sie wurden Unesco-Botschafter, mit Bambi und Goldener Kamera ausgezeichnet, der frühere Bundespräsident Johannes Rau ernannte die Brüder einst zu Botschaftern für Integration. Selbst auf dem politischen Parkett bewegten sie sich tadellos – so schien es bislang jedenfalls. Während der orange Revolution 2004 in der Ukraine unterstützten die Boxstars die Demokratiebewegung. Vitali Klitschko gründete sogar eine Partei und kandidierte fürs Bürgermeisteramt in Kiew. „Wenn die Welt zuschaut“, so Vitali damals, „denken eben auch brutale Machtmenschen intensiv darüber nach, ob sie eine friedliche Bewegung niederschlagen können.“ Niemand zweifelte bislang an derart pathetischen Sätzen. Doch nun drängt sich der Eindruck auf, ihre Liebe zur Demokratie halte sich in überschaubaren Grenzen. So auch am 15. August 2009. An jenem Sommerabend traf Saubermann Wladimir auf einen Politiker, der im Ruf steht, mehr als nur ein Schläger zu sein. In Deutschland bislang kaum registrierte Fotos zeigen den jüngeren Klitschko Seit an Seit mit Ramsan Kadyrow, 34, dem berüchtigten Herrscher Tschetscheniens. Kadyrow ist der Sohn des 2004 ermordeten Tschetschenen-Führers Achmed Kadyrow, er war einst Chef der Leibgarde seines Vaters. Heute ist er Provinzfürst von Wladimir Putins Gnaden – und wird von ausländischen Staatschefs gemieden. Die Gründe dafür wiegen schwer: Menschenrechtsorganisationen werfen Kadyrow vor, persönlich gefoltert zu haben und seine Gegner unbarmherzig zu verfolgen. Österreichische Ermittler verdächtigen ihn gar, die Ermordung eines Exilanten in Auftrag gegeben zu haben. „Das Vernichten gelingt uns ganz 120
KONSTANTIN CHERNICHKIN / REUTERS
Echte Krieger
der Tschetschenischen Republik gewesen sein. Jugendliche könnten dabei ihren Charakter festigen – als „echte Krieger“. Ein Ausrutscher? Keinesfalls. Anfang Dezember saß Vitali Klitschko neben Kadyrow am Boxring, in der ukrainischen Stadt Browary. Bilder von der Veranstaltung zeigen ab und an Sportler, zumeist aber Kadyrow: im oder am Ring, fast immer in Siegerpose, mal mit Boxer im Arm, mal trägt er ihn auf seinen Schultern. Wenige Tage zuvor hatte der Sonderberichterstatter des Europarats, Dick Marty, Tschetscheniens Herrscher im Mordprozess von Wien als Psychopathen beschrieben: „Er lebt in einem Palast, wo schon beim Eingang goldene Löwen stehen. Er hat einen Privatzoo mit einem Tiger, der auf der Roten Liste des WWF steht.“ Und dies soll den Klitschkos alles entgangen sein? Veranstalter der PolitBox-Show war erneut eine Klitschko-Agentur. Sie verbreitet auch ein Foto der beiden Hauptdarsteller des Abends in Grosny: von Kadyrow und Wladimir Klitschko. Auf der offiziellen Homepage der Stars findet sich allerdings kein Hinweis auf die Boxspektakel mit tschetschenischer Beteiligung. Nur wer sich weiter durchs Forum klickt, stößt auf Bemerkungen zur Begegnung zwischen den Klitschkos und dem DespoGast Kadyrow, Brüder Klitschko*: Vergoldete Pistole ten – und auf viele kritische Stimmen. gut“, rühmt sich der Tschetschene, desVorhaltungen weist Bernd Bönte, Gesen Markenzeichen eine vergoldete Pis- schäftsführer der Klitschko Management tole ist. Group, zurück. Tschetscheniens Boxstar An jenem Augusttag bekam Kadyrow Saurbek Baisangurow sei bei einer endlich die Anerkennung, nach der er so Klitschko-Agentur unter Vertrag, ein Zudürstet, durch einen echten Weltstar und sammentreffen mit Kadyrow deshalb bekennenden Demokraten – Wladimir kaum vermeidbar. Keiner der beiden Klitschko. Dessen Agentur K2 East hatte Klitschkos habe sich jemals positiv über in der tschetschenischen Hauptstadt Kadyrow geäußert. Zitate in ukrainischen Grosny eine Boxgala auf die Beine ge- Medien seien frei erfunden, ansonsten stellt. Am Ende soll es von Klitschko Lob gebe es von keinem der beiden Klitschfür den Despoten gegeben haben: „Ich ko-Brüder zu Kadyrow eine Stellungnahwill Ramsan Kadyrow, Präsident Tsche- me. Nein, die Weltstars selbst seien nicht tscheniens, danken.“ So steht es jeden- zu sprechen, wimmelt der Manager ab. falls auf ukrainischen Internetseiten. DieVielleicht gilt für die Klitschko-Brüder ses Boxfest werde nicht das letzte in ja ein Hinweis, den Wladimir einmal im Radio gab: „Mit der Demokratie ist es * Oben: mit dem tschetschenischen Boxer Saurbek Baiwie mit dem Sport: Wenn man nicht sangurow und Vitali Klitschko (r.) am 4. Dezember in regelmäßig was tut, ist die Form schnell Browary; unten: mit Wladimir Klitschko (l.) am 15. Audahin.“ STEFAN BERG gust 2009 in Grosny. SAID GUTZIEV / RIA NOVOSTI
KARRI EREN
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Wissenschaft · Technik
Prisma DROGEN
Mit „Göttersalbei“ ins Geisterreich
Vulkanausbruch am Kilauea auf Hawaii
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OKAPIA
ie gefährlich ist die Kräuterdroge Salvia divinorum, auch bekannt als „Göttersalbei“? In vielen Ländern ist das Rauschmittel legal, in Deutschland fällt es unter das Betäubungsmittelgesetz. Ein Team um den US-Psychologen Matthew Johnson hat die halluzinogene Wirkung jetzt wissenschaftlich untersucht; die Ergebnisse erscheinen demnächst im Fachjournal „Drug and Alcohol Dependence“. Die Wirkung setzt demnach bereits nach 2 Minuten ein – ist aber nach 20 Minuten auch schon wieder fast verflogen; ein großes Suchtpotential scheint nicht erkennbar. Die Ergebnisse sind allerdings vorläufig, weil nur vier Probanden mitmachten. „Sie beschreiben, dass sie aus sich herausgetreten seien in eine andere Welt, wie in eine andere Dimension oder ein Geisterreich“, berichtet Johnson. Die Kräuterdroge, so spekulieren die US-Forscher, könnte weiterentwickelt werden zu einem Medikament für die Behandlung von Krankheiten, die mit Realitätsverlust einhergehen: Schizophrenie, Alzheimer oder Depressionen.
GEOLOGIE
Die Quelle der Feuerberge
REUTERS
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ie Hawaii-Inseln sind ein Paradies, aus Höllenfeuer geboren: Seit Jahrmillionen schütten Vulkaneruptionen ein Eiland nach dem anderen auf, vom Meeresgrund aus gemessen sind die Feuerberge mit bis zu 10 000 Metern die höchsten der Welt. Nun hat das Team des US-Erdwissenschaftlers Michael Barton herausgefunden, dass die Magmakammer, welche die Lavaströme speist, nur in drei bis vier Kilometer Tiefe liegt. Zum Vergleich: Die Magmakammer von Island, wo es auch immer wieder zu Vulkanausbrüchen kommt, befindet sich rund 20 Kilometer unter der Erdoberfläche. Die überraschend nahe Glut unter den Hawaii-Inseln könnte sogar einen praktischen Nutzen haben. „Hawaii hat ein ungenutztes geothermisches Potential“, sagt Barton. Durch Bohrungen ließe sich die Hitze der Magmablase für die Energiegewinnung nutzbar machen.
Rauschpflanze „Göttersalbei“
Gelegenheit macht Liebe
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aumhörnchen geben der Forschung Rätsel auf. Was etwa treibt einige Weibchen dazu, mit über einem Dutzend Männchen Sex zu haben, während sich andere nur mit einem Partner begnügen? Kanadische Ökologen sind einer Antwort jetzt zumindest bei nordamerikanischen Rothörnchen näher gekommen – offenbar ist das unterschiedliche Verhalten nicht genetisch fixiert. Tatsächlich hängt die Anzahl der Paarungen vor allem von
einem Faktor ab: dem Angebot an Männchen. In einer Feldstudie hat Andrew McAdam von der University of Guelph das Verhalten von 85 Weibchen im Yukon-Territorium beobachtet. Ihr Paarungsverhalten reichte dabei von Sex mit einem einzelnen Partner bis hin zu 14 verschiedenen Männchen – je nach Gelegenheit. Das jeweilige Sexualverhalten werde anscheinend nicht vererbt, so McAdam: „Ein Weibchen, das sich nur mit einem einzigen Männchen paart, kann eine Tochter haben, die es mit vielen Partnern treibt.“ Baumhörnchen beim Sex D E R
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B. LIEDTKE / ARCOIMAGES
TIERE
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Prisma
Pueblo-Siedlung Mesa Verde
ARCHÄOLOGI E
Bauern, Baumeister, Kannibalen D
as Volk der Pueblo-Indianer im amerikanischen Südwesten gilt gemeinhin als friedliche Gemeinschaft von genügsamen Bauern und genialen Baumeistern, die es verstanden, sogar an steilen Canyonwänden Dörfer zu errichten. Doch
nun gibt es den Verdacht, dass diese Hippie-Indianer einst auch Kannibalen waren. Bei einer Ausgrabung in der Nähe der Stadt Durango im Bundesstaat Colorado stieß der Archäologe Jim Potter auf 15 000 Knochenfragmente. Die Überreste stammen von nur 35 Menschen – und sie zeigen Spuren intensivster Bearbeitung: Die Knochen wurden zerbrochen und gekocht, zuvor war das Fleisch abgeschabt worden. „Wir wissen, dass diese grausamen Dinge geschehen sind“, sagt Potter: „Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, wann und wie sie passiert sind.“ Er vermutet, dass der Kannibalismus um das Jahr 800 nach Christus herum im Zuge eines Stammeskrieges ausbrach.
BIOLOGIE
Hefe als Computer
ASTRONOMIE
Virtuelle Reise zur Sonne
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ie Sonne ist nur einen Mausklick entfernt. Sie dreht sich um sich selbst, und man kann an Details heranzoomen – fast so wie die Erderkundung bei Google Earth funktioniert. Möglich wird die Reise zum Zentralgestirn durch eine Software, die sich kostenlos im Internet herunterladen lässt (helioviewer.org). Mit dem Programm sollen Nutzer auch gezielt nach Sonnenstürmen suchen können. Grundlage der interaktiven Datenbank sind über eine Million Aufnahmen aus 15 Jahren Solarforschung. Allein die amerikanische Raumsonde „Solar Dynamics Observatory“, die in diesem Jahr ins All geschossen wurde, funkt von ihrem Beobachtungsposten Tag für Tag über ein Terabyte Daten zur Erde – das entspricht etwa einer halben Million Urlaubsfotos. „Früher brauchte man Stunden, um aus den Bildern verschiedener Teleskope einen Film zu generieren“, sagt der zuständige Astrophysiker Daniel Müller von der europäischen Raumfahrtagentur Esa, „mit dem ,Helioviewer‘ schafft das jeder in wenigen Minuten.“
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ebende Computer mit Schaltkreisen, die nicht durch Strom gespeist werden, sondern durch eine Nährlösung – dieser Vision ist eine Gruppe Forscher an der Universität Göteborg einen Schritt näher gekommen. „Natürlich ist das kein Rechner im herkömmlichen Sinn“, sagt Stefan Hohmann, der Leiter der Arbeitsgruppe, „aber wir können einige logische Operationen mit Zellen durchführen, die man sonst von Mikroprozessoren kennt.“ Das Prinzip ist einfach: Gentechnisch manipulierte Hefezellen werden durch die Gabe von Zuckerlösung und Antibiotika dazu gebracht, Signalsubstanzen herzustellen, die wiederum andere Hefezellen anregen, ein leuchtendes Eiweiß herzustellen. Der Biocomputer arbeitet langsam: Ein Schaltvorgang dauert eine Stunde; dafür aber bleiben die Informationen über viele Generationen von Zellen erhalten. In Zukunft könnten die Biocomputer als Medikamente eingesetzt werden, spekuliert Hohmann, der seine Experimente jetzt in der OnlineAusgabe des Wissenschaftsmagazins „Nature“ präsentierte. Er denkt etwa an Sensorzellen im Blut von Diabetikern, die einen hohen Zuckerspiegel erkennen und darauf automatisch mit der Ausschüttung von Insulin reagieren.
VISIONS OF AMERICA / BILDAGENTUR-ONLINE / SC-PHOTOS
Wissenschaft · Technik
ERIC FEFERBERG / AFP
Milliardärsgattin Gates (r.) in einem Krankenhaus in Benin*: Die Hälfte des Vermögens medienwirksam gespendet
SOZIOBIOLOGIE
Wer hilft, dem wird geholfen Ist der Mensch ein geborener Altruist? Mit spielerischen Experimenten ergründen Forscher die Biologie der Nächstenliebe: Selbstlos verhält sich offenbar nur, wer durch eine gute Tat seinen guten Ruf fördert. Kooperation kann sogar zu einer Triebfeder der Evolution werden.
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ehn Studenten starren auf die Geldscheine. „Deswegen seid ihr ja alle hier“, sagt der Biologe Dirk Semmann und knistert mit dem Bündel in seiner rechten Hand. „Was ihr heute verdient, könnt ihr in bar mitnehmen.“ Nervöses Gelächter in dem fensterlosen Raum. Die Studenten beteiligen sich als Probanden an einem experimentellen Spiel, bei dem sie gegeneinander um Geld antreten. Niemand darf reden, jeder sitzt hinter schwarzen Trennwänden. Die Interaktion läuft allein über einen großen Bildschirm an ihrem Platz. Jeder Spieler beginnt mit einem Startkapital von 5 Euro. Jeder kann auf eine von zwei Farben setzen. Wenn der eine Spieler Orange spielt und der andere auch, dann erhalten beide 25 Cent. Wenn beide Blau spielen, tut sich gar nichts: Weder wird einem Geld weggenommen, noch verdient einer welches hinzu. Doch wenn der eine Spieler Blau spielt und der ande126
re Orange, wird es spannend: der Blau spielende Spieler bekommt 40 Cent – aber dem anderen werden 10 Cent abgezogen. Hin und her feuern die Nervenzellen im Kopf der Testperson: Soll ich Orange spielen, also auf einen bescheidenen Gewinn hoffen – was aber nur aufgeht, wenn der unbekannte Mitspieler tatsächlich kooperiert? Oder soll ich auf Blau setzen, weil ich entweder nichts verliere oder aber sogar am meisten gewinne? Nach den Vorhersagen der Soziobiologen verhalten sich die meisten Menschen von Natur aus egoistisch und versuchen, ihren Gewinn zu maximieren. Auch im Göttinger Labor wollen viele der Spieler den anderen nichts gönnen, sondern versuchen, die anderen zu übervorteilen. Doch das überraschende Ergebnis: Als das Spiel nach 30 Runden vorüber ist, * Mit Carla Bruni (2. v. r.), der Ehefrau des französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy. D E R
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haben die Selbstsüchtigen das Nachsehen. Am meisten Geld sacken genau jene zwei Spieler ein, die am stärksten kooperiert haben: Zufrieden gehen sie nach einer Stunde mit jeweils 12,50 Euro nach Hause. Das Experiment in einem Zweckbau auf dem Campus der Universität Göttingen dreht sich um eines der großen Rätsel der Soziobiologie: Wie kann es sein, dass es unter Menschen so etwas wie Altruismus gibt – während im evolutionären Überlebenskampf doch eigentlich Eigennutz und Egoismus gefragt sind? Mit Tausenden Testpersonen aus unterschiedlichen Kulturkreisen haben Biologen und Ökonomen inzwischen solche Verhaltensspiele veranstaltet und dabei unterschiedlichste Lebenslagen simuliert. Die Ergebnisse fügen sich zu einem neuen, rationalen Bild der Nächstenliebe. Reinen Altruismus gibt es demnach nicht. Wenn Menschen auf ihren Vorteil
EVERETT KENNEDY BROWN / DPA
Wissenschaft
Makaken bei gegenseitiger Fellpflege in heißen Quellen in Japan: Lausen in der eigenen Sippe
STEFAN THOMAS KROEGER / DER SPIEGEL
verzichten, muss das selbstlose Handeln zumindest einen indirekten Nutzen haben: Es mehrt ihr Ansehen in der Gruppe – wodurch ihnen wiederum etliche Vorteile entstehen. „Altruismus gegenüber fremden Menschen ist nicht stabil“, sagt Semmann, 40. „Menschen zeigen solches Verhalten, weil es die Reputation steigert.“ Ähnlich nüchtern deutet auch Manfred Milinski, 60, Direktor am Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie im schleswig-holsteinischen Plön, die Befunde der Soziobiologen: „Dass der Mensch von Natur aus gut ist, das können wir nicht erkennen – es sei denn, der gute Ruf steht auf dem Spiel.“ Dazu passt die Beobachtung, dass Menschen in allen Kulturen gern darüber reden, wenn sie anderen – scheinbar selbstlos – geholfen haben, etwa bei Spendensammlungen in der Vorweihnachtszeit. Die Namen der Schenkenden werden zu-
meist öffentlich; bei größeren Beträgen zueinander. Der aus Österreich stammenlassen Spender sogar Stiftungen und Bü- de Mathematiker und Biochemiker anachereien, Lehrstühle und Krankenhäuser lysiert: „Niemals kann ich mir sicher sein, dass eine Wechselwirkung mit einem nach sich benennen. So haben sich der Microsoft-Gründer Fremden völlig anonym bleibt. Deshalb Bill Gates und seine Frau Melinda sowie spüren wir intuitiv: Wir sollten uns stets der Investor Warren Buffett feiern lassen, so verhalten, dass unsere Reputation genachdem sie sich medienwirksam ver- wahrt oder verbessert wird.“ Und Nowak geht noch weiter: Die stänpflichteten, mindestens die Hälfte ihrer riesigen Vermögen für wohltätige Zwecke dige Sorge um den Leumund und die darzu spenden. Anfang Dezember verkün- aus folgende Fähigkeit zur Kooperation dete der umstrittene Facebook-Gründer seien sogar entscheidend gewesen für die Mark Zuckerberg, es ihnen gleichzutun. Evolution des Menschen. So argumentiert Das Geld soll zwar erst in der Zukunft der Wissenschaftler in einem im März erfließen, vielleicht sogar erst nach Zucker- scheinenden Buch, das ein neues Bild der bergs Tod; aber den Imagegewinn ver- Evolution entwirft*. Neben zufälligen bucht der 26 Jahre alte Milliardär schon Mutationen (die neuartige Gene entsteheute: Wenige Tage nach seiner Ankün- hen lassen) und der natürlichen Selektion digung hat ihn das Magazin „Time“ vori- (die über den Fortpflanzungserfolg entge Woche zum Mann des Jahres gekürt. scheidet), führt Nowak einen dritten MeDass Menschen dagegen anonym spen- chanismus in den Evolutionsprozess ein: den, komme kaum vor, sagt der Biologe die Kooperation. „Man braucht Kooperation, um von einMilinski: „Wenn eine Spende angeblich anonym ist, warum wissen wir dann von fachen zu komplizierten Organismen aufihr?“ Offenbar ist es auch diesen Spen- zusteigen“, sagt Nowak. „Von Einzellern dern ein tiefes Bedürfnis, zumindest zu Vielzellern, von Vielzellern zu MenFreunde und Bekannte und andere Men- schen“. Bislang hingegen erklären Soziobioloschen, die ihnen wichtig sind, wissen zu gen mit Hilfe der sogenannten Verwandlassen, was für Wohltäter sie doch sind. Auch Martin Nowak, 45, von der Har- tenselektion, warum sich Tiere für andere vard University ist davon überzeugt, dass Tiere aufopfern. Demnach verhalten sich Selbstlosigkeit eine Art Statussymbol dar- Lebewesen nur dann selbstlos, wenn stellt – das es zu wahren gilt. Aus diesen davon die eigenen Verwandten profitieGrund seien Menschen erst einmal nett Biologe Semmann
Rationales Bild der Nächstenliebe D E R
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* Martin Nowak mit Roger Highfield: „SuperCooperators: Why We Need Each Other to Succeed“. Free Press, New York; 352 Seiten; 24,05 Euro.
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Wissenschaft
FARR / A-WAY
ren. Bei den Ameisen etwa dienen die len. Dann gilt aber das Prinzip: Wenn ich Arbeiterinnen der Königin, statt sich dir helfe, wird später auch mir jemand selbst fortzupflanzen. Aus gutem Grund: helfen. Die Töchter der Königin – Arbeiterinnen Selbstloses Verhalten erhöht die Repuund Jungköniginnen – sind untereinander tation eines Menschen, was ihm später zu 75 Prozent verwandt. Die Arbeiterin sehr wahrscheinlich Vorteile einbringt. kann deshalb mehr Erbanlagen, die mit „Wer gibt, dem wird gegeben“ – dieses ihren eigenen identisch sind, verbreiten, Bibelwort geht folglich auf ein in den Erbwenn sie auf eigenen Nachwuchs verzich- anlagen verdrahtetes Verhaltensmuster tet und ihre fruchtbaren Schwestern zurück. (Jungköniginnen) aufzieht. Einen wichtigen Versuch, um diesen Im Tierreich gibt es viele solcher Bei- Mechanismus aufzudecken, haben der spiele scheinbarer Selbstlosigkeit: Auch Evolutionsbiologe Milinski und sein bei Heckenbraunellen, Florida-Buschhä- Schweizer Kollege Claus Wedekind unhern und anderen Vogelarten werden ternommen. Bei dem Experiment wurden Brutpaare von Helfer-Vögeln unterstützt, 80 Studenten von der Universität Bern
Spendenaktion in Berlin*: Vorteile durch selbstloses Tun
die mit ihnen engverwandt sind. Japanmakaken lausen häufiger Artgenossen, die zu ihrer Sippe gehören. Dass man eher Verwandten hilft als Fremden, gilt vielen Biologen zufolge auch für den Menschen. „Ich würde mein Leben geben“, so hat es der britische Genetiker John Burdon Haldane einmal formuliert, „um zwei Brüder oder acht Cousins zu retten.“ Doch laut Nowak greift das Prinzip der Verwandtenselektion zu kurz – vor allem wenn es darum geht, menschliches Verhalten zu enträtseln. Warum hält man einem Fremden die Tür auf und trägt einer alten Damen den Koffer? Noch vergleichsweise leicht zu erklären ist Kooperation, wenn zwei Menschen regelmäßig miteinander zu tun haben. Dann gilt das Prinzip: Hilfst du mir, helfe ich dir. Doch warum helfen wir Menschen, die wir nie wieder sehen? Wie Soziobiologen mit ihren Experimenten herausgefunden haben, kann sich auch in dieser Konstellation Kooperation auszah* Mit dem Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit (r.).
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gefragt, ob sie einem anderen jeweils einen Franken schenken würden. Anschließend wurden die Rollen getauscht, so dass jeder mal Spender und Empfänger war. Dabei war den Studenten klar, dass sie in der jeweils folgenden Runde auf einen neuen Mitspieler treffen würden. Das Prinzip „Hilfst du mir, helfe ich dir“ war somit ausgehebelt. Allerdings konnten sich die Spieler Reputation verschaffen: Sie wussten, dass das Spiel über viele Stunden lief und dass nach jeder Runde bekanntgegeben wurde, wie viel Geld ein Spieler jeweils gespendet hatte. Das Ergebnis: Je nach Gruppe waren zwischen 50 und 80 Prozent der Testpersonen bereit zu spenden. Nur woher kamen die Unterschiede? Warum gaben die Studenten in dem einen Fall viel und in dem anderen Fall wenig? Wie sich herausstellte, war es tatsächlich der Leumund des Empfängers, der über die Spendierlaune seiner Mitspieler entschied. „Die Studenten haben immer dann besonders viel gegeben, wenn der D E R
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Empfänger einen hohen Geberstatus hatte“, berichtet Milinski. Die Forscher sind überzeugt, dass sie mit ihren Experimenten Verhaltensweisen ergründen, die angeboren sind und von der Umwelt allenfalls überformt werden. „Die Kultur ist ein Ergebnis unserer Biologie“, sagt der Kieler Anthropologe und Historiker Jörg Wettlaufer. Menschen hätten eine in den Erbanlagen verdrahtete Angst davor, einen schlechten Leumund zu haben, sagt Wettlaufer. Wer sich selbstsüchtig, gierig, unfair und rücksichtslos verhalte und dabei ertappt werde, der verspüre unweigerlich ein tiefes Schamgefühl. Es ist ein tiefverwurzeltes, universelles Gefühl, das sogar mit einer physiologischen Reaktion einhergeht – dem Erröten. „Die Scham hat sich herausgebildet, weil sie für Kooperation sorgt“, sagt Wettlaufer, 44. „Und deshalb haben Menschen, die sich schämen können, einen Vorteil in der natürlichen Selektion.“ „Beschämende Strafen“ hat Wettlaufer in vielen Epochen und Kulturen ausgemacht. Frauen, die andere beleidigten, mussten im Mittelalter Schandsteine um den Hals tragen. Aufmüpfige Schüler bekamen einst Eselsmasken aufgesetzt. Bäcker, die zu kleine Brote buken, wurden kahl geschoren und über die Bäckerwippe ins Wasser geschickt. Menschen, die sich nicht an die Normen hielten, wurden an den Pranger gestellt und auf Schandbühnen vorgeführt. Heutzutage läuft öffentliche Beschämung über die Medien, etwa wenn Boulevardzeitungen Fotos gieriger Banker auf der ersten Seite drucken. Solche Bloßstellung schreckt ab und scheint nach Ansicht von Soziobiologen nötig, damit Menschen ihre dunkle Seite unterdrücken können. Das hat sich auch aus einer Variante des ökonomischen Verhaltensspiels ergeben: Was passiert eigentlich, wenn die Spieler anonym bleiben, also keiner wissen kann, wie sich die anderen verhalten? Klarer Befund: „Wenn wir die Möglichkeit zur Verbesserung der Reputation wegnehmen“, sagt Milinski, „dann bricht die Kooperation zusammen.“ Im echten Leben läuft es genauso, wie der Professor feststellen musste, als er noch an der Universität in Bern lehrte. Seine damaligen Doktoranden durften gemeinsam eine Werkstatt benutzen, in der aber bald keiner mehr aufräumte. „Es war eine Katastrophe“, sagt Milinski. Seine Appelle an das Gute im Menschen verpufften. Deshalb hat Milinski die Regeln verändert. Nun lässt der Hausmeister immer nur einen der Forscher in die Werkstatt des Instituts und sperrt anschließend wieder ab. Damit herrscht Ordnung. Kein Reputationsforscher will über sich hören, er hinterlasse einen Saustall. JÖRG BLECH
RELIGION
Dinos an Bord Christliche Fundamentalisten in den USA wollen die Arche Noah nachbauen. Sie glauben, dass es Schiff und Sintflut wirklich gab.
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ie Bauanleitung ist übersichtlich: „Mache dir einen Kasten von Tannenholz und verpiche ihn mit Pech. Dreihundert Ellen sei die Länge, fünfzig Ellen die Breite und dreißig Ellen die Höhe. Ein Fenster sollst du daran machen. Und er soll drei Stockwerke haben.“ So heißt es – verkürzt – im ersten Buch Mose, Kapitel 6. Und Noah tat wie ihm geheißen und schipperte alsbald mit seiner Familie, dem Vieh und „allem Gewürm“ auf dem „Wasser der Sintflut“. Die Geschichte ist schaurig-schön. Doch muss man das alles wörtlich nehmen? Christliche Fundamentalisten in den USA sind davon überzeugt. Ihnen reichen die kargen Zeilen für ein obskures Vorhaben: Sie wollen die Arche Noah nachbauen – als Teil eines Vergnügungsparks für jährlich 1,6 Millionen Besucher. „Ark Encounter“ heißt das 150 Millionen Dollar teure biblische Disneyland der Organisation „Answers in Genesis“, einer geschäftstüchtigen Kreationisten-Gruppe aus Kentucky. „Die Leute fragen sich doch: Wie groß war die Arche, wie kamen die Tiere an Bord, wie wurden sie versorgt“, sagt Vorstand Mike Zovath. Er glaubt allen Ernstes, dass es den antiken Tiertransporter wirklich gab. Sogar Dinos seien an Bord gewesen. Die Arche ist nicht das erste Projekt von „Answers in Genesis“. Die Organisation betreibt in Kentucky auch das
Geplanter Nachbau der Arche Noah: Vergnügungsparks für Bibeltreue
Creation Museum. Dioramen künden Raumangebot um. „Von allem Fleisch je dort vom friedlichen Zusammenleben ein Paar, Männchen und Weibchen“, wollvon Mensch und Dinosaurier. Die Evolu- te Gott an Bord sehen. „Answers in Getion halten die Kreationisten für Teufels- nesis“ rechnet diesen allumfassenden Aufzeug. Das Alter der Erde wird mit 6000 trag auf handliche 4000 Arten herunter. Jahren angegeben. „Die Bibel redet nicht von Arten, sonAuch für die Sintflut haben die bibel- dern von Sorten“, erläutert Zovath. Ein festen Amerikaner ein Datum ermittelt. einziges Katzenpaar an Bord – und schon Demnach hatte Gott um 2348 vor Chris- seien Tiger, Jaguar und Löwe gleich mittus die Nase voll von der verdorbenen gerettet. Woher denn dann die Millionen Menschheit. Noahs Rettungsaktion soll Arten heutiger Zeit kommen? Zovath hat nun detailgetreu rekonstruiert werden. eine verblüffende Antwort: Sie seien Mehr als zehn Jahre lang fahndeten die nach der Sintflut durch „natürliche SeExtrem-Christen in historischen Schriften lektion“ entstanden. Mit Evolution indes nach „plausiblen Konzepten“ für den Ar- habe das nichts zu tun. Gott habe den che-Bau, berichtet Zovath. 137 Meter „Tiersorten“ die notwendige „genetische lang, 23 Meter breit und 14 Meter hoch Variabilität“ vielmehr am sechsten Schöpsoll das Schiff werden. Was bei Noah 100 fungstag komplett ins Erbgut diktiert. Jahre dauerte, soll traditionellen HandKentuckys Gouverneur Steven Beshear werkern nun in 3 Jahren gelingen. hat für derlei Mumpitz sogar generöse Allerlei Getier wird dann an Bord der Steuererleichterungen zugesagt. Juristen Arche zu sehen sein. Schautafeln sollen allerdings halten das für verfassungswidzudem verkünden, wie Noah selbst mit rig. Die kruden Thesen würden von der den Kreaturen verfuhr. Eine Art himmli- Regierung indirekt gefördert. Die Trenscher Leitstrahl führte demnach die Tiere nung von Staat und Kirche sei gefährdet. zur Arche. Anschließend seien sie in eiDoch die biblischen Bauherren lassen nen „übernatürlichen“ Winterschlaf ge- sich nicht beirren. Ohnehin scheinen sie fallen, berichtet „Answers in Genesis“- für alle Fälle gewappnet. Weitsichtig haChef Kenneth Ham. Noah habe vor allem ben sie eine schwimmfähige Arche geJungtiere verladen. Dadurch seien auch plant. Man kann ja nie wissen. Elefanten, Giraffen sowie „zwei Sauro„Der menschliche Intellekt hat unter poden“ transportfähig geworden. 6000 Jahren Sünde und Verfall gelitten“, Ohnehin gehen die Kreationisten be- klagt Ham. Die nächste Sintflut kommt PHILIP BETHGE sonders kreativ mit dem begrenzten bestimmt.
Carbon-Karosserie von BMW im Crashtest EB.ANDRIUOLO
falsche Weg und endet in der Sackgasse“, urteilt Rainer Kurek, Geschäftsführer der Münchner MVI-Group, die im Auftrag der Autoindustrie unter anderem Karosserien entwickelt. In einem jüngst erschienenen Fachbuch mahnt er eine Neuorientierung der Fahrzeugbauer an*. „Der akElektroautos sind noch zu teuer, zu schwer und zu schwach; vor tuelle Hype um die Elektromobilität“, allem das hohe Gewicht der Akkus macht ihnen zu schaffen. BMW schreibt der Ingenieur, „verstellt den Blick für die Tatsache, dass die heutigen will nun Karosserien aus extrem leichten Kohlefasern fertigen. Karosseriekonzepte über Jahrzehnte hinas Auto hat die Welt erobert, Rechnung nicht aufgeht: Wer soll bereit weg viel zu schwer geworden sind.“ Ein VW Golf der ersten Baureihe von wenn auch nicht im Handstreich. sein, den Preis einer Oberklasselimousine Jahrzehnte nach seiner Erfindung für ein spartanisches Vehikel zu zahlen, 1974 wiegt 750 Kilogramm, ein Golf heuim Jahr 1886 war der Pkw noch ein Exot dessen Aktionsradius kaum über das tiger Produktion etwa eine halbe Tonne im Straßenbild, zu teuer und zu unprak- Netz der städtischen S-Bahn hinaus- mehr. Er ist eine ganze Fahrzeugklasse reicht? größer als sein Vorgänger, hat serientisch. Es gab ja nicht mal Tankstellen. Das Problem ist für alle Autokonzerne mäßig acht Airbags und kann mit 64 KiVergleichbar schleppend dürfte im 21. Jahrhundert die Verbreitung des Elektro- das gleiche: Auch die modernsten Akkus lometer pro Stunde gegen eine Wand autos voranschreiten. Die ersten Exem- sind zu teuer, zu schwach und zu schwer fahren, ohne dass die Insassen ernsthaft plare großer Hersteller erreichen inzwi- für den Antrieb konventioneller Autos; verletzt würden. Im Ur-Golf fänden sie schen den Handel; und sie werden als denn die haben schon ohne Batterien den Tod. Fortschritt ohne Gewichtszunahme Transportmittel ein ähnliches Akzeptanz- Übergewicht. „Elektrische Antriebe in bestehende schien bisher kaum möglich. Aluminiumproblem haben wie einst Gottlieb DaimFahrzeugkonzepte zu integrieren ist der karosserien, etwa bei Audi-Luxuswagen, lers Motorkutsche. kompensieren gerade mal das MehrEs sind Autos, die sehr viel kosten und gewicht des Allradantriebs, den die VWsehr wenig können. Tochter als Markenzeichen pflegt. Eine Unter der etwas schal klingenden Motechnische Revolution ist das nicht. dellbezeichnung i-MiEV verkauft MitsuEinen ungleich größeren Fortschritt bishi sein erstes Serien-E-Mobil. Es ist strebt nun BMW an. In drei Jahren will ein schlicht möblierter Kleinwagen mit der Münchner Konzern ein Elektromobil eiförmiger Karosserie und Lithium-Ionenvöllig anderer Bauart anbieten. Es trägt Akkus unterm Bodenblech. Er schafft mit den Projektnamen Megacity Vehicle einer Stromladung im Sommer 100, im (MCV), wird keine Stahl- oder AlumiWinter 60 Kilometer und kostet 34 390 niumkarosserie haben, sondern einen Euro. In die gleiche Kosten-Nutzen-MiseLeichtmetallrahmen im Wagenboden und re steuert Nissans E-Mobil Leaf, das im einen Aufbau aus mit Carbonfasern verkommenden Jahr in Deutschland verkauft stärktem Kunststoff (CFK). werden soll und kürzlich zu allem Überfluss von europäischen Fachjournalisten das Prädikat „Auto des Jahres“ erhielt. * Rainer Kurek: „Karosserie-Leichtbau in der AutoEs bedarf keiner intensiven Marktfor- Kohlefaserverarbeitung bei SGL mobilindustrie“. Vogel-Verlag, Würzburg; 264 Seiten; schung, um zu erkennen, dass hier eine „Wegkommen vom Bastelprozess“ 59,80 Euro. AU TOM O B I L E
Wundergarn aus Wackersdorf
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Technik Das mattschwarze Material ist ein Baustoff von höchster Güte, in seiner chemischen Struktur dem Diamanten verwandt, robuster als Stahl – und nicht einmal halb so schwer. Die Karosserie des GroßstadtBMW soll so um 250 bis 300 Kilogramm leichter sein als die eines konventionell gebauten Elektroautos seiner Größe; auf diese Weise ließe sich das zusätzliche Gewicht der Batterien vollständig kompensieren. BMW steht mit diesem Konzept allein. Es ist das spektakulärste Vorhaben der Branche und für die Wettbewerber ein betriebswirtschaftliches Rätsel. CFK-Werkstoffe gibt es seit fast 50 Jahren. Sie finden Einsatz in der Luft- und Raumfahrt, im Rennsport und neuerdings auch in Rotorblättern von Windkraftanlagen. Ein Großserienauto aus diesem Material machen zu wollen erscheint allerdings verrückt. Der Hauptgrund: CFK ist 50-mal so teuer wie Stahl. Ein Karosserieteil aus Stahlblech kostet in seiner endgültigen Form etwa vier Euro pro Kilogramm, bei CFK sind es mindestens 200 Euro. Um den genannten Leichtbaueffekt zu erzielen, wird BMW den Carbonwerkstoff jedoch in sehr großen Mengen einsetzen müssen, pro Fahrzeug durchaus 150 bis 200 Kilogramm. Nun hat BMW natürlich nicht die Absicht, das erste Stadtauto zu bauen, dessen Karosserie allein 40 000 Euro kostet. Intern haben die Ingenieure ein Ziel definiert: Eine Senkung der bisherigen Herstellungskosten von CFK um den Faktor zehn – das wäre eine Revolution der Produktionstechnik. Partner für dieses Vorhaben ist das Wiesbadener Unternehmen SGL Carbon, einst aus dem Chemiekonzern Hoechst hervorgegangen und Europas einziger Hersteller von Carbonfaserprodukten. Geld verdient hat SGL bislang mit anderen Kohlenstoffprodukten, etwa Graphit. Nun soll der Faserwerkstoff aus der Exotenrolle schlüpfen und sich zu einem profitablen Geschäftsfeld entwickeln. Vorstandschef Robert Koehler spricht von einem „Megatrend der Materialsubstitution“. Die Carbonfaser, zehnmal dünner als ein menschliches Haar, produziert das Joint Venture aus SGL und BMW im Nordwesten der USA. Der Stromverbrauch bei diesem Prozess ist enorm, doch die Wasserkraft im bergigen Staat Washington billig. Noch weit größere Einsparungen sollen sich in der Weiterverarbeitung ergeben, wenn das pechschwarze Wundergarn eine Siedlung in der Oberpfalz erreicht. In einem Gewerbepark bei Wackersdorf, wo ursprünglich atomare Brennstäbe aufbereitet werden sollten, entsteht derzeit eine beispiellose Textilfabrik im Dienste des Karosseriebaus. Vier Wirkmaschinen, jede so groß wie ein Eisenbahnwaggon, füllen dort eine D E R
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Technik Härter und der enorme Druck der Presse machen dies möglich. Die Presse produziert derzeit Dächer für den Sportwagen M3, eine Art Generalprobe für die Produktion des Stadtmobils MCV. Die Produktionshallen für die Carbonteile des MCV werden in Landshut bereits errichtet. 40 Millionen Euro sollen im kommenden Jahr in die Anlagen fließen. Drei dieser Pressen sollen in der Startphase die Hülle des Großstadtmobils formen, jede von ihnen mehrere Millionen Euro teuer und hoch wie zwei Geschosse eines Wohnhauses. Sie werden der „Taktzeitgeber“ sein im Herstellungsprozess
XINHUA / ACTION PRESS
Produktionshalle von 7500 Quadratmeter Grundfläche. Die Anlagen gleichen großen Industriewebstöcken und fabrizieren Gelege aus Carbonfasern in einem bisher nicht annähernd erreichten Tempo. Die Mission dieses Anlagenparks ist klar definiert: „Es geht darum, vom Bastelprozess wegzukommen“, sagt Geschäftsführer Andreas Wüllner. Der Wirtschaftsingenieur muss die CFK-Produktion vom Trott des Manufakturbetriebs auf industrielles Tempo beschleunigen. Zeit ist der Schlüssel zur geplanten Kostensenkung um Faktor zehn.
Elektro-Sportwagen Audi R8 e-tron auf der Autoshow in Detroit: Zeugnis der Ratlosigkeit
Aufgerollt wie riesige Teppiche verlassen die Carbongelege den einst zur nuklearen Mülltrennung bestimmten Ort. Ihr Ziel ist Landshut. In dem niederbayerischen BMW-Werk wird der letzte Schritt vollzogen vom kohlschwarzen Teppich zum harten, crashsicheren Karosserieteil. Hier gilt es, das Tempo zu halten, das die Wackersdorfer Textilmaschinen vorlegen; es ist der schwierigste Teil des gesamten Herstellungsprozesses. Die Carbonmatte muss in Harz getränkt in eine Form gepresst und dabei ausgehärtet werden. Das geschieht nach der herkömmlichen Methode in geschlossenen Öfen und dauert bei etwa 500 Grad Celsius mehrere Stunden – Hauptgrund für den extrem hohen Preis von CFK. BMW hingegen setzt in Landshut ein Presswerkzeug ein, in dem das Bauteil bei nur 100 Grad Celsius in knapp zehn Minuten aushärtet. Eine andere chemische Zusammensetzung von Harz und 132
der Karosserie des Megacity-Gefährts, erklärt Andreas Reinhardt, verantwortlich für dessen CFK-Komponenten. Doch es ist noch lange nicht der Takt der klassischen Autoproduktion, in dem die Landshuter CFK-Herstellung voranschreitet. Verglichen mit dem klassischen Presswerk einer Automobilfabrik sind zehn Minuten eine Ewigkeit. Stahlbleche werden dort im Vier-Sekunden-Takt geformt, in zehn Minuten sind das 150 Stück. Fachleute außerhalb der BMW-Welt zweifeln deshalb an einem baldigen und bezahlbaren Großserieneinsatz von CFKKarosserien. Entwickler Kurek setzt stattdessen lieber auf Leichtbau „mit konventionellen und bewährten Werkstoffen“ und sieht hier noch großen Spielraum. Bei gleicher Crashsicherheit ließen sich auch ohne den Einsatz teurer Carbonwerkstoffe etwa 30 Prozent des Fahrzeuggewichts einsparen und so eine „Grundlage für künftige Hybrid- und Elektrofahrzeuge schaffen“. D E R
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Vor allem dürfe Leichtbau im Dienste der Elektromobilität kein teurer Luxus werden. Denn nennenswerte Marktchancen für Elektrofahrzeuge sieht Kurek nur in den unteren Preissegmenten, „da solche Autos ein sehr begrenztes Mobilitätsbedürfnis befriedigen und zu teuren Prestigeobjekten schlecht taugen“. Kurek spricht damit eine ebenso simple wie bittere Wahrheit aus. Deutschlands Autoindustrie steht und fällt mit ihrem Premium-Status, der Faszination von Sport- und Luxuswagen. In einer prosaischen Mobilitätskultur, in der vom Auto nicht mehr übrig bleibt als ein seelenloser City-Shuttle, wird es eng werden für Premium-Marken wie Audi, BMW oder Mercedes. BMW hat mit seinem Carbonkonstrukt den bislang originellsten Weg eingeschlagen, diesem Problem zu begegnen. Vom Megacity-Mobil sollen sich künftig auch edle Hybrid-Sportwagen ableiten lassen, in denen ein kleinvolumiger Dieselmotor für Vortrieb mit unbegrenzter Reichweite sorgt, die Kombination mit Elektromotor und Leichtbau aber auch für gute Fahrleistungen bei sehr geringem Verbrauch. Die Rezepte anderer Hersteller zeugen dagegen eher von Ratlosigkeit. So arbeiten Mercedes und Audi an rein elektrisch angetriebenen Extremsportwagen, die schon aufgrund ihrer simplen technischen Eckdaten als Mogelpackungen erkennbar sind. Audi strebt mit seinem Batterie-Renner R8 e-tron in die „Top-Liga der Elektrosportwagen“, Mercedes mit einem batteriegewaltigen SLS-Flügeltürer. Mit einer Spitzenleistung von 230 Kilowatt (313 PS) verspricht Audi eine hochdynamische Stromsause. Der Wagen, so der Firmentext, „katapultiert sich in 4,8 Sekunden von 0 auf 100 km/h“. Die Energie für derlei Kapriolen soll dem Motor aus einem Akku-Paket mit 42 Kilowattstunden Speicherkapazität zufließen. Nach heutigem Stand der LithiumBatterietechnik kostet allein ein solcher Stromtank 40 000 Euro und wiegt mehr als eine halbe Tonne. Und auch die Reichweite lässt sich zügig ermitteln: Beim Einsatz voller Motorleistung sind die Akkus in zehn Minuten leer – sofern sie eine solche Blitzentladung überhaupt chemisch aushalten. Auf dem diesjährigen 24-Stunden-Rennen von Le Mans ließ Audi einen Prototyp des Hochvolt-Geschosses eine Extrarunde drehen, um das Gaudipotential solcher Fahrzeuge zu illustrieren. Der Fahrer hatte allerdings die Stallorder, nicht durchgehend mit voller Kraft zu fahren. Die Ingenieure waren nicht sicher, ob die Akkus das durchhalten würden. Eine Runde in Le Mans ist 13,6 Kilometer lang. CHRISTIAN WÜST
Technik U N T E R H A LT U N G S E L E K T R O N I K
Zum Weihnachtsgeschäft drängen die Buchhändler mit elektronischen Lesegeräten auf den Markt. Doch sind Kindle & Co. wirklich schon ausgereift?
NEW YORK TIMES / REDUX / LAIF
Bücher in der Wolke
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Der Konzern weiß, was du gelesen hast
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OLIVER LANG / DAPD
er sich die Gesamtausgabe von Amazon mit seinem Kindle angreifen. Shakespeare zu Weihnachten Das Wort Kindle bedeutet so viel wie wünscht, findet diesmal viel- „entflammen“; und tatsächlich hat sich leicht nur ein schmales Kuvert auf dem das Gerät in den USA wie ein Lauffeuer Gabentisch. Darin steckt ein elektroni- verbreitet. Der Nachteil: Auf dem Kindle sches Lesegerät, kleiner und leichter als lassen sich nur bei Amazon gekaufte Büein Taschenbuch, aber vollgetankt mit cher lesen, und die gibt es bislang fast ausschließlich auf Englisch. Dutzenden Dramen. Diese Lücke nutzt nun die BuchhanMit Macht bringen Buchhändler derzeit Lesecomputer auf den Markt. Die delskette Thalia und vermarktet ihr Oyomeisten Geräte kosten nur noch zwischen Lesegerät mitsamt einem akzeptablen 100 und 200 Euro; bei Tchibo findet man Angebot an deutschsprachigen Büchern. sie bereits zwischen Kaffeebohnen und Der Lumiread des Buchgrossisten Libri Filzpantoffeln. In den USA werden bei hat sogar einen Strichcodescanner, mit Amazon schon mehr elektronische Bü- dem sich in der Buchhandlung ein Papierbuch identifizieren und dann digital becher als Hardcover verkauft. Vor allem für vielreisende Vielleser stellen lässt. Aber braucht man diese Spiebieten Elektrobücher durchaus Vorteile: lerei wirklich? Einstweilen gibt es nur wenig gute E-Books können das Handgepäck ein paar Kilogramm leichter machen. Durch Gründe, um von Papierbüchern auf Elekdie elektronische Tinte („E-Ink“) sind die tronik umzusteigen. Der Preisnachlass für schwarzweißen Displays zudem gesto- deutsche E-Romane liegt meist nur bei chen scharf, auch bei Sonnenlicht – im wenigen Euro, das Umblättern ist langGegensatz zu farbigen Leuchtdisplays sam, Fußnoten führen ins Nichts. Auch wie beim iPad. Und der Akku hält nicht der Kopierschutz nervt, das Verleihen von Neuerscheinungen ist oft nicht mögnur Stunden, sondern Wochen. Nach vielen Jahren des Zauderns ist lich. Die Verlage haben anscheinend nun auch die deutsche Buchhandelsbran- nichts aus dem Debakel der Musikinduche erwacht und will den Platzhirsch strie gelernt, die erst nach bitteren Be-
Einscannen von Büchern in der Staatsbibliothek in München: Ältere als Pioniere
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schwerden darauf verzichtete, ihre Kunden mit Kopiersperren zu gängeln. Auch aus einem weiteren Grund rät der Stuttgarter Medienforscher Okke Schlüter zur Geduld: „Der Markt ist noch arg zersplittert.“ Wer etwa bei Thalia ein E-Buch für den Oyo kauft, kann es nicht auf einem Kindle lesen – Amazon sperrt sich. Hinzu kommt: Manche Bücher sind lieblos eingescannt. Weil der E-Book-Markt bislang balkanisiert ist, wird neuerdings das Web als Lesebühne entdeckt: Seit Anfang Dezember tritt Google als Buchhändler auf, die Werke lassen sich ohne Zusatzsoftware im Webbrowser lesen (bislang allerdings nur für US-Kunden). Auch Amazon bietet mit „Kindle for the Web“ ein ähnliches Angebot. Aber will man längere Texte wirklich am Rechner lesen? Ausgerechnet ältere Kunden könnten zu Pionieren für E-Books werden, vermutet Medienforscher Schlüter. Denn Kindle & Co. ermöglichen es ihnen, spontan Bücher zu kaufen, ohne bei Glatteis auf die Straße zu müssen. Und wenn die Sehkraft nachlässt, reicht ein Klick, um die Schrift zu vergrößern. Vor allem Technikfreunde dürften die neuen Buchlesegeräte lieben. Wer etwa nachts nach dem zweiten Kapitel den Kindle-Roman ausknipst, erlebt am folgenden Morgen in der U-Bahn eine Überraschung: Wie durch ein Wunder zeigt das Handy genau dieselbe Seite an, auf der man gestern auf dem Kindle aufgehört hat. Woher weiß das Handy, was ich gerade lese? Der Trick: Viele E-Book-Anbieter halten die elektronischen Bücher auf zentralen Servern vor, von wo aus sie teils sogar übers Handy-Netz mit diversen anderen elektronischen Geräten synchronisiert werden, vom Smartphone bis zum Rechner im Büro. Das ist zwar unheimlich praktisch, aber auch unheimlich. Denn während das Bücherlesen bislang eine intime Beschäftigung war, wird das literarische Verhalten jetzt seitengenau irgendwo auf irgendeinem Rechner als Datenwolke gespeichert. Amazon weiß nicht nur, was du letzte Nacht gelesen hast – der Konzern teilt es auch der ganzen Welt mit: So werden elektronische Unterstreichungen für die Bestsellerliste „Most Highlighted Passages of All Time“ ausgewertet. „E-Books stellen eine große Bedrohung für den Datenschutz dar“, warnt die Nichtregierungsorganisation Electronic Frontier Foundation. Für Aufsehen sorgte die Enteignung von Kindle-Nutzern, deren gekaufte Bücher im Juli 2009 von Amazon gelöscht wurden, weil es Lizenzstreit mit dem Rechteinhaber gab. Es ging um Romane von George Orwell – darunter auch „1984“, der Klassiker vom totalen Überwachungsstaat. HILMAR SCHMUNDT
Wissenschaft Auch das passt: Heinrich trug rechts einen Ohrring. Durch Vergleich mit anderen Leichenteilen ließen sich letzte Zweifel ausräumen: ‣ Im Schloss von Pau liegen Haare des Königs. Sie sind rotgrau pigmentiert – wie die Stoppeln auf dem Schädel. Frankreich feiert die Rückkehr des ‣ Im Museum von Pontoise belegendären „guten Königs“ findet sich ein Finger. Er ist Heinrich IV. Sein Schädel wurde mit den gleichen Blei-Isotopen verseucht wie der Mumienauf einem Dachboden entdeckt. kopf. Beide Körperteile müssen lange im selben Metallsarg uf dem Höhepunkt der Französigelegen haben. schen Revolution, als das Fallbeil Damit ist die leibliche Teilrückfast im Minutentakt niedersauste, kehr jenes Mannes verbürgt, den wollte der Pöbel den verhassten Adel Frankreichs Historiker in mehr sogar noch post mortem strafen. Im Okals 1000 Büchern zum „galanten“ tober 1793 brach die Menge in die königSozialpolitiker und Fels der Tolichen Marmorgrüfte von Paris ein. leranz verklärt haben. Es folgten Szenen wie aus einem ZomIn Wahrheit war Henri, bäuerbiefilm. Einige der Erlauchten wurden lich im Süden aufgewachsen, zerfetzt, andere zur Schau gestellt, ehe eher eine wurschtige Triebnatur. man sie in ein Massengrab warf. Die Staatsschulden verringerte Ein Leichenteil aber entging diesem er durch Heirat mit einer fetten Schicksal. Ein Anonymus schnappte sich Bankierstochter. Zeitgenossen einen abgerissenen Kopf, den der Mob zufolge entfloh seinem Mund zuvor geohrfeigt hatte, und versteckte ständig „ein Frikassee aus sehr ihn. Bourbonenkönig Heinrich IV.: Wurschtige Triebnatur derben, schmutzigen Witzen“. Über 200 Jahre nach dem Diebstahl ist Auch seine vielgerühmte Redas verschollen geglaubte Stück nun Geligionspolitik entsprang eher genstand einer Großanalyse geworden. einem Bauchgefühl. Sechsmal Rechtsmediziner, Pathologen, Chemiker wechselte er zwischen den Laund Forensiker haben das Haupt Heingern der Hugenotten und Kathorichs IV. enttarnt. „Am Hals haften noch liken hin und her. Eiferei war Stimmbänder“, schreiben die Forscher im ihm verhasst. Als Schürzenjäger „British Medical Journal“. – 56 Mätressen sind namentlich In Frankreich genießt der Monarch bekannt – interessierte er sich höchsten Ruhm. Als Großvater des Sonmehr für die befleckte Empfängnenkönigs Ludwig XIV. übernahm er 1589 nis. Die Strafe: Der Papst exkomdie von Religionskriegen zerrüttete Namunizierte ihn. 17 Attentäter, tion und führte sie zu Frieden und Wohldarunter Mönche, trachteten ihm stand. Sein Toleranzgesetz, das „Edikt nach dem Leben. von Nantes“, machte ihn berühmt. Im Jahr 1594 versuchte es ein Nachfolgende Generationen priesen Student mit dem Dolch und stach Heinrichs tiefe Menschlichkeit und seine Seiner Majestät in den OberkieFürsorge für die Armen. Den Landwirten fer. Dabei splitterte Knochen ab, wünschte er jeden Sonntag „ein Huhn im Schädelpräsentation*: Pollen in der Mundhöhle wie die Mediziner nun berichten. Topf“. Er selbst aß auch unter der Woche Tödlich verlief erst der 18. Anschlag im boden das Haupt aus einer verstaubten Trüffel und Pastete. Jahr 1610, als ein Fanatiker den StaatsEntsprechend wuchtig fiel das Medien- Holzkiste holt. Stammte es wirklich von Heinrich IV.? chef in dessen Kutsche angriff und ihm echo in Frankreich aus. Online-Dienste 20 Forscher, angeblich „die besten der ein Messer in die Brust rammte. Er traf überschlugen sich. Der „Figaro“ brachte die „unglaubliche Geschichte des Schä- Welt“, machten sich ans Werk. Endo- die Aorta. Heinrich verblutete auf der dels“. „Paris Match“ konterte mit einer skope wurden gezückt, Pollen aus der Rückfahrt in den Louvre. Nach dieser Tragödie entzündete sich Mundhöhle untersucht. Die RadiokarZehn-Seiten-Story. Am vorigen Donnerstagabend trat das bondatierung ergab, dass der Schädel im Volk eine „fast mystische Glut“ für Forscherteam im Grand Palais von Paris aus der Zeit zwischen 1450 bis 1650 den Monarchen, so der Historiker Maurice Andrieux, „eine Wärme und Liebe, unter 40 Meter hohen Decken zur Presse- stammt. Besonders auffällig: Am Nasenflügel wie sie nur noch Jeanne d’Arc erhalten konferenz an und zeigte auf einer riesigen der Mumie befindet sich ein „Histiozy- hat“. Das gilt bis heute. Jenseits des Leinwand das modrige Gesicht. tom“ – eine Art Hautknubbel, den man Rheins heißt der Liebhaber mit der RieEs sah aus wie ein Salatkopf. Entdeckt wurde das Relikt von den auch auf alten Porträts des Regenten sieht. sennase nur der „gute König“. Filmautoren Stéphane Gabet und Pierre Und das rechte Ohrläppchen, so die MeLouis Alphonse, Nachfahr des BourboBelet. Zwei Jahre lang verfolgten sie jedes diziner, sei „durchstochen von einem 4,5 nen, hat angekündigt, den Schädel bald in Gerücht, jede Spur. Schließlich gerieten Millimeter großen Zentralloch“. Saint-Denis feierlich bestatten zu lassen. sie an einen Privatsammler. Im Film sieht Es ist jene Kirche, in der man Heinrichs man, wie der alte Herr auf einem Dach- * Auf der Pressekonferenz am 16. Dezember in Paris. Leiche einst schändete. MATTHIAS SCHULZ GESCHICHTE
Begräbnis für einen Kopf
BRIQUET NICOLAS / ABACA
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Szene L I T E R AT U R
Der Sklave und der Fürst
Karl-Markus Gauß: „Im Wald der Metropolen“. Paul Zsolnay Verlag, Wien; 304 Seiten; 19,90 Euro.
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Campenhausen zu folgen. Schon in der Serie „Der letzte Zeuge“ als Rechtsmedizinerin an der Seite von Ulrich Mühe hatte die blonde Schauer bebende Titel dieses TV-Thrilspielerin bewiesen, wie virtuos sie den lers „Racheengel – Ein eiskalter Zuschauer mit der Maske kühler ProPlan“ (Montag, 27. Dezember, 20.15 fessionalität und kleinen Anzeichen innerer Erregung verunsichern kann. Uhr, ZDF) soll wohl den Zuschauer Was in diesem gutgemachten Stück vor dem Schirm schockgefrieren. Da(Regie: Tim Trageser) auf die Darstellebei hat diese Geschichte gar keinen rin zukommt, liegt der Fassadenkünstverbalen Bombast nötig. Es reicht, lerin: Das Mordopfer entpuppt sich als dem Spiel von Gesine Cukrowski in einstiger pädophiler Heimleiter, der der Rolle der Kripo-Ermittlerin Tina Tina und ihre Schwester Jenny (Katharina Wackernagel) quälte. Die Vergangenheit lässt sich nicht mehr verdrängen. Das Selbstbild einer hochprofessionellen Polizistin zerbricht. Geistesgegenwärtig hat sich der Film die Eiseskälte, die während der Dreharbeiten an der Ostsee im Februar dieses Jahres herrschte, zunutze gemacht und aus der Geschichte schwesterlicher Erniedrigung (Kamera: Eckhard Jansen) eine schreckliche Winterreise gemacht. Cukrowski, Wackernagel in „Racheengel …“ FERNSEHEN
Schwestern im Winter
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STEPHAN PERSCH / ZDF
er erste Held dieser Geschichtensammlung wurde nach seinem Tode ausgestopft. Angelo Soliman war Diener und Berater des Fürsten Joseph Wenzel I. von Liechtenstein, eines Mannes von schier unermesslichem Reichtum – zugleich ein fortschrittlicher Despot. Des Fürsten Aufmerksamkeit galt nicht nur dem Golde, sondern auch den Bettlern und dem Volk, was wohl Soliman zu verdanken war. Dieser war ein Aufklärer par excellence, mehrsprachig, weltläufig und weitgereist, zum Ende seines Lebens Freimaurer. Nach seinem Tode aber holte ihn das Schicksal seiner exotischen Herkunft ein: womöglich ein Königssohn, gewiss aber schwarz. Von Sklavenhändlern nach Europa gebracht, von einer sizilianischen Marchesa dem Fürsten Lobkowicz zum Geschenk gemacht, schließlich an den Wiener Hof zum Fürsten von Liechtenstein überstellt und dort zu beträchtlichem Einfluss gekommen. Und gleich nach seinem Sterben am 21. November 1796 dem Präparator übergeben, „ausgeschoppt“ und hergerichtet, um ein Ausstellungsstück im „Physikalischen Kunst- und Tierkabinett“ des Kaisers zu werden. Dort haben ihn jene, die ihn noch gekannt, und die, die nur von ihm gehört hatten, zehn Jahre lang, halbnackt zum edlen Tier präpariert, besichtigen können. Dann kam sein „Stopfpräparat“ ins Depot, bis es 1848 bei einem Brand vernichtet wurde. Das Schreckliche und das Kuriose, das Lichte und das Verdämmerte holt KarlMarkus Gauß, 56, in seiner Geschichtensammlung in die Gegenwart. Der österreichische Schriftsteller und Journalist berichtet von Solimans Schicksal in seinem faszinierenden Buch „Im Wald der Metropolen“. Gauß reist von Berufs wegen und aus Passion, und was er von seinen Erkundungen der europäischen Provinz zwischen Burgund und Transsilvanien, zwischen Thüringen und der griechischen Inselwelt an Kenntnissen mitbringt, versorgt den willigen Leser mit Reiseund Lektürezielen. Sein Blick ist genau, seine Sprache Genuss, und seine Selbstauskünfte sind wissenswert.
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Kultur AU K T I ON E N
Der gefesselte Mogli D
em kleinen Jungen und den niedlichen Tieren aus dem Disney-Zeichentrickfilm „Das Dschungelbuch“ droht ein baldiges Ende. Mogli und Balu der Bär, King Louie, Shir Khan und Hathi Junior warten gefesselt und mit verbundenen Augen auf ihre Exekution, der Dschungel hinter ihnen ist bereits abgeholzt. Dieses Motiv entwarf der sagenumwobene britische Straßenkünstler, der sich Banksy nennt, 2001 im Auftrag von Greenpeace, um auf die Abholzung der Regenwälder aufmerksam zu machen. Das Original soll nun am 11. Januar zusammen mit anderen Kunstwerken von „Urban Art“-Künstlern wie Shepard Fairey und D* Face vom Auktionshaus Bonhams in London versteigert werden, Schätzpreis: 80 000 Pfund. Die Versteigerung dürfte dem Disney-Konzern, der „Das Dschungelbuch“ 1967 als Zeichentrickfilm adaptiert hat, missfallen. Denn Banksys Figuren sehen aus wie jene aus dem Film. „Disney schickte uns damals Drohbriefe mit der Forderung, das Mogli-Motiv aus urheberrechtlichen Gründen nicht zu verwenden“, sagt Graham Thompson von Greenpeace, allerdings blieb es bei den Drohungen. Greenpeace verbreitete das provokante Kunstwerk ungestraft auf Stickern, Plakaten und Bannern. Banksys Graffiti und Installationen erzielen inzwischen Preise von über 100 000 Dollar. Der teuerste Banksy brachte im Februar 2008 bei Sotheby’s in New York knapp 1,9 Millionen Dollar ein.
TRUPPENBETREUUNG
„Die Spannung lösen“ Der Bratschist Ulrich von Wrochem, 66, Ex-Stimmführer im Orchester der Deutschen Oper Berlin, über sein gescheitertes Weihnachtskonzert für deutsche Soldaten in Afghanistan SPIEGEL: Herr von Wrochem, Sie wollten in Afghanistan ein Weihnachtskonzert geben, warum wurde das nichts? Wrochem: Es war merkwürdig, am Anfang stieß ich auf Wohlwollen, dann nahm der Enthusiasmus aber ab. Bis hin zur Absage. SPIEGEL: Was waren die Gründe? Wrochem: Einerseits führte die Bundeswehr Sicherheitsbedenken an. Ich kön-
Wrochem Banksy-Werk „Save or Delete Jungle Book“, 2001
H AU P T S TA D T
Subventionen, nein danke
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ach staatlichen Zuwendungen giert jede Institution. Umso ungewöhnlicher, dass die Betreiber des Berliner Technoclubs Berghain nun auf 1,25 Millionen Euro verzichten, die der Berliner Senat ihnen für den Ausbau eines Gebäudeteils in Aussicht gestellt hatte. Die Summe stammt aus den sogenannten Novum-Geldern, die sich aus dem Vermögen der ehemaligen Parteien und Massenorganisationen der DDR speisen. Der Senat hatte vor einem Jahr beschlossen, einen Teil davon an die Kulturszene der Hauptstadt zu geben. „Berlin braucht innovative Orte“, hieß die Begrundung. Andere Konzertveranstalter klagten über Wettbewerbsverzerrung, die EU prüfte. Das dauerte den Berghain-Betreibern zu lange, nun finanziert der Club den Umbau selbst. Das Berghain befindet sich im Gebäude eines ehemaligen Heizkraftwerks. Der neue Konzertsaal namens Kubus wird für rund 2000 Zuschauer Platz haben und voraussichtlich im Lauf des nächsten Jahres eröffnet.
ne doch schlecht mit Schutzweste auftreten. Dann ging es ums Programm. Es sei nicht Mainstream genug und würde die Soldaten nicht interessieren. Ich wollte Stücke aus dem Barock bis zur Klassik spielen, von denen ich glaube, dass sie sich wohltuend auf die seelische Verfassung der Soldaten ausgewirkt hätten. Diese Musik löst die Spannung, unter der die Soldaten stehen. Das Konzert hätte ihnen bestimmt ebenso viel Freude bereitet wie der Besuch des Ehepaars Guttenberg. SPIEGEL: „Jingle Bells“ oder andere Weihnachtsschlager wollten Sie aber nicht zum Besten geben? Wrochem: Nein, das nun nicht. Ich habe schon in Gefängnissen und Krankenhäusern gespielt und immer großen Erfolg mit meinem Programm gehabt.
Kino in Kürze mit ihren Begierden. Gemma Arterton spielt eine schöne junge Frau, die aus London in ihr Heimatdorf zurückkehrt und dort große sexuelle Verwirrung stiftet. Frears verlegt das urbane Genre des Liebesreigens in die Provinz und inszeniert eine Salonkomödie unter freiem Himmel, die sich an allem erfreut, was schmutzig ist (vom 30. Dezember an).
habe man die Zeitschrift „LandLust“ verfilmt, mit der Betonung auf „Lust“, und dabei einigen bösen britischen Humor beigemischt. Regisseur Stephen Frears („Gefährliche Liebschaften“) erzählt in seiner bukolisch-erotischen Komödie, wie in der englischen Grafschaft Dorset treulose Schriftsteller, pubertierende Teenager und eifersüchtige Popstars plötzlich nicht mehr wissen, wohin
PROKINO
„Immer Drama um Tamara“ wirkt so, als
Luke Evans in „Immer Drama um Tamara“ D E R
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Kultur
ZEITGESCHICHTE
Leben ist mehr als Überleben Im Januar 1945 wurde der Widerstandskämpfer Helmuth James von Moltke von den Nazis hingerichtet. Nun werden die Briefe veröffentlicht, die er und seine Frau Freya sich in seinen letzten Wochen im Gefängnis schrieben. Sie lesen sich wie ein Lehrstück über Anstand, Moral und Liebe. Ich jammere auch nicht, denn unser Leben müssen wir bereit sein einzusetzen. Ich billige alles, was Du tatest, aus Herzensgrund. Freya an Helmuth James von Moltke 6. Januar 1945
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s ist ein Grab unter einer Wiese, einfach nur eine Wiese, mehr nicht. Auf dem Stein, 6000 Kilometer weit entfernt von der Heimat, auf dem Friedhof der Kleinstadt Norwich in Vermont, stehen beide Namen, Freya von Moltke und Helmuth James von Moltke, aber nur sie liegt hier begraben. Freya von Moltke 29. März 1911 – 1. Januar 2010 Frau von Helmuth James von Moltke 11. März 1907 – 23. Januar 1945 138
So hatte es sich Freya von Moltke gewünscht. Ihr Mann war 1945 von den Nazis in Berlin gehängt worden, die Henker kippten seine Asche auf einen Acker vor Berlin. Vor seiner Hinrichtung hatte Freya ihm das Versprechen gegeben, das gemeinsame Leben fortzusetzen, irgendwie. Freya von Moltke war 1960 in die USA gegangen, nicht aus Protest gegen Deutschland, es hatte sich so ergeben. Sie hatte einen neuen Mann kennengelernt, ihn aber nie geheiratet. Sie mochte die sanfte Landschaft Neuenglands, die Holzhäuser mit den Veranden, den Indian Summer, das Land erinnerte sie an Schlesien. Dort hatte sie mit Helmuth James auf dem Gut Kreisau gelebt. Es ist in die Geschichte eingegangen als Treffpunkt vieler Hitler-Gegner, der Mitglieder des „Kreisauer Kreises“. D E R
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Nach Kreisau hatte Helmuth James Graf von Moltke ab 1940 Vertraute eingeladen und mit ihnen eine neue Gesellschaftsordnung entworfen für die Zeit nach dem erwartbaren Zusammenbruch der NS-Diktatur. Zum Kreis gehörten Sozialdemokraten wie Julius Leber, aber auch Geistliche wie der evangelische Pfarrer Harald Poelchau oder der Jesuitenpater Alfred Delp; manche der etwa 20 Mitglieder schlossen sich – nachdem Moltke im Januar 1944 festgenommen worden war – den Hitler-Attentätern um Claus Schenk Graf von Stauffenberg an. Fast 65 Jahre nach der Hinrichtung ihres Mannes starb Freya von Moltke Anfang des Jahres. Sie wurde 98 Jahre alt. Zu Weihnachten noch waren alle Enkel und Urenkel zu ihr gekommen. Sie hatte gekocht: Schweinefilets und Kartoffeln.
NACHLASS VON JOACHIM WOLFGANG VON MOLTKE
Ehepaar Moltke 1935
Nun ist es Ende November, und Helmuth Caspar von Moltke sitzt im Haus seiner Mutter, es ist der letzte Tag, an dem das Haus noch so aussieht, wie es immer war. Am folgenden Tag werden die Handwerker mit der Sanierung beginnen, das Haus soll ein Ferienort werden für die Familie. Im Wohnzimmer steht das schlichte Mobiliar der Mutter und ihres Partners Eugen RosenstockHuessy, eines Kulturphilosophen, mit dem Freya bis zu seinem Tod 1973 hier zusammenlebte. Caspar von Moltke hat die Monate nach dem Tod der Mutter damit verbracht, die Abschiedsbriefe seiner Eltern zu edieren. Sie werden am 17. Januar als Buch im C.H. Beck-Verlag erscheinen. Jene Briefe, die sie sich von September 1944 bis zum Tag der Hinrichtung des Vaters am 23.
Januar 1945 geschrieben haben*. Es sind 184 sehr persönliche und erschütternde Schreiben: ein Gefühlssturm an der Grenze des Todes. Freya von Moltke, die sich, wie ihr Sohn es nennt, „ungern decouvrierte“, hatte sie zu ihren Lebzeiten nicht veröffentlichen wollen, im Herbst vergangenen Jahres gab sie die Originale ans Deutsche Literaturarchiv in Marbach. Mit einer postumen Publikation aber war sie einverstanden. Sie wollte das Vermächtnis ihres Mannes am Leben erhalten. * Freya und Helmuth James von Moltke: „Abschiedsbriefe Gefängnis Tegel. September 1944 – Januar 1945“. Hrsg. von Helmuth Caspar von Moltke und Ulrike von Moltke. Verlag C.H. Beck, München; 608 Seiten; 29,90 Euro. ** Frauke Geyken: „Freya von Moltke. Ein Jahrhundertleben 1911– 2010“ Verlag C. H. Beck, München; 288 Seiten, 19,95 Euro. D E R
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In den achtziger Jahren hatte sie erlebt, was Briefe ihres Mannes bewirken können. Das Verhältnis der Deutschen zu den gescheiterten Helden des Widerstands gegen das Nazi-Regime war lange spröde geblieben, doch als im Jahr 1988 die „Briefe an Freya“ erschienen, die Helmuth James in Kriegs- und Vorkriegszeiten an seine Frau geschrieben hatte, änderte sich dies. Längst schon gibt es zahlreiche Biografien über Moltke, und im kommenden Frühjahr wird Freyas 100. Geburtstags gedacht**. Die „Abschiedsbriefe“ aber ragen heraus aus dieser Flut. Als Helmuth James von Moltke im Januar 1944 verhaftet wurde, ahnte das Paar, dass es sich wohl kaum wiedersehen würde. Die Moltkes versuchten, Nähe durch Schreiben herzustellen. Sie schrieben sich häufig, oft mehrmals am Tag, sie 139
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COREY HENDRICKSON / POLARIS / DER SPIEGEL (L. + M.)
berichteten einander, wie die Gefängniswärter über Hitler lästern und was sich auf Kreisau tut, wie die Söhne Caspar und der jüngere Konrad spielen oder sich auf Weihnachten freuen. Es ist der Versuch, sich gegenseitig in das Leben des anderen hineinzuziehen. Die Briefe entwickeln einen fast literarischen Sog, es gibt eine Art von Anstand und Mut, die den Leser in ihrer Intensität fast peinlich berührt. Es sind Liebesbriefe und moralische Lehrstücke in einem, sie behandeln große Fragen: Was bedeutet der Tod? Kann Liebe den Tod besiegen? Wie verhält sich Gut zu Böse, Recht zu Unrecht, Liebe zu Leid? Die Eheleute arbeiten an Helmuth James’ Verteidigung für den Prozess. Beide haben Jura studiert, er hat als Anwalt in Berlin gearbeitet. Sie verfassen ein Gnadengesuch und überlegen, an wen sie es richten könnten. Heinrich Himmler, der Reichsführer-SS, galt immerhin als Bewunderer von Helmuth James’ berühmtem Urgroßonkel, der als siegreicher Feldmarschall 1870/71 zur Gründung des Deutschen Reichs beigetragen hatte. Entscheidend für die Verteidigung scheint beiden, dass Helmuth James nicht an den Vorbereitungen eines Umsturzes beteiligt gewesen war, anders als etwa Carl Friedrich Goerdeler oder Claus Schenk Graf von Stauffenberg, der am 20. Juli 1944 Hitler hatte umbringen wollen. Da Moltke Monate vor dem 20. Juli verhaftet worden war, hoffen er und seine Frau, dass ihnen Richter Roland Freisler in diesem Punkt folgen würde. Doch sie wissen auch, dass Moltke fest mit dem Zusammenbruch des NS-Regimes gerechnet und mit dem Kreisauer Kreis einen gesellschaftlichen und politischen Neubeginn geplant hatte. Das war belastend genug. „Defätisten“ nannten die Nazis all jene, die am Sieg zweifelten. Freya und Helmuth James von Moltke sind überrascht, wie lange es dauert, bis es zum Prozess kommt – andere sogenannte Kreisauer waren schnell hingerichtet worden. Was sie nicht wissen: Sie sind das einzige Ehepaar des Widerstands, das sich so intensiv hat verabschieden können. Ihr Glück war, dass Moltke ins Gefängnis Tegel verlegt worden war, wo sein Freund und Mitwisser Harald Poelchau als Gefängnispfarrer arbeitete. Poelchau schmuggelte die Briefe, und Freya versteckte sie in Kreisau im Bienenstock. „Pim“, „mein Lieber“, „Kleiner“ nannte Helmuth James seine Frau. Was sich genau für ein Spiel hinter der männlichen Ansprache verbarg, weiß nicht einmal der Sohn: „Ich habe keine Idee, woher der Pim kam“, sagt er. Seine Mutter sei durch die Monate des Abschieds von ihrem Mann „vorbereitet“ gewesen auf ein neues Leben ohne ihren Mann, das habe sie noch kurz vor ihrem Tod so gesagt, erzählt der Sohn. Was ist wichtig? Leben ist mehr als Überleben.
Letzter Brief von Helmuth James von Moltke: „Und dabei bleibt’s“
Einen einzigen Brief hat Freya von Moltke im Haus behalten, den letzten, den ihr Mann am Tag seiner Hinrichtung geschrieben hat. Der Brief vom 23. Januar klingt heiter, fast beiläufig. Seine Frau hat ihm noch antworten wollen, sie saß wie so oft bei den Poelchaus im Wohnzimmer und schrieb, als Poelchau ihr die Nachricht vom Tod ihres Mannes überbrachte. Sie brach ab.
Caspar von Moltke beendet seine Erzählung über die Eltern. Aus dem Schlafzimmer seiner Mutter holt er den letzten Brief seines Vaters. Er faltet das vergilbte Blatt auseinander und deutet auf die winzigen Buchstaben. „Erstaunlich, nicht? Ein so großer Mann mit einer so kleinen Schrift.“ Dieser Brief hatte all die Jahre in Freya von Moltkes Nachttisch gelegen. SUSANNE BEYER
„Dein P. bin ich“ Aus dem Briefwechsel der Eheleute Moltke Freya an Helmuth James von Moltke 29. September 1944
Mein Jäm, mein Herz, mein Liebster, wie schön, dass ich Dir noch einmal richtig schreiben kann. Ich werde leben müssen, und das wird schwer sein, aber es wird gehen, denn ich werde Dich weiter lieben dürfen. Die 15 Jahre, das war unser Leben, mein Jäm; was jetzt kommt, das wird ein Leben für die Söhnchen, für andere Menschen, für Dinge, ich weiß noch nicht, für was, aber mein, unser Leben, mein Herzensjäm, das ist nun hier zu Ende. Du hast es mir immer gesagt, dass Du früh sterben würdest. 7 Jahre länger hast Du mir versprochen, aber was tut schon Quantität. Es kommt auf die Qualität an. Wie gut, dass ich jede Minute mit Dir bewusst als ein Geschenk empfunden habe, dass ich mich um jede gerissen habe. Wir sind wirklich sehr reich und haben, davon bin ich überzeugt, das höchste Glück genossen, was es auf dieser Welt gibt. Wie gut, dass Du Dich doch zu mir entschlossen hast, wie gut, dass ich Dir für mich D E R
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die Söhnchen entrissen habe. Ich werde alt und anders werden, aber in mir wirst Du immer drin bleiben, bis ich sterben und Dich so oder so wiederfinden darf. Jetzt habe ich die ganze Zeit von mir gesprochen, und Du hast doch noch ein schweres Stück zu gehen, aber da Du nie gern gelebt hast, musst Du eigentlich die Aussicht auf Dein Lebensende nicht unangenehm finden. Mein Herz, Du hast mir ja immer gesagt, dass die Dir bevorstehende Form die beste Todesart sei. Hoffentlich ist es so und Du hast, mein Herz, keine Furcht. Dein Leben erscheint mir schön und vollendet. Du stirbst für etwas, für das es sich zu sterben lohnt. Um unser, der Söhnchen und mein Leben, machst Du Dir ja keine Sorgen. Ich fürchte mich gar nicht. Das werden wir schon fertigbringen, mit und ohne Kreisau, mit und ohne Geld, mit und ohne Kommunismus. Die Söhnchen werden schon richtig werden. Ich werde C.chen (Helmuth Caspar –Red.) sagen, Du seiest an Krankheit gestorben; wenn
BAYERISCHE STAATSBIBLIOTHEK / BPK
Kultur
Moltke-Sohn Helmuth Caspar, Widerständler Moltke im Volksgerichtshof am 11. Januar 1945: „Das war unser Leben, mein Jäm“
er größer ist, dann mehr. Solange es geht, werde ich an Kreisau kleben, denn das ist für alle die Heimat. Aber das wird sich alles finden. Ich werde morgen wohl wieder nach Kreisau fahren und im Lauf der nächsten Woche wiederkommen. Dann bringe ich auch einen dicken Anzug mit. Ich habe hier bei P. (Harald Poelchau, der Gefängnispfarrer, in den Briefen meist mit „P.“ abgekürzt) in Frieden, unter Glück, Dankbarkeit und Tränen diesen Brief geschrieben, keinen bösen, sondern nur guten Tränen, mein Herz. Dein P. bin ich. („P.“ steht für Freyas Kosenamen Pim)
Helmuth James an Freya 1. Oktober 1944
Mein liebes Herz, mein Pim, mein Kleiner, unser Leben ist zu Ende. Dass dieser Preis vielleicht gezahlt werden müsste, haben wir beide gewusst. Ich habe keine Furcht vor dem Tod und glaube, Euch in irgendeiner Form zu behalten, und ich habe animalische Angst vor dem Sterben. Ich würde der animalischen Angst und des Abschiedsschmerzes wohl Herr werden, wenn ich mich ganz in dies Schicksal ergäbe. Aber ich fühle mich verpflichtet, dagegen anzukämpfen, und dazu muss ich den Lebenswillen aufrechterhalten.
Helmuth James an Freya 6. Oktober 1944
Mein Lieber, mit großem Glück lese ich Deine Briefe immer wieder, tags und auch nachts, wenn ich aufwache. Denn wir steigen ja um 6 ins Bett und um 7 wieder heraus, weil wir um 6 gefesselt und um 7 wieder aufgeschlossen werden. Und so gibt es immer Zeiten in der Nacht, zu denen man wach ist. Da wir nur bei Licht schlafen, so sind das ganz vollwertige Stunden. Über die Fesselung brauchst Du Dir keine Sorgen zu machen. Man ge-
wöhnt sich vollkommen daran und wird auch mit Handschellen ganz geschickt. Ich nehme bedenkenlos alles, weil es mich freut und weil ich denke, dass es mir vielleicht doch hilft, das Angebrülltwerden mit Gleichmut zu ertragen. Meine Diät von Honigsemmeln, Speck, Eiern und Zucker schlägt mir sehr gut an und tut sicher das ihre dazu, mich vergnügt zu erhalten. Ich esse nur Berge von diesen Schätzen, mein Herz, in der Hoffnung, dass Du es nachschaffen kannst, und in der Erwartung, dass es doch nur noch ein paar Tage dauern wird. Glücklich war ich auch über Mantel und Wäsche, aber noch viel mehr über das Gefühl, dass Du mit mir unter einem Dach nur 100 m entfernt seist. Mir ist überhaupt Deine Anwesenheit in Berlin so angenehm, dass ich mich sozusagen zu Hause fühle. Bleib nur da, wenn es geht. Auf Wiedersehen, mein sehr geliebtes Herz, so Gott will in dieser, sonst in jener Welt. Bewahre Dich ganz und unzerbrochen, auch wenn ich nicht mehr da bin.
Helmuth James an Freya 8. Oktober 1944
Jetzt wäre es mir am wichtigsten, meine eigene Verteidigungslinie klarzubekommen. Ich habe sie kurz skizziert und hätte gerne ein strafrechtliches Urteil darüber. Aber abgesehen von dem Strafrecht möchte ich auch gerne taktische Hinweise haben: Wann kann man reden (bei Gericht)? Kann man zusammenhängend vortragen, oder soll man sich besser darauf beschränken, Fragen zu beantworten? Wie ist die jetzige Definition von Hochverrat und Defätismus? Du siehst, dass ich mich ernsthaft mit der juristischen Seite meines Verfahrens befasse, obwohl ich mir klar bin, dass letzten Endes das alles nichts mit Jurisprudenz zu tun hat. Aus Herrn Kant habe ich mit absoluter Sicherheit begriffen, dass alles Denken D E R
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auf dieser Welt in den Begriffen von Zeit und Raum geschieht und dass beides für jede jenseitige Existenz nicht zutreffen kann. Mit dem Tode tritt man dann aus dem Koordinatensystem von Zeit und Raum heraus, so dass wir, banal ausgedrückt, vielleicht „gleichzeitig“ drüben ankommen, auch wenn Du noch 60 Jahre lebst und ich trotzdem auf Dich nicht zu warten brauche. So, mein Herz, genug für heute; es ist Nachmittag, und es ist ein merkwürdiges Gefühl, den Abend herannahen zu sehen, an dem vielleicht der Bote mit der Anklageschrift kommt, und sich zu sagen: Morgen um diese Zeit bin ich vielleicht schon tot. Man sollte sich das eigentlich immer sagen, aber man tut es eben nicht. Leb wohl, mein Herz, Gott behüte Dich und Deine Söhnchen und uns. J.
Freya an Helmuth James 8./9. Oktober 1944
Mein liebes Herz, da sitze ich in Kreisau an meinem Schreibtisch, habe seit gestern meine Augen über so vieles wandern lassen, was Dir sehr lieb und vertraut ist, und habe nur das gedacht und wie gerne ich es Dich sehen ließe. Gestern war ein milder zartfarbiger Herbsttag. Ach, mein Herz, ich werde mich immer, immer an Deiner Seite über die Felder gehen sehen. Alles, was Du isst, mein Herz, kommt selbstverständlich aus Kreisau, außer den Semmeln. Ich sprach Müller (Gestapo-Chef) Freitag eine halbe Stunde. Er versprach mir, Dich noch einmal zu sprechen, aber dass er Dich umbringen lassen will, ist keine Frage. Als ich einmal sagte, ich als Deine Frau halte sehr viel von Dir, sagte er, dabei solle ich sicher bleiben, aber ihnen dürfte ich nicht übelnehmen, dass sie Dich anklagen müssten. So war es. Hoffentlich hat es nichts verdorben! Er regte 141
Kultur können. Ich umarme Dich zärtlich, mein Herzensjäm, denn ich liebe Dich ganz und gar und auch Deinen Leib, Deine Hände, Deinen Kopf, Dein Gesicht. In großer Liebe bin ich Dein P.
an, ich solle an Himmler und Hitler je einen Brief schreiben. Soll ich das? Dein P. bin ich.
Helmuth James an Freya 10. Oktober 1944
Freya an Helmuth James
Gut Kreisau 1910: „Dir – Liebe und Heimatlichkeit“
11. Oktober 1944
Mein Lieber, eben komme ich von dem Besuch bei Dir zurück. Ich saß im Wartezimmer und schickte alle Gedanken der Liebe zu Dir hinauf. Dann kam der freundliche Wachtmeister mit Deinen Sachen. Die Weste war warm von Dir und brachte mir, wenn nicht einen Kuss, so doch ein bisschen davon. Ich war nun gestern bei Dix (Anwalt), um das zu erfragen, was Du wissen wolltest. Ich habe nur allgemein nach der Art der Verhandlungen und nach Freisler (Präsident des Volksgerichtshofs) gefragt. Das berichte ich Dir also zunächst. Ja, es ist eine ordnungsmäßige Verhandlung, und nach Dixens Ansicht wird das Urteil auch erst aufgrund der Verhandlung gefunden. Dix betonte, Freisler sei ein hervorragender „Inquirent“ und frage sehr gründlich und vielseitig, lasse den Angeklagten auch sprechen, sei aber so temperamentvoll, dass er oft unterbreche. Über Freisler sagte er, er halte ihn für den * Mit Asta von Moltke, General Friedrich von Rabenau, Peter Yorck von Wartenburg.
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Helmuth James an Freya
NACHLASS JOACHIM WOLFGANG VON MOLTKE
14. Oktober 1944
TESCHNER / ULLSTEIN BILD
Mein Lieber, gestern kamen die Esssachen von Dir an. Der Anblick richtiger Butter, die ich ja seit dem 17. 8. nicht mehr bekommen habe, hat etwas peinlich Beglückendes. Sind die Pfirsiche von dem kleinen Spalierbäumchen? Essen ist so eine angenehme Abwechslung am Tage, und ich rechne am Morgen damit, nach 36 Stunden, und am Abend, nach 24 Stunden tot zu sein. Mein Herz, so sehr ich es mir verbiete, so befasst sich mein Kopf doch immer mit Deinem künftigen Leben. Und vielleicht kann ich doch eine Sache dazu Widerstandstreffen in Kreisau 1940*: „Was für eine Zeit!“ sagen, ohne dass das schaden kann. Nach einiger Zeit kommt der Alltag, und das wird der schlimmste Augenblick sein. Du musst aber diesen Tiefpunkt durchwandern und den Schmerz ertragen. Versuche nicht, durch übermäßige Geschäftigkeit darüber hinwegzuhuschen. Mein Herz, ich habe mich etwas gescheut, Dir das zu schreiben, weil es so nach Besitzerwillen über das Grab hinaus aussieht und weil es in etwa ein grausamer Rat ist, für mich billig, für Dich schwer.
Mein Lieber, mir ist ein neues Argument eingefallen. Ob es nicht möglich sei, mich zunächst einmal aufzusparen, einfach nicht zu vollstrecken und in ruhigeren Zeiten zu überlegen, ob man nicht mit mir etwas Besseres anfangen könnte, als mich aufzuhängen. Im Übrigen sei es doch auch so, dass ein nicht vollstrecktes, rechtskräftiges Todesurteil für mich eine ganz beachtliche Strafe sei, die überdies mich treffe, während ein sofort vollstrecktes Todesurteil vor allem Dich, aber unter diesen besonderen Umständen vielleicht auch ganz Deutschland treffe. Mein liebes Herz, welch eine Zeit! Was für Frucht wird sie bringen. Werden wir etwas erworben haben, was es denen, die nach uns kommen werden, vor allem unseren Söhnchen, leichter macht zu erkennen, neue Untiefen zu messen und neue Höhen zu erklimmen? Oder ist jeder Einzelne so sehr ein selbständiger Gedanke Gottes, dass er alles nur für sich alleine tut, leidet, erringt, sät, erntet?
Helmuth James an Freya 26. Oktober 1944
klügsten Mann des ganzen Regimes, er sei ein Mordskerl und glänzender Verhandlungsführer. Einen Angeklagten, der nicht geistig auf der Höhe sei, zermalme er wie eine Boa constrictor ihr Opfer. Eine Verhandlung unter Freisler könne unter Umständen atemberaubend faszinierend sein. Er sei sehr gebildet und habe überhaupt Niveau. Er ist also ein match, was ich gar nicht gewusst hatte. Ich dachte, er brüllte nur. Dix ist dabei grundsätzlich unserer Meinung über ihn, aber mir scheint, man muss über seine Qualität doch Bescheid wissen. Ich habe persönlich noch das Bedürfnis, Dir zu sagen, Du möchtest Dir nur ja nichts gefallen lassen. Wenn er brüllt, dann brülle wieder! Ich finde es doch wichtig, dass Du groß aus der Sache hervorgehst. Du wirst mit Kühnheit sicher mehr bei ihm erreichen. Ich bin ja auch der Ansicht, dass Du Dich verteidigen musst bis zum Äußersten, aber schlängeln darfst Du Dich nicht. Diese Männer müssen zum mindesten merken, dass es sich um eine geistige Macht handelt, an die sie trotz allem nicht heranD E R
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Mein Herz, heute im Halbschlaf hatte ich einen merkwürdigen Gedanken, halb Gedanke, halb Traum. Ich kam zur Hinrichtung nach Plötzensee, und da sagte der Henker: „Wie soll ich denn den Linken alleine hinrichten ohne den Rechten; das geht ja nicht.“ Und als man mich ansah, da warst Du an meiner rechten Seite angewachsen, wie die Siamesischen Zwillinge, so dass eine Hinrichtung unmöglich war. Es war sehr lieb und ich wurde ganz wach.
Helmut James an Freya 28. Oktober 1944
Ich hatte große Lust mit Dir zu reden, weil ich traurig war. Es gab gar keinen Grund. Es ist aber so, dass dies Leben zwischen Tod und Leben eben anstrengend ist. Denn wenn man endlich zum Sterben ganz fertig und bereit ist, so kann man doch daraus keinen Dauerzustand machen. Das geht leider nicht; das Fleisch tut da nicht mit. So pendelt man zum Leben zurück, vielleicht nur wenig, man baut sich ein Kartenhaus, und dann, wenn
Peter Yorck von Wartenburg 1944
Alfred Delp 1945
Hans Bernd von Haeften 1944
Julius Leber 1944
ZUMA/KEYSTONE/IMAGO (O.L.); BSB / BPK (O.R.); ARCHIV FRIEDRICH / INTERFOTO (U.L.); AKG (U.R.)
Kultur
Kreisauer-Kreis-Mitglieder vor Gericht: „Du stirbst für etwas, wofür es sich lohnt“
man das merkt, reißt man es wieder ein, und das hat das Fleisch eben sehr ungern. Es ist auch ein Fall, wo Übung nicht den Meister macht; es bleibt immer ganz gleich unangenehm. So ist das eben heute mal wieder; dann zwei eklige Luftangriffe in der Nacht − immer so nah, dass man die großen Brocken runtersausen hörte und bei der Explosion die Scheiben zitterten −, dann Dunkelheit und Regen.
Freya an Helmuth James 3. November 1944
Mir geht es wirklich gut, und ich fühle mich glücklich und so fest mit Dir verbunden, dass ich einhergehe wie eine, die gut und glücklich und sorglos verheiratet ist. Wie ist das nur möglich mit solchen Aussichten! Mein Verstand versteht es nicht. Heute haben mir 2 Leute gesagt, die nichts von unserer Lage wussten, ich sähe gut aus. Wie kommt das nur? Es geht mir gut. Mein Jäm, und wie glücklich bin ich, wenn ich lese, dass es Dir sehr gut geht. Besseres gibt es für mich gar nicht. Dein P. bleibe ich immer.
Helmuth James an Freya 4./5. November 1944
Mein Lieber, ich verbringe meinen Tag jetzt hauptsächlich mit dem Schreiben des Schriftsatzes. Es ist wahrlich eine tollkühne Verteidigung: Ich bin immer und offen nicht Eurer Meinung gewesen und deswegen straffrei. Aber sie ist ja im Kern wahr und die einzige These, die überhaupt eine vernünftige Linie bietet. Aber das setzt voraus, dass ich im Termin glückhaft operiere und die angedeutete Linie erfolgreich verstärke und gegen Einzelangriffe verteidige. Jedenfalls sehe ich dem mit Spannung entgegen. Was die Verzögerungen bedeuten, weiß ich nicht; ob augenblicklich überhaupt kei144
ne 20. 7.-Verfahren (Tag des Attentats auf Hitler) stattfinden? Da keine Hinrichtungen waren, möchte man das fast meinen.
Helmuth James an Freya 12./13. November 1944
Ich würde bitten, dem Hewel (Walther Hewel, Vertrauter Adolf Hitlers) noch zu sagen, er solle zweierlei anbringen, was die Familie aus Bescheidenheit in dem Gesuch an den Führer nicht gesagt hat: a. dass sie schließlich an der Reichsgründung entscheidend beteiligt war. b. dass Hans Adolf (deutscher Botschafter in Polen; gestorben 1943) mein Vetter und mit mir befreundet war. Ich finde, dass man das Verdienst von Hans Adolf um das dritte Reich auch mit heranziehen soll.
Helmuth James an Freya 14. November 1944
Mein Lieber, heute Nacht habe ich furchtbar gerungen. Der Kampf ging um die Gnadensache, und schließlich bin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass das Gesuch schlecht und der Weg falsch ist. Ich sage das so brutal, mein Herz, weil ich glaube, dass Du es genauso gut ertragen kannst wie ich. Es gibt nur ein Argument: Wir sind eine der großen Familien des Landes, und wenn die Familie sich geschlossen − auf dem Papier − vor mich stellt, dann ist das ein Argument: in dem einen Mann werden wegen der Geschlossenheit auch die übrigen betroffen, und alle zusammen können auf so große Verdienste verweisen, dass diese Gnade rechtfertigen. Mach morgen ein ganz neues Gesuch mit Dix und besprich mit ihm genau, wie es vorgelegt werden soll. Dabei gibt es folgende Möglichkeit: D E R
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Gleichlautend an A. H. (Adolf Hitler) und Himmler. Das auf alle Fälle, scheint mir. Frage? Das Exemplar an A. H. über Himmler über Justizminister über Freisler? Das muss besprochen werden. Mein armes Herz, das wird Dich sehr erschrecken. Lass es Dich nicht erschrecken.
Freya an Helmuth James 15./16. November 1944
Ach, mein Jäm, ich weiß! Dass wir im Grunde genau auf der gleichen Stufe wie H. H. (Heinrich Himmler), A. H. und F. (Freisler) stehen, ist uns sehr klar. Ich wage deren Funktionen und deren Gewicht auf Gottes Waage nicht zu beurteilen. So einfach ist es sicher nicht, dass auch Gott ihre Wege so wie wir verurteilt. Es bleibt zum mindesten das: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“.
Helmuth James an Freya 19. November 1944
Ich fühle mich wegfertig. Aber das ändert nichts daran, dass mir das Sterben nicht leichtfällt; aber das Merkwürdige ist, dass es mir jedes Mal, wenn ich mich wieder darauf rüste, schwerer wird, Abschied zu nehmen. Es ist so, als wenn Du eine Holzschraube immer wieder einschraubst und dadurch der Gang etwas locker wird, so dass Du, wenn Du sie wieder einschraubst, eine Drehung tiefer schrauben musst, und das geht dann jedes Mal schwerer. Für Stauffenberg war das viel leichter: Geschwindigkeit ist eine Erleichterung. (Hitler-Attentäter Claus Stauffenberg wurde am 20. Juli 1944, am Tag des Attentats auf Hitler, hingerichtet.) Trotzdem bin ich für jeden Tag dankbar.
Helmuth James an Freya 5. Dezember 1944
Mein Herz, die Anklageschrift ist ein Wunder, denn der Angriff liegt vollkommen falsch. Von Vorbereitungshandlungen für 20. 7. ist keine Rede; eigentlich ist bei mir auch die Möglichkeit des Hochverrats bereits aufgegeben und es bleibt nur Defätismus. Nun muss man dazu Folgendes sagen: a. Defätismus, wenn er als erwiesen angenommen wird, reicht auch. b. Freisler wird es auf die Wahrheit gar nicht so ankommen. Also: Zu menschlicher Hoffnung ist gar kein Anlass. Aber, mein Herz, wir sind verpflichtet, diesen Vorgang als ein Zeichen dafür zu werten, dass Gott uns hört; es wäre eitel Unglaube, das nicht zu tun.
Helmuth James an Freya 5./6. Dezember 1944
Mein Herz, es ist sehr nahe an Weihnachten, wenn ich jetzt umgebracht werde, und ich zittere etwas für Dich, dass das dann noch gar nicht verdaut ist. Wappne
Kultur Dich, mein Herz. Hoffentlich vermagst Du das, denn die vielen Kinder haben ja einen Anspruch auf eine fröhliche Weihnacht, auch wenn ihre Väter gerade umgebracht worden sind.
Freya an Helmuth James Mein Lieber, der Tag ist zu Ende. Tausendmal sind meine Gedanken zu Dir geflogen, und immer haben sie Dich gefunden. Mein liebes Herz. Wir haben einen ganz wunderhübschen Baum. Könntest du ihn sehen! Er ist zierlich, geht, nachdem wir ihn noch mit Büchern etwas erhöht haben, bis zur Spitze des Spiegels, ist ganz, ganz ebenmäßig gebaut, ganz und ganz schlank, ganz voll, ganz reizend ist er. In ihm hängen nun außer dem Lametta und weißen Kerzen eine ganze Menge von den kleinsten rotwangigen Äpfeln, die Du, mein Herz, jetzt immer isst. Das sieht wunderhübsch aus und ist so recht aus Kreisau. Am Abend vorher hatte mich die Verzweiflung gepackt, dass Deine alte Eisenbahn eben doch nur noch ein Wrack ist, trotz aller Reparaturen, aber wir haben sie dann ganz nebensächlich aufgebaut. Casparchen war halb tot vor Freude. Ich möchte Dir die Liebe und Heimatlichkeit, den Weihnachtsglanz so gerne vermitteln, dieses alles, was schon unsere vergangenen Jahre so schön gemacht hat, und da bin ich traurig, dass Du in deiner Zelle es nicht sehen kannst, sonst bin ich nur dankbar. Nach der Verhandlung am Volksgerichtshof und dem Todesurteil durch Freisler
Helmuth James an Freya 12./13. Januar
Mein Herz, bleierne Müdigkeit hat mich jetzt überfallen. Das ständige Hoch drei Tage lang hat mich eben erschöpft, zumal ich drei Nächte nur mit Pillen geschlafen habe, weil ich über Tag immerzu Kaffee trank, Coffein und Kaffeebohnen aß. Mein Armer, Dein Brief von gestern Abend und heute früh zeigt mir, wie anstrengend das alles für Dich war. Es ist eben viel schwieriger zuzuschauen, als betroffen zu sein. Nun, so hoffe ich, ist das überstanden. Der Termin ist vorbei, und ich kann deswegen ruhig an die Gnadensache denken und Dir dabei helfen. So will ich mal anfangen zu schreiben, was mir so alles einfällt. Ich jedenfalls bin gegen „Haltung“. Trauer ist Trauer und Schmerz ist Schmerz, und man braucht sich keines zu schämen. Haltung verhärtet leicht das Herz, und für Dich wäre das ganz unmöglich. Du darfst nie denken, Du seiest „mir eine gute Haltung schuldig“.
Freya an Helmuth James 19. Januar 1945
Mein liebes Herz. Um 3 war ich bei Müller (Gestapo-Chef). Er fing gleich so an, 146
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MARTIN LENGEMANN / INTRO
24./25. Dezember 1944
Witwe Moltke in Berlin 2006
„Ich nehme Dich mit und bleibe Dir nah“
dass er sagte, man/ich könne gar nichts mehr für Dich tun, denn Du seiest ein Hochverräter, und es ginge nicht, dass die lebten und an der Front die anderen für D’land stürben. Das könne auch kein Reichsführer und selbst kein Führer ändern, denn die hätten darin – dem Sinn nach – keinen eigenen Willen mehr. Kurz, mein Herz, dieser „mächtige“ Mann hat ein sehr tiefes persönliches Ressentiment gegen Dich. Wird das H. H. nicht teilen? Lieber! Mit Recht haben sie es! Gut, dass sie es haben, denn mit denen gibt es keinen Kompromiss! – Dass er mit mir persönlich so sehr freundlich war, war mir so unangenehm. „Hätte er sich Ihnen nur mehr untergeordnet.“ Das mochte ich gar nicht hören. Ich nehme Dich mit und bleibe Dir nah in großer, heißer, starker, ungetrübter und so Gott will unangefochtener Liebe. P. Todestag
Helmuth James an Freya 23. Januar 1945
Mein Lieber, wie schön zu wissen, dass Du da bist. Wie sehr lieb. Eben brachte [der Wachtmeister] mir frisches Fleisch, Schlagsahne und Semmeln. Sonst nichts anderes als dass ich Dich, mein sehr liebes Herz, sehr lieb habe und dabei bleibt’s. J.
Freya an Helmuth James 23. Januar 1945
Wie fest trage ich Dich bei mir mein Herz, ganz ganz fest und mit der felsenfesten Sicherheit, dass daran auch Dein Tod nichts ändern kann. Ich werde mir jetzt noch eine Sprecherlaubnis besorgen [Brief bricht ab.]
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Kultur
KINO
Zu dritt ist man weniger allein Dokument des erotischen Zeitgeists: Tom Tykwers neuer Film „Drei“ erzählt von den Liebeswirren moderner Großstadtmenschen.
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Befruchtung von Eizellen in einem kommerziellen Labor überwacht und Vorträge über Chimärenforschung vor dem Nationalen Ethikrat hält. Hanna Blum heißt die Figur von Sophie Rois mit vollem Namen – was an Kurt Schwitters’ legendäres Dada-Gedicht „An Anna Blu-
HIPP-FOTO
o die Liebe auch hinfällt in Tom Tykwers Film über das wilde Leben der Berliner Boheme, sie fällt stets auf einen mit theoretischer Weisheit gepflasterten Grund. Da begegnen sich in einem cool beleuchteten Badeschiff am Spreeufer der bleiche Adam (Devid Striesow) und der robuste Simon (Sebastian Schipper). Sie schwimmen ein paar Poollängen und plaudern miteinander. Und dann kommt es im Umkleideraum der Badeanstalt zu Zärtlichkeiten zwischen den beiden nackten Männern, von denen Adam wenig später sagen wird, sie bedeuteten keineswegs, dass sie beide homosexuell seien. Es komme heutzutage drauf an, sich von seinem „deterministischen Biologieverständnis zu verabschieden“. Ein andermal stolpert die weibliche Hauptfigur Hanna (Sophie Rois) spätnachts mit einem Kerl, in dem der Kinozuschauer unschwer Adam erkennt, in dessen Wohnung. Sie zaudert ein bisschen in der fremden Bude und steigt durch das Badezimmerfenster hinaus auf ein Flachdach, wo sie dann ziemlich ulkig in der Berliner Nacht herumsteht. Dass sie doch zurück in die Wohnung und in Adams Bett hüpft, hat möglicherweise mit dessen Kennerschaft in Fortpflanzungsfragen zu tun: „Für eine Gewinnung von Stammzellen wird eine Befruchtung heute nicht mehr gebraucht.“ Der Regisseur Tom Tykwer, 45, hat nach Erfolgen wie „Lola rennt“ (1998) und internationalen Großproduktionen wie „Das Parfum“ (2006) eine deutsche Beziehungskomödie gedreht über ein Paar, das seit 20 Jahren zusammen ist. Beide blühen auf, als sie sich, ohne es vom anderen zu wissen, in den gleichen Mann verlieben. Tykwer gibt an, er habe als Vorbilder für „Drei“ bedeutende Filme von Pier Paolo Pasolini und Ernst Lubitsch im Sinn gehabt. Es ist das Jahr 2010, die letzten sexuellen Tabus sind längst brutalstmöglich geklärt. Die Verwirrung der Menschen aber scheint dadurch nicht geringer geworden zu sein. Und so widmet sich der Regisseur Tom Tykwer den großen Gegenwartsfragen der Lust, der Fortpflanzung und der Liebeshindernisse mit viel absurdem Humor. Adam Born nennt Tykwer denjenigen seiner Helden, der von Berufs wegen die
heitere Paradox: Theoretisch sind diese sympathischen, mittelalten, mittelschlauen Leute voll auf der Höhe von Genderdebatte und Reproduktionsmedizin, praktisch aber bleibt ihr Leben trotz allen Palavers eine ewige Baustelle. Wer von den Geschlechtern redet, muss vom Biologischen und vom Kulturellen reden, sagen die Genderforscher. Dieser Film versteht das so, dass er Hanna, Simon und Adam Ablenkung und Sinnstiftung suchen lässt in der Kunst. Am Anfang sieht man eine Tanzszene der Berliner Choreografin Sasha Waltz, in der zwei Männer und eine Frau in Gewändern einander umhalsen und in ferne Ecken stürmen in einem leuchtendweißen Raum. Später sitzen Hanna und Adam in einer Bob-Wilson-Inszenierung im Berliner En-
„Was Sie schon immer über Sex wissen wollten …“-Stars Lynn Redgrave, Allen 1972, Schauspieler
me“ erinnert, das mit den Worten beginnt: „O Du, Geliebte meiner 27 Sinne“. Tykwers Frau Blum ist Fernsehmoderatorin und tritt in einer Kultursendung nach Art der 3sat-„Kulturzeit“ auf, wo sie tagtäglich das Neueste aus Kunst und Krise und Geschlechterphilosophie kommentiert. Auch jenseits des TV-Studios plappern die Figuren in „Drei“ ausgiebig über sinkende Beischlaffrequenzen, Fertilitätsraten und die Chancen und Risiken der modernen Wissenschaft. Wobei es dem Regisseur offensichtlich nicht besonders wichtig ist, dass der Zuschauer das Gerede bis ins Letzte kapiert. Es geht eher um das D E R
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semble, gezeigt wird eine Bebilderung der shakespeareschen Sonette. Und bei einer Museumsperformance versammeln sich zum ersten Mal alle drei Liebesabenteurer an einem Ort, was sehr komisch ist, weil alle Beteiligten mit knapper Not an der Aufdeckung einer Dreierbeziehung vorbeischrammen, die bis dahin nur der Kinozuschauer durchschaut hat. So ist Tykwers Film auch ein Versteckspiel. Die Macht des Zufalls ist so etwas wie die Obsession dieses Regisseurs. In „Lola rennt“ hat er drei Versionen eines fatalen Nachmittags gezeigt, in „Drei“ arrangiert er stets neue überraschende
Tisch, und die Kinozuschauer dürfen zusehen, wie ein blutiges Amputat in eine Nierenschale plumpst. Man kann Tykwer nur bewundern für den Mut, mit dem er hier die merkwürdigsten Pointen drischt. Er zeigt seine Helden beim PornoGucken am Arbeitsplatz und beim kühlen Verabschieden eines Gelegenheitslovers, im Zentrum seines Films aber werden die großen Allerweltsfragen gestellt, die man von den Titeln erfolgreicher Sachbücher und Magazine kennt: Wann droht in meiner Beziehung die Kumpelfalle? Wozu mühen wir uns eigentlich ab? Wofür stehst du? Was steht uns noch bevor? Und wie werden wir damit fertig? Tykwer entwirft mit leichter Hand einen Zustandsbericht über die Liebe im Jahr 2010, mit allen schmutzigen Insignien
Sexratgeber für US-Amerikas Mittelstand. In der berühmtesten Szene trägt Woody, der unerschrockene Aufklärer, ein weißes Ganzkörperkostüm. Er stellt ein Spermium dar, das sich im Inneren einer männlichen Keimdrüse ganz schrecklich fürchtet vor dem Ausritt. 1972, als Allens Film in die Kinos kam, war die Welt gründlich verstört von dem, was man damals die sexuelle Revolution nannte. Der Wissenschaftspionier Alfred Kinsey hatte in den Jahrzehnten zuvor das Liebesleben der westlichen Zivilisation erforscht und sie über die massenhafte Verbreitung von Masturbation und homosexuellen Neigungen belehrt. Die Antibabypille hatte Millionen Frauen eine vergleichsweise sichere Verhütungsmethode und ein Plus an Selbstbestimmung be-
X- VERLEIH
Begegnungen, Überschneidungen, Verkettungen. Stets scheint es so, als wolle der Filmemacher geradezu verbissen herauskriegen, nach welchen Regeln das Schicksal seine Weichen stellt. Es ist zugleich lustig und lässig, wie Tykwer hier eine Hauptstadtkulturwelt abbildet, in der er sich so ähnlich in der Wirklichkeit auch selbst bewegt. Was ihm dabei gelingt, ist das Porträt hochsensibler Intellektueller, die Fernsehbilder und Zeitungsschlagzeilen von Kriegen und Katastrophen nur schulterzuckend zur Kenntnis nehmen. Wie die Helden alter Botho-Strauß-Theaterstücke scheinen sich diese Leute selbst genug, während sie sich nach etwas sehnen, das ihrem Boheme-Leben Gewicht verleiht und Einzigartigkeit. Nicht mal Krankheit und Tod
Schipper, Rois in „Drei“: Große Kennerschaft in Fortpflanzungsfragen
sind in dieser Welt so richtig ernst zu nehmen. Als Simon von seinem Arzt erfährt, dass er an Hodenkrebs leidet, blendet er das wochenlang aus. Schon härter trifft es ihn, dass seine Mutter (Angela Winkler) schwer krank ist und bald darauf einen grimmigen Freitod stirbt. Aber wie anders als zum Lachen soll man es finden, wenn diese Mutter dann als Engel in den Himmel über Berlin schwebt? Dazu rezitiert sie flügelflatternd Hermann Hesses Gedicht „Stufen“: „Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!“ Simon schließlich landet aus Sorge um seine Liebeskraft doch noch auf dem OP-
des Vorläufigen, mit einem Überschuss an Theorie und mit Charme und mit Witz. Der allerdings weniger an die Filme von Pasolini oder Lubitsch erinnert, sondern, nicht immer ganz beabsichtigt, an einen etwas weniger geachteten und fast vier Jahrzehnte alten Episodenfilm von Woody Allen: In „Was Sie schon immer über Sex wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten“ ging es in sieben Kapiteln um Fragen wie „Was ist Perversion?“ und „Warum haben manche Frauen Schwierigkeiten, zum Orgasmus zu gelangen?“ Allens Film beruhte auf einem millionenfach verbreiteten Sachbuch: einem D E R
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schert. Und die Hippies predigten die freie Liebe als das einzig Wahre. Der utopische Traum, den Woody Allen am Ende von „Was Sie schon immer über Sex wissen wollten“ beschwört, ist eine Art Dauerorgasmus, man weiß nie genau, ob er den ganzen Irrsinn nun verhöhnt oder feiert. Tykwer dagegen malt am Ende das Idyll eines nackten Trios im Bett: Zu dritt ist man weniger allein. Das kann man als Zeichen der Zeit werten – oder als Beweis dafür, dass Woody Allen der gewieftere Spaßmacher ist. Und Tom Tykwer ein wunderbar hemmungsloser Romantiker. WOLFGANG HÖBEL 149
Kultur
KUNST
Bilbao in Texas James Dean drehte in dem Cowboy-Kaff seinen letzten Film, der Minimalist Donald Judd verwandelte es in ein Gesamtkunstwerk. Ein neuer Museumsdirektor aus Bielefeld will Marfa jetzt endgültig als Kunstmetropole etablieren.
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Judd-Werk in der Chinati Foundation in Marfa: Als
MPTV / INTERTOPICS
er Himmel über der Wüste von lichen Besucherzahlen mehr als verdopWesttexas ist klar wie Glas. Ein pelt. Die neue Aufgabe in Marfa aber sei paar Geier schweben am Horizont „ein Traumjob“ für jeden, der sich für mound ein Zeppelin der Grenzpolizei, ausge- derne amerikanische Kunst begeistere. rüstet mit Überwachungskameras. Die meMarfa hat 2121 Einwohner und eine xikanische Grenze ist nicht weit, Drogen- Ampel, die gelangweilt vor sich hin blinkt. und Menschenschmuggler mögen es hier. Als größtes Ereignis in der Geschichte Kein Handy-, kein Radio-Empfang, keine des Ortes gilt der Besuch einiger HollyTankstelle auf über 100 Kilometern entlang wood-Stars im Jahr 1955. James Dean, des Highways Nummer 90. Der Killer aus Elizabeth Taylor, Rock Hudson und DenCormac McCarthys Roman „No Country nis Hopper drehten in Marfa „Giganten“, for Old Men“ fand hier seine Opfer. ein Kinoepos über den amerikanischen Zwei Autostunden hinter El Paso, vor Traum und seine Schattenseiten: vom reder Kleinstadt Marfa, kommt man an bellischen Cowboy zum versoffenen Öleinem kleinen Haus vorbei, das auf den Tycoon in 201 Minuten. Fotos der Stars ersten Blick so aussieht wie ein Laden hängen bis heute in der Lobby des Hotels der Modefirma Prada. Auch auf den zwei- El Paisano, neben ausgestopften Rinderten: „Prada Marfa“ steht an der Fassade, köpfen. „Giganten“ wurde James Deans zwei Markisen werfen Schatten auf die letzter Film, er starb vor der UrauffühSchaufenster, im Geschäft stehen, sorg- rung bei einem Autounfall. Noch immer sehen die Häuser an der fältig drapiert, Handtaschen sowie Damenschuhe mit hohen Absätzen. Tote Hauptstraße aus wie Kulissen für einen Fliegen liegen neben der Ware auf dem Western, nur dass davor heute GeländeBoden. Kein Verkäufer, keine Kunden, wagen parken. Einige Passanten tragen die Tür ist verschlossen. Prada Marfa ist Cowboyhüte. Jahrzehntelang lebte der Ort vor allem von der Viehzucht, aber die einsamste Boutique der Welt. Es ist auch Kunst, wie so vieles in Marfa, rentabel ist das Geschäft nur noch für ein „skulpturaler Eingriff“. Die beiden wenige Großrancher. Die Cowboys gehen, die Künstler komKünstler, die die Installation vor fünf Jahren in den Sand setzten, heißen Michael men. Maler, Bildhauer, Grafiker sind in Elmgreen und Ingar Dragset, ein Däne den vergangenen Jahren aus New York und ein Norweger mit Wohnsitz Berlin. oder Los Angeles nach Marfa gezogen. Miuccia Prada, die Firmenchefin, spendete Fotografen, Modedesigner, Kunsthändler Handtaschen und Schuhe für die Auslage. folgten, es gibt mittlerweile mehr als 20 Thomas Kellein drückt seine Nase ge- Galerien in den alten Western-Häusern, gen die Schaufensterscheibe. „Sehr clever darunter die Galerie Ballroom, den Aufgemacht“, sagt er. Zweimal geht er um traggeber für „Prada Marfa“. Die Rockden Laden herum, bevor er zurück ins gruppe Sonic Youth gab im Ort ein klimatisierte Auto flüchtet. 60 Kilometer Gratiskonzert, der Rad-Profi Lance Armstrong mietete sich ein Loft, die Coennoch bis Marfa. Kellein, 55, ist der Direktor der Kunst- Brüder drehten hier einige Szenen für ihr halle Bielefeld, noch. Am 1. Januar zieht Meisterwerk „No Country for Old Men“. er mit seiner Familie von Ostwestfalen Inzwischen hat Marfa einen Montessorinach Texas. Kellein wurde zum neuen Kindergarten, Gourmetrestaurants mit Chef der Chinati Foundation berufen, ei- Preisen wie in Manhattan sowie einen nes Museums in Marfa, einem winzigen Lebensmittelladen, in dem man Bio-PaOrt am Ende der Welt oder zumindest am payas, französische Marmelade und itaEnde der USA. Auf den ersten Blick ein lienisches Mineralwasser kaufen kann. Marfa ist ein Beispiel für jene Fähigkeit seltsamer Karriereschritt, der alle Nichtkunsthistoriker zu der Frage bringt: Ist Bie- Amerikas, aus dem Nichts eine neue Welt zu erschaffen, wenn man es nur will. Marlefeld, die Backpulverstadt, so schlimm? Kellein lacht. Seit 1996 ist er in Biele- fa war ein Wüstenkaff, nun ist es Ziel für feld, er hat dort überregional beachtete Kulturbegeisterte aus aller Welt. StrukAusstellungen organisiert und die jähr- turwandel auf Amerikanisch.
Hollywood-Star Dean in „Giganten“ 1955, künftiger
Die Keimzelle des neuen Marfa liegt am Südrand des Ortes: die Chinati Foundation, das wohl bedeutendste Museum für moderne Kunst zwischen New York und Los Angeles, untergebracht in einem ehemaligen Fort der US-Armee, das einst gegründet worden war, um die Grenze zu Mexiko zu verteidigen. Chinati, benannt nach einem Berg bei Marfa, umfasst ein 140 Hektar großes Areal aus verdorrtem Gras mit mehr als 30 flachen Baracken, ehemaligen Munitionsdepots und Flugzeughangars. Im Zweiten Weltkrieg waren auf dem Ge-
NANCY NEWBERRY / DER SPIEGEL NANCY NEWBERRY / DER SPIEGEL
BOB ADELMAN / CORBIS / VG BILDKUNST, BONN 2010
hätte Stanley Kubrick in einer Drehpause von „2001“ eine Bulthaup-Küche entworfen
Chinati-Chef Kellein, Künstler Judd um 1966: „Den Kopf benutzen ist besser, als ihn verlieren“
lände deutsche Kriegsgefangene unter- steller Lewis Hyde ernannte Chinati zum gebracht. An einer Wand in diesen „Tadsch Mahal Amerikas“. Vielleicht wäre Marfa heute eine GeisHallen steht noch heute auf Deutsch die Warnung „Zutritt fuer Unbefugte ver- terstadt, wenn nicht in den siebziger Jahboten“, außerdem der Ratschlag „Den ren der New Yorker Künstler Donald Judd Kopf benutzen ist besser, als ihn ver- den Ort für sich entdeckt hätte. Judd, Jahrgang 1928, hatte mit minimalistischen Gelieren“. Rund 12 000 Menschen pro Jahr besu- mälden und Skulpturen für Aufsehen gechen Chinati, sechsmal so viele, wie der sorgt; Kritiker feierten ihn als radikalsten Ort Einwohner hat, eine Quote, die welt- Vertreter der Minimal Art, eine Bezeichweit nur wenige Museen erreichen dürf- nung, die er selbst verabscheute. ten. Die meisten Besucher sind KunstbeJudd verabscheute auch New York, die sessene, die die lange Anreise als eine Enge, den Lärm, das Klima, er verachtete Art Pilgerfahrt empfinden. Der Schrift- den modernen Kunstbetrieb („Nur ShowD E R
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business und fauler Zauber“), er regte sich überhaupt schnell auf. Und er brauchte viel Platz für seine Werke. Mit einem Truck voller Kunst und seinen beiden Kindern rückte Judd in Marfa an, für ihn die ideale Umgebung, „es gab dort nur wenige Menschen, und das Land war unversehrt“, wie er später schrieb. Sein Umzug war, bewusst oder nicht, zugleich eine moderne Interpretation des amerikanischen Gründungsmythos: der Treck nach Westen, Land erwerben, sesshaft werden. Über die Jahre kaufte Judd ein Gebäude nach dem anderen, Lagerhallen, eine Bank, er zog in einen alten Hangar gegenüber einer Viehfuttermühle. Die meisten Immobilien waren heruntergekommen und billig zu haben. Judd hatte Geld. Eine Stiftung, die Dia Art Foundation, gewährte ihm und anderen als schwierig geltenden Künstlern üppige Stipendien, die Ausgaben gingen bald in die Millionen. In einem Anfall von Größenwahn spendierte die Stiftung Judd sogar das Armee-Fort in Marfa. Judds Ziel war, so drückte er es selbst aus, „die ernsthafte und ständige Installation von Kunst“, ohne Kompromisse, ohne Rücksicht auf die Zumutungen des klassischen Museumsbetriebs, Besucher etwa. „Nahezu alle zeitgenössische Kunst“ werde „als Merkwürdigkeit in den feindseligen Museen ausgestellt“, schrieb Judd in einem Essay. Er hatte schlechte Erfahrungen gemacht mit der Präsentation seiner Werke: In der Staatsgalerie Stuttgart zum Beispiel hing jahrelang eine Judd-Skulptur in der Nähe des Eingangs. Besucher verwechselten die Quader mit der Garderobe und legten Mützen und Jacken darauf ab. In Marfa sollte das nicht passieren, die Werke blieben, wie und wo sie waren, eine perfekte Symbiose von Kunst, Architektur und Landschaft. In zwei Hallen auf dem früheren Armeegelände stellte Judd sein Hauptwerk auf: 100 riesige Boxen aus poliertem Aluminium, angeordnet in je drei langen Reihen wie in einer Kathedrale, ein Werk von so rätselhafter, eisiger Schönheit, als hätte der Regisseur Stanley Kubrick in einer Drehpause von „2001“ eine Bulthaup-Küche entworfen. Die Kisten schimmern in der Sonne, am frühen Morgen grasen Hirsche auf dem Museumsareal. Friedlicher kann ein ehemaliges Militärgelände nicht sein. Judd war Perfektionist. Weil ihm herkömmliche Möbel nicht gefielen, entwarf er selbst Betten, Tische und Stühle, schlicht wie Kirchenbänke. Türen sicherte er mit Vorhängeschlössern; als ihn ein Mitarbeiter nach der Zahlenkombination fragte, antwortete Judd, es sei das Datum der Schlacht von Waterloo. Der Mitarbeiter war ratlos. „Finde es raus“, sagte Judd. Als die Dia Art Foundation Mitte der achtziger Jahre kurz vor der Pleite stand 151
NANCY NEWBERRY / DER SPIEGEL
MATT SLOCUM / AP / VG BILDKUNST, BONN 2010
Kultur
Chinati-Besucher bei einer Vernissage, Installation „Prada Marfa“: Den amerikanischen Traum erneuern
und ihre Zahlungen einstellen wollte, ver- sagt Stockebrand, „hat die Dinge einfach klagte Judd seine einstigen Gönner. Am ein bisschen großzügiger angelegt.“ Ende wurde eine neue, unabhängige StifDen Einfluss von Chinati auf Marfa tung gegründet, die Chinati Foundation, vergleicht Stockebrand mit dem „Bilbaodie das alte Armeegelände übernahm. Effekt“, der einer vom Abstieg bedrohten Judd konnte weiter dort arbeiten, er Stadt im spanischen Baskenland durch bat ein paar ihm genehme Künstlerfreun- eine von Frank Gehry gebaute Guggende, ihre Arbeiten dauerhaft in Marfa aus- heim-Filiale Ruhm und Geld bescherte. zustellen, darunter den Neonröhrenspe- Doch während in Bilbao der spektakuläre zialisten Dan Flavin und den russischen Museumsbau die darin ausgestellten WerKonzeptkünstler Ilja Kabakow, er feierte ke fast überflüssig erscheinen lässt, wirkt große Feste mit Dudelsackspielern und in Marfa die Kunst selbst und längst nicht Mariachi-Kapellen, zu denen er die ganze mehr allein die von Donald Judd. Stadt einlud. Seine Freundin, die deutMarfa bietet das ganze Spektrum des sche Kuratorin Marianne Stockebrand, Kunstmarkts, Andy Warhol, Bruce Naukürte er schließlich zur Direktorin der man, Ölgemälde und zwei Meter hohe Chinati Stiftung. Tequila-Spender in Form eines WasserDoch bevor sie die Stelle antreten konn- turms. Als typische Bewohner der Gete, erkrankte Judd an Krebs. Im Februar gend aber dürfen inzwischen die Eheleute 1994, drei Monate nach der Diagnose, Mimi und Robert Dopson gelten, die starb Judd; er wurde auf seiner Ranch bei beiden arbeiten als Töpfer, ihre WasserMarfa beerdigt. krüge und Salatschüsseln werden in GaStockebrand blieb in Texas. Mit eiser- lerien verkauft. In seinem ersten Leben ner Disziplin führte sie Judds Vermächtnis war Mr. Dopson Zahnarzt. weiter, sie bettelte bei Anders als im Rest der Sponsoren, sie ließ GeUSA steigen in Marfa die 200 km bäude renovieren, sie ver- U S A Immobilienpreise, ein wandelte Judds exzenZweit- oder DrittwohnChinati trische Phantasie in ein sitz am Ort gilt als StaDallas Foundation richtiges Museum, mit retussymbol. Zur Vernisgelmäßigen Führungen, El Paso sage fahren Besucher TEXAS Andenkenshop und eiim Porsche-Oldtimer vor, Marfa Houston nem zwei Kilo schweren wer den ganz großen Katalog*. Auftritt will, kommt mit Marianne Stockebrand, M E X I K O dem Fahrrad. Zum An64, sitzt kerzengerade in zug oder Designerkleid der Museumsbibliothek trägt man Cowboystiefel. von Chinati, natürlich auf Und wenn einmal ein einem von Judd entworfenen Stuhl. En- richtiger Cowboy mit einem Heuanhände des Jahres geht sie in den Ruhestand ger durch den Ort fährt, juxt ein Galerist: und übergibt die Leitung an Thomas Kel- Den Anhänger könne man ja „glatt in lein, den Mann aus Bielefeld, doch sie Chinati ausstellen“. Die Preise für echte wird in Marfa bleiben, „als Privatperson“. Judd-Werke haben sich derweil vervielSie kann sehr energisch werden, wenn facht: Das New Yorker Auktionshaus ein Besucher leichtfertig den Begriff Christie’s versteigerte 2007 eine seiner „Gesamtkunstwerk“ verwendet. „Judd“, Skulpturen für 9,8 Millionen Dollar. Marfa zieht heute genau jene Klientel an, vor der Donald Judd einst aus New * Marianne Stockebrand (Hg.): „Chinati. Das Museum York geflohen war. Thomas Kellein, der von Donald Judd“. DuMont Buchverlag, Köln; 328 SeiJudd Anfang der neunziger Jahre noch ten; 49,95 Euro. 152
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persönlich erlebt hat, drückt es diplomatischer aus: „Die Menschen wollen hier den amerikanischen Traum erneuern.“ Kellein hat zum Antrittsbesuch in Marfa seine Ehefrau mitgebracht, die Schweizer Malerin Elisabeth Masé. Er trägt einen kragenlosen weißen Anzug, gekauft in Peking; Cowboystiefel hat er noch keine, obwohl die praktisch wären zum Schutz vor den Schlangen auf dem Museumsgelände. Die Aufsichtsratsmitglieder von Chinati sind gekommen, darunter eine New Yorker Architektin, die Managerin eines Parfumkonzerns und Nicholas Serota aus London, Direktor der Tate-Museen. Zur Feier des Tages wird ein Galadiner für 250 Ehrengäste in der von Judd gestalteten alten Reithalle des Forts ausgerichtet. Chinati hat für den Abend Solisten der Dallas Opera einfliegen lassen, sie singen Arien aus „La Bohème“, Puccinis Oper über notleidende Künstler. Kellein muss viele Hände schütteln, er muss auch die Frage beantworten, was ein Direktor mit einem Museum vorhat, in dem er nach dem Willen des Gründers eigentlich nichts verändern darf. Natürlich sei er hier „in erster Linie Konservator“, sagt Kellein, aber auch „der Kulturbürgermeister von Marfa“, einer, der herauskommt aus der elitären Kunstfestung und neue Künstler nach Marfa einladen will. Marfa heißt übrigens Marfa, weil die Frau eines Ingenieurs gerade Dostojewskis Roman „Die Brüder Karamasow“ las, als das Paar 1883 während des Eisenbahnbaus im Nirgendwo von Texas pausierte. Der Ingenieur entschied, die Stelle eigne sich als Versorgungsstation, seine Frau gab ihr den Namen: Marfa, nach der Romanfigur Marfa Ignatjewna, einer Dienstbotin, die rauswill aus der Provinz, nach Moskau, und darüber mit ihrem Mann streitet. „Inwiefern es aber unsere Pflicht ist, hierzubleiben“, sagt Marfa Ignatjewna, „das verstehe ich allerdings nicht.“ Thomas Kellein will jetzt Dostojewski lesen. Sein Vertrag in Marfa läuft fünf Jahre. MARTIN WOLF
Kultur
Einer räumt auf Buchkritik: Hans Magnus Enzensberger sammelt Erkenntnisse und Niederlagen – in zwei Bänden.
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QUIRIN LEPPERT / VISUM
un hat auch er sein weißes Album. skript gibt es nicht mehr, was ich als Und ein schwarzes gleich dazu. Glücksfall betrachte.“ Hans Magnus Enzensberger, so Solch lapidarer Ton durchzieht das wissen wir, spielt gern mit dem Erhabe- Buch, ein wenig melancholisch, aber ohnen, offenbar mit wachsendem Vergnü- ne Koketterie. Niederlagen sind noch langen. Der ewig junge, verlässlich unkalku- ge kein Grund, in Untergangsstimmung lierbare Poet und Publizist ist jetzt 81 – zu verfallen. „Eigentlich schade“ – das und stets für eine veritable Überraschung ist, angesichts eines nie realisierten Schaugut, in diesem Fall sogar für deren zwei. spiels über Lenin, bei Enzensberger die Beide Werke sind nun, kurz vor Weih- äußerste Form des Bedauerns. nachten, ausgeliefert worden, vorgezogen Sogar im schwierigen Fach der Oper aus dem Bücherjahr 2011: weiß schim- hat er sich versucht. Sein Libretto „La mernd das eine, schlicht „Album“ genannt, mit monochrom schwarzem Einband das andere: „Meine Lieblings-Flops, gefolgt von einem Ideen-Magazin“. Enzensberger leiht sich das Motto für seinen Doppelpack bei Wolfram von Eschenbach. „Wer sich mit der Treulosigkeit zusammensetzt, der hat die schwarze Farbe ganz und muß auch nach der Finsternis geraten“, zitiert er aus dessen „Parzival“. „Und so hält der, der fest steht und treu, es mit dem Weißen.“ Schwarz also zunächst. Zu seiner Sichtung eigener Flops und Fehlschläge merkt er an: „Triumphe halten keine Lehren bereit, Mißerfolge dagegen befördern die Erkenntnis auf mannigfaltige Art.“ Und so folgt ein Katalog des Scheiterns, eingeteilt in Rubriken: Enzensbergers Kino-, Opernund Theaterflops, seine verEnzensberger legerischen Flops und natürlich „Meine literarischen Flops“ – wobei hier das nie realisierte Prosaprojekt „Kindergeld“ Pars pro Toto Cubana“ wurde von Hans Werner Henze steht. vertont, doch die Inszenierung 1975 am Es war im Jahr 1961, als Enzensberger Münchner Gärtnerplatz-Theater litt unter sein erstes Drama „Die Schildkröte“ auf der offenbar schwachen Regie und vereiner Tagung der Gruppe 47 vortrug, je- schwand schnell wieder vom Spielplan. denfalls den Anfang davon. Denn nach Immerhin wurde das Projekt realisiert. einer Viertelstunde unterbrach ihn Hans Bei Drehbüchern sieht das anders aus. Werner Richter, Spiritus Rector und un- Ein Autor muss darauf gefasst sein: „Sollangefochtene Autorität der Veranstaltung: te wider Erwarten ein Film zustande kom„Ich glaube, das genügt. Wir machen jetzt men, so wird er sein Buch, viele Jahre eine Pause.“ später, schwerlich wiedererkennen.“ Damit war die Sache erledigt. Auch Immerhin sind einige Szenen und Skizfür den Autor, der heute sagt: „Ein Manu- zen, Exposés und Entwürfe hier gerettet, typografisch abgehoben vom erzählenHans Magnus Enzensberger: „Album“. Suhrkamp Verden und erläuternden Text: wunderbare lag, Berlin; 336 Seiten; 39,90 Euro. „Meine LieblingsDialogtexte, Kurzkrimis und MiniaturFlops, gefolgt von einem Ideen-Magazin“. Suhrkamp erzählungen. So bringt man das, was anVerlag, Berlin; 244 Seiten; 19,90 Euro. 154
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dere Autoren verstecken oder still beerdigen, munter unter die Leute. Auch lässt sich auf diese Weise dezent auf ein Leben zurückblicken. Nicht: mein Leben als Mann, sondern: mein Leben als fehlbarer Dichter. Intim ist hier nichts, unverblümt fast alles. Lehrreich auch. Es gibt im schwarzen Buch noch eine Zugabe: das „Ideen-Magazin“ – Einfälle, die über das Stadium der Skizze nie hinausgekommen sind. Jeder darf sich bedienen. Enzensberger: „Nur zu! Viel Vergnügen!“ Hier schöpft jemand aus dem Vollen und genießt es. Nicht viel anders im zweiten, im weiß gewandeten Buch. Es geht darin noch bunter zu: Das „Album“ ist ein Sammelsurium, ein Bilder- und Sudelbuch, eine Anthologie eigener und fremder Gescheitheiten. Anmerkungen, Randglossen, Aphorismen, Zitate – auch aus einem SPIEGEL-Gespräch. Enzensberger, der Sammler und Arrangeur dieser Fundstücke aus Büchern und Zeitungen, von Toilettenwänden und akademischen Schautafeln, verbeugt sich ausdrücklich vor dem Schriftsteller Georg Christoph Lichtenberg (1742 bis 1799), den er sogar zur Hauptfigur eines Films machen wollte: Seit eh und je bewundert er dessen „Sudelbücher“. Ganz im Geiste Lichtenbergs („Die Tradition nimmt etwas von jedem Munde an, durch den sie läuft“) ist dieses Buch entstanden, grandios gestaltet von Enzensbergers altem Weggefährten, dem Verleger Franz Greno, mit dem er einst erfolgreich die „Andere Bibliothek“ aus der Taufe hob. So querbeet geht es zu, randvoll ist das „Album“, dass nicht einmal mehr Seitenzahlen Platz haben. Schwarz und weiß. Beides ein Vergnügen. Und beides er: treulos, was Ideologien und literarische Traditionen angeht, fest und treu in dem, was Erkenntnis und Abwechslung verspricht. „Überhaupt besteht die beste Strategie wahrscheinlich darin, das zu tun, wozu man gerade Lust hat“, lautet das Fazit von Hans Magnus Enzensberger. Und: „Jeder Peinlichkeit wohnt eine Erleuchtung inne.“ VOLKER HAGE
Medien
Trends RUNDFUNKABGABE
Stolperstein NRW D
A-WAY
ie wackelige Regierungskonstellation in Nordrhein-Westfalen gefährdet die von den Ministerpräsidenten bereits beschlossenen Umstellung der Rundfunkgebühr auf eine Abgabe. Der Staatsvertrag muss bis Ende 2011 von allen Länderparlamenten ratifiziert werden. Doch Rot-Grün verfügt im Landtag über keine eigene Mehrheit, und von FDP und Linkspartei wird keine Zustimmung zu dem Vorhaben erwartet, das ARD, ZDF und Deutschlandradio ab 2013 mehrere hundert Millionen Euro Mehreinnahmen bescheren dürfte. Die Regierung ist also auf das Wohlwollen der CDU angewiesen, das bisher als sicher galt. Doch seit die Union vorige Woche den neuen Jugendmedienschutz-Staatsvertrag scheitern ließ, wird unter Medienpolitikern die Sorge laut, die NRW-CDU könnte auf diese Weise auch die neue Haushaltsabgabe kippen. „Ich weiß ARD-Sendung „Adventsfest der 100 000 Lichter“ nicht, ob auf die Union noch Verlass ist“, sagt der nordrhein-westfälische Medien-Staatssekretär Marc so Eumann. Immerhin sei das beschlossene neue GebührenJan Eumann (SPD). Die Landtagsfraktionen hätten im Okto- modell ja das, was die Unionsländer favorisiert hätten. Der ber zwar noch Gelegenheit gehabt, sich über das Vorhaben nordrhein-westfälische Ex-Medienminister Armin Laschet frühzeitig zu informieren, doch habe die Union davon keinen (CDU) sagte, die Fraktion habe sich mit der neuen Gebühr Gebrauch gemacht. Daher sei völlig offen, wie die CDU sich „in der Sache noch nicht beschäftigt und somit nichts entverhalten werde. „Ich hoffe aber, dass sie in der Abgabenfrage schieden“. Es zeige sich allerdings auch hier, „wie labil die mehr politische Verantwortung zeigt als vergangene Woche“, Regierung ist“.
DISNEY
RTL schlägt alle
Abstieg einer Vorzeigestadt
igentlich hätte 2010 ein sehr gutes Jahr werden müssen für die zwei großen öffentlich-rechtlichen Programme. Schließlich dominierten ARD und ZDF im Sommer mit ihren Live-Berichten zur Fußball-Weltmeisterschaft das Programm. Die Spiele der deutschen Nationalmannschaft sahen bis zu 89 Prozent der Zuschauer. Im Juni waren das Erste und das ZDF daher mit jeweils rund 17 Prozent Marktanteil unumstritten an der Spitze. Doch über das Jahr gerechnet reicht es für das Erste nur für Platz zwei. Auch die Quote beim Eurovisions-Sieg von Lena Meyer-Landrut von knapp 50 Prozent konnte daran nichts ändern. Wenige Tage vor Jahresende liegt der Jahresmarktanteil des ARDGemeinschaftsprogramms bei 13,2 Prozent. Das ZDF erreicht sogar nur 12,7 Prozent. Nicht zu schlagen ist RTL, das übers Jahr gerechnet auf 13,6 Prozent kommt. Bei den 14bis 49-Jährigen ist die Bilanz noch vernichtender. Hier liegt RTL mit 18,1 Prozent vorn. Die ARD (7,3 Prozent) und das ZDF (6,7) belegen hier hinter ProSieben (11,6) Sat.1 (10,7) und Vox (7,8) nur die Plätze fünf und sechs.
B
unt und sorgenfrei wie ein Micky-Maus-Film sollte das Leben in Celebration sein. Vor 16 Jahren ließ das Medienunternehmen Walt Disney Company das Vorzeigestädtchen errichten, mit Hotels und künstlichem See, eine Viertelstunde von Disney World in Orlando entfernt. In Celebration schloss man seine Haustür nicht ab; die Bürger fühlten sich sicher. Nun wird die 10 000-Einwohner-Stadt von der Wirklichkeit eingeholt. Vor drei Wochen wurde ein pensionierter Lehrer getötet in seiner Wohnung gefunden, wenige Tage später erschoss sich ein Einwohner nach einer Auseinandersetzung mit der Polizei. Auch die Immobilienkrise hat Celebration erfasst. Häuser stehen leer, eine Immobilien-Website zählt rund 500 Zwangsvollstreckungen. Zum Vergleich: Bei der Gründung gab es für die ersten 500 Wohnungen 4000 Bewerber. Zuletzt schloss das Kino, das DisneyFilme gezeigt und Platz für Hunderte Besucher geboten hatte. Nur eines ist in Celebration noch wie im Film: Im Dezember fällt abends im Stadtzentrum einmal pro Stunde künstlicher Schnee. Disney-Stadt Celebration MARK POWER / MAGNUM / AGENTUR FOCUS
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QUOTEN
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Medien
TA L K S H O W S
„Das war unschön“ TV-Moderatorin Anne Will, 44, über ihren Abschied vom Sonntagabend, den Umgang mit ihr in der ARD, Anfangsfehler und die Folgen der allgemeinen Politikerverdrossenheit sönlich davon erfahren, dass Sie Ihren Sendeplatz am Sonntagabend verlieren? Will: Als es auch die Öffentlichkeit erfuhr. Ich hatte vermutet, dass die ARD mit Günther Jauch verhandelt. Der Zeitpunkt, an dem die ARD bekanntgab, man sei sich handelseinig, hat mich allerdings überrascht. SPIEGEL: Hat Sie niemand vorher angerufen? Will: Ich war gerade in den USA angekommen. Der NDR-Intendant Lutz Marmor hat versucht, mich zu erreichen. Da war es wegen der Zeitverschiebung allerdings nachtschlafende Zeit, und mein Handy war ausgeschaltet. Als ich es wieder anmachte, lief die Meldung schon überall. Es war sicher keine Absicht, dass das so unglücklich gelaufen ist. Lutz Marmor hat sich hierfür bei mir entschuldigt, die Entschuldigung habe ich angenommen. SPIEGEL: Sie hatten nicht die Chance, um Ihren Sendeplatz zu kämpfen? Will: Nein, da war die Entscheidung schon gefallen. Ich konnte nicht mehr tun, als ich schon getan hatte. Also meine Arbeit gut machen und mich auf jede einzelne Sendung konzentrieren. SPIEGEL: Ihre Quoten sind in den vergangenen Jahren gestiegen. Warum hat die ARD Ihren Erfolg nicht belohnt? Will: Ich sehe das nüchtern und warte nicht auf irgendwelche Belohnungen. Wenn ein Auftraggeber sagt, ich vergebe den Auftrag neu, kann ich in der Sache überhaupt nichts dagegen sagen. An der Form freilich habe ich mich gerieben. Aber unser Erfolg wurde ja insoweit belohnt, als dass wir am Mittwochabend weitersenden werden. SPIEGEL: Auf einer Skala von 1 bis 6. Wie stilvoll war der Umgang mit Ihnen? Will: Schulnoten möchte ich nicht vergeben. Aber das hätte durchaus eleganter laufen können. SPIEGEL: Man hatte den Eindruck, die ARD war so froh, der Öffentlichkeit endlich Jauch präsentieren zu können, dass ihr alle anderen fast schon egal waren. Will: Den Eindruck konnte man gewinnen. Es wäre hilfreich gewesen, wenn die ARD zeitgleich mit der Verkündung von Jauchs Verpflichtung ein fertiges Konzept für den Rest der Woche gehabt hätte. Nach der Ankündigung im Juni blieb es ja quasi dem Kampfeswillen der Moderatoren 158
DIRK VON NAYHAUSS / DER SPIEGEL
SPIEGEL: Frau Will, wann haben Sie per-
Journalistin Will
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überlassen, sich möglichst gut im Rennen zu halten. Das war unschön. Das kann man besser machen. Dann hätte man sich diese monatelange Hängepartie gespart, die wir jetzt hatten und die für alle Beteiligten, auch für die ARD, nun wirklich nicht positiv war. SPIEGEL: Wie schwer fällt Ihnen der Abschied vom so begehrten Sonntagabend? Will: Der Abschied fällt mir nicht schwer. Nächstes Jahr werde ich „Anne Will“ vier Jahre gemacht haben. Ein guter Zeitpunkt, etwas Neues anzufangen. Ich freue mich auf den Mittwoch. SPIEGEL: Frank Plasberg hat ja viele Intendanten abgeklappert, um sie davon zu überzeugen, welcher Sendeplatz für ihn der beste sei. Haben Sie auch auf solche Weise für sich geworben? Will: Selbstverständlich habe ich auch Gespräche geführt. Ich finde den Mittwochabend eine sehr gute Lösung, und ich gehöre auch nicht zu denen, die vorher ihren Sendeplatz künstlich zur schwierigen Großherausforderung stilisieren, um hinterher sagen zu können, hui, das war echt eine schwierige Großherausforderung. SPIEGEL: Da meinen Sie jetzt Frank Plasberg, der darüber geklagt hat, wie schwer er es am Montagabend haben wird. Will: Ich meinte das ganz allgemein. SPIEGEL: Sie haben mal gesagt: Ich wollte nie die Talkshow-Erlöserin sein. Ist der
de, und es gibt vielleicht Filme, die die Diskussion anheizen. Viel mehr ist nicht drin. Jeder, der das macht, ist gut beraten, im Vorfeld nicht allzu große Erwartungen aufzubauen. Denn die bringt der Sonntagabend ganz von allein mit sich. SPIEGEL: Den Druck sind Sie jetzt los. Will: Richtig. SPIEGEL: Am Anfang wollten Sie es den Talkshow-Kritikern recht machen. Sie haben etwa versucht, am Ende wirklich ein Fazit der Diskussion zu ziehen. Das wirkte damals ziemlich angestrengt. Wie sehen Sie das heute? Will: Vielleicht bin ich da am Anfang ein bisschen überehrgeizig rangegangen. Irgendwann habe ich aber verstanden, dass eine Talkshow so nicht funktioniert. Dass am Ende ein Ergebnis stehen muss, ist vielleicht für ein Proseminar der richtige Ansatz, aber nicht für eine Talkshow. SPIEGEL: Sondern? Will: Eine Talkshow ist eine große Einordnungs- und Selbstvergewisserungsplattform für ein mitdenkendes Fernsehpublikum. SPIEGEL: Mit anderen Worten: Jeder Zuschauer bekommt die Vorurteile bestätigt, die er vorher schon hatte. Will: Das hängt davon ab, mit welcher Haltung Sie unsere Sendung gucken. Wenn Sie vorurteilsgeplagt sind und nach Bestätigung suchen, habe ich nichts dagegen.
Quoten-Queen Marktanteile, in Prozent „Anne Will“ ARD 14,5 13,5 12,8
13,8 „Hart aber fair“ ARD 11,7
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2010
RTL
„Maybrit Illner“ ZDF
Will-Nachfolger Jauch mit Talkgast Sylvie van der Vaart: „Monatelange Hängepartie“
Abschied vom Sonntag am Ende gar eine Befreiung? Will: Eine Befreiung ist für mich, dass ich nicht mehr am Wochenende arbeiten muss. Wenn ich gesagt habe, ich will nicht die Erlöserin sein, meinte ich damit, dass ich das Fernsehen weder zu wichtig nehmen noch neu erfinden will. Wir sprechen von Fernsehen. Zack, aus, Ende. Mehr ist es nicht. SPIEGEL: Nun hat Jauch die Erlöserrolle, die Sie schon nicht haben wollten. Will: Es ist doch so: Jeder, der eine solche Sendung macht, arbeitet mit den üblichen Methoden. Er stellt Fragen, und die anderen antworten. Er baut eine gute Run-
Und wenn Sie sich überraschen lassen wollen, werden Sie bei uns bestimmt fündig. SPIEGEL: Glauben Sie, dass Talkshows politische Bildung betreiben? Will: Sie sind doch nicht nur Spektakel. Das wäre zu kurz gesprungen. Sie sind ein Forum, in dem kluge Argumente ausgetauscht werden. Da darf ruhig auch zugespitzt werden, und es darf auch unterhaltend sein. Kurios ist, dass alle immer auf die Talkshows eindreschen, dass sie aber immer mehr gesehen werden. SPIEGEL: Kaum ein TV-Format wird in der Presse so oft kritisiert. Will: Das stimmt, und das finde ich übertrieben. D E R
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SPIEGEL: Persönlich haben Sie auch einiges abbekommen. Harald Schmidt zog Sie lange auf mit dem Gag: „Die Sendung Sabine Christiansen, moderiert von Anne Will.“ War der Vergleich ungerecht? Will: Natürlich bin ich anders als Sabine Christiansen und umgekehrt. Ich muss für mich schauen, aus welcher Kritik ich etwas lernen kann und aus welcher nicht. Ich habe in fast zwei Jahrzehnten Fernsehen sehr viele unterschiedliche Formate moderiert, aber dies ist sicherlich das schwierigste. SPIEGEL: Leiden die Talkshows auch unter der allgemeinen Politikerverdrossenheit? Will: Offensichtlich nicht, denn sie werden ja weiterhin gern geguckt. Und es gibt ja auch kaum noch reine Politikerrunden bei uns. Wir haben in einigen Sendungen im vergangenen Jahr deutlich gemacht, dass es eine wachsende Kluft gibt zwischen den Bürgern und den Politikern. Die politische Kultur verändert sich gerade. SPIEGEL: Hat sich der Aufstieg von der „Tagesthemen“-Moderatorin zur TalkshowModeratorin für Sie gelohnt? Will: Jobst Plog, der damalige Intendant des NDR, hatte mich gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, den Sonntagabend zu moderieren. Das ist keine Frage, auf die man mit Nein antwortet, eher eine Art Versetzung. SPIEGEL: Eine Beförderung. Will: Erst mal habe ich das für mich als etwas Neues gesehen. Rückblickend muss ich sagen, ich konnte mir mitnichten vorstellen, was das bedeutet. Die vergangenen Jahre waren schon auch anstrengend und nicht so, dass ich jeden Morgen gesagt hätte: Was für ein grandioser Aufstieg. SPIEGEL: Erschien Ihnen der Preis manchmal zu hoch? Will: Nein, das wäre Luxusdenken. Ich habe einen richtig tollen Job. Und ich habe im Laufe meiner Karriere eine Menge Langmut erfahren. Dafür steht die ARD auch: Man hat mich machen lassen. SPIEGEL: In einem Papier des ARD-Programmbeirats wurde gleich an Ihren ersten Sendungen herumgemäkelt. Das sah nicht nach Langmut aus. Will: (lacht) Das stimmt. SPIEGEL: Sind Sie misstrauisch geworden? Will: Nein. Meine Lebensgefährtin hat mir im Vorfeld zu dieser ganzen Sache gesagt: Leg dir ein dickes Fell zu. Und in manchen Phasen hätte ich es gut gebrauchen können. Nur: Wie legt man sich so etwas zu? Und es würde mich auch verändern. Ich habe mich eigentlich dünnfellig immer ganz gern gemocht. Genau das gibt mir zum Beispiel im Umgang mit ungeübten Gästen das Einfühlungsvermögen, das ich brauche, um ihnen die Scheu vor der Kamera zu nehmen. INTERVIEW: MARKUS BRAUCK
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Medien A F FÄ R E N
Froh um jeden Ostdeutschen Der Skandal um die mutmaßliche Betrugsmasche beim Kika scheint noch größer als bekannt. Der MDR war schon länger gewarnt – auch vom ZDF.
offenbar zum Ende hin vorsichtiger, wechselte wohl häufiger die Spielregeln seiner mutmaßlichen Masche. Denn nach der Affäre um den Sportchef Wilfried Mohren hatte der MDR strengere Richtlinien eingeführt. Mohren hatte 2005 Sendezeiten des MDR verkauft. Allzu streng waren die Richtlinien aber auch danach nicht. Das ZDF warnte 2008 eindringlich vor den Zuständen beim Kika. In einem Revisionsbericht hieß es, dass Bestellungen und Abrechnungen personell nicht immer ausreichend getrennt seien. „Wir haben denen gesagt, dass sie
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TIM BRAKEMEIER / DPA
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Intendant Reiter
„Rücksichtslos ausgenutzt“
RBB
enige Stunden vor dem Zugriff der Polizei kabbelte sich MDRIntendant Udo Reiter noch mit den Rundfunkräten wegen der ARD-Programmreform. Er habe geschafft ausgesehen an diesem Montag, sagt ein Teilnehmer. Die bevorstehende Verhaftung des zweiten Mannes an der Spitze des Kinderkanals (Kika) am nächsten Morgen war kein Thema, sie wurde beim MDR wie ein Staatsgeheimnis behandelt. „Schweren Herzens“ habe er gegenüber den Räten geschwiegen, sagt Reiter heute. Manche sind deshalb sauer auf ihn. Für Reiter ist die Sache ohnehin höchst unangenehm. Die Kika-Affäre rund um Marco K., den Herstellungsleiter des Senders, dürfte der größte Betrugsfall in der Geschichte des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sein. Reiters MDR steckt mittendrin im möglichen Betrugssumpf, denn die Leipziger Anstalt lenkt die Geschäfte des von ARD und ZDF betriebenen Kindersenders. Marco K. hatte den Kanal maßgeblich mit aufgebaut. Er wird als klug, kompetent und umgänglich beschrieben. Und er war, was in der Führungsriege des MDR in den Neunzigern selten war, kein Westimport. „Natürlich waren wir froh um jeden Ostdeutschen“, sagt der Bayer Reiter. K. vertrat den Senderchef, wenn der nicht da war, und vielleicht hätte er es eines Tages sogar selbst an die Spitze geschafft. Seit vorvergangener Woche sitzt Marco K. in Untersuchungshaft. Ihm wird vorgeworfen, Aufträge an einen filmtechnischen Dienstleister, die Berliner Firma Koppfilm, erteilt zu haben, die nicht oder nur teilweise erbracht worden sind. Der Kika zahlte dafür, die Gelder soll K. gemeinsam mit dem Geschäftsführer von Koppfilm in die eigene Tasche gesteckt haben. Mehr als vier Millionen Euro beträgt der mutmaßliche Schaden laut Staatsanwaltschaft. Die mögliche Betrugssumme könnte erheblich größer sein. Denn die Ermittler konzentrieren sich auf Fälle, die noch nicht verjährt sind. Vieles deutet aber darauf hin, dass Marco K. das Spiel mit gezinkten Rechnungen schon länger betrieben haben könnte. Mehr noch: Er wurde
Kika-Figur Sandmännchen
Mittendrin im Sumpf
mühelos zu betrügen sind“, sagt ein ZDFMann. Nach dem Fall Mohren hatte der MDR zudem die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PwC mit der Analyse von Abläufen beauftragt. Das Team der Abteilung „Forensic Services“ unter Leitung eines Kriminalrats a. D. empfahl unter anderem, der Sender solle Programmverantwortliche von den Mitarbeitern trennen, die für den Einkauf zuständig sind. Der D E R
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Vorschlag sei nicht praktikabel, entschieden die Verantwortlichen beim MDR – und setzten ihn nicht um. „Vielleicht hätten wir das doch machen sollen“, sagt Reiter heute. Offenbar wollte der MDR allen Warnungen und Vorschriften zum Trotz Marco K. einfach vertrauen. Auf jeden Fall räumte er ihm den ungewöhnlich hohen Verfügungsrahmen von 500 000 Euro ein, eine solche Sonderregelung sieht keine Vorschrift vor. Laut Reiter hatte beim Kika oder beim MDR außer K. niemand, der nicht Direktor oder Hauptabteilungsleiter ist, solche Vollmachten. Das Vertrauensverhältnis zwischen dem Sender und K. wurde auch nicht nachhaltig getrübt, als anonyme Hinweise über dessen Lebenswandel auftauchten. Er besitze ein Ferienhaus in Italien, hieß es. Der MDR forschte nach: Es war angemietet. Er lasse sich von einem Fahrer durch die Gegend kutschieren. Laut MDR nicht zu beanstanden. Es gab Gerüchte, K. sei außergewöhnlich oft im Spielcasino in Erfurt zugegen. War er spielsüchtig? Geschichten von einer möglichen Erbschaft machten die Runde. Der Rechtsanwalt von Marco K. wollte keine Stellung nehmen. Auf jeden Fall war K. eine Lokal-Ikone, die Leser der „Thüringer Allgemeinen“ wählten ihn vor einem Jahr unter die 100 wichtigsten Thüringer, in einem Atemzug mit der Sängerin Yvonne Catterfeld oder dem Schauspieler Thomas Thieme. Auch beim Kika war K. „nicht irgendwer“, wie Reiter sagt. „Er kannte jeden Winkel, jeden Strang der Befehlshierarchie und das hat er rücksichtslos ausgenutzt.“ Der MDR prüft nun auch, ob der Beschuldigte möglicherweise mit weiteren Firmen ähnliche betrügerische Modelle unterhielt. Zwar gilt beim Kika wie beim MDR das Vieraugenprinzip, Aufträge mussten also von einem weiteren Mitarbeiter abgezeichnet werden. Möglicherweise waren die aber nicht sachkompetent genug, um die inhaltlichen Details mancher Aufträge alle richtig zu verstehen. Denn die wohl fingierten Bestellungen bei Koppfilm betrafen meist spezielle technische Dienstleistungen. Auch sei die Personaldecke so dünn, heißt es beim MDR, dass es automatisch Abhängigkeitsverhältnisse gebe: Untergebene müssten ihre Chefs kontrollieren. Doch nun denkt auch der MDR darüber nach, wie eine vergleichbare Affäre in Zukunft verhindert werden kann. Möglicherweise müsse man eine eigene Abteilung einrichten, die Aufträge auch auf ihre inhaltliche Plausibilität prüft, meint Reiter – bleibt aber skeptisch: „Wenn einer betrügen will, der intelligent ist und den Laden kennt, braucht man einen Kontrollapparat, der größer ist, als der Sender selbst.“ MARTIN U. MÜLLER
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In fremden Töpfen – Ein Sternekoch reist durch Deutschland
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KULTUR | Kunst unter Palmen Mit spektakulären Museumsgründungen will Miami zur Kulturhauptstadt der USA werden. SPIEGEL ONLINE traf die Hintermänner des Multimillionen-Projekts und stellt die Pläne vor.
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von seiner Neugier auf immer neuartige kulinarische Erfahrungen, nutzt er seine Freizeit, um bei Kollegen zu speisen und ihnen in die Töpfe zu schauen. SPIEGEL TV Extra hat den sympathischen Sternekoch auf einer kulinarischen Tour durch Gasthöfe und Gourmetrestaurants begleitet. SPIEGEL TV MAGAZIN
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New Yorker wollte ursprünglich Journalist werden, und eine Reporter-Eigenschaft behielt er sein Leben lang bei: Holbrooke ging am liebsten dahin, wo es am spannendsten war. Manchmal schrieb der Diplomat sogar selbst Geschichte, vor allem als geistiger Vater des Dayton-Friedensabkommens, das den Bosnien-Krieg 1995 beendete. Einige kritisierten ihn damals dafür, mit Serbiens Kriegstreiber Slobodan Milošević zu reden, doch derlei Bedenken ließ Holbrooke nicht gelten – schon gar nicht von den Europäern, die dem Gemetzel in ihrer Nachbarschaft so lange zugeschaut hatten. Wenn Verhandlungen Leben retten könnten, beharrte er, dann müssten sie geführt werden, egal mit wem. „Wenn Richard anruft und etwas will, sag einfach ja“, meinte Diplomatielegende Henry Kissinger einmal. „Du wirst es irgendwann ohnehin tun – und die Zeit bis dahin dürfte sehr schmerzhaft sein.“ Holbrooke wollte so auch Afghanistan und Pakistan befrieden,
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Richard Holbrooke, 69. Der gebürtige
als Sonderbeauftragter von US-Präsident Barack Obama. Aber die schwache Regierung um Präsident Hamid Karzai und die störrischen Taliban lähmten Holbrookes Bemühungen. Den Begriff „AfPak“ setzte er immerhin auf die internationale Tagesordnung, als Erinnerung, dass der wahre Krisenherd im Nachbarland Pakistan liege. Doch in den Afghanistan-Debatten
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EVERETT COLLECTION / ACTION PRESS
Blake Edwards, 88. Er war ein großer Ko- sechziger Jahren mit zwei raffiniert ermödienregisseur, weil es ihm spielend ge- zählten Romanen zu einiger Bekanntheit: lang, Satire und Slapstick zu vereinen, „Hommage à Frantek“ (1965) und „Die Insel“ (1968). Doch die Anerkennung eidem geistreichen Gag nes bürgerlichen Publikums scherte ihn körperliche Gestalt zu wenig. „Literatur in jeder Form ist ungeben. In „Frühstück nütz“, verkündete er bald danach, ganz bei Tiffany“ (1961) im Geist der Zeit. Der linke Intellektuelzeigt er einen Mann, le war später Anwalt von Andreas Baader in der Enge einer der, und die Nähe zur RAF war auch seiParty sein kaltes Glas nen Romanen anzumerken: „Der dreian den Rücken einer ßigjährige Friede“ (1977) etwa oder „Die Frau drückt, um sich Herren des Morgengrauens“ (1978). Er den Weg durch die schrieb viel, doch größere Beachtung Menge zu bahnen. fand erst wieder das Buch „Mein Freund Niemand konnte Partys so filmen wie Edwards und aus ihnen Klaus“ (2007), ein biografischer Roman ganze Gesellschaftsporträts entwickeln. über den RAF-Anwalt Klaus Croissant. Er war dort aufgewachsen, wo oft und Peter O. Chotjewitz starb am 15. Dezemausschweifend gefeiert wird, in Holly- ber in Stuttgart. wood. Er lernte früh, hinter die Masken der Schönen und Reichen zu schauen. Für Hans-Joachim Rauschenbach, 87. Als er ihn war Slapstick eine befreiende Gegen- noch die „Sportschau“ moderierte, war kraft zur aufgesetzten Eleganz der oberen in allen Fußball-Bundesligastadien samsZehntausend, auch in den Filmen um den tags um halb vier Anstoß, und die Berichvermeintlich trotteligen Inspektor Clou- te kamen über Antenne in die Wohnstuseau, den Peter Sellers unter Edwards’ Re- ben. Drei Jahrzehnte lang gehörte Raugie fünfmal spielte. Tatsächlich war dieser schenbach in der Polizist ein Anarchist: Wenn er auf dem ARD zum Stamm deglatten Parkett der feinen Gesellschaft aus- rer, die das Wochenrutschte, litt das Parkett darunter weit ende der alten Bunmehr als der Inspektor. Blake Edwards desrepublik prägten, starb am 15. Dezember in Santa Monica mit Anzug, Krawatte, Seitenscheitel und bei Los Angeles. Krankenkassenbrille. Peter O. Chotjewitz, 76. Der in Berlin Neben Fußball komgeborene und in Nordhessen aufgewach- mentierte er vor alsene Schriftsteller und Jurist kam in den lem Boxen und Eis166
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des Weißen Hauses spielte der Sonderbeauftragte zuletzt keine große Rolle mehr, in Amerika redet man derzeit lieber über Abzug denn über „AfPak“. Als „Gigant amerikanischer Außenpolitik“ (Obama) wird Holbrooke trotzdem in Erinnerung bleiben, eine ganze Generation von Diplomaten hat er mit seiner Weltläufigkeit und seiner Durchsetzungskraft geprägt. Im State Department bestimmte er als Abteilungsleiter die US-Politik auf gleich zwei Kontinenten mit, Asien und Europa. Holbrooke wirkte als Botschafter bei den Vereinten Nationen und in Deutschland, wo er die „American Academy in Berlin“ mitgründete. Er galt als einer der letzten Weltpolitiker der heute so verunsicherten Weltmacht USA. Nur Außenminister durfte er nie werden, obwohl er 2008 darauf gehofft hatte, unter einer Präsidentin Hillary Clinton. Das hinderte ihn nicht daran, auch für die Obama-Regierung unermüdlich zu reisen, bis zum Schwächeanfall während eines Termins mit Clinton, der zu seinem Tod führte. Richard Holbrooke starb am 13. Dezember in Washington.
kunstlaufen, zu seinem Markenzeichen wurde eine blumige Sprache: „Wer als Zwiebel geboren ist, kann nicht wie eine Rose blühen.“ Für den Hessischen Rundfunk berichtete er außerdem über Landespolitik. 1990 verließ Rauschenbach seinen Heimatsender im Unfrieden, nach eigener Lesart sei er politisch nicht „stramm links genug“ gewesen. Knapp zehn Jahre arbeitete er danach für private Sportsender. Hans-Joachim Rauschenbach starb am 15. Dezember in Michelstadt. URTEIL
Harry Wörz, 44, Installateur, verließ am vergangenen Mittwoch den Bundesgerichtshof (BGH) als freier Mann – nach über 13 Jahren und elf Gerichtsverfahren. Das oberste Gericht beendete damit ein Justizdrama, in dessen Zuge Wörz zunächst vier Jahre und sieben Monate unschuldig im Gefängnis saß und anschließend ein Leben als Dauer-Angeklagter führte. Seine frühere Ehefrau, von der Wörz damals schon getrennt lebte, war im April 1997 in ihrer Wohnung bei Pforzheim fast zu Tode stranguliert worden. Die Frau war Polizistin, so wie ihr Vater und ihr damaliger Geliebter Thomas H., der nun als Hauptverdächtiger gilt. Wörz war 1998 vom Landgericht Karlsruhe zu elf Jahren Freiheitsstrafe wegen versuchten Totschlags verurteilt worden. Den ersten Freispruch hatte der BGH 2006 aufgehoben, der jetzige gilt als endgültig.
Personalien
Martin Schulz, 55, SPD-Politiker und Chef der sozialdemokratischen Fraktion im Europaparlament, wurde von der britischen Regierung um Vergebung gebeten. In einem Brief entschuldigte sich Großbritanniens konservativer Europaminister David Lidington für die Ausfälle seines Landsmanns, des EU-Abgeordneten Godfrey Bloom. Der hatte während einer Rede von Schulz den Nazi-Slogan „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“ gerufen. Dann beschimpfte Bloom den Deutschen vor dem Plenum auch noch als „undemokratischen Faschisten“. Der britische Abgeordnete musste daraufhin eine Ordnungsstrafe in Höhe von 2100 Euro zahlen. „Ich vermute, dass Sie und ich nicht viele politische Ansichten teilen“, schrieb Minister Lidington an Schulz, dennoch wolle er deutlich machen, dass ihn die Affäre „zutiefst“ peinlich berühre. Blooms Äußerungen seien schlichtweg „rüpelhaft, dumm und kindisch“ gewesen. Josef „Sepp“ Daser, 45, deutscher Volksschauspieler, bietet seine Dienste als Darsteller des bayerischen Märchenkönigs Ludwig II. an. Gemeinsam mit der Skirennläuferin Maria Riesch und anderen Prominenten will Daser als „Kini“ für die Vergabe der Olympischen Winterspiele 2018 nach Bayern werben. Daser begeisterte sein Publikum bereits im Juli bei einem Open-Air-Spektakel auf der Insel Wörth; seither glänzt er bei verschiede168
Popsängerin, setzt ihr Talent für Modedesign dieses Jahr für den Kampf gegen Brustkrebs ein. Der Star ließ das Mikrofon stehen, griff zu Stift und Papier und entwarf ein Paar rosa High Heels, deren Verkauf der Krebsforschung zugutekommen soll. 2009 hatte Fergie eine eigene Schuhkollektion auf den Markt gebracht, um ihren Fans die Möglichkeit zu geben, exklusive Fußkleider preisgünstig zu erwerben. Dabei habe sie an ihre Jugend gedacht, sagte sie: „Früher konnte ich mir nie die teuren Teile aus der ‚Vogue‘ leisten, und viele von den Fans können das auch nicht.“ Mittlerweile plagen die Plattenmillionärin ganz andere Sorgen: Weil sie sich von alten Klamotten nicht trennen kann, müssen in ihrem Haus ständig neue Schränke gebaut werden.
nen Gelegenheiten mit Auftritten als Königliche Hoheit. Er kann sich vor Aufträgen kaum retten: 2011 jährt sich der Todestag von Ludwig II. zum 125. Mal. Gefragt, was er als Erstes entschiede, wenn er tatsächlich König wäre, sagte der Mime, er würde bayerische Sprache und Kultur als Schulfach einführen. Ludwig II. selbst hätte heuer allerdings „nicht mal die Chance, in einen Gemeinderat zu kommen, weil er zu viele Ideen hatte“.
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Elstner
ab, einen Spix-Ara und einen Lear-Ara; die Vögel sollen in ein Zuchtprogramm integriert werden. Danach reisten Elstner und Reinschmidt weiter in den Nordosten Brasiliens, in die natürliche Heimat der Papageien. Auf einem Dschungelpfad entdeckte Elstner eine geringelte Schlange, die ihn faszinierte. „In meiner Unbefangenheit“, so der TV-Star, habe er das Reptil gleich berühren wollen. Ein Einheimischer konnte ihn gerade noch zurückhalten. „Es war eine giftige Korallenschlange“, weiß Elstner heute. „Wie mir berichtet wurde, war der Letzte, der eine anfasste, ein Wissenschaftler. Er wurde gebissen und war eine Stunde später tot.“
Klaus-Dieter Maubach, 48, Vorstandsmitglied des Stromkonzerns E.on, glaubt an eine große Zukunft für die deutsch-chinesischen Atombeziehungen. In China sei es möglich, einen Atomaufsichtsbeamten auch am Samstag oder Sonntag zu erreichen. Das Reich der aufgehenden Sonne würde bei der Kernkraft „einfach vorangehen“, schwärmte Maubach kürzlich nach der Besichtigung einer AKWBaustelle bei Hongkong. Maubach glaubt, dass die Volksrepublik abgebrannte Kernbrennstäbe gar nicht endlagern, sondern immer wieder recyceln wird – und zog eine Verbindung zur aktuellen deutschen Diskussion: „Die Chinesen werden uns das, was wir in Gorleben einlagern wollen, abkaufen, nicht als Atommüll, sondern als Wertstoff“, sagte der E.on-Manager. Sein Zeithorizont ist allerdings recht großzügig: 20 Jahre und mehr könne es dauern, bis China derart umfangreich in die Wiederaufbereitung einsteigen und spaltbaren Nachschub aus Deutschland anfordern werde.
Daser als Ludwig II. D E R
Frank Elstner, 68, TV-Urgestein, hat bei einer Reise in den Dschungel mit seinem Leben gespielt. Für die zweiteilige Reportage „Elstners Reisen“, die Weihnachten im SWR ausgestrahlt wird, war der Erfinder von Fernsehshows wie „Wetten, dass ..?“ mit dem Biologen Matthias Reinschmidt nach São Paulo geflogen. Dort lieferten die beiden zwei blaue Papageien
ALEXANDRA ZIEGLER / SWR
CHRISTOPHER POLK / GETTY IMAGES
Stacy Ann „Fergie“ Ferguson, 35, US-amerikanische
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die meisten Kommentatoren schämen sich für ihren Minister. Zum Schluss versprach Mutko, dass er bis 2018 so gut Englisch sprechen werde „like my friend Geoff Thompson“. Gemeint war der Chef des englischen Bewerbungskomitees, der sich zu diesem Zeitpunkt noch über seinen Konkurrenten aus Moskau köstlich amüsierte. Mutko indes lachte zuletzt: Der WM-Zuschlag ging nach Moskau.
CLAES GELLERBRINK
Conti
Nina Conti, 36, britische Bauchrednerin, setzt ihr stimmliches Alter Ego auch im Privatleben ein. Weltweit bekannt wurde Conti durch Auftritte mit ihrer Puppe „Monk“. Monk ist ein depressives Äffchen, das keine Lust hat, Witze zu erzählen, und seine Herrin oft auf das Unflätigste beschimpft. Die Bauchrednerei an sich betrachtet Conti als „lizenziertes Tourette“. Viele Äußerungen, die den Puppen verziehen würden, seien „schockierend“ für sie: „Das sind Sachen, die ich nicht in einer Million Jahren zu irgendjemandem sagen würde“ – außer vielleicht zu ihrem Ehemann. Wenn sie sich mit dem streite, so gestand Conti jetzt, benutze sie gern Monks Bühnenstimme.
Gwyneth Paltrow, 38, Hollywood-Star, lässt sich von ihrer jüngsten Rolle inspirieren. Paltrow spielt in dem Drama „Country Strong“ eine abgehalfterte Sängerin, die ein Comeback versucht; die Schauspielerin singt auch den Titelsong. Mittlerweile demonstrierte sie ihre Gesangskünste im wirklichen Leben: Auf einem Live-Konzert während einer PR-Tour für den Film beeindruckte Paltrow sogar das anspruchsvolle Publikum in Nashville, Tennessee, der Mutterstadt der Country-Musik. Nun plant die Ehefrau von Coldplay-Sänger Chris Martin, die gerade mit einem Stern auf dem Walk of Fame geehrt wurde, ein Album mit CountrySongs zu produzieren – „superschlicht und sehr zurückgenommen“ solle das Werk sein, sagte Paltrow dem Musiksender MTV.
Gert Postel, 52, als falscher Amts- und leitender Oberarzt zu bundesweiter Berühmtheit gelangt, hat sich als Referent bei der Polizeiakademie Hessen verdingt.
MATT JONES / TRUNK
Postel
MARTIN STORZ
Witalij Mutko, 52, Russlands Sportminister, hat sich bei der Bewerbung um die Fußball-WM 2018 in Zürich zur Lachnummer der Nation gemacht. Mit „Let’s me speak from my heart – in English“ begann Mutko seine Rede. Dann ging es zwei Minuten dreißig mit hartem russischem Akzent um „new horizons, new hearts, imagine“. Mehr als eine Million Russen haben das Video inzwischen im Internet gesehen,
Anfang Dezember las er vor Führungskräften aus seinem Buch „Doktorspiele“. Darin schildert Postel ausführlich, wie er in den neunziger Jahren Mediziner, Bürokraten und Politiker zum Narren gehalten hat. In dem Seminar zum Thema „Vernehmung Schwerkriminalität“ verriet der ehemalige Postbote den Kripobeamten außerdem, wie man mit psychologischen Tricks Gesprächspartner manipulieren kann. Postel, der einst in Flensburg als „Dr. Dr. Clemens Bartholdy“ psychiatrische Diagnosen stellte und später im sächsischen Landeskrankenhaus in Zschadraß zahlreiche psychiatrische Gutachten erstellte, saß wegen Titelmissbrauchs und Urkundenfälschung zweieinhalb Jahre im Gefängnis. Sein dreistündiger Auftritt an der Polizeiakademie kam so gut an, dass ihm die Seminarleitung hinterher schriftlich beschied, die Teilnehmer hätten „gern noch länger“ zugehört. 169
Hohlspiegel
Rückspiegel
Zitate Anzeige im Stadtmagazin „Homburger Heftche“ Aus der „Sächsischen Zeitung“: „Ein Imbiss musste den Verkauf nach der Kontrolle einstellen, weil rohes Fleisch in der Hütte unter unhygienischen Bedingungen zubereitet wurde. Nun passiert das in der heimischen Gaststätte, die fertigen Produkte kommen gekühlt an – so sind die Prüfer zufrieden.“
Anzeige eines Restaurants in Oberstaufen Aus der „Osnabrücker Sonntagszeitung“: „Schnee und Eis sind auf den Gehwegen am Rande der Fahrbahn so zu lagern, dass der Verkehr und die Müllabfuhr nicht mehr als nach den Umständen vermeidbar behindert werden.“
Aus der Nienburger Zeitung „Die Harke“ Aus der „WAZ“: „Also stiegen die Gebühren, auch da, wo es vorher keine gab.“
Die „Frankfurter Allgemeine“ zum SPIEGEL-Gespräch „Wie die späte DDR“ mit FDP-Vorstandsmitglied Wolfgang Kubicki über den desolaten Zustand seiner Partei (Nr. 50/2010): Lindner sagte, Kubicki habe sich mit seiner „ätzenden Kritik“ am Zustand der FDP zum „Kronzeugen der Gegner der FDP“ gemacht. „Kubicki pflügt damit auch unsere ersten Erfolge unter“, kommentierte Lindner am Sonntag ein Interview des Schleswig-Holsteiners, in dem dieser die Lage seiner Partei als „fast aussichtslos“ bezeichnet hatte. Der Zustand der FDP sei zu umschreiben mit Worten wie „Verwunderung, Lethargie, Verzweiflung“. Kubicki … behauptete, es könne passieren, dass die Partei „in sich selbst zusammenfällt“. An der Basis habe der Zerfall schon begonnen, sagte Kubicki gegenüber der Zeitschrift DER SPIEGEL. Der „Tagesspiegel“ zum SPIEGEL-Titel „Der Fall WikiLeaks. Kampf um das Netz – Vom Streit um die Meinungsfreiheit zum Cyber-Krieg“ (Nr. 50/2010): Die US-Luftwaffe hat wegen der Veröffentlichung von WikiLeaks-Dokumenten den Zugang zu beteiligten Medien wie „New York Times“, „Guardian“ oder SPIEGEL von ihren Computern aus gesperrt. Eine Sprecherin der Air Force bestätigte dem „Wall Street Journal“ vom Mittwoch, dass insgesamt 25 Websites blockiert werden … Der Zeitung zufolge taucht beim Ansteuern der Websites von Air-Force-Computern aus die Nachricht „Zugang verweigert“ auf. Die US-Regierung vertritt den Standpunkt, dass geheime Dokumente nur von Berechtigten eingesehen werden dürfen, selbst wenn sie durch WikiLeaks einer großen Öffentlichkeit bekanntgemacht wurden. Kritiker sehen in der Sperre einen Verstoß gegen die Meinungsfreiheit.
Anzeige in der „ADAC Motorwelt“
Der SPIEGEL berichtete … Aus dem „Extra-Tipp am Sonntag“: „Nach seinem Tode ehrte ihn die Stadt Willich, indem sie die Städtische Katholische Grundschule in Anrath in Gottfried-Kricker-Schule umbenannte. Gottfried Kricker wiederum machte sich über seinen Tod hinaus um Anrath verdient, indem er zusammen mit seiner Ehefrau die Dr. Gottfried-und-Sophie-Kricker-Studienstiftung ins Leben rief, die Schüler und Studierende aus Anrath finanziell unterstützen soll.“
Kleinanzeige in der „Welt am Sonntag“ 170
… in Nr. 41/2010 „Der Wutbürger“ über Stuttgart 21, die Sarrazin-Debatte und die Frage, warum die Deutschen so viel protestieren. Vergangenen Freitag erklärte die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) „Wutbürger“ zum Wort des Jahres 2010. Der Begriff wurde von SPIEGEL-Redakteur Dirk Kurbjuweit zum ersten Mal in der Bedeutung verwendet, die die GfdS zu ihrer Wahl bewog: „Das Wort dokumentiert ein großes Bedürfnis der Bürgerinnen und Bürger, über ihre Wahlentscheidung hinaus ein Mitspracherecht bei … relevanten Projekten zu haben“, schreibt die GfdS. D E R
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