Maddrax Band 96
Der schwimmende Moloch von Michael J. Parrish Fern im Nordwesten, wo der Kontinent endete und das flac...
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Maddrax Band 96
Der schwimmende Moloch von Michael J. Parrish Fern im Nordwesten, wo der Kontinent endete und das flache Land vom Ozean überflutet worden war, lag eine Siedlung. Eine Siedlung, die auf dem Wasser schwamm. Anfangs waren es nur einige Boote gewesen, die man nach der großen Katastrophe miteinander verbunden hatte, doch im Lauf der Jahrhunderte war sie größer und größer geworden. Schiffswracks und Flöße aus Holz und rostigem Metall bildeten den Untergrund, auf dem eine neue Metropole entstanden war. Eine Stadt der Gegens ätze und der tödlichen Gefahren. Die Einwohner, die in der Stadt lebten, hatten ihren stolzen Namen überliefert aus einer Zeit, als dieses Land noch trocken gewesen war: Amerdaam. Doch hinter vorgehaltener Hand nannte man sie seit Ewigkeiten nur noch den "schwimmenden Moloch"...
WAS BISHER GESCHAH
Auf der Suche nach Antworten, was mit der Erde und der Menschheit nach der Kometenkatastrophe vor über 500 Jahren geschehen ist, taucht die Weltrat-Expedition unter Lynne Crow und Prof. Dr. Smythe in den Kratersee hinab – und scheitert, Auch die Gruppe um Matthew Drax, der – wie Smythe – als Zeitreisender wider Willen in dieser Zukunft strandete, wagt den Vorstoß und birgt einen grünen Kometenkristall. Der Hydrit Quart'ol, Vertreter einer unterseeischen Rasse, nimmt Kontakt mit dem Kristall auf, der in Wahrheit ein Bewusstseins-Speicher ist. Sie erfahren, dass das außerirdische Volk der Daa'muren mit dem Kometen auf die Erde kam und seither bestrebt ist, durch fortwährende Mutatione n der Tier und Pflanzenwelt eine Lebensform zu erschaffen, in die ihre Millionen körperlose Geister schlüpfen können. Auch die Degeneration und Reorganisation der Menschheit diente diesem Zweck. Der Wirtskörper steht kurz vor der Vollendung – als Matt in einer Bruthöhle eines der Eier zertritt. Die Außerirdischen prägen ihn als obersten Feind und hetzen ihm ihre Mutanten auf den Hals. Die Freunde fliehen in einem ARET-Panzer. Da der Barbar Pieroo an der Strahlenkrankheit leidet, fahren der Cyborg Aiko und Honeybutt mit ihm im Dingi des ARET voraus. In der Hafenstadt Nydda trennen sich die Freunde: Dave und Rulfan wollen auf einem Raddampfer nach Britana, fallen im Nordmeer Piraten in die Hände und werden an einen Sklavenhändler verkauft. Die Dingi-Besatzung erreicht schließlich London. Pieroo wird geheilt – und setzt sich nach Meeraka ab, um dort seine ebenfalls verstrahlte Familie zu retten, kommt aber zu spät und bleibt gebrochen dort. Matt, seine Gefährtin Aruula und Mr. Black, der Klon des letzten US-Präsidenten, nehmen im ARET den Landweg. In
Perm beginnen sie die russischen Bunker auf ein Bündnis gegen die Daa'muren einzuschwören. Dabei hilft ihnen ein Serum, das nur aus Blacks Blut gewonnen werden kann und die Immunschwäche der Technos überwindet. In Moskau lebende Nosfera, mumienhafte Blutsauger, helfen Matt, die Mutantenarmee zu vernichten. Bei einer Prophezeiung haben sie ihn als Sohn der Finsternis erkannt. Weiter geht die Reise in Richtung Berlin, wo Matts früheres Crewmitglied Jennifer Jensen als Königin residiert. Dass die Amazonen vor über drei Jahren Matt zum Sex mit Jenny zwangen, hatte Folgen: Er ist Vater! Doch Jenny und ihre Tochter wurden entführt. Nachdem Matthew unverhofft als König einspringen musste, stellt sich aber heraus, dass Jenny selbst die Entführung inszeniert hat, um eine Intrige bei Hofe aufzudecken. Für Aruula ist die Vertrautheit zwischen Matt und Jenny eine zunehmende Belastung, und als ihre Selbstzweifel zu groß werden, läuft sie davon. Matt rettet sie aus den Händen von Hamburger Technos, die bei eigenen Versuchen, ein Serum zu entwickeln, mutierte Völker missbraucht haben. Nun rächt sich ihr Vorgehen – in einer Explosion des Bunkers, aus dem Matt und Aruula mit einem Flugpanzer fliehen können...
Das Summen des nuklear betriebenen AntischwerkraftProjektors, der das TFG durch die Luft schweben ließ, war im Inneren der gepanzerten Maschine kaum zu hören. Im Copilotensitz des Gefährts, das Commander Matthew Drax bei den dramatischen Ereignissen im Hamburger Bunker gekapert hatte, saß Mr. Black, der Anführer der "Running Men", einer Rebellengruppe gegen den Weltrat im fernen Meeraka. Die so hübsche wie schlagkräftige Barbarin Aruula, Matts Gefährtin, hatte auf einem der Kontursessel im Fond der Maschine Platz genommen. Ihr gemeinsames Ziel war die Techno-Community London. Im Tiefflug zog das TFG, das sich zwar im Design, kaum aber in der Bedienung von den britanischen EWATs unterschied, über die endlos scheinende Wasserfläche hinweg, unter der sich das befand, was Matt noch als die Niederlande gekannt hatte. Damals, vor fünfhundertsieben Jahren. Infolge der klimatischen und geologischen Veränderungen, die der Einschlag des Kometen "Christopher-Floyd" verursacht hatte, waren ganze Landstriche von den Fluten des Ozeans verschlunge n worden. Holland hatte es nach dem Bruch der Deiche komplett erwischt. Obwohl sich Matt, der in dieser dunklen Zukunft der Erde gestrandet war, inzwischen daran gewöhnt hatte, nur noch die Scherben und Trümmer dessen zu erblicken, was einst seine Welt gewesen war, bedrückte ihn der Anblick. Aruula, deren Fähigkeit zu lauschen ihnen bereits wiederholte Male von unschätzbarem Wert gewesen war, konnte spüren, dass ihn etwas bedrückte. Sie beugte sich vor und legte Matt die Hand auf die Schulter, um ihn zu trösten. Nach den Spannungen, die ihre Beziehung in letzter Zeit belastet hatten – in Berlin hatte Matt erfahren, dass er vor zweieinhalb Jahren unfreiwillig Vater geworden war – und die dazu führten, dass Aruula davongelaufen und in die Gewalt der
deutschen Technos geraten war, wollte sie keinen Zweifel daran lassen, dass sie ihn liebte und zu ihm stand. Diese Gewissheit tröstete ihn ein wenig. Die Welt, wie er sie kannte, mochte sich verändert haben und in manchen Gegenden nicht mehr wiederzuerkennen sein. Aber es gab auch Dinge, die sich bis in diese düstere Zeit erhalten hatten. "Hey", knurrte Mr. Black mit einem Blick auf die Sensoranzeigen des TFG's. "Der Langstreckenradar schlägt an. Vor uns ist etwas." "Ein Schiff?", vermutete Matt. "Reichlich groß für ein Schiff. Laut Anzeige misst das Ding... gut zwanzig Kilometer im Quadrat!" "Das wäre allerdings ein ziemlich großes Schiff", sagte Matt trocken. "Menschen sind dort", sagte Aruula, halb in Trance. "Viele Menschen. Eine Stadt." "Eine Stadt?", fragte Matt ungläubig. "Eine Stadt auf dem Wasser, mit zwanzig Kilometern Durchmesser?" "Wir haben Sichtkontakt", bestätigte Mr. Black – und aus dem dunstigen Horizont, der den grauen Himmel und die endlos scheinende Wasserfläche im Westen miteinander verband, schälten sich tatsächlich undeutliche Formen. Matt drosselte das Tempo der Maschine ein wenig, behielt die Flugrichtung aber bei. Ja näher sie kamen, desto unwahrscheinlicher wurde der Anblick. Das Gebilde, das sich dort von der glitzernden Fläche des Wassers erhob, war tatsächlich eine Stadt, die ein unüberschaubares Gewirr aus Gebäuden, Brücken und Kanälen bildete. Festes Land, auf der die Siedlung stand, schien es jedoch nicht zu geben – die Stadt schwamm auf dem Wasser! Schon bald konnten Matt und seine Gefährten Einzelheiten erkennen. Sie sahen, dass die Stadt aus mehreren Sektionen bestand, die untereinander durch schmale Brücken verbunden
waren. Es mussten rund zwanzig dieser schwimmenden Inseln sein, und als das TFG der Stadt noch näher kam, konnte man auch sehen, woraus die Inseln bestanden. Die rostigen Wracks uralter Schiffe, die noch aus der Zeit vor dem Kometeneinschlag stammen mussten, schienen das Fundament der Stadt zu bilden. Mit Ketten und Seilen waren sie miteinander vertäut worden. Man hatte verschieden große Plattformen aus Metall oder Holz darauf befestigt und auf ihnen dann Hütten und kleinere Häuser errichtet. An diesen Plattformen, von denen einige nur wenige Dutzend Quadratmeter Durchmesser und andere die Größe eines Basketball-Feldes besaßen, waren weitere Wasserfahrzeuge angedockt und zu schwimmenden Behausungen umfunktioniert worden; so wie eine Stadt durch immer weitere Häuser in den Randgebieten expandierte, war auch dieser Moloch über die Jahrhunderte unkontrolliert angewachsen. Die Dächer der Hausboote waren aus Holz oder Blech gefertigt; hier und dort schimmerten auch seltsam geformte Dachschindeln im Sonnenlicht, die einst die Schuppen eines riesigen Fisches gewesen sein mochten. Die schmalen Gassen, die sich zwischen den Hütten erstreckten, wurden von großen Fetzen Fischhaut überspannt, die vor dem grellen Sonnenlicht schützten. Die ganze Stadt machte einen organischen, ungeordneten Eindruck, sah so aus, als wäre sie aus der Tiefe des Meeres empor gewuchert; ein Vermächtnis aus alter Zeit, das irgendwie überdauert und an die Oberfläche gefunden hatte. Auf den schmalen Kanälen, die zwischen den einzelnen Stadtteilen verliefen, verkehrten Boote – von simplen, aus Holz gefertigten Kähnen über breite Flöße, die Fässer und Kisten mit Waren transportierten, bis hin zu einigen Fischkuttern, die noch aus der Zeit vor der Katastrophe datierten. Irgendwie hatten es die Bewohner der Stadt geschafft, die Rümpfe dicht zu halten; in Ermangelung eines Motors trieben sie die plumpen, rostigen
Gefährte mit langen Rudern an. Auf den Decks der Schiffe, ebenso wie an den Kais und Stegen, die die künstlichen Inseln säumten, verkehrten Menschen – ausgemergelte, zum Teil ziemlich verwahrlost aussehende Gestalten, die zum Himmel aufschauten, als sich das TFG näherte, sich dann aber wieder ihrer eigenen Beschäftigung zuwandten. "Kaum zu glauben", stieß Mr. Black hervor, der wie die anderen staunend durch das Cockpitfenster blickte. "Eine Stadt, die auf dem Wasser schwimmt." "Wenn ich mich nicht irre, hat sich in alter Zeit an dieser Stelle Amsterdam befunden", stellte Matt Drax mit einem Blick auf die Koordinaten fest. "Was ist damit geschehen?", fragte Aruula. "Es wurde vom Ozean überflutet", sagte Matt gepresst. Ihn schauderte bei dem Gedanken an die Szenen, die sich hier angesichts der nahenden Flutwelle abgespielt haben mussten – damals, vor über fünfhundert Jahren... "Die Leute scheinen nicht sonderlich erstaunt über unser Fahrzeug zu sein", stellte Mr. Black fest. "Vielleicht gibt es auch hier eine Art von Community. Wir sollten runter gehen und der Stadt einen Besuch abstatten." Im ersten Moment wollte Matt widersprechen. Sie hatten schließlich eine Mission zu erfüllen und schon genug Zeit in Berlin und Hamburg verloren. Ihr Ziel war London. Königin Victoria musste erfahren, was am Kratersee vor sich ging. Andererseits: Technisch hochstehende Enklaven ausfindig zu machen, die sie gegen die Daa'muren unterstützen konnten, war in etwa so schwierig wie die berühmte Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Sie mussten jedem Hinweis nachgehen, der sich ihnen bot – auch wenn es nicht sehr wahrscheinlich war, dass sich ausgerechnet aseptische Technos an einem Ort wie diesem aufhalten sollten. "Aruula?", fragte Matt dennoch. Nach den Erfahrungen in
Hamburg wollte er kein unnötiges Risiko eingehen. "Es stimmt", bestärkte die Barbarin Mr. Blacks Argument. "Unser Auftauchen hat diese Menschen nicht in Unruhe versetzt. Ich kann keine Furcht bei ihnen fühlen. Nur..." "Was?", wollte Matt wissen. "Ich weiß es nicht. Es ist so, als würde ich ihre Gefühle wie durch einen Schleier wahrnehmen. Aber es hat nichts mit uns zu tun." "Sicher?" "Ganz sicher." "Na schön", knurrte Matt. "Sei's drum. Wir gehen runter und sehen uns den Laden an. Vor Einbruch der Dunkelheit sind wir wieder verschwunden." "Das genügt", versicherte Mr. Black, und gemeinsam hielten sie nach einem Landeplatz Ausschau, was sich im Gewirr der Hütten und Inseln, der Brücken und Kanäle als überaus schwierig erwies. "Dort", sagte Aruula plötzlich und deutete auf eine Lücke, die im Häusermeer klaffte. In einer der Randsektionen der Stadt gab es ein großes Floß, das aus schwimmenden Metallcontainern bestand, die miteinander verbunden waren. Weder stand ein Gebäude darauf, noch schien es jemanden zu geben, dem das Floß gehörte. In aller Eile jagte Mr. Black die nötigen Berechnungen durch den Bordcomputer des Taktischen Fluggeräts. "Kein Problem", meldete er dann. "Nach den Abmessungen des Floßes geschätzt, müsste der Auftrieb genügen, um das Gewicht des TFGs zu tragen. Vorausgesetzt natürlich, die Konstruktion gibt nicht nach." "Das werden wir schnell herausfinden", versicherte Matt, nahm weiter Tempo zurück und steuerte die Plattform in steilem Winkel an. In einer engen Spirale sank das TFG dem Floß entgegen. Erst wenige Meter bevor der Rumpf der Maschine den Boden
berührte, aktivierte Matt die Konverter. Sanft setzte das Fluggerät auf dem schwankendem Untergrund auf. Spontan sank das Floß einen halben Meter tiefer in die blaugrünen Fluten. Die Konstruktion der schwimmenden Plattform ächzte, aber sie hielt der Beanspruchung stand. "Schön", meinte Matt, während das Aggregat mit leisem Summen herab fuhr. "Das hätten wir geschafft. Und jetzt?" "Wird es Zeit, ein wenig frische Seeluft zu schnuppern", versetzte Black, löste sich aus seinem Sitz und betätigte den Öffnungsmechanismus der Ausstiegsluke. Was von draußen ins Cockpit des TFGs strömte, hätte viele Bezeichnungen verdient – "frisch" gehörte allerdings nicht dazu. Aruula gab ein missbilligendes Knurren von sich, als der beißende Gestank in ihre Nase stieg, und auch Matt verzog das Gesicht. Eine Ekel erregende Mischung aus Fäulnis und Moder lag über der Stadt, durchtränkt mit dem Gestank von verkommenem Fisch, altem Ö l und rostigem Metall. Und über allem lag die salzige Brise des Meeres. Nacheinander stiegen die Freunde aus dem keimfrei anmutenden Inneren des TFGs nach draußen – und gelangten in eine Welt, die im Verfall begriffen war. Aus der Nähe betrachtet sah die Stadt noch um vieles heruntergekommener aus als aus der Luft. Das Metall des behelfsmäßigen Pontons, auf dem das Fluggerät gelandet war, war rostig und brüchig. An vielen Stellen war es mit einer dunklen, klebrigen Masse abgedichtet worden, die die Eigenschaften von Teer zu besitzen schien. Auf einer Seite war das Floß zur See hin offen; zu den drei übrigen Seiten umgaben es schwimmende Plattformen, auf denen windschiefe Baracken thronten. Einige davon erinnerten Matt an die ersten Häuser, die im amerikanischen Westen des 19. Jahrhunderts errichtet worden waren – sie waren flach und besaßen von Stützen getragene Vordächer. Die Wände
bestanden aus rostigem Wellblech oder fauligem Holz, die Fenster waren glaslos und zumeist mit schmutzigen Fetzen verhangen. Überall standen Kisten und Fässer, stapelten sich Netze und anderes Werkzeug, das zum Fischfang benötigt wurde. Dazwischen lag Unrat verstreut, Gegenstände, die nicht mehr benötigt wurden, aber auch Fischabfälle, die für den erbärmlichen Gestank sorgten. Vom Floß aus führte ein schmaler Steg über brackiges Wasser, das gleichmäßig gegen die schwimmenden Tanks schlug und auf dem in allen Regenbogenfarben schillernde Ölschlieren trieben. Auf der anderen Seite erstreckte sich eine schmale Gasse, auf die von beiden Seiten die Eingänge der Baracken mündeten. Der Schatten, den die Fetzen von Fischhaut spendeten, die über die Gasse gespannt waren, sorgte dafür, das sie in Düsternis versank. Menschen waren weit und breit nicht zu sehen – nur ein gedrungenes Tier zeigte sich, das in etwa so groß wie eine Ratze war, jedoch kein Fell besaß, sondern glatte Amphibienhaut. Einen Augenblick lang hielt es inne und schlug mit seinem dürren Schwanz. Dann verschwand es in einer dunklen Ritze und kam nicht wieder hervor. "Lauschiges Plätzchen", stellte Matt fest. "Hier könnte es mir gefallen." "Es ist kurz nach Mittag", stellte Mr. Black mit Blick zum Himmel fest. "Wahrscheinlich halten die Leute ein Nickerchen." "Er hat Recht", pflichtete Aruula ihm bei. "Was ich erlauschen kann, ist nur gedämpft. So als würden die meisten Leute in der Stadt schlafen." "Auch gut", meinte Matt. "Zu meiner Zeit gab es ein Sprichwort: Wer schläft, sündigt nicht. Ziehen wir also los und suchen nach Proviant..." Er sah zu Mr. Black. "Einer von uns beiden sollte hier bleiben, für den Fall, dass das TFG gestartet
werden muss." "Gehen Sie nur", zeigte sich Mr. Black ungewohnt großzügig. "Ich halte die Stellung." "Im Ernst?", fragte Matt und hob die Brauen. In den Wochen und Monaten, die hinter ihnen lagen, hatte er den Anführer der Running Men als verwegenen Einzelgänger, aber auch als entschlossenen Mann der Tat kennen gelernt. So viel bescheidene Zurückhaltung wollte nicht recht zu ihm passen... "Natürlich", erwiderte Black und zauberte ein breites Grinsen auf seine kantigen Züge. "Seht euch um und amüsiert euch – und wenn ihr in Schwierigkeiten geratet, verlasst euch auf die Kavallerie." "Verstehe", meinte Matt. Das wiederum passte schon sehr viel besser zu Blacks eigenwilligem Wesen – die Rolle des Retters in der Not. Der Anführer der Running Men handelte stets verantwortungsvoll, wenn es um seine Leute ging. Soweit es ihn persönlich betraf, war er jedoch durchaus geneigt, Risiken auf sich zu nehmen. "Okay." Matt öffnete eine Abdeckung des TFGs, hinter der Ausrüstungsgegenstände untergebracht waren. "Wenn es Ärger gibt, feuern wir eine Signalrakete ab." Er schob drei der schlanken Röhren in seine Beintasche. "Den UniversalTranslator lassen wir hier. Ich gehe davon aus, dass sich die Bewohner der Stadt in der Sprache der Wandernden Völker verständigen." "Und wenn diese Leute ihre eigene Sprache pflegen?", warf Black ein. "Nein", widersprach Matt. "Dafür sind sie zu stark vom Festland abhängig. Sie sind gezwungen, regelmäßig an Land zu gehen und sich mit Wasser und Rohstoffen zu versorgen. Möglicherweise enthält ihre Sprache sogar viele deutsche Elemente. Ich werde jedenfalls ganz gut zurechtkommen." Mit wenigen Handgriffen stellten Aruula und er ihre restliche Ausrüstung zusammen. Aus den Beständen des TFGs
nahmen sie einen Tornister mit Notausrüstung und einem Medipack mit, außerdem ihre Waffen. Aruula trug ihr Schwert sichtbar auf dem Rücken, um jedem etwaigen Angreifer zu signalisieren, dass er sich damit würde auseinandersetzen müssen. Auch Matt trug seine Handfeuerwaffe offen im Holster. Er hatte die Erfahrung gebracht, dass Abschreckung in dieser Welt oftmals dazu beitragen konnte, einen Kampf zu vermeiden. Mr. Black nickte ihnen zum Abschied zu, als sie den Ponton über den schmalen Steg verließen und ihren Fuß in die dunkle Gasse setzten, die dahinter lag. Es war ein seltsames Gefühl: Der mit Holzbohlen ausgelegte Weg und die Gebäude zu beiden Seiten suggerierten, dass sie sich auf festem Land befanden. Bei jedem Schritt jedoch hatte Matt den Eindruck, ein wenig zu schwanken, und er konnte hören, wie unter den Bohlen das Meerwasser gegen Schiffsrümpfe und schwimmende Tanks schlug. Vorsichtig folgten sie dem Verlauf der Gasse, wagten sich auf unerforschtes Terrain. In den Hauseingängen, die von beiden Seiten auf die Gasse mündeten, war es dunkel. Dennoch hatte Matt das Gefühl, dass von drinnen neugierige Augenpaare starrten, deren Besitzer wohl nicht wussten, ob sie sie für Freunde oder Feinde halten sollten. Schon nach ein paar Metern beschrieb die Gasse einen scharfen Knick, und das TFG mit Mr. Black verschwand aus dem Blickfeld. Jetzt waren Matt und Aruula auf sich gestellt, und der wachsame Gesichtsausdruck der Barbarin zeigte, dass sie sich darüber sehr wohl im Klaren war. Aufmerksam blickte sie sich um, bildete die Nachhut, während Matt voraus ging. Im Gegensatz zum grellen Sonnenschein außerhalb der Gasse, war das Licht zwischen den Häusern trüb und gedämpft. Die Fischhäute zwischen den Baracken spendeten mehr Schatten, als es von außen den Anschein gehabt hatte, und sorgten dafür, dass die Luft einigermaßen kühl blieb. Anders
wäre der bestialische Gestank, der in der Gasse herrschte, auch nicht auszuhalten gewesen. "Ein Taratzennest ist nichts dagegen", kommentierte Aruula missbilligend, und das war keinesfalls übertrieben. Auch Matt merkte, wie empfindlich sein Magen auf die ekelhafte Mischung aus Salz, Fäulnis und Exkrementen reagierte. Der Gedanke, an einem Ort wie diesem auf zivilisierte Bunkermenschen zu treffen, erschien ihm zunehmend abwegig. Sie erreichten das Ende der Gasse, wo der Pfad auf die nächste, etwas breitere Straße mündete. In einem hellen Flecken Sonnenlicht, der durch die Segel fiel, hockten mehrere zerlumpte Gestalten, deren Kleidung teils aus Stoff, teils aus gegerbter Fischhaut zu bestehen schien. Als sich Matt und Aruula ihnen näherten, blickten sie für einen Augenblick auf, um gleich darauf wieder in ihrer Lethargie zu versinken. Nur ein fetter Vogel, der auf einem fauligen Holzstumpf kauerte, flatterte kreischend auf. "Na bitte", knurrte Matt. "Wenigstens einer, der von uns Notiz nimmt." Er trat auf die Leute zu. "Comdo!", zitierte er die allgemein übliche Begrüßung in der Barbarensprache, und fuhr in selbiger fort: "K önnt ihr uns sagen, wo wir den Herrscher über diese Stadt finden?" Als keine Reaktion erfolgte, versuchte es Aruula eine Stufe einfacher: "Gaide nu eeo capuun!" – Führt uns zu eurem Häuptling! Die Burschen gönnten ihnen einen weiteren kurzen Blick, verzogen ob der Störung die Gesichter und starrten dann wieder vor sich hin. Da war nichts zu machen. Matt und Aruula gingen weiter. Mit jeder Gasse, die sie passierten und um die sie dem Kern der schwimmenden Insel näher kamen, erwachte die Stadt mehr zum Leben – offenbar war die Siesta zu Ende. Zuerst waren es nur vereinzelte Gestalten, die in den
gedrungenen Eingängen der Baracken lungerten, dann trafen sie auf den schmalen Straßen auch Passanten. Das milde Meeresklima sorgte dafür, dass sie nur wenig Kleidung benötigten; die meisten Männer trugen Tuniken aus ausgebleichtem, schmutzigen Stoff, dazu – wenn überhaupt – Schuhe aus Fischhaut. Die Kleider der Frauen waren wenig mehr als lange Stoffbahnen, die sie sich übergeworfen hatten und die mit einem Gürtel um die Hüften zusammengehalten wurden. Auf den schmutzigen, von Unrat übersäten Holzbohlen spielten halb nackte Kinder. Aus den Eingängen der Häuser drangen exotische Dürfte, von denen einige halbwegs erträglich waren, während andere Matt fast den Magen umdrehten. Der Betriebsamkeit nach zu urteilen, die in der Gasse herrschte, schien es sich um Lokale zu handeln, in denen Essen angeboten wurde. Über einem Grill, der am Straßenrand aufgestellt worden war, brieten mehrere der nackten Ratzentiere, von denen Matt schon eines gesehen hatte, an einem langen rostigen Spieß; hier roch es nach Fisch und dort nach scharfen Gewürzen, und einen drit ten Geruch, der sich noch dazu mischte, vermochte Matt erst gar nicht zu identifizieren. Dampfschwaden drangen aus den Eingängen und vernebelten die Gasse, und hier und dort konnte man eins der Ratzenviecher sehen, das in den Abfällen wühlte. Aruula verzog angewidert das Gesicht. Alles, was auch nur entfernt nach Nagetieren aussah, fand in ihren Augen keine Gnade – dazu hatte die Kriegerin zu viele schlechte Erfahrungen mit Taratzen gesammelt. Wie Matt vermutet hatte, waren die Einwohner der Inselstadt keine autarke Gesellschaft, sondern setzten sich aus Abkömmlingen verschiedenster Rassen zusammen. Männer, Frauen und Kinder, die aus allen Teilen der Welt gekommen und auf diesem künstlichen Eiland gestrandet waren. Matt sah hagere Nordländer mit bleicher Haut ebenso wie braungebrannte Krieger aus dem Süden. Weder herrschte eine
Hautfarbe vor, noch gab es eine einheitliche Haartracht oder Kleidung – die schwimmende Stadt schien ein Schmelztiegel aller möglichen Völker zu sein. Gemeinsam waren den Menschen, die hier lebten, nur zwei Dinge: ihre ausgemergelten Gesichter und ihre ärmliche Erscheinung. Und ihre Teilnahmslosigkeit; zwei weitere Male versuchte Matt nach dem König, Stadthalter oder was auch immer zu fragen, erhielt aber keine Antwort. Allmählich fragte er sich, ob es nicht einfach an dieser Lethargie lag, dass man das TFG ohne Überraschung zur Kenntnis genommen hatte. Wenn das der Fall war, konnten sie sich den Ausflug sparen... Sie ließen sie die Gasse der Spelunken hinter sich. Die Baracken auf der linken Seite verschwanden, stattdessen verlief ein Kanal unmittelbar am Weg entlang. Er war nicht breit, vielleicht vier, fünf Meter. Auf der anderen Seite erhoben sich die morschen Wände brüchiger Hütten, und auf dem schmalen Steg, der sie umlief, hockten Kinder, die lange Schnüre mit Ködern daran ins Wasser hielten und hofften, dass etwas anbiss. Auch Boote verkehrten auf dem Wasserweg – schmale Gefährte, deren Basis zumeist aus Überresten der alten Zeit bestand, die man verändert und ergänzt hatte. Matt sah eine Konstruktion, die einst ein schnittiges Motorboot gewesen sein mochte – jetzt trug der am Bug spitz zulaufende, keilförmige Rumpf eine Plattform aus feuchten Planken, auf der sich ein mit Fischhäuten bespannter zeltähnlicher Aufbau erhob. Ein anderes Boot, das Matt an ein Einbaum erinnerte, war offensichtlich aus den Schwimmern eines alten Wasserflugzeugs gefertigt. Was immer sich aus der alten Zeit erhalten hatte und auf dem Wasser schwamm, hatten diese Leute für ihre Zwecke umgebaut, und einmal mehr kam Matt nicht umhin, den Einfallsreichtum und die Erfindungsgabe der Menschen dieser Welt zu bewundern. Sie folgten dem Kanal weiter, passierten einige Stege, an
denen kleine Boote ankerten. Am Kai entlang ragten hohe Stangen auf, an denen orangefarbene Tücher im Wind flatterten. Schon zuvor hatte Matt sie an einigen Ecken entdeckt, und er fragte sich, was sie wohl bedeuten mochten. Ein Fischkutter, für den der Kanal gerade noch klein genug war, dümpelte an ihnen vorbei, und Matt konnte sehen, wie sich auf dem grauen Rumpf das Wasser spiegelte. Es war ein seltsam idyllischer Anblick in dieser heruntergekommenen Umgebung, der jedoch nur einen Augenblick währte. Schlagartig verschwanden die Spiegelungen, um dann unvermittelt wieder zurückzukehren – als hätte etwas für einen Augenblick Schatten auf den Rumpf des Kutters geworfen. Etwas, das sich unterhalb der Planken aufhielt, die den Boden der Gasse bildeten... Spontan blieb Matt stehen, spähte zwischen den Ritzen der Bodenplanken hindurch. Darunter konnte er jedoch nichts erkennen als rostige, schwimmende Tanks und glitzerndes Wasser. Aruula warf ihm einen fragenden Blick zu, aber er schüttelte den Kopf. Er musste sich wohl geirrt haben... Gemeinsam setzten sie ihren Weg fort, weiter auf der Suche nach einem halbwegs kompetent anmutenden Menschen, der ihnen Auskunft geben konnte. * In dem Augenblick, als der große Fremde stehen geblieben war, um durch die Ritzen der Bodenplanken zu spähen, waren die Gestalten, die in dem gedrungenen, nur meterhohen Zwische nraum kauerten, reglos verharrt. Sich an die hölzernen, salzverkrusteten Stützen klammernd, erstarrten sie und verschmolzen mit dem Halbschatten. Der Fremde blickte durch die Ritzen, schien jedoch nichts erkennen zu können. Schulterzuckend setzte er seinen Weg fort,
und in die gedrungenen, zerlumpten Gestalten kam wieder Leben. "Keejkers", raunte einer den anderen zu. "Die Fremden scheinen nicht zu wissen, wo sie sind. Wir sollten es ihnen mitteilen. Niemand betritt ungestraft unser Gebiied." "Du hast Recht", bestätigte der junge Mann, der neben ihm kauerte und eine große Narbe im Gesicht trug. "Aber hast du das Schwert der Frau gesehen? Und der Mann scheint eine Donnerwaffe zu besitzen." "Und wenn schon – das gibt ihnen nicht das Recht, ungestraft durch unsere Stadt zu marschieren, oder?" Er blickte reihum und erntete heftiges Kopfschütteln. "Wenn sie unser Gebiied verlassen wollen, werden wir sie aufhalten. Sie sehen nicht aus, als ob sie viel bei sich hätten, aber wir wollen wenigstens unseren Spaß haben. Vor allem mit der Frau." "Was hast du vor, Ruudi?", fragte der mit der Narbe. Über Ruudis schmale, jungenhafte Züge huschte ein Grinsen. "Lass dich überraschen..." * Das Gefühl, beobachtet zu werden, hatte Matt nicht losgelassen, seit sie die Gasse der Spelunken verlassen hatten. Immer wieder hatten Aruula und er sich unauffällig umgeblickt, jedoch nichts Verdächtiges entdecken können. Vorbei an halb verfallenen Baracken und rostigen, stinkenden Kuttern, die an morschen Kais vertäut lagen, erreichten sie schließlich das andere Ende der schwimmenden Insel. Vor ihnen erstreckte sich eine schmale, nur meterbreite Hängebrücke, die einen an die fünf Meter breiten Kanal überspannte. Auf der anderen Seite erstreckte sich die nächste Sektion der schwimmenden Stadt, deren Häuser und Baracken nicht
weniger heruntergekommen aussahen als jene, die hinter ihnen lagen. "Sehen wir uns dort mal um", sagte Aruula und näherte sich entschlossen der Brücke. "Vielleicht sind wir ja im Viertel der Tagträumer gelandet, und da drüben reden sie wenigstens mit uns." Gerade wollte sie ihren Fuß auf die Brücke setzen, als Matt und sie plötzlich Gesellschaft bekamen. Unvermittelt und flink wie Insekten kamen mehrere zerlumpte Gestalten von unter der Plattform herauf gekrochen und stellten sich ihnen in den Weg. Also doch, dachte Matt. Er hatte sich nicht geirrt: Jemand war ihnen unterhalb der Plattform gefolgt und hatte sie die ganze Zeit über beobachtet... Es waren sechs junge Männer mit kurz geschorenem Haar, die alle ziemlich mager und ausgemergelt aussahen. Alle sechs trugen zerschlissene, ärmellose Tuniken aus Stoff, die mit schillernden Fischschuppen verziert waren, dazu Gürtel, an denen allerhand rostige Gegenstände hingen: Löffel und Schraubenzieher, Flaschenöffner und Schlüssel... Relikte aus der alten Zeit, die jetzt wohl mehr rituelle als praktische Bedeutung besaßen. Keiner der Kerle war besonders kräftig. Dass sie trotzdem einen ziemlich gefährlichen Eindruck machten, lag an den Waffen, die sie in ihren Händen hielten – Harpunen und Dolche, die aus Fischbein und -zähnen gefertigt waren und mörderisch scharf zu sein schienen. "Tozzins", raunte einer der Männer, ein schlanker Typ mit länglichem Gesicht und flachsblondem Haar, der der Anführer der Gruppe zu sein schien, ihnen zu. "Keinen Schritt weiter, Fremde, oder ihr werdet es bereuen." Matt hatte richtig gelegen mit seiner Vermutung. Die Bewohner der schwimmenden Stadt bedienten sich tatsächlich einer Sprache, die mit der der Wandernden Völker verwandt
war – ein Idiom, das sich aus verschiedenen Sprachen Mitteleuropas entwickelt hatte. Der deutsche Anteil daran war beträchtlich, sodass Matt keine Schwierigkeiten hatte, den Mann zu verstehen. Nur das erste Wort hatte ihm Probleme bereitet – Matt nahm an, dass es sich dabei um eine Begrüßungsformel handelte. "Tozzins", erwiderte er deshalb. "Ist das die Art, wie man als Fremder in dieser Stadt begrüßt wird?" "Das kommt ganz darauf an, was ihr zu bieten habt, Fremde." Matt seufzte. Er hatte weder Zeit noch Lust, sich mit diesen grünen Jungs herumzuschlagen. Die Bande war auf Beute aus; keine gute Grundlage für ernsthafte Gespräche. "Kommt schon, Leute", knurrte er. "Gebt den Weg frei. Wir suchen keinen Ärger." "Wer weiß", gab der andere feixend zurück. "Vielleicht ist der Ärger ja auf der Suche nach euch. Wer seid ihr?" "Das geht dich nichts an, Jungchen", erwiderte Matt grimmig. Ihm fiel auf, dass die jungen Männer orangefarbene Tücher um ihre nackten Oberarme trugen – Tücher so wie jene, die er am Kai gesehen hatte. Möglicherweise, überlegte er, handelte es sich um die Mitglieder einer Gang, die ihr Territorium mit Tüchern markiert hatten. Ähnliches hatte es zu seiner Zeit in fast allen Großstädten der USA gegeben... "Ihr sprecht eine komische Sprache", stellte der Anführer fest. "Vo n wo kommt ihr?" "Auch das geht dich nichts an", entgegnete Matt. "Wo wir herkommen, ist es jedenfalls nicht üblich, Besucher mit Messern zu befragen, also werden wir nicht antworten." "Und ob ihr das werdet", versicherte der andere grinsend, und seine Leute schickten sich an, Matt und Aruula einzukreisen. Aruula zögerte nicht länger. Mit einer geschmeidigen
Bewegung griff sie nach dem Schwert, das sie auf dem Rücken trug, wollte die Klinge aus der Kralle reißen – Matt jedoch hielt sie mit einem Blick zurück. Sie waren fremd in der Stadt und noch keine Stunde hier. Er wollte keinen Kampf und schon gar kein Blutvergießen. So etwas konnte rasch eskalieren und böse enden. Möglicherweise ließ sich die Situation auch anders regeln... "Mein Name ist Maddrax", stellte er sich deshalb vor. "Die Frau an meiner Seite ist Aruula, eine Kriegerin." "Eine Kriegerin?" Der Anführer der Gang sah amüsiert aus. "Eine Frau als Kriegerin?" "Warum nicht, du halbe Portion?", fragte Aruula bissig. "Gibt es keine Kriegerinnen auf deiner stinkenden Insel?" "Nur die Antjes, aber deren Gebiied ist auf der anderen Seite der Stadt", gab der junge Mann schulterzuckend zurück, und er und seine Kumpane lachten dümmlich. "Unser Territorium hingegen ist hier, und ihr habt es widerrechtlich betreten." "So?", fragte Matt unbeeindruckt. "Und wer seid ihr?" "Wir sind die Keejkers", sagte der andere, warf sich stolz in Positur und deutete mit einer theatralischen Geste auf seine Augen. "Wir heißen so, weil unserem scharfen Blick nichts entgeht, wie ihr gemerkt habt. Mein Name ist Ruudi. Ich bin das Oberhaupt der Keejkers." "Na schön, Ruudi", sagte Matt. "Wie du schon sagtest, sind wir Fremde, die von außerhalb kommen. Wir kennen die Regeln hier nicht und wussten nicht, dass wir uns auf dem Territorium der Keejkers befinden." "Das Gebiied der Keejkers ist genau markiert", widersprach der Anführer der Gang empört und deutete auf die Armbinde, die er trug. "Oranje ist unsere Farbe. Unsere Grenzen sind damit gekennzeichnet. Sagt nicht, ihr hättet es nicht bemerkt." "Ich habe die Markierungen gesehen, aber ich wusste nicht, was sie bedeuten", verteidigte sich Matt. "Wir konnten nicht wissen, dass wir uns auf eurem Gebiet befinden."
"Die Keejkers sind keine Unmenschen", sagte Ruudi und lächelte großmütig. "Wir sind bereit, euch euren Frevel zu verzeihen und in Frieden ziehen zu lassen. Allerdings müsst ihr dafür Tol entrichten." "Was?", fragte Aruula. "Wegezoll", erklärte Matt ihr auf Englisch. "Der kleine Dickschädel will, dass wir für die Passage bezahlen." "Hm", machte Aruula nur und schickte Matt einen bedeutsamen Blick. Wäre es nach ihr gegangen, wäre das Problem schon längst mit scharfer Klinge gelöst worden. "Wir haben nichts, das wir euch geben könnten", versuchte es Matt weiter auf die friedliche Tour – kämpfen konnten sie immer noch. "Natürlich hast du etwas", widersprach Ruudi heftig. "Die Vroouw an deiner Seite. Aruula. Überlass sie uns, und du darfst gehen." Aruula ließ ein raubkatzenhaftes Knurren vernehmen, und einen Augenblick lang befürchtete Matt schon, seine Gefährtin könnte die Beherrschung verlieren und sich mit blanker Klinge auf die vorlaute Bande stürzen. Die Barbarin begnügte sich jedoch damit, Matt einen Blick aus schmalen Augen zuzuwerfen, und schien gespannt zu sein, wie er diese Situation zu lösen gedachte. Die übrigen Mitglieder der Keejkers spendeten ihrem Anführer lautstark Beifall, und es entging Matts Aufmerksamkeit nicht, dass ihre Blicke dabei ziemlich eindeutig auf Aruulas ansehnliche Oberweite geheftet waren. "Wie ich schon sagte", erklärte er und machte eine wegwischende Handbewegung. "Aruula ist eine Kriegerin. Sie gehört mir nicht, deshalb kann ich auch nicht über sie verfügen. Und ich denke nicht, dass sie freiwillig bleiben wird." Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, fletschte Aruula angriffslustig die Zähne, was die Mitglieder der Gang erschrocken zurückweichen ließ. Auf den Zügen der Keejkers
spiegelte sich Enttäuschung. Ruudi jedoch war nicht gewillt, so einfach aufzugeben. "Jeder", sagte er, "der unser Gebiied ohne unsere Erlaubnis durchquert und nicht bezahlen kann, muss sich unserem Test unterziehen." "Ein Test?" Matt hob die Brauen. "Was für ein Test?" "Eine Mutprobe", erklärte der Keejker schlicht. "Besteht ihr sie, lassen wir euch ziehen. Besteht ihr sie nicht, muss einer von euch bei uns bleiben, bis der andere zurückgekehrt ist." Er setzte ein charmantes Lächeln auf und zwinkerte der wilden Schönheit zu. "Einverstanden", erklärte Matt zu Aruulas Überraschung. "Unter einer Bedingung: Wenn wir die Mutprobe bestehen, wirst du uns als Führer dienen, bis wir die Stadt verlassen." "Gut", erwiderte Ruudi und kicherte. "Damit habe ich kein Problem. Los, Leute, holt das Fass..." Zwei seiner Leute machten kehrt und verschwanden in einer dunklen Nebengasse. Kurz darauf kehrten sie zurück, rollten ein großes Holzfass mit sich, das sie zwischen Matt und Ruudi aufstellten. Dann wurde der Deckel abgenommen. Das Fass war mit grünlichem, übel riechendem Wasser angefüllt, das so trüb war, dass man den Grund nicht sehen konnte. "Und jetzt?", fragte Matt. "In diesem Fass", erläuterte Ruudi mit feierlicher Miene, während seine Anhänger schadenfroh grinsten, "befindet sich ein Stachelfisch. Sein Stich ist tödlich, wie ihr sicher wisst. Wen es erwischt, der leidet entsetzliche Qualen und stirbt innerhalb von zwei Tagen. Ein Mittel gegen das Gift gibt es nicht." "Und?", fragte Matt. "Ganz einfach – du wirst deinen Arm hinein halten und langsam bis zehn zählen. Das ist die Mutprobe." "So ein Schwachsinn", ereiferte sich Matt. "Das ist keine
Mutprobe, sondern Selbstmord!" "Hat du etwa Angst?", fragte Ruudi keck und trat mit dem Fuß mehrmals hintereinander gegen das Fass. "Damit der Fisch weiß, dass wir hier sind", verriet er grinsend. Dann, in einem spontanen Entschluss, beugte er sich vor und tauchte seinen nackten Arm in das Wasser ein, griff hinab bis zum Grund und begann laut, bis zehn zu zählen. "Komm schon, Junge", meinte Matt. "Mach dich nicht unglücklich, okay? Das ist die Sache nicht wert." Aber Ruudi war von seinem Entschluss nicht abzubringen. Äußerlich ruhig, behielt er seinen Arm im Wasser. Aruula sah ihm dabei sichtlich ungerührt zu. Matt nahm an, dass es ihr ziemlich gleichgültig gewesen wäre, wäre der Junge, dessen Alter Matt auf achtzehn oder neunzehn schätzte, von dem Viech gestochen worden. "Zehn!", verkündete Ruudi schließlich und zog seine Hand wieder aus der grünen Brühe. "Und jetzt du, Maddrax." Matt holte tief Luft. Er hatte in dieser entarteten Welt schon manchen bizarren Schwachsinn erlebt, aber das übertraf nun wirklich alles. Wenn er daran dachte, dass er das alles nur mitmachte, weil er es diesen dummen Jungs hatte ersparen wollen, von Aruula massakriert zu werden, dann... "Aruula!" Es ging so schnell, dass Matt nichts anderes tun konnte, als entsetzt ihren Namen zu rufen. Mit einem Sprung war die Barbarin an ihm vorbei, und Matt befürchtete schon, sie würde sich auf Ruudi und seine Anhänger stürzen. Er irrte sich. Stattdessen trat Aruula vor das Fas und steckte ihren Arm bis zur Achsel hinein. "Nein!", rief Matt erschrocken, während Aruula ungerührt zu zählen begann. Es waren die längsten zehn Sekunden in Matthew Drax'
Leben. Jeden Augenblick befürchtete er, dass der Fisch, der im Fass lauerte, zustechen würde. Fassungslos starrte er auf Aruulas äußerlich völlig ruhigen Züge. Mit jeder Sekunde, die verstrich, wuchs auch das Erstaunen auf den Zügen der Keejkers. Hatten Ruudi und seine Kumpane zunächst noch gelacht, als sich Aruula kurzerhand vorgedrängt hatte, erstarb ihr Gelächter schon bald und wich grenzenloser Bewunderung. "Zehn", zählte Aruula laut zu Ende und zog langsam ihren Arm aus dem Fass, hatte es noch nicht einmal eilig damit. Missbilligend blickte sie auf den grünen, stinkenden Schleim, der daran herab troff. "Damit ist die Sache wohl erledigt", knurrte sie. "Und jetzt bringt mir verdammt noch mal was, womit ich diesen Dreck abwischen kann." Die Keejkers standen einen Moment lang wie angewurzelt. Mit weit aufgerissenen Augen blickten sie auf die Kriegerin, die plötzlich ihren ganzen Respekt zu besitzen schie n. "Habt ihr nicht gehört?", riss Ruudi sie aus ihrer Lethargie. "Die Vroouw wünscht ein Tuch, also bringt es ihr. Und euch beide, liebe Fremde, bitte ich um Entschuldigung. Noch niemals zuvor hat jemand den Test der Keejkers mit solchem Mut bestanden." "Dann dürfen wir jetzt gehen, wohin wir wollen?", fragte Matt, der seine Fassung noch nicht ganz zurückgewonnen hatte. "Natürlich. Und ich werde euch persönlich als Führer begleiten." "Großartig", meinte Matt und war froh darüber, dass dieser ganze Wahnsinn ein gutes Ende genommen hatte – auch wenn er noch immer nicht begreifen konnte, was Aruula zu solcher Unvorsicht getrieben hatte. "Wir suchen..." Wie sollte er beschreiben, zu wem er wollte, wenn er nicht einmal sicher sein konnte, dass es Technos hier gab? "... die Mächtigen dieser Stadt", fuhr er fort. "Leute, die fantastische Dinge vollbringen,
von denen man sonst nur träumen kann. Fliegen, zum Beispiel. " "Ah, ich verstehe", versicherte Ruudi und nickte. "Ich führe euch hin." Sie wandten sich zum Gehen. Während die übrigen Keejkers zurückblieben, ging ihnen Ruudi voraus und überquerte die Brücke zum nächsten Sektor. Mit gemischten Gefühlen nahm Matt zur Kenntnis, dass die Träger und Pfosten dort mit blauen Tüchern markiert waren. "Was ist nur in dich gefahren?", raunte er Aruula zu. "Wenn dich der Fisch gestochen hätte..." "Da war kein Fisch", sagte sie schlicht. "Was?" "Da war kein Fisch", wiederholte Aruula, und dabei glitt ein flüchtiges Lächeln über ihre hübschen Züge. "W... woher weißt du...?" "Ich habe gelauscht, als der kleine Mann seine Hand hinein gehalten hat. Er ist nicht mutig, trotzdem habe ich keine Angst bei ihm gespürt. Also..." "Es war nur ein Bluff?", folgerte Matt – und jetzt war er es, der sich ziemlich dämlich vorkam. "Da war nur Wasser im Fass?" "Genau", sagte die Barbarin und lachte, und Matt konnte einmal mehr nicht anders, als den Kopf zu schütteln. Obwohl er Aruula nun schon eine ganze Weile kannte, konnte sie ihn noch immer überraschen... * Mr. Black hatte die Zeit genutzt, um das TFG einer gründlichen Überprüfung zu unterziehen und ein paar geringfügige Wartungsarbeiten durchzuführen. Dabei hatte er immer wieder aufmerksam Umschau gehalten, doch es hatte sich kein Stadtbewohner sehen lassen weder in
der Gasse, noch vor einer der Baracken waren Menschen aufgetaucht. "Entweder ist das die äl ngste Siesta, von der ich je gehört habe", murmelte er vor sich hin, "oder die Leute kennen keine Neugierde." Vom TFG aus hatten sie deutlich Menschen erkennen können, die schwimmende Stadt war also bewohnt – auch wenn dieses Viertel wie ausgestorben wirkte. Ein Blick auf den Bordchronometer zeigte ihm schließlich, dass Drax und Aruula schon seit fast zwei Stunden unterwegs waren. Allmählich wünschte er ihre Rückkehr herbei – natürlich nicht, weil er sich nach menschlicher Gesellschaft sehnte, sondern weil ihm allmählich langweilig wurde. Als hätte der Schutzpatron der Rebellen ihn erhört, bekam Mr. Black kurz darauf tatsächlich Gesellschaft – allerdings ganz anders, als er es erwartet hatte. Scho n wiederholt waren an der zur See hin offenen Seite des Pontons Schiffe vorbeigezogen – zumeist Fischkutter oder Transportflöße, die unterwegs zum Festland waren. Nun jedoch nahm ein Boot, das lang und flach war und kaum Tiefgang besaß, geradewegs Kurs auf die Plattform. Mr. Black hielt in seiner Arbeit inne, schirmte seine Augen gegen das Sonnenlicht ab und blickte dem Boot entgegen. Das Gefährt war schmal und an die zehn Meter lang. Einst hatte es einen Aufbau aus Glas besessen, das jedoch längst geborsten war. Über die Konstruktion aus rostigem Metall hatte man Planen aus Fischhaut gespannt. Im Bug des Schiffes drängten sich mehrere Gestalten, die, wie Black mit Unbehagen bemerkte, bewaffnet waren. Noch mehr verblüffte ihn jedoch die Art und Weise, wie das Schiff angetrieben wurde: Mehrere Seile, die am Bug befestigt waren, führten unter Wasser – etwas schien das Gefährt durch die Wellen zu ziehen, und das mit beträchtlichem Tempo. Das Schiff kam näher, und jetzt konnte Mr. Black sehen,
dass die Aufmerksamkeit der Männer an Bord tatsächlich ihm galt. Sie winkten ihm zu, und weil ihm nichts Besseres einfiel, winkte er mit einem schmutzigen Ö llappen zur ück. Seine anerzogene Vorsicht erwachte, und er ging zurück zum TFG und verschloss das Gefährt. Seine Rechte auf den Kolben der Laserpistole gestützt, die er im Holster trug, stand er an der Reling des Floßes und harrte der Dinge, die da kamen. Sein Unbehagen wuchs, als er sah, dass die Männer nicht nur Speere und Harpunen aus Fischknochen bei sich hatten, sondern auch Schusswaffen. Der Bauweise nach schien es sich um Waffen aus Techno-Beständen zu handeln. Verkehrten also tatsächlich Technos an diesem Ort? Die Gestalten selbst machten keinen sehr Vertrauen erweckenden Eindruck. Black nahm aber zur Kenntnis, dass sie weniger ärmlich und abgerissen aussahen als die Menschen, die er aus der Luft gesehen hatte. Ihre Kleidung bestand zur Hälfte aus Stoff und Fischhaut, aber auch noch aus einigen anderen Materialien, die er nicht identifizieren konnte. Einige von ihnen trugen Brustpanzer, die aus großen Knochenplatten gefertigt zu sein schienen, die meisten hatten Helme auf, die aus Fischköpfen gemacht waren. Die Gesichter, die aus den weit aufgerissenen Rachen der Kopfhelme blickten, waren narbig und sonnengegerbt und auf bedrückende Weise ausdruckslos. Black zweifelte nicht daran, dass diese Kerle es verstanden, von ihren Waffen Gebrauch zu machen. Er zählte zehn von ihnen, sechs weitere kauerten im Heck des Schiffes. Wie viele sich unter dem Zelt befanden, das den Mit telteil verdeckte, vermochte er nicht zu beurteilen. In jedem Fall waren es zu viele, um alleine mit ihnen fertig zu werden. Kurz erwog er, seinerseits eine Signalrakete abzufeuern, um Commander Drax und Miss Aruula herbei zu rufen, doch es widerstrebte ihm, von vornherein ängstlich zu reagieren. Außerdem wäre es für Hilfe ohnehin zu spät. Diese Situation
musste er allein meistern. Das Boot kam näher und ging längsseits zum Floß. Jetzt konnte Mr. Black unter Wasser zwei dunkle Schatten gewahren – große, rochenartige Tiere. Offenbar waren sie darauf dressiert worden, das Schiff zu ziehen. Die Todesrochen der Daa'muren? Unwahrscheinlich. Vermutlich ganz normale, dressierte Rochen. Es krachte dumpf, als das Gefährt am Floß anlegte. Leinen wurden herüber geworfe n, und noch ehe Black sich versah, standen schon fünf, sechs der abenteuerlich aussehenden Gestalten auf dem Ponton. Er schaltete den Translator ein und versuchte es mit einer freundlichen Begrüßung. "Hallo Jungs. Alles klar Schiff bei euch?" Er erhielt keine Antwort. Natürlich nicht; der Übersetzer musste sich erst auf die hiesige Sprache umstellen, und das konnte er erst nach einigen analysierten Worten. Immer mehr der Kerle kamen schweigend an Bord. Ihre Harpunen und Schusswaffen präsentierend, bildeten sie eine Art Spalier, und Mr. Black begriff, dass sie auf ihren Anführer warteten. Der Herr dieser Stadt? Dann hätten Matt und Aruula sich den Ausflug sparen können. Aus dem Deckzelt schälte sich schließlich eine hünenhafte Gestalt, die Black an Körpergröße mindestens ebenbürtig war. Der Mann, der wie seine Männer eine Rüstung aus Fischknochen trug, kam an Land und schritt durch das Spalier – und Mr. Black erkannte, dass es sich um einen Mutanten handelte. Ein Mutant, der nur ein Auge in der Mitte seiner breiten Stirn besaß. Ein Zyklop! Unwillkürlich musste Mr. Black an Jed Stuart und Majela Ncombe denken, die ihm in Nydda über ein unheimliches Erlebnis in der russischen Taiga berichtet hatten: über die
Begegnung mit einem alten Zyklopen, die sowohl sie als auch Aiko, Honeybutt und Pieroo beinahe das Leben gekostet hätte. Wahrscheinlich handelte es sich bei dem Einäugigen um einen Angehörigen derselben Rasse. Sehr viele Menschen, die ausgerechnet diese Mutation aufwiesen, mochte es nicht geben. Andererseits lagen ein paar tausend Kilometer zwischen der Taiga und der schwimmenden Stadt... Es war unübersehbar, dass die Anwesenheit des Zyklopen den Kriegern Respekt einflößte. Sie senkten ihre Häupter leicht, während er an ihnen vorüber schritt. Der Running Man spürte Unruhe in sich aufsteigen, ließ es sich aber nicht anmerken. Breitbeinig blieb er am Ende des Spaliers stehen, während der hünenhafte Zyklop auf ihn zukam und ihn mit seinem Auge musterte. Schon glaubte Black, sich seines Lebens erwehren zu müssen, als etwas Unerwartetes geschah – der Zyklop verneigte sich tief vor ihm. Mit tiefer Stimme sprach er dabei einige Worte, die sich für Mr. Black wie reines Kauderwelsch anhörten. Es dauerte einige Sekunden, bis der Translator in seiner Datenbank die richtige Sprache gefunden hatte und aus dem kleinen Lautsprecher die englische Übersetzung ertönte. "Sei gegrüßt, Erhabener", sagte der Zyklop. "Es freut uns, dass du auf unser unwürdiges Eiland zurückgekehrt bist." Blacks Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Er gab sich alle Mühe herauszufinden, ob sich der Einäugige einen Scherz mit ihm erlaubte. Doch das Haupt des Zyklopen blieb gebeugt, und an den erwartungsvollen Blicken, mit dem die anderen Krieger ihn bedachten, erkannte Mr. Black, dass sie ihn wohl tatsächlich für eine hoch stehende Persönlichkeit hielten. "Hm", räusperte er sich und überlegte sich gut, was er sagen wollte. "Auch mich freut es sehr, äh, wieder hier zu sein", meinte er dann ein wenig unbeholfen – Diplomatie war mehr Matthew Drax' Domäne. Der Zyklop richtete sich auf, und seine strengen, kräftigen
Züge sahen ein wenig entspannter aus als zuvor. "Wir hoffen, dass du nicht zu langen warten musstest", sagte er und machte eine entschuldigende Geste. "Wir haben erst spät von deiner Ankunft erfahren." Mr. Black überlegte kurz. Was mochte damit gemeint sein? Warten worauf? "Nein", gab er schließlich zurück. "Ich bin eben erst angekommen." "Das ist gut." Das Gesicht des Einäugigen entspannte sich noch ein wenig mehr. "Dann bitten wir dich jetzt an Bord, damit wir dir alles zeigen können." Mit zufriedenem Nicken wollte er umdrehen und zurück zum Boot gehen. Er erwartete wohl, dass Mr. Black ihm folgte – und war überrascht, als dieser stehen blieb. "Was ist falsch, Erhabener?", wollte der Zyklop wissen. "Missfällt dir das Schiff? Es ist unser bestes..." "Nein, das ist es nicht", wehrte Black ab, während er verzweifelt nach einer Ausflucht suchte. Er konnte unmöglich das TFG im Stich lassen, um diesen seltsamen Typen an einen unbekannten Ort zu folgen. "Dann liegt es sicher an deiner Haut", sagte der Zyklop und deutete auf Blacks Kleidung. "An meiner Haut?" "Es ist die falsche Haut, nicht wahr? Und auch die Blase fehlt." "Die Blase?" Black kam sich vor wie ein Echo, indem er alles, was der Zyklop sagte, als Frage wiederholte. Aber in seinen Ohren ergab das, was der Typ sagte, nun mal keinen Sinn. "Die Blase aus Glas, die dein Gesicht umschließt", fuhr der Zyklop fort, und während das quäkende Organ des Translators gleich und monoton blieb, konnte Black erkennen, dass die echte Stimme des Zyklopen einen ziemlich erstaunten Ausdruck annahm. Plötzlich wurde ihm klar, was der Mann meinte.
Ein Anzug, der wie eine zweite Haut den Körper umschloss, eine Blase aus Glas, die den Kopf einhüllte... Black schalt sich einen Dummkopf dafür, dass er nicht früher darauf gekommen war – der Anführer der seltsamen Meute hielt ihn für einen Techno! Wahrscheinlich hatten diese Leute die Landung des Taktischen Fluggeräts aus der Ferne beobachtet und waren nun überrascht darüber, dass der Mann, der dem Gefährt entstiegen war, nicht den typischen Schutzanzug der Bunkerleute trug. Er hatte also richtig gelegen: Die Bewohner der Stadt standen tatsächlich in Kontakt mit einer oder vielleicht sogar mehreren Techno-Gemeinden. Die Chanc en, die sich aus dieser Erkenntnis ergaben, waren ungeheuer... und außerdem war es eine gute Gelegenheit, den Lapsus, den er sich in Berlin geleistet war, auszubügeln. Mr. Black dämpfte die Euphorie, die in ihm aufkommen wollte. Er musste jetzt Ruhe bewahren, durfte keinen Fehler machen. Zunächst musste er dem Zyklop und seinen Leuten, die ihn mit wachsendem Erstaunen anstarrten, eine plausible Erklärung dafür liefern, warum er keinen Schutzanzug trug. Wenn sie ihm abnahmen, dass er ein Techno war, hatte er das Spiel schon halb gewonnen... "Die Haut und die Blase aus Glas", holte er zu einer Erklärung aus, "sind heute nicht nötig wegen... des guten Wetters." Er deutete zum blauen Himmel, an dem sich nur wenige Wolken tummelten, und blickte die Umstehenden erwartungsvoll an. Wenn er jedoch angenommen hatte, dass der Einäugige und seine Leute jetzt Verständnis zeigen würden, so hatte er sich geirrt. Es kam keine Reaktion. "Die Luftfeuchtigkeit", fabulierte Black deshalb weiter drauflos. "Sie ist heute so gering, dass der Schutzanzug nicht benötigt wird, ebenso wenig wie der Helm aus Glas." Wieder sah er nichts als Unverstand in ihren Augen. "Na schön", knurrte er, "was soll's? Das verdammte Ding ist
kaputt, okay? Das Glas ist zerbrochen und der Anzug war alt, deshalb habe ich sie weggeworfen." "Ah", machte der Zyklop und nickte verständnisvoll, und auch seine Leute schienen jetzt zu begreifen. Gegenstände, die ihren Dienst versagten und weggeworfen wurden, schienen ihnen vertrauter zu sein als komplizierte Erklärungen. "Dann wirst du uns jetzt folgen?", erkundigte sich ihr Anführer erwartungsvoll. Mr. Black überlegte kurz. Noch immer war ihm nicht wohl bei dem Gedanken, aber es war wohl die einzige Möglichkeit, mehr über diese Leute und die Technos, mit denen sie verkehrten, zu erfahren. Außerdem wollte er herausfinden, ob es Parallelen zu dem Erlebnis Stuarts und Ncombes in der Taiga gab. "Ja", sagte er deshalb entschlossen und nickte feierlich. Dann folgte er dem Zyklopen durch das Spalier auf das schmale Boot. * Der äußere Eindruck hatte nicht getrogen – die nächste Sektion der schwimmenden Stadt, die Matt und Aruula unter Ruudis Führung durchquerten, war nicht weniger heruntergekommen und baufällig als die erste. Auch hier reihten sich Gassen aneinander, die von Baracken gesäumt wurden – baufällige Gebäude, aus deren glaslosen Fenstern Übelkeit erregende Gerüche drangen und sich mit dem Gestank von Moder und Salz vermischten, der über der ganzen Stadt lag. Händler waren in den Gassen unterwegs, Männer und Fraue n in schmutzigen Kutten, die Handkarren mit sich zogen, auf denen sie Fisch und andere Waren zum Kauf feilboten. Einige von ihnen sprachen Matt und Aruula an, doch Ruudi verscheuchte sie, noch ehe sie dazu kamen, mit ihnen zu verhandeln.
Die Geschäfte links und rechts des Weges erinnerten an einen orientalischen Basar; Händler boten hier allerhand Waren zum Kauf an – von Gebrauchsgegenständen wie Werkzeugen und Messern aus Fischknochen oder Seilen aus geflochtenem Seegras über Kleidungsstücke aus Fischleder bis hin zu Relikten der alten Zeit, die sie vom Grund des Meeres heraufgeholt hatten. Matt sah Dinge, die er schon lange – sehr lange – nicht mehr gesehen hatte – von CDs (die an Schnüren hingen und von den Leuten als Spiegel verwendet wurden) über rostige Nummernschilder mit EU-Kennzeichen bis hin zu uralten Schaufensterpuppen. Inmitten dieser bunten und morbiden Warensammlung fand sich hin und wieder auch Essbares – Bratfisch und ein streng riechender Brei aus Seetang wurden ebenso verkauft wie Suppen aus Fischinnereien oder lebende Krabben. Durch eine schmale, von Fischernetzen überspannte Gasse, die fleckigen Schatten warfen, gelangten sie in eine Gegend, die beinahe noch heruntergekommener war als jene, die hinter ihnen lag – und das im wörtlichen Sinn. Matt konnte hören, wie das Meerwasser von unten gegen die Bodenplanken schlug, und hier und dort drang auch schon mal schäumende Gischt durch die Ritzen. Offenbar waren einige der Tanks, die das Viertel über Wasser hielten, leck geschlagen und zum Teil geflutet worden, worauf sich das Niveau deutlich abgesenkt hatte. "Willkommen in Downtown", kommentierte Matt säuerlich auf Englisch, und einmal mehr gab es in dieser Welt niemanden, der über seine Bemerkung hätte lachen können. Ruudi hingegen schien sich nicht an der Gegend zu stören, in der nur wenige Passanten unterwegs waren und reglose, seltsam apathische Gestalten in dunklen Hauseingängen kauerten. Im Gegenteil. Je weiter sie durch die schmalen Gassen vordrangen, in die kaum noch Sonnenlicht drang, desto größer schien seine
Euphorie zu werden. "Sag mal", erkundigte sich Matt, dessen Vorsicht ungebrochen war. "Bist du auch ganz sicher, dass dies der richtige Weg ist?" "Natuurlijk", versicherte Ruudi. "Ich bin der beste Führer, den ihr euch wünschen könnt. Ich weiß, wo ihr alles bekommt, was euer Herz begehrt." "Ich warne dich, Freundchen", versetzte Matt. "Wenn du versuchst, uns in eine Falle zu locken, wird dir das schlecht..." "Wir sind da! ", verkündete ihr Führer plötzlich. Unvermittelt endete die Gasse und sie traten auf eine Art Innenhof, der quadratisch geformt und zu allen vier Seiten von Hauswänden aus rostigem Blech umgeben war. Die Stirnseite nahm eine breite Fassade ein, in der ein dunkler, von Motten zerfressenen Vorhängen verdeckter Eingang klaffte, über dem ein Schild mit verblichenen Buchstaben angebracht war. Mit etwas Fantasie ließen sich die Worte "COF SHO" entziffern. "Was ist das?", wollte Matt wissen. Es konnte sich unmöglich um die Residenz des Stadtfürsten oder eine Niederlassung von Technos handeln. "Der beste Laden in der Stadt", verkündete Ruudi voll Überzeugung und grinste dabei bis über beide Ohren. "Hier bekommt ihr alles, was ihr braucht, um fantastische Dinge und die besten Träume zu erleben." Matt hob die Brauen – für ihn ergab das Gerede des Gangführers keinen Sinn. "Du hast mich offenbar falsch verstanden", sagte er. "Wir suchen den Mann, der - " "Er heißt Jaan", fiel Ruudi ihm ins Wort, "und hat die beste Ware der ganzen Stadt! Ihr werdet nicht enttäuscht sein!" Matt seufzte. Der Keejkers hatte sie zu einem Händler geführt. Konnte es denn sein, dass diese Stadt gar keine Regierung hatte? Nun, immerhin schien dieser Jaan ein einflussreicher Mann zu sein; vielleicht konnte er ihnen ja weiterhelfen.
Er nickte Ruudi zu, und der Anführer der Keejkers ging ihnen voraus in das Lokal, aus dessen Innerem leise Musik und gedämpftes Gemurmel drangen. Matt und Aruula tauschten einen warnenden Blick, ehe sie ihm folgten – Matt hatte dabei die Hand auf dem Griff seiner Waffe, Aruula war bereit, jeden Augenblick ihr Schwert zu ziehen. Jenseits des Vorhangs herrschte schummriges Halbdunkel. Matt brauchte einen Moment, um seine Augen daran zu gewöhnen. Dann stellte er fest, dass sie sich in einer Art Schenke oder Lokal befanden. Es gab keine Fenster. Das wenige Licht stammte von Leuchtern aus Muschelschalen, die auf den grob gezimmerten Tischen standen und dem Gestank nach mit Fischöl betrieben wurden. Die Luft war zum Schneiden dick; Schwaden von Rauch durchsetzten sie, der wie dichter Nebel über dem Boden lag und von einem seltsamen, süßlichen Geruch durchdrungen war. Ruudi begann leise zu kichern, als ihm das Zeug in die Nase stieg, und sogar auf Aruulas Zügen zeigte sich ein mildes Lächeln. "Willkommen im Cofsho", kommentierte Ruudi begeistert. "Lasst euren Wünschen freien Lauf. Hier bekommt ihr alles, was ihr begehrt. Lasst euch überraschen." Matt schaute sich um. An den Tischen saßen zwielichtige Gestalten, Männer wie Frauen, die bleiche, ausgemergelte Gesichter hatten, aber dennoch ein dämliches Grinsen zur Schau trugen. Ab und zu sogen sie an etwas, das sie in ihren hohlen Händen verborgen hielten, worauf sie tief durchatmeten und grünlich schimmernde Rauchwolken von sich gaben. "Zum Henker", knurrte Matt und packte Ruudi, der sich gerade in Richtung Tresen hatte verabschieden wollen, an der Schulter. "Was ist das für ein seltsamer Ort?" "Cofsho", sagte der Keejker und zuckte mit den Schultern.
"Deswegen seid ihr doch gekommen, oder nicht? Träume erleben. Fliegen. Unbesiegbar sein." Matthew bemerkte, wie ihm die schwere Luft zu Kopf stieg und seine Sinne benebelte. Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Natürlich, Amsterdam hatte schon zu seiner Zeit einen geradezu legendären Ruf genossen, was den Konsum gewisser Rauschmittel betraf. Während die meisten Regierungen Europas den Genuss sogenannter leichter Drogen geächtet hatten, waren die Niederlande damit ungleich großzügiger umgegangen. Sollte sich diese Tradition bis in diese Zeit erhalten haben? Das alte Schild über dem Eingang fiel Matt wieder ein, und plötzlich wurde ihm klar, wie die Aufschrift vor langer, langer Zeit gelautet haben musste. Coffee Shop... * Das Boot hatte nordwestliche Richtung eingeschlagen. Obwohl der Zyklop Mr. Black dazu aufgefordert hatte, ihn in das Deckzelt zu begleiten, hatte dieser darauf bestanden, unter freiem Himmel zu bleiben – schließlich wollte er wissen, wohin die Kerle fuhren, die ihn offenbar für einen Gesandten der Technos hielten. Der Einäugige hatte darauf mit einigem Befremden reagiert, sich dem Wunsch seines Gastes aber gefügt. Nun standen sie nebeneinander im Bugraum des Bootes, das teils über offenes Meer, teils durch enge Kanäle fuhr, die zwischen den Sektionen der schwimmenden Stadt angelegt waren. Seine flache Bauweise erwies sich dabei als großer Vorteil, denn immer wieder galt es, unter tief hängenden Brücken hindurch zu fahren. Während der Passage, deren Ziel nach wie vor unbekannt
war, bekam Mr. Black erstmals mehr von der schwimmenden Metropole zu sehen. Er sah die baufälligen, aus rostigem Metall und modrigem Holz errichteten Hütten und die Gestalten, die in ihnen hausten, und er bemerkte, dass die Bewohner der Stadt dem Boot und seiner Besatzung verstohlene, fast ängstliche Blicke zuwarfen. Seine Ahnung, dass etwas an diesem Ort nicht stimmte, verstärkte sich, und er war entschlossen, das Geheimnis zu lüften. "Ist es noch weit?", fragte er den Einäugigen. Der Zyklop wandte sich zu ihm um, schaute ihn mit seinem einen Auge durchdringend an. "Du bist noch nie zuvor bei uns gewesen?" Black biss sich auf die Zunge und schalt sich einen Narren dafür, dass er es geschafft hatte, sich mit einer einzigen unüberlegten Bemerkung in Schwierigkeiten zu bringen. Jetzt hieß es Ruhe bewahren und vorsichtig sein... "Nein", antwortete er wahrheitsgemäß. "Dies ist mein erster Aufenthalt hier." "Aber du weißt, wer wir sind?" "Natürlich." "Und man hat dich geschickt?" "Sonst wäre ich nicht hier." Der Zyklop nickte. "Sei unbesorgt. Bald sind wir da. Der Potaat wird alles zu deiner Zufriedenheit regeln." "Davon bin ich überzeugt", versicherte Mr. Black, während er sich zugleich fieberhaft fragte, wer oder was dieser Potaat sein mochte. Vielleicht der Anführer dieser eigenartigen Truppe? Wieder passierte ihr Boot einen Kanal, über dem sich mehrere Brücken spannten. Ein Kutter, der ihnen entgegen kam, machte respektvoll Platz. Von der Besatzung war nichts zu sehen – die Fischer schienen sich hinter der Back zu verstecken, was dem Zyklopen ein Lächeln der Genugtuung entlockte. Black beschloss, ein wenig nachzubohren.
"Dieses Schiff dort", begann er zögernd. "Was ist damit?" "Es scheint nicht besetzt zu sein." "Natürlich ist es besetzt." Der Zyklop machte eine unwirsche Handbewegung. "Aber seine Besatzung wagt nicht, sich zu zeigen." "Weshalb nicht?" Das eine Auge schaute ihn voll Erstaunen an. "Weil wir die Abgesandten des Potaaten sind und seinen Ehrengast begleiten. Jeder weiß das, deshalb macht man uns Platz." "Ihr habt mich also erwartet?" "Wir erwarten euch stets. So wurde es vereinbart." Eine Vereinbarung? Gab es eine Art Abkommen zwischen den Technos und den Herren der schwimmenden Stadt? Die Sache wurde immer interessanter. Worum ging es dabei? Was mochten Bunkermenschen an einem Ort wie diesem wollen? "Du kennst die Vereinbarung?", versuchte Black seinem wortkargen Gegenüber weitere Informationen zu entlocken. Jetzt blickte das eine Auge skeptisch, fast furchtsam. "Natürlich nicht", kam die Antwort schnell. "Nur der Potaat weiß, was verhandelt wurde. Willst du mich prüfen, Erhabener?" "Nein. Obwohl es einige unter uns gibt, die Zweifel geäußert haben." "Zweifel? Wie meinst du das? War die Ware nicht stets zu eurer Zufriedenheit?" "Die Ware?" Black machte große Augen. "Natürlich", versicherte er schnell. "Und das soll auc h in Zukunft so bleiben." "Ist das der Grund, weshalb du hier bist? Um uns zu kontrollieren?" Mr. Black atmete innerlich auf. Die unerwartete Wendung, die das Gespräch genommen hatte, brachte ihm einen Vorteil.
Wenn der Zyklop und seine Leute ihn für eine Art Kontrolleur hielten, würde er ungeniert Fragen stellen können, ohne dass es weiter auffiel... "So ist es", bestätigte er deshalb. "Ich wurde geschickt, um alle bisherigen Geschäfte genau zu überprüfen und mich darüber zu informieren." "Warum?" Der Zyklop starrte ihn befremdet an. "Habt ihr nicht alles genau aufgezeichnet? Auf euren Maschinen, deren Augen leuchten?" Mr. Black begriff, dass damit nur ein Computer gemeint sein konnte. Offenbar waren die Verbindungen zwischen den Technos und dem Seevolk keineswegs sporadischer Natur, sondern regelmäßig und gut organisiert. Er nahm an, dass die Schusswaffen, die die Krieger besaßen, ein Teil des Handels waren, der offenbar zwischen den Technos und der schwimmenden Stadt im Gange war – aber was hatten die Technos im Gegenzug dafür erhalten? "Das, äh, ist richtig. Aber würdest du einer Maschine allein vertrauen? Ich habe den Auftrag erhalten, unsere Aufzeichnungen zu überprüfen, damit sich keine Fehler einschleichen." "Hast du Ware dabei, um zu tauschen?" "Nein", erwiderte Black wahrheitsgemäß. "Ich bin nicht gekommen, um Handel zu treiben. Nicht dieses Mal. Alles was ich brauche, sind Informationen." Er nickte entschlossen und hatte das Gefühl, die Angelegenheit damit hinreichend erklärt zu haben. Der Zyklop sah das ganz anders. "Das ist nicht gut", knurrte er. "Das wird dem Potaaten nicht gefallen. Ihr bezahlt, wir liefern. So lautet die Abmachung." "Nicht dieses Mal", beharrte Black. "Ich sagte es doch schon, ich bin kein Händler. Ich bin gekommen, um Informationen zu sammeln." Black verstummte. Er hatte das Gefühl, dass das
sprichwörtliche Eis, auf dem er sich bewegte, immer dünner wurde. Hätte der Running Man gesehen, wie der Zyklop seinen Leuten ein verstecktes Zeichen gab, hätte er das Eis unter seinen Füßen bereits knirschen gehört... * Matt wusste nicht, was seine Sinne mehr verwirrte – die groteske Tatsache, dass Amsterdam auch in dieser barbarischen Zukunft noch immer das Mekka der Grasraucher war, oder die von Betäubungsmittel durchsetzte Luft. Er bega nn sich locker und entspannt zu fühlen, merkte gleichzeitig, wie seine Aufmerksamkeit nachließ. Aruula und er mussten raus hier, und zwar so schnell wie möglich. "Wir gehen", wies er Ruudi barsch an. "Und zwar sofort." "Aber wieso? Die Kiffs sind friedlich und tun niemandem etwas. Ganz anders als..." "Die Kiffs?" "Sie beherrschen dieses Viertel. Sie sind gut Freund mit allen." "Das glaube ich gern", versetzte Matt trocken und sah sich in all dem Dunst und Qualm nach Aruula um. Er entdeckte sie am Tresen, in Gesellschaft eines hageren jungen Mannes, der gerade dabei war, sich etwas zu drehen, das man in Matts Tagen eine "Tüte" genannt hatte. Die Kriegerin schaute ihm interessiert dabei zu und lachte dabei. "Auch das noch", knurrte Matt. "Du wartest hier", fuhr er Ruudi an, dann bahnte er sich zwischen den Tischen und Stühlen hindurch einen Weg zum Tresen, der an der rückwärtigen Wand des Schankraums stand. Getränke wurden hier kaum ausgegeben, dafür waren der Barkeeper und seine Helfer eifrig damit beschäftigt, den Gästen Grastüten in verschiedenen Größen zu verkaufen – von kleinen Pfeifchen bis
hin zu ellenlangen Ungetümen, die ihre Konsumenten giftgrün anlaufen ließen. "Moment!", ging Matt energisch dazwischen, als der Hagere Aruula die Selbstgedrehte in den Mund schob. "Diese Lady sagt nein zu Drogen, okay?" Der Hagere, dessen blondes Haar wirr in alle Richtungen stand, starrte ihn verständnislos an. "Hä, Brooder?", fragte er. "Was ist los? Warum gönnst du der Zuuster nicht einen Zug?" "Genau, Maddrax", pflichtete Aruula ihm mit seltsam lallender Stimme bei. "Warum gönnstu mir nich'n Zug?" "Weil das nichts für dich ist", erwiderte Matt schnaubend – das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, war eine halbnackte Barbarin, die zugekifft durch die Straßen der schwimmenden Stadt wankte. Der Kiff zuckte mit seinen schmalen Schultern. Dann schob er sich die Tüte selbst zwischen die Lippen, paffte wie ein Fabrikschlot und verbreitete süßlich betäubenden Duft. "Das's gut", beteuerte Aruula. "Ich will noch'n Zug." "Kommt nicht in Frage", widersprach Matt. "Wir gehen." "Nein." Die Kriegerin verschränkte trotzig die Arme. " Aruula will nich." Matt stieß eine halblaute Verwünschung aus. Der Nebel, den der hagere Kiff verbreitete, stieg auch ihm zu Kopf und er merkte, wie seine Gleichgültigkeit wuchs. Die Technos, das TFG und Mr. Black, der auf sie wartete, konnten ihm mehr und mehr gestohlen bleiben, und er ertappte sich dabei, dass seine Gedanken eine unerwünschte Richtung nahmen, als ihm Aruulas Brüste ins Auge fielen. Sie mussten raus hier, und zwar schnell, andernfalls konnte er für nichts mehr garantieren... In Ermangelung einer besseren Lösung trat er kurzerhand vor und packte Aruula, hob sie hoch und lud sie sich wie einen Sack auf die Schulter. "Hey!", rief die Barbarin und hämmerte mit ihren Fäusten
auf ihn ein. Normalerweise hätte sich Matt einige grünblaue Flecken eingehandelt; infolge des Rauchs jedoch waren Aruulas Kräfte erlahmt. Die Barbarin über der Schulter, wandte sich Matthew in Richtung Ausgang, wo Ruudi wartete. "Ein Missverständnis", beteuerte der Keejker albernd kichernd. "Es war ein bedauerliches Missverständnis..." "Schon gut", brummte Matt. Mit seiner freien Hand packte er den Jungen und schob ihn durch die Vorhänge nach draußen. Im nächsten Moment strömte ihnen kühle salzige Seeluft entgegen, die trotz des Geruchs ungleich frischer war als der Mief in der Spelunke. Matt lud Aruula ab und atmete mehrmals tief durch. Sofort legte sich seine Benommenheit, und auch Aruula wurde wieder sie selbst. Der verklärte Blick ihrer Augen legte sich, auch Ruudis albernes Kichern verstummte. "Was... was war das?", wollte Aruula wissen. "Kiff", erklärte Ruudi grinsend. "Wird aus Seegras gewonnen. Macht locker und entspannt." "Das habe ich gemerkt", versetzte Matt trocken. "Viele kommen deshalb zum schwimmenden Moloch. Ich konnte nicht wissen, dass ihr eine Ausnahme macht." "Ich mag es nicht", sagte Aruula auf Englisch, während sie ihre schmerzenden Schläfen rieb. "Das Zeug macht einen schweren Kopf. Als ob man zu viel vergorenen Saft getrunken hätte. Immerhin weiß ich jetzt, weshalb ich die Menschen in der Stadt nur undeutlich spüren konnte. Fast alle scheinen dieses Zeug zu rauchen... es dämpft ihre Empfindungen." Matt nickte." Das erklärt auch, warum man viele von ihnen nur lethargisch herumsitzen sieht. Wir sollten vorsichtig sein. Vielleicht sind diese Kiffs nicht ganz so friedlich, wie sie vorgeben." Ruudi folgte der Unterhaltung verständnislos. Offenbar glaubte er, man rede über ihn. Abwehrend hob er die Hände und setzte ein unschuldiges Grinsen auf. "Ein Missverständnis,
nicht meine Schuld", beteuerte er abermals. "Kann ich euch sonst irgendwo hin führen?" Matt warf Aruula einen fragenden Blick zu. "Wir sind schon lange unterwegs. Was meinst du?" "Zurück zum Schiff", sagte die Kriegerin. "Ich bin's allmählich leid, in diesem Gestank herumzulaufen." "Sehe ich auch so", meinte Matt. Er grinste. "Black wird sich schon die Fingernägel abkauen vor Sorge um uns." "Wie ihr wollt", ließ sich Ruudi vernehmen. "Dann folgt mir, meine Vreendjes – ich führe euch zurück zum Gebiied der Keejkers. Von dort kennt ihr ja den Weg." "Danke", sagte Matt, und sie folgten ihm den Weg hinab, den sie gekommen waren – ein schmaler, aus aneinander gelegten Metallrosten bestehender Pfad, durch den man die schillernde, ölige Oberfläche des Wassers sehen konnte. Gesäumt von einer niederen Brüstung, verlief der Pfad an einem Kanal entlang, der sich zwischen einer Siedlung zweistöckiger Häuser hindurch wand. Matthew nahm zwar nicht wirklich an, dass Mr. Black aus Sorge um sie eine Selfmade-Maniküre betrieb, aber ihre Rückkehr würde er bestimmt schon sehnlich erwarten. Geduld war noch nie seine Stärke gewesen. Was Matt betraf, so hatte er die Suche nach irgendwelchen Technos aufgegeben. Warum das TFG keine Aufregung verursacht hatte, war mittlerweile klar: Für Menschen, die in ihrem zugedröhnten Zustand rosa Taratzen in Ballettröckchen sehen mochten, war ein Flugpanzer keine Sensation mehr. Andererseits konnte er verstehen, weshalb sie in Drogen Vergessen suchten. Die Armut und das Elend der Menschen, die hier vor sich hin vegetierten, waren beklemmend. Aber das war nicht der einzige Grund, weshalb es Matt drängte, zurück zum Taktischen Fluggerät zu gehen. Schon seit geraumer Zeit wurde er das Gefühl nicht los, dass Ärger bevorstand, und je länger sie sich in Amerdaam aufhielten,
desto mehr verstärkte sich dieser Eindruck. Den Beweis dafür, dass er mit seiner Ahnung richtig gelegen hatte, bekam Matthew Drax schon wenige Augenblicke später. Am Ende des Kanals erschien plötzlich ein schlankes Boot, das offenbar von Fischen gezogen wurde und dessen Mitteldeck ein flaches Zelt überspannte. Ruudi ließ bei seinem Anblick ein leises Wimmern vernehmen. "Was ist?", fragte Matt. "Zyks", sagte der Keejker nur, als würde das alles erklären. "Seht nicht hin. Senkt euren Blick und provoziert sie nicht." Matt und Aruula kamen nicht dazu, nach dem Grund zu fragen, denn im nächsten Moment kam das Schiff bereits den Kanal herab. Matt sah mehrere abenteuerliche Gestalten, die am Bug standen und bis an die Zähne bewaffnet waren – und plötzlich glaubte er seinen Augen nicht zu trauen. Mitten unter den fremden Kriegern stand Mr. Black! "Nicht hinsehen!", ächzte Ruudi verzweifelt, aber es war schon zu spät. Auch Aruula hatte den Gefährten auf dem Vordeck des Bootes entdeckt und war mindestens ebenso fassungslos wie Matt. "Das darf doch nicht wahr sein", stieß sie hervor. "Wo will er hin?" "Gute Frage", knurrte Matt. "Hey, Black!", rief er laut und winkte, was die Verzweiflung in Ruudis schmalem Gesicht nur noch größer werden ließ. "Nicht rufen", stöhnte er. "Nicht winken..." Matt und Aruula ließen sich davon nicht beirren. Sie riefen weiter den Namen ihres Freundes und winkten, um auf sich aufmerksam zu machen – doch Mr. Black zeigte keine Reaktion. Der hünenhafte Anführer der Running Man, der wie ein Fels aus der Gruppe der Krieger ragte, die ihn umgaben, blickte stur geradeaus. Dafür zogen Matt und Aruula die Aufmerksamkeit der übrigen Besatzung auf sich. Ruudi verfiel in lautes Lamento
und kauerte sich auf dem Boden zusammen. Im nächsten Moment war Matt klar, wieso – denn als das Boot ihre Position passierte, eröffneten die Kerle auf dem Schiff das Feuer. * Minuten zuvor "Du hast also keine Ware bei dir?", erkundigte sich der Zyklop noch einmal, und selbst der elektronische Translator kam nicht mehr umhin, den drohenden Tonfall seiner Stimme zu berücksichtigen, indem er ihn lauter und irgendwie auch tiefer klingen ließ. "So ist es", blieb Mr. Black bei seiner Variante, obwohl ihm zu dämmern begann, dass es gefährlich war. "Ich bin nur gekommen, um mich im Auftrag der Gemeinde zu informieren." "Du lügst", sagte der Einäugige, und in seinem Bewusstsein hörte Black das Eis knacken. "Was?", fragte er entrüstet. "Du lügst", wiederholte der Zyklop. "Du bist vom Himmel gekommen und lenkst die Maschine der Erhabenen. Aber du gehörst nicht zu ihnen." "Blödsinn", blaffte Black, der fü hlte, dass er alles auf eine Karte setzen musste. Die Krieger, die sie umstanden, hatten ihre Waffen fester gefasst und beäugten ihn kritisch. "Wie kommst du darauf? Habe ich dir nicht erklärt, wer ich bin?" "Das hast du", räumte der einäugige Hüne ein. "Aber ich glaube dir nicht." "Das ist dein Problem", versetzte Black. "Ich gehöre zu den Erhabenen und verlange zum Potaaten gebracht zu werden. Er wird verstehen, was ich von ihm will." "Auch Lumbol versteht es", nannte der Zyklop zum ersten Mal seinen Namen. "Und er begreift, dass du ihn tä uschen
willst. Du bist kein Erhabener. Du trägst nicht ihre Kleidung." "Ich sagte es doch schon – mein Anzug ist kaputt." "Du sprichst nicht wie sie und du siehst nicht aus wie sie. Deine Haut ist dunkel von der Sonne, sie jedoch sind bleich und kahl. Und du misstraust uns, obgleich wir dir keinen Grund dazu gegeben haben. Die Erhabenen haben uns noch nie misstraut. Sie brauchen niemanden zu schicken, um uns zu kontrollieren. Also musst du ein Verräter sein. Ein Spion der Kiffs möglicherweise..." "Der Kiffs? Verdammt, was äl uft hier eigentlich? Was hat das zu bedeuten?" "Ich werde dir nichts mehr antworten", sagte Lumbol barsch. "Du wirst den Potaaten sehen, aber nicht als unser Gast, sondern als Gefangener. Packt ihn!" Als wäre dies das Stichwort, auf das er nur gewartet hatte, kam plötzlich Leben in Mr. Black. Seine angespannten Sehnen und Muskeln explodierten in einer plötzlichen Bewegung und katapultierten ihn nach vorn, auf die flache Back zu, die den Bug des Schiffes umlief. Bei einer Konfrontation mit Lumbol und seinen Kumpanen zog er den Kürzeren, zumal sie mit Schusswaffen ausgerüstet waren – also blieb nur eine rasche Flucht. Doch wenn der Rebellenführer gehofft hatte, mit einem Sprung über Bord entkommen zu können, so irrte er sich. Er kam keinen Meter weit, da packten ihn Lumbols Schergen auch schon und hielten ihn fest. "Verdammt!", begehrte Black auf. "Wollt ihr mich wohl loslassen, ihr elenden..." Er schlug kraftvoll um sich, schmetterte einen seiner Häscher nieder. Sofort waren zwei weitere Krieger heran und hielten ihm ihre kurzläufigen Maschinenpistolen unter die Nase, sodass sein Kampf jä h zu Ende war. Black erstarrte in der Bewegung, und während er noch überlegte, was zu tun war, spürte er plötzlich einen scharfen, schmerzhaften Stich in seiner
rechten Gesäßhälfte. "Verdammt!", wetterte er drauflos, während er unweigerlich in die Knie ging. "Was...?" Er vergaß, was er hatte sagen wollen. Mehr noch – es war ihm plötzlich gleichgültig. Dass man ihm den Inhalt einer Kanüle aus TechnoBeständen injiziert hatte, der innerhalb weniger Augenblicke in seine Blutbahn und auf seinen ganzen Körper überging, war ihm egal. Alles was Mr. Black fühlte, war Entspannung. Restlose, unendliche Entspannung, wie er sie seit Monaten, seit Jahren nicht mehr gefühlt hatte. Vielleicht noch nie in seinem ganzen Leben. Die Verantwortung, die er all die Jahre als Anführer der Widerstandsbewegung getragen hatte, fiel wie eine Last von ihm ab, war im nächsten Moment vergessen. Auch die Gesichter jener Männer und Frauen, die ihn in den letzten Monaten begleitet und mit denen er Seite an Seite ums Überleben gekämpft hatte, verblassten und wurden zu dumpfen Schatten, die sein Bewusstsein umnebelten. Das TFG, die schwimmende Stadt, die Männer mit den Maschinenpistolen, die ihn bedrohten – all das existierte plötzlich nicht mehr fü r ihn. Ein tiefes, blödsinniges Lachen entrang sich seiner Kehle, und er blickte zu der großen, muskulösen Gestalt auf, die nur ein Auge inmitten ihrer breiten Stirn trug. Mr. Black atmete tief durch. Er brauchte sich um nichts mehr zu sorgen. Er war unter Freunden... * "In Deckung!"
Matt sah die Mündungen der Maschinenpistolen jenseits der
Back auftauchen, dann spuckten die Waffen auch schon Feuer. Mehrere Garben zuckten glühend heiß zum Steg herüber, und Matt und Aruula blieb nichts, als sich blitzschnell zu Boden zu werfen. In dichter Folge schlugen die Projektile ein, durchbohrten das dünne Metall der Hauswände oder prallten Funken schlagend von der Brüstung ab. Matt und Aruula blieben flach liegen und schirmten ihre Köpfe mit den Armen ab, während die Kerle auf dem Boot eine n wüsten Bleihagel auf sie niedergehen ließen. Matt merkte, wie ein Querschläger ihn nur um Haaresbreite verfehlte und an seinem Nacken vorbei sengte. Er kam nicht dazu, seine eigene Waffe zu ziehen, und selbst wenn er es gekonnt hätte, wäre die Gefahr, ve rsehentlich Mr. Black zu treffen, zu groß gewesen. So konnte er nichts anderes tun, als in Deckung zu bleiben, während die Projektile ringsum mit vernichtender Wucht einschlugen. Sekunden später war das Boot an ihnen vorbei und der Beschuss endete. Vorsichtig richtete sich Matt auf und spähte über die Brüstung – um sofort wieder zurück zu zucken, als sich eine heiße Garbe auf ihn zu fraß – im Heck des Schiffes kauerten weitere Schützen, die ihn sofort unter Feuer nahmen. Wasser spritzte auf und die Kugeln schlugen lärmend in die Brüstung, durchdrangen sie aber nicht. Dann war das Boot um eine Biegung des Kanals verschwunden. Keuchend blickte Matt ihm hinterher. "Aruula?", erkundigte er sich nach seiner Gefährtin. "In bin okee", versicherte sie und sprang auf die Beine. "Was, bei Krahac, ist das gewesen?" "Die Zyks!", ließ sich Ruudi vernehmen und signalisierte damit, dass auch er nichts abbekommen hatte. "Nicht hinschauen, nicht rufen, nicht winken. Drei einfache Regeln, die ihr alle nicht befolgt habt." "Wie steht es mit Schießen?", fragte Matt und zückte seinen
Driller. Ruudis Augen wurden so groß, dass sie aus den Höhlen zu fallen drohten. "Beim großen Ajax! Bist du von Sinnen? Das sind die Zyks! Niemand in Amerdaam legt sich mit ihnen an." "Wir sind nicht aus Amerdaam", stellte Aruula klar und zog ihr Schwert. Und dann machten sie und Matt sich an die Verfolgung des Bootes. "Nicht!", rief Ruudi ihnen entsetzt hinterher. "Seid froh, dass ihr noch am Leben seid! Ein zweites Mal werden euch die Zyks nicht davo nkommen lassen!" Matt und Aruula, kümmerten sich nicht darum. Im Laufschritt rannten die den Steg hinab, der unter ihren Schritten erzitterte. Schon erreichten sie die Biegung, um die das Boot mit Mr. Black an Bord verschwunden war, und machten sich darauf gefasst, von einer zornigen Garbe Blei begrüßt zu werden. Der Kanalabschnitt, der vor ihnen lag, war jedoch leer; das Boot hatte bereits die nächste Biegung genommen. "Verdammt", murrte Matt und sie rannten weiter, den schmalen Pfad hinab, der den Kanal säumte. Mehrere Passanten kamen ihnen entgegen, denen der Schrecken ihrer Begegnung mit den Zyks noch ins Gesicht geschrieben stand. "Wo sind sie hin?", fragte Matt. "Die Zyks, wo sind sie?" Eine Frau mit bleichen Zügen und hohlen Wangen deutete den Kanal hinab, und Matt und Aruula setzten die Verfolgung fort. Das Boot war verdammt schnell gewesen, und Matt war klar, dass sie keine Chance hatten, es wiederzufinden, wenn es erst im Gewirr der Kanäle verschwunden war. Solange jedoch noch Hoffnung bestand, wollten sie es wenigstens versuchen. Atemlos langten sie bei der nächsten Biegung an – doch das einzige Boot, das im Kanal zu sehen war, war eine rostige Schaluppe, die am Steg vor sich hin dümpelte. Matthew Drax und seine Gefährtin eilten weiter – und erreichten eine Stelle, wo sich der Kanal teilte. Es war nicht zu erkennen, welche
Richtung das Boot der Zyks genommen hatte, und es war auch niemand da, den man hätte fragen können. "Shit ", knurrte Matt. "Und jetzt?" "Wir könnten uns teilen", schlug Aruula vor. "Kommt nicht in Frage." Matt schüttelte den Kopf. "Diese Stadt ist ein gefährlicher Ort. Wenn wir uns auch noch verlieren, hilft das Mr. Black kein Stück weiter." "Also?", fragte Aruula. "Wir gehen zurück zu Ruudi. Er scheint mehr über diese Zyks zu wissen..." * Lumbol war aufgebracht. Der einäugige Kommandant der "Haaivis" schätzte es ganz und gar nicht, wenn man ihm ins Handwerk pfuschte. Die Zyks waren die uneingeschränkten Herren der Stadt; die Macht des Potaaten stand über allem anderen. Wer sich diesem Gesetz beugte, der hatte nichts zu befürchten. Wer sich hingegen gegen die Herrschaft der Zyks auflehnte, der konnte keine Gnade erwarten. Lumbol wusste nicht, wer der Fremde war, der mit einer Flugmaschine nach Amerdaam gekommen war und sich als Erhabener ausgegeben hatte. Nur eines wusste er – dass der Mann nicht die Wahrheit gesagt hatte. Lumbol war kein Idiot. Er hatte von Anfang an bemerkt, dass etwas mit dem Fremden nicht stimmte. Seine Art zu sprechen und sich zu bewegen hatten ihn misstrauisch gemacht, ganz abgesehen von dem wirren Zeug, das er gefaselt hatte. Was steckte dahinter? Der Zyklop konnte es nur vermuten. Er kannte die Details der Abmachung nicht, die der Potaat mit den Erhabenen getroffen hatte, die drüben auf dem Festland tief unter der Erde lebten. Aber er wusste, dass der Potaat ihnen nicht traute.
Bislang hatten die Erhabenen ihren Teil des Handels stets erfüllt, hatten Waffen dafür geliefert, dass die Zyks sie mit der Droge versorgten. Doch nun schien es erstmals Ärger zu geben. Entweder war der hünenhafte Mann mit der sonnengebräunten Haut ein Spion, den die Kiffs oder eine andere Bande geschickt hatten, oder die Erhabenen trieben ein doppeltes Spiel. In beiden Fällen würde der Potaat davon erfahren und entsprechend handeln. Mit bösem Grinsen blickte Lumbol auf den gefangenen Feind, der reglos am Bug der "Haaivis" stand und starr in die Ferne blickte. Nicht einmal seine eigenen Leute hatte er erkannt, als sie ihm vom Ufer aus zugewunken hatten. So erfreut Lumbol darüber war, dass die Droge so gut wirkte, so sehr hatte ihn die Begegnung mit den Fremden aufgebracht. Offenbar gab es noch mehr Feinde in der Stadt. Der Spion hatte Verbündete – der Potaat musste umgehend davon erfahren. * "Nicht so schnell, Freundchen." Als Ruudi merkte, wie ihn jemand hart auf die Schulter tippte, fuhr er herum. Seine Miene zeigte eine bemerkenswerte Mischung aus Ärger und Freude, als er Matt und Aruula vor sich stehen sah. "Vreendjes!", rief er aus, und ein unschuldiges Lächeln erschien auf seinen Zügen. "Da seid ihr ja wieder!" "Ja", bestätigte Matt säuerlich, "da sind wir wieder. Aber du hast dich aus dem Staub gemacht." "Verzeiht, Vreendjes. Aber nachdem ihr es so eilig hattet, euch mit den Zyks anzulegen, konnte ich nicht damit rechnen, dass ihr zurückkehren würdet." "Schon verstanden", versicherte Matt. "Aber wir sind
tatsächlich noch am Leben. Wir haben die Spur der Zyks verloren." "Glück für euch", meinte Ruudi grinsend. "Einen zweiten Kampf mit ihnen hättet ihr nicht überlebt." "Wir brauchen Informationen", sagte Matt kurzerhand. "Du wirst uns alles erzählen, was du über die Zyks weißt. Wer sind diese Kerle?" "Zyks sind... Zyks", antwortete Ruudi schulterzuckend. "Sie sind die mächtigste Bande der Stadt." "Was hat es mit ihnen auf sich?", hakte Matt weiter nach. "Wer sind sie und woher kommen sie? Und weshalb war unser Freund bei ihnen?" "D-das weiß ich nicht." "Blödsinn", knurrte Aruula. "Black hat uns weder gesehen noch gehört. Sie müssen irgendwas mit ihm angestellt haben." "Er stand unter Drogen", vermutete Matt. "Vielleicht stecken sie mit den Kiffs unter einer Decke." "Nein", widersprach Ruudi entschieden. " Zyks und Kiffs sind Todfeinde!" "Ach so? Dann verrate uns doch, was du sonst noch über sie weißt, mein Junge." "Nein." Ruudi schüttelte beharrlich den Kopf. "Das ist keine gute Idee. Die Zyks kontrollieren die Stadt. Sie lassen uns leben, weil wir keine Gefahr für sie sind. Aber es ist nicht klug, sich mit ihnen anzulegen. Und es ist Selbstmord, gegen sie zu kämpfen." "Ob es Selbstmord ist oder nicht, überlass uns", entgegnete Matt. "Diese Zyks haben unseren Freund in ihrer Gewalt, und wir werden ihn befreien. Also pack schon aus, was du über sie weißt." "Tut mir Leid, Vreendjes. Ich kann euch nicht helfen. Ich lege mich nicht mit den Zyks an." "Das brauchst du nicht, das übernehmen wir schon", versicherte Aruula. "Weißt du, wohin sie gefahren sind?"
"Nein", tönte es wieder, und Ruudi presste seine Lippen aufeinander wie ein schmollendes Kind. "Er lü gt", stellte Axuula fest. "Dazu brauche ic h nicht mal lauschen." "Na schön." Matts Rechte sauste nach vorn, packte den Keejker am Kragen seiner Fischlederweste und zog ihn an sich heran. "Hör gut zu, mein Junge. Wir haben deine Spielchen lange genug mitgemacht. Jetzt ist Schluss damit, verstanden? Du wirst uns sofort sagen, wohin diese Zyks unseren Freund gebracht haben, oder..." "Nein." Beharrlich schüttelte Ruudi den Kopf, und Matt war klar, dass es die nackte Furcht war, die die Lippen des Keejkers versiegelte. "Überlass ihn mir", verlangte Aruula. "Er wird es uns sagen, und wenn ich ihm dafür jeden einzelnen Knochen dafür brechen muss." Matt wusste, dass sie bluffte, aber Ruudi war derart verbohrt, dass tatsächlich Blut fließen musste, bevor er den Mund aufmachte. "Nein", sagte er deshalb," das würde zu lange dauern. Außerdem brauchen wir ihn noch als Führer. Ich denke, ich habe eine bessere Idee..." * Die "Haaivis" hatte das Labyrinth der Kanäle verlassen, das sich zwischen den Sektionen der Stadt erstreckte, und erneut die offene See angesteuert. Vorbei am Territorium der Antjes und an der Insel der Ajax-Anhänger ging es auf ein weiteres Eiland zu, das sich aus der blaugrauen See erhob. Anders als die übrigen Viertel der Stadt schwebte die Insel der Zyks jedoch nicht auf dem Wasser, sondern war fest mit dem Meeresboden verbunden; der Turm, der in der Mitte ihres Territoriums aus dem Wasser ragte, war ein Vermächtnis aus alter Zeit und gründete in den dunklen Tiefen, die die
Geheimnisse der Zyks verbargen. Lumbols Brust straffte sich, als sich das Boot dem Turm näherte, dessen Glasfenster an der Spitze nach allen Seiten blickten. Dort residierte der Potaat. Der Turm war das Symbol seiner Macht. Von hier aus bestimmten die Zyks, was in der Stadt geschah; wer sich ihnen widersetzte, der fand im Aquadroom ein schnelles und blutiges Ende. So war es schon immer gewesen, und so würde es auch weiter sein, und niemand, weder die Kiffs noch die zerbrechlich wirkenden Erhabenen in ihren fliegenden Maschinen würde etwas daran ändern. Das Auge des Zyklopen musterte den Gefangenen, der vorn an der Back stand und ein dümmliches Lächeln im Gesicht trug. Solange die Droge wirkte, stellte er keine Gefahr dar. Sie würde seine Zunge lösen und ihn dazu bringen, dem Potaaten alles zu verraten, was er wusste. Eine Welle kam und klatschte gegen den stumpfen Bug des Schiffes. Gischt spritzte dem Gefangenen ins Gesicht, worauf er lauthals zu lachen begann. "Ha!", rief er, und das kleine Gerät, das er bei sich trug, übersetzte schnarrend seine Worte. "Seht euch das an! Ich bin völlig nass!" Darauf prustete er los, als hätte er den Verstand verloren, wollte sich ausschütten vor Lachen. Lumbol nickte. Die Droge sorgte dafür, dass man sich gehen ließ und sämtliche Hemmungen verlor, seinen Trieben freien Lauf ließ. "Lach nur, elender Spion", murmelte er leise. "Lache, solange du noch einen Grund dazu hast..." * "Nun?" Matthew Drax fragte mit ruhiger Stimme – fast so, als wolle er den jungen Mann, der ihm gegenüber saß und ihn
mit gelassener Gleichgültigkeit ansah, nicht aus seinem Halbschlaf reißen. "Wie steht es, Ruudi? Willst du uns nun sagen, was du über die Zyks weißt?" "Mmhm." Der Keejker nickte, während er noch einmal einen tiefen Zug aus der Tüte nahm, die Aruula ihm in den Mund gestopft hatte. Grünlichen Rauch aus den Nasenlöchern blasend, sank er seufzend auf dem Fass zusammen, auf dem er kauerte. "Na also", meinte Matt und zwinkerte Aruula zu – zumindest für etwas schien das Zeug, das die Kiffs in der Stadt verkauften, gut zu sein. "Dann schieß los, mein Freund. Sag uns, wer die Zyks sind und was es mit ihnen auf sich hat." "Niemand weiß genau, wer sie sind", plauderte Ruudi enthemmt drauflos – die Wirkung des Grases hatte ihn seine Furcht glatt vergessen lassen. "Sie kamen vor vielen Jahren und haben die Stadt übernommen. Alle fürchten sich vor ihnen. Selbst die Kiffs." "Weshalb? Wer sind sie und was machen sie?" "Sie handeln mit Druugjes", gab Ruudi zurück. "Mit Druugjes?", fragte Matt. "Du meinst mit Drogen wie die Kiffs?" "Nein, nicht wie die Kiffs. Das Gras ist nichts im Vergleich zu dem Zeug, das die Zyks verkaufen. Es ist eine Droge, die sofort süchtig macht. Wer sie einmal genommen hat, kommt nicht mehr davon los, es sei denn unter großen Schmerzen. Jene, die der Droge verfallen sind, haben keinen eigenen Willen mehr und tun das, was die Zyks ihnen sagen." "Verstehe", sagte Matt. "Von ihrem großen Turm aus kontrollieren sie jedes Viertel der Stadt. Ihre Schiffe sind schnell und ihre Waffen gefährlich. Außerdem haben sie mächtige Verbündete, die Kugeln aus Glas über den Köpfen tragen und durch die Luft reisen können." "Technos", sagte Matt leise und wechselte mit Aruula einen vielsagenden Blick.
Mr. Black hatte also doch Recht gehabt mit seiner Vermutung – es schienen tatsächlich Technos in Amerdaam zu verkehren. Das mochte auch der Grund dafür sein, dass die Zyks moderne Schusswaffen ihr eigen nannten. Matt kam die ganze Situation irgendwie bekannt vor. Verbrechersyndikate, die mit harten Drogen dealten, sich illegal Waffen besorgten und damit ganze Städte terrorisierten, hatte es auch zu seiner Zeit gegeben. Ein paar hundert Jahre mochten seither vergangen sein, aber manche Dinge änderten sich eben nie. Seine Erlebnisse in Las Vegas, wo er es schon einmal mit einer brutalen Verbrecherbande zu tun bekommen hatte, waren Matt noch zu gut in Erinnerung, als dass er erpicht darauf gewesen wäre, sich schon wieder mit einer solchen Organisation anzulegen. Aber wie es aussah, hatte er wohl keine andere Wahl. Die Zyks hatten Mr. Black geschnappt und ihn offenbar unter Drogen gesetzt. Und obwohl sich Matt nicht erklären konnte, wie es dazu kommen konnte, war ihm klar, dass Aruula und er alles daran setzen würden, ihren Kameraden aus der Gewalt des Syndikats zu befreien. "Dieser Turm, der Schlupfwinkel der Zyks", fragte er weiter, "wo befindet er sich?" "Am anderen Ende der Stadt. Jenseits der Insel der AjaxAnhänger." "Am Rand?", wunderte sich Aruula. "Warum nicht in der Mitte?" "Wegen der Meeresströmung", erklärte Ruudi. "Die ganze Stadt ist an dem Turm festgemacht. Läge er in der Mitte, wäre der Druck zu groß... hat man mir erzählt. Fragt nicht, weshalb." "Kannst du uns hinführen?", fragte Matt. "Klar." Der Keejker zuckte mit den Schultern und lächelte nachsichtig. "Es hätte nur nicht allzu viel Sinn." "Wieso nicht?"
"Weil wir in kürzester Zeit tot wären", entgegnete er und kicherte dabei, als hätte er einen guten Witz erzählt. "Von ihrem Turm aus können die Zyks das Wasser überblicken. Sie sehen, wenn sich ein Boot nähert, und sie zögern nicht zu schießen." "Das haben wir gemerkt", schnaubte Aruula und sandte ihrem Gefährten einen fragenden Blick. "Was nun, Maddrax?" Matt überlegte. Aus Erfahrung wusste er, dass mit solchen Syndikaten nicht zu verhandeln war. Wenn sie Black lebend zurück haben wollten, blieb ihnen nur, ihn aus der Gewalt seiner Häscher zu befreien. "Dann werden wir eben die Dunkelheit abwarten und hinüber schwimmen", schlug er vor. "Der war gut." Ruudi lachte noch lauter. "Hast du noch mehr solche Schoten auf Lager? Du hast Talent zum Komikantje." "Weshalb?" "Weil es in den Gewässern rund um die Stadt nur so von gefräßigen Fischen wimmelt. Die Abfälle locken sie an, und sie fressen einfach alles." "Verdammt", sagte Matt und ballte die Fäuste. "Aber es muss doch eine Möglichkeit geben, ungesehen in ihren Schlupfwinkel zu kommen." "Ich wüsste keine. Aber es gibt jemanden, der die Zyks besser kennt als ich. Sogar besser als jeder andere." "Wer ist das?" "Farank." "Farank. Und weiter?" "Er ist ein Kiff, der früher mal ein Zyk gewesen sein soll. Jedenfalls erzählt man sich das." "Und du weißt, wo wir diesen Kerl finden?" "Natuurlijk. Er lebt im Gebiied der Ajax-Anhänger. In der miesesten und verkommensten Gegend der Stadt. Manche halten ihn für eine Legende, aber ich weiß, dass es ihn gibt, denn ich hab ihn schon einmal getroffen."
"Gut", sagte Matt entschlossen. "Dann bring uns zu ihm. Vielleicht kann er uns weiterhelfen." "Geht in Ordnung", meinte Ruudi gelassen und sog noch einmal an seinem Joint. "Aber ihr solltet auf alle Fälle etwas zum Tauschen mitnehmen." "Wieso?" "Ich sagte es doch schon", erwiderte der Keejker grinsend. "Farank ist ein Kiff..." * Das Boot hatte angelegt. Die Planken knarzten, als die Männer von Bord gingen und die schwimmende, von einer rostigen Metallschanzung umgebene Plattform betraten, in die in unregelmäßigen Abständen Schießlücken geschnitten worden waren. "Los, geh!", knurrte einer der Krieger und stieß Mr. Black den Lauf seiner Waffe in den Rücken. Black setzte sich in Bewegung, noch immer ein verzücktes Lächeln im Gesicht. Als die Planken unter seinem Gewicht nachgaben und sich bogen, blieb er einen Moment stehen und wippte lachend auf und ab wie ein Kind, das ein neues Spiel entdeckt hatte. Lumbol, der vor ihm an Land gegangen war, packte ihn und zerrte ihn mit sich. Über die Plattform gelangten die Männer ins Innere der Anlage, die den Schlupfwinkel der Zyks beherbergte. Durch ein Schott, das von zwei Wächtern geöffnet wurde, traten sie in einen langen Korridor. Das Glas auf der einen Seite war zerbrochen, sodass raue Seeluft hereinwehte. Auf der anderen Seite war es noch intakt, jedoch so schmutzig, dass man nicht hinausblicken konnte. Der Zyklop und seine Leute fü hrten Mr. Black den Gang hinab, und er ließ es willenlos mit sich geschehen. Worüber hätte er sich auch Sorgen machen sollen? Schließlich war er
unter Freunden. Überhaupt brauchte er sich um nichts mehr zu sorgen. Seine Probleme hatten schlagartig aufgehört, seine Vergangenheit interessierte ihn nicht mehr. Was diese Leute mit ihm vorhatten, war ihm herzlich egal. Alles, was fü r ihn zählte, war das Hier und Jetzt. Der Gang endete vor einem Durchgang, der in einen engen Schacht führte. Wäre Mr. Black bei sich gewesen, hätte er erkannt, dass es sich um einen alten Aufzugschacht handelte, in dessen Mitte noch alte Kabel und Drähte in die Tiefe hingen. So jedoch war ihm auch das ziemlich schnuppe. Wie ein Schaf folgte er Lumbol und seinen Leuten die hölzerne Wendeltreppe hinauf, die man entlang der Schachtwände errichtet hatte. Immer höher ging es hinauf, und Black merkte, wie sich sein Puls beschleunigte. Sein Herz hämmerte in seiner Brust und schlug ihm bis zum Hals, Schweiß bildete sich auf seiner breiten Stirn. Dann war der Marsch zu Ende. Das obere Ende der Treppe führte durch einen weiteren Durchgang in einen hohen hellen Raum, der zu allen Seiten über große Glasfenster verfügte. Auf einer Seite waren die schwimmenden Inseln der Stadt zu sehen, auf den anderen Seiten lag das offene Meer, das am Horizont mit dem Himmel zu verschmelzen schien. Die Mitte des Raumes nahm eine Art Podest ein, auf dem ein lederner Sessel stand. Darauf saß ein Mann, der an Fettleibigkeit so ziemlich alles übertraf, was Black sich vorstellen konnte. Wie eine dicke Qualle thronte er auf seinem Sitz und schien nach allen Seiten darüber hinaus zu quellen. Sein weites Gewand aus schillernder Fischhaut verstärkte diesen Eindruck noch. Der Schädel des Dicken war haarlos, und über seiner Nase prangte ein einziges Auge, das die Neuankömmlinge mit stechendem Blick betrachtete. "Lumbol", rief er aufgebracht. "Was bringt ihr mir da? Wo
ist der Erhabene, der im Keejker-Viertel gelandet ist?" Lumbol blieb in respektvoller Entfernung vom Thron stehen und verbeugte sich. "Ich grüße dich, mächtiger Potaat", sagte er, "und erbitte gleichzeitig deine Vergebung. Denn ich fürchte, dass es schlechte Nachrichten sind, die ich bringe." "Was für schlechte Nachrichten?" Der Potaat, zu dessen Füßen sich einige Frauen räkelten, die nur knappe Zweiteiler aus Fischhaut trugen, reckte sein fleischiges Kinn wissbegierig vor. "In der Flugmaschine, die gelandet ist, waren keine Erhabenen", erstattete Lumbol weiter Bericht, "sondern nur dieser Fremde." Damit packte er Mr. Black und schob ihn vor, und seine Leute rammten dem Gefangenen die Kolben ihrer Maschinenpistolen in die Kniekehlen, sodass er vor dem Potaaten zusammenbrach. "Wer ist das?", fragte der Dicke verblüfft. "Das wissen wir nicht. Er hat behauptet, zu den Erhabenen zu gehören, aber ich glaube ihm nicht. Er wollte zu dir gebracht werden, aber er will weder handeln noch hat er Waren bei sich." "Ein Spion?" Das eine Auge des Potaaten rollte in seiner Höhle umher. "Möglicherweise. Vielleicht treiben die Erhabenen auch ein doppeltes Spiel. Offenbar halten sich noch mehr von seiner Sorte in der Stadt auf. Auf dem Weg hierher sind wir auf weiteren Abschaum getroffen. Einer von ihnen hatte eine Donnerwaffe!" "Hm", machte der Potaat. "Sollte es möglich sein? Sollten die Erhabenen nicht so erhaben sein, wie wir gedacht haben? Spielen sie ein falsches Spiel mit uns? Gibt es vielleicht noch andere, mit denen sie Handel treiben?" Seine feisten Züge verfinsterten sich. "Du", wandte er sich an Mr. Black, der wie abwesend auf dem Boden kniete. "Sprichst du mit mir?" Black war noch immer damit
beschäftigt herauszufinden, was ihm da eben wehgetan hatte. "Natürlich. Wer bist du? Wie ist dein Name?" "Black", kam unverzüglich die Antwort. "Man nennt mich Black... " Er sah sich weiter um. "Was tust du hier? Woher hat du das fliegende Schiff? Schicken dich die Erhabenen oder bist du ein elender Lügner?" Black fühlte sich von den drängenden Fragen gestört. Er wollte sich nicht mit so schwierigen Gedankengängen befassen. "Lass mich in Ruhe", maulte er. "Das alles interessiert mich nicht." "Was?" Dem Potaaten fiel die Kinnlade herab. "Du weißt wohl nicht, wer ich bin?!" Mr. Black blickte ihn kurz an. Er brauchte nicht lange zu überlegen. "Du bist ohne Frage der fetteste Kerl, den ich je gesehen habe", erwiderte er wahrheitsgemäß. "Was?" Der Potaat schnaubte, sein Gesicht verfärbte sich rot. "Was fällt dir ein?" "Verzeiht, mächtiger Potaat", schaltete sich Lumbol ein. "Es liegt an der Droge..." Einen Augenblick lang hatte es den Anschein, als wolle der Mann auf dem Lesersessel platzen. Seine Gesichtsfarbe wurde noch dunkler, seine Adern schwollen an und die fleischigen Fäuste ballten sich. "Schafft ihn mir aus den Augen!", brüllte er. "In den Kerker mit ihm!" "Aber mächtiger Potaat", widersprach Lumbol entgeistert. "Wollt ihr ihn denn nicht verhören?" "Natürlich will ich das." Der Zorn des Syndikatschefs hatte sich jäh gelegt, und über sein feistes Gesicht huschte ein hinterhältiges Grinsen, als er den halbnackten Frauen zu seinen Füßen zunickte. "Meine Kurtisaanen werden ihn in seiner Zelle besuchen und ihm alles entlocken, was wir wissen wollen, ehe ihn sein Herz im Stich lassen wird..."
* Mit einem Kahn, den sie von einem alten Fischer geliehen hatten, gelangten Matt, Aruula und Ruudi auf die andere Seite der Stadt, wo der Mann namens Farank lebte. Die Wirkung des Kiffs, das sie Ruudi verabreicht hatten, war inzwischen nahezu verflogen, und mit jedem Meter, den sie sich weiter von seinem angestammten Viertel entfernten, wuchs die Furcht des jungen Keejkers. "Das ist nicht gut", jammerte er, während er das Ruder nur noch halbherzig ins brackige Wasser tauchte. "Wir nähern uns dem Gebiied von Ajax' Anhängern. Mit ihnen ist nicht zu spaßen." "Schon möglich", hielt Matt dagegen, der dafür umso fester ruderte, "aber mit Aruula und mir auch nicht. Vor allem dann nicht, wenn ein Freund von uns entführt wurde." "Wie weit is t es noch bis zu diesem Farank?", erkundigte sich Aruula, die im Heck des Bootes saß und das Steuer hielt. "Nicht mehr weit." Ruudi zeigte geradeaus. "Dort vorn müssen wir anlegen, dann geht es zu Fuß weiter. Seid ihr sicher, dass ihr das wirklich tun wollt?" "Ganz sicher", meinte Matt, "und du, mein Freund, wirst uns begleiten." Ruudi warf ihm einen elenden Blick zu, sagte aber nichts. Fliehen konnte er nicht, weil Matt ihn mit einem Stück Seil an sich gebunden hatte, und vor Aruula schien er sich auch nic ht die Blöße geben zu wollen, um Gnade zu betteln. Also biss er die Zähne zusammen, auch wenn es ihm sichtlich schwer fiel. Der Kahn legte an einem baufällig aussehenden Steg an, und die drei kletterten aufs Trockene. Die Masten, die den Kai säumten, waren mit rotweiß gefärbten Tüchern markiert – noch mehr beunruhigten Matt allerdings die ausgebleichten Schädel, die auf den Stangen steckten und fraglos von Menschen stammten.
Was den Zustand des Viertels betraf, so hatte Ruudi nicht übertrieben: Es war noch schmutziger und heruntergekommener als jede andere Gegend, die sie bislang gesehen hatten. Die meisten der Häuser, die den Kai und die Gasse säumten, waren halb eingestürzt, vielfach sah man nur noch Trümmer. Der Rost hatte den Wänden zugesetzt, und an einigen Stellen waren die Bodenplanken eingebrochen, sodass man sich hüten musste, nicht ins Wasser zu fallen. "Das ist typisch für die Anhänger von Ajax", kommentierte Ruudi kopfschüttelnd. "Die denken immer nur an das eine." "Und das wäre?", fragte Aruula. "Was wohl? An Vootbal..." Matthew Drax war nicht wirklich überrascht. Sie passierten einige Gassen, die einander ähnelten wie ein Ei dem anderen. Schon nach kurzer Zeit hatte Matt in dem Gewirr die Orientierung verloren und hoffte nur, dass wenigstens Ruud i wusste, wohin sie gingen. Unvermittelt endete die Gasse vor ihnen und mündete auf einen freien Platz, der von sämtlichem Unrat gereinigt war. Die Planken waren in gutem Zustand und so sauber geschrubbt, dass Matt schon ahnte, welchem besonderen Zweck die ser Ort dienen mochte. Im nächsten Moment trat ihnen aus dunklen Hauseingängen eine Horde junger Männer und Frauen entgegen, die rotweiß gestreifte Tuniken trugen und deren langes Haar in der Seebrise flatterte. "Ajax' Anhänger", ächzte Ruudi entsetzt, als die Jugendlichen im Handumdrehen die Besucher umzingelten. In ihren Händen lagen Messer aus rostigem Metall. "Halt!", sagte einer von ihnen, der der Anführer zu sein schien, und hob gebieterisch die Hand. "Keinen Schritt weiter. Ihr habt geweihten Boden betreten, Vreemde. Dafür müsst ihr bezahlen!" Matt holte tief Luft. Allmählich hatte er die Faxen dicke.
Jede der Banden, die die einzelnen Sektionen der Stadt kontrollierten, schien ihre eigenen unsinnigen Regeln und Gesetze zu haben. Am liebsten hätte Matt dem Jungen, der in Ruudis Alter sein mochte, ordentlich die Meinung gestoßen, aber das war in Anbetracht der erdrückenden Übermacht des Gegners nicht ratsam. Matt zählte fünfundzwanzig, dreißig Jugendliche, alle mit Messern und Dolchen bewaffnet. Und aus den Hauseingängen auf der anderen Seite des Platzes kamen noch mehr... "Wir sind Fremde in eurer Stadt", erklärte er seufzend. "Wir konnten nicht wissen, dass dies euer Gebiet ist." "Ihr vielleicht nicht", räumte der Bandenführer ein und deutete auf Ruudi, "aber der hier wusste es ganz sicher. Ich kenne ihn. Er ist ein Keejker." Ruudi, dessen hervorstechendste Eigenschaften nicht gerade Mut und Tapferkeit waren, verfiel in leises Wimmern und zog sich hinter Matt und Aruula zurück. "In Ordnung", sagte Matt, "was sollen wir also tun? Was verlangt ihr dafür, dass wir euer Gebiet durchqueren dürfen?" "Ihr müsst eine Prüfung ablegen", verkündete der Anführer feierlich. "Wirklich? Ist ja ganz was Neues." "Der Spott wird dir gleich vergehen. Denn du und deine Freunde müsst euch dem Urteil des mächtigen Ajax unterwerfen. Ist er euch gnädig gestimmt, seid ihr frei und könnt gehen, wohin ihr wollt. Lässt er euch hingegen versagen, so seid ihr uns ausgeliefert und endet wie diese dort." Er zeigte zu den Masten, die das freie Feld säumten und wie die Stangen am Kai mit Tüchern und Totenschädeln versehen waren – ein deutliches Zeichen dafür, dass mit Ajax' Anhängern nicht zu spaßen war. "Na schön", meinte Matt. "Und was soll ich dafür tun?" "Du wirst auf die Toorwand schießen", sagte der Anführer und deutete auf eine Hauswand, in der zwei kreisrunde Löcher
klafften, die etwa dreißig Zentimeter Durchmesser besaßen. "Triffst du, seid ihr frei. Versagst du, werdet ihr sterben. Ajax' Regeln sind einfach." Matt war mit diesen "Regeln" durchaus vertraut. In seiner Heimat hatte der "Soccer" genannte Fußball zwar ein Schattendasein geführt, aber Matt war lange genug in Europa stationiert gewesen, um das Spiel ausgiebig kennen zu lernen. Auf dem Stützpunkt in Berlin Köpenick hatte es sogar eine Auswahl der Air Force gegeben, die regelmäßig Spiele gegen deutsche Militärbasen bestritten hatte. Irgendwie hatte sich die Begeisterung der Amsterdamer für den Fußballsport bis in diese dunkle Zeit erhalten, wenngleich die ursprüngliche Bedeutung des Spiels verloren gegangen war. Für diese Jugendlichen schien Fußball ein Ritual auf Leben und Tod geworden zu sein, dem sie kultische Bedeutung beimaßen. Andererseits war das irgendwie auch früher schon so gewesen... Einer der Ajax-Anhänger warf Matt etwas zu. Er fing es auf. Es handelte sich um einen Ball, der aus Flicken von Fischhaut zusammengenaht und aufgeblasen war. Nicht gerade ein Spielgerät nach FIFA-Norm, aber akzeptabel. Matt ließ den Ball auftippen und fing ihn mit der Stiefelspitze auf, kickte ihn mehrmals hintereinander in die Höhe. Während die Ajax-Anhänger einander anerkennend zunickten, bedachte ihn Aruula mit wachsendem Unverständnis. "Was machst du da, Maddrax?", wollte sie wissen. "Das ist Soccer, Aruula", erklärte er ihr auf Englisch. "Ein Spiel, das wir zu meiner Zeit oft gespielt haben." "Du?", fragte sie fassungslos und sah zu, wie er den Ball von einer Fußspitze auf die andere manövrierte. "Du hast ein solches Spiel gespielt?" "Na ja." Matt zuckte mit den Schultern. "In meiner Heimat war es nicht sehr populär. Aber in Deutschland waren sie
verrückt danach. Ich war sogar eine Zeit lang in der Auswahlmannschaft unseres Stützpunkts." "Und jetzt willst du um unser Leben spielen?", fragte Aruula fassungslos. "Mit diesem lächerlichen Ding?" "Für diese Bemerkung hätte man dich vor einem halben Jahrtausend in der Luft zerrissen", erwiderte Matt grinsend. "Andererseits – Frauen hatten noch nie viel für Fußball übrig..." Er fing den Ball aus der Luft, klemmte ihn sich unter den Arm und ging auf die improvisierte Torwand zu. Davor war auf den Planken ein weißer Abschlagpunkt markiert. "Von hier aus?", fragte Matt. Der Anführer nickte. "Das ist der Punkt, den Ajax bestimmt hat." "Bist du dir da auch ganz sicher? Das sind gut und gern zwanzig Meter. Zu meiner Zeit..." "Willst du Ajax vorschreiben, wie die Regeln lauten?" Der Zorn in der Stimme des Anführers war unüberhörbar, und seine Kumpane hoben angriffslustig ihre Klingen. "Nein, schon gut"" beschwichtigte Matt. Sich auf Diskussionen am Spielfeldrand einzulassen, hatte schon zu seiner Zeit nicht viel gebracht. Er würde sein Glück versuchen müssen... Bedächtig näherte er sich dem markierten Punkt und legte den Ball darauf nieder. Das Ding war alles andere als rund, und seine Flugeigenschaften unterschieden sich ziemlich von denen eines Fußballs. Aber mit dem richtigen Dreh... "Ein Schuss", sagte der Anführer der Gang. "Triffst du, seid ihr frei. Wenn nicht..." Er überließ es Matts Fantasie, sich auszumalen, was dann geschehen würde. Matt warf einen Blick hinüber zu Aruula und Ruudi, die von den Ajax-Fans umstellt waren. Wenn es tatsächlich zum Kampf kam, hatten sie nicht die geringste Chance. Er musste den Ball also versenken – und das mit nur einem Versuch.
Matt suchte sich die obere der beiden Ö ffnungen aus. Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, während er zurück trat, um Anlauf zu nehmen, und das Ziel anvisierte. Er spürte seine Anspannung, fühlte das Adrenalin – und für einen kurzen Moment war es so, als würde er wieder im Endspiel der Militärmeisterschaften von 2010 stehen, als ein Elfmeterschießen das Duell zwischen Air Force und Bundesluftwaffe entschieden hatte... Im Stadion wird es still, als Commander Matthew Drax von der Air Force Base Berlin Köpenick Anlauf nimmt. Wenn er diesen Ball versenkt, gehört die diesjährige Meisterschaft dem Team der Air Force. Jetzt! Er läuft an, scheint sich das Ziel genau ausgesucht zu haben. Weit holt er aus, trifft den Ball mit voller Wucht, und das Leder fliegt... geradewegs ins lange Eck, unhaltbar für den deutschen Keeper. Tor, meine Damen und Herren! Toor... "Tooor!", hörte Matt es rings um sich brüllen, "Tooor!" – und erst im nächsten Moment wurde ihm bewusst, dass es die Ajax-Anhänger waren, die schrien. Er hatte es geschafft, hatte den Ball trotz der beträchtlichen Entfernung in der Torwand eingelocht – und jetzt ließen sie ihn hochleben wie weiland 2010, als er die Meisterschaft entschieden hatte. Die Jugendlichen brachen in lauten Jubel aus und klatschten begeistert Beifall. Jede Feindseligkeit war verschwunden. "Er... er hat es geschafft", rief Ruudi fassungslos. "Er hat es tatsächlich geschafft!" Von allen Seiten drängten die Ajax-Fans heran, um Matt zu beglückwünschen, und auch vor Ruudi und Aruula machten sie nicht Halt. Einige der Kräftigeren packten Matt und hoben ihn hoch, setzten ihn auf ihre Schultern, um ihn nach altem Brauch auf dem Platz herumzutragen und ihn hochleben zu lassen. Matt ließ sie gewähren, kostete die Nostalgie des
Augenblicks aus, das kleine Stück heile Welt, das er für einen Moment zurückgewonnen hatte. Dann erinnerte ihn Aruulas strenger Blick daran, dass sie nicht gekommen waren, um Fußball zu spielen... * Die Zyks hatten Mr. Black hinunter gebracht in die Katakomben ihres Verstecks, das sich bis tief unter den Meeresspiegel erstreckte. Gleichgültig hatte er zur Kenntnis genommen, dass man ihn durch dunkle Korridore führte, die von blakendem Fackelschein beleuchtet wurden, um ihn schließlich in eine Zelle zu stecken, deren Wände aus feuchtem Stein bestanden. In der Mitte gab es einen langen schmalen Tisch, auf dem vor langer, sehr langer Zeit Waren ausgelegen hatten. Jetzt diente er als karges Lager, auf das Black von seinen Häschern gepackt wurde. Willenlos ließ er es mit sich geschehen. Auch als man ihn an Hand- und Fußgelenken an den Tisch fesselte, wehrte er sich nicht. Im Gegenteil. Mr. Black lachte – so laut, dass sich seine Stimme überschlug und von der niederen Decke, von der unablässig Wasser tropfte, zurückgeworfen wurde. Seine Bewacher zogen sich zurück und verließen die Zelle. Wie lange er allein blieb, wusste Mr. Black nicht zu sagen. Als er erneut Schritte vernahm, hätte ein Tag vergangen sein können – vielleicht auch nur wenige Minuten. Der Anführer der Running Men hob den Kopf, um zu sehen, wer ihn besuchte. "Hallo", rief er freundlich, und der Translator übersetzte jedes seiner Worte. "Ich bin hier! Könnt ihr mich hören?" Im nächsten Moment bekam er in seiner Zelle reizende Gesellschaft. Es waren fünf junge Frauen, die sich leise und mit
geschmeidiger Anmut bewegten. In ihren hautengen, knappen Kostümen hatten sie etwas von Raubfischen, die ihn lautlos umkreisten. "Hallo Mädels", grüßte Black vergnügt. "Schön, dass ihr vorbeischaut. Kann ich etwas für euch tun?" Eine von ihnen blieb stehen und streckte ihre schlanke Hand nach ihm aus, ließ sie über seinen Körper gleiten – bis zur Leibesmitte, wo Black eine unwiderstehliche Regung verspürte. Was immer man ihm verabreicht hatte – es sorgte nicht nur dafür, dass er sich frei und sorglos fühlte, sondern auch dafür, dass zügelloses Verlangen in seinen Lenden rumorte. Die fünf Schönheiten, die alle langes schwarzes Haar hatten, das bis zu den Hüften herabfiel, sagten kein Wort. Sie lächelten nur dieses verführerische Lächeln, das Black in seinem Dämmerzustand wie eine Einladung erschienen. Als ihre zarten Hände begannen, ihm die Kleidung vom Körper zu schälen, war es um seine Selbstbeherrschung geschehen. "Wow!", entfuhr es ihm voller Inbrunst. "Ihr Mädchen wisst wirklich, wie man einem Mann eine schöne Zeit bereitet. Ihr – aaaah..." Der Rest von dem, was er sagen wollte, ging in einem langgezogenen Stöhnen unter, als die fünf Grazien sein Geschlecht zu bearbeiten begannen. Mr. Black merkte, wie sich sein Pulsschlag steigerte, spürte das Blut in seinen Adern pulsieren. Die fünf Schönheiten, die ihm in seinem Zustand wie Liebesgöttinnen aus einer anderen, fernen Welt erschienen, lächelten noch immer, während sie aus ihren engen Kostümen schlüpften, um ihre nur mühsam gebändigten Reize zu entfesseln. Nackte bleiche Haut umgab ihn zu allen Seiten und fachte sein Verlangen weiter an. Sein Atem ging stoßweise. Dann stieg eine der Schönen zu ihm auf den Tisch, kroch mit katzenhafter Geschmeidigkeit auf ihn zu.
"Du gehörst uns, mein Süßer", hörte er sie sagen. "Wir werden dir jeden Wunsch von den Augen ablesen, und du wirst uns dafür alles sagen, was du weißt, hörst du?" Black kicherte albern. "Das schlagt euch aus dem Kopf, Mädchen. Ich bin gern mit euch zusammen, aber bestimmt nicht, um dumme Fragen zu beantworten." "Abwarten", sagte die Schöne, während ihr straffer, jugendlicher Körper wie ein Orkan über ihn hereinbrach. "Abwarten..." * Wie es versprochen war, hatten Ajax' Anhänger Matt und seinen Freunden freies Geleit gewährt. Mehr noch: Sie hatten sie sogar ein Stück begleitet, und Matt hatte ihnen von den alten Tagen und der großen Ära des Fußballs erzählt. Schließlich blieben die Ajax-Fans zurück, und Matt, Aruula und Ruudi waren wieder allein. Nach einer weiteren Viertelstunde erreichten sie die Hütte, die der geheimnisvolle Farank bewohnte – ein Verschlag aus Brettern und Wellblech, der knapp über dem Wasser lag. Einige rostige Stufen aus Metall führten zum Eingang hinab. Ohne Zögern ging Matt die Stufen hinab und klopfte an die Stahltür, die unter seinen Schlägen dumpf widerhallte. Es dauerte einen Moment, bis von drinnen schleppende Schritte zu hören waren. Ein Riegel wurde geräuschvoll zurückgezogen und die Tür schwang auf. Auf der Schwelle stand ein Mann mit dunkler, narbiger Haut und wirrem schwarzgelockten Haar. Der trübe Blick seiner Augen zeigte deutlich, dass er unter Drogen stand. "Tozzins", grüßte er und bedachte die drei Besucher mit einem gleichgültigen Blick. "Tozzins", erwiderte Matt. "Bist du Farank?" Der andere sog geräuschvoll Schleim aus seinem Rachen
und spuckte aus. "So ist es", bestätigte er dann. "Was kann ich für euch tun? Wollt ihr Vorräte kaufen?" "Nein, danke", kam Matt gleich zur Sache – sie hatten schon zu viel Zeit verloren. "Was wir wollen, sind Informationen." "Worüber?" "Über die Zyks." In Faranks Zügen zeigte sich keine Regung. Mit benebeltem Blick taxierte er zuerst Matt, dann Aruula und schließlich Ruudi. "Informationen sind teuer", sagte er dann. "Kein Problem", erwiderte Matt. "Könnt ihr bezahlen?" Anstatt zu antworten, holte Matt das Medipack aus dem Tornister und klappte es auf. Vor allem der Anblick der Spritzen und Kanülen ließ Faranks Augen begehrlich leuchten. "Kommt rein", sagte er kurz entschlossen und zog sich in seine Hütte zurück, um den Besuchern den Weg frei zu geben. Matt, Aruula und Ruudi traten in das miefige Halbdunkel, das in der Behausung des Kiffs herrschte. Eine Hängematte, die zwischen zwei Deckenpfosten befestigt war, eine alte Truhe und ein Tisch mit mehreren grob gezimmerten Stühlen bildeten die einzige Einrichtung; auf dem Boden lag ein uralter Teppich, der von Feuchtigkeit und Moder durchdrungen war. "Also?", fragte Farank grinsend und ließ sich auf einen der Stühle fallen. "Was wollt ihr wissen?" "Wir wollen wissen, wie man ungesehen in den Turm der Zyks gelangen kann", erwiderte Matt. Das Grinsen verschwand schlagartig aus Faranks Zügen. "Einen solchen Weg gibt es nicht", behauptete er – ein wenig zu schnell für Matts Geschmack. "Bist du sicher?", hakte er nach. "Ganz sicher. Ich muss es wissen, Vreemder, denn ich bin selbst mal ein Zyk gewesen." "Deshalb sind wir hier. Wenn es jemanden gibt, der einen
Weg in ihr Hauptquartier kennt, dann bist du das." "Dein Vertrauen ehrt mich", erwiderte Farank, "aber ich kann dir nicht helfen. Tut mir Leid." "Kannst du nicht oder willst du nicht?", fragte Matt. "Das macht für euch keinen Unterschied." Farank spuckte erneut auf den Boden. "Es gibt keinen Weg in den großen Turm, weder für euch noch für irgendjemand anderen." Matt biss sich auf die Lippen. Wenn sie keine Möglichkeit fanden, irgendwie dorthin zu gelangen, gab es für Mr. Black keine Rettung mehr... "Er sagt nicht die Wahrheit!" Aruula sprach Englisch, sodass nur Matt sie verstand. "Konntest du mehr erkennen?" "Es ist seltsam", fuhr sie fort, "aber einige seiner Gedanken sind ganz klar, ohne dass ich mich in Trance versetzen muss. Fast so, als hätte er ebenfalls die Fähigkeit zu lauschen, nur viel schwächer... Ich habe einige Bilder gesehen... ein Gang, der in die Tiefe führt, durch das Wasser..." "Bist du sicher?" Die Kriegerin nickte. "Na schön", knurrte Matt und wandte sich wieder Farank zu. "Und was ist mit dem Geheimgang?", fragte er unverblümt, alles auf eine Karte setzend. "W... was?" "Du hast mich schon verstanden. Es gibt einen Geheimgang zum Turm der Zyks. Wir wissen davon." Faranks Dämmerzustand schien schlagartig zu verfliegen. Der Blick seiner Augen wurde scharf und stechend, seine narbigen Züge verhärteten sich. "Wer seid ihr?", wollte er wissen. "Besucher", sagte Matt nur. "Die Zyks haben einen Freund von uns entführt und in ihr Versteck gebracht. Wir wollen ihn wiederhaben, das ist alles." Farank nickte langsam, und für einen Augenblick sah es so
aus, als wollte er seine Meinung ändern. Dann, in einem jähen Reflex, griff er unter seine fleckige Tunika und beförderte eine lange schartige Klinge zutage, mit der er auf Matt losging. "Stirb, Feind des Potaaten!", schrie er dabei und wollte zustechen. Allein seinen geübten Reflexen hatte Matt es zu verdanken, dass der Dolch nicht seine Brust durchbohrte. Mit einem Satz sprang er zurück, der Stich ging ins Leere. Farank spuckte aus und fauchte wütend, wollte nachsetzen – doch er hatte nicht mit Aruula gerechnet. Mit atemberaubender Schnelligkeit hatte die Kriegerin ihr Schwert gezückt, und noch ehe Matt dazu kam, nach seiner eigenen Waffe zu greifen, zuckte Aruulas Klinge bereits durch die Luft. "Nein!", brüllte Matt, doch es war schon zu spät – im nächsten Moment fuhr der scharfe Stahl durch Faranks Brust. Farank hielt in seiner Bewegung inne, als wäre er vom Blitz getroffen worden. Seine Augen weiteten sich entsetzt. Dann wankte er zurück und brach zusammen. Matt beugte sich über ihn, um ihn zu untersuchen – der Mann war tot. So dankbar Matt dafür war, dass Aruula ihm das Leben gerettet hatte, so sehr bedauerte er, dass ihr Informant ihnen nun nichts mehr würde verraten können. Als Ruudi sah, dass Farank sein Leben gelassen hatte, trat er ungeniert an die Truhe, die auf der anderen Seite des Raumes stand, und klappte sie auf. "Seht euch das an!", rief er, griff hinein und beförderte mehrere kleine, mit Wachs versiegelte Fläschchen zutage. "Was ist das?", wollte Matt wissen. "Zyk-Drogen", erwiderte Ruudi und warf Matt eines der Fläschchen zu. "Zyk-Drogen?" Matt betrachtete die braune Flü ssigkeit, die in der Phiole hin und her schwappte. "Sagtest du nicht, Kiffs und Zyks wären Todfeinde?"
"Das ist auch so. Aber nach allem, was geschehen ist, würde ich sagen, dass Farank nicht wirklich ein Kiff gewesen ist..." "... sondern ein Spitzel der Zyks", brachte Matt den Gedanken zu Ende. "Das würde seine Reaktion erklären. Schade nur, dass er uns jetzt nichts mehr verraten kann." "Das braucht er auch nicht", sagte Aruula und deutete auf den Teppich, der die Mitte des Zimmers bedeckte. "Der Gang, den ich gesehen habe, befindet sich unter diesem Raum." "Du meinst...?" Aruula nickte nur und begann den Boden mit ihrem Schwert abzuklopfen. Ein paar Mal krachte es dumpf – dann war ein hohles Geräusch zu hören. Kurzerhand rollten sie den Teppich ein – darunter kam eine hölzerne Falltür zum Vorschein. Sie lösten die Verriegelung und hoben die Tür. Der feuchte Geruch von Salz und Fisch drang aus der dunklen Tiefe. "Der verborgene Weg!", sagte Ruudi verblüfft. "Du weißt etwas darüber?" "Nur was man sich in den Kanälen darüber erzählt. Man munkelt, dass es einen geheimen Weg gibt, über den die Zyks ihren Stoff in die Stadt schaffen. Aber bislang wusste niemand, ob er tatsächlich existiert." "Jetzt wissen wir's", erwiderte Matt trocken. "Also, worauf warten wir...?" * "Und? Hat er geredet?" Der Potaat blickte von seinem hohen Sitz herab, und sein Gesichtsausdruck verriet, dass er keine schlechte Nachricht hören wollte. "Ich bedaure, mächtiger Potaat", musste Lumbol dennoch zähneknirschend gestehen. "Die Befragung durch die Kurtisaanen hat nicht das gewünschte Ergebnis gebracht."
"Nein?" Das Auge des Syndikatschefs weitete sich. "Es ist mir unerklärlich", erwiderte sein Untergebener schulterzuckend, "aber ein Mann wie dieser ist uns noch nicht untergekommen. Die Droge hat ihn völlig hemmungslos gemacht, doch die Verführungskünste der Kurtisaanen haben nicht ausgereicht, ihn zum Sprechen zu bringen." "Hm", machte der Potaat verdrießlich. "Dann ist er also gestorben, ohne zu verraten, wer ihn geschickt hat?" "Nein, mächtiger Potaat. Er ist noch am Leben." "Er... er hat die Kurtisaanen überlebt?" Das Auge wurde noch größer. "Alle fünf? Obwohl er unter dem Einfluss der Droge stand?" "Seine Manneskraft ist beachtlich", gestand Lumbol. "Die Kräfte der Kurtisaanen waren erschöpft, bevor es die seinen waren." "Erstaunlich", knurrte der Potaat, "ganz erstaunlich. Und ein Grund mehr herauszufinden, für wen dieser Mann arbeitet. Wenn dort alle so zäh sind wie dieser, haben wir ein Problem." "Das sehe ich auch so, mächtiger Potaat." "Ich wünsche, dass ihm die Droge nicht mehr verabreicht wird. Lasst ihn die Hölle des Entzugs durchleiden. Wenn er so stark ist, wie wir glauben, wird er es überleben. Die Mädchen mögen es nicht geschafft haben, ihn zum Sprechen zu bringen. Die Schmerzen werden es..." * "Wasser." Aruula war alles anderes als begeistert, während sie durch das dunkle Nass watete, das ihr bis an die Hüften reichte. "Überall Wasser... " "Wir befinden uns unter dem Meeresspiegel", stellte Matt fast, der mit der Taschenlampe bald hierhin, bald dorthin leuchtete und sich einen Überblick zu verschaffen suchte. Der Raum, der unter Faranks Hütte lag, hatte Wände aus
Stahlbeton und war viel größer, als Matt erwartet hatte – seine Abmessungen waren von außen nicht zu sehen gewesen, weil er komplett von Wasser bedeckt war. Schräg führte der Raum in die Tiefe. Während es auf den ersten Metern noch trocken gewesen war, hatten Matt und seine Gefährten schon bald durch knöcheltiefes Wasser waten müssen. Dann hatte es ihnen bis zu den Knien gereicht und jetzt stand es ihnen schon bis zu den Hüften. Eine brackige Brühe, die erbärmlich stank und so trübe war, dass man den Grund nicht erkennen konnte. Vorsichtig setzte Matt einen Fuß vor den anderen, drang immer weiter in den halb gefluteten Raum vor. Ruudi, mit dem er immer noch durch den Strick verbunden war, folgte ihm, während Aruula mit gezücktem Schwert die Nachhut bildete. Hin und wieder hörten sie es in den dunklen Tiefen des Raumes unheimlich plätschern und blieben alarmiert stehen. Als sich aber nichts weiter regte, setzten sie ihre Wanderung durch die Dunkelheit fort. Im Lichtschein der Lampe tauchten hin und wieder Trümmer von Möbelstücken auf, Tischplatten aus fauligem Holz, die in der Brühe schwammen. An den Wänden waren die Überreste von Gemälden zu sehen, deren Farben schon vor Jahrhunderten verblichen waren. Sie gingen weiter, und das Wasser stieg noch mehr an, reichte ihnen schließlich bis zur Brust. Aruula, die mit Argusaugen um sich spähte, ließ ein mürrisches Knurren vernehmen. Der Lichtkreis der Lampe erfasste einen Durchgang, der in eine Art Korridor zu münden schien, aus dem bläulich schimmerndes Licht drang. Darüber erhob sich eine plastisch gestaltete Schrift aus dem Beton, die zum Teil zerfallen, aber noch immer leserlich war. "Casino", las Matt, und ihm dämmerte, welchem Zweck dieser langgezogene Raum vor vielen Jahrhunderten einmal
gedient hatte. "Das hier muss ein Spielcasino gewesen sein." "Ein Spieleasino?", fragte Ruudi. Matt nickte. "Die Leute haben hier Wetten abgeschlossen, haben gesetzt, geblufft und gespielt. Es hätte dir gefallen." "Glaub ich auch", versicherte der Keejker grinsend. Sie erreichten den Durchgang, aus dem das blaue Leuchten drang, und Matt schaltete die Lampe aus. Jetzt konnten sie sehen, dass der Korridor, der sich jenseits des Durchgangs erstreckte, in Wahrheit eine kreisrunde gläserne Röhre war, die wenige Meter unter dem Meeresspiegel durch das Wasser führte. Von oben drang glitzerndes Sonnenlicht herein, das vom Wasser gebrochen wurde, unterhalb war nur unheimliches trübes Blau zu sehen, das den Meeresboden verhüllte. Zu beiden Seiten konnte man Schwärme von Fischen erkennen, die sich im Wasser tummelten. "Das... das ist unglaublich", murmelte Aruula, und auch Matt musste zugeben, dass er etwas Derartiges no ch nie gesehen hatte. Er erinnerte sich an einen Ausflug nach Seaworld, den er als Junge unternommen hatte – aber das hier übertraf es bei weitem... Die Glasröhre war halb geflutet, sodass sie weiter waten mussten, während sich rings um sie eine faszinierende Unterwasserwelt ausbreitete. Vorsichtig wagten sie sich in die Röhre, ohne zu wissen, was sie im Inneren erwartete. Gebannt fragte sich Matt, woher diese bizarre Hinterlassenschaft der Vergangenheit stammen mochte, als sein Blick auf den Wegweiser fiel, der in der Röhre angebracht war. "Schiphol", las er leise. "Was bedeutet das?", wollte Aruula wissen. "Das bedeutet", sagte Matt und merkte, sie ein leiser Schauer seinen Rücken hinab kroch, "das wir uns auf dem Weg zum Flughafen befinden..." Langsam gingen sie weiter – und weder Matt noch einer
seiner Gefährten bemerkte, dass ihnen etwas lautlos unter Wasser folgte. * Das Gefühl von Freiheit war verschwunden, ebenso die Leichtigkeit, die ihn wie eine zarte Brise umweht hatte. Alles was Black jetzt noch fühlte, war Schmerz. Harter, zäher, unüberwindlicher Schmerz. Schmerz, der seinen Körper bis in die letzte Faser peinigte. Schmerz, in dem sein Bewusstsein sich aufzulösen drohte. Unter lautem Gebrüll warf er sich auf seinem Lager hin und her, wand sich in den Fesseln, die man ihm angelegt hatte, während sein Körper zu explodieren schien und er das Gefühl hatte, bei lebendigem Leib zu verbrennen. Sein Gesicht war eine verzerrte Fratze, sein Körper zuckte. Die Schreie, die er immer wieder von sich gab, hatten kaum noch etwas Menschliches an sich. Lumbol stand in der Zelle und schaute gelassen zu. Er kannte die verheerende Wirkung, die der Entzug der Droge hatte. Wer sie einmal genommen hatte, wurde für immer süchtig danach. Einen Entzug überlebten nur wenige, die meisten starben an den körperlichen Qualen, die er bereitete. Der Fremde jedoch hatte gezeigt, dass er über ungewöhnliche Kräfte und Ausdauer verfügte. "Neeein!", brüllte Black in seiner Qual. "Es muss aufhören! Es muss endlich aufhören! Ich halte es nicht mehr aus..." Lumbol nickte. Er war jetzt so weit. Gemessenen Schrittes trat der Zyklop an den Tisch, auf dem sich der Gefangene vor Schmerzen wand. Es war kein Mitgefühl in seinem Auge zu erkennen. "Du willst, dass es endet?", fragte er. "Ja, verdammt. Sorg dafür... dass es aufhört! Diese Schmerzen..." Er unterbrach sich, weil eine neue Schmerzwelle
seinen Körper durchlief und ihn krampfhaft zucken ließ. "Es könnte aufhören", sagte Lumbol. "Sofort. Alles was du brauchst, ist eine weitere Dosis der Droge." "Gib sie mir!", bettelte Black. "Los doch!" "Nicht so schnell. Zuerst musst du mir einige Fragen beantworten." "Was für Fragen? Was willst du wissen?" "Woher kommst du? Wer hat dich geschickt?" "Niemand... arrrgh... ich..." "Zu lügen wird dir nicht helfen", prophezeite Lumbol ungerührt. "Der Potaat muss alles erfahren. Nur dann wird er dich von deinen Qualen befreien." "Ich werde... alles sagen..." "Gehörst du zu den Erhabenen?" "Nein." Auf Lumbols Zügen breitete sich ein Grinsen aus. Er hatte es gewusst. "F ür wen arbeitest du?", wollte er wissen. "Weshalb bist du gekommen?" "Wir sind gekommen, um nach Technos zu suchen... nach den Erhabenen, wie ihr sie nennt..." "Zu welchem Zweck?" "Kontaktaufnahme", lautete die gepresste Antwort. "Habt ihr von ihnen auch die fliegende Maschine bekommen?" "Ja", bestätigte der Gefangene, und Lumbol glaubte Bescheid zu wissen. Offenbar hatte der Potaat Recht mit seinem Verdacht: Die Erhabenen standen mit einer weiteren Organisation in Verbindung, mit der sie Handel trieben und ihr hatten sie offenbar auch eine ihrer Flugmaschinen verkauft, was sie gegenüber den Zyks stets abgelehnt hatten. Jetzt waren die Fremden nach Amerdaam gekommen, um die Lage auszuspionieren. Wahrscheinlich planten sie einen Angriff... "Wie viele sind mit dir gekommen?", wollte Lumbol wissen.
"Zwei... ein Mann und eine Frau." "Nicht mehr?" "Nein." Lumbol atmete auf. Also waren die beiden, die ihnen im Kanal begegnet waren, die einzigen Verbündeten, die Black in der Stadt hatte. Er würde umgehend den Potaaten darüber in Kenntnis setzen, was die Befragung ergeben hatte – und er war sicher, dass der Potaat umgehend anordnen würde, die beiden Eindringlinge zu suchen und zur Strecke zu bringen... "Was... ist jetzt? Bekomme ich... die Droge?" "Nein", sagte Lumbol nur. Dann verließ er die Zelle. * Der Weg durch den Tunnel war lang und düster und wegen des Wassers, das Matt und seinen Begleitern bis über die Hüften reichte und das sie mühsam durchwaten mussten, ziemlich beschwerlich. Sie kamen nur langsam vorwärts, und jeder Schritt kostete Kraft – das Schauspiel jedoch, das sie umgab, war überwältigend. Im flirrenden Sonnenlicht, das in langen hellen Strahlen ins Wasser fiel, konnten sie ganze Schwärme bunter Fische beobachten, wie Matt sie nie zuvor gesehen hatte. Spezies, die es früher auf der Erde nicht gegeben hatte, aber auch solche, die nur in weiter südlich gelegenen Gewässern beheimatet gewesen waren. Durch die Verschiebung der Erdachse waren das Klima und die Flora des Planeten in Unordnung geraten, und das Gleiche traf natürlich auch auf die Tierwelt zu. Ruudi gab einen gepressten Schrei von sich, als er unweit der gläsernen Röhre einen langen dunklen Schatten gewahrte, der mit majestätischen Bewegungen durch das tiefblaue Wasser
schnitt. Matt erkannte die charakteristische Schädelform und die Dreiecksflosse sofort – es war ein Hai, noch dazu ein besonders großes Exemplar, das an die acht Meter lang sein mochte. Der riesige Fisch glitt so dicht an der Röhre entlang, dass sie ihm in die schwarzen, leblos scheinenden Augen sehen konnten – im nächsten Moment war er wieder im undurchdringlichen Blau verschwunden. Die Gefährten setzten ihren Weg durch das dämmrige Zwielicht fort, und endlich glaubte Matt in einiger Entfernung schemenhafte Formen zu erkennen, die sich aus der Tiefe schälten. Sie waren lang und walzenförmig, und auf ihren Rücken erhoben sich große dreieckige Flossen. "Noch mehr Haie", flüsterte Ruudi entsetzt. "Und noch größere!" Matt schüttelte den Kopf – er hatte lä ngst erkannt, was das für Gebilde waren, die sich dort vom dunklen Grund des Meeres erhoben. "Das sind keine Haie", sagte er gepresst. "Das sind Flugzeuge. Wenigstens waren sie das mal..." Seite an Seite standen sie aufgereiht, die verrosteten und von Seegras überwucherten Giganten der Lüfte, die einst Passagiere um den ganzen Erdball transportiert hatten. Jetzt waren sie nur noch stumme Zeugen einer Zeit, die vor rund einem halben Jahrtausend aufgehört hatte zu existieren. Die meisten Tragflächen waren abgebrochen, Schwärme von Fischen huschten zwischen den Maschinen umher. Eine seltsame Trauer befiel Matthew, als er an seinen Vater denken musste, der als Pilot gearbeitet und Linienmaschinen geflogen hatte. Was hätte er wohl dazu gesagt? Jenseits der Flugzeuge erhoben sich die gedrungenen Gebäude des Flughafenterminals, die völlig unter Wasser standen. Das also war der geheimnisvolle Schlupfwinkel der Zyks – der ehemalige Flughafen von Amsterdam. Sie gingen weiter und erreichten das Ende der gläsernen
Röhre, die einst die Abflughalle und das nahe Spielcasino miteinander verbunden hatte. Unvermittelt endete der Korridor in einer dunklen Ö ffnung, die alles Licht zu schlucken schien, und Matt zückte erneut seine Lampe. Ihr Lichtkegel schnitt in den Raum, der hinter der Ö ffnung lag, und gefolgt von Ruudi und Aruula verließ Matt die Röhre. Auf der anderen Seite führten Stufen aus dem Wasser, und dankbar nahm Matt zur Kenntnis, dass sie den weiteren Weg auf dem Trockenen würden zurücklegen können. Vorsichtig stieg er aus dem Wasser und blickte sich um. Sie befanden sich jetzt auf dem Terrain des Feindes und konnten jederzeit entdeckt werden – und nach allem, was Matt von den Zyks erfahren hatte, war mit ihnen nicht zu spaßen. Sie würden sich nicht mit einer kindischen Mutprobe oder einem Geschicklichkeitstest zufrieden geben, wenn man ungebeten ihr Reich betrat... Ruudi, zu dessen Furcht vor den Zyks sich inzwischen eine gute Portion Neugier gesellt hatte, schickte sich an, nach Matt aus dem dunklen Wasser zu steigen. In diesem Moment gescha h es. Etwas, das aus der Glasröhre kam und ihnen gefolgt zu sein schien, schoss unmittelbar unter der Wasseroberfläche heran. Aus dem Augenwinkel heraus erhaschte Matt einen Blick auf einen langen schmalen Schatten, der pfeilschnell heran zuckte und sich auf Ruudi stürzte. Der Keejker stieß einen Schrei aus, warf die Arme hoch – und verschwand im nächsten Moment unter Wasser. "Ruudi!", schrie Aruula, hob ihr Schwert und blickte sich alarmiert um – aber in der dunklen Brühe war nichts zu erkennen. "Aruula, die Lampe!", brüllte Matt und warf Aruula die Handleuchte zu, die sie geistesgegenwärtig aus der Luft griff. Er selbst zückte mit einer Hand sein Messer, während er sich mit der anderen an dem Strick entlang hangelte, der ihn mit
Ruudi verband. Er sprang zurück ins Wasser und merkte, wie etwas am anderen Ende der Schnur zerrte. Er tauchte unter. Im Lichtschein der Lampe, den Aruula auf die Oberfläche richtete und der schwach durch das Wasser fiel, konnte Matt Ruudi sehen. Der Junge wand und wehrte sich nach Kräften, während ihn etwas umgab, das nur armdick war, aber mehrere Meter lang – eine Wasserschlange! Mit geballten Fäusten schlug Ruudi auf sie ein, während sie sich immer dichter um ihn zog und seinen Brustkorb einschnürte, um ihn unter Wasser zu ertränken. Stoßweise und in großen Blasen sprudelte Luft aus seinen Lungen, während er Schreie von sich gab, die unter Wasser ungehört blieben – in wenigen Augenblicken würde es mit ihm vorbei sein. Matt biss die Zähne zusammen und riss an der Schnur, katapultierte sich auf den Jungen zu. Im nächsten Moment stieß seine Messerhand zu, traf den schlanken, gefleckten Leib des Tieres. Dunkles Blut wölkte aus der Wunde, und Matt stach ein zweites, ein drittes Mal zu, während Ruudis Kräfte bereits erlahmten. Er hörte auf, sich zu wehren, und sein Körper erschlaffte. Jeden Augenblick würde er das Bewusstsein verlieren... Matt, der ebenfalls merkte, wie seine Lungen ihn im Stich ließen – in diesem Moment hätte er einiges darum gegeben, noch die Hydriten-Implantate zu besitzen –, sammelte seine Kraft und stieß noch einmal mit der Klinge zu, durchtrennte den Körper der Schlange. Schlagartig löste sich der Würgegriff des Tiers, und in Ruudi kam wieder Leben. Matt half ihm, sich von dem immer noch windenden und ringelnden Kadaver der Schlange zu befreien, zog ihn hinauf an die Oberfläche – wo der Junge gierig die abgestandene Luft in seine Lungen sog. Auch Matt atmete keuchend, aber er gönnte sich keine Rast.
Für den Fall, dass noch mehr dieser Viecher im Wasser lauerten, mussten sie es schleunigst verlassen. Aruula reichte ihm die Hand und zog ihn zu den Stufen, die er auf allen Vieren erklomm, Ruudi im Schlepp. Erschöpft blieben sie am oberen Treppenabsatz liegen. So verharrten sie eine kurze Weile. Ruudi war der erste, der die Sprache zurück gewann. "Du... du hast mich gerettet, Maddrax", sagte er leise. "Ich hatte keine andere Wahl", erwiderte Matt mit schiefem Grinsen und deutete auf das Seil. "Wir sind aneinander gebunden, du und ich." "Du hättest das Seil einfach durchschne iden können", meinte Ruudi. "Aber du bist ins Wasser gesprungen. Du hast dein Leben riskiert, um mich zu retten." "Schon gut, Kleiner. Vergiss es, okay?" "Niemals." Ruudi schüttelte den Kopf. "Keejkers vergessen niemals, wenn man ihnen etwas Gutes tut. Ab heute sind wir Vreendjes. Jetzt und für immer. Wo du hingehst, da gehe auch ich hin. Du kannst dich auf mich verlassen." Matt schaute dem Jungen, dessen blondes Haar ihm triefnass in die blassen Züge hing, tief in die Augen. Irgendetwas sagte ihm, dass Ruudi es ernst meinte mit dem, was er sagte. "Also schön", meinte Matt – und mit einem weiteren Schnitt seines Messers durchtrennte er das Seil. "Was tust du?", fragte Rudi verblüfft. "Wenn es so ist, wie du sagst, dann brauchen wir das nicht mehr", erklärte Matt schulterzuckend. "Und jetzt lasst uns weitergehen. Wir haben schon zu viel Zeit verloren." Am rostigen Geländer zog er sich hoch, und auch Aruula und Ruudi rappelten sich wieder auf die Beine. Aruula gab Matt die Lampe zurück, und wachsam setzten sie ihre Reise ins Ungewisse fort. "Das war dumm", raunte sie Matt dabei zu. "Bei der ersten Gelegenheit wird er sich aus dem Staub machen."
"Abwarten", erwiderte Matt leise. * Unter Lumbols Kommando war die "Haaivis" erneut in See gestochen und durch die gewundenen Kanäle der Stadt ins Viertel der Keejkers gefahren – dorthin, wo die Flugmaschine bei der Landung gesichtet worden war. Wie Lumbol vermutet hatte, hatte der Potaat alles andere als erfreut auf die Neuigkeiten reagiert, die Blacks Befragung ans Licht gebracht hatte. Dass es offenbar noch eine weitere Partei gab, die mit den Erhabenen Handel trieb und der sie sogar eine ihrer fliegenden Maschinen überlassen hatten, versetzte das Oberhaupt der Zyks in helle Wut. Noch alarmierender aber war die Erkennt nis, dass dieses andere Syndikat offenbar einen Angriff plante – weshalb sonst hätten sie Spione nach Amerdaam schicken sollen? Der Potaat hatte befohlen, die anderen beiden Spione zu schnappen, und Lumbol war sich ziemlich sicher, wo er sie finden würde – bei ihrer Flugmaschine natürlich, wo sie bestimmt schon auf Blacks Rückkehr warteten. Als das Floß, auf dem die Eindringlinge mit ihrer Maschine gelandet waren, endlich in Sicht kam, war Lumbol enttäuscht – von dem Mann und der Frau war weit und breit nic hts zu sehen. Im Nachhinein verwünschte er sich dafür, dass er sie nicht getötet hatte, als er die Gelegenheit dazu gehabt hatte – aber da hatte er ja noch nicht wissen können, was für eine Gefahr sie für die Organisation und den Potaaten darstellten. Er wies den Steuermann an, lä ngsseits zum Floß zu gehen, und befahl seinen Männern, es zu entern. Ihre Donnerwaffen im Anschlag, sprangen die Männer von der "Haaivis" auf das Floß, das vom Gewicht der Flugmaschine tief ins Wasser gedrückt wurde. Mit einer Mischung aus Furcht und Neid blickte Lumbol an
dem langen gepanzerten Gebilde empor, dessen gläserne Frontscheibe das Sonnenlicht reflektierte. Die Männer umstellten die Maschine, suchten sie von allen Seiten ab, aber von den beiden Spionen fehlte jede Spur. Lumbol, der wusste, wo sich bei den Flugmaschinen der Einstieg befand, prüfte, ob dieser verschlossen war. Er musste frustriert feststellen, dass die Fremden auch daran gedacht hatten. Mit geballten Fäusten überlegte der Zyk, was zu tun war. Dem Potaaten mit einer weiteren schlechten Nachricht unter das Auge zu treten, schien ihm keine gute Idee zu sein, schließlich wollte er nicht im Aquadroom enden. Dann kam ihm der rettende Gedanke. Wo immer sich die Spione auch versteckten – irgendwann mussten sie zu ihrer Maschine zurückkehren. Was also lag näher, als sie mitzunehmen ins Quartier der Zyks? Dort brauchten sie nur noch zu warten, bis die Fremden kamen, dann würde die Falle zuschnappen... Der Einäugige grinste selbstzufrieden. Die Flugmaschine als Köder zu benutzen schien ihm eine geniale Idee zu sein, und er war sicher, dass der Potaat ihn dazu beglückwünschen würde. Er wies seine Leute an, die Leinen des Floßes zu lösen und es mit der "Haaivis" ins Schlepp zu nehmen. * Die Räume und Korridore des ehemaligen Flughafengebäudes waren feucht und von Algen überwuchert. Glitschiges Geflecht überzog Boden und Wände, hatte die wenigen Möbelstücke bedeckt, die es hier unten noch gab. Das meiste war zerstört oder geplündert worden. Matt, Aruula und Ruudi passierten eine große, lang gestreckte Halle, in der früher Passagiere auf ihren Abflug gewartet haben mochten – jetzt war alles rostig und zerfallen
und unter Schlinggewächsen begraben. Relikte einer Zeit, die nicht mehr wiederkommen würde. Im Licht der Lampe kämpften sich die Gefährten weiter voran. Matt war nicht wohl dabei, die Lampe zu benutzen, aber sie brauchten sie, wenn sie einen Weg durch dieses düstere Labyrinth finden wollten. Fieberhaft sah er sich nach einer Möglichkeit um, nach oben zu kommen und fand sie schließlich in einem Schacht, der in die Abflughalle mündete. Vor vielen hundert Jahren hatte ein Aufzug in die Höhe geführt, jetzt erinnerten nur noch einige rostige Drahtseile, die in der Mitte des Schachtes hingen, an einen Lift. Die neuen Herren der Anlage hatten eine Wendeltreppe aus morschem Holz anbringen lassen, die sich an den Schachtwänden entlang nach oben schraubte. "Dort hinauf?", fragte Aruula grimmig. "Sieht so aus", bestätigte Matt. Ohne noch ein Wort zu verlieren, schlich die Barbarin an ihm vorbei und stieg mit katzenhaften Bewegungen die Stufen empor, ihr Schwert beidhändig erhoben. Wenn dort oben Gefahr lauerte, wollte sie die erste sein, die darauf traf. Matt hatte es aufgegeben, Aruula beschützen zu wollen. Zum einen konnte die Krie gerin sehr gut auf sich selbst auf passen, zum anderen kam sie in dieser befremdlichen Welt oft besser zurecht als er. Und wenn dort oben tatsächlich Gefahr lauerte, würde Aruula sie mit ihren besonderen Fähigkeiten noch vor ihm bemerken. Ruudi zog sein Messer, das er zurückbekommen hatte, und auch Matt zückte vorsichtshalber seinen Driller. Dann folgten sie Aruula die Stufen hinauf, die unter ihren Tritten leise knarrten. Etage für Etage ging es hinauf, und Matt fragte sich, ob sie noch immer unter dem Meeresspiegel waren. Von oben drang schwaches Licht herab. Er schaltete die Lampe ab und steckte sie zurück in den Tornister.
Endlich erreichten sie das Ende der Treppe – und der grelle Warnschrei Aruulas ließ pures Adrenalin in Matthew Drax' Adern schießen. Alles ging blitzschnell. Am oberen Ende der Treppe tauchte ein dunkler Schatten auf, den Matt im nächsten Moment als feindlichen Krieger erkannte. Der Mann trug einen Brustpanzer aus Fischschuppen und einen bizarr geformten Helm aus dem Kieferknochen eines Raubfischs. Bewaffnet war er mit einem mit Widerhaken versehenen Speer, den er Aruula kurzerhand in die Brust rammen wollte. Die Kriegerin war schneller. Ob es an ihren katzenhaften Reflexen lag oder daran, dass sie den Angriff des Wächters schon erahnt hatte – ihre Klinge zuckte hoch und wehrte den mörderisehen Stoß ab. Der Wächter ließ einen zornigen Schrei vernehmen und wollte ein zweites Mal zustoßen, doch erneut war Aruula schneller. Ihre Klinge schnitt flirrend durch die Luft und quer über den Hals des Kämpfers. Blut spritzte und besudelte Aruula. Im nächsten Moment kippte der Krieger nach vorn, durchbrach mit seinem Gewicht das morsche Geländer und stürzte kopfüber in die dunkle Tiefe, die ihn verschlang. Aruula sah sich nach Maddrax und Ruudi um – als über ihr ein weiterer Wächter auftauchte. Matt riss seinen Driller in Anschlag, kam jedoch nicht zum Feuern – denn blitzschnell hatte Ruudi seine Klinge geworfen, die den Zyk mitten in die Stirn traf. Die Tiefe verschluckte auch ihn. Sie stürmten die Treppe, warfen einen Blick in den Korridor, der dahinter lag und zuckten zurück, als ihnen lä rmendes Feuer entgegen schlug. Mündungsflammen blitzten in der spärlichen Beleuchtung, und Matt, Aruula und Ruudi zogen sich in den Aufzugschacht
zurück und verschanzten sich zu beiden Seiten des Durchgangs. Wieder wurde draußen gefeuert. Eine Garbe gut gezielter Projektile stach in die Ö ffnung des Liftschachts. Die Gefährten zuckten zusammen, als ihnen die Querschläger um die Ohren flogen. Dann setzte eine Feuerpause ein, und Matt erwiderte den Beschuss. Mehrmals zog er den Abzug seiner Waffe durch, zielte in die Richtung, in der er das Mündungsfeuer bemerkt hatte. Die winzigen Explosivgeschosse zerrissen die Stille, und ein heiserer Schrei verkündete, dass zumindest eines der Projektile sein Ziel gefunden hatte. Dann waren hektische Schritte zu hören. "Hinterher!" Matt stürmte in gebückter Haltung hinaus und suchte hinter einem Stapel rostiger Metallkisten Deckung. Im schwachen Schimmer, der durch die schmalen Oberlichter fiel, sah er den Mann, den er getroffen hatte – er lag reglos am Boden, seine Waffe neben ihm. Von dem anderen Schützen, der offenbar getürmt war, war weit und breit nichts mehr zu sehen. "Verdammt", zischte Aruula, "er ist uns entwischt. Er wird die Zyks alarmieren." "Nach der Schießerei dürfte sowieso auch der Letzte mitbekommen haben, dass wir hier sind", erwiderte Matt gepresst. "Jetzt kommt alles darauf an, schnell zu sein." Er verließ seine Deckung und eilte hinüber zu dem Gefallenen, las die Waffe vom Boden auf. Wie er vermutet hatte, handelte es sich tatsächlich um eine Maschinenpistole aus Techno-Fabrikation. Was es damit auf sich hatte, würden sie später klären müssen. Die Rettung von Mr. Black hatte jetzt Vorrang. Matt reichte die MPi an Ruud i weiter. "Kannst du damit umgehen?", fragte er. "Eine Donnerwaffe", sagte Ruudi verblüfft.
"Genau, mein Junge. Du kannst dir damit zwar keine Butter aufs Brot schmieren, aber wenn's hart auf hart kommt, bist du damit besser dran als mit einem Messer..." * Irgendwann hatten die Schmerzen aufgehört. Mr. Black war es vorgekommen, als hätten sie sich in ein großes dunkles Loch zurückgezogen, wie ein lauerndes Monster, das nur darauf wartete, erneut hervorzubrechen. Und der Anführer der Running Men musste sich eingestehen, dass er Angst davor hatte. Noch immer konnte er die Nachwirkungen spüren. Seine Knie waren weich und seine Hände zitterten, von dem unentwegten Hämmern in seinem Schädel ganz zu schweigen. Das Schlimmste jedoch schien er hinter sich zu haben. Oder? Irgendwann war er zu sich gekommen, hatte sich auf einem Tisch liegend gefunden, an Hand- und Fußgelenken gefesselt. An den Schmerz konnte er sich überdeutlich erinnern – alles andere jedoch, was in den letzten Stunden geschehen war, lag wie unter dichtem Nebel verborgen. Mr. Black wusste noch, dass er dem Zyklopen an Bord seines Schiffes gefolgt war und dass er sich dort in Widersprüche verstrickt hatte. Danach wurde alles undeutlich, und alles, woran er sich noch entsann, waren verschwommene Eindrücke, in denen seltsamerweise immer wieder fünf Frauen auftauchten, die nichts am Leibe trugen außer ihrem langem schwarzen Haar und die ihm einfach nicht aus dem Kopf gehen wollten... Der Gedanke, dass er sich nicht erinnern konnte, beunruhigte ihn. Ganz offensichtlich hatte man ihm eine Droge verabreicht, um ihn außer Gefecht zu setzen. Was, wenn er unter ihrem Einfluss geredet hatte?
Auch daran konnte sich Mr. Black nicht wirklich entsinnen, aber ein Gefühl sagte ihm, dass es so gewesen war. Wie viel er verraten hatte, vermochte er nicht zu sagen, aber infolge der Schmerzen zweifelte nicht einmal er daran, dass sich seine Zunge gelöst hatte. Er wusste nicht, wie lange er wach in seiner Zelle gelegen hatte, als er Besuch bekam. Es waren zwei Männer, von denen er zumindest einen kannte – es war der Zyklop, dem er auf sein Schiff gefolgt war. Der andere Mann kam ihm entfernt bekannt vor, obwohl er sich nicht wirklich erinnern konnte, ihn schon einmal gesehen zu haben. Es war ein fettleibiger, feister Kerl in einer schillernden Robe, dessen Schädel bleich und haarlos war. Auch er besaß nur ein Auge, das aus der Mitte seiner fliehenden Stirn blickte, was nahe legte, dass er zur gleichen geheimnisvollen Rasse gehörte. "Du bist also wach?", erkundigte sich der Dicke. "Wie du siehst", erwiderte Black – zumindest den Translator hatten sie ihm gelassen. "Du weißt nicht, wo du bist, nicht wahr? Und du weißt auch nicht, wer ich bin." "Nein", erwiderte Black, "obwohl du ohne jeden Zweifel der fetteste Typ bist, den ich je gesehen habe." Der Dicke wandte sich seinem Untergebenen zu und zischte einige ärgerliche Worte, worauf der andere nur mit den Schultern zuckte. "Ich bin der Potaat", stellte der Feiste sich schließlich vor, wobei seine Mundwinkel zornig zuckten. "Ich bin der Beherrscher des Zyk-Syndikats. Und ich durchschaue deine Pläne." "Was für Pläne?", stellte sich Mr. Black unwissend, während er sich bange fragte, was er in seinem Zustand alles ausgeplaudert hatte. "Ich weiß, dass du fü r eine andere Organisation arbeitest.
Und ich weiß auch, dass ihr nach den Erhabenen sucht, um mit ihnen in Kontakt zu treten." "Was du nicht sagst." "Und das ist noch nicht alles", versicherte der Potaat feixend. "Ich weiß auch, weshalb du mit deinen Gefährten nach Amerdaam gekommen bist." "Meine Gefährten", hakte Mr. Black sofort nach. "Wo sind sie?" "Keine Sorge. Sie werden sehr bald bei dir sein und gemeinsam mit dir sterben." Black atmete innerlich auf. Also hatten sie Commander Drax und Aruula noch nicht geschnappt... "Ich kenne eure Pläne", sagte der Potaat. "Ihr seid nach Amerdaam gekommen, um die Zyks auszuspionieren. Von eurem Syndikat habt ihr den Auftrag erhalten, einen Krieg gegen uns vorzubereiten und uns bei den Erhabenen auszustechen. Aber daraus wird nichts werden. Nur wir beliefern die Erhabenen mit der Droge, die wir von weit her beziehen und unter großen Gefahren gewinnen. Nun, da ich weiß, was ihr vorhabt, werde ich eure Plä ne zu vereiteln wissen." Für Mr. Black stand fest, dass der Kerl eine Schraube locker hatte. Offenbar litt der Typ unter Verfolgungswahn, und Black überlegte, wie das wirre Zeug, das er faselte, mit dem zusammenhängen mochte, was er herausgefunden hatte, ehe er sich ins Reich der Träume verabschiedet hatte. Die Lösung lag auf der Hand. Die Zyks, wie sie sich nannten – offenbar eine Abkürzung für "Zyklopen" – waren Drogenhändler. Stuart und Ncombe hatten berichtet, dass der Zyklop, auf den sie getroffen waren, eine Essenz, die sich als Droge missbrauchen ließ, aus Würmern gewonnen hatte. Hatte der Dicke nicht gesagt, dass der Stoff von "weit her" geliefert wurde? Das schien der entscheidende Hinweis zu sein.
Nicht nur, dass die Zyks das Zeug benutzten, um unliebsame Gegner ruhig zu stellen und sie zum Sprechen zu bringen – sie trieben auch regen Handel damit. Unter anderem gehörte eine Bunker-Kolonie zu ihren Kunden, wenngleich Mr. Black auch nur vermuten konnte, weshalb. Wollten die Technos für einige Stunden der tristen Bunkerwelt entfliehen? Oder hing es damit zusammen, dass die Droge, wie Jed und Majela berichtet hatten, bewusstseinserweiternde Wirkung besaß? Wie auch immer – Black wusste jetzt, woran er war. Was auch immer er unter den Qualen des Entzugs gestanden hatte, hatte den Potaaten offenbar dazu veranlasst, ihn und die anderen für Spione eines konkurrierenden Syndikats zu halten. Der Widerstandskämpfer lachte innerlich. Wenn es das war, was dieser Kerl denken wollte, sollte er ruhig – wenigstens würde er dann keine weiteren Fragen mehr stellen. "Sieht so aus, als hätte ich verspielt", sagte Mr. Black leise und gab sich zerknirscht. "Du hast unseren Plan durchschaut." "Das habe ich", erwiderte der Potaat und nickte, "und damit hast du deinen Zweck erfüllt. Deine Freunde werden auch bald hier sein und im Aquadroom einen grausamen Tod sterben." "Was hast du vor?", zischte Black. Der andere grinste nur. "Wie sagen die Leute in dieser Stadt so schön? Lass dich überraschen..." * Je weiter sie nach oben kamen, desto heller wurde es. Schließlich gelangten Matt, Aruula und Ruudi in einen breiten Gang, durch dessen schmutzige, von Salz verkrustete Fenster fahles Licht fiel – sie waren endlich wieder über der Wasseroberfläche. Auf Wachen der Zyks waren sie seit der Konfrontation am Liftschacht nicht mehr gestoßen. Alles war verdächtig ruhig,
was Matt nicht recht gefallen wollte. Lautlos und sich gegenseitig sichernd huschten sie den Gang hinab. Vor einem der Fenster blieb Ruudi plötzlich stehen. Das ist er", sagte er leise. "Der Turm." Matt hielt inne und warf ebenfalls einen Blick hinaus. In einiger Entfernung konnte er einen schlanken Turm aus Beton erkennen, der sich hoch über das Wasser erhob. Im oberen Teil verbreiterte er sich und besaß große Glasfenster, die nach allen Seiten blickten. Es war der ehemalige Tower des Flughafens, der als einziges Gebäude des Areals groß genug war, um sich ganz aus dem Wasser zu erheben. Rings um den Turm waren schwimmende, aus Wrackteilen und Holzplanken bestehende Inseln verzurrt, wie es sie auch in der Stadt gab. Jenseits davon sah Matt die gedrungenen Formen einiger länglicher Boote, die jenem glichen, das sie in den Kanälen gesehen hatten. "Die Flotte der Zyks", kommentierte Ruudi. "Sie ist überall gefürchtet." "Verstehe." Matt nickte. "Und du bist sicher, dass das Oberhaupt der Zyks in diesem Turm residiert?" "Ganz sicher." "Dann ist er unser Ziel. Selbst wenn sich Mr. Black nicht dort befindet – dieser Potato wird wissen, wo er ist." "Potaat", verbesserte Ruudi. "Wie auch immer", knurrte Matt, und sie schlichen weiter. An den Korridor schloss sich ein schmales Treppenhaus an, das weiter hinauf führte. Matt ging voraus, sondierte das Terrain und bedeutete Aruula und Ruudi, ihm zu folgen, als er sah, dass die Luft rein war. Erneut durchquerten sie einen langen, von Unrat übersäten Gang, der unvermittelt in einen großen, von Wasser überfluteten Raum mündete, der von oben wie ein riesiger Pool aussah. Ein wenig vertrauenerweckend aussehender Steg aus
Metallgittern, der an Seilen von der Decke hing, führte hinüber. Behutsam setzte Matt seinen Fuß darauf und prüfte, ob das baufällige Ding ihn trug. Es krächzte und ächzte verdächtig, aber der Steg hielt seinem Gewicht stand. Auf der anderen Seite der Halle waren durch die hohen Fenster die charakteristischen Formen des Towers zu sehen. Ob es Matt gefiel oder nicht – sie mussten hinüber... Vorsichtig ging er los, dicht gefolgt von Aruula, die wie immer nicht von seiner Seite zu bewegen war, wenn es brenzlig wurde. Ruudi folgte ihnen in einigem Abstand. Sowohl Matt als auch Aruula hatten ihre Waffen in der Hand, bereit, sich sofort zur Wehr zu setzen, falls sie angegriffen würden – doch gegen das, was nun geschah, waren Waffen nutzlos. Es ging schnell – so schnell, dass keiner von beiden reagieren und es verhindern konnte. Mit hässlichem Knirschen gab eines der Seile nach, die die Brückenkonstruktion hielten, und unmittelbar vor ihnen teilte sich der schmale Steg. Matt kam noch dazu, eine Verwünschung auszustoßen. Einen Lidschlag später gab der Teil des Stegs, auf dem sie standen, ihrem Gewicht nach und klappte in steilem Winkel in die Tiefe. In einem schnellen Reflex fuhr Ruudi, der ein Stück hinter ihnen war, herum und sprang. Er schaffte es, sich in den Korridor zu retten. Matt und Aruula jedoch hatten keine Chance. Der herunterfallende Steg riss sie in die Tiefe. Hart schlug er auf das Wasser, dass es nach allen Seiten spritzte. Matt und Aruula folgten ihm nur wenige Augenblicke später. Die Ausrüstung, die sie trugen, zog sie sofort nach unten... *
"Was habe ich dir gesagt? Deine Freunde sind zu uns gekommen, wie ich es gepla nt habe. Und nun werden sie vor deinen Augen einen grausamen Tod sterben." Die Stimme des Potaaten triefte vor Schadenfreude, während Mr. Black mit wachsendem Entsetzen durch die dicke Glasscheibe starrte, auf deren anderer Seite sich ein grausiges Schauspiel vollzog. Es war das Aquadroom. Eine Halle, die mit Wasser geflutet war und durch deren runde, große Fenster man ins Innere blicken konnte. Vor den Fenstern waren Sitzreihen errichtet worden, auf denen die Zyks saßen und vor Begeisterung und Blutdurst schrien. An der Stirnseite der Halle, dort, wo sich das größte Fenster befand, war die Loge des Potaaten errichtet worden, von der aus man den besten Blick auf das Becken hatte. Gebannt schaute Black auf den Mann und die Frau, die unvermittelt in das Becken gestürzt waren und sich gerade ihrer Ausrüstung entledigten, um nicht davon auf den Grund gezogen zu werden. Es waren Matthew Drax und Aruula. "Du mieser, fetter Kerl", fuhr Black den Potaaten an. "Lass sie sofort frei, sie haben dir nichts getan!" "Weil ich klug genug war, Maßnahmen zur Abwehr zu treffen", versetzte der Zyklop. "Glaubst du im Ernst, ich würde tatenlos zusehen, wie ein fremdes Syndikat meine Stadt ausspioniert? Ihr werdet alle sterben. Zuerst deine Freunde, Black, und dann du selbst. Das Aquadroom kennt keine Gnade, wie du gleich sehen wirst..." * Matt traute seinen Augen nicht. Kaum hatte er sich des Tornisters entledigt, dessen Gewicht ihn auf den Grund des Beckens gezogen hatte, fiel sein Blick auf die kreisrunden Fenster. Dahinter gewahrte er schemenhaft
zahllose Gesichter, die herein starrten – und ihm wurde klar, dass die Brücke nicht aus Zufall eingestürzt war. Sie waren blindlings in eine Falle getappt... Mit ausgreifenden Schwimmzügen brachte er sich zurück an die Oberfläche. Aruula tauchte neben ihm auf. "Maddrax!",rief sie. "Wir werden beobachtet! Ich fühle viele Geister, sie sind ganz nahe..." "Was du nicht sagst", versetzte Matt. "Ich würde sagen, wir sind die Hauptattraktion, was immer das hier sein mag." "Wo ist Ruudi?", fragte Aruula, während sie sich schwimmend über Wasser hielt. Ihr Schwert hatte sie auf dem Beckengrund zurücklassen müssen. Matt blickte hinauf zur Brücke, die inzwischen wieder in ihre ursprüngliche Position gebracht worden und damit von unten unerreichbar war. Von dem jungen Keejker fehlte jede Spur. "Verschwunden", sagte er gepresst. "Ich wusste es!" Aruula schlug wütend auf das Wasser. "Ich wusste, dass diese Taratze uns bei der ersten Gelegenheit im Stich lässt." Matt hatte keine Zeit, sich darüber zu ärgern – denn in diesem Moment sah er etwas, das seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Unweit von ihnen tauchte plötzlich eine gefährlich aussehende Dreiecksflosse aus dem Wasser auf, die genau auf sie zu hielt. "Ach du Scheiße!", ächzte er. "Schwimm, Aruula! Schwimm um dein Leben!" Er warf sich herum und wollte loskraulen – nur um zu sehen, dass sich aus der anderen Richtung eine zweite Flosse näherte. Haie! Die Zyks hetzten Haie auf sie und machten sich offenbar noch einen Spaß daraus zuzusehen, wie sie zerfetzt wurden. Was den falschen Göttern von Rooma die Echsen in der Arena
gewesen waren, das schienen den Zyks die Haie in diesem Becken zu sein. Mit den Füßen schlagend, um sich an der Oberfläche zu halten, griff er nach seinem Driller – doch noch ehe er zum Abdrücken kam, waren die beiden Biester bereits untergetaucht und damit für ihn außer Reichweite. Gerade so, als hätte sie jemand gewarnt... "Untertauchen, Aruula", wies Matt seine Gefährtin an – wenigstens sahen sie ihre Gegner dann kommen und waren ihnen nicht völlig ausgeliefert. Er holte Luft und tauchte kopfüber hinab. Aruula folgte ihm. Das Becken war an die zehn Meter tief. Das Salzwasser brannte in seinen Augen, dennoch hielt Matt sie weit geöffnet. Plötzlich stach unmittelbar vor ihm eines der großen Tiere heran. Es war eine furchterregende Bestie, an die fü nf Meter lang und mit einem breiten Rachen, den sie weit aufriss, während sie mit mächtigen Schwanzschlägen heran peitschte. Matt ließ den Driller fallen, der unter Wasser nutzlos war. Die Druckwelle der Explosion hätte ihnen bestenfalls die Trommelfelle zerfetzt – oder das Bewusstsein geraubt. Aus dem Augenwinkel sah er, wie der zweite Hai Aruula attackierte, und es gab nichts, was er dagegen tun konnte. Der gefräßige Schlund der Bestie schoss auf ihn zu. Matt blickte in schwarze, seelenlose Augen, sah, wie sich die mörderisch spitzen Zähne des Untiers nach außen stülpten, um nach ihm zu schnappen, Knochen und Muskeln zwischen ihren Kiefern zu zermahlen und ihn nicht wieder loszulassen. Im buchstäblich letzten Moment warf er sich zur Seite und schwamm, so schnell er es vermochte – und der wuchtige, torpedoförmige Körper des Tieres schoss nur Zentimeter an ihm vorbei. Der Sog erfasste Matt, und der mächtige Schwanz des Tieres, der hin und her pendelte, streifte ihn. Er trudelte im Wasser davon, wusste einen Augenblick lang nicht mehr, wo
oben oder unten war. Seine Lungen meldeten sich brennend, und er wusste, dass er hinauf musste, zurück an die Oberfläche. Einen alten Trick benutzend, orientierte er sich an den aufsteigenden Luftblasen und schwamm empor. Er durchstieß die Oberfläche und sog gierig Luft in seine Lungen. Von Aruula war nichts zu sehen. "Aruula!", brüllte Matt aus Leibeskräften. "Aruula...!" Er bekam keine Antwort – dafür sah er durch das dunkle Wasser erneut das keilförmige Haupt der Bestie heran schießen. Er hielt die Luft an und tauchte unter, griff dabei nach seinem Messer. Es war fast lächerlich, damit gegen eine Kreatur antreten zu wollen, die fünfzehn Mal so groß und so schwer war wie er und deren einziger Daseinszweck aus Töten und Fressen bestand. Er sah gerade noch, wie der Hai seine Richtung änderte und auf ihn zu kam dann war die Bestie auch schon heran. Diesmal hatte Matt keine Zeit mehr, um ihr auszuweichen. Sein einziges Glück bestand darin, dass der Hai seinen Angriff etwas zu tief ansetzte. Die Kiefer des Fischs klappten mit Urgewalt zu, bekamen jedoch nichts zu packen – Matt klammerte sich von oben an die spitz zulaufende Schnauze des Untiers, das sich in seinem Griff wie wild gebärdete. Matt setzte sich verbissen zur Wehr, auch wenn er wusste, dass sein Kampf kaum Aussicht auf Erfolg hatte. Der pure Überlebensinstinkt ergriff von ihm Besitz und sorgte dafür, dass er wie von Sinnen auf die Bestie einstach – die Klinge vermochte ihre dicke hornige Haut jedoch nicht zu durchdringen. Als der Hai einsah, dass Matt sich nicht abschütteln ließ, änderte er seine Taktik. Mit Urgewalt schwang er seinen Schweif, tauchte kopfüber hinab zum Grund. Matt spürte den Druck auf den Ohren, hatte das Gefühl, sein Schädel würde zerspringen. Im nächsten Moment traf er auf
etwas Hartes. Der Boden des Beckens! Sie hatten den Grund erreicht, und der Hai, aufs Töten versessen, schien es jetzt darauf abgesehen zu haben, Matt solange unten zu halten, bis er jämmerlich ertrank. Mit seiner Schnauze heftete er sein Opfer am Grund des Beckens fest. Der letzte klare Gedanke, den Matt noch fassen konnte, ehe nackte Panik von ihm Besitz ergriff, war der, dass ein solches Verhalten für einen Hai völlig untypisch war. Dann wurde das Brennen in seinen Lungen unerträglich. Er wollte noch einmal zustechen, das Messer entglitt jedoch seinem kraftlosen Griff und trudelte zu Boden. Jetzt war er der Bestie ausgeliefert, und es trennten ihn nur noch Sekunden vo n einem grausamen und sinnlosen Tod. Durch die Fenster, die ringsum schemenhaft zu erkennen waren, glaubte er zahllose Gesichter zu sehen, die lautlose Schreie ausstießen. Dann schwanden ihm die Sinne. Ein dichter Schleier schien rings um ihn zu fallen, während der Hai ihn unnachgiebig unten hielt. Ehe sein Blick verschwamm, bemerkte er noch einen weiteren keilförmiger Schatten, der aus der Dunkelheit heran schoss – der zweite Hai, der Aruula getötet hatte und jetzt kam, um auch ihm den Rest zu geben. So also endete es... Matt irrte sich. Denn der zweite Hai interessierte sich nicht für ihn, sondern nur für seinen Artgenossen. Und anstatt sich mit seinem weit aufgerissenen Rachen auf das wehrlose Opfer zu stürzen, versenkte er seine Zähne tief in die ungeschützte Flanke des anderen Hais. Das Tier zuckte zusammen, eine dunkle Blutwolke quoll aus der Wunde. Im nächsten Moment war Matthew frei. Nur noch halb bei Besinnung, übernahmen seine Instinkte die Kontrolle, sorgte dafür, dass er mit matten Arm- und
Beinschlägen nach oben ruderte, der Oberfläche entgegen, die unendlich weit entfernt schien – während sich die beiden Haie unter ihm attackierten und sich gegenseitig zerfleischten. Ein Strudel von dunklem Blut stieg empor und begleitete Matt auf den letzten Metern. Dann packte ihn eine Hand und zog ihn hinauf. Die Luft, die er gierig und keuchend in seine Lungen sog, brachte das Leben zu ihm zurück. Er schlug die Augen auf, und zu seiner grenzenlosen Überraschung sah er Aruula vor sich, deren schwarze Mähne durchnässt und glatt über ihr Gesicht herabhing. "Aruula! Was...? Wie...?" "Nicht sprechen, atmen", wies sie ihn an. "Dieser Fisch war kurz davor, mich zu fressen, als ich bemerkte, das er gelenkt wurde." "Was meinst du...?" Matt war kaum in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. "Erinnerst du dich an Farank? Ich konnte die Bilder in seinem Geist fü hlen. Genauso war es hier. Es waren Befehle, die an den Hai gegeben wurden. Also hab ich mich konzentriert und die Kontrolle übernommen..." "... und ihn auf seinen Artgenossen gehetzt", keuchte Matt. "Das war genial, Aruula. Ich..." Weiter kam er nicht – denn rings um sie stiegen plötzlich blubbernd Luftblasen in die Höhe. Im Wasser entstand ein starker Sog. "Was geschieht jetzt?", fragte Aruula. "Der Pegel sinkt", erkannte Matthew. Sie lassen das Wasser ab..." Der Sog verstärkte sich, sodass die beiden dagegen anschwimmen mussten, was Matt nach den überstandenen Strapazen schwer fiel. An mehreren Stellen im Becken entstanden Strudel, durch die das Wasser zu verschwinden schien – der Wasserstand des Beckens sank mit
atemberaubender Geschwindigkeit. "Nimm meine Hand!", rief Aruula, und sie und Matt klammerten sich aneinander, als die Strömung sie beide erfasste. Einer der Strudel zog sie in immer schnelleren Drehunge n hinab zum Grund des Beckens. Ein Metallgitter bedeckte einen großen Abfluss, von denen es mehrere im Becken gab. Unsanft wurden Matt und Aruula dagegen gepresst – dann war das Becken auch schon geleert. Das Tosen und Rauschen, das eben noch die Halle erfüllt hatte, verstummte jäh. Matt, der erschöpft auf dem Gitter lag, kämpfte sich keuchend hoch. Die Halle war leer, nur hier und dort standen noch Pfützen auf dem schmutzigen Boden. In einer Ecke lagen die noch zuckenden Kadaver der beiden Haie, die ihre Kiefer ineinander verbissen hatten. Auch Aruulas Schwert, der Driller und der Tornister waren zurückgeblieben. Durch die runden Fenster der Halle starrten hassverzerrte Gesichter herein. Noch ehe Matt und seine Gefährtin zu Atem gekommen waren, ertönten oben auf der Brücke stampfende Schritte. Ein Trupp bewaffneter Krieger erschien, und wie zuvor senkte sich der Steg herab – diesmal allerdings bedeutend langsamer. Im Laufschritt kamen die Kämpfer, die Rüstungen und Helme aus Fischknochen trugen, die Schräge herab. Aruula widerstand der Versuchung, zu ihrem Schwert zu laufen und es an sich zu nehmen – sie wusste, dass es sinnlos gewesen wäre. Gefasst blieben Matt und sie auf dem Gitter stehen und warteten, bis die Männer bei ihnen waren. Ihr Anführer war ein Mutant – ein Zyklop, der nur ein Auge besaß. In diesem Moment wurde Matt klar, was die Abkürzung "Zyk" zu bedeuten hatte, und er musste unwillkürlich an das denken, was Aiko, Honeybutt und Pieroo in der Taiga widerfahren war. Der Zyklop trat auf sie zu, ein hartes, sadistisches Grinsen
im Gesicht. Er knurrte einen knappen Befehl, worauf die Bewaffneten sich auf Matt und Aruula stürzten. "Lasst uns in Ruhe!", rief Matt laut und wollte sich mit letzter Kraft zur Wehr setzen, als ihn etwas hart und heftig am Hinterkopf traf. Greller Schmerz durchzuckte sein Bewusstsein, und ihm wurde schwarz vor Augen. Bewusstlos sank er zusammen. * Es war ein böses Erwachen. Plötzlich konnte Matt das helle Sonnenlicht fühlen, das durch seine geschlossenen Lider sengte, und er spürte seine ausgedörrte Kehle, die wie Feuer brannte. Zaghaft schlug er die Augen auf, ohne zu wissen, wie viel Zeit vergangen war. In seinem Nacken spürte er verkrustetes Blut, das von dem Schlag herrührte, den er abbekommen hatte. Ein paar Stunden mussten also verstrichen sein... Als er blinzelnd in die Sonne blickte, stellte er fest, dass es früher Morgen war. Er hatte sich geirrt – er war die ganze Nacht über ohne Bewusstsein gewesen. Langsam kehrten die Lebensgeister in ihn zurück, und er registrierte, dass er an einen hölzernen Pfahl gefesselt war. Er befand sich unter freiem Himmel, auf einer schwimmenden Plattform, gegen deren Unterseite mit dröger Gleichmäßigkeit die See brandete. Eine leichte Brise umwehte ihn, aber sie stank nach Fäulnis und Verderben. Matt schaute sich um und stellte fest, dass er nicht allein war. Zu seiner Rechten ragte ein weiterer Pfahl auf, an den Aruula gefesselt worden war. Neben ihr, ebenfalls gut verschnürt, stand Mr. Black. So erleichtert Matt darüber war, seine Freunde lebend wieder zu sehen – die Begleitumstände waren alles andere als ermutigend. Ringsum wurde die Plattform von bewaffneten Kriegern
gesäumt, die grimmig herüber blickten. Unter ihnen sah Matt auch einige Zyklopen, die die übrigen um fast einen Kopf überragten. Wenn man von der Größe auf den Rang schloss, mussten sie die Anführer des Haufens sein. Hinter ihnen erhob sich der Tower des alten Flughafens. Und dazwischen – Matt traute seinen Augen kaum – erhoben sich die gedrungenen Formen des TFGs, dessen gepanzerte Außenhaut in der Morgensonne schimmerte. "Guten Morgen", grüßte Mr. Black in seiner gewohnt freundlich-trockenen Art herüber. "Ausgeschlafen, Mr. Drax?" "Es geht", gab Matt zurück. "Wenn ich mir das hier ansehe, bin ich im Zweifel, ob es eine gute Idee war, aufzuwachen. Was haben die mit uns vor?" "Nichts Gutes, das steht fest. Man hält uns für Spione eines konkurrierenden Drogensyndikats. Damit dürfte unser Schicksal so gut wie besiegelt sein." Matt nickte. Er hatte also Recht gehabt mit seinen Vermutungen. Die Zyks waren Verbrecher, die in Amerdaam ein Drogenkartell aufgezogen hatten – wie sie allerdings dazu kamen, sie für Spione der Konkurrenz zu halten, war ihm nicht ganz klar. Mr. Black würde es ihm erzählen müssen – vorausgesetzt, sie bekamen eine Chance dazu... "Haben Sie gesehen, was das für Typen sind?", fragte Black herüber. "Sie meinen die Zyklopen?" Black nickte. "Wenn Sie mich fragen, sind das die gleichen Kerle, mit denen es Stuart und Ncombe in der Taiga zu tun hatten. Die Droge, mit der sie handeln, ist ein hochgiftiges Serum. Wenn man das Zeug in seinen Adern hat, ist einem die ganze Welt egal, und man würde so ziemlich alles dafür tun, um eine neue Spritze zu bekommen." "Woher wissen Sie das?", fragte Matt. "Ich weiß es einfach", erwiderte Black düster. "Und das Beste ist, dass diese Kerle mit Bunkerleuten in Verbindung
stehen. Sie verkaufen ihnen das Zeug und erhalten dafür Schusswaffen und andere vergleichsweise primitive Technik." "Ich dachte es mir", gab Matt zurück – allmählich ergab alles einen Sinn. "Und wofür brauchen es die Technos?" "Um zu lauschen", sagte Aruula voll Überzeugung. "Was?" "Zuerst habe ich es bei Farank gespürt. Dann im Haifischbecken. Die Zyks haben die Fähigkeit zu lauschen, wenn auch nur schwach. Sie stammt von der Droge, die sie zu sich nehmen. Ich kann es in ihren Gedanken sehen." "Du meinst... die Droge verleiht telepathische Kräfte?", fragte Matt erstaunt. "Du erinnerst dich, dass ich auf dem Weg durch die Taiga die Vision von diesem Auge hatte? Ich bin jetzt sicher, dass sie von dem Zyklopen kam, der mit Jed und Majela in dem Tal gefangen war. Er muss über mächtige Geisteskräfte verfügt haben – aber er war zu gleichgültig geworden, um sie einzusetzen." Eine erstaunliche Schlussfolgerung und absolut logisch. Aruula überraschte Matt immer wieder. "Ich hatte mir auch schon so was gedacht", stimmte Black zu. "Offenbar haben es die Technos auf die bewusstseinserweiternde Wirkung der Droge abgesehen, anders kann ich es mir nicht..." "Schweigt!" Der schneidende Ruf ließ Black verstummen. Die Gefangenen blickten auf und sahen einen der Zyklopen auf sich zukommen, der wie die Krieger gekleidet war. Eine Eskorte von Harpunenträgern folgte ihm, in deren Mitte ein fettleibiger Mann schritt, der ebenfalls nur ein Auge besaß. "Der Potaat", raunte Mr. Black seinen Mitgefangenen zu. "Seht euch vor..." Matt atmete tief durch. Das also war der Potaat. Der Mann, der das Zyk-Syndikat
beherrschte und vor dem ganz Amerdaam zitterte. Matt nahm an, dass der Name eine Abwandlung des alten niederländischen Wortes "Potentaat" war, das so viel wie Herrscher oder Machthaber bedeutet hatte. Wie ein bedrohlicher Schatten kam er auf sie zu, hievte seine beachtliche Leibesfülle, die seine schillernde Robe jeden Augenblick zu sprengen drohte, über die Planken. Dabei hatte er ein hämisches Grinsen in seinem aufgedunsenen Gesicht, das nichts Gutes verhieß. "Ihr habt das Aquadroom überlebt", stellte er fest. "Eine erstaunliche Leistung. Das ist zuvor noch niemandem gelungen. Aber es wird euch nicht retten, denn ich, der Potaat, habe eure Exekution befohlen." "Weshalb?", wollte Matt wissen. "Da fragst du noch? Ihr seid widerrechtlich in unser Territorium eingedrungen, um uns auszuspionieren. Ihr plant uns bei den Erhabenen auszustechen und selbst mit ihnen Geschäfte zu machen. Die Flugmaschine beweist, dass es euch zum Teil bereits gelungen ist. Aber ich werde nicht zulassen, dass ihr damit fortfahrt. Denn hier und jetzt endet eure Reise!" Er wandte sich ab und nickte dem anderen Zyklopen zu, der daraufhin das Schwert zückte, das in seinem breiten Gürtel steckte. In Aruulas Augen blitzte es, als sie ihre eigene Waffe erkannte, die der andere wie ein Trophäe an sich genommen hatte. "Gefangene!", brüllte der Mutant, dass es weithin zu hören war. "Ihr seid überführt worden, Spione des Feindes zu sein. Ihr habt uns widerrechtlich angegriffen und einige unserer Krieger getötet. Dafür hat der Potaat euren Tod befohlen. Hapuuniere – bezieht Aufstellung!" Die Eskorte der Speerträger verteilte sich und bezog den Gefangenen gegenüber Stellung. In den Augen der Männer, die durch die Sehschlitze der Helme blickten, war eiskalte Mordlust zu lesen, während der Potaat und sein Handlanger nur
schadenfroh grinsten. "Das werdet ihr noch bereuen", prophezeite Matt. "Wir haben mächtige Verbündete, die unseren Tod rächen werden." "Sie werden uns fürchten lernen", konterte der Potaat gelassen, "wenn wir ihnen eure Köpfe schicken." "Legt an!", erscholl die Stimme seines Untergebenen, und die Hapuuniere hoben ihre mörderisch zugespitzten, mit Widerhaken versehenen Waffen. "Zielt..." Matt blickte zu Aruula hinüber, die sich vergeblich aus ihren Fesseln zu befreien suchte. Mit jeder Bewegung zogen sie sich nur noch enger um ihre Handgelenke. "Es tut mir Leid", flüsterte Matt, und für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke. Eine Brise wehte vom Meer herüber, und sie warteten darauf, von den Wurfgeschossen der Zyks durchbohrt zu werden. Bevor die Harpunen jedoch die Hände der Krieger verließen, kam etwas anderes geflogen. Etwas, das rund war und aus zusammengenähten Fischlederflecken bestand. Ein Ball... In hohem Bogen flog er heran, traf zwischen den Gefangenen und dem Erschießungskommando auf den Planken auf und hüpfte davon. "Was ist das?", fragte der Potaat – im nächsten Moment war von der Seeseite her lautes Gebrüll zu hören, das der Wind über das Wasser trug. Und um den Hafen, wo die Boote der Zyks vertäut lagen, kamen mehrere Boote und Flöße, die auf die Plattform zuhielten. Besetzt waren die Gefährte mit Dutzenden junger Männer und Frauen, die mit Tuniken und Schuppenpanzern bekleidet waren und deren langes Haar im Wind wehte. Matt sah orangefarbene und rotweiß gestreifte Ba nner, die an den Masten flatterten, und er sah den jungen Mann, der am Bug des vordersten Bootes stand und eine Techno-Maschinenpistole im
Anschlag hielt. Es war Ruudi. * Einen Augenblick lang herrschte beklommene Stille auf der Plattform. Dann überschlugen sich die Ereignisse. Sobald dem Potaaten klar wurde, dass jemand es wagte, ihn in seinem Machtzentrum anzugreifen, verfiel er in schrilles Gebrüll. Sein Begleiter gab hektische Befehle von sich, und die Reihen der Krieger, die die Plattform ums tanden, lö ste sich in Chaos auf. Die Zyks waren so darauf konzentriert gewesen, die vermeintlichen Spione zu liquidieren, dass sie das Meer aus den Augen gelassen hatten – eine Nachlässigkeit, die sich nun rächte. Irgendwo begann eine Maschinenpistole zu bellen, und eine blutige Schlacht entbrannte. Automatische Waffen ratterten, Harpunen und Pfeile flogen durch die Luft. Matt sah, wie einige Zyks, die am Rand der Plattform standen, getroffen ins Wasser kippten – und er sah auch, wie die Besatzung eines Keejker-Floßes von den Garben einer Maschinenpistole niedergemäht wurde. "Ihr!", brüllte der Potaat außer sich vor Zorn. Seine Miene war feuerrot angelaufen. Mit seinen fleischigen Fingern zeigte er auf Matt und seine Freunde. "Ihr tragt die Schuld an allem! Ihr habt sie gegen uns aufgebracht! Ihr müsst sterben! Los, tötet sie...!" Sein Befehl verhallte fast ungehört, denn die Harpuniere hatten sich zu ihren Kameraden gesellt, um sie im Kampf um die Plattform zu unterstützen. Übrig war nur noch der andere Zyklop, der prompt das Schwert ergriff und damit auf Matt zustampfte. "Stirb, elender Spion!", brüllte er und holte aus, um Matt einen tödlichen Streich zu versetzen – doch dieser dachte nicht
daran, sich einfach meucheln zu lassen. Im gleichen Moment, in dem der Zyklop vor ihn trat, um ihm den Rest zu geben, schnellten seine ungefesselten Beine in die Höhe – und trafen den Hünen genau zwischen den Schenkeln. Der Zyklop gab ein schrilles, fast quiekendes Geräusch von sich, und sein Auge verdrehte sich schmerzvo ll. Das Schwert entfiel seinem Griff und er kippte nach vorn auf die Knie, wodurch Matt ihm einen zweiten Tritt unters Kinn versetzen konnte. Der Körper des Zyklopen erschlaffte, als er seitlich zu Boden fiel. Wenigstens spürte er so nicht mehr die Schmerzen in seinem Gemächt. "Stront!", schrie der Potaat aus Leibeskräften – und wandte sich zur Flucht. Irgendwo begann ein Geschütz zu hämmern, das großkalibrige Geschosse verschickte und das die Zyks offenbar ebenfalls von den Technos erhalten hatten. Über das aufspritzende Wasser fraß sich die Garbe auf einen Kahn der Ajax-Anhänger zu und zersägte ihn – aber auch das Abwehrgeschütz konnte nicht verhindern, dass die ersten Angreifer in diesem Moment die Plattform erreichten. Ruudi stürmte in der vordersten Reihe. Die Maschinenpistole im Anschlag, die Matt ihm gegeben hatte, sprang er auf die Plattform und erschoss zwei Krieger der Zyks aus nächster Nähe. Die Männer brachen zusammen, und schon waren zwei Keejkers bei ihnen, die ihnen die Schusswaffen abnahmen. So rollten die Angreifer wie eine Lawine heran, und mit jedem Zyk, den sie töteten, verstärkte sich ihre Kampfkraft. Ein blutiges Handgemenge entbrannte, als Keejkers und Ajax-Anhänger auf die Harpunenträger trafen. MPi- Garben rissen schreckliche Wunden. Mit rostigen Dolchen und Speeren aus Fischbein stachen die Kontrahenten aufeinander ein.
Der Angriff war so heftig, dass die Zyks ihn nicht stoppen konnten. Im nächsten Moment hatten Ruudi und seine Leute ihren Ring durchbrochen und eilten zu den Gefangenen, befreiten sie von ihren Fesseln. "Ruudi!", rief Matt hoch erfreut. "Schön, dich zu sehen." "Ich habe dir gesagt, dass ich dich nie im Stich lassen werde, Maddrax", erwiderte der Blondschopf grinsend. "Außerdem musste ich doch deine schöne Begleiterin retten." Die Kriegerin verzog das Gesicht, als er auch ihre Fesseln durchschnitt, sagte aber nichts. Stattdessen ging sie zu ihrem Schwert, hob es vom Boden auf und schwang es durch die Luft. Im nächsten Moment war auch Mr. Black seine Fesseln los. "Ich bin zurückgelaufen, so schnell ich konnte", berichtete Ruudi in aller Kürze. "Ich habe die Keejkers alarmiert und danach noch die Anhänger des Ajax um ihre Hilfe gebeten. Es war nicht einfach, aber das hier", – er hob die Maschinenpistole –, "hat sie davon überzeugt, dass die Zyks nicht unbesiegbar sind." "Ich danke dir, Kumpel", sagte Matt und klopfte Ruudi auf die Schulter. Plötzlich waren von der anderen Seite der Plattform wilde Schreie zu hören. Eine Falltür, die in eins der unterseeisch gelegenen Gebäude führte, hatte sich ge öffnet, und Dutzende schwer bewaffneter Zyk-Krieger stürmten daraus hervor, durch den Kampf alarmiert. Nicht alle von ihnen trugen Schusswaffen, aber sie hatten Harpunen und mörderisch geformte Säbel bei sich, und sie waren den Angreifern an Zahl weit überlegen. "Oh-oh", machte Ruudi, und Aruula hob ihr Schwert. "Hat keinen Zweck", knurrte Mr. Black. "Um mit denen fertig zu werden, brauchen wir was Besseres." "Das TFG", erriet Matt seinen Gedanken. "Gebt mir Feuerschutz", sagte der Anführer der Running Men – dann sprintete er auch schon los.
Einen Zyklopen, der sich ihm mit erhobenem Speer in den Weg stellen wollte, rannte er kurzerhand über den Haufen wie ein Footballspieler in der Offensive. Dann war er auf dem Weg zu dem Fahrzeug, das die Zyks freundlicherweise herbeigeschleppt hatten. Matt, der eine herrenlos am Boden liegende Maschinenpistole aufgelesen hatte, schickte einige Garben auf den Weg, um ihn zu decken, doch im allgemeinen Durcheinander schenkte ohnehin niemand Mr. Black Beachtung. In diesem Augenblick trafen die neuen Verteidiger auf Ruudis Leute, und ein wildes Gefecht entbrannte, in das auch Matt und Aruula eingriffen. Die beiden rannten los und stürzten sich in den Kampf, Seite an Seite mit den Mitgliedern von Jugendbanden, die vor Kurzem noch ihre Feinde gewesen waren. Ruudi blieb an ihrer Seite. Sie erreichten den Pulk der Angreifer, die sich am Rand der Plattform festgesetzt hatten und sich erbittert gegen die anbrandenden Zyks zur Wehr setzten. Die Planken waren von Gefallenen übersät, über die die Zyks einfach hinweg trampelten. Die Droge, unter der sie standen, ließ weder Furcht noch Gnade zu. Immer mehr von Ruudis Leuten fielen unter ihren wütenden Attacken, zudem wurde die Munition allmählich knapp. Ruudis MPi gab einen hohlen Laut von sich, worauf auch er sie als Keule einsetzte, um bis zum letzten Atemzug zu kämpfen. Dann, endlich, fiel ein dunkler Schatten über die Zyks; zugleich lag ein dumpfes Brausen in der Luft. Matt blickte hinauf – und sah das TFG, das direkt aus der Sonne kam. Mr. Black hatte es geschafft! "Rückzug!", rief er Ruudi zu, der den Befehl sofort weitergab. "Zurück!", schrie er. "In die Boote, los, Vreendjes, in die Boote...!"
Die Keejkers und Ajax-Anhänger ließen sich das nicht zweimal sagen. Rasch zogen sie sich aufs Wasser zurück, sprangen in ihre Flöße und Boote – und noch ehe der letzte von ihnen die Plattform verlassen hatte, eröffnete Black im TFG das Feuer. Die Energiekanonen, die aus dem schmalen Rücken des Gefährts ragten, spuckten gleißende Lichtbälle, die in dichter Folge auf der Plattform einschlugen und die Zyk-Krieger zu Dutzenden davon schleuderten. Dabei musste Black noch nicht einmal die volle Ladung abstrahlen. Wen die Energiebälle trafen, der würde für Stunden nicht mehr aufstehen. Einige der Zyks hoben ihre Waffen und feuerten auf das TFG, das im Tiefflug über sie hinweg zog, ohne seiner molekularverdichteten Panzerung jedoch etwas anhaben zu können. Der Kampf war rasch entschieden. Einige der Zyks ergaben sich, der Rest – unter ihnen ihr feister Anführer – ergriff schreiend die Flucht. Hals über Kopf stürzten sie zu ihren Booten, sprangen hinein und machten die Leinen los. Das große Abwehrgeschütz hämmerte, um den Rückzug der Boote zu decken, doch mit einem gezielten Schuss gebündelter Energie schaltete Mr. Black die Batterie aus. Dann zogen die beiden Boote, die die Zyks bestiegen hatten, auch schon davon, suchten aufs offene Meer zu entkommen. Das TFG schwebte wie ein Raubvogel über ihnen. Einen Augenblick lang befürchtete Matt, Black könnte der Versuchung nicht widerstehen und den Abzug drücken, um den Potaaten und seine Bande ein für alle Mal auf den Meeresgrund zu schicken. Doch Mr. Black feuerte nicht. Stattdessen ließ er das Fluggerät abdrehen und lenkte es zur Plattform zurück, wo er es unter dem Jubel der Keejkers und ihrer Verbündeten zur Landung brachte. Der Sieg gehörte ihnen.
Das Zyk-Syndikat war zerschlagen. * "Und ihr wollt uns wirklich schon verlassen?" Auf Ruudis Zügen zeigte sich ehrliches Bedauern. "Ihr könntet noch ein paar Wochen hier bleiben. Wir könnten den Kiffs ein paar ihrer Vorräte abkaufen und wilde Oorgjes feiern." "Oder eine Meisterschaft im Vootbal austragen", schlug der Anführer der Ajax-Anhänger vor. "Du könntest der Scheedsrechter sein, Maddrax." "Tut mir Leid", erwiderte Matt, "aber dafür ist leider keine Zeit. Meine Freunde und ich haben eine Mission zu erfüllen, und wir haben ohnehin schon mehr Zeit verloren, als wir dürften." "Und ihr", fügte Mr. Black mit strengem Blick hinzu, "habt auch was Besseres zu tun, als euch den Kopf vollzudröhnen." "Das wissen wir", versicherte der Ajax-Anhänger. "Keine Sorge – wenn sich erst herumgesprochen hat, dass die Zyks nicht mehr in der Stadt sind, werden sich die anderen Gangs unserem Bündnis anschließen wollen." "Yep", fügte Ruudi hinzu. "Ich freue mich schon darauf, wenn die Königin der Antjes mit uns Kontakt aufnimmt." "Schwerenöter", knurrte Aruula und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen – zuletzt hatte sogar sie den vorlauten Blondschopf ins Herz geschlossen. "Ihr seid auf einem guten Weg", versicherte Matt. "Schließt Frieden mit den anderen Gangs. Sollten die Zyks jemals zurückkehren wollen, werdet ihr auf sie vorbereitet sein." "Und du wirst mit uns in Kontakt bleiben?", fragte Ruudi. "Keine Sorge. Sobald ich kann, werde ich euch besuchen oder euch eine Nachricht schicken." "Leb wohl, Maddrax." "Tozzins, Kumpel."
Sie schüttelten sich die Hände und nahmen voneinander Abschied. Dann bestiegen Matt und seine Freunde das TFG. Eine Probe der Droge, mit der die Zyks gehandelt hatten, nahm Matthew mit – er hatte das Gefühl, dass die Zyklopen und ihr geheimnisvolles Serum noch eine wichtige Rolle spielen würden... Mr. Black nahm im Cockpit der Maschine Platz und startete die Konverter. Es rumpelte leise, als das Fluggerät von der Plattform abhob. Durch die Frontscheibe sah Matt Ruudi und seine Freunde winken – im nächsten Moment stieg das TFG mit atemberaubender Geschwindigkeit in den Abendhimmel. Zum Abschied zo g Mr. Black noch eine Runde um den Tower, ehe er die Maschine nach Westen lenkte, in den Sonnenuntergang, der den Himmel über der See in orangefarbenes Glühen tauchte. ENDE
Das Abenteuer geht weiter! Im nächsten Band lesen Sie:
Die Rückkehr von Jo Zybell London! Endlich. Für Matt, Aruula und Mr. Black ist die Jagd quer durch Asien und Europa zu Ende, als sie die Communities der britanischen Bunkermenschen erreichen. Von hier aus sollen die Völker für den Kampf gegen die Daa'muren geeint werden. Doch wie soll man Einigkeit erreichen, wenn im eigenen Haus noch so vieles im Argen liegt...? Auch der Mutantenführer Bulba'han – der einzige Überlebende der Schlacht von Moskau – kehrt zurück: an den Kratersee, wo er Zeuge von Vorgängen wird, die die Zukunft der menschlichen Rasse auf immer verändern sollen... _