Elizabeth Webster
Der Ruf des Delphins Inhaltsangabe Bei einer Brandkatastrophe rettet der 15jährige Matthew fünf Nach...
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Elizabeth Webster
Der Ruf des Delphins Inhaltsangabe Bei einer Brandkatastrophe rettet der 15jährige Matthew fünf Nachbarskindern das Leben. Er springt als letzter aus dem Fenster, um den lodernden Flammen zu entkommen, und verletzt sich dabei schwer. Als er im Krankenhaus wieder zu sich kommt, erfährt er die grausame Wahrheit: Er war nicht der letzte im Haus – seine Mutter und ihr Freund sind in der Flammenhölle umgekommen. Für Matthew bricht eine Welt zusammen, Schuldgefühle plagen ihn, sein Lebensmut droht zu erlöschen. Um ihn wieder auf andere Gedanken zu bringen und seine Genesung zu fördern, schickt man Matthew von London nach Cornwall. Doch keiner seiner neuen Freunde, weder der Schwimmtherapeut Skip noch die Meeresforscherin Petra oder der alte Kapitän, können Matthew wieder neuen Lebensmut vermitteln – bis eines Tages ein Delphin auftaucht. Matthew nennt ihn liebevoll Flite und zwischen beiden entwickelt sich eine wunderbare Freundschaft eine Freundschaft, die Matthews Lebensmut zurückbringt und ihn die furchtbare Vergangenheit vergessen läßt. Voller Zuversicht bricht Matthew zu einer Amerikareise auf, um seine Verwandten zu besuchen. Doch dort muß er erfahren, daß die Delphine in großer Gefahr leben. Die Treibnetzfischerei bringt Tausenden der eleganten Tiere den sicheren Tod. Verfangen in den Netzen, können sie nicht mehr an die Meeresoberfläche und ersticken jämmerlich. Matthew ist empört. Wie kann er verhindern, daß Flite und seine Artgenossen einen sinnlosen und qualvollen Tod erleiden? Matthew beginnt zu kämpfen, denn er hat ein Ohr für den Ruf des Delphins.
Genehmigte Ausgabe 1997 für Serges Medien GmbH, Köln Titelfoto: ZEFA, Düsseldorf Alle Rechte vorbehalten. Printed in Germany Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet! ☺
Für Neil der den Sonnenaufgang der Ewigkeit kennt
He who binds to himself a joy Does the winged life destroy But he who kisses the joy as it flies Lives in eternity's sunrise. Wer an sich eine Freude bindet, Zerstört das umherfliegende Leben; Aber wer die Freude küßt, wenn sie fliegt, Lebt im Sonnenaufgang der Ewigkeit.
William Blake
William Blake
Teil 1
Freude, wie sie fliegt
Rauchgeruch weckte ihn. Einen Augenblick saß er bewe-
gungslos da. Sein Kopf lag auf seinen Armen. Er war am Tisch eingeschlafen. Schon wieder, dachte er. Das war es dann wohl mit dem Lernen … Seine Bücher fühlten sich unter seinen Armen hart an, und er war steif und erschöpft. Zur Hölle mit den Prüfungen … Wie spät war es? Wie lange hatte er geschlafen? Waren die Farleys schon wieder zurückgekommen, oder mußte er immer noch auf die Kinder oben aufpassen? Vor einiger Zeit hatte er gehört, wie seine Mutter und Len nach dem üblichen lauten Streit das Haus verließen und die Tür hinter sich zuknallten. Wahrscheinlich waren sie in den ›Green Man‹ gegangen, wie sie es immer nach einem Streit taten. Aber die Farleys? Sie waren ruhiger als seine Mutter oder Len. Und viel verläßlicher. Sie wollten bis elf Uhr zurück sein. Wie spät war es jetzt? Er sah auf seine Uhr. Halb elf. Also noch eine halbe Stunde. Vielleicht sollte er besser nach den Kindern sehen. Und dieser Rauchgeruch. Er wußte, daß seine Mutter und Len wie Schlote rauchten – das war schon immer so gewesen. Doch wenn sie das Haus verlassen hatten, woher kam dann dieser Geruch? Hoffentlich machten die Kinder oben nicht irgendeinen Unsinn. Aber als er darüber nachdachte, fiel ihm auf, daß es eigentlich nicht nach Tabak roch … eher wie … ja, wie eigentlich? Er sprang auf. Plötzlich wußte er ganz genau, wonach dieser Rauch roch. Nach brennendem Schaumstoff. Er lief zur Tür und öffnete sie vorsichtig. Sofort drang eine wogende, beißend riechende Qualmwolke in den Raum, die von unten über die Stufen hochstieg. Er konnte nirgendwo Flammen entdecken, aber das 4
Erdgeschoß war voll mit dichtem, schwarzem Rauch, und die Schwaden drangen zu ihm hoch wie eine alles erstickende Wolke. Die Wohnzimmertür war geschlossen, er konnte jedoch die tödlichen Rauchschwaden sehen, die unter dem Türspalt hervorkrochen und immer größer wurden. »Mama?« rief er. »Len? Seid ihr da drin?« Keine Antwort. Aber jetzt konnte er ein drohendes, knisterndes Geräusch hinter der geschlossenen Tür hören, so als ob Holz brennen und die Flammen langsam die Oberhand gewinnen würden. »Mama!« rief er nochmals. Aber ihm war klar, daß keiner da war. Sie waren sicher alle in den Pub gegangen und hatten irgendwo eine brennende Zigarette liegengelassen. Diese Idioten. Dann dachte er an die Kinder, die oben schliefen. Ich bin der Idiot, sagte er sich. Ich muß sie da herausholen, bevor uns alle das Feuer erwischt. Er rannte die Stufen zur oberen Wohnung hoch, kehrte aber wieder um und verfluchte seine Dummheit. Erst mußte er den Schlüssel holen, den die Farleys ihm gegeben hatten. Der Rauch wurde immer dichter. Er ergriff ein Handtuch, wickelte es um Nase und Mund und rannte wieder nach oben. Die Kinder lagen in tiefem Schlaf. Es war gar nicht so einfach, sie zu wecken. Danny, der Älteste, lag zusammen mit Jampy, dem Zweijährigen, in einem wirren Knäuel. Die siebenjährige Donna hielt das Baby Kirsty schützend in den Armen. »Wacht auf!« rief Matthew und schüttelte sie. »Los, kommt schon. Es brennt. Ihr müßt hier raus. Wacht auf!« Langsam erwachten sie aus ihrem tiefen Schlaf und sahen ihn mit großen, erstaunten Augen an. »Los, kommt! Danny, hol so viele Handtücher wie möglich. Mach sie im Waschbecken naß. Donna, du holst ein paar Windeln und machst sie auch naß.« Schreiend gelang es ihm, die Kinder zum Aufstehen zu bewegen, sie in nasse Handtücher zu wickeln und aus dem Schlafzimmer zur Treppe zu zerren. 5
Als sie den Rauch sahen, flackerte in Dannys und Donnas Augen Angst auf, aber sie schrieen nicht. Dafür waren sie zu diszipliniert. Matthew wußte, daß die Farleys ziemlich streng waren. Streng, aber nett. Und nicht so unzuverlässig und gewalttätig wie seine Mutter und Len. Sie würden niemals eine brennende Zigarette in einem Zimmer liegenlassen … »Kommt endlich!« drängte er. »Kümmert euch nicht um den Rauch. Wir müssen irgendwie nach unten kommen.« Noch während er sprach, hörten sie das Zischen heißer Luft, und die Tür zum Wohnzimmer fiel in einem Flammenmeer zusammen. Er sah entsetzt nach unten. Dort kam er mit den Kindern niemals durch. Sie würden bei lebendigem Leib verbrennen. »In mein Zimmer!« schrie er. »Ihr müßt aus meinem Fenster klettern. Wie Batman. Das macht bestimmt Spaß!« Instinktiv gehorchten sie ihm, denn Matthew wußte eigentlich immer, was er tat. »Wir binden die Bettlaken zusammen.« Er stieß die Kinder in sein Zimmer und brachte sie so weit vom Rauch weg wie möglich. »Wir sind nur im zweiten Stock. Das schafft ihr leicht.« Er riß sein Laken vom Bett und stellte fest, daß es für diesen Zweck nicht ausreichte. Er mußte noch mehr Laken von den Betten der Kinder holen. »Binde das Ende an den Bettpfosten«, befahl er Danny. »Ich bin gleich wieder zurück.« Er eilte nach oben, kämpfte sich durch den immer dichter werdenden Rauch und die stärker werdende Hitze der Flammen, die von unten heraufschlugen, riß ein paar Laken an sich und stürmte wieder nach unten. Seine Augen tränten, und das Atmen fiel ihm trotz des nassen Tuches um seinen Mund schwer. Als er nach unten sah, bemerkte er, daß das Feuer schon die ersten Treppenstufen erreicht hatte. Wenn die Treppe erst einmal zu brennen begann, würden die Flammen schnell nach oben schlagen. »Schneller!« trieb er die Kinder an und begann, die Laken zusammenzuknoten. »Donna, du kletterst mit Kirsty zuerst hinaus.« 6
Donna sah das Seil aus Laken zweifelnd an und drückte das Baby noch fester an sich. Matthew sah ihr Zögern und wußte warum. »Ich werde sie an dir festbinden, dann kann sie nicht hinunterfallen, und du hast die Hände frei. Halt das Laken fest, und rutsche ganz langsam nach unten. Hast du verstanden?« Donna nickte nur und wartete, bis Matthew das Baby mit dem Streifen eines Lakens wie ein Indianerkind auf ihrem Rücken festgebunden hatte. Noch schrie Kirsty nicht. Anscheinend dachte sie, daß die ganze Aufregung zu einem tollen Spiel gehörte. Matthew schob das Bett fest gegen die Wand unter dem Fenster und hoffte verzweifelt, daß die Laken halten würden. Er überprüfte noch einmal Dannys Knoten. Sie schienen fest genug zu sein. »Los jetzt!« drängte er und lehnte sich aus dem Fenster, um das herunterhängende ›Seil‹ zu kontrollieren. Danach half er Donna, über das Fensterbrett zu klettern. Draußen war es dunkel, aber zu seiner Überraschung konnte er Leute sehen, die unten auf dem Bürgersteig standen und sich die Hälse verrenkten. »Helft ihr runter!« schrie er. »Jemand soll die Feuerwehr rufen!« Er beobachtete, wie Donna und Kirsty in der Dunkelheit verschwand. Waren die Bettlaken lang genug? Er hatte hier oben keine mehr. Danny war schon älter. Er könnte vielleicht den letzten noch fehlenden Meter springen. Aber was war mit Jampy? Er war erst zwei, und seine Beine waren noch sehr kurz. »Schnell«, sagte er zu Danny. »Jetzt du und Jampy!« Hinter ihm hörte er ein weiteres drohendes Zischen heißer Luft und sah, wie die lodernden Flammen die Treppe heraufschossen. Dummkopf, dachte er. Erste Verhaltensregel bei einem Feuer: Türen zu! Er lief fast so schnell zur Tür, wie die Flammen auf ihn zukamen. Verzweifelt versuchte er, die Tür zuzuwerfen, um die Flammen draußen zu halten. Aber es gelang ihm nicht. Eine Feuerwand schien durch die Türöffnung auf ihn zuzurasen, die Holztür wurde vor seinen Augen plötzlich schwarz, bog sich und brannte mit einem Mal an mehreren Stellen. Matthew lief zu Danny und Jampy zurück. Er mußte sie nach draußen bringen. Aber der Rauch war jetzt erschreckend dick und beißend. 7
Der Zweijährige war auf dem Bett zusammengebrochen. Danny schüttelte ihn heftig und rief »Jampy, wach auf!« Als Matthew sich über die beiden beugte, sah Danny voller Panik zu ihm hoch. »Ist er tot?« »Ach was, es ist der Qualm. Wir müssen ihn schnell an die frische Luft bringen, das ist alles. Ich werde …« Er sah sich verzweifelt um. Es gab nichts mehr, womit er den Jungen hätte festbinden können. Aber Moment. Er könnte die kleinen Kinderhände mit seinen Hemdsärmeln zusammenbinden und ihn dann wie einen Sack um Dannys Hals hängen. Hektisch zog er sein Hemd aus und band die Ärmel um die dünnen Handgelenke des Zweijährigen. »Nimm ihn auf deinen Rücken«, befahl er. »So ist es richtig. Schnell!« Er sagte nicht:›Das Feuer kommt.‹ Das brauchte er nicht, denn die Tür brannte bereits lichterloh, und plötzlich merkte er, daß der Fußboden heiß wurde und er kaum noch darauf stehen konnte. »Halte dich gut fest«, befahl er und hob Danny aus dem Fenster. Jampy hing um seinen Hals wie eine schlaffe Stoffpuppe. Als Dannys Kopf aus seinem Blickfeld verschwunden war, lösten sich plötzlich die Dielen unter Matthews Füßen, und er hörte das Krachen der fallenden Decke. Zwischen den zerborstenen Dielen schossen die Flammen hoch. Die am Bettpfosten zusammengeknoteten Laken begannen vor seinen Augen zu brennen. »Oh, mein Gott«, murmelte er, lief zum Fenster zurück und griff nach dem Seil aus Laken, um zu verhindern, daß es reißen würde, bevor Danny unten war. Bis jetzt schien es zu halten. Aber die Flammen kamen näher, und die Hitze wurde langsam unerträglich. Plötzlich bemerkte er, daß das dünne Seil hinter ihm nachgab und anfing, durch seine Hände zu rutschen. Er versuchte, sich am Fensterrahmen abzustützen, doch das Seil rutschte unaufhaltsam durch seine Hände. Er hielt es mit geschlossenen, tränenden Augen so gut er konnte fest, bis er einen Ruf von unten hörte. Anscheinend waren die Kinder heil angekommen. Das war auch gut so, denn inzwischen bestand das Ende des Seils nur noch aus verkohlten Resten, die durch seine angesengten Hände rutschten und aus dem Fenster fielen. Überall brannte es jetzt. Er mußte schnell hier raus. 8
Aber wie? Es gab nichts mehr, woran er sich herunterlassen konnte. Er kletterte auf den Fenstersims und sah nach unten. Die zu ihm hochblickenden Gesichter waren noch da, das Licht von ein oder zwei Taschenlampen schien bleich zu ihm herauf, und ein bißchen weiter weg kämpften zwei Männer mit einer Leiter. Keine Zeit, darauf zu warten. Es blieb gar keine Zeit mehr. »Spring!« schrie eine Stimme. »Spring, mein Junge! Wir haben ein Laken. Wir fangen dich auf.« Ja, ich muß springen, sagte er sich. Es ist die einzige Möglichkeit. Matthew sprang und spürte, wie heiße Luft sein Gesicht streifte. Seine Haare schienen ihm zu Berge zu stehen. Dann spürte er noch einen fürchterlichen, markerschütternden Aufprall und einen kurzen, stechenden Schmerz. Sein letzter Gedanke war: Diese Trottel! Sie haben das Laken nicht straff genug gehalten. Dann wurde ihm schwarz vor Augen, und die Welt ging in einem Funkenregen mit lautem Glockenklang unter.
* Von irgendwo her waren Stimmen zu hören, und es war nicht mehr dunkel. Es war sogar so hell, daß Matthews Augen schmerzten, obwohl sie geschlossen waren. Auch die Augenlider taten ihm weh. Sie fühlten sich starr und nackt unter dem Licht an, und er wollte sie mit seinen Händen bedecken. Aber er konnte sie nicht bewegen. Sie waren gefangen wie in einem Käfig … Er konnte Stimmen hören, mal lauter, mal leiser, manchmal waren sie nah und dann wieder weit entfernt. Er konnte nur Wortfetzen aufschnappen, die aber keinen Sinn ergaben. »… zusätzlich noch einen Schock.« Schock? Und was noch? »Ist nicht notwendig … noch nicht.« Noch nicht? »Nicht schwerwiegend, nein … Hände …« Hände? Er konnte seine Hände nicht bewegen. Er versuchte es und spürte, wie ein scharfer Schmerz durch seine Hände fuhr. Warum? 9
»… und Füße. Aber durch die Brüche haben sie Zeit …« Zeit? Wofür? Matthew versuchte, seine Füße zu bewegen. Es ging nicht. Sie schienen in einer Art Schraubstock zu stecken. Er versuchte es erneut, aber ohne Erfolg. Sein Gesicht schmerzte von der Anstrengung. Es schien genauso steif und unbeweglich wie seine Augenlider zu sein. Steif und glühend heiß. Glühend heiß? Plötzlich erinnerte er sich. Er wußte, was passiert war – und das war also das Ergebnis. Nun, wenigstens lebte er. Gerade eben noch. Angestrengt versuchte er, die Augen zu öffnen. Die Worte, die er sprechen wollte, wurden nur zu einem Krächzen. Er stellte fest, daß ihm das Sprechen außerordentlich schwerfiel. Er versuchte es noch einmal. »Die Kinder …?« »Sie leben. Alle gerettet. Dank dir.« Seine Augenlider ließen sich nicht öffnen. Sie schienen wie festgeklebt zu sein. Er seufzte. »Oh … gut.« »Er kommt zu sich … noch eine Spritze«, murmelte eine ziemlich autoritäre Stimme. »Es piekst jetzt ein bißchen«, sagte jemand anderes mit einer sanfteren Stimme. »Versuch nicht, dich zu bewegen. Das tut dir nur weh.« Das hatte er schon bemerkt. Also rührte er sich nicht, und bald darauf umhüllte ihn wieder eine wohltuende Dunkelheit. Beim nächsten Mal konnte er die Augen einen Spalt weit öffnen und er sah, daß seine Beine, in einem Streckverband lagen. Er befand sich also im Krankenhaus. Er drehte den Kopf ein bißchen und schaute einer jungen, freundlichen Krankenschwester in die Augen, die sich über ihn beugte. Sie hatte blaue Augen, die besorgt und gütig blickten. »Fühlst du dich besser?« »Ja.« »Hast du Lust auf Besuch?« Angst überkam ihn, und sein Herz schlug schneller. Was für Besuch? Er wollte nicht, daß seine Mutter und Len sich an seinem Bett ununterbrochen stritten. Oder betrunken daherkamen. Sie würden ihn sicher ausschimpfen. Das machten sie immer. 10
»Was für Besuch?« Es kam ihm so vor, als ob ihre blauen Augen etwas wachsamer schauten. »Es sind jede Menge Leute da, die dich besuchen wollen. Du bist jetzt fast ein Held, weißt du.« Sie sah seinen Widerwillen und fügte sanft hinzu: »Wir lassen es langsam angehen.« Die ersten waren die Farleys. Nicht seine Mutter und Len. Innerlich seufzte er erleichtert und versuchte, seinem starren Gesicht ein Lächeln abzuringen. Madge Farley weinte, nannte ihn ›du armer Junge‹ und versicherte ihm stockend immer wieder ihre unendliche Dankbarkeit. Dieser Gefühlsausbruch war völlig untypisch für sie. Normalerweise reagierte sie nie so. Jim Farley stand nur da, war rot im Gesicht und brummte, wenn seine Frau einmal eine Pause machte: »Guter Junge … bist ein guter Junge, Matt.« Matthew konnte sich darauf keinen Reim machen. Schließlich schaffte er es, auch einmal zu Wort zu kommen. »Wie geht es Jampy?« Er mochte Jampy. Er wußte eigentlich nicht warum, denn der Zweijährige konnte manchmal eine richtige Nervensäge sein. Er stellte andauernd Fragen, besonders über Tasten und Knöpfe. Er liebte Matthews Computer … Der Computer war wie alles andere wohl auch hin … Verbrannt. »Jampy geht es gut«, antwortete Jim Farley. »Er hat nur eine leichte Rauchvergiftung. Er würde einen guten Räucherhering abgeben.« »Oh, gut.« Diese Antwort drückte seine Gefühle nur unzureichend aus, aber das Sprechen fiel Matthew unendlich schwer. Er nahm an, daß die Schmerzmittel der Grund dafür waren. Allerdings sah er die Gesichter vor ihm erstaunlich klar. Madges Gesicht war normalerweise verkniffen und verbittert, was auch nicht verwunderlich war, denn sie mußte sich um vier Kinder kümmern und hatte auch noch abends, wenn Jim nach Hause kam, eine Stelle als Putzfrau angenommen. Ihre Nase war dünn und spitz, und ihre braunen Augen blickten stumpf und abgespannt, wenn sie überarbeitet und müde war. Aber jetzt waren ihre Augen voller Tränen, das zurückgebundene Haar hing in widerspenstigen Strähnen um ihren Kopf, und sie zitter11
te. Ihr ganzes Gesicht sah irgendwie sanfter und verletzlicher aus, und das erschreckte ihn. Und was Jim anging – er war immer ruhig gewesen, und wenn er versuchte, sich zu unterhalten, wurde er oft rot im Gesicht. Sogar zu seinen besten Zeiten war er nicht gerade ein gesprächiger Mann. Jetzt schien er verlegen zu sein, und der große, volle Mund war etwas geöffnet, so als ob er nicht wüßte, ob er lachen oder weinen sollte. »Danke, daß Sie gekommen sind«, sagte Matthew höflich. Diese schlichte Bemerkung verursachte bei Madge eine neue Tränenflut, und sie stammelte etwas von »wenn wir alles erledigt haben und du …« »Madge!« unterbrach Jim sie scharf. Zu Matthews Überraschung sahen sich beide plötzlich bedrückt an, verabschiedeten sich und versprachen, am nächsten Tag wiederzukommen. »Bringen Sie doch bitte die Kinder mit!« rief Matthew hinter Madge her. »Ich möchte gern selbst sehen, daß sie alles heil überstanden haben.« Sie nickte, schluckte schwer und verließ fluchtartig das Zimmer. Matthew war verwirrt. Aber er war zu müde, um darüber nachzudenken. Er vergaß Madges Schlucken und Jims gequälten Blick und schlief ein. Das nächste Ereignis war ein Tumult draußen auf dem Korridor. Viele Leute drängelten und schubsten, und dann platzte ein Kamerateam zu ihm herein, und ein Reporter drängte sich ihm auf. »Wie fühltest du dich, Matthew«, fragte der Mann, »als du das Haus in Flammen aufgehen sahst?« »Heiß«, antwortete Matthew. »Und wie fühlst du dich jetzt …«, die aufdringliche Stimme hob von neuem an, »so ganz allein …?« Doch bevor Matthew antworten konnte, trat die Oberschwester an sein Bett und befahl dem Mann, aus dem Zimmer zu verschwinden. Er protestierte wortreich, gehorchte aber, und das Kamerateam folgte ihm. Matthew nickte wieder ein. Aber irgend etwas störte ihn. So ganz al12
lein … Wie fühlst du dich so ganz allein? … Und wo er gerade darüber nachdachte, wieso hatten ihn eigentlich die Farleys als erste besucht? Er öffnete die Augen und rief nach der Schwester. »Warum ist meine Mutter noch nicht gekommen?« fragte er ohne Einleitung. »Das kann sie leider nicht. Ich hole den Arzt, der wird es dir erklären«, antwortete die Schwester ausweichend, und Matthew entdeckte Mitleid in ihren Augen. »Sie sind tot, nicht wahr?« sagte er tonlos. »Deshalb kommen sie nicht. Sie sind tot.« Die Schwester antwortete nicht. Aber kurz darauf erschien ein junger Arzt und setzte sich an sein Bett. »Ich dachte, sie wären ausgegangen«, sagte Matthew. Die aufkommende Panik spiegelte sich in seiner Stimme wider. »Ich habe gehört, wie sie das Haus verlassen haben.« »Sie haben geschlafen, Matthew.« »Aber ich habe gerufen – ich rief und rief.« »Ich bin sicher, daß du das getan hast. Zu der Zeit war es jedoch schon viel zu spät. Sie waren schon ohnmächtig – oder sogar schon tot.« Er beugte sich vor und legte tröstend eine Hand auf Matthews Schulter. »Du solltest wissen, daß sie nichts davon gemerkt haben. Sie sind einfach nur nicht mehr aufgewacht.« »Ich dachte, sie wären ausgegangen …«, wiederholte Matthew wie im Traum. »Du hast dein Möglichstes getan«, sagte der junge Arzt, der plötzlich von Mitleid für den unter Schock stehenden Fünfzehnjährigen erfüllt war. »Mehr als die meisten Leute wagen würden. Du hast immerhin vier Leben gerettet.« »Das verstehen Sie nicht«, antwortete Matthew. Aber eine Erklärung war sinnlos. Wie konnte er sagen: Ich mochte sie nicht. Keinen von beiden. Sie waren immer betrunken und haben sich andauernd gestritten. Als Eltern waren sie eine Katastrophe. Aber ich habe ihren Tod nicht gewollt. »Das verstehen Sie nicht«, wiederholte er, und Tränen rollten über seine Wangen. 13
* In den nächsten Tagen kamen jede Menge Besucher. Eine freundliche, junge Polizistin befragte ihn eingehend. Sie war ruhig und geduldig, als sie seine Aussage aufnahm. Dann kam eine Frau vom Jugendamt, die mit sanfter Stimme Fragen stellte, was ihn ganz nervös machte. Als nächster kam jemand von der Versicherung, dessen Fragen für Matthew keinen Sinn ergaben, und der von der Oberschwester verscheucht wurde. Und dann versuchte dieser Reporter noch einmal, zu ihm vorzudringen. Aber die Oberschwester brachte auch ihn dazu zu verschwinden. Eines Tages kamen dann die Farley-Kinder allein nach der Schule: Donna, die das immerfort lächelnde Baby trug, und Danny, der Jampy festhielt. Jampy wollte wissen, warum Matthews Beine an der Decke festgebunden waren und was all die Knöpfe, Klingeln und Kopfhörer hinter seinem Bett bedeuteten. Matthew freute sich, die Kinder zu sehen. Irgendwie fühlte er sich durch ihre völlige Unbekümmertheit besser. Er hatte die gedämpften Stimmen und mitleidigen Blicke satt. Er wollte sich einmal ganz normal mit jemandem unterhalten. »Wo wohnt ihr jetzt eigentlich?« fragte er, als er sich daran erinnerte, daß auch sie ihr Zuhause und all ihre Habseligkeiten verloren hatten. »In einer Pension«, sagte Donna mit der nüchternen und für sie völlig unpassenden Stimme einer Erwachsenen. Sie schnitt eine Grimasse und fügte hinzu: »Bis die Stadt uns eine neue Wohnung besorgt hat.« Matthew nickte. »Gefällt es euch dort?« »Nicht schlecht.« Ihre Stimme klang immer noch ausdruckslos. »Aber Mama haßt es.« »Man kann sich da nicht einmal um sich selbst drehen, so eng ist es, sagt sie«, stimmte Danny zu. »Um-sich-selbst-drehen«, plapperte Jampy nach und drehte sich vor Matthews Bett im Kreis. Danny hielt ihn fest und sah Matthew fragend an. »Wann kommst du hier raus?« 14
Matthew versuchte, mit den Schultern zu zucken, was ihm natürlich nicht gelang. »Wenn ich laufen kann, nehme ich an.« »Mama sagt, daß wir alle an die See fahren«, verkündete Donna strahlend. »Sobald du soweit bist.« Matthew starrte sie an. »An die See?« »An-die-See, an-die-See«, sang Jampy.
* Erst nach sechs Wochen konnte er das Krankenhaus verlassen. Während dieser Zeit nahmen sie die Gitterkästen von seinen verbrannten Händen, entfernten den Streckverband und brachten ihm wieder das Laufen bei. Es war ein langsamer und schmerzhafter Prozeß, und er ärgerte sich über seine eigene Unbeholfenheit. Sie legten das eine Bein in eine Stahlstütze, gaben ihm ein Paar Krücken und sagten ihm, daß er das andere Bein längere Zeit nicht belasten dürfte, da es mehrfach gebrochen und die Brandwunden an seinem Fuß noch nicht verheilt seien. So lernte er, in einer leicht schrägen Haltung zu humpeln und versuchte, nicht zu oft das Gleichgewicht zu verlieren. Zu diesem Zeitpunkt hätten sie ihn eigentlich entlassen können, aber sie taten es nicht. Matthew fragte sich, ob sie ihn länger als nötig im Krankenhaus behielten, weil sie nicht wußten, was sie mit ihm machen sollten. In Wirklichkeit machten sich die Ärzte Sorgen um Matthew. Seit der Nachricht vom Tod seiner Mutter war er sehr ruhig geworden – sehr still und in sich zurückgezogen. Er blühte nur dann auf, wenn die vier geretteten Kinder ihn besuchten. Aber auch das hielt nicht lange vor. Und dann stellte sich die Frage nach Matthews Zukunft. Er war jetzt Vollwaise und anscheinend ganz allein auf der Welt, es sei denn, die Leute vom Jugendamt fanden noch irgendwo einen Verwandten. Wohin sollte er in der Zwischenzeit? Und war er überhaupt gesund genug, um das Krankenhaus zu verlassen? Die Ärzte sprachen von einem verspäteten Schock und einer natürlichen Erschöpfung, aber Matthews verschlossenes, bleiches Gesicht, 15
sein Sichgehenlassen und sein Schweigen gefielen ihnen nicht. Deshalb entließen sie ihn noch nicht. Schließlich informierte Madge Farley sie jedoch, daß die Nachbarn Geld gesammelt und ihnen jemand einen Wohnwagen auf einem Grundstück in Cornwall zur Verfügung gestellt hätte. Sie wartete nur noch auf Matthews Entlassung. Die Ärzte berieten sich und kamen zu der Meinung, daß die Seeluft gut für ihn und Schwimmen ideal für seine Beine wäre. Sie meinten, sie könnten ihn entlassen, wenn er sich einmal in der Woche im dortigen Krankenhaus zur Krankengymnastik melden würde. Und dann erinnerte sich einer der Ärzte daran, daß es in der Gegend einen SurfClub gab, der einen eigenen Krankengymnasten und Schwimmlehrer hatte. Er erklärte sich bereit, einen Brief dorthin zu schreiben und alles in die Wege zu leiten. An diesem Punkt verlor Madge Farley die Geduld. Sie stemmte die Fäuste in die Hüften und bedachte die Ärzte mit einem finsteren Blick. »Ist jetzt alles geregelt?« fragte Sie. Sie nickten. »Also dann, worauf warten wir noch?«
* Endlich waren sie an der See. Inzwischen hatte zwar der Herbst begonnen, aber die Tage waren noch mild und sonnig. Der Wohnwagen stand etwas abseits von den anderen zwischen grasbedeckten Dünen. Für Matthew waren die Wohnwagenstufen ein wenig hinderlich, aber er bekam sein eigenes Zelt und mußte die Treppenstufen nur zu den Essenszeiten überwinden. Am Anfang erschien ihm der Weg zum Meer endlos lang, weil er über einige Dünen gehen mußte, aber bald hatte er sich daran gewöhnt. Der Strand selbst befand sich in einer langgestreckten Bucht. Der Sand war tadellos, und die Brandung einfach wunderbar. Traurig wurde sich Matthew bewußt, daß er nie in diesen herrlichen Wellen ste16
hen, geschweige denn wie die anderen Surfer auf ihnen reiten konnte. Mit seinen steifen Beinen konnte er nur umherhinken und die See aus sicherer Entfernung betrachten. Vor ihm schrieen die Kinder und tollten herum. Hinter ihm mühten sich Madge und Jim Farley mit Decken, Handtüchern, Getränken und Bergen von Sandwiches ab. Für sie war es der Urlaub ihres Lebens. Sie hatten sich vorher nie einen leisten können und sie waren entschlossen, jede Minute zu genießen. Aber Matthew kam alles fremd und unwirklich vor und er schien die Welt wie durch Glas zu betrachten, so als ob er auf der anderen Seite wäre und sie nicht erreichen konnte. Nur das Meer kam ihm wirklich vor. Tief und dunkel, wogend und aufgepeitscht, mal blauschwarz mal glasgrün. Er wünschte sehnlichst, daß er schwimmen könnte. Er wollte seinen Beinen entkommen, dem weichen Sand, in dem man oft nur schwer laufen konnte, dem strahlenden Tag und der Welt, die sich immer weiterdrehte, obwohl er zwei Menschen dem Feuer überlassen und ihnen nicht geholfen hatte … Im Wasser würde es kühl sein. Er könnte schwimmen und schwimmen, bis er müde wurde und seine eigenen schwerfälligen Glieder, seinen Körper und seine Schuld vergaß. »Bist du Matthew?« riß ihn eine Stimme aus seinen Gedanken. Matthew sah auf. Ein junger Mann stand vor ihm und lachte ihn an. Er hatte rotgoldenes Haar, das naß an seinem Kopf klebte, und die Augen in seinem sonnengebräunten, wettergegerbten Gesicht waren tiefblau und blickten ihn fragend an. Unter dem Arm trug er ein Surfbrett. Seewasser rann von seinem Neoprenanzug in den Sand. »Ich bin Skip«, stellte er sich vor und streckte Matthew die Hand entgegen. »So nennen sie mich jedenfalls, weil ich den Club leite. Ich habe dich schon gesucht.« »Wirklich?« Matthew schüttelte die ihm angebotene Hand. »Komm mit. Ich stelle dich den anderen vor.« Er führte Matthew über den nassen Sand zu einer dunklen Felsformation, die sich an diesem Ende der Bucht befand. »Bevor wir die anderen Jungs treffen, hör mir bitte erst einmal zu«, 17
bat Skip und klang plötzlich sehr ernst. »Du darfst nicht surfen – jedenfalls jetzt noch nicht. Es ist für deine Beine viel zu gefährlich.« Er sah Matthew an, und sein Lächeln war warm und aufmunternd. »Aber Schwimmen vor den Felsen geht in Ordnung. Falls du schwimmen kannst.« »Oh, ja«, versicherte Matthew. »Ich war sogar ganz gut – vorher.« Skip nickte und verschwendete keine Zeit mit mitleidigen Bemerkungen. Dafür war Matthew dankbar. »Vor den Felsen ist ziemlich tiefes Wasser. Du darfst dich nicht im flachen Wasser aufhalten, denn die Brandung könnte dich umwerfen. Hinter der Spitze ist es ein bißchen geschützter. Bleib im ruhigen Wasser, bis du deine Beine kräftiger geworden sind. Klar?« »Ja.« »Im Club gibt es ein geheiztes Becken, in dem du unter meiner Anleitung deine Bewegungsübungen machen sollst. Und ich werde die ersten Male mit dir im Meer schwimmen, um sicherzugehen, daß du keinen Krampf oder so etwas bekommst.« Als er sah, daß Matthew protestieren wollte, fügte er hinzu: »Das Meer hier ist gefährlich. Man muß sich erst einmal daran gewöhnen.« Matthew nickte ernüchtert. Jetzt kam Skips nettes Lächeln wieder hervor. »So, der Vortrag ist vorbei. Komm mit und lerne die anderen Jungs kennen. Dann werden wir dir einen Anzug besorgen.« Die Jungs – die meisten waren in Skips Alter, aber es gab auch noch einige jüngere, die ›Anfänger‹ genannt wurden – begrüßten Matthew fröhlich. Sie machten keine Bemerkungen über seine Beine und wußten anscheinend auch nichts von dem Brand und Matthews nachfolgende Bekanntheit in der Presse. Matthew war froh darüber. Seit der hartnäckigen Verfolgung durch den Reporter war er sehr argwöhnisch geworden, was Menschen und ihre Motive anging. Hier war er anscheinend unbekannt und wurde als das akzeptiert, was er war: ein Junge, der schwimmen wollte. »Manchmal kommen Seehunde hierher«, sagte der eine. »Seehunde?« fragte Matthew überrascht. 18
»Ja, Seehunde – da hinten.« Eine braungebrannte Hand zeigte zu einer kleinen der Küste vorgelagerten Felseninsel. »Du kannst ganz nah an sie herankommen«, bestätigte ein anderer. »Sie freuen sich, aber nur, wenn du nicht zuviel mit Wasser spritzt.« »Und wenn der Virus sie nicht erwischt«, knurrte Skip. Seine Stimme klang besorgt. Die kleine Seehundkolonie gehörte sicherlich in seinen Verantwortungsbereich. Matthew blickte auf das Meer hinaus. Er meinte, kleine Köpfe sehen zu können, die nahe der Felsen zwischen den Wellen auf- und niederhüpften. »Hier«, sagte Skip und hielt ihm einen weichen Neoprenanzug hin. »Zieh den einmal über, damit wir sehen können, ob die Größe stimmt.«
* Für Matthew begann eine Zeit der Verzauberung, aber auch des Schmerzes. Die See war immer da, und sie lockte und rief. Er versuchte, mit Skip und den anderen Clubmitgliedern mitzuhalten. Doch seine Beine taten weh, sein Rücken schmerzte. Tränen der Enttäuschung vermischten sich mit der Gischt des salzigen Meerwassers, aber er genoß jeden einzelnen Moment – sogar den Schmerz. Manchmal ließ er sich einfach nur ruhig treiben, sah in den Himmel und beobachtete die Seevögel, die über ihm kreisten und dahinglitten. Das Auf und Ab des Meeres fühlte sich wie eine sanft unterstützende Hand unter seinen müden Gliedern an. Manchmal gab Skip ihm einen Schnorchel, dann lag er auf dem Wasser und sah hinunter in die grün und golden schimmernden Tiefen, zu den Tangwedeln, den winkenden Seeanemonen, den kleinen dahinschießenden Fischen und bleichen Muscheln, die auf dem silberfarbenen Sand lagen, der von Tausenden Gezeiten angeschwemmt worden war … Ein- oder zweimal kam während einer Welle ein dunkler, auf- und niederhüpfender Seehundkopf auf ihn zu, um ihn anzuschauen. Mit der nächsten Welle war er jedoch schon wieder verschwunden. 19
Eines Tages zog ein Sturm auf. Die Seehunde zogen sich auf die schützenden Felsen zurück, und Matthew durfte nicht schwimmen. Also nahm er die vier Kinder mit zum Laden am Strand und kaufte ihnen ein Eis, denn er hatte das Gefühl, sie vernachlässigt zu haben. Dann half er ihnen, direkt oberhalb der Gezeitenlinie im nassen Sand eine kunstvolle, mit einem Graben umgebene Burg zu bauen. »Wo ist denn dein glänzender Anzug?« fragte Donna, die Matthew in seinen geborgten Sachen offensichtlich großartig fand. Matthew lächelte. »Ich darf heute nicht im Meer schwimmen. Das Wetter ist zu schlecht.« »Glänzender Anzug«, wiederholte Jampy, sprang dabei auf und nieder und zerstörte Teile der Sandburg. »Paß doch auf, du Trottel«, schrie Danny und rettete seine Zinnen vor der drohenden Katastrophe. »Glänzender Anzug«, rief Jampy und tanzte weiter. Die Zerstörung, die seine kleinen Füße angerichtet hatten, kümmerte ihn überhaupt nicht. Von ihrem Klappstuhl hinter dem Windschutz sah Madge zu ihnen herüber, dann drehte sie sich um und lächelte Jim an. Die Kinder schienen wirklich glücklich zu sein – und Matthew sah auch schon besser aus. Und doch hatte sie die Traurigkeit in seinen Augen bemerkt, wenn es den Kindern nicht gelang, ihn abzulenken. Bis jetzt hatte sie noch nicht versucht, mit ihm zu sprechen. Es ging sie ja eigentlich auch nichts an – aber irgendwie fühlte sie sich verantwortlich. Was sollte aus ihm werden? Wo sollte er wohnen? Wer würde für ihn sorgen? Das war natürlich die Aufgabe des Jugendamtes. Sie würden ihn schon irgendwo unterbringen. Aber Madge fand diese Vorstellung nicht besonders erfreulich. Schließlich waren sie, Jim und die Kinder die einzigen Freunde, die Matthew hatte, und wenn sie bedachte, was sie ihm schuldeten, sollte sie wirklich etwas tun … Aber sie konnte sich nicht überwinden, mit ihm darüber zu sprechen … Noch nicht. Es war besser, noch ein bißchen zu warten, bis Matthew die Sache verarbeitet haben würde. Trotzdem beschloß sie, ihren Mann um Rat zu fragen. »Jim«, begann sie zögernd, »sollten wir nicht …« 20
»Nein.« Leicht tadelnd schüttelte er den Kopf. »Laß ihn in Ruhe.« Er schien die schwierige Angelegenheit mit Vorsicht zu betrachten. Sein freundliches, vom Wind gerötetes Gesicht wirkte angestrengt. »Eine Atempause«, sagte er schließlich. »Das ist es, was er braucht. Eine Atempause.« Madge nickte und schwieg. Sie sammelte ihre Sachen zusammen und ging durch den aufgewirbelten Sand zum Wohnwagen, wo sie einen großen Stapel Sandwiches zubereitete.
* Der alte Mann saß in der Sonne und beobachtete das Meer. Sein Platz war von einer verlassenen Rettungsstation geschützt. Die Bank, auf der er saß, war in die Hafenmauer eingelassen und stand mit dem Rücken zum Wind. Nur daß es jetzt keinen Hafen mehr gab. Es gab nur noch den kleinen, verlassenen Kai, an dem die Fischerboote anlegten, und die Reling für das Rettungsboot, die sich unter den Türen der Rettungsstation befand, deren Farbe abblätterte und die für immer geschlossen waren. Darüber standen einige Häuschen, die an den Hang gebaut waren und von den alten Fischerfamilien bewohnt wurden. Sonst gab es nur noch Ferienwohnungen, Wohnwagen, Bungalows und das Hotel am anderen Ende des Hangs. Das Hotel war nicht einmal schlecht, und die Dorfbewohner besuchten gern die verräucherte alte Bar mit den tiefen Decken und der polierten Schiffsglocke aus Messing. Die Fenster waren fast ebenerdig, so daß man das Meer sehen konnte. Aber der Alte wollte lieber draußen die Welt an sich vorüberziehen sehen. Wenn das Wetter schön war, saß er jeden Tag auf der Bank. Und wenn es regnete, stieg er etwas höher und stellte sich bei dem alten Gewerkschaftsgebäude der Seeleute unter, das direkt neben der Kirche stand. Der Sturm war abgezogen. Das Wetter war schön, und alles glitzerte in der Sonne. Er genoß die Sonnenstrahlen und bewunderte die Brandung. Der humpelnde Junge war wieder da. Heute schwamm er natürlich 21
nicht – sogar die erfahrenen Surfer waren bei diesem Wellengang vorsichtig, und die rote Fahne wehte über der Bucht. Aber der Junge war am Strand und spielte mit den Kindern. Er gibt sein Bestes, um ausgelassen zu wirken, dachte der alte Kapitän, während er ihn beobachtete, aber es gelingt ihm nicht. Er schien ein ernster, irgendwie in sich gekehrter Junge zu sein, der selten lachte. Er war auch etwas unbeholfen – ganz offensichtlich schmerzte sein Bein beim Laufen. Aber wenn er schwamm, sah er ganz anders aus – fast glücklich und viel anmutiger. Matthew erklomm jetzt die Stufen, die vom Strand hochführten, und sah den alten Mann in der Sonne sitzen. Er hatte ihn vorher schon mehrere Male gesehen und lächelte ihn an – aus einem Grund, den er selbst nicht verstand. »Hallo«, sagte Kapitän St. George und lächelte zurück. »Die See ist zum Schwimmen heute wohl zu rauh?« »Leider.« Matthew zögerte einen Moment, dann setzte er sich neben ihn auf die Bank. »Es ist schön hier in der Sonne.« Der alte Mann nickte. »Ich bin fast jeden Tag hier.« Sie schwiegen eine Weile und sahen aufs Meer hinaus. »Der Anblick weist uns in unsere Schranken, nicht wahr?« Matthew grinste. »Im Meer fühlt man sich wie eine Stecknadel im Heuhaufen.« »Du schwimmst sehr gut.« »Nicht so gut wie die Seehunde.« »Stimmt.« Sie schwiegen wieder. Dann fragte Verney St. George: »Was ist mit deinem Bein passiert?« »Ich bin aus dem Fenster gefallen«, antwortete Matthew leise. »Oh, das tut mir leid.« »Mir auch.« Aber Matthew wollte nicht selbstmitleidig klingen und fügte deshalb schnell hinzu: »Aber es ist schon besser geworden.« »Das sehe ich.« Matthew strahlte. »Haben Sie das wirklich bemerkt?« »Aber ja. Du kannst dich eindeutig besser bewegen. Findet deine Familie das nicht auch?« 22
»Wer?« Verney St. George deutete auf die fröhliche kleine Gruppe unten am Strand. »Deine Familie.« »Oh.« Einen Moment lang schien der Junge verwirrt zu sein. Dann sagte er: »Das ist nicht meine Familie. Es sind nur Freunde, die mich mitgenommen haben.« Der Kapitän sah ihn verwundert an, fragte aber nicht weiter. Er sagte nur: »Das scheinen nette Kinder zu sein.« »Ja«, stimmte Matthew zu, und seine Stimme klang auf einmal ganz warm. »Sie sind nett. Ganz besonders der kleine Jampy.« »Spontane Freude«, murmelte der alte Mann, als er Jampy beobachtete, der fröhlich im Kreis herum rannte und ein langes purpurrotes Band aus Tang auf dem nassen Sand hinter sich herzog. »Ich wünschte, ich könnte mich auch so freuen.« »Ich auch«, gab Matthew zu. Die beiden – der alte Mann und der Junge – blickten sich einvernehmlich an.
* Nach diesem Treffen ging Matthew noch einige Male die Treppen hinauf, um mit dem alten Mann zu sprechen. Sie redeten nicht viel, aber es schien sich eine unausgesprochene Verbundenheit zwischen ihnen zu entwickeln. Der Kapitän war froh, daß Matthew ihm Gesellschaft leistete, und Matthew war froh, daß der alte Mann keine Fragen stellte. Zusammen sahen sie auf die Brandung, beobachteten die Kunststücke der Surfer, und lächelten, wenn Jampy und Donna am Strand Danny jagten. Eines Tages zog wieder einmal ein Sturm auf, und die meisten Leute blieben zu Hause. Kapitän St. George saß nicht wie gewöhnlich auf seiner Bank, und Matthew vermißte ihn – besonders deshalb, weil er an diesem Tag auch nicht im Meer schwimmen durfte. So verbrachte er mehr Zeit als sonst im Becken des Clubs und trainierte seine Beine. Dann unternahm er einen langen Spaziergang auf dem sandigen 23
Klippenpfad. Zum Schluß war er müde, aber er ging trotzdem noch zum Hotel und fragte nach dem Kapitän. Die Gebrechlichkeit des alten Mannes machte ihm Sorgen. Sie sagten ihm, daß es dem Kapitän gutgehe, er sich aber heute ausruhen würde. Manchmal, erzählten sie, fühlte er sich nicht stark genug, um auszugehen, doch er würde sicher schon bald wieder auf seiner Lieblingsbank in der Sonne sitzen. Immer noch beunruhigt verließ Matthew das Hotel. Er war zu schüchtern, um zu fragen, ob er den alten Mann besuchen könnte. So ging er zum Strand zurück und half den Kindern, mit Treibholz ein Feuer zu machen. Am nächsten Tag war es ruhiger. Der Wind flaute ab, die See beruhigte sich, und Matthew durfte wieder schwimmen gehen. »Sei aber vorsichtig«, warnte Skip ihn streng. »Die Dünung ist immer noch ziemlich beachtlich. Schwimm nicht zu weit raus.« Matthew hielt sich daran. Er ging bis zu einer kleinen verlassenen Bucht jenseits des Hauptstrandes und ließ sich auf der geschützten Seite der Felsen ins Wasser gleiten. Es war ruhig hier. Hier gab es keinen, der ihm etwas vorschreiben oder ihn in seinen Gedanken stören würde … Und sogar seine wild im Kopf herumschwirrenden Gedanken schienen sich im Meer zu verlieren … Er trieb bewegungslos auf dem Rücken, als er plötzlich das Gefühl hatte, beobachtet zu werden. Er drehte sich um, richtete sich auf und trat Wasser in der schaukelnden Dünung. Ein großes dunkles Gesicht sah ihn an. Zwei leuchtende, kluge Augen waren auf ihn gerichtet, und das Wesen lächelte breit. Einen Augenblick lang ergriff ihn Panik. Angst schien seine Beine zu lähmen. Aber dann durchflutete ihn ein Gefühl der Erleichterung und Beruhigung. Es ging, da war er sicher, von dem Lebewesen aus, das er vor sich hatte – dieses wunderschöne, schimmernde Wesen, welches ihn mit solch großem Interesse musterte. Ein Delphin! dachte er. Er ist gekommen, um mich anzusehen. In seinen Augen muß ich wie ein schwerfälliges Etwas aussehen. Der Delphin schien sich über ihn lustig zu machen, fast so, als hätte er gerade den gleichen Gedanken gehabt. Er tauchte durch eine Wel24
le, schwamm wie ein dunkler, schimmernder Blitz um ihn herum und sprang dann keine zwei Meter von ihm entfernt elegant aus dem Wasser, wobei sein heller Bauch in der Sonne glänzte. »Oh!« rief Matthew fasziniert. »Du bist wirklich schön. Ich wünschte, ich könnte so springen wie du.« Der Delphin schien ihn zu hören. Er schwamm einen weiten Bogen und bewegte sich dann auf ihn zu. Matthew streckte mutig die Hand aus und berührte die schwarzsilberne, nasse Flanke, die an ihm vorbeiglitt. Sie fühlte sich anders an als erwartet. Sie war glatt, fest und irgendwie vertraut – wie etwas, das er kannte … Das große Meereslebewesen wendete noch einmal im schimmernden Wasser, bewegte sich graziös im Zickzack, kam näher und zog sich wieder zurück, neckte ihn spielerisch und zeigte nicht die geringste Spur von Angst. Matthew war verzaubert. Er schwamm näher und versuchte, die graziösen Bewegungen des Delphins im Wasser nachzuahmen – was ihm natürlich nicht gelang. Neben dieser wunderbaren, spielerischen Anmut fühlte er sich hoffnungslos ungeschickt. Der Delphin schien auf ihn zu warten, denn er glich seine Geschwindigkeit den langsamen Bewegungen Matthews an. Sein Lächeln wirkte nachsichtig, ja fast liebevoll. »Sehr schnell bist du ja nicht gerade«, schien er sagen zu wollen. »Aber für ein menschliches Wesen bist du gar nicht mal schlecht.« Und als wollte er dies bestätigen, tauchte er noch einmal und kam ihm so nahe, daß sein seidiger Körper ihn streifte. Matthew lachte und umarmte den Delphin plötzlich voller Freude. Einen Augenblick schwammen sie zusammen, und sie waren eins. Dann befreite sich der Delphin und sprang wieder in die Luft. Matthew hörte, wie er die Luft zischend ausstieß und anschließend wieder einatmete, bevor er unter Matthews ausgestreckten Beinen wegtauchte. Gleich darauf schwamm der Delphin in einem großen Kreis um ihn herum und dann an seine Seite, wo er wieder Luft ausstieß. Er lag ganz ruhig im Wasser und sah Matthew erneut mit diesem intelligenten, fragenden Blick an, als wolle er ihm viele Fragen stellen. »Wenn ich könnte, würde ich dir antworten«, sagte Matthew laut, 25
»aber ich verstehe noch nicht einmal deine Fragen. Was soll ich tun? Du mußt mir einfach vertrauen.« Der Delphin schien damit einverstanden. Er sprang noch einmal in die Luft, tauchte tief ins Wasser, kam Matthew ganz nahe und drückte seine spitze Flaschennase liebevoll an seinen Körper. »Ich werde dich Flite nennen«, erklärte Matthew, »weil du fast fliegen kannst. Lord Flite. Mit solch einer Nase mußt du ein Aristokrat sein.« Wieder legte er seinen Arm um den geschmeidigen Delphinkörper und drückte ihn fest an sich. Der Delphin lächelte und schlug sanft mit dem Schwanz nach ihm. Fast eine Stunde schwammen und spielten sie zusammen, bis Matthews verletzte Beine schließlich zu ermüden begannen, und er wußte, daß er das Wasser verlassen und den Delphin alleine weiterschwimmen lassen mußte. Flite schien seine Erschöpfung zu spüren, denn plötzlich schwamm der kräftige Körper wieder ganz nahe an ihn heran und schubste ihn sanft in Richtung Ufer. Matthew streichelte den glatten, glänzenden Kopf und wandte sich dann ab, um zu den Felsen zurückzuschwimmen. Der Delphin gab ihm einen letzten, fröhlichen Schubs mit der Schnauze, sprang hoch ins Sonnenlicht und schwamm dann ins Meer hinaus. Schade, jetzt ist er weg, dachte Matthew traurig und blickte auf das Meer, das ihm plötzlich grau und leer erschien. Als er die glatten, schwarzen Felsen entlanghumpelte, war es ihm, als hätte der Tag seine Helligkeit verloren.
* »Du warst zu lange im Wasser«, tadelte Skip ihn, als er Matthew rauh, aber dennoch freundlich abtrocknete. »Das bewirkt genau das Gegenteil.« »Ich weiß. Aber es hat mir Spaß gemacht.« Matthew wußte nicht genau, warum er Skip nichts von dem Delphin erzählte, doch was er 26
und Flite geteilt hatten, war nur für sie beide bestimmt, eine besondere Freude, die Dritte nichts anging. Sie durfte nicht zerstört werden. Er kannte das. Er wußte, wie seine Träume zerstört worden waren. O ja, er kannte das. Seine Mutter war ein Meister der Zerstörung gewesen. Er fröstelte. So durfte er nicht denken – jetzt nicht mehr. Aber es ließ sich nicht leugnen: Seine Mutter hatte all seine Hoffnungen, seine innerste Quelle der Freude zerstört. Als er mit Flite draußen in den tiefen, schimmernden Weiten des Atlantiks schwamm, hatte er, wenn auch nur für einen Augenblick, diese Quelle der Freude wiederentdeckt. Aber jetzt war es erneut verschwunden, das Gefühl von staunendem Glück. Sein Freund Flite war in die weiten Gewässer zurückgekehrt, und vielleicht würde er nie mehr zu ihm zurückkommen. Nur für einen Augenblick hatte er sie erfahren – diese reine, begeisterte Fröhlichkeit, dieses perfekte Einverständnis mit einem anderen beseelten Wesen. Matthew fühlte sich wie ein totes Etwas in einer Welt, die wieder farblos und kalt geworden war. Er erschauerte noch einmal und bemerkte, daß Skip ihn beobachtete. »Ist alles in Ordnung?« »Ja, klar.« »Tun deine Beine weh?« »Nein.« »Zieh dich schnell an, bevor du ganz steifgefroren bist.« »Ich – mir ist nicht kalt.« Matthew klapperte mit den Zähnen. »Nein?« Skip zog die Augenbrauen hoch. Er legte die Hand auf Matthews Schulter. »Keine Übungen heute. Du hast genug getan. Setz dich in die Sonne.« Matthew befolgte seine Anweisung.
* 27
Als er später mühsam die Stufen zur Hafenmauer hochstieg, sah er, daß der alte Mann wieder da war. Er saß in der Sonne, sein weißes Haar blitzte unter der Seemannsmütze hervor und die wasserblauen Augen waren auf die ruhelose See gerichtet. Er hatte seine gefalteten Hände auf den Griff seines Spazierstocks gelegt, sein Kopf war etwas zur Seite geneigt, als ob er dem Geschrei der Möwen und dem Toben der Brandung zuhören würde. Matthew blieb stehen. Er fragte sich, ob der Kapitän den Delphin gesehen hatte. Wahrscheinlich nicht. Auf jeden Fall war es besser, wenn er nicht darüber sprach. Er war durch eine harte, bittere Schule gegangen, in der er gelernt hatte, daß er über Dinge, die er liebte, besser nicht sprach. Ganz tief versteckt in seinem Inneren mußte er sie behalten, wo niemand sie anrühren konnte. »Hat das Schwimmen heute Spaß gemacht?« Die ruhige Stimme klang nicht neugierig, sondern nur freundlich. »Ja.« »Bei dieser Dünung gibt es nicht viele Leute, die bei den Felsen ins Meer gehen würden.« Also hatte der alte Mann ihn ins Wasser gehen sehen. Was hatte er noch beobachtet? Matthew fühlte ein kurzes Aufflackern von Unwillen, fast Angst. Er wollte nicht über Flite sprechen. Mit niemandem. Aber der Kapitän ließ das Thema fallen. Er blickte weiter aufs Meer, dann sagte er plötzlich: »Bist du einsam?« Matthew starrte ihn an. »Einsam?« »Ja. Einsam. Ich bin einsam. Du auch?« Matthew dachte darüber nach. »Ich weiß nicht«, antwortete er schließlich. »Ich nehme an … Ich war eigentlich immer – nun ja – auf mich selbst gestellt … Aber einsam? Ich glaube nicht.« »Hast du Freunde?« »Da sind die Kinder …« Er zeigte mit der Hand auf die kleine Gruppe am Strand. »Jungen in deinem Alter? Mädchen?« Matthew zuckte mit den Schultern. »Ballspiele und Feste am 28
Strand? Oder mit Mädchen durch die Dünen laufen? Oder in die Disko gehen?« Er grinste. »Das ist nicht mein Fall – mit diesen Beinen.« »Was ist mit Skips Surfern?« Erstaunt blickte Matthew ihn an. »Sie kennen Skip?« »Jeder kennt Skip. Er leistet hier gute Arbeit.« Matthew nickte. »Ja, besonders bei mir.« Er seufzte. »Aber die Surfer sind …« »Wie ein Clique?« Matthew lachte. »Immerhin sind sie Mitglieder in einem Club. Aber sie haben mich schon ein paarmal eingeladen.« »Bist du hingegangen?« »Nein.« Verney St. George funkelte ihn an. »Das solltest du aber! Es ist nicht gut, wenn du mit dieser Jammermiene herumläufst.« Matthew wollte protestieren, ließ es dann aber. Schließlich sagte er leise: »Sie haben sich über mich erkundigt.« »Ja.« »Warum?« »Nicht aus Neugier oder sagen wir, nicht direkt. Ich wollte wissen, was mit dir los ist.« »Jetzt wissen Sie es.« Der Kapitän grunzte. »Das ist Zeitverschwendung.« »Was?« »Schuldgefühle.« Matthew starrte ihn an. Er war so bestürzt, daß er fast aufgesprungen und weggelaufen wäre. Aber seine Beine versagten ihm den Dienst. So fragte er nur: »Schuldgefühle?« Kapitän St. George blickte Matthew direkt an. »Was du für diese Kinder getan hast, war richtig. Junge Leben sind wichtig. Du konntest die anderen beiden nicht retten. Es ist traurig, aber so ist es nun einmal. Das darf dich nicht belasten. Es ist nicht gut für dich.« Matthew blinzelte. »So einfach ist das nicht …« »Warum nicht?« Die Stimme des Kapitäns klang scharf. 29
»Ich …« Er zögerte und sah den alten Mann hilflos an. Er wußte, daß er ihn nicht verstehen würde. »Versuche, es mir zu erklären«, sagte der Kapitän, als hätte Matthew laut gesprochen. Matthew schüttelte den Kopf. »Es fällt mir so schwer … Wissen Sie, ich – ich mochte sie nicht besonders.« »Was hat das damit zu tun?« Der Junge sah ihn überrascht an. »Ich dachte …« »Du dachtest, daß du sie sterben ließest, weil du sie nicht mochtest.« Die schonungslosen Worte sollten ihn schockieren, und das taten sie auch. Matthew hob den Kopf, als müßte er einen Schlag abwehren. »Ich habe es nicht gewollt.« »Natürlich hast du das nicht. Du hättest deinen schlimmsten Feind gerettet, wenn du gekonnt hättest. Du mußt den Tatsachen ins Auge sehen. Du dachtest, sie wären ausgegangen. Das waren sie aber nicht. Sie befanden sich im Haus, in dem ganzen Rauch und im Feuer, und sie waren tot. Schon lange, bevor du sie gerufen hast, lange bevor du überhaupt den Rauch bemerkt hattest. Es gab nichts, was du hättest tun können. Du warst nicht Verantwortliche.« Matthews Augen verdunkelten sich, als er an das Geschehen zurückdachte. »Ich fühle mich aber verantwortlich.« Kapitän St. George seufzte. »Das hat überhaupt keinen Sinn.« Er schwieg einen Moment und sagte dann beiläufig: »Erzähl mir von ihr. Warum mochtest du sie nicht?« Matthew seufzte erneut. »Was soll ich sagen? Meine Mutter hatte viele Männer.« »So sind viele Frauen.« Matthew lächelte müde. »Das mag sein … Sie hatte immer neue Freunde – von Anfang an. Und ich war ihr immer im Weg, ich habe sie immer eingeengt. Sie wollte sich einfach nur amüsieren.« »Auf deine Kosten?« »Na ja, meistens kam ich ganz gut allein zurecht.« »Was ist mit deinem Vater?« 30
Matthew starrte einen Augenblick ins Leere. »Er starb bei einem Autounfall. Das hat sie mir jedenfalls erzählt. Ob es stimmt, weiß ich nicht. Ich habe ihn nie richtig kennengelernt.« »Und den letzten Freund – kanntest du den?« »Nicht richtig. Sie waren meistens betrunken, haben sich dann angeschrieen und sich mit Dingen beworfen.« Wieder lächelte er müde. »Und dann gingen sie in die Kneipe und fingen wieder von vorne an.« Er schwieg einen Moment. »Ich dachte, daß sie das in dieser Nacht auch getan hätten.« Der Kapitän nickte. »Logisch.« »Nein, das war es nicht.« Matthews Stimme klang auf einmal brüchig. »Ich hatte vergessen …« »Was hattest du vergessen?« »Es gab noch etwas anderes, was sie machten, wenn sie sich gestritten hatten.« Der alte Mann sah ihn grimmig an. »Und woher solltest du wissen, daß sie gerade das an diesem Abend gemacht haben?« »Ich hätte es mir denken können.« Der Kapitän ließ nicht locker. »Und was dann? Du hast sie gerufen. Wenn du nachgesehen hättest, wärst du jetzt auch tot – und die Kinder auch.« Matthew schwieg. Dann sagte er mit müder Stimme: »Alles ist so verworren.« »Es ist vorbei«, stellte der Kapitän fest. »Es ist vorbei, Junge. Sieh nicht mehr zurück. Nur ein Narr vergeudet seine Zeit damit, zurückzublicken. Ich muß es wissen.« Matthew hörte aus seiner Stimme einen Hauch Verbitterung heraus und wunderte sich darüber. Aber er war zu müde, um weiter darüber nachzudenken. »Hier«, sagte der Kapitän. »Nimm einen kräftigen Schluck.« »Was ist das?« Zweifelnd sah Matthew auf den silbernen Flachmann, der ihm hingehalten wurde. »Na was wohl – Rum. Was sonst erwartest du von einem alten Seebären? Trink.« 31
Matthew gehorchte und mußte husten. Aber der Alkohol tat ihm gut. Der alte Mann beobachtete ihn. »So ist es besser. Wir wollen nicht mehr darüber sprechen. Ich habe dich genug gepiesackt. Hol ein paar Pfefferminzstangen für die Kinder«, sagte er dann barsch und gab ihm etwas Kleingeld. »Wenn du hier herumsitzt, ist keinem geholfen.«
* Matthew hatte fast Angst, am nächsten Tag ins Meer zu gehen. Aber der Delphin kam wieder. Kaum hatte Matthew zu schwimmen begonnen, da schoß der blaugraue Schatten schon durch das Wasser auf ihn zu und begrüßte ihn freudig. »Flite«, rief Matthew und streckte beide Arme nach ihm. »Du bist zurückgekommen.« Flites Reaktion bestand aus einer Reihe von Klick- und Quieklauten und einigen aufsehenerregenden Luftsprüngen. »Komm her«, schien er zu sagen. »Sei nicht so langweilig und träge. Folge mir. Schau, wie hoch ich springen kann! Ist das Leben nicht wunderbar? Sieh her!« Matthew sah staunend zu ihm. Dann schwamm er hinter ihm her, so gut er konnte, und dachte dabei: Ist das Leben nicht wunderbar? Sie spielten lange zusammen, tauchten, glitten in die grünen Tiefen und paddelten wieder ins Sonnenlicht hoch. Manchmal schwamm der Delphin in einem Kreis um ihn herum, aber manchmal kam er auch ganz nahe und erlaubte Matthew, sich an seiner starken Rückenflosse festzuhalten und neben ihm herzuschwimmen. Einige Male durfte er sogar seine Arme um die Flosse legen und seinen geschmeidigen Körper streicheln, während sie in der Dünung dahinglitten. Einmal brachte der Delphin ihm vom Meeresgrund einen Kieselstein und machte ihn ihm zum Geschenk. Matthew fragte sich, ob er es jemals wagen könnte, auf Flites Rücken zu reiten. Er hätte es gerne versucht, aber er wußte, daß Flite als erster die Initiative ergreifen mußte. Er konnte diesem freien, wundervollen Tier seinen Willen nicht aufzwingen. Er konnte nur glücklich 32
darüber sein, daß der Delphin ihn als Gefährten ausgesucht hatte und ihn in seine eigene freudige Welt entführte. Plötzlich überfiel ihn ein furchtbarer Krampf in seinen verletzten Beinen. Er krümmte sich vor Schmerzen zusammen – und ging wie ein Stein unter. Einen Moment lang schien der Delphin überrascht zu sein, aber dann hatte er erkannt, daß Matthew in Schwierigkeiten war. Der lange, geschmeidige Körper schoß nach unten, tauchte unter Matthews steife, hilflose Beine und drückte ihn vorsichtig zur Oberfläche hoch. Matthew war fast bewußtlos, so lange war er schon unter Wasser gewesen, aber verschwommen fühlte er, wie der glatte, gebogene Rücken des Delphins seine Beine auseinanderdrückte, bis er direkt hinter Flites Kopf auf dem kraftvollen Körper saß. Dann durchschnitt der Delphin das Auf und Ab der Wellen auf seinem Weg nach oben. Die spitz zulaufende Nase durchbrach sehr schnell die Meeresoberfläche. Matthews Lungen bekamen wieder Luft, und er atmete sie tief ein. Aber der Delphin warf ihn nicht sofort wieder ab. Er schwamm weiter, bis er fast die Felsen erreicht hatte. Dann, und erst dann, drehte er sich sanft zur Seite und ließ Matthew in sicherer Reichweite des Ufers von seinem Rücken gleiten. Der Krampf war jetzt vorüber, aber Matthew fühlte sich schlapp und elend. Trotzdem drehte er sich im Wasser noch einmal um und umarmte den Delphin. »Vielen Dank, Flite«, murmelte er und legte sein Gesicht auf den Rücken des Delphins. »Ich wäre eben fast ertrunken.« Flite lächelte ihn nur freundlich an und sprang noch einmal in die Luft, um zu zeigen, daß das Leben immer noch schön war. Dann tauchte er ins Wasser hinab und schoß ins Meer hinaus. Matthew erklomm mühsam die Felsen, legte sich hin und atmete tief ein und aus, bis er sich stärker fühlte. Er lag da und dachte an das wundervolle, prickelnde Gefühl der Kraft, das der geschmeidige Körper ausgestrahlt hatte, als er ihn durch die dunkelgrünen Gefilde des Meeres getragen hatte.
* 33
»Haben Sie mit ihm gesprochen?« fragte Skip den alten Mann. »Ja«, antwortete Kapitän St. George nickend und schob Skip seinen Drink zu. Sie saßen an der Bar des Hotels, dessen große gewölbte Fenster den Ausblick über die sonnenbeschienene Bucht freigab. »Irgendein Ergebnis?« »Könnte man so sagen.« Das zerfurchte, braungebrannte Gesicht wirkte nachdenklich. »Schuldgefühle sind sehr schwer zu überwinden.« Die Worte des alten Mannes schienen eine schwerwiegende Bedeutung zu haben, und Skip sah ihn verwundert an. »Schuldgefühle?« »Ach, nicht so wichtig. Ich glaube, er erholt sich bald von dem Schock.« Skip nickte und trank langsam einen Schluck Bier. »Gestern abend kam er in den Club.« »Gut.« Der Kapitän erwähnte nicht, daß er Matthew dazu ermuntert hatte. »Wie kam er mit den Jungs zurecht?« »Prima. Besonders als einer ihm eine Gitarre gab.« Der alte Mann schaute ihn erstaunt an. »Gitarre? Kann er denn Gitarre spielen?« »Wie ein Engel. Oder besser gesagt, wie ein Profi.« »Popmusik und so was?« »Nein«, Skip schüttelte den Kopf, »Klassik – ein echter Künstler.« »Klassik?« »Ja. Na ja, er spielte auch einige Lieder, bei denen die Jungs mitsingen konnten. Aber während der restlichen Zeit saß er nur mit der Gitarre da und vergaß, daß wir existierten. Ich habe noch nie so etwas gehört.« Der Kapitän starrte ihn an. Dann sagte er langsam: »Gut – ein verborgenes Talent wurde entdeckt. Was kann er noch?« »Er kennt sich mit Computern aus.« »Was?« »Computer. Mary hat einen im Büro. Sie versucht unter anderem, uns einen Überblick über die Seehundpopulation zu verschaffen und 34
ist dabei ganz gewaltig ins Schleudern geraten. Doch er hat das im Nu hinbekommen.« St. George stieß einen Pfiff aus. »Heutzutage ist das eine nützliche Fähigkeit. Wie sieht es mit der Schule aus?« Skip seufzte. »Er sagt, daß er diesen Sommer seine Abschlußprüfungen machen wollte. Die meisten hat er bestanden, aber am Schluß hat er ein paar verpaßt. Ich weiß nicht, wie intelligent er ist …« »Meiner Meinung nach sehr intelligent.« Die beiden Männer blickten einander an. »Skip – was soll bloß aus ihm werden?« Der jüngere Mann strich sich mit der braungebrannten Hand durchs Haar. »Ich wünschte, ich könnte diese Frage beantworten.« »Was haben die Leute vom Jugendamt für Anweisungen gegeben?« »Sie sagten mir nur, was für sein körperliches Wohlbefinden getan werden sollte – Krankengymnastik und so weiter – und baten mich, ihn allgemein im Auge zu behalten.« Er zögerte und fügte dann hinzu: »Ich glaube nicht, daß sie wirklich wissen, was sie mit ihm anfangen sollen … Wahrscheinlich versuchen sie, einen Verwandten zu finden. Und in der Zwischenzeit, so sagten sie, würden sich die Farleys um ihn kümmern.« »Ich habe sie noch nicht kennengelernt«, brummte der Kapitän. »Aber sie machen eigentlich einen ganz netten Eindruck.« »Sie sind wirklich nett. Die Frau tut sicherlich ihr Bestes für ihn.« »Vielleicht sollten wir zu ihr gehen und mit ihr sprechen?« schlug der Kapitän vor. »Das ist eine gute Idee«, stimmte Skip zu.
* Als sie Madge Farley aufsuchten, sprach sie fast so offen wie Kapitän St. George und war auch genauso besorgt. »Die verdammte Stadt hat uns in einer Pension untergebracht. Ich würde Matt sofort aufnehmen. Er ist ein guter Junge – das war er schon immer –, und meine Kinder beten ihn an. Aber was soll ich ma35
chen? Sie haben uns zwei Zimmer gegeben. Zwei verdammte Zimmer für vier Kinder, Jim und mich. Kein Badezimmer. Keine Küche. Nur die Zimmer. Matt könnte vielleicht auf dem Fußboden schlafen, aber das wäre keine gute Lösung für ihn.« Madges zerfurchtes Gesicht zeigte hilflose Wut. »Sie sind so verflucht dumm. Wenn sie uns eine neue Wohnung zugewiesen hätten, wäre das für alle in Ordnung gewesen. Aber sie werden so lange zögern, bis es zu spät ist, und dann werden sie den Jungen in ein Heim geben, weil er nirgendwo anders hin kann.« Skip war empört. »Das können sie nicht machen!« »Aber natürlich können sie das! Er hat keine Verwandten, kein Zuhause und auch nichts, was ihm gehört. Er besitzt nur die Sachen, die er am Leib trägt – und das meiste davon hat er von Nachbarn bekommen.« »Ist irgendwo Geld vorhanden?« fragte der Kapitän. Madge schnaubte verächtlich. »Wann sollten die beiden jemals was gespart haben? Es ging alles für Schnaps drauf. Sie hat Matthew nur dann etwas Vernünftiges zu essen gemacht, wenn sie nüchtern war. Der arme Junge tat mir leid. Ich habe ihn manchmal gebeten, auf die Kinder aufzupassen, nur damit ich ihm eine Mahlzeit geben konnte.« Ihr düsterer Blick sagte alles. Dann fügte sie hinzu: »Der Mann von der Versicherung kam allerdings vorbei, um sich alles anzusehen … Er war auch im Krankenhaus … Vielleicht kommt von der Seite noch was – wenn sie überhaupt die Prämien gezahlt hat.« »Er war immer auf sich allein gestellt, oder?« fragte Verney St. George. »Ja, solange ich ihn kenne jedenfalls, und das sind immerhin zehn Jahre. Die meiste Zeit blieb er in seinem Zimmer und lernte. Er ist ein helles Köpfchen, müssen Sie wissen. Ich glaube, daß er sich schon so früh in seine Bücher flüchtete, damit das alles nicht an ihn herankommen konnte, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Der Kapitän nickte. »In der Schule sagten sie, daß er ziemlich gut sei. Es ist ein Jammer, daß er die Prüfungen verpaßte.« 36
»Er kann sie wiederholen«, sagte Skip. »Wenn er im Waisenhaus lebt? Da müßte er aber viel Glück haben.« Ihre Stimme war schneidend. »Was ist mit seiner Gitarre?« fragte Skip, der sich an Matthews entrückten Gesichtsausdruck am Abend zuvor im Club erinnerte. Madge Gesicht hellte sich etwas auf. »Oh ja, er klimperte andauernd irgendwelche Lieder.« »Klimpern?« Skip klang entsetzt. »Nun ja, er nannte es üben. Immer noch einmal von vorne, bis er es richtig konnte. Außer wenn seine Mutter ihn anschrie und befahl, damit aufzuhören.« Madges Miene wurde immer grimmiger. »Aber wenn er wollte, konnte er hervorragend spielen. Wir hörten ihm oben zu, auch die Kinder. Er hat sie fast jede Nacht in den Schlaf gespielt.« »Hatte er einen Lehrer?« fragte der Kapitän. Madge nickte lebhaft. »Einer seiner Lehrer, glaube ich. Ich erinnere mich, daß Matt mir sagte, seine Mutter würde die Stunden nicht bezahlen. Deshalb trug er noch mehr Zeitungen aus.« Sie seufzte. »Die Gitarre ist natürlich auch mit verbrannt und sein Computer ebenfalls. Für den hat er monatelang gespart. Ich weiß das deshalb, weil er Danny erzählte, daß er jetzt genug Geld zusammen hätte. Er holte die Kinder nach unten, damit sie sich den Computer ansehen konnten.« Plötzlich hielt sie inne und sah die beiden Männer verzweifelt an. »Was wird jetzt aus ihm werden? Bis jetzt habe ich mich noch nicht getraut, mit ihm darüber zu sprechen. Er scheint so … irgendwie in sich zurückgezogen zu sein. Jim sagte, ich sollte ihn in Ruhe lassen … Aber wir fahren in ein paar Tagen nach Hause, und ich weiß überhaupt nicht, was ich machen soll …« Plötzlich sagte Skip: »Er könnte noch eine Weile bei uns bleiben – wenn er möchte.« Er sah Madges zweifelnden Blick und fügte hinzu: »Bis eine Lösung gefunden worden ist, meine ich.« »Wäre das möglich?« Ihr zweifelnder Blick verschwand, und Hoffnung keimte in ihr auf. »Ob die vom Amt das erlauben würden?« »Das werden wir schon sehen«, antwortete der Kapitän. »Überlassen Sie das uns. Wir werden es herausfinden.« 37
»Ich – wir wären Ihnen so dankbar!« »Aber«, sagte Skip fest, »zuerst müssen wir herausfinden, was Matthew möchte.« Er blickte den Kapitän herausfordernd an. »Ja, natürlich«, stimmte Kapitän St. George zu.
* Matthew wußte, was er wollte. Er wollte in der Nähe des Meeres bleiben, wo er den ganzen Tag mit dem Delphin Flite spielen konnte. Alles andere war unwichtig. Eine Ausnahme bildete natürlich das Gefühl, das ihn überkam, wenn er eine Gitarre in den Händen hielt, und der Zauber, den die Musik hervorrufen konnte. »Würdest du gern noch ein bißchen hierbleiben?« fragte Skip und richtete seine blauen Augen auf Matthews verträumtes Gesicht. »Oh, ja«, antwortete Matthew. »Bitte.« Er sah Skip an, und sein Herz hüpfte vor Freude. Mit plötzlicher Schüchternheit fügte er hinzu: »Ich … ich könnte – gibt es im Club vielleicht irgendwelche Arbeiten, die ich erledigen könnte?« Skip grinste. »Da wirst du gut zu tun haben.« »Aber werden sie es gestatten?« »Das weiß ich nicht. Der Kapitän wird es herausfinden.« Einen Augenblick lang war Matthew verwirrt. »Der Kapitän? Ist das der alte Mann, mit dem ich immer gesprochen habe?« »Genau.« »Wer ist er, Skip?« »Kapitän St. George?« Skip zögerte. »Ist er wirklich ein Kapitän?« »Nein. Jetzt nicht mehr. Er war früher Kapitän eines kleinen Schiffes. Jetzt ist er der Chef einer der größten europäischen Schiffahrtslinien.« »Was?« Skip lächelte über Matthews Staunen. »Ein echter Tycoon – und die Leute sagen, daß er sehr reich ist. Obwohl er hier unten ganz bescheiden lebt.« »Aber er …« 38
»Ja, ich weiß. Er trägt eine schäbige Seemannsjacke, eine zerbeulte alte Mütze und sitzt mit einem alten Spazierstock in der Hand auf einer Bank in der Sonne. Aber wenn du genau hinsiehst, fällt dir bestimmt auf, daß der Stock aus Ebenholz und der Griff aus Elfenbein ist. Obwohl er vorgibt, nur ein alter Mann zu sein, der den Tag müßig verstreichen läßt, weiß er genau, wo sich alle seine Schiffe befinden und nimmt mit Hilfe seines Computer jeden Tag Kontakt mit seinem Londoner Büro auf.« Matthew stieß einen kurzen Pfiff aus. »Was für Schiffe?« »Keine großen Linienschiffe mehr – das Geschäft ist mit Ausnahme der Kreuzfahrtschiffe gleich null. Er besitzt natürlich noch einige. Aber größtenteils sind es Tanker, Frachter, Fähren, Ausflugs- und Ruderboote – er hat so ziemlich alles, was schwimmt.« »Lebt er hier das ganze Jahr über?« »Nein. Aber jeden Sommer wohnt er im Hotel. Manchmal bleibt er auch den Herbst über. Aber meistens reist er ab, bevor der Winter beginnt.« »Wohin?« »Das weiß ich nicht. Ich schätze irgendwo in den Süden, wo es warm ist. Die Leute sagen, daß er sehr krank gewesen ist, obwohl er niemals darüber spricht.« Matthew schwieg einen Augenblick. Dann sagte er langsam: »Er ist gut zu mir gewesen.« »Ich weiß. Du kannst dich geehrt fühlen.« Skip sagte das in einem kühlen Ton, der unterschwellig eine versteckte Spannung verriet. »Er ist nicht zu allen Leuten nett.« »Er sagte, daß er einsam sei.« Skips Augen wurden schmal. »Tatsächlich? Du bist geehrt. Ich bin sicher, daß er das noch keinem anderen gestanden hat.« »Spontane Freude …«, murmelte Matthew. »Das hat er gesagt.« Skip schwieg. Sein Gesicht hatte einen qualvollen Ausdruck angenommen, den Matthew sich nicht erklären konnte. »Skip, was ist los?« fragte er besorgt. »Ach nichts …«, murmelte Skip. Er schien sich wieder gefangen zu 39
haben. »Überlassen wir es dem Kapitän, deine Probleme zu lösen. Die Jungs möchten übrigens gerne, daß du wieder für sie spielst. Kommst du?« »In Ordnung«, stimmte Matthew zu, der bei dem Gedanken, wieder eine Gitarre in der Hand zu halten, überglücklich war.
* Die Mitglieder des Surfclubs begrüßten Matthew an diesem Abend wie einen alten Freund. »Guckt mal, wer da kommt! Der alte Hinkefuß! Matthew Ferguson!« riefen sie grinsend. Matthew hatte es schon längst aufgegeben, überempfindlich zu reagieren, wenn Witze über ihn gemacht wurden. Also grinste er zurück. Bevor er sich hinsetzte, um zu spielen, nahm er die ihm angebotene Zitronenlimonade und ein Stück Kuchen. Er fühlte sich beinahe wie ein Mitglied der Clique, und die merkwürdige Wand aus Glas, die ihn immer von anderen Leuten getrennt hatte, begann zu zerbröckeln. Er spielte alles, was sie wollten – soweit er es konnte. Popmusik, Volkslieder, alte Shanties und all die gefühlvollen Oldies. Er hatte ein gutes Gehör, und es fiel ihm nicht schwer, eine Melodie aufzunehmen. Und bald sangen alle mit. Am Anfang waren seine Finger noch steif gewesen, und das Spielen hatte weh getan. Aber je länger er spielte, desto besser ging es. Also machte er weiter und fand sich bei jeder Melodie und bei allen laut gesungenen Refrains zurecht, auch wenn er sich manchmal nur vage an die Lieder erinnerte. Schließlich trat eine Pause ein und einer sagte: »Los, Matthew, spiel doch mal was Klassisches.« Matthew lächelte und ließ, während er darüber nachdachte, seinen Daumen über die Saiten gleiten. Ob sie wohl Bach mögen? dachte er. Tudor Davies hat immer gesagt: »Beginne mit etwas Ruhigem und Disziplinierten. Wenn du dich warmgespielt hast, kannst du immer noch glänzen …« Vielleicht hatte er sich ja schon warmgespielt. Und außerdem fragten sie nach Klassik – also gut, dann sollten sie sie haben. Er begann mit Bach. Aber als die gefälligen, geordneten Noten zu 40
einem Abschluß kamen, hatte er sein Publikum völlig vergessen. Er spielte Granados. Die springenden, ansteigenden Töne erinnerten ihn an Flite. Er wünschte, er könnte etwas spielen, das ihn an das Meer erinnerte. Aber das Meer war einmalig – dieses aufgewühlte, sich in unendlicher Bewegung befindliche Wasser, diese klaren, grünen Tiefen, die Kraft und Erhabenheit der Brandung … Nein, eine Gitarre konnte solch eine Musik nicht hervorbringen. Vielleicht ein Orchester mit seinem ganzen symphonischen Klang, aber die einzelne, sanfte Stimme einer Gitarre? Nein. Trotzdem konnte sie springen und fliegen. Der flotte Rhythmus des Tanzes, das Heben und Senken – das war wie bei einem tanzenden Delphin. Ja, er konnte Flite und seine spontane Freude mit seinen Händen heraufbeschwören … Als er zu spielen aufhörte und der heftige Applaus das kurze verblüffte Schweigen brach, das nach seiner Darbietung eingetreten war, sah er, daß noch jemand in den Clubraum gekommen war. Es handelte sich um eine junge Frau mit kurzem blonden Haar. Sie blickte Matthew interessiert an. »Wo hast du gelernt, so zu spielen?« fragte sie. Matthew lächelte. »Ich hatte einen phantastischen Lehrer.« »Das merkt man.« Skip schlenderte herbei, stellte sich neben die junge Frau und legte seine Hand freundschaftlich auf ihre Schulter. »Ich stelle fest, daß ihr euch bereits bekannt gemacht habt.« Matthew wartete. Der Blick, den die beiden wechselten, entging ihm nicht, genauso wenig, daß Skips Hand so unbekümmert auf ihrer Schulter lag. »Noch nicht richtig.« Die junge Frau lächelte Matthew an. »Stelle mich dem Maestro vor.« Skip wandte sich an Matthew. »Das ist Dr. Petra Davison von der Forschungsstelle für Meeressäugetiere. Sie kann dir alles über Seehunde und Wale erzählen.« Matthew war beeindruckt. »Du solltest für sie spielen«, stellte sie fest. »Für wen?« 41
»Für die Seehunde. Du solltest für sie spielen.« »Warum?« »Sie lieben Musik. Sie kommen ganz nahe heran, um zuzuhören, besonders wenn man ihnen etwas vorsingt. Ich habe das oft gemacht.« Matthew stellte sich vor, wie diese lebhafte blonde Frau auf einer Klippe stand und ausgelassen in den Wind sang, vor ihr viele auf- und niedertanzende Köpfe im Wasser, die ihr zuhörten … »Ein Wunder!« sagte er leise. »Mögen das auch andere Tiere?« »Meinst du Delphine?« Er hatte den Verdacht, daß mehr hinter der Frage steckte. »Ja.« Skip und Petra lächelten sich an, und plötzlich wurde ihm klar, daß sie alles über Flite wußten – über seine wundervolle, geheime Freundschaft mit ihm. Matthew fühlte sich unendlich erleichtert. Nun mußte es nicht länger geheimhalten. Er haßte es, Skip zu hintergehen. »Ihr wißt über Flite Bescheid?« »Nennst du ihn so?« »Lord Flite«, verkündete Matthew. »Ich meine, die Art, wie er durch die Luft fliegt, und dann der edle Kopf … Welchen Namen sollte man ihm sonst geben?« Sie lachten wieder. Verlegen fügte er hinzu: »Ich hätte es schon eher erzählen müssen, aber ich …« »Du wolltest ihn für dich allein haben. Das kann ich gut verstehen«, beendete Skip den Satz für ihn. »Wirklich?« Schüchtern wandte Matthew sich Petra Davison zu und fragte: »Möchten Sie mitkommen und ihn kennenlernen?« Sie zögerte. »Eigentlich nicht. Ich bin im Augenblick nur hier, um die Seehundkolonie zu überwachen.« »Zu überwachen?« »Sie zu zählen – soweit ich kann. Und um festzustellen, ob irgendeiner von ihnen Anzeichen des Nordseevirus zeigt.« »Hat denn einer von ihnen den Virus?« fragte Matthew besorgt. »Bis jetzt noch nicht.« Sie drehte sich um und sah Skip fragend an. »Bei dir sind doch noch keine Tiere gestorben, oder?« 42
»Nein. Aber jemand hat einen toten Delphin gemeldet, der weiter im Norden an den Strand gespült wurde.« Kalte Furcht stieg in Matthew auf. »Einen Delphin? Können die den Virus auch bekommen?« Petra seufzte. »Das wissen wir noch nicht. Es hat Berichte über Delphine gegeben, die vor der amerikanischen Ostküste an einem unbekannten Virus gestorben sind. Hier ist er noch nicht aufgetaucht.« Sie schwieg einen Augenblick und fügte dann hinzu: »Obwohl die Umweltverschmutzung eine Menge Schwierigkeiten verursachen kann.« Als sie Matthews Angst bemerkte, sah sie ihn mitleidig an. »Und das ist noch nicht alles. Es gibt noch schlimmere Dinge, die den Delphinen zustoßen könnten, mußt du wissen.« »Welche?« »Nun, als erstes sind da die Beutelnetze. Die Delphine werden in ihnen gefangen – Hunderte von ihnen – zusammen mit den Thunfischen. Sie können nicht heraus, können nicht an die Oberfläche, um zu atmen, und müssen so ertrinken.« »Ertrinken!« Matthew dachte an Flite, an dessen schönen, geschmeidigen Körper, der aus dem Wasser ins Sonnenlicht sprang. Und er stellte sich vor, wie sich der Delphin in einem Netz verfangen würde, wie er sich verzweifelt drehte und wendete, in der Hoffnung zu entkommen, sich dabei aber nur immer mehr verfing und am Ende ertrank … Er erschauderte. »Ich glaube, Flite hat mir gestern das Leben gerettet.« »Wie das?« fragte Skip. Als Matthew es ihm erzählte, schimpfte er ihn nicht aus, weil er zu lange geschwommen war und deshalb einen Krampf bekommen hatte. Er sagte nur: »Weißt du, was die Menschen hier sagen? ›Delphine kommen nur zu denen, die sie brauchen!‹« »In den Netzen weinen sie«, sagte Petra plötzlich mit rauher, belegter Stimme. »Du kannst sie hören. Und das ist noch lange nicht alles. Diese Leute folgen den Delphinen, damit sie sie zu den Thunfischschwärmen führen. Dann werfen sie ihre Netze aus. Manchmal entkommen die Delphine, manchmal nicht. Oft werden sie von den Maschinen zerquetscht oder hängen in den Netzen mit abgerissenen Flossen …« 43
Matthew schluckte. »Furchtbar.« »Im Vergleich zu dem, was die Japaner machen, ist das noch gar nichts«, sagte sie und ihre Stimme drückte immer noch hilflose Wut aus. »Weißt du, was ich meine?« »Nein.« »Sie treiben sie mit ihren Booten in die Bucht, versperren den Weg ins offene Meer mit Netzen und schlachten alle ab. Erschlagen sie mit Knüppeln und erstechen sie mit Messern, bis das Meer rot von Blut ist.« Er war entsetzt. »Warum?« Petra zuckte mit den Schultern. »Sie nennen es Tradition. Sie haben das schon immer gemacht. Die Delphine fressen ihre Fische.« »Ihre Fische?« »Tja, das ist die große Frage, nicht wahr? Wem gehört das Meer?« Matthew nickte. Es gehört Flite, dachte er. Flite und seinen Artgenossen – den Seehunden und den großen Walen, die in den grenzenlosen Ozeanen der Welt in Freiheit leben … »Ich bin sicher, daß Flite nur das frißt, was er benötigt«, sagte er laut. »Ja.« Sie seufzte. »Es sind nur die Menschen, die gierig sind … Bevor wir anfingen, alles an uns zu reißen, war das Gleichgewicht perfekt.« Perfektes Gleichgewicht, dachte Matthew. Dieses wunderschöne, fröhliche Wesen. Wie kann jemand ein sanftes, friedfertiges Lebewesen wie Flite töten wollen? »Sie essen sie natürlich auch – in Japan«, fügte Petra hinzu, die seine Seelenqualen anscheinend noch vergrößern wollte. Matthew starrte sie nur sprachlos an. Ihm war ganz übel. »Sie schlachten jedes Jahr Tausende von Delphinen. Ihr Fleisch gilt als Delikatesse, weißt du.« Skip legte seine Hand auf ihren Arm. »Du brauchst Matthew nicht zu überzeugen. Er ist bereits auf deiner Seite.« Der wütende Blick in ihren Augen verschwand, und sie lächelte. »Tut mir leid. Es hat mich einfach übermannt. Das ist mein Lieblingsthema.« 44
»Das sollte es auch sein!« sagte Matthew laut. Dann fragte er schüchtern: »Warum habt ihr mir nie gesagt, daß ihr von Flite wißt?« Skip und Petra blickten sich an. Es war Skip, der Matthew antwortete: »Erstens wollte ich dich nicht stören. Ihr beiden saht richtig glücklich aus. Und außerdem wollte ich nicht, daß die Leute deinen Delphin verjagen. Schaulustige gibt es immer, auch wenn die Hochsaison vorbei ist und wir nicht mehr viele Gäste haben.« Matthew nickte. »Er schien sich überhaupt nicht vor mir zu fürchten. Ich war derjenige, der am Anfang vor ihm Angst hatte.« »Sie sind sehr stark«, stimmte Petra zu. »Sie können leicht einen Hai töten.« »Aber er ist so freundlich.« »Ja.« Petra nickte. »Und wir wollen auch, daß es so bleibt. Die Menschen – selbst die mit gut gemeinten Absichten – können unbeschreiblich dumm sein, weißt du. Sie schreien, drängeln, quälen unschuldige Lebewesen zu Tode und haben dabei noch die besten Vorsätze.« Ihr Gesicht war ernst. »Wir dachten, daß es besser wäre, euch allein zu lassen.« Matthew sah von einem zum anderen. »Danke«, sagte er leise, »ihr habt mir einen großen Gefallen getan.«
* Vor dem Fenster des alten Mannes stand ein Baum. Es war ein sehr alter und knorriger Kirschbaum mit weit ausladenden Ästen. Jetzt in der Morgensonne war jedes Blatt in ein karminrotes Licht getaucht. Es gab hier nicht viele Bäume, hier, wo die vom Meer kommenden Winde über das Land fegten und die Bäume in gebeugte, verkümmerte Silhouetten verwandelten, die sich gegen den Horizont duckten. Aber der Kirschbaum stand geschützt hinten im Garten des Hotels. So gedieh er und wurde alt und kräftig. Jedes Jahr im Frühling entfachte er einen Blütenregen, und im Spätherbst verwandelte er sich in ein Farbenmeer. Solche Schönheit rührte den Kapitän zu Tränen … Er war alt – alt und gebrechlich. Schönheit schien in diesen Tagen so gefährdet, so zerbrechlich zu sein. 45
Zum Beispiel der Junge. Seine graugrünen Augen, in denen die lange Einsamkeit und die geheimen Träume der Jugend standen … Er erinnerte Verney St. George an andere Zeiten und anderen Kummer, den er jetzt besser vergessen sollte. Er konnte es nicht wiedergutmachen. Dafür war es zu spät. Aber für den Jungen war es noch nicht zu spät. Er hatte sein Leben noch vor sich – ein ganzes Potential an Möglichkeiten. Vielleicht würde er mit einem bißchen Hilfe von außen (wenn er sie annehmen würde) Erfolg haben und glücklich sein. Doch er mußte vorsichtig vorgehen. In der Vergangenheit hatte er schon zu oft nicht bedacht, daß Glück genauso wichtig war wie Erfolg. Vielleicht sogar noch wichtiger … Zu oft hatte er schon etwas angeordnet, in die Reihe gebracht und das Leben von anderen in Bahnen gelenkt, die falsch waren. Es war nur zu einfach, selbstherrlich zu sein, besonders wenn man Geld hatte. Aber dieses Mal mußte er daran denken, daß jeder das Recht hatte, sein eigenes Leben zu führen. Aber es gab noch Dinge, die er erledigen konnte. Nachdem er einen Vormittag am Telefon verbracht hatte, ging er an den Strand, um Skip zu treffen, der gerade seine Surfer über den Stand der Flut informierte. »Es kommen ein paar Leute hierher«, sagte der Kapitän kurz angebunden. »Morgen oder übermorgen. Ich sage Ihnen noch wann.« »Gut«, nickte Skip. »Haben Sie es Madge gesagt? Sie wird froh sein, daß endlich etwas passiert.« »Ich informiere sie«, bot St. George an. »Wo ist der Junge?« »Im Wasser«, sagte Skip lächelnd und zeigte vage auf das weite Meer. Der Kapitän brummte, stützte sich auf seinen Ebenholzstock und marschierte den Strand hoch.
* 46
Matthew war tatsächlich im Wasser – zusammen mit Flite. Sie freuten sich genauso wie sonst über ihr Treffen, aber diesmal hatte Matthew das Gefühl, daß der Delphin über ihn wachte, fast so, als ob er sichergehen wollte, daß sein ungeschickter, zweibeiniger Freund nicht wieder in Schwierigkeiten geraten würde. Matthew hatte sich noch nie so sicher und umsorgt gefühlt, und er begann, mit dem Delphin zu sprechen. »Weißt du«, sagte er zu Flite und legte einen Arm um seine schimmernde Flanke, »bis jetzt mußte ich mich immer allein durchkämpfen. Ich bin es gar nicht gewohnt, daß jemand auf mich aufpaßt.« Flite wälzte sich faul in der Dünung und lächelte. »Das Meer ist groß«, schien er zu sagen, »und sehr tief. Aber ich werde dich nicht versinken lassen. Ich reite auf dem Meer wie ein König, und bei mir bist du sicher. Komm.« Matthew gehorchte. Aber der Delphin schwamm nicht sehr weit hinaus in den tiefen Atlantik. Er blieb in der Nähe der schützenden Felsen und spielte in der Sonne. Einmal entdeckte er ein kleines Boot, das von dem Pier aus in See gestochen war. Er schoß davon, um es sich anzusehen, kam kurz vor dem Boot an die Oberfläche und lachte den jungen Fischer an, der am Ruder saß. Aber bald kehrte er zu Matthew zurück, schwamm fröhlich einen Kreis um ihn und machte wieder einen aufsehenerregenden Sprung in die Luft. Als Matthew in Richtung Ufer schaute, sah er, daß jemand auf den Felsen saß und sie beobachtete. Er schwamm etwas näher und erkannte Petra. Sie trug wie er einen Neoprenanzug und ließ die Beine ins Wasser baumeln, aber sie versuchte nicht, die Felsen zu verlassen und ihm zu folgen. »Möchtest du nicht ins Wasser kommen?« rief er ihr zu. Sie zögerte und sagte dann: »Nur wenn dein Delphin dadurch nicht erschreckt wird.« Matthew drehte sich nach Flite um und sah, daß der Delphin nur ein paar Meter entfernt durch eine Welle sprang. »Nichts kann Flite erschrecken«, antwortete er lächelnd. Sie ließ sich ohne einen Spritzer von den Felsen aus ins Wasser glei47
ten und schwamm ruhig auf ihn zu. »Ich bleibe hier«, murmelte sie. »Er soll mich erst einmal ansehen. Sprich du mit ihm.« »Er braucht keine Vorstellung.« Matthew lachte fast so vergnügt wie Flite. Petra dachte überrascht: Wenn er lacht, wirkt er ganz anders. Aber laut sagte sie nur: »Wir sollten besser abwarten.« Matthew tauchte in eine Welle ein und suchte, während er in die Tiefe glitt, nach dem eleganten graublauen Schatten. Er war noch nicht tief getaucht, als der große Kopf des Delphins auf ihn zukam. »Flite«, rief Matthew und schwamm hinter ihm her durch die hoch aufspritzende Gischt, »hör auf anzugeben. Es ist jemand hier, den du kennenlernen solltest. Sie ist in Ordnung. Du brauchst keine Angst zu haben.« »Angst?« Die klugen Augen sahen ihn fragend an. »Im Meer bin ich der König. Warum sollte ich Angst haben?« Wie ein silberner Blitz sprang er hoch in die Luft. Dann tauchte er ins Wasser ein und war nicht mehr zu sehen. Plötzlich erschien er ganz nahe bei Petra. »Und wer bist du?« schien er zu fragen. Petra blieb ganz still im Wasser und ließ den Delphin seine Kreise um sie ziehen. Dann begann sie, sanft mit ihm zu sprechen. »Du mußt wissen, daß ich versuche, dich zu schützen – dich und deine Artgenossen.« Flite schien, damit einverstanden zu sein. »Ich wünschte, du könntest mir sagen, woher du gekommen bist«, seufzte Petra und streckte ihre Arme ganz aus, um die Größe und das Gewicht des Delphins zu schätzen. »Oder wo du hinwillst …« Wagemutig berührte sie sanft die glitzernden Flanken. »Denn ich nehme an, daß du bald irgendwohin schwimmen wirst, wo es wärmer ist.« Flite zuckte vor ihrer Berührung nicht zurück, aber er beschrieb mit seinem großen Körper mühelos einen Halbkreis, damit er Matthew ansehen konnte. Es war, als ob er bei ihm eine Bestätigung suchen würde. Dann rollte er sich langsam herum und schwamm auf seinen Freund zu. 48
Petra lächelte. Der Delphin hatte eindeutig Stellung bezogen. »Du bist derjenige, dem er vertraut«, sagte sie zu Matthew. Matthew war schon fast eifersüchtig darauf gewesen, wie gut Petra mit dem Delphin zurechtkam. Aber Flite hatte alles geändert. Mit einem sanften Schlag seiner Schwanzflosse hatte er seine Treue bewiesen. Matthew legte seine Arme um den schlanken Körper und schaukelte gemeinsam mit dem Delphin im Auf und Ab des Meeres. Nach einiger Zeit drehte er sich zu Petra um und schämte sich, daß er eifersüchtig gewesen war. Sie war nicht weit von ihnen entfernt, aber sie machte keine Anstalten näherzukommen. »Das ist alles, was ich wissen wollte«, sagte sie. »Auf Wiedersehen, Flite. Danke, daß du mit mir gesprochen hast.« Flite schlug nur einmal träge mit seiner Schwanzflosse, löste sich aber nicht aus Matthews Umarmung. Ruhig drehte sich Petra im Wasser um und schwamm davon. Der Delphin beobachtete, wie sie sich entfernte und drehte sich dann geschmeidig in der nächsten Welle. Als Matthew ihn losließ, sprang er mit freudiger Hingabe in die funkelnde Sonne. »Das Leben ist lebenswert«, rief Flite. »Die Welt ist wunderschön!« Und Matthew freute sich.
* Als er schließlich müde und glücklich das Wasser verließ und der lange, silbergraue Schatten ins Meer hinausschwamm, traf er Petra, die bei den Felsen auf ihn wartete. »Ich hoffe, ich habe ihn nicht zu sehr gestört«, sagte sie. Matthew schüttelte das Wasser aus seinem Haar. »Ich glaube nicht. Er schien so glücklich wie immer zu sein.« Er sah sie neugierig an. »Warum hast du deine Meinung geändert?« Sie seufzte. »Ich hatte das Gefühl, daß ich dazu verpflichtet bin. Wir müssen es melden, wenn so ein Tier gesichtet wird – jetzt, wo sie so sel49
ten geworden sind. Und jede Einzelheit kann für unsere Forschungsarbeiten von Nutzen sein. Wir wissen nicht genug über sie – wie alt sie werden, wo sie ihre Jungen zur Welt bringen, wohin sie ziehen. Auch die kleinste Einzelheit kann von Nutzen sein.« »Das verstehe ich«, erwiderte Matthew. »Was kannst du mir denn über ihn sagen?« Sie seufzte. »Nicht viel. Ein Flaschennasen-Delphin in erstklassiger Verfassung. Aber das weißt du ja sowieso. Es handelt sich übrigens um ein Männchen, obwohl ich nicht weiß, wie du das herausgefunden hast.« »Habe ich gar nicht. Woran siehst du das?« »Sie halten ihre Sexualorgane versteckt – ganz ihrem stromlinienförmigen Körper angepaßt. Aber der Bauch der Männchen hat einen Schlitz. Das kannst du sehen, wenn du nahe genug unter ihm schwimmst. Und das Männchen ist größer als das Weibchen, obwohl wir das in diesem Fall nicht vergleichen können.« »Was lang ist er deiner Meinung nach?« »Ungefähr zwei Armspannen … Mehr als drei Meter, glaube ich. Und er ist jung.« »Woher weißt du das?« »Oh, das sehe ich, wenn ich ihn anschaue. Seine Zähne sind ganz hell und scharf.« Matthew lachte. »Ein Lächeln wie aus der Zahnpastawerbung?« »Es ist ein wunderschönes Lächeln«, protestierte sie. »Zu nett vielleicht.« Als sie daran dachte, wie vertrauensvoll Flite war und welche furchtbaren Gefahren ihm von den Menschen drohten, seufzte sie traurig. »Es ist ja schön und gut, wenn man einen Delphin gern hat«, brach es plötzlich aus ihr heraus. »Aber was machen wir mit all den anderen?« Matthew sah sie an. »Du tust doch etwas.« »Nicht genug«, antwortete Petra kopfschüttelnd. »Du solltest dir im klaren darüber sein, daß er bald von hier fortgehen wird – wenn es draußen kälter wird.« Matthew nickte. »Ich weiß, daß es nicht ewig so weitergehen kann«, 50
murmelte er und starrte in den grenzenlosen Himmel. »Aber solange es geht, werde ich es genießen.«
* Als der Kapitän beim Wohnwagen der Farleys ankam, war keiner zu Hause. Die Wohnwagentür stand offen, und mehrere Matten und Schlafsäcke lagen zum Lüften in der Sonne, aber von innen war kein Laut zu hören. Während er noch überlegte, was er machen sollte, kamen die Kinder lachend auf ihn zu und blieben vor ihm stehen. »Mama ist nicht da«, sagte Danny. »Das sehe ich.« »Sie ist einkaufen gegangen«, fügte Donna hinzu. »Einkaufen, einkaufen«, stimmte Jimmy zu und hüpfte auf einem Bein hin und her. »Benimm dich«, zischte Danny. Jampy riß sich lachend los und drehte eine Pirouette, die sogar Flite zur Ehre gereicht hätte. »Benimm dich!« sang er und tanzte dazu. »Benimm dich!« Donna sah den Kapitän entschuldigend an. »Er ist schon eine Nervensäge«, erklärte sie und klang dabei wie ihre Mutter. »Das kannst du laut sagen«, brummte Danny. Dann erinnerte sich Donna an ihre guten Manieren. Sie nahm Kirsty auf den anderen Arm und streckte dem Kapitän höflich die Hand entgegen. »Schön, daß Sie gekommen sind«, sagte sie freundlich. Das Baby streckte ebenfalls die Hand aus und versuchte, nach einem der schimmernden Messingknöpfe am Mantel des Kapitäns zu greifen. »Papa holt gerade etwas Wasser«, fuhr Donna fort. »Er kommt gleich zurück. Wollen Sie nicht hereinkommen?« »Wenn es dir nichts ausmacht«, sagte der Kapitän und lächelte. Dann folgte er ihnen in den gelben Wohnwagen. Er war aufgeräumt und blitzsauber. 51
»Hier ist ja alles in tadelloser Ordnung«, lobte er. »Wo schlaft ihr denn alle?« »Danny und ich schlafen in den oberen Betten und Jampy und Kirsty unten, falls sie herausfallen sollten. Mama und Papa schlafen hier auf dem Klappbett.« Der Kapitän sah sich alles interessiert an. »Und was ist mit Matthew?« »Er schläft im Zelt. Aber zum Frühstück kommt er rein.« »Ich wollte auch mit im Zelt schlafen«, sagte Danny unaufgefordert. »Aber Mama sagt, Matt braucht seine Ruhe.« »Braucht seine Ruhe, braucht seine Ruhe«, sang Jampy und raubte ihnen den letzten Nerv. »Halt den Mund«, rief Danny automatisch. Aber da er nicht wirklich böse klang, kümmerte sich Jampy natürlich nicht darum. In diesem Augenblick waren Jim Farleys schwere Schritte auf den Stufen, die zum Wohnwagen heraufführten, zu hören. Der große Mann wußte sofort, weshalb der Kapitän gekommen war, und stellte die beiden vollen Wassereimer auf den Boden. »Verschwindet, Kinder«, sagte er. Donna sah enttäuscht aus. »Kann ich ihm nicht eine Tasse Tee machen – jetzt, wo wir wieder Wasser haben?« »Später«, antwortete Jim und zeigte mit dem Daumen auf die Tür. Die Kinder gehorchten. Kapitän St. George blickte Jim an. »Ich bin gekommen, um Ihnen mitzuteilen, daß ich eine Besprechung organisiert habe. Ein paar Leute kommen zusammen, um sich über Matthews Zukunft Gedanken zu machen.« Jim nickte. »Madge wird froh sein. Sie ist vor Sorge schon fast verrückt geworden.« Der Kapitän brummte mitfühlend. »Es ist eine schwierige Situation.« Jim schwieg. »Wir mögen Matt«, sagte er plötzlich. Er sah Kapitän St. George aufrichtig an. »Wir sind nicht nur – ähm – dankbar. Verstehen Sie?« 52
Der alte Mann verstand ihn. »Es ist nicht richtig – daß er allein ist.« Jim schüttelte den Kopf und suchte immer noch nach Worten. »So kann man nicht leben.« Der Kapitän nickte. »Diese Evi Ferguson – sie hat Matt nie auch nur irgend etwas gegeben. Ein Junge braucht Zuneigung. Wie wir alle. Wenn er keine bekommt, geht er zugrunde.« Kapitän St. George nickte. Er konnte kaum sprechen, so groß war der Kloß in seinem Hals. »Brauchen wir das nicht alle?« fragte er.
* Als Matthew an diesem Abend anfing, die Lieder zu spielen, die er insgeheim ›Brüll-Lieder‹ nannte, sah er, wie der alte Kapitän durch die Hintertür den langgestreckten Clubraum betrat. Er ging nicht nach vorne, sondern blieb im Dunkeln stehen, so als ob er nicht gesehen werden wollte. Matthew bemerkte auch, daß Skip und Petra in einer anderen dunklen Ecke nahe beieinander saßen und in eine ernsthafte Unterhaltung vertieft waren. Skip schien sie zu etwas überreden zu wollen, denn sie schüttelte dauernd den Kopf. Als sie hochsahen, fielen die Lichter des Tresens auf ihre Gesichter und ließen sie bleich und fremd erscheinen. Dann senkte Petra wieder den Kopf und sah auf ihre Hände, fast so, als ob sie ihr Gesicht vor dem blendenden Licht verbergen wollte. Dann entdeckte einer der Surfer den Kapitän und rief nach Shanties. Oh Mann, dachte Matthew aufgebracht. Er ist kein rauher, alter Seebär mit einem Holzbein. Er ist ein cleverer, alter Tycoon aus der Großstadt. Ich sollte lieber ›Money, Money, Money‹ spielen. Aber die Rufe wurden immer lauter, und bald sangen alle die Lieder über Masten, Segel und betrunkene Matrosen mit. Er wußte nicht, warum er auf einmal ›Rio Grande‹ spielte, aber ganz plötzlich schien die Traurigkeit dieses sehr alten Liedes vom Abschied in seine Finger und in all diese jungen, sorglosen Stimmen gekommen zu sein. 53
»Then away, boys, away –«, sangen sie. »Way down Rio –, And fare you well, my pretty young gel, For we're bound for the Rio Grande.« Als das Lied zu Ende war, sah er Skips und Petras Gesichter wieder im Licht. Sie blickten sich über den kleinen Tisch hinweg an, und auf ihren Gesichtern stand ein qualvoller Ausdruck, der Matthew erschreckte. Skip beugte sich nach vorn und legte eine Hand sanft auf Petras Arm, so als ob er um etwas bitten wollte. Aber immer noch schüttelte sie den Kopf. »Away, boys, away«, wiederholten die fröhlichen, jungen Stimmen. Doch sie interessierten sich nicht für die lange, lange Geschichte von Reisen und Abschied, die in diesem alten Lied erzählt wurde. Als Matthew das Lied spielte, wurde er traurig. Um seine Stimmung etwas zu verbessern, spielte er aus seinem eigenen, nicht sehr umfangreichen Repertoire – spanische Lieder und Tänze von de Falla und Granados und natürlich ›Die Jungfrau und die Nachtigall‹ … Aber das Lied war sogar noch trauriger als ›Rio Grande‹. Dann gab er den Rufen nach und spielte zur Aufheiterung ein fröhliches Lied von Jota. Ich muß sie erreichen, dachte er, als er der Gitarre die schwungvolle Melodie entlockte. Ich kann Petra und Skip nicht so traurig sitzen lassen. Was, wenn ich zum Abschluß Bach spiele? Die langsame Prelude. Sie ist immer noch traurig, aber ruhig. Das ist das richtige für sie. Also spielte er zum Abschluß Bach. Als er hochsah, sah er, daß der alte Kapitän immer noch hinten saß. Aber Skip und Petra hatten den Raum verlassen.
* Als sie zusammen über den Sandstrand gingen, schien das Mondlicht und warf hinter ihnen tiefe Schatten. Die Wellenkämme glitzerten 54
und blinkten dann und wann, und ein langer, silberner Pfad schimmerte auf dem Meer. »Könntest du nicht noch etwas länger bleiben?« bat Skip. »Nächste Woche muß ich schon am Pazifik sein«, antwortete Petra traurig, aber entschlossen. Skip seufzte. »Die Zeit ist immer viel zu kurz.« »Ich weiß.« Sie schwieg einen Augenblick. Dann fügte sie leise hinzu: »Du könntest natürlich mitkommen.« Skip antwortete genauso entschlossen wie Petra: »Du weißt, daß das nicht geht, der Club muß weiterlaufen. Und die Seehunde müssen überwacht werden. Und dann ist da noch Matthew. Es sieht so aus, als ob er noch etwas bleiben würde.« Er schwieg und sah sie im hellen Mondlicht an. »Ich kann das alles nicht im Stich lassen.« »Und ich kann das auch nicht.« Ihre Stimme war rauh. Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her. Schließlich sagte Skip: »Vielleicht im Winter, wenn der Aqua-Club geschlossen ist. Und vielleicht ist Matthew dann auch untergebracht … Vielleicht komme ich dann zu dir – um Urlaub zu machen.« Sie lachte. »Walfänger überwachen? Das wird vielleicht ein Urlaub!« Er legte einen Arm um ihre Schultern und zog sie nahe zu sich heran. »Ich wäre mit dir zusammen.« »Das stimmt natürlich.« Sie lachten jetzt beide. Skip blieb plötzlich stehen und sah ihr aufmerksam ins Gesicht. »Petra?« »Ja«, antwortete sie ruhig. »Ja, Skip.« Dann küßten sie sich ruhig und versunken, während sie das Rauschen des Meeres hörten und das Mondlicht sich im Wasser widerspiegelte. Nach langer Zeit lösten sie sich voneinander. »Petra … ich bin immer noch der Meinung, daß du es ihm sagen mußt.« »Ich kann nicht, Skip. Ich habe es versprochen.« Skip fluchte verhalten. »Das war ein altes Versprechen – wegen einer alten Geschichte. Ist es nicht an der Zeit, einen Schlußstrich zu ziehen?« 55
Sie seufzte. »Vielleicht … Aber ich habe mein Wort gegeben.« »Ich glaube, daß du dich irrst.« »Ich weiß, daß du dieser Meinung bist. Aber es ist noch nicht soweit. Irgendwie scheint es nicht richtig zu sein.« »Wenn du noch länger wartest, kann es vielleicht zu spät sein.« »Das ist mir klar.« Sie sah ihn beinahe schüchtern an und fügte zögernd hinzu: »Wenn ich es ihm sagen würde, würden die Dinge für uns noch schwieriger werden, nicht wahr?« Skip nickte kurz. »Ja. Das stimmt.« »Also –«, sie hakte sich bei ihm unter und zog ihn wieder nahe zu sich heran. »Als ich Matthew warnte, daß der Delphin nach Süden gehen würde, sagte er: ›Ich weiß, daß es nicht ewig so weitergehen kann. Aber solange es geht, werde ich es genießen.‹« Sie sahen sich im Mondlicht an und lächelten. »Warum auch nicht?« sagte Skip.
* Matthew sah die beiden, wie sie eng aneinandergeschmiegt unten am Strand spazierengingen. Er folgte ihnen jedoch nicht. Diese Vertrautheit zu zerstören, wäre wie ein Einbruch in eine Kirche. Also ging er den Strand entlang zu den Felsen, sah über den Pfad aus Mondlicht aufs Meer hinaus und fragte sich, was Flite wohl gerade tat. Er konnte weder einen Kopf noch einen springenden Körper entdecken, aber die See beruhigte ihn. Es war so friedlich dort draußen. Nicht einmal ein Vogel schrie in der fast lautlosen Nacht. Nur das Meer bewegte sich. Matthew drehte sich träumend um und schlenderte durch das Mondlicht und die Schatten zurück zu seinem kleinen Zelt. Er bemerkte nicht, daß der alte Kapitän auf den Stufen zur Kaimauer stand und vor dem Schlafengehen ebenfalls das Mondlicht auf dem Meer betrachtete. Dieser verdammte Junge und seine Musik – er wußte gar nicht, welch tiefe und gut versteckte traurige Gedanken und Erinnerungen er aufgewühlt hatte. Und das helle Mondlicht war auch 56
keine Hilfe. Es erinnerte den alten Mann an zu viele Dinge, die immer noch schmerzten, Dinge, von denen er dachte, daß sie schon lange tot und begraben wären.
* Mit Skips Erlaubnis hatte der Kapitän die Besprechung im Clubhaus einberufen. Margaret Wilson, die Sozialarbeiterin, die Matthew im Krankenhaus besucht hatte, nahm ebenso daran teil wie ein Anwalt namens Harvey, der offensichtlich Matthew vertrat und auf Versicherungsrecht spezialisiert war. Zu Matthews Erstaunen und Freude war auch Tudor Davies gekommen, sein alter Freund und Lehrer aus der Schule, der ihm alles, was er über Gitarrespielen wußte, beigebracht und ihm darüber hinaus noch gute Kenntnisse in Mathematik und EDV vermittelt hatte. Zu den Teilnehmern gehörten außerdem Madge und Jim Farley, Skip und der Kapitän. Jim hatte versucht, sich mit der Begründung zu drücken, daß er bei einer solchen Besprechung sowieso überflüssig sei und irgend jemand ja auf die Kinder aufpassen müsse, aber der Kapitän war unerbittlich geblieben. Er wußte, wie wichtig Jim sein konnte. Er konnte sich vielleicht nicht so gut ausdrücken, aber wenn er sich äußerte, war es ein wichtiger Beitrag. Tudor Davies war ein kleiner, drahtiger Waliser mit einem wilden braunen Haarschopf, der an den Schläfen grau wurde. Sein Grinsen war breit, und er hatte ganz helle, braune Augen, denen nichts entging. »Matthew«, sagte Tudor mit seiner tiefen, melodischen Stimme. »Gut dich zu sehen, Junge. Wie geht's?« »Ganz gut«, sagte Matthew lächelnd und war überrascht, als der kleine Waliser einen Arm um seine Schultern legte und ihn an sich drückte. »Alle lassen dich grüßen«, flüsterte Tudor ihm ins Ohr. »Ich hoffe, du kommst zu uns zurück, wenn du wieder gesund bist.« »Ich bin gesund«, protestierte Matthew. 57
Aber Skip mischte sich an dieser Stelle ein. »Noch nicht, Matthew. Deine Beweglichkeit muß erst ganz wiederhergestellt sein – Anordnung des Arztes.« Matthew dachte darüber nach und stimmte ihm zu. Ja, es wäre schön, wenn er wieder laufen, springen und klettern könnte – wie Jampy am Strand herumhüpfen … Und es würde wunderbar sein, wenn er mit Flite tauchen und schwimmen könnte, ohne müde zu werden oder einen Krampf zu bekommen. Aber wenn er wieder ganz gesund wäre, könnte er nicht länger hierbleiben – er könnte dann nie wieder mit Flite schwimmen … Bei dem Gedanken erschauerte er und beschloß, nicht zu antworten. Was Besprechungen anging, so war der Kapitän ein alter Hase. Er wußte, was er zu tun hatte, und vergeudete keine Zeit. Zuerst wandte er sich an Matthew. »Da wir über deine Zukunft sprechen, ist es besser, wenn wir unsere Vorschläge darlegen und es dir und Mrs. Wilson überlassen zu entscheiden, was das Beste für dich ist.« Matthew nickte. Mrs. Wilson? Er war ganz und gar nicht überzeugt davon, daß diese Frau wußte, was für ihn das Beste sei, aber er nahm an, daß sie das Recht hatte, Entscheidungen zu treffen. Das war es, was Sozialarbeiter taten. Entscheidungen treffen. Doch er wünschte sich, daß sie ihn in Ruhe lassen würden und er seine eigenen Entscheidungen treffen könnte. Margaret Wilson sah Matthew zweifelnd an. Die Leute erwarteten immer von ihr, daß sie entschlossen auftrat, die Dinge in die Reihe brachte und Wunder bewirkte. Aber sie war an alle möglichen Vorschriften gebunden – Sorgerechtsverfügungen, vom Gericht auferlegte Beschränkungen … Sie konnte nur zuhören und Ratschläge erteilen. Und ihren Vorgesetzten Bericht erstatten mit der vagen Hoffnung, daß sie ihren Empfehlungen folgen würden. »Mrs. Wilson«, sagte der Kapitän mit schroffer Stimme, »sind Sie damit einverstanden?« Mrs. Wilson versuchte zu lächeln. »Natürlich.« Kapitän St. George war fast geneigt, seinen ersten Eindruck von ihr zu revidieren. Aber er hielt sich zurück. 58
Laut sagte er: »Skip, vielleicht sollten Sie als erster Ihren Bericht über die Übungen vortragen.« Skip blinzelte Matthew zu, hielt ein Blatt Papier hoch, und las den Text mit knapper und klarer Stimme vor. »Blenden Sie sie mit Fachausdrücken«, hatte der Kapitän geraten, und das tat Skip. Als er fertig war, sahen ihn alle mit großem Respekt an. »Also«, schloß er, »der Krankenhausarzt, der hier zur Visite kommt, schlägt vor, daß die Behandlung noch mindestens drei bis vier Wochen fortgesetzt wird.« Er sah Margaret Wilson an und fügte hinzu: »Er kann natürlich hier im Club wohnen, wenn er möchte.« Schweigen entstand. Jeder wartete, daß der andere etwas sagen würde. Schließlich ergriff Margaret Wilson das Wort: »Ich bin sicher, daß rein formal alles in Ordnung ist.« Es klang reserviert und nicht gerade überzeugt. Skip sah aus, als ob er gleich explodieren würde, aber ein warnender Blick des Kapitäns bremste ihn. »Für den Fall, daß er hierbleiben würde«, fuhr die Sozialarbeiterin fort, »welche häuslichen Vorkehrungen haben Sie getroffen?« »Häuslich?« fragte Skip verständnislos. »Ach so, Sie meinen Essen und so weiter?« Seine blauen Augen blickten Matthew mit geheimer Belustigung an. »Ein Koch wohnt bei uns im Haus, und eine Putzfrau kommt aus dem Dorf. Und dann haben wir abends noch Personal für die Bar.« »Aha. Die Bar.« Wieder diese Betonung, und die Stimme klang noch reservierter als vorher. »Ist es richtig, daß die Bar jeden Abend geöffnet hat?« Skip blieb ruhig. »Im Sommer ja. Im Winter nicht. Aber wir verkaufen ohnehin keinen Alkohol an Minderjährige.« »Ich verstehe.« Aus ihrer Stimme war zu hören, daß sie gar nichts verstand. Als ob er gegen die Sinnlosigkeit dieser Befragung protestieren wollte, sagte Matthew plötzlich: »Ich würde gar nicht hier wohnen wollen, Skip, wenn ich nicht für die Kosten aufkommen könnte. Ich brauche irgendeine Arbeit.« Skip grinste erleichtert über diese Ablenkung. »Das kriegen wir hin.« 59
Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sah forschend zur Decke. Sie war durch den Zigarettenqualm während des Sommers grau geworden. »Im Winter wird hier immer renoviert.« Matthew grinste erleichtert. »Gut, dann geht das ja in Ordnung.« »Wo wir gerade vom Winter sprechen«, griff Mrs. Wilson das Thema auf, und wieder betonte sie dabei ein Wort besonders, »wie sieht es da mit dem Schwimmen aus?« »Wo liegt das Problem?« fragte Skip sanft. »Nun, Sie haben ausführlich über die Notwendigkeit gesprochen, daß Matthew seine Schwimmübungen fortsetzt. Ist die See dann dafür nicht zu kalt?« »Wir haben hier einen geheizten Pool«, antwortete Skip geduldig, als ob er mit einem etwas beschränkten Kind sprechen würde. »Matthew benutzt ihn oft, wenn das Meer zu rauh ist. Und außerdem macht er dort jeden Tag seine Übungen. So kann ich seine Fortschritte genau kontrollieren.« »Ich verstehe«, sagte Margaret wieder in dem Ton, der besagte, daß sie nichts verstanden hatte, und Skip unterdrückte das Bedürfnis zu lachen. Er fing Matthews Blick auf und stellte befriedigt fest, daß auch er ein Kichern nur mit Mühe zurückhielt. Bevor Margaret Wilson noch mehr Einwände vortragen konnte drehte sich der Kapitän zu Madge um und nickte ihr zu. »Mrs. Farley, lassen Sie uns Ihre Meinung zu all dem hören.« Madges helle Augen blitzen verärgert. Sie hatte diese Frau vom Jugendamt genau beobachtet, und was sie sah, gefiel ihr nicht besonders. Aber Jim warf ihr einen warnenden Blick zu, und deshalb holte sie erst tief Luft, bevor sie zu sprechen anfing. Dann sagte Sie: »Ich möchte gerne, daß Matt bei uns wohnt, vorausgesetzt, er will es auch. Wir mögen ihn alle, ganz besonders die Kinder, und wir werden versuchen, ihm ein gutes Zuhause zu geben.« »Das heißt natürlich«, sprach Madge entschlossen weiter, »wenn der Stadtrat uns eine neue Wohnung zuteilt.« Sie sah Margaret Wilson direkt an. »Sonst geht es nicht. Wir haben keinen Platz, müssen Sie wissen. Nicht in der Pension.« 60
Margaret Wilson nickte langsam. »Das klingt vernünftig.« »Können Sie nicht ein gutes Wort für uns einlegen?« Mrs. Wilson zögerte. »Ich könnte es versuchen. Das wäre dann so eine Art in Pflege geben.« (Wieder diese Betonung.) »Aber ich muß natürlich den Behörden berichten, ob Sie geeignet sind.« »Geeignet?« fragte Madge verwirrt. Einen Augenblick herrschte verblüfftes Schweigen, das plötzlich von Jim gebrochen wurde. »Madge ist sehr gut zu den Kindern.« »Da bin ich sicher, Mr. Farley. Da bin ich sicher.« »Sie arbeitet hart. Sie hat nicht viel Zeit, mit ihnen zu spielen«, fügte er mit standhafter Loyalität hinzu. »Aber sie kümmert sich um sie, verstehen Sie?« Wenn sie noch einmal ›ich verstehe‹ sagt, dachte Matthew, dann schreie ich. Aber sie sagte nicht ›ich verstehe‹. Sie sagte etwas viel Schlimmeres. »Können Sie mir sagen, Mrs. Farley, warum Sie an dem Abend, an dem das Feuer ausbrach, nicht zu Hause waren?« Madge wurde blaß, und Jim sah Margaret Wilson verblüfft an. Er war zu geschockt, um sprechen zu können. Wußte diese dumme Frau nicht, daß Madge deswegen wochenlang von Schuldgefühlen gequält worden war? Dabei konnte sie überhaupt nichts dafür. Matthew ergriff das Wort. Seine Stimme war knapp und schneidend vor Zorn. Die anderen hatten ihn noch nie so reden gehört. »Das kann ich Ihnen sagen, Mrs. Wilson. Wenn Sie möchten, werde ich meine Aussagen, die ich bei der Polizei gemacht habe, wiederholen.« Seine Stimme war kalt wie Eis. »Mr. Farley arbeitet als Hausmeister in einem großen Bürogebäude, und Mrs. Farley arbeitet dort abends als Putzfrau. Normalerweise kommt Jim abends um sechs zum Essen nach Hause, und Madge – Mrs. Farley – verläßt das Haus um sieben. Sie bringt die kleineren Kinder vorher ins Bett, und Jim kümmert sich um Danny und Donna.« Er sah die nervös gewordene Sozialarbeiterin kalt an. »Aber an diesem Abend gab es zufällig eine Feier in dem Bürohaus, und Jim Farley mußte dort bleiben, bis der letzte Gast gegangen war. Mrs. Farley konnte erst zwei Stunden später als sonst mit 61
dem Putzen anfangen, und Jim beschloß, auf sie zu warten und sie nach Hause zu begleiten. In diesem Teil der Stadt ist es nicht ungefährlich, nachts als Frau alleine unterwegs zu sein.« Er schwieg einen Augenblick. »Madge brachte an diesem Abend alle Kinder ins Bett, kam dann zu mir herunter und fragte, ob ich ab und an ein Auge auf die Kinder werfen könnte. Bevor sie ging, waren sie alle eingeschlafen. Das war gegen neun. Ich bin einmal nach oben gegangen, um zu sehen, ob alles in Ordnung war, aber da alles ruhig war, ging ich wieder an meine Schularbeiten. Das war auch ganz gut so, denn wenn ich in ihrem Wohnzimmer ferngesehen hätte, hätte ich den Rauch vielleicht nicht früh genug gerochen.« Ein spannungsgeladenes Schweigen lag im Raum. Du dumme Kuh, dachte Matthew. Überhaupt kein Kommentar. Es war meine Mutter, das Flittchen, die so unzuverlässig war und die sich einen Teufel um mich oder andere Leute scherte – und es war eine von ihren Zigaretten, die sie ständig zwischen den Fingern hielt, die das ganze verdammte Haus abbrennen ließ … Und dann ist da Madge – eine Mutter wie aus dem Bilderbuch – und diese Frau besitzt die Unverfrorenheit, anzudeuten, daß … »Ich wüßte keinen, zu dem ich mehr Vertrauen hätte als zu den Farleys«, sagte er mit der rauhen Stimme eines Erwachsenen, »und ihre Kinder sind wirklich in Ordnung. Wenn ich bei ihnen bleiben könnte, würde ich mich glücklich schätzen.« »Bravo«, sagte der Kapitän nicht gerade leise. Margaret Wilson nickte. »Und was ist mit der Schule?« hakte der Kapitän nach und überspielte damit rasch die Verlegenheit der anderen. »Mr. Davies, könnten Sie bitte die Situation erklären?« Tudor Davies begab sich bereitwillig in die Schlacht. »Matt hatte sich neun Prüfungsfächer ausgesucht. So wie es aussieht, hätte er alle Prüfungen bestanden.« Er zwinkerte Matthew fröhlich zu. »Sieben Prüfungen hat er abgelegt, bevor das Feuer ausbrach. Zwei hat er verpaßt.« Seine braunen Augen glänzten vor Erheiterung. »Du hast wohl nie daran gedacht, nach den Ergebnissen zu fragen, oder Junge?« Matthew war verwirrt. »Ahm – wie habe ich denn abgeschnitten?« 62
»Eine Eins, drei Zweien und drei Dreien. Nicht schlecht, wenn man bedenkt, daß …« »Was bedenkt?« fragte Matthew stirnrunzelnd. »Wenn man die Dummheit der Fragen und deinen Eigensinn bedenkt.« Er grinste Matthew schelmisch an. »Der Junge ist intelligent, müssen Sie wissen. Wir können Begabungen doch nicht verkommen lassen, oder? Er muß weitermachen. Gymnasium und dann Universität. Das ist unsere Meinung.« »Was meinst du, Matthew?« fragte der Kapitän. »Nun, ähm …« Matthew schien mit seinen Gedanken weit weg zu sein. »Er hat wahrscheinlich recht.« Aber er schien nicht überzeugt zu sein. »Welche Fächer würdest du belegen?« bellte Kapitän St. George, der sofort den Vorteil nutzte. Matthew zögerte, Tudor nicht. »Mathematik und Informatik«, schaltete er sich schnell ein. »Das sind seine besten Fächer. Ich unterrichte sie. Ich muß es wissen.« »Nicht Musik?« Dieses Mal schwieg sogar Tudor. »Nein«, sagte Matthew schließlich. »Ich würde gerne weiter Gitarre spielen. Und so viel wie möglich lernen. Aber …« »Du denkst nicht daran, als Gitarrist Karriere zu machen?« Die Stimme des Kapitäns klang fast ein bißchen enttäuscht. »Eigentlich nicht«, antwortete Matthew. Dann sah er seinen alten Lehrer an und fügte schwach hinzu: »Sie müssen wissen, Musik ist …« Aber er konnte es ihnen nicht erklären. »Eine Art Reise«, sagte der Waliser sanft, und der schwungvolle Rhythmus seinen Stimme war stärker als sonst. »Und du unternimmst sie alleine, stimmt's, Junge?« Matthew nickte. »Es macht mir nichts aus, für ein Publikum zu spielen – es muß nur ganz zwanglos sein.« Er sah Skip kurz an. »Aber Konzerte – nein. Ich wäre bestimmt nicht gut genug dafür. Und selbst wenn ich es wäre, hätte ich dazu keine Lust.« Tudor sah ihn an, und in seinen Augen las Matthew, daß er ihn ver63
standen hatte. »Wir möchten, daß du zurückkommst«, sagte der kleine Waliser sanft und versuchte, die Dinge wieder auf den Punkt zu bringen. »Und ich würde dich gerne weiter unterrichten – bis du besser bist als ich.« Er lächelte Matthew schelmisch an und entspannte damit die Situation. »Also gut«, schloß der Kapitän fröhlich. »Jetzt ist Mr. Harvey dran. Er soll uns seine Meinung darlegen.« John Harvey war ein ruhiger und etwas steifer Mann. Bis jetzt hatte er noch nichts gesagt, aber er war der Besprechung mit dezentem Interesse und nicht ohne Belustigung gefolgt. Jetzt ergriff er mit einer Stimme das Wort, die fast so neutral und farblos war wie sein langes, blasses Gesicht. »Seitdem du aus dem Krankenhaus entlassen wurdest, stehen wir in Verbindung mit der Versicherungsgesellschaft. Wir haben herausgefunden, daß auf den Namen deiner Mutter eine Lebensversicherung abgeschlossen war.« Matthew war erstaunt. »Sind Sie sicher?« »Wahrscheinlich von deinem Vater«, sagte der Anwalt. »Sie hat sich allerdings alles, was sie konnte, auszahlen lassen.« Aha, dachte Matthew. Das kommt eher hin. »… aber es gibt noch eine kleine Summe – ungefähr an die dreihundert Pfund –, die für dich verwahrt wurden und die sie nicht anrühren konnte. Durch die Zinsen ist der Betrag etwas größer geworden, aber es ist natürlich keine berauschende Summe.« Ich kann es nicht glauben, dachte Matthew, und ihm wurde plötzlich ganz übel. »Was die Feuerversicherung angeht, tut es mir leid, dir sagen zu müssen, daß die Beiträge nicht bezahlt worden sind. Aber unter Berücksichtigung der Umstände und aufgrund der Tatsache, daß die Versicherung schon sehr lange besteht, hat die Gesellschaft eine Kulanzzahlung von einhundert Pfund veranlaßt.« Es entstand ein Schweigen. Matthew blickte finster drein. »Schmutziges Geld?« fragte er schließlich in dem seltsamen, kalten Tonfall, mit dem er vorher schon gesprochen hatte. 64
»Matthew«, protestierte der Kapitän. »Ich kann es nicht annehmen.« Er sah den Anwalt fast verächtlich an. »Können Sie es irgendwem spenden?« »Nicht bevor du achtzehn Jahre alt geworden bist. Du kannst es dann selbst tun. Wenn du es immer noch willst.« Der Kapitän sah aus, als ob er gleich explodieren würde, aber plötzlich überzog ein merkwürdiger Ausdruck sein Gesicht – eine weit, weit entfernte Erinnerung an eine andere Zeit und einen anderen Zorn –, und er seufzte. Die Sozialarbeiterin wollte gerade sagen: »Aber das ist doch lächerlich!«, als plötzlich schnelle Schritte auf der Veranda zu hören waren. Donnas ängstliches Gesicht tauchte in der Tür auf. »Jampy ist aufs Meer hinausgetrieben worden.« »Was?« Sie sprangen auf. »Auf der Luftmatratze«, fügte sie hinzu. »Schnell.« Skip hatte als erster begriffen, was passiert war. Er hatte sich schon bis auf die Badehose ausgezogen, die er am Tage immer trug, um im Notfall schneller bereit zu sein. Er machte am Strand oft Dienst als Rettungsschwimmer. »Komm«, rief er Matthew zu und lief zum Strand herunter. Matthew konnte nicht so schnell laufen. Noch nicht. Aber auch er hatte sich ausgezogen und begann zu laufen. Er beobachtete, wie Skip das Wasser erreichte und sich schnell umsah, bis er Jampys kleine Gestalt auf der im Wasser treibenden Luftmatratze entdeckte. Er befand sich schon sehr weit draußen, jenseits der Brandung, die die Luftmatratze wie durch ein Wunder nicht zum Kentern gebracht hatte. Jampy schien keine Angst zu haben. Er saß nur da und genoß das Abenteuer. Das Wasser geht zurück, dachte Matthew. Er wird um die Spitze herumgetrieben werden. Er sah, wie Skip ins Wasser sprang und schnell in Jampys Richtung schwamm. Er wird ihn nie einholen, dachte er. Ganz egal, wie schnell er ist, der Ebbstrom wird schneller sein. Plötzlich wußte er, was er zu tun hatte. Er rannte humpelnd zu den Felsen, kletterte mühsam hoch und ließ sich dann auf der anderen Sei65
te ins Wasser gleiten. Mit viel Glück konnte er den Punkt erreichen, wo die Luftmatratze mit Jampy den Felsen passieren würde, bevor sie vollends auf das offene Meer abgetrieben wurde. Flite! rief er leise. Flite! Wenn du mein Freund bist, hilf mir jetzt! Er begann zu schwimmen und rief den Delphin. Er wußte nicht genau, was er rief, aber er war sicher, daß er gehört werden würde … Und Flite hörte ihn. Es dauerte nicht lange und der große, blaugraue Schatten war neben ihm – sein freundliches Lächeln schimmerte durch das Wasser, und die klaren, hellen Augen blickten ihn fragend an. »Jampy braucht deine Hilfe«, erklärte Matthew, der durch die Anstrengung völlig außer Atem war. »Dort!« Und er richtete sich im Wasser auf und wies dem Delphin den Weg. Der kleine Punkt, der Jampy war, schien noch weiter weg zu sein als vorher. Auch der Delphin richtete sich auf, drehte sich mit einem Schlag seiner Schwanzflosse und schien in die Richtung zu blicken, in die Matthew deutete. Der Junge wußte nicht, ob der Delphin den kleinen, länglichen Gegenstand, der in der Dünung trieb, sah oder nicht oder ob er einfach nur merkte, daß sein Freund sehr in Sorge war – auf jeden Fall krümmte sich der große, kraftvolle Rücken plötzlich, tauchte elegant ins Wasser und schoß wie ein Pfeil davon. Matthew schwamm hinter ihm her. Hoffentlich geriet Jampy nicht in Panik, dachte er. Wenn er das Gleichgewicht verliert und ins Wasser fällt, ist alles aus. Aber Jampy geriet nicht in Panik. Er saß gelassen und ruhig auf seinem Gefährt und bewunderte die Wellen. Er bemerkte noch nicht einmal, wie weit das Ufer entfernt war. Skip, der immer noch angestrengt schwamm, hatte inzwischen bemerkt, daß er gegen die Ebbe so gut wie machtlos war. Plötzlich sah er etwas Außergewöhnliches. Der große, schwarze Kopf eines Delphins kam nur ein paar Zentimeter von dem kleinen Gefährt mit seinem unbekümmerten Passagier entfernt an die Oberfläche. Er schubste die Luftmatratze vorsichtig herum, so daß sie in Richtung Küste deutete. Immer wieder gab die spitze Flaschennase ihr einen kleinen Schubs, schob sie so mit unendlicher Vorsicht durch die Dünung und wirkte 66
dabei jeder Drehung und jedem Schaukeln des nicht sehr stabilen Gefährts entgegen. Auch Matthew sah ihn, und ein Woge der Liebe und Dankbarkeit überwältigte ihn. Flite würde es schaffen. Er würde Jampy sicher zum Ufer zurückbringen. Er brauchte nur einen Ruf durch die weiten Tiefen des Meeres zu schicken, und dieses wundervolle, lächelnde Lebewesen eilte ihm freudig zu Hilfe. Jetzt kam die Luftmatratze in Reichweite der beiden Schwimmer. Keiner von ihnen sprach oder schimpfte mit Jampy oder machte etwas, das ihn ablenken könnte. Sie schwammen einfach nur neben dem Delphin her, bis er sein vorsichtiges Manövrieren beendet und die Luftmatratze in das seichte Wasser der kleinen Bucht geschoben hatte. Dort übernahmen sie und brachten die kleine Luftmatratze ans Ufer. Skip hob Jampy hoch und nahm ihn auf den Arm. Jetzt, wo die Gefahr vorüber war, drehte sich Matthew noch einmal im Wasser um, streckte seine Arme aus und umarmte die geschmeidigen Flanken des Delphins liebevoll. »Danke«, flüsterte er. Flite antwortete mit einem freudigen Zittern und lehnte sich während des Auf und Abs einer Welle einen Augenblick gegen ihn. Dann schlug er einmal kurz mit seiner Schwanzflosse und schoß davon. »Ein großer Fisch hat mich geschubst«, verkündete Jampy. »Das war kein Fisch«, erklärte Matthew. »Das war ein Delphin – und er hat wahrscheinlich dein Leben gerettet.« »Delphin?« fragte Jampy verwundert. Dann begann er, sich in Skips starken, braunen Armen zu winden und lachte dabei. »Delphin«, jubelte er. »Delphin-rettet-dein-Le-ben.« Auch jetzt verstand er nicht, in welcher Gefahr er sich befunden hatte. Sie sahen sich an und lachten erleichtert. Madge lief weinend herbei. Sie wollte Jampy den Hosenboden versohlen und ihn zugleich umarmen. Jim war etwas langsamer und hatte ein noch röteres Gesicht. Auch er war dankbar, und ihm standen die Tränen in den Augen. Und dann kamen die anderen und brachten Handtücher und Kleidung mit. Als letzter lief Kapitän St. George auf sie zu, der sich auf sei67
nen Stock stützte. Er sah Matthew und Skip an, die jetzt beide müde waren und zu frieren begannen, und sagte nur: »Gut gemacht.« »Delphin, Delphin«, sang Jampy. »Delphin-rettet-dein-Leben.« »Nun, Junge, da hast du aber Glück gehabt«, merkte Tudor Davies mit seiner tiefen walisischen Stimme an. Aber Matthews Mut sank. Jetzt wußten alle über Flite Bescheid. Schon hatte sich eine Gruppe Schaulustiger um sie versammelt. Sie würden Fragen stellen und darauf bestehen, ins Wasser zu gehen. Sie würden starren, glotzen, schreien, herumspritzen und Flite als eine Art FerienSensation betrachten. Aber das war er nicht. Er war ein großes, majestätisches Meereslebewesen, mit einem eigenen Leben, das nur ihn etwas anging. Einen verzweifelten, angstvollen Augenblick lang hoffte er, daß Flite nie wiederkommen würde. Diese gedankenlosen, kreischenden, zappelnden Zweibeiner sollten sein glückliches Leben nicht verderben. »Jetzt für alle einen Kaffee«, rief der Kapitän. »Pronto. Und …«, er blickte auf die stark mitgenommene Mrs. Wilson und fügte hinzu: »mit einem ordentlichen Schuß Rum.«
* Nach diesen Ereignissen hatte die Besprechung ihren offiziellen Charakter verloren. Sie wurde sogar zu einer Art Feier. Schließlich hatte Jampys Ausreißversuch kein tragisches Ende gefunden. Er war auf wundervolle Weise gerettet worden, es gab also genug Grund zur Freude. Sogar Mrs. Wilson taute auf, besonders nachdem der Kapitän darauf bestanden hatte, daß sie einen Schuß Rum in ihren Kaffee nahm. Sie erlaubte, daß Matthew bei Skip bleiben durfte, und versprach, die Stadt zu drängen, den Farleys eine neue Wohnung zuzuteilen. Sie erklärte John Harvey, dem Anwalt, daß zu Matthews Glück die Summe der Versicherung unter dem Grenzbetrag läge, der für Ersparnisse festgesetzt war (egal, ob er das Geld nun annehmen würde oder nicht), so daß er Sozialhilfe beziehen könnte. Sie machte darauf aufmerksam, daß das Sozialamt Matthews Geld nicht verwalten könn68
te, ganz egal, wie gering die Summe sei, und daß er vielleicht jemanden als Vermögensverwalter einsetzen sollte, da Matthew erst fünfzehn Jahre alt war. »Ich bin sechzehn«, sagte Matthew. Erstaunt sahen ihn alle an. »Seit wann?« fragte Skip. »Seit kurzem«, sagte er lässig. »Das hast du uns ja gar nicht erzählt!« rief Madge. »Es erschien mir nicht so wichtig.« Er sah sie der Reihe nach aufmerksam an. »Aber jetzt – bei den ganzen Vorkehrungen, die Sie für mich treffen wollen – ich bin Ihnen ja sehr dankbar, aber …« Er zögerte und war plötzlich verwirrt und schüchtern. »Aber was?« wollte der Kapitän wissen. »Ich glaube, es ist besser, wenn ich die Schule verlasse und anfange zu arbeiten.« »Als was denn?« fragte der immer praktisch denkende Kapitän scharf. »Oh nein, Junge«, protestierte Tudor Davies. »Ich kann ganz gut mit Computern umgehen.« Er ließ sich durch ihre Zweifel nicht irritieren. »Irgend jemand wird mich schon einstellen.« »Aber was ist mit dem Abitur?« Tudor war zu allererst immer Lehrer. Matthew sah ihn traurig an. Wie konnte er das seinem alten Freund erklären? Wie konnte er ihm erzählen, daß sich seit dem Feuer alles für ihn geändert hatten und die üblichen Werte im Leben wie Ehrgeiz und Erfolg ihm nicht länger wichtig erschienen? Der Gedanke, zusammen mit einem Haufen gedankenloser Kinder wieder in die Schule zu gehen, erschien ihm absolut unsinnig. »Es tut mir leid«, sagte er und zuckte hilflos mit den Schultern. »Sie müssen wissen … seit dem Feuer habe ich – es hat sich alles geändert.« Tudor nickte. Er verstand ihn besser, als Matthew glaubte. Aber wenigstens, sagte er sich fröhlich, habe ich etwas anzubieten, was Matthew trösten wird. »Willkommen im Club«, sagte er mit seinem 69
trockenen, schiefen Grinsen. »Die Welt der Erwachsenen bietet keine besonders angenehmen Aussichten. Aber das wird dir vielleicht helfen.« Und er zog einen brandneuen, glänzenden Gitarrenkoffer unter dem Tisch hervor, den er dort sorgfältig versteckt hatte, und hielt ihn Matthew hin. Matthew sah ihn an und wurde blaß. »Für mich?« »Für dich. Wir haben gesammelt, mußt du wissen – deine alten Freunde –, und das ist das Ergebnis.« Er sagte nicht, daß der Kapitän einer dieser alten Freunde gewesen war – und nicht nur das, er war auch ein sehr großzügiger. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, mein Junge«, fügte er hinzu und zwinkerte Matthew zu. Immer noch blaß und zitterig öffnete Matthew den Kasten und holte eine neue Gitarre heraus. Er strich mit einer Hand über das glänzende Holz, drehte sie hin und her, damit er sich die feine Arbeit um das Schalloch und die Verzierungen auf dem Griffbrett ansehen konnte. Schließlich konnte er nicht länger an sich halten, legte seine Hand auf die Saiten und schlug einen tiefen, klingenden Akkord an. Sie beobachteten ihn gespannt und wagten nicht, ihn in seinem Traum zu stören. Er stimmte die Gitarre, legte sein Ohr auf den Resonanzkasten, um die reichen, vibrierenden Obertöne zu hören, und befühlte sie mit ehrfürchtiger Freude. Aber dann hielt es Tudor Davies nicht mehr aus. »Spiel, mein Junge«, sagte er sanft. »Sie hat einen guten Klang. Laß sie klingen.« Und Matthew ließ sie klingen. Er spielte nur ein Stück – das traurigste aus den Werken des Komponisten Granados –, und er ließ diese wundervollen, dunklen Töne erklingen. Er hatte das Gefühl, gleich weinen zu müssen, aber das wollte er nicht. Dann dachte er an Jampy, wie er mit seiner kleinen Luftmatratze auf den Wellen auf und ab getanzt war, und begann, den Skye Boat Song zu spielen. Er forderte die anderen zum Mitsingen auf. Es war besser, der ganzen Sache einen fröhlichen Anstrich zu geben. Während des letzten Refrains drehte sich Margaret Wilson plötzlich zu Jim Farley um und fragte: »Was ist Ihrer Meinung nach das Beste für Matthew?« 70
Jim war erstaunt, daß sie ihn fragte. Er dachte sehr sorgfältig und ausgiebig über die Frage nach und beobachtete dabei Matthews Finger, die die Saiten zupften. Dann antwortete er: »Familie.« »Was?« fragte sie völlig verständnislos. »Er braucht eine Familie, ein Zuhause«, wiederholte Jim mit fester Stimme. »Das ist es, was er braucht.« Er sah sie ernst an. »Sonst wird er untergehen.«
* Am nächsten Tag schlug das Wetter um, und Matthew konnte nicht schwimmen gehen. Irgendwie war er ganz froh darüber, denn das bedeutete, daß keiner aus der neugierigen Menge, die sich nach Jampys aufsehenerregender Rettung versammelt hatte, nach Flite suchen konnte. Aber die Feriensaison war jetzt sowieso fast zu Ende, und die Leute packten ihre Koffer, um nach Hause zu fahren. Abschied schien in der Luft zu hängen, und Tristesse lag über dem leeren Strand. Jeder machte sich auf die Heimreise. Madge und ihre Familie packten auch. Sie gingen nur widerwillig in ihre beengte Pension zurück und hatten als Garant für eine bessere Zukunft nur die vorsichtige Unterstützung von Margaret Wilson. Madge sammelte so fröhlich wie möglich ihre Familie und ihre wenigen Habseligkeiten zusammen, machte ein tapferes Gesicht und behielt ihre skeptischen Gedanken für sich. Sie hatte nur wenig Bedenken, Matthew bei Skip im Aqua-Club zurückzulassen – aber Jampy dachte darüber ganz anders. Er stampfte mit den Füßen, brüllte, klammerte sich an Matthew fest wie ein kleine Schnecke auf einem Felsen und schrie wütend: »Ich will Matt. Er soll auch mitkommen. Matt soll auch mitkommen!« Aber das ging nicht, jedenfalls noch nicht, und Matthew gab sein Bestes, es Jampy in den Pausen zwischen den Wutanfällen zu erklären. »Ich komme bald nach«, versprach er beruhigend, als das Schluchzen verebbte. 71
Jampy sah ihn mißtrauisch an. »Bald?« »Bald«, wiederholte Matthew mit fester Stimme und versuchte, überzeugend zu klingen. Er umarmte alle nacheinander und war erstaunt, daß ihre Abreise ihn so traurig machte. »Ich melde mich bei dir«, sagte Madge. »Sobald wir eine Wohnung haben, kommst du zu uns.« »Ja«, antwortete Matthew und sah zu, wie sich alle in den kleinen Bus zwängten, der sie zum Bahnhof bringen sollte. Hände winkten – Jampys hängende Unterlippe kündigte eine neue Katastrophe an –, und der alte Bus fuhr klappernd in einem Wirbel von Regen und Sand davon.
* Der Abschied von Tudor Davies war weniger gefühlvoll, aber noch trauriger – denn er war sicher, daß er nie wieder in die Schule zurückkehren und wahrscheinlich auch keine weiteren Gitarrenstunden bei diesem freundlichen, großherzigen Lehrer haben würde. Tudor war nach der Besprechung noch dageblieben, um – wie er sagte – Seeluft zu schnuppern, aber Matthew nahm an, daß er ihm in Wirklichkeit so viele nützliche Anweisungen wie möglich geben wollte – besonders darüber, wie er das meiste aus seiner Gitarre herausholen konnte. Sie hatten einige Regentage glücklich zusammengesessen, alle Stücke gespielt, die Matthew kannte, und noch ein paar neue eingeübt, denn Tudor hatte neue Noten mitgebracht. »Das ist ein gutes Instrument«, sagte er und nickte zu den reichen Akkorden, die Matthew der Gitarre entlockte. »Sie hat eine Menge Herz, nicht wahr? Sie wird dir alles geben, was du dir nur wünschen kannst.« »Ich weiß.« Matthew lächelte. Sein Kopf war noch über die Saiten gebeugt. »So eine schöne Gitarre wollte ich schon immer haben. Sie hat einen phantastischen Klang.« »Das ist die richtige Einstellung«, sagte Tudor grinsend. »Erhalte den Zauber am Leben. Es liegt alles in deiner Hand.« 72
Dann stand er auf, um die Heimreise anzutreten. Er sagte nicht: Du bist mein begabtester Schüler, und du ruinierst deine ganze Zukunft, wenn du dich weigerst, zu mir zurückzukommen. Er war sich sicher, daß Matthew sich darüber im klaren war. Aber so war der Lauf der Dinge, wenn Jungen erwachsen wurden, und es gab nichts, was er daran ändern konnte. So klopfte er ihm nur auf die Schulter und murmelte: »Die Musik, Matthew, das ist es«, und dann stapfte er zu seinem zerbeulten kleinen Wagen und wollte sich auf die lange Heimfahrt machen. Matthew legte seine Gitarre weg und lief schnell hinter ihm her. »Ich kann nicht …«, stammelte er, als er das Seitenfenster erreicht hatte. »Versuch es gar nicht erst, mein Junge«, grinste Tudor. »Spiel einfach nur weiter.« Er blickte Matthew besorgt an und fügte hinzu: »Wenn du mich brauchst, weißt du, wo du mich finden kannst.« Dann legte er den Gang ein und fuhr davon.
* An dem Abend klarte der Himmel auf, und der Wind legte sich. Matthew ging zu den Felsen, um den Seehunden etwas vorzuspielen. Petra hatte ihm gesagt, daß sie das mochten, und er war neugierig, was passieren würde. Außerdem hatte er Flite seit zwei Tagen nicht gesehen – das letzte Mal war es bei Jampys Rettung gewesen –, und er vermißte die fröhliche Gesellschaft des Delphins. Er vermißte sie sogar sehr, besonders jetzt, wo er wegen des ganzen Abschiednehmens ein wenig bedrückt war. Petra würde auch bald abreisen, und das bedeutete einen weiteren Grund zur Traurigkeit, aber er nahm an, daß es für Skip noch schlimmer sein würde. Die Welt war von einer herbstlichen Melancholie umfangen – die glücklichen Tage schienen vorbei, das sorgenfreie Vergnügen beendet und alle möglichen Entscheidungen lagen in der Luft. Er brauchte Flites unschuldige Freude, seine stürmische Lebensbejahung, die sich von der Schwanzspitze bis zu seiner neugierigen Flaschennase ausdrückte. 73
Also würde er für die Seehunde musizieren, vielleicht würden sie zu ihm kommen – und vielleicht würde auch Flite ihn in den weit entfernten Tiefen des Meeres hören … Er kletterte über die Felsen und ging diesmal etwas weiter, so daß er sich fast unmittelbar gegenüber der tiefergelegenen Insel mit der Seehundkolonie befand. Dann setzte er sich so hin, daß die Gischt ihn nicht erreichen konnte, und begann zu spielen. Er spielte alles, was ihm einfiel. Manchmal summte und sang er, begleitete sich selbst, um etwas Gesellschaft zu haben und damit der Klang weiter getragen wurde. Zuerst passierte überhaupt nichts, außer daß eine einsame Seemöwe mit dem Wind herabstieß, um ihn anzusehen, und dann protestierend davonflog. Er vertiefte sich so in den Klang, daß er eine Weile nicht aufblickte. Als er es tat, war er von neugierigen Köpfen umgeben, die ihn aus dem Wasser mit wacher Aufmerksamkeit beobachteten. »Hallo«, sagte er, beendete ein Stück und fügte einen letzten heftigen Akkord hinzu. »Nett, daß ihr gekommen seid. Ich bin froh, daß ihr meine Musik zu würdigen wißt.« Die Köpfe kamen ein bißchen näher. Feuchte Augen sahen ihn verwundert an. Wo kommt das her? schienen sie zu fragen. Aus dieser kleinen Kiste? Und als Matthew nicht weiterspielte, schien es ihm, als ob ihre Augen ihn baten fortzufahren. Er spielte, bis es fast dunkel war, und die Seehunde hörten fasziniert zu. Ihre runden, gesprenkelten Köpfe tanzten auf dem Wasser und blickten ihn mit hingerissenem Schweigen an. Noch nie hatte er ein so aufmerksames Publikum gehabt. Aber Flite kam nicht. Es hat keinen Sinn, dachte Matthew. Er kommt nicht mehr. Ich muß nach Hause gehen, bevor es zu dunkel wird und ich nichts mehr sehen kann. Ich darf mit diesem wundervollen Instrument in meinen Händen auf den Felsen nicht stolpern. »Gute Nacht«, sagte er. »Vielen Dank, daß ihr mir zugehört habt. Ihr kommt doch wieder, oder?« Die Köpfe blieben nach oben gereckt, und ihre Augen verfolgten ihn, 74
als er ging. Sie waren immer noch da und wiegten sich in der tiefen Dünung, als er schon den Strand entlangging.
* Am nächsten Morgen ging Matthew in die Küche, um nach etwas Eßbarem zum Frühstück zu suchen. Er machte sich Kaffee und nahm sich ein großes Stück Brot. Am Abend vorher hatte er sein kleines Zelt zusammengelegt und war in den Club gezogen. Dort schlief er in einem der leeren Etagenbetten in dem großen Schlafsaal. Die meisten Gäste waren schon nach Hause gefahren, und die wenigen, die noch geblieben waren, würden am Wochenende abreisen. Er fragte sich, wo die anderen waren, aber da es draußen wieder schön und sonnig war, nahm er an, daß sie schon in der Brandung surften, um den letzten Tag noch einmal auszunutzen. Er hatte sich gerade entschlossen, sein Frühstück zu beenden und schwimmen zu gehen, um Flite zu suchen, als Petra in die Küche gelaufen kam. Sie sah merkwürdig besorgt aus und zögerte, so als ob sie nicht genau wüßte, was sie ihm sagen sollte. »Matthew?« Sie schwieg einen Augenblick und sprach dann angespannt weiter. »Würdest du Flite erkennen? Könntest du ihn von anderen Delphinen unterscheiden?« Matthew starrte sie an. »Ich … ich glaube, ja.« »Woran?« Ihre Stimme klang drängend. »Na ja, an seiner Färbung, dort wo der bleiche Unterbauch grau wird. Und an seinen Augen.« Als er sich daran erinnerte, huschte ein Lächeln über sein Gesicht. »Sind sie nicht alle verschieden? Er ist eigentlich nicht zu verwechseln.« »Gibt es irgendwelche besonderen Identifizierungsmerkmale?« Ihre Stimme klang immer noch besorgt, und langsam wurde auch er unruhig. »Hmm, ja. Er hat eine Narbe unter dem Kiefer, auf der weißen Unterseite, als ob er einmal an einem Haken gehangen hätte oder von einem Hai oder etwas anderem gebissen worden wäre. Sie ist kreuzför75
mig.« Langsam stieg Angst in ihm hoch. »Warum willst du das wissen?« Sie erwiderte seinen Blick. »Ein paar Meilen entfernt wurde ein toter Delphin an den Strand geschwemmt.« Matthews Herz schien vor Schreck stillzustehen. »Oh, mein Gott.« »Ein Fischer hat es gemeldet. Ich fahre hin, um ihn mir anzusehen. Kommst du mit?« »Ja. Ja, natürlich.« Schwankend stand er auf. Petra sah ihm ins Gesicht und legte ihm sanft die Hand auf die Schulter. »Es muß ja nicht unbedingt dein Freund Flite sein. Wir sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen.« Er lächelte sie schmerzerfüllt an. »Nein. Du hast recht.« »Skip nimmt uns im Jeep mit. Leider muß man ein ganzes Stück klettern, bevor man den Strand erreicht. Wirst du es schaffen?« »Ich komme schon zurecht«, sagte er und ärgerte sich darüber, daß sie seinen Beinen immer noch nicht viel zutraute. Skip wartete bereits im Jeep auf sie, den er so geparkt hatte, daß er sofort den steilen Schlackeweg zur Küstenstraße hinauffahren konnte, die oben auf den Klippen entlangführte. Dort angekommen, fuhr er schnell in Richtung St. Just, bog dann in einen weiteren steilen, schmalen Weg ein, der zu einer schmalen Landzunge führte, die sich zwischen zwei felsigen Buchten, halb versteckt unter einer vorstehenden Klippe, befand. Der Weg endete schließlich auf einem kleinen, unebenen, sandigen Rasenstück. Hier stiegen sie aus und kletterten einen schmalen Fußweg hinunter, der zwischen Felsen und verkümmertem Ginster zu der unten gelegenen kleinen Bucht führte. Endlich erreichten sie die rutschigen Klippen und sahen nach unten. An einem Ende des Strandes befand sich ein kleiner Steg und eine halbzerfallene Hütte. Ein Boot lag auf dem kleinen silberfarbenen Sandstreifen. Und nicht weit entfernt sahen sie den langen, schönen Körper eines ausgewachsenen Delphins halb im Wasser liegen. Der große, glatte Kopf mit seiner hervorstehenden Flaschennase rührte sich nicht, und seine Augen starrten ins Leere. Die schlanke, elegante Schwanzflosse, die den schweren Körper mit einer kur76
zen Bewegung zum Wenden bringen konnte, war nicht länger anmutig und kraftvoll. Sogar die starke Rückenflosse sah dünn und starr aus. Die ganze majestätische Schönheit und Kraft war verschwunden. Matthew folgte Skip und Petra. Den letzten Meter mußten sie springen. Petra und Skip drehten sich um, um Matthew zu helfen. Der war aber schon heruntergesprungen und an ihnen vorbeigerannt zu der Stelle, wo der tote Delphin lag. Er kniete sich neben ihn hin und bemühte sich verzweifelt, den großen, schweren Kopf anzuheben, so daß er seine Kehle sehen konnte, dort, wo Flite die verräterische Narbe trug. Aber außerhalb des Wassers war der Kopf eines Delphins außerordentlich schwer, und er lag schlaff auf seinen Händen. Matthew konnte ihn nicht hochheben. »Laß mich mal«, sagte Skip dicht neben ihm mit sanfter Stimme. Zwei starke braune Hände ergriffen die Rückenflosse und rollten den Körper ein bißchen zu Seite, so daß der weiße Unterbauch und die Kehle sichtbar wurden. Während Matthew sich niederbeugte und mit seinen Händen über die glatte, immer noch glänzende Oberfläche des Unterkiefers und der Kehle bis hinunter zu den schlaffen Flossen strich, hielten Petra und Skip den Delphin fest. Er war sich auch ohne diese Untersuchung schon fast sicher. Es handelte sich um einen schönen, starken, jungen Delphin, der Flite sehr ähnlich war. Aber irgendwie sah sein Kopf anders aus. Sogar die Form des Körpers war anders. Seine Finger untersuchten den Delphin noch einmal. Es gab keine kreuzförmige Narbe auf der Haut. Es war nicht Flite. Mit Tränen in den Augen blickte er zu Skip und Petra hoch. »Es ist nicht … nicht Flite«, sagte er mit gepreßter Stimme. »Aber …« »Bist du sicher?« »Ja.« Er legte seine Hand wieder sanft auf den still daliegenden Kopf. »Aber trotzdem ist es schrecklich.« »Ja«, seufzte Petra, die verstanden hatte, was er sagen wollte. »Und das ist nur einer.« »Was glaubst du, woran er gestorben ist?« fragte Matthew. 77
Petra schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.« »Könnte es der Virus sein, der auch die Seehunde getötet hat?« Sie zögerte. »Es könnte sein. Oder irgendein anderer Virus. Oder einfach nur die Umweltverschmutzung. Manchmal schlucken sie Öl – oder Plastiktüten – oder die Metallringe von Bierdosen. Du wärst entsetzt, wenn du sehen könntest, was wir in ihren Mägen schon alles gefunden haben. Das Schwimmen in verschmutzten Gewässern verringert auch ihre Widerstandsfähigkeit, so daß sie für jeden heimtückischen Bazillus anfällig werden.« »Wie kannst du es herausfinden?« fragte Matthew besorgt. »Wir müssen einige Proben nehmen und ein paar Tests machen.« »Wo?« Sie betrachtete die kleine, umschlossene Bucht und den steilen Pfad, der nach oben führte, wo sie ihren Jeep abgestellt hatten. »Hier ganz sicher nicht.« Sie schwieg einen Augenblick und dachte nach. »Ich glaube, es wäre das Beste, wenn wir ihn zu einem besser zugänglichen Platz zögen, den ein Lastwagen erreichen kann.« »Ich werde das in die Wege leiten«, sagte Skip. »Dann kannst du ihn ins Delphinzentrum mitnehmen.« Petra nickte. Sie sah traurig auf den Delphin herab, und es schien ihr fast zu widerstreben, die stille Würde des Todes zu stören. Matthew konnte ihren Widerwillen verstehen. Es schien so falsch zu sein, den hilflosen Körper mit Seilen durch das Wasser zu ziehen, ihn wieder an Land zu zerren und auf einen Lastwagen zu verfrachten … Und ihn dann allen möglichen Tests und Untersuchungen auszusetzen. Aber er wußte, daß es notwendig war, wenn sie andere Delphine retten wollten. Als er auf den langen, perfekt geformten Körper hinuntersah, empfand er zu seiner Beschämung plötzlich Freude darüber, daß es nicht Flite war, der vor seinen Füßen lag. Flite lebte, und er war froh darüber. Aber dieser Delphin war tot und verdiente mehr als nur einen flüchtigen Augenblick des Kummers. Er mußte ihm irgendwie die letzte Ehre erweisen. Er könnte einen Blumenkranz für ihn ins Meer werfen oder Poseidon, dem mächtigen 78
Gott der Meere, ein Opfer bringen und ihm die fröhliche Seele eines freilebenden Delphins anvertrauen. »Ich kümmere mich um alles«, unterbrach Skip seine Gedanken. »Du gehst mit Petra zurück, Matthew. Ich komme mit dem Boot hinterher.« Sie stiegen schweigend den Klippenpfad hinauf. Oben angekommen hielten sie an und schauten hinunter. Skip und der Besitzer des Bootes beschäftigten sich schon mit den Seilen und Netzen. Der Delphin lag ruhig da. Nichts konnte ihn mehr stören. Ich weiß, was ich machen werde, dachte Matthew. Ich werde heute abend für den Delphin spielen. Ich spiele für ihn, damit er im Meer seinen Frieden findet. Petra sagte mit plötzlicher Heftigkeit: »Es bringt nichts, wegen eines Delphins sentimental zu werden. Wir müssen an all die anderen denken.« Matthew nickte. Er wußte, daß sie die Wahrheit sprach, obwohl er keine Ahnung hatte, wie er etwas ändern konnte. Er seufzte. Doch auch dabei konnte er nicht ganz das Glücksgefühl tief in ihm unterdrücken, das er verspürte, weil Flite, sein geliebter Freund, noch am Leben war.
* An diesem Nachmittag, nachdem der tote Delphin mit Hilfe eines Bootes an Land gebracht, auf einen Laster geladen und zum Delphinzentrum gebracht worden war, ging Matthew allein über die Felsen, ließ sich unbemerkt ins Wasser gleiten und machte sich auf die Suche nach Flite. Er mußte herausfinden, ob Flite noch lebte. Flite, rief Matthew. Wenn du lebst, komm bitte her, und sage es mir. Lange schwamm er allein, und keiner antwortete auf sein Rufen. Schließlich hatte er fast alle Hoffnungen aufgegeben und drehte sich, um zum Ufer zurückzuschwimmen. Aber als er sich streckte und von der Dünung nach vorne treiben 79
ließ, schoß ein dunkelgrauer Schatten durchs Wasser und sprang in einem herrlichen Bogen über seinen Kopf. Sieh, wie ich in der Sonne lache. Warum lachst du nicht auch? schien Flite zu sagen. Da lachte Matthew – oder vielleicht weinte er auch. Er war sich nicht ganz sicher, aber wer konnte diesem Lächeln widerstehen? Und er schloß den Delphin in seine Arme. »Das hättest auch du sein können.« Flite schien ihn zu verstehen. Er gab Matthew einen freundschaftlichen Schubs mit seiner Schnauze, so als ob er sagen wollte: Ich war es aber nicht. Ich bin hier, also höre auf, vor dich hinzubrüten und freue dich! Matthew freute sich. Aber der Schatten des anderen Delphins lag immer noch über ihm, und er machte sich Sorgen. Woran war er gestorben? War es der Virus, der auch die Seehunde getötet hatte? Und wenn das der Fall war, war Flite dann auch in Gefahr? Oder war es das Meer selbst, das die Gefahr darstellte? Waren sogar diese klaren Gewässer verschmutzt? War das Wasser für sie zum Schwimmen geeignet? War es nicht an der Zeit, daß die Delphine nach Süden in wärmere, weniger verschmutzte Gewässer zogen? Wo sie in einem Meer schwimmen, tauchen und springen konnten, das für sie keine Gefahr darstellte. Aber auch dort war es gefährlich, erinnerte er sich. Petra hatte es ihm erzählt. Dort gab es die großen Fabrikschiffe und ihre Netze. Dort gab es die Knüppel und Messer der Japaner. Dort gab es die Walfänger, die seit Einführung der Walfangquote Delphine als Delikatesse für den japanischen Markt jagten. Für die Delphine war es nirgendwo sicher. Wo sollten sie hingehen? Der Kopf neben ihm schubste ihn erneut, die großen Kiefer öffneten sich und legten einen kleinen Stein als Geschenk in Matthews Hand. Der geschmeidige Körper drehte sich und kurvte durch das Wasser. Komm, schien er zu sagen. Das Leben ist lebenswert. Heute! Aber Matthew dachte an morgen, und er konnte weder seinen Kummer noch seine Furcht abschütteln. Er beschloß, Flite zu warnen, und er erzählte ihm die ganze, trau80
rige Geschichte von dem anderen Delphin und daß er sich um Flite große Sorgen machte. Vielleicht gefiel Flite einfach nur den Klang von Matthews Stimme und verstand seine Warnungen nicht, aber er schien ihm aufmerksam zuzuhören, und sein Kopf war Matthew zugewandt, genauso wie es die Seehunde getan hatten, als Matthew ihnen vorgespielt hatte. Plötzlich ging Matthew auf, daß Flite diesmal anscheinend einen langen Weg zurückgelegt hatte, als er seinem Ruf folgte. Wo war er gewesen? Hatte er sich schon mit anderen Delphin zusammengetan, um die Reise in den Süden anzutreten? Und hätte er, Matthew, ihn überhaupt rufen dürfen? »Du mußt wissen«, sagte er zu Flite, »daß du hier vielleicht nicht mehr sicher sein wirst. Es wäre besser fortzugehen. Was denkst du?« Aber Flite gab keine Antwort. Er umschwamm Matthew mit seinem langen Körper, tauchte, berührte ihn beim Auftauchen leicht und stieg dann freudig wie ein silberner Blitz aus dem Wasser. Plötzlich schämte sich Matthew wegen seiner Ängste und Zweifel. Er mußte es dem Delphin gleichtun und durfte keinen Schatten auf Flites grenzenlose, ungetrübte Freude werfen. Das ist die richtige Einstellung, sagte Flite und machte einen Salto.
* Trotzdem machte er sich weiterhin Sorgen, als er an den anderen Delphin dachte, und deshalb suchte er Petra. Er hatte es sich noch nicht eingestanden, aber er fühlte sich mehr als nur ein wenig zu diesem goldhaarigen, freundlichen Mädchen hingezogen. Zum einen bot sie mit ihrem schimmernden blonden Haar, diesen sonderbaren, leuchtenden Augen und den Sommersprossen auf ihrer kleinen, geraden Nase einen außerordentlich hübschen Anblick. Zum anderen bewegte sie sich sowohl an Land als auch im Wasser geschmeidig und anmutig. Im Notfall verhielt sie sich ruhig und sicher – fast so ruhig und sicher wie Skip. Skip. Natürlich, das war es. Es hatte keinen Sinn, sich solche Gedan81
ken über Petra zu machen. Skip war der Auserwählte. Und außerdem würde sie sich nicht für einen Jungen in seinem Alter interessieren. Wenigstens sprach sie mit ihm ernsthaft über ihre Arbeit und behandelte ihn wie einen Erwachsenen. Das war aber auch schon alles, denn wenn er beobachtete, wie sie Skip ansah, wußte er, was los war. Ja, Skip war der Auserwählte. So war er nicht überrascht, als er Petra bei Skip auf der Veranda des Clubhauses fand. Ihre braungebrannten Arme und Beine hatten sie in der Sonne ausgestreckt, ihre goldfarbenen Köpfe waren ganz nahe beieinander, und sie waren in eine ernste Unterhaltung vertieft – so ernst, daß er sich fragte, ob er überhaupt stören sollte. »… bis die Ergebnisse da sind«, sagte Petra. »Ich muß sowieso über sie berichten.« »Das gibt uns noch etwas Zeit«, murmelte Skip mit einer merkwürdigen, vor Verlangen bebenden Stimme. Matthew zögerte, wollte sich schon wieder umdrehen und sie in Frieden lassen. Aber in dem Augenblick schaute Skip hoch und entdeckte ihn. »Hier ist ein sonniges Plätzchen«, sagte er träge. »Nicht schlecht für diese Jahreszeit. Komm her und setz dich auch in die Sonne. Du siehst immer noch aus, als seist du in den Mehleimer gefallen.« Petra lachte. »Der englische Sommer – was erwartest du?« »Du hast es gut«, brummte Skip. »Du bist ja dauernd in der Karibik und in Mexiko.« Er streckte seinen Arm aus, der genauso braun war wie ihrer, und gab ihr einen spielerischen Schubs. Petra ergriff seine Hand und legte sie unter ihren Kopf. Dann antwortete sie: »Wer sagt das? Ein von der Sonne geküßter, männlicher Muskelprotz?« Sie drehte den Kopf und fügte sanfter hinzu: »Was gibt es, Matthew?« Er setzte sich neben sie und kam sich irgendwie überflüssig vor. »Es ist Flite. Ich nehme an, daß die Ergebnisse von dem anderen Delphin noch nicht da sind?« »Nein, noch nicht.« Sie sah ihn freundlich an. »Es ist noch zu früh.« »Wie – wie lange wird es noch dauern?« 82
»Nur noch ein oder zwei Tage. Bis zum Wochenende müßten wir Bescheid wissen.« Matthew nickte, aber er war immer noch besorgt. »Worüber denkst du nach, Matthew?« Dieses Mal fragte Skip. »Ich – wenn es der Virus ist – oder das Meer hier verschmutzt ist oder irgend etwas anderes – darf ich Flite dann dazu ermutigen hierherzukommen?« Seine Stimme versagte fast. »Sollte ich ihn nicht – wegschicken?« Einen Augenblick herrschte Schweigen. Dann sagte Skip langsam: »Ich glaube nicht, daß du das könntest. Ein Delphin macht, was er will. Er entscheidet, ob er kommt oder geht.« Matthew stimmte ihm seufzend zu. »Ja, das weiß ich. Aber …« »Glaubst du, daß eure Freundschaft ihn in Gefahr bringen könnte?« beendete Petra den Satz für ihn. »Ich weiß nicht«, sagte Matthew unglücklich. »Ich möchte nur nicht auch noch zu den Gefahren beitragen, die ihm ohnehin schon drohen. Die sind schon schlimm genug.« Petra lächelte ihn mit plötzlicher Wärme an. »Wenn du ihn fragen würdest, so wäre er sicher der Meinung, daß es das alles wert gewesen sei.« Matthew war nicht davon überzeugt und lächelte halbherzig. »Ja, aber habe ich das Recht dazu? Ich meine, er weiß weder etwas über Verschmutzung noch über den Virus. Wie kann er wissen, was sicher ist?« »Das kannst du für ihn nicht entscheiden«, stellte Skip fest. »Nein.« Matthew war immer noch nicht überzeugt. »Abwarten und Tee trinken«, murmelte Petra und legte tröstend eine Hand auf seinen Arm. »Wir werden es bald herausfinden.« Sie schwieg eine Weile und fügte dann sanft hinzu: »Ich rechne sowieso damit, daß er bald in Richtung Süden ziehen wird. Das Meer wird jetzt kälter.« »Sie schwimmen nicht immer weg«, sagte Skip schläfrig. »Vor einigen Jahren gab es hier einen, der den ganzen Winter geblieben ist.« »War es denn warm genug?« erkundigte sich Matthew ängstlich. 83
»Er war wohl der Meinung … Er hatte ein geschütztes Plätzchen in der Bucht von Falmouth gefunden.« Wenn Flite – aber sofort verbot er sich solche verräterischen Gedanken. Ich nehme an, daß er geht, wann er will, dachte er. Und wohin er will. Ich kann es nicht ändern. Ich muß zufrieden sein, daß er hier bei mir ist – heute.
* Als er hinunterging, um für den toten Delphin zu spielen, war es Abend geworden, und ein aufsehenerregender Herbstsonnenuntergang war im Westen über dem Meer zu sehen. Ein karminroter Pfad ging mitten durch die Bucht, und das Wasser neben den Felsen hatte die Farbe von geschmolzenem Gold. Doch irgendwo in diesem lockenden Ozean gab es eine Bedrohung. Hör auf, so negativ zu denken, ermahnte er sich, und fing an zu spielen. Er schlug einen Akkord und hörte zu, wie die Obertöne in der Stille zitterten und dann erstarben. Musik, dachte er vage, Musik findet für alles eine Lösung. Ich muß nur spielen. Dann vergaß er alles bis auf die vibrierenden Saiten unter seinen Fingern und diese grandiosen Töne … Er hatte sogar vergessen, wo er sich befand – bis ihn ein fernes Plätschern aus seinen Träumen riß. Er hob den Kopf und starrte auf das immer dunkler werdende Wasser. Nicht weit von ihm befanden sich Köpfe im Wasser. Die Seehunde waren zurückgekommen, um seiner Musik zu lauschen. Aber das Plätschern war nicht von den Seehunden gekommen. Es war etwas viel Größeres gewesen und war auch viel näher bei ihm, etwas, das jetzt direkt zu den Felsen schwamm und versuchte, mit seiner langen Flaschennase das gebogene Holz der Gitarre anzustupsen. Flite war ebenfalls gekommen, um ihm zuzuhören, aber er war mit dem Zuhören allein nicht zufrieden. Er wollte wissen, was für ein Ding das war, das so wunderbare Klänge von sich gab, und warum es nur ertönte, wenn Matthew mit seinen Händen darüberstrich. 84
»Paß bloß auf!« sagte Matthew lachend. »Du kannst damit nicht spielen. Sie ist viel zu wertvoll.« Flite tauchte mit der nächsten Welle wieder auf und versuchte immer noch, die Gitarre mit seiner neugierigen Nase anzustupsen. »Tut mir leid.« Matthew rutschte etwas nach hinten, damit das hochspritzende Wasser das schimmernde Holz nicht erreichen konnte. »Aber ich werde noch ein Lied für dich spielen, wenn du das möchtest, sozusagen als Entschädigung.« Er spielte ein Volkslied mit einem unterschwelligen Tanzrhythmus, der an Flites Sprünge erinnerte, und Flite hörte zu. Das taten auch die Seehunde. Die ganze kleine Bucht mit den schützenden Felsen schien zu lauschen. Sogar die Wellen schlugen mit einem sanften, gedämpften Gemurmel an den Strand, und die Seevögel blieben auf der Dünung sitzen und vergaßen, im schwachen Abendwind zu schreien. Schließlich spielte Matthew einen letzten, tiefen Baßakkord und lauschte, wie die Obertöne in der sanften Luft des Abends leiser wurden und erstarben. Dann legte er seine Gitarre vorsichtig auf seine Jacke, die er auf die Felsen gelegt hatte. »Das war's«, sagte er zu den Seehunden. »Ihr geht jetzt besser schlafen.« Flite erklärte er sanft: »Ich habe eigentlich für den anderen Delphin gespielt, mußt du wissen. Nicht für dich. Du brauchst keinen, der dich zur letzten Ruhe singt, oder? Aber ich bin froh, daß du gekommen bist.« Und er beugte sich über den Rand der Felsen und streckte seine Hand aus. Eine lange, hervorstehende Nase kam nach oben und stupste freundschaftlich gegen die ausgestreckte Handfläche. Der große, gewölbte Kopf kam für einen Moment aus dem Wasser, und das breite Lächeln strahlte absolutes Vertrauen aus. Da du mir diese Musikbox nicht zum Spielen geben willst, sagte der intelligente, aufmerksame Blick, zeige ich dir eben, daß ich auch ohne deine Hilfe tanzen kann. Und er tauchte unter die nächste Welle, schnellte in einer wunderschönen Kurve empor und sprang vor dem Hintergrund des schwächer werdenden Feuers am Sonnenuntergangshimmel hoch in die Luft. 85
»Gute Nacht«, sagte Matthew sanft. »Schlafe gut in deinem tiefen Ozean.« Flite antwortete nicht. Er blies nur Luft aus seinem Atemloch und holte Atem. Dann drehte er sich in einem Schwall von Blasen und schwamm aufs offene Meer hinaus.
* Am nächsten Morgen warf ein lautes Hämmern Matthew aus seinem Etagenbett. Er stolperte ins Sonnenlicht und fand Skip, der zornig Nägel in einen der wackeligen Verandapfosten schlug. Er schien sie mit unnötiger Kraft einzuschlagen, und Matthew fragte sich, ob das ganze Verandadach nicht jede Sekunde einstürzen könnte. Aber als er Skips grimmiges Gesicht sah, beschloß er, lieber den Mund zu halten. Als Skip ihn entdeckte, schlug er noch einmal heftig mit dem Hammer zu und hörte dann auf, den unschuldigen Pfosten zu malträtieren. »Petra reist heute ab.« Matthew war wie erstarrt. »Heißt das, daß sie Nachricht vom Delphinzentrum erhalten hat?« »Ja.« »Und?« Skip seufzte. »Sie glauben, daß es ein Virus ist … Aber sie möchte es dir selber sagen.« »Wo ist sie?« »Unten am Strand.« Er gab keine Begründung dafür, warum er nicht bei ihr war, aber Matthew war zu besorgt, um es zu merken. »Möchtest du nicht frühstücken«, rief Skip hinter ihm her. »Nein«, sagte Matthew. »Danke.« »Mir ist auch der Appetit vergangen«, murmelte Skip und beobachtete, wie Matthew durch die Dünen nach unten zu der weiten, nassen Sandfläche rannte. Petra saß auf einem Felsen und hatte die Arme um die Beine geschlungen. Sie sah traurig aus. Sie starrte auf das Meer und drehte sich 86
nicht um, als Matthew auf sie zukam. Irgendwie schmerzte ihn ihre Traurigkeit – genauso wie Skips wütendes Gehämmere –, und er hatte das unvernünftige Verlangen, sie zu schütteln und zu sagen: »Was ist mit euch beiden los? Warum könnt ihr nicht zusammenkommen?« Aber das konnte er natürlich nicht machen. Er konnte nur über die Delphine sprechen. »Skip sagte, daß du die Ergebnisse hast.« »Ja, Matthew, das stimmt.« Sie drehte den Kopf ein wenig, und er sah, daß Tränen in ihren Augen standen. »Es handelte sich ganz sicher um einen Virus, der Atemschwierigkeiten – eine Art Lungenentzündung – verursacht.« »Wie der Nordseevirus?« »Ja. Aber es muß nicht unbedingt dieser Virus sein.« »Ansteckend?« »Wahrscheinlich.« »Woher kommt er?« Sie zuckte mit ihren braungebrannten Schultern. »Wer weiß das schon?« »Aus dem Meer selbst?« »Nein, zumindest nicht ursächlich. Von anderen infizierten Tieren … Obwohl die Verschmutzung durchaus ihre Widerstandsfähigkeit geschwächt haben kann.« »Können – können sich andere Delphine anstecken?« Sie sah ihn unglücklich an. »Wahrscheinlich. Wenn sie zusammen schwimmen … Wir wissen es nicht genau.« Sie schwieg einen Augenblick und fügte dann hinzu: »Vielleicht sind einzelne Tiere – wie dein Flite – verhältnismäßig sicher.« »Was ist mit den Seehunden?« Sie schüttelte den Kopf. »Die grauen Seehunde scheinen ihn nicht zu haben. Früher durchgeführte Tests an einem Tier zeigten, daß Antikörper vorhanden sind.« »Was bedeutet das?« »Es könnte sein, daß sie gegen diesen speziellen Virus immun sind – oder daß sie Überträger sind.« 87
»Überträger?« Er dachte an diese runden, aufmerksamen Köpfe, die ihm vom Wasser aus zugehört hatten – diese klaren Augen, die verwundert auf sein Gesicht gerichtet waren –, und an Flite, wie er zu ihm hinschwamm und die Gitarre in seinen Händen anstupste … Was habe ich getan, dachte er. »Wir wissen es nicht«, sagte Petra. »Das ist das Problem.« Sie sah Matthews niedergeschlagenes Gesicht und fügte sanft hinzu: »Aber ich glaube nicht, daß du dir wegen Flite Sorgen machen mußt. Er sieht stark und gesund aus, und er scheint es vorzuziehen, allein zu bleiben.« Matthew seufzte. »Ich hoffe bei Gott, daß du recht hast.« Er wandte sich von Petra ab, von den Felsen, von der See und wurde von quälenden Gedanken getrieben. Aber etwas in Petras Gesicht – eine Andeutung von trostloser Einsamkeit – brachte ihn dazu, sich umzudrehen und sie anzusehen. Ihr sonst so schwungvolles Haar lag flach am Kopf an, und die Linie ihrer Schultern drückte eine Art Niederlage aus. »Ach ja«, sagte er und log fröhlich das Blaue vom Himmel herunter, »Skip kocht gerade Kaffee. Er bat mich, dir das zu sagen.« Petra starrte ihn einen Augenblick schweigend an. Plötzlich streckte sie beide Arme aus und umarmte ihn liebevoll. »Du bist ein guter Junge, Matthew«, sagte sie und lachte dabei ein bißchen. »Aber du bist ein verdammt schlechter Lügner!« Und dann ging sie den Strand hinauf zum Clubhaus und zu Skip. Er sah ihr nach und ging dann in die entgegengesetzte Richtung.
* »Es hat keinen Sinn«, sagte Petra. »Ich kann dir nicht länger böse sein.« »Ich auch nicht«, gab Skip erleichtert zu. Er ließ den Hammer zu Boden fallen und nahm Petra in die Arme. Ohne zu zögern, erwiderte sie seine Umarmung. »Das ist besser«, sagte er. 88
Petra lachte, aber es klang noch ein bißchen zittrig. »Matthew sagte, daß du Kaffee kochen würdest.« »Oh, sagte er das?« Auch Skip lachte jetzt, aber er rührte sich nicht. »Nun – kochst du jetzt Kaffee oder nicht?« »Nein. Ich bleibe lieber hier bei dir.« »Ich verstehe.« »Wirklich?« Er nahm ihren Kopf in beide Hände und sah ihr lange und liebevoll in die Augen, so als ob er ihren Anblick für immer in seinem Gedächtnis speichern wollte. »Trotzdem«, murmelte er, »sollten wir vielleicht hineingehen …« »Ja, das ist eine gute Idee.« Sie sah ihn ebenso liebevoll an und war in den gleichen unausgesprochenen Bann zogen. Sie schwiegen. Dann senkte Skip langsam den Kopf und küßte sie.
* Einige Zeit später kam Matthew zurück. Er hoffte, daß er ihnen genug Zeit gegeben hatte. Aber er wollte noch schwimmen gehen und Flite suchen. Dazu brauchte er seine Ausrüstung und die wollte er jetzt holen. Sie saßen auf den Stufen, die zur Veranda heraufführten. Petras Reisetaschen waren gepackt und standen neben ihr auf den abgeblätterten Holzbrettern. »Reist du jetzt sofort ab?« fragte Matthew bestürzt. »In ein paar Minuten.« Petra sah in Matthews besorgtes Gesicht und lächelte. »Ich bin froh, daß du noch rechtzeitig gekommen bist.« »Rechtzeitig für was?« »Um auf Wiedersehen zu sagen, natürlich.« »Oh.« Matthew wußte ganz genau, daß er überhaupt nicht auf Wiedersehen sagen wollte. Und so wie Skip aussah, schien er das gleiche zu empfinden. »Wohin gehst du als nächstes?« Petra zuckte mit den Schultern. »Weiß ich noch nicht genau. Wahrscheinlich in die Pazifikregion. Dorthin, wo mich das Institut für Meeresforschung hinschickt.« 89
Matthew und Skip sahen bedrückt aus. »Das einzige, was ich weiß, ist, daß ich im Januar in der Scammon's Lagoon die Ankunft der Grauwale beobachten werde.« »Wo ist das?« »Baja California …« »Mexiko«, erklärte Skip. »Die lange, dünne Halbinsel. Man nennt es auch Niederkalifornien.« Matthew blickte verwirrt drein. »Sie legen einen Weg von über viertausend Meilen zurück«, erklärte Petra ihm. »Sie kommen aus dem Beringmeer.« »Um ihre Jungen zur Welt zu bringen?« »Ja. Dort ist es warm und geschützt. Man kann sie sehen, wenn sie die kalifornische Küste entlangschwimmen …« Wieder sah sie Skip an. »Es ist ein wunderschöner Anblick.« Irgendwie hatte Matthew das Gefühl, daß sie einander eigentlich etwas ganz anderes sagen wollten. »Wirst du zurückkommen?« brach es plötzlich aus ihm heraus. Die beiden sahen ihn überrascht an. »Ja«, antwortete Petra, als ob es eine Selbstverständlichkeit wäre. »Natürlich.« Skip stand auf und nahm ihre Taschen. »Wir sollten besser losfahren. Du verpaßt sonst deinen Zug.« Auch Petra stand auf. Sie umarmte Matthew herzlich. »Grüße bitte Flite von mir«, murmelte sie. »Ich wünsche dir viel Glück.« Skip schwieg. Sie stiegen zusammen in den Jeep und fuhren davon. Matthew sah sie wegfahren und war überrascht, daß er ein Gefühl des Verlustes empfand. Aber das war nichts im Vergleich dazu, was ihm jetzt bevorstand. Darüber nachzudenken fiel ihm sehr schwer, und er war sich nicht sicher, ob er es überhaupt tun könnte. Aber er wußte, daß er es versuchen mußte. Seufzend ging er ins Haus, um seinen Neoprenanzug und die Tauchermaske mit dem Schnorchel zu holen. Dann machte er sich auf den Weg zum Strand. 90
* An diesem Tag war das Meer ruhig und lag azurblau unter dem klaren Himmel. Die herbstliche Sonne glitzerte auf dem Wasser, und unter der glatten Oberfläche spiegelte sich ein merkwürdiges Licht wider, das bis auf den bleichen Meeresgrund herunterreichte. Eine Zeitlang schwamm Matthew allein, beobachtete die Tangwedel, die durch das Sonnenlicht grün und granatrot funkelten, und die Schatten kleiner Fische, die zwischen den silberglänzenden Felsen wie Pfeile dahinschossen. Er wollte Flite noch nicht rufen. Er wollte sich in der Dünung treiben lassen, sich der unbegrenzten Kraft ergeben und nicht nachdenken. Doch er brauchte Flite gar nicht zu rufen. Der Delphin kam auch ohne Aufforderung. Der schöne, geschmeidige Körper erschien geräuschlos neben ihm und umkreiste ihn mühelos im durchsichtigen Wasser. An diesem Tag war das Meer so hell, daß die lange Unterseite des Delphins fast strahlte, als er sich träge in der Dünung drehte, wälzte und darin eintauchte. Matthew beobachtete ihn gebannt, und sein Herz schien vor lauter Freude über Flites Kommen zu zerspringen. »Oh Flite«, sagte er, als der große, runde Kopf näherkam und die kraftvolle Schnauze ihn mit spielerischem Drängen anschubste. »Oh Flite, was soll ich nur mit dir machen?« Er umarmte den Delphin, legte seinen Kopf gegen die warme, pulsierende Flanke des Delphins und weinte. »Für dich ist es hier nicht sicher«, sagte er schließlich. »Diese Gewässer sind für dich tödlich, verstehst du das denn nicht?« Matthew erzählte ihm alles – über den Virus, die verschmutzten Küstengewässer und die große Gefahr, die ihn bedrohte. Wie immer schien Flite ihm aufmerksam zuzuhören. »Also«, sagte Matthew schließlich, »ich glaube, daß es an der Zeit ist, daß du gehst … in wärmere und saubere Gewässer … Versteht du das? Es ist Zeit zu gehen.« Ob Flite nun verstanden hatte oder nicht, er wollte jedenfalls nicht, 91
daß Matthew noch länger traurig war. Er verließ Matthew und machte einige wunderbare, spiralförmige Drehungen und aufsehenerregende Sprünge, so als ob er Matthew von seinen Ängsten und bösen Vorahnungen ablenken wollte. Und während Flite im schimmernden Sonnenlicht durch Kaskaden von hochspritzender Gischt sprang, tauchte und seine Kreise zog, merkte Matthew, wie die spontane Freude des Delphins auch ihn ergriff. Matthew hatte Flite noch nie so verspielt, so liebevoll und so voller unstillbarer Freude gesehen. Er sprang durch die Wellen, jagte seinem eigenen Schwanz hinterher, glitt über das Wasser und tauchte im nächsten Augenblick tief hinab, um Schwärme von kleinen Fischen zu verfolgen. Er spielte mit den Seehunden, schoß wie ein Pfeil hinter einem Fischerboot her, das durch die Bucht fuhr, und kam blitzartig wieder an Matthews Seite zurück. Er rollte sich auf den Rücken und machte im Sonnenlicht einen Salto. Und schließlich, so als ob er ihm ein letztes Geschenk machen wollten, kam er zwischen Matthews Beinen an die Oberfläche, setzte ihn sanft auf seinen Rücken und begann, mit atemberaubender Geschwindigkeit durch die Bucht zu preschen. Matthew saß direkt hinter dem kraftvollen, spitz zulaufenden Kopf und ritt den Delphin wie ein Wagenlenker. Bei den Felsen ließ der Delphin Matthew sanft von seinem Rücken rollen und ins Wasser gleiten. Für einen kurzen Moment lagen sie ruhig da, und der Körper des Delphins war ganz nah bei ihm. Matthew legte liebevoll einen Arm um ihn. Sie waren sehr still und sehr zärtlich zueinander und versuchten nicht, den friedlichen Zauber zu zerstören, der sich über sie gebreitet hatte. Matthew wußte nicht, welche sonderbare Verbindung zwischen ihnen beiden bestand oder wie der Delphin erraten konnte, was er dachte. Aber ihm wurde plötzlich bewußt, daß Flites aufsehenerregende Darbietung so etwas wie eine Abschiedsvorstellung war. Der atemberaubende Ritt auf seinem Rücken war Flites allerletztes, liebevolles Geschenk. »Auf Wiedersehen, Lord Flite«, murmelte er, lächelte traurig und 92
nahm den wunderschönen, geschmeidigen Körper in seine Arme. »Danke für alles, was du mir beigebracht hast. Ich werde dich niemals vergessen.« Flite drehte sich im Wasser, bis der große Kopf sich nahe bei Matthew befand. Einen Augenblick lang sahen sie sich liebevoll an und sie verstanden sich vollkommen. Schließlich bewegte sich die lange, feinfühlige Schnauze nach vorne und berührte Matthews Gesicht. Es war wie ein Kuß. Dann drehte sich der Delphin um und schwamm zurück zu den weiten jade- und indigofarbenen Tiefen des großen Atlantiks.
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Teil 2 Sonnenaufgang der Ewigkeit?
Der Kapitän sah aus dem Fenster. In letzter Zeit war er wie-
der krank und ans Bett gefesselt gewesen, aber jetzt konnte er endlich wieder aufstehen, in seinem Stuhl sitzen und das Meer beobachten. Immer wenn er das Meer sehen konnte, fühlte er sich besser. Es war ein weiterer goldener Herbsttag gewesen, aber jetzt zogen Wolken auf und ein schneidender Wind blies von der Küste her, der die Dünung in rastlose weiße Kämme verwandelte. Er sah den Jungen vorbeigehen. Er stemmte sich gegen den Wind und hatte es eilig. Irgend etwas an seiner Schulterhaltung beunruhigte den alten Mann. Matthew schien angespannt zu sein und innerlich vor Schmerz gekrümmt. Der Kapitän beobachtete, wie Matthew sich schließlich näherte, und drückte den Klingelknopf an der Wand neben seinem Stuhl. Das fröhliche Gesicht des jungen Zimmermädchens tauchte in der Tür auf. »Was kann ich für Sie tun, Kapitän?« Er winkte sie heran und zeigte nach unten auf den Strand. »Emma, gibt es hier jemanden, der eine Besorgung für mich machen würde?« »Ich denke schon, Kapitän. Ich werde sicher jemanden finden.« Er nickte. »Der Junge. Da unten. Der, der dort ganz alleine langgeht. Ich möchte ihn sprechen.« Sie lächelte und schien nicht überrascht zu sein. »In Ordnung, Kapitän. Ich werde sehen, was ich machen kann.« Immer noch lächelnd und fröhlich gestimmt lief sie aus dem Zimmer, und der Kapitän schaute wieder aus dem Fenster. Bald darauf sah er, wie das Mädchen das Hotel verließ. Als Schutz gegen den Wind band sie sich im Laufen einen Schal um den Kopf. Sie kletterte die steilen Stufen zum Strand hinunter und rannte dann, um den vorbeigehenden Matthew noch zu erreichen. Er sah, 95
wie sie sich trafen. Der Junge blickte kurz zum Hotel und zum Fenster des Kapitäns hinauf. Dann kamen die beiden Seite an Seite auf ihn zu. Bald darauf klopfte es an seiner Tür. »Komm rein, Matthew«, rief er. Und als der Junge zögernd im Flur stand, fügte er hinzu: »Ich freue mich, dich zu sehen.« »Man hat mir gesagt, daß Sie krank waren.« »Schnee von gestern. Mir geht's jetzt besser.« Gebieterisch zeigte er auf einen in der Nähe stehenden Sessel. »Komm rein und setz dich. Ich kann Gesellschaft gebrauchen.« Gehorsam setzte sich Matthew und sah den alten Mann aufmerksam an. Erschrocken bemerkte er, daß der Kapitän viel älter und gebrechlicher als sonst aussah. Die Krankheit, die er so leicht abtat, war mit Sicherheit ernst. »Ist es auch nicht zu anstrengend für Sie?« fragte er besorgt. Der alte Mann lachte. »Ich bin härter im Nehmen als du denkst.« Er richtete seinen durchdringenden Blick auf Matthew. »Also – erzähl mir, was es Neues gibt.« Einen Augenblick lang sah Matthew ihm in die Augen und blickte dann aus dem Hotelfenster aufs Meer. Er seufzte. »Neues? Na ja, im Moment heißt es nur Abschiednehmen.« »Wer ist denn abgereist?« »Oh – zuerst Madge, Jim und die Kinder. Und dann Tudor Davies.« Matthew lächelte ihn dankbar an. »Es war nett von Ihnen, daß Sie das Treffen in die Wege geleitet haben.« Der Kapitän brummte nur. »Und heute war Petra an der Reihe.« »Wer ist Petra?« Überrascht zögerte Matthew einen Augenblick. Dann sagte er: »Haben Sie sie nicht getroffen? Skips Freundin? Sie ist Meeresbiologin. Kümmert sich um Wale und so.« Der alte Mann nickte. »Ich glaube, ich habe die beiden einmal zusammen gesehen – im Club. Ist sie blond?« Er erinnerte sich an die beiden blonden Köpfe die ganz nah beieinander und im Licht der Club96
bar in eine private Unterhaltung vertieft gewesen waren. Aber er hatte ihr Gesicht nicht gesehen. »Blond«, bestätigte Matthew. »Und toll aussehend.« Etwas in seiner Stimme brachte den Kapitän dazu, ihn ernst anzusehen. »Und sie ist abgereist. Wohin?« Matthew zuckte mit den Schultern. »Wohin immer ihre Arbeit sie führt. Sie sagte etwas vom Pazifik.« »Und Skip wird sie vermissen?« »Sehr.« Wieder war nur ein unbestimmtes Brummen zu hören. »Wirst du sie vermissen?« Matthew antwortete ganz ruhig: »Na ja, ein bißchen. Sie war sehr nett zu mir.« Der Kapitän schwieg einen Augenblick. Dann blickte er Matthew wieder eindringlich an. »Also – wer ist noch gegangen?« Etwas mußte ja dieses heftige Gefühl der Einsamkeit in ihm ausgelöst haben. Matthew erstarrte. Aber dann beschloß er, sich dem Kapitän anzuvertrauen. »Flite«, sagte er. Sie sprachen lange über den Delphin. Dann sagte Kapitän St. George freundlich: »Du hast das Richtige getan, mein Junge. Aber bist du sicher, daß er wirklich fortgegangen ist?« »Ja.« Matthew klang überzeugt. »Er sagte mir auf Wiedersehen.« Das Lächeln des Kapitäns war nur ein kleines bißchen spöttisch. »Du hast mit ihm gesprochen, oder?« Matthew wurde rot. »Oh ja, die ganze Zeit.« »Und er hat geantwortet?« Matthew wurde noch röter, aber er war nicht wirklich verlegen. »Ja. Ich glaube, daß er geantwortet hat. Zumindest haben wir uns irgendwie unterhalten.« Er sah den Kapitän offen an. »Ich glaube, daß Worte nur eine Art der Verständigung sind.« »Da hast du recht«, sagte der Kapitän. »Er wäre vielleicht sowieso fortgegangen. Sie ziehen meist in dieser Jahreszeit nach Süden. Petra hat es mir gesagt. Aber ich bin sicher, daß 97
er mich verstanden hat. Und ich bin sicher, daß er auf Wiedersehen gesagt hat – auf seine Art.« In seinen Augen lag Trauer, und dem alten Mann schmerzte das Herz. Aber dann schien sich dieser Blick zu ändern und sanfter zu werden, und der Junge sagte plötzlich: »Er würde es nicht gutheißen.« »Was?« »Diese Trauer.« Er sah den alten Mann an, der neben ihm saß, und versuchte mühsam, unerklärliche Dinge in Worte zu fassen. »Flite glaubte nicht an Trauer. Trauer ist etwas, was er nicht kennt. Er glaubte an das Jetzt – das Heute!« Der alte Mann nickte langsam. »Spontane Freude«, murmelte Matthew. »Was hast du gesagt?« »Es war etwas, was Sie sagten. Spontane Freude. Erinnern Sie sich nicht mehr daran?« Der Kapitän dachte nach. »Ja. Ich erinnere mich. Diese Kinder am Strand – und der kleine Junge. Wie hieß er noch?« »Jampy.« »Genau. Jampy. Er sprang auf und nieder wie ein kleiner Kastenteufel.« Matthew lächelte. »Ja.« Spontane Freude, dachte er. Das war es, was Flite mich lehrte. Aber ich weiß nicht, wie ich diese Erkenntnis umsetzen soll. »Er wird zurückkommen«, sagte der Kapitän, als ob Matthew laut gesprochen hätte. Dann sah er sich suchend im Zimmer um. »Da hinten – auf meinem Tisch. Blake. Ich habe heute morgen darin gelesen.« Verwundert holte Matthew das Buch und beobachtete, wie die pergamentartigen Finger die Seiten umblätterten und die richtige Stelle fanden. »Hier«, sagte der Kapitän. »Es klingt vielleicht etwas abgedroschen, aber es ist immer noch wahr.« Und er hielt Matthew das aufgeschlagene Buch hin. Matthew las: 98
He who binds to himself a joy Does the winged life destroy. But he who kisses the joy as it flies Lives in eternity's sunrise. Wer an sich eine Freude bindet, Zerstört das umherfliegende Leben; Aber wer die Freude küßt, wenn sie fliegt, Lebt im Sonnenaufgang der Ewigkeit. Als er die berühmten Worte las, standen ihm Tränen in den Augen. In Gedanken sah er, wie Flite in weiter Ferne froh durch die Meereswellen sprang. Er schwamm und schwamm und entfernte sich immer weiter von ihm in Richtung Sonnenaufgang. »Hier spricht dein Flite«, sagte der Kapitän sanft. Aber Matthew konnte nicht antworten. Um das Schweigen zu brechen, fragte der Kapitän energisch: »Also gut, Matthew. Was wirst du jetzt tun?« »Ich weiß es nicht.« »Wirst du hierbleiben?« Matthew zögerte. »Nicht mehr lange. Die Ärzte sagen, daß ich fast wieder gesund bin. Aber ich habe Skip versprochen, ihm beim Renovieren zu helfen, und«, er sah den Kapitän etwas schüchtern an, »ich bin der Meinung, daß er jetzt ein bißchen Gesellschaft braucht.« Der alte Mann lächelte. »Völlig klar.« »Es ist nur …« Matthew zögerte verlegen. »Ja?« »Ich müßte mir irgendeinen Job suchen. Aber ich nehme nicht an, daß das hier im Winter einfach sein wird.« »Da hast du recht. Sogar die Einheimischen haben damit ihre Schwierigkeiten.« Matthew nickte. »Wahrscheinlich muß ich damit warten, bis ich wieder in London bin.« »Wirst du zu Madge und Jim Farley zurückkehren?« 99
Wieder zögerte er. »Ja. Um sie wiederzusehen. Besonders über die Weihnachtsfeiertage, wegen der Kinder und so. Deshalb brauche ich etwas Geld. Aber um dort zu wohnen – nein.« Er sah den Kapitän an. Er wollte, daß er ihn verstand. »Ich brauche meine Unabhängigkeit.« Der alte Mann verstand ihn nur zu gut. »Es wird nicht leicht sein, wenn du so ganz auf dich allein gestellt bist.« Matthew gab ihm recht. »Du hättest das Geld von der Versicherung annehmen sollen.« »Das weiß ich.« Matthews Stimme klang eigensinnig und entschuldigend zugleich. »Aber irgendwie macht der Gedanke mich krank … Ich würde es viel lieber selber verdienen.« »Das kann ich dir nicht verdenken.« Erleichtert holte Matthew Luft. Er war überrascht, wieviel Wert er darauf legte, daß der alte Kapitän eine gute Meinung von ihm hatte. »Trotzdem«, sagte der alte Mann vorsichtig. »Ich möchte dich bitten, mir etwas zu versprechen.« »Was?« Matthew war auf der Hut. »Lege dich nicht fest.« »Was meinen Sie damit?« »Na ja – triff nicht zu früh irgendeine endgültige Entscheidung. Ich meine, wenn du einen Job suchen oder dich ein bißchen in der Welt umsehen oder etwas anderes tun möchtest – du kannst dann später immer noch dein Abitur machen und auf die Universität gehen. Oder eine Ausbildung beginnen. Nichts kann dich davon abhalten, das zu tun, wenn du zwanzig oder sogar dreißig bist. Oder?« Die klugen Augen sahen ihn herausfordernd an. »Das mag wohl stimmen.« Matthew wußte, daß er nicht überzeugt klang. »Verstand ist dazu da, daß er benutzt wird«, brummte der Kapitän. »Das gilt auch für Talent. Gottgegeben, würde dein Freund Tudor Davies jetzt sagen. So etwas darf nicht verschwendet werden. Alles, worum ich dich bitte, ist, aufgeschlossen zu bleiben.« »Ich werde es versuchen«, antwortete Matthew, obwohl er nicht genau wußte, was für ein Versprechen er da gegeben hatte. 100
»Computer«, sagte der Kapitän plötzlich. »Wieso habe ich nicht daran gedacht?« Matthew sah ihn fragend an. »Du kannst doch gut mit ihnen umgehen?« »Es geht.« »Das ist gut.« Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, als ob er genug gesagt hätte. »Was ist gut?« fragte Matthew verwirrt. Der alte Mann zeigte mit einer Hand auf eine Tür, hinter der, wie Matthew annahm, sich das Badezimmer befinden mußte. »Da drin. Sieh es dir an.« Matthew ging zur Tür und sah ins Zimmer. Es war kein Badezimmer, sondern ein kleiner Ankleideraum, der in ein Büro verwandelt worden war. In einer Ecke entdeckte er einen Fernschreiber und ein Telefax. Daneben stand ein Schreibtisch mit einem Telefon und einigen ordentlich aufgeschichteten Papieren. An einem Ende des Schreibtisches stand ein Bildschirm und eine Tastatur. Verwundert ging er zum Kapitän zurück und stellte sich neben ihn. »Könntest du damit umgehen?« »Aber ja.« Er wartete auf eine Erklärung, aber als keine kam, fragte er: »Aber weswegen?« Der Kapitän grinste. »Um auf dem laufenden zu bleiben, mein Junge. Deshalb.« Als er Matthews Verwunderung bemerkte, lachte er und erklärte es ihm näher. »Kennst du dich etwas mit dem Reedereigeschäft aus?« Er wartete Matthews Antwort nicht ab. »Ich muß immer ein wachsames Auge darauf haben. Jeden Tag. Das ist die einzige Möglichkeit, eine Firma zu leiten. Meistens rufe ich die Zentrale in London an. Die sagen mir, was los ist, ob es Probleme gibt – zum Beispiel beim Be- und Entladen – oder Unfälle, Streiks und so weiter. Ich gebe alle Daten in den Computer ein. So bin ich immer auf dem neuesten Stand.« Er schwieg einen Augenblick und fügte mit einer unbestimmten Handbewegung hinzu: »Dieser Computer ist nur für Reisen gedacht. So kann ich in Kontakt bleiben. Zu Hause habe ich ein viel größeres und besseres System.« 101
Matthew nickte. Der alte Mann sah ihn beifällig an. Der Junge verschwendete keine Zeit mit unnötigen Fragen. »Aber als ich krank war, bin ich in Rückstand gekommen. Es muß alles aktualisiert werden. Verstehst du?« »Ja.« »Bekommst du das wieder hin?« »Wenn Sie mir die Daten geben …« »Die bekommen wir von der Zentrale. Es ist eine Menge einzugeben.« Er warf einen schnellen, prüfenden Blick auf Matthews Gesicht und fügte beiläufig hinzu: »Ich werde dir den üblichen Lohn zahlen.« Sofort protestierte Matthew. »Das brauchen Sie nicht.« »Doch. Ein Job ist ein Job. Vier Pfund in der Stunde. Zwei Stunden täglich. In Ordnung?« »Das ist zuviel Geld.« »Unsinn. Du wirst es dir verdienen müssen. Dafür werde ich sorgen.« Er klang sehr überzeugend. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« »Es ist ein gutes Angebot.« »Ja, aber …« »Aber was?« Sein Blick verfinsterte sich. »Ist es nicht an der Zeit, daß Sie in den Süden gehen sollten – so wie Flite?« »Versuchst du, mich von hier zu vertreiben, mein Junge?« Matthew lachte. »Nur so, wie ich auch Flite vertrieben habe.« Kapitän St. George war gerührt und daher schroffer als sonst. »Paß auf, junger Mann. Seit Jahren komme ich in jedem Sommer an diesen Ort. Aus rein sentimentalen Gründen. Die meiste Zeit fühle ich mich verdammt einsam. Das hatte ich dir ja erzählt. Dieses Jahr war es endlich einmal richtig interessant. Ich habe beschlossen, noch ein bißchen zu bleiben, das ist alles. Ist daran irgend etwas falsch?« Matthew und lächelte ihn an. »Nur, wenn Sie davon krank werden.« Der Kapitän schnaubte. »Unerheblich. Ich habe mich amüsiert.« Als er sah, daß Matthew noch immer nicht überzeugt war, fügte er ver102
schmitzt hinzu: »Aber ich könnte deine Hilfe gebrauchen – für einige Wochen.« Matthew gab auf. »In Ordnung.« Der Kapitän hielt ihm seine Hand hin. »Abgemacht?« »Abgemacht«, stimmte Matthew zu und drückte die dünnen Finger des alten Mannes.
* An dem Abend wollte Skip erst sehr spät nach Hause kommen. Matthew ging schließlich ins Bett und ließ das Verandalicht brennen, damit Skip den Weg besser fand. Es regnete stark, und der Wind blies große Mengen Regenwasser und Gischt an die Fenster. Matthew stellte sich Flite vor, wie er dort draußen in der aufgewühlten, dunklen See schwamm und sich im Kampf mit den Winterstürmen seinen Weg nach Süden bahnte. Er seufzte, erkannte dabei, daß ihn die Traurigkeit übermannt hatte und sank in einen unruhigen Schlaf. Flite verfolgte ihn in seinen Träumen. Matthew schwamm im tiefen Meer durch unzählige hohe Wellen auf der Suche nach dem schwarzblauen Schatten eines Delphins, den er niemals finden würde … Es war schon fast Morgen, als er plötzlich durch das Geräusch von Schritten auf der Veranda geweckt wurde. Er hörte einen schweren Sturz und verhaltenes Fluchen. Matthew stand auf, ging zur Verandatür und drückte sie gegen den Wind und den herunterprasselnden Regen auf. »Skip, bist du das?« Der Regen schlug ihm heftig ins Gesicht, und er konnte kaum noch etwas sehen. Fast wäre er über die dunkle Gestalt gestolpert, die auf dem Fußboden der Veranda kauerte. »Skip? Was zum Teufel machst du da unten?« Skip sah zu Matthew hoch. Sein Gesicht war bleich. »Ich suche meinen Schlüssel«, sagte er dumpf und blieb draußen im Regen sitzen. »Ich habe die Tür offengelassen, du Dummkopf.« Matthew schüt103
telte aufgebracht den Kopf. Er nahm eine Öljacke, die hinter der Tür hing, rannte dann wieder in den Regen hinaus und faßte Skip unter den Achseln. Zuerst dachte er, daß Skip nur betrunken sei, und wollte ihn ohne großen Aufhebens ins Haus bringen. Er war es gewohnt, mit Betrunkenen fertigzuwerden. Er hatte seine Mutter oft nach einer durchzechten Nacht ins Bett gebracht – und nicht nur sie, sondern auch ihre jeweiligen Freunde. Es machte ihm nicht viel aus, doch es beschwor die Erinnerungen wieder herauf, gerade jetzt wo er begann, darüber hinwegzukommen. Aber irgend etwas an Skips zaghaften Versuchen aufzustehen gab ihm zu denken. Er manövrierte ihn erfolgreich durch den dunklen Korridor in die Küche. Als er ins Licht kam, sah er Skip genauer an und war entsetzt. Skip war bis auf die Haut durchnäßt und bis zu den Schultern mit Schlamm bedeckt. Bäche von Regenwasser liefen aus seinem Haar das Gesicht hinunter und etwas bedenklich Rotes vermischte sich mit dem Schlamm auf seiner Stirn und tropfte in seine Augen. »Mein Gott«, sagte Matthew. »Was ist passiert?« »Schlamm«, erklärte Skip ihm. Er sprach ganz deutlich. »Das sehe ich«, meinte Matthew. »Wo ist der Jeep?« »Als ich ihn das letzte Mal sah, war er liebevoll um einen Baum gewickelt.« »Wo?« »Irgendwo in der Nähe von Tresillian Head – glaube ich.« Matthew starrte ihn an. »Du bist den ganzen Weg von Tresillian zu Fuß gegangen?« »Na ja, geflogen bin ich nicht«, brummte Skip und wankte zum nächsten Stuhl. »Bist du verletzt?« »Nicht schlimm. Ich habe mir den Kopf gestoßen, das ist alles.« Er wischte die Mischung aus Regen und Blut aus seinen Augen und hielt sich mit seinen schmutzbedeckten Händen an der Stuhllehne fest. »Ich habe echt Glück gehabt«, fügte er lässig hinzu. Dann sank er bewußtlos zu Boden. 104
Matthew machte sich schnell an die Arbeit. Zuerst zog er Skips nasse Kleidung aus und hüllte ihn in dicke Decken. Dann legte er ihm ein Kissen unter den Kopf und holte eine Schüssel mit Wasser, um die Wunde an seiner Stirn auszuwaschen. Als er den Schlamm entfernt hatte, stellte er fest, daß sie nicht sehr tief war, aber noch blutete. Außerdem hatte Skip eine eigroße Beule, die langsam blau anlief. Als Matthew Skip so gut es ging gesäubert hatte, begann er, sich Sorgen zu machen, weil Skip immer noch bewußtlos und sein Körper so kalt war. Er fragte sich, ob er ihn dort auf dem Küchenfußboden liegenlassen oder versuchen sollte, ihn ins Bett zu bringen – und ob er so etwas wie eine Wärmflasche unter Skips wenigen Habseligkeiten finden würde. Er überlegte sich gerade, ob er wohl eine leere Cidreflasche mit heißem Wasser füllen und sie in eine Wolldecke wickeln sollte, als Skip die Augen öffnete und »Suppe« flüsterte. Matthew grinste erleichtert und ging zum Herd hinüber. »Aber natürlich, Sir. Ihre Suppe kommt sofort.« Am Abend hatte er eine Dose Tomatensuppe für sein Abendbrot geöffnet. Es war noch genügend Suppe da, und er mußte sie nur aufwärmen. Trotzdem behielt er den auf dem Boden liegenden Skip wachsam im Auge und fragte sich, ob diese Blässe auf einen Schock hindeutete und ob er den Arzt anrufen sollte. »Hilf mir hoch«, verlangte Skip, der vergeblich versuchte, sich aufzurichten. »Du bleibst liegen«, befahl Matthew. »So lange, bis du das gegessen hast.« »Ich kann im Liegen keine Suppe essen.« »Ich hole dir noch mehr Kissen.« Er holte zwei dicke Kissen aus dem Clubraum und stopfte sie Skip in den Rücken. »Geht es so?« »Das hoffe ich«, brummte Skip, lehnte sich aufsässig in seine Kissen zurück und versuchte, den Eindruck zu erwecken, daß er die Situation unter Kontrolle hatte. Aber da sich alles um ihn herum immer noch drehte, war er damit nicht sehr erfolgreich. 105
»Hier.« Matthew reichte ihm die Suppentasse. »Das wird dir guttun.« Er gab ihm einen Löffel, mußte aber feststellen, daß Skip Schwierigkeiten hatte, ihn zu benutzen. »Du hast auch deinen Arm verletzt«, sagte er. Behutsam bewegte Skip seinen Arm auf und ab und schnitt eine Grimasse. »Ich muß ihn wohl verrenkt haben«, murmelte er. Und dann brach es plötzlich aus ihm heraus: »So ein verdammter Mist! Seit fünfzehn Jahren fahre ich diese verfluchten Küstenstraßen rauf und runter. Ich habe noch nie einen Unfall gehabt – und ein kleiner Streifen Schlamm auf der Straße …« Er wedelte mit dem Löffel und fluchte, als der Schmerz durch seine verletzten Muskeln zuckte. »Iß deine Suppe«, sagte Matthew. »Ich werde dich gleich ins Bett bringen.« Skip starrte ihn wütend an, aber er war zum Protestieren viel zu müde. Also löffelte er schweigend und lammfromm seine Suppe aus. Dieses lammfromme Verhalten machte Matthew mehr als alles andere Sorgen. »Soll ich den Arzt rufen?« fragte er. »Morgen.« Geräuschvoll stellte Skip die leere Tasse auf den Boden. »Aber nur, wenn es notwendig ist.« Er runzelte die Stirn und bemühte sich angestrengt, sich zu konzentrieren. »Und wir sollten besser Bob Harris von der Werkstatt und vielleicht auch Old George von der Polizei anrufen …« »Ist der Jeep von der Straße abgekommen?« »Ja. Er ist fast die Klippen runter.« Matthew erschauerte. »Dann brauchen wir heute nacht niemanden mehr zu informieren.« Er beugte sich herunter und legte seine Arme um Skips Rücken und Schultern. »Komm. Im Bett bist du besser aufgehoben.« Er schaffte es irgendwie, Skip auf die Füße zu bekommen und ihn in sein Schlafzimmer zu bugsieren, wo er ihn aufs Bett hievte und zudeckte. »Ist dir noch kalt?« »Nein.« Aber Skip begann, mit den Zähnen zu klappern. Also holte Matthew seine provisorische Wärmflasche und verstaute sie neben Skips kaltem, zitternden Körper. 106
»Danke«, murmelte Skip, aber er war schon fast eingeschlafen. Matthew stand unentschlossen da und blickte Skips übel zugerichtetes, aschgraues Gesicht an. Das blonde Haar klebte an seinem Kopf, und er sah plötzlich sehr verwundbar aus. Matthew empfand Zuneigung und Mitleid, als er daran dachte, daß Skip von Petra Abschied genommen hatte und nicht wußte, wann er sie wiedersehen würde … Genau wie er von Flite Abschied genommen hatte – und ihn vielleicht nie mehr wiedersehen würde. Skips Herz mußte von der gleichen ungeheuren Traurigkeit zerrissen sein. Und der Schmerz in seiner Seele hatte ihn wahrscheinlich unaufmerksam gemacht, so daß er nicht aufgepaßt und zu langsam reagiert hatte, als er auf diesen Schlammstreifen auf der Straße fuhr … »Mach dir keine Sorgen«, sagte Skip schläfrig, der bemerkt hatte, daß Matthew immer noch neben ihm stand. »Besser … morgen früh.« »Bestimmt«, versicherte Matthew ihm. »Ruf, wenn du mich brauchst. Ich bin nicht weit weg.« »Weit weg«, seufzte Skip und drehte sich mit dem Gesicht zur Wand.
* Am Morgen übernahm Matthew das Kommando. So früh wie möglich rief er die Werkstatt und die Polizei an, und danach telefonierte er mit dem Arzt. Matthew kannte ihn, weil er regelmäßig in den AquaClub kam und die Behandlung von Matthews Beinen überwacht hatte. Der Arzt versicherte ihm mit energischer Stimme, daß er am Vormittag vorbeischauen würde. Matthew sollte Skip in der Zwischenzeit – wenn möglich – ruhig halten. Das war einfach, weil Skip ungestört weiterschlief. Matthew sah ihn noch einmal an und bemerkte besorgt, daß die Blässe immer noch da und die Schwellung größer geworden war. Aber Skips Atmung schien in Ordnung. Daher nahm Matthew an, daß er wahrscheinlich nur erschöpft war. Dann dachte er an den Kapitän und daß er ihm versprochen hatte, zum Hotel zu kommen und ihm mit dem Computer zu helfen. Aber er 107
konnte Skip nicht allein lassen. Nicht jetzt. Nachdem er bei einer Tasse Tee in der Küche darüber nachgedacht hatte, beschloß er, das Hotel anzurufen und eine Nachricht zu hinterlassen – auch wenn das Hotel nur ein paar Meter entfernt war. Nachdem er das erledigt hatte, fühlte er sich besser. Er sah aus dem Fenster über die Dünen und den nassen Sand hinaus zu der kleinen Ansammlung von Häusern über der Kaimauer und fragte sich, ob es dem alten Mann gutginge. Gestern war er ihm sehr krank vorgekommen. Seine Hände sahen so dünn aus, als er sich auf den Stock stützte … Aber das Wort krank erinnerte Matthew an Skip, und so ging er in Skips Zimmer, um noch einmal nach ihm zu sehen. Er schlief immer noch. Von Skips Fenster konnte man direkt auf das Meer sehen, und Matthew stand dort für kurze Zeit und starrte den dunklen Horizont an. War Flite dort draußen? Wahrscheinlich war er jetzt weit weg und schon viele Kilometer durch dieses wilde, aufgewühlte Meer geschwommen. Ihm kam der Gedanke, daß, wenn ihn schon Flites Weggang so heftig bewegt hatte, Skip sich wegen Petra noch viel schlechter fühlen mußte. Er fragte sich, wie Petra darüber dachte, wie sie so einfach weggehen konnte und warum – wenn sie so eng miteinander befreundet waren – sie nicht bemerkt hatte, daß etwas mit Skip nicht in Ordnung war. In diesem Augenblick klingelte das Telefon im Büro. Matthew rannte hin und nahm schnell den Hörer ab, weil er nicht wollte, daß Skip durch das Klingeln geweckt wurde. »Ja?« »Bist du es, Skip?« »Nein, hier ist Matthew.« Er erkannte die Stimme. »Petra? Ich dachte, du wärst abgeflogen?« »Mein Flug hat Verspätung. Ist Skip da?« Matthew zögerte. »Ja, aber er schläft.« »Er schläft?« Sie kannte Skips Gewohnheiten und wußte wie arbeitsreich seine Tage waren. Das paßte überhaupt nicht zu ihm. »Ist er krank?« 108
Matthew hörte die Sorge in ihrer Stimme und freute sich für Skip. Sie machte sich doch etwas aus ihm. »Eigentlich nicht, nein. Aber er hatte gestern abend einen Unfall mit dem Jeep.« »Oh mein Gott. Ist er verletzt?« »Nicht schlimm. Hauptsächlich Prellungen und eine Beule am Kopf. Aber er ist mehr als zwanzig Kilometer zu Fuß gelaufen.« »Kein Wunder, daß er müde ist. War der Arzt da?« »Er kommt heute vormittag. Ich dachte mir, es ist besser, wenn er sich Skip einmal ansieht.« »Gut gemacht, Matthew. Dann möchte ich ihn auch nicht stören. Sag ihm einfach nur, daß ich angerufen habe.« »Nein«, antwortete Matthew, der plötzlich wußte, was er zu tun hatte. »Leg nicht auf. Er wird bestimmt mit dir sprechen wollen.« »Aber …« »Bleib dran«, befahl er und machte sich auf den Weg, Skip zu wecken. Es war nicht einfach, Skip davon zu überzeugen, daß Petra wirklich am Telefon war, und ihn in das kleine Büro zu bringen, wo er auf dem nächsten Stuhl zusammensackte. Er war immer noch sehr wackelig auf den Beinen. »Petra? Was machst du noch in England?« Matthew beobachtete, wie ein Lächeln in Skips Augen trat. Er verließ taktvoll den Raum und ließ ihn allein. Kurz darauf steckte ein lächelnder Skip seinen Kopf aus der Tür. »Du kannst aufhören, dich da draußen herumzudrücken.« »Zurück ins Bett«, befahl Matthew energisch. »Anweisung vom Arzt. Hast du auf irgend etwas Hunger?« »Auf alles«, antwortete Skip entschieden. Matthew lachte. »Es scheint dir besserzugehen.«
* 109
Der Arzt kam und diagnostizierte eine leichte Gehirnerschütterung. Er befahl Skip, noch zwei Tage im Bett zu bleiben. »Und wenn Sie etwas doppelt sehen oder sonst etwas Ungewöhnliches passiert, sollten Sie sich besser röntgen lassen«, fügte er hinzu und sah Skip ernst an. Skip gab ihm recht. Es klang verräterisch unterwürfig. Dann drehte sich Dr. Thorpe zu Matthew um. »Was machen deine Beine?« »Es geht ihnen gut«, antwortete Matthew lächelnd. »Sogar Skip und das Krankengymnastenteam haben mich von der Leine gelassen.« Der Doktor brummte. »Fühlst du dich noch ein bißchen ungelenk?« »Ein bißchen.« »Du mußt wissen, daß das ein böser Bruch des rechten Beines war. Aber du bist jung, und mit Glück wird es noch diese zusätzlichen Zentimeter wachsen. Geh auch weiterhin zum Schwimmen.« Dr. Thorpe war ein rauher, aber herzlicher Mann, so verwittert wie die kornischen Felsen, die er herauf- und herunterstapfte, und wie die harten Seeleute, die er behandelte. Bei Notfällen war er ein hervorragender Arzt, und er hatte wenig Zeit für Melancholie. Aber er kannte Skip und wußte, was für ein unerschütterlicher Mann er war, und inzwischen hatte er auch Matthew kennengelernt und wußte, daß er nicht das war, was man einen ›weinerlichen Jungen‹ nannte. Deshalb zwinkerte er ihnen durch seine Brille zu und versprach wiederzukommen, um zu sehen, ob Skip sich auch an seine Anweisungen hielt. »Also«, sagte Skip, »es sieht so aus, als ob du für ein oder zwei Tage hier der Boß seist. Schaffst du das?« »Aber klar«, grinste Matthew. »Morgen kommt Mrs. Hesketh. Sie wird für uns einkaufen und saubermachen.« Er sah Matthew zweifelnd an. »Ich könnte Mary dazu überreden, einen zusätzlichen Tag zu kommen.« Mary, die Sekretärin des Clubs, kam während der Wintermonate nur einmal die Woche, um den Papierkram zu erledigen. Sie war ein wirklich nettes Mädchen, dachte Matthew, auch wenn sie mit dem Computer Schwierigkeiten hatte – aber er konnte sich nicht vorstellen, wie sie im Augenblick helfen könnte. 110
»Sei nicht dumm«, sagte er. Während der meisten Zeit seines kurzen Lebens war er gut ohne die Hilfe anderer klargekommen. Sicher konnte er sich für ein paar Tage um Skip kümmern. »Ich habe mir etwas überlegt«, fügte er hinzu und sah Skip zaghaft an, »erinnerst du dich, daß du gesagt hast, ich könnte beim Renovieren helfen? Ich könnte anfangen, den Clubraum zu streichen, wenn du mir vom Sofa aus Anweisungen gibst.« Skip blickte ihn erstaunt an. »Ich meine nur«, fuhr Matthew zaghaft fort, »dann würdest du dich nicht so nutzlos fühlen.« »Du würdest dich nicht so nutzlos fühlen, meinst du«, sagte Skip. Dann lachte er. »Einverstanden. Wahrscheinlich komme ich dann nicht auf dumme Gedanken.« »Genau das habe ich gemeint«, sagte Matthew und blickte völlig unschuldig.
* Während der nächsten Tage hatte er keine Zeit, schwimmen zu gehen oder an Flite zu denken – und irgendwie war Matthew froh darüber. Schon als kleiner Junge hatte er bis zur vollkommenen Erschöpfung gearbeitet, wenn er unglücklich war und einfach abschalten wollte. Je mehr seine Mutter ihn vernachlässigte, desto tiefer vergrub er sich in seinen Büchern oder arbeitete am Computer. Später, als seine Hände groß genug waren, widmete er sich intensiv seiner Gitarre. Wenn all das den uneingestandenen Schmerz des Alleinseins nicht zum Verstummen brachte, machte er die Wohnung sauber. Das tat sonst niemand, und daher war sie auch immer schmutzig. Er genoß es, Ordnung zu schaffen. Das Schrubben half ihm, seine Sorgen loszuwerden – welcher Art auch immer. Jetzt befand er sich in einer ähnlichen Situation. Je mehr er Flite vermißte, desto stärker schrubbte er Wände und Decken, trug Farbe auf, kochte für Skip, machte sauber und lief dann zum Hotel hinüber, um sich mit dem Computer des Kapitäns zu beschäftigen. Die letztgenannte Aufgabe fand er immer faszinierender, und sei111
ne Hochachtung für den Kapitän und dessen gewaltiges Reich wuchs. Er fand heraus, daß er sich nicht nur mit Schiffen beschäftigen mußte, sondern auch mit Ölgesellschaften, landwirtschaftlichen Genossenschaften, Bergbaubetrieben, Holzhandlungen, Traktorenherstellern usw. Es waren fast alle Branchen vertreten. Auch Aktienkurse spielten eine wichtige Rolle. Einmal fragte er den Kapitän schüchtern, ob sein Schifffahrtsreich in den letzten Jahren etwas kleiner geworden sei – wie bei so vielen anderen Reedereien, die durch Flugreisen und Luftfracht Verluste hinnehmen mußten. Aber der Kapitän lachte nur und sagte: »Eigentlich nicht, Matthew. Ich bin ein alter Fuchs und wußte, welche Linien ich abstoßen mußte. Die großen Passagierschiffe rentieren sich nicht mehr – ihre Zeit ist vorüber, so leid es mir tut. Aber die Nachfrage nach kleineren Ausflugsbooten steigt und steigt.« Matthew nickte. »Und dann ist da noch das Frachtgeschäft. Die Containerschiffe für Massenguttransporte sind unschlagbar. Da können sogar die größten Flugzeuge nicht mithalten. Das gleiche gilt für Tanker.« Er warf Matthew einen kurzen Blick zu und beobachtete, wie der aufnahmebereite junge Geist die Einzelheiten seines komplizierten Unternehmens aufnahm. »Das Geheimnis des geschäftlichen Erfolges, Matthew«, meinte er, und seine schlauen alten Augen leuchteten schelmisch, »ist die Anpassungsfähigkeit. Man muß der Konkurrenz immer einen Schritt voraus sein!« Matthew lachte. »Und immer auf Draht sein.« Der alte Mann mußte in früheren Jahren ganz schön schwungvoll gewesen sein, dachte Matthew. Und er war es in gewisser Hinsicht immer noch. »Oh ja.« Sein Lächeln wurde breiter. »Ein lebhafter Tanz – wenn man mit dem Tempo Schritt halten kann.« So lernte Matthew in kurzer Zeit sehr viel darüber, wie ein großes Schiffahrtsunternehmen arbeitete, und es erstaunte ihn immer wieder, wie viele Informationen der Kapitän im Kopf behielt, ohne seinen Computer befragen zu müssen. 112
Er hatte auch den unbestimmten Verdacht, daß der Kapitän seine Hilfe eigentlich gar nicht benötigte und daß er selbst ohne Schwierigkeiten in der Lage gewesen wäre, die Daten in den Computer einzugeben. Aber er schien sich über Matthews Gesellschaft zu freuen, und es machte ihm offensichtlich Spaß, Matthew die Dinge, die er nicht verstand, zu erklären. Aber er ermüdete auch sehr schnell, und Matthew lernte, auf die Zeichen der Müdigkeit zu achten und fröhlich zu sagen: »Ich glaube, wir sollten jetzt lieber aufhören. Ich habe schon einen Knick in der Linse.« Normalerweise kapitulierte der Kapitän dann bereitwillig, obwohl er nicht im entferntesten daran dachte zuzugeben, daß er müde war. Manchmal wunderte sich Matthew, warum ein so reicher und mächtiger Mann so allein war. Hatte er keine Familie? Keine Freunde? Warum kam er hierher, wohnte in diesem billigen kleinen Hotel, saß allein auf einer Bank in der Sonne und hatte keinen anderen Gesprächspartner als einen Jungen mit verletzten Beinen? Er stellte sich im Geiste oft diese Fragen, aber er sprach sie nicht laut aus. Er wußte, daß der Kapitän sich über die Geschäfte, über Matthews Probleme, über Flite oder fast über jedes andere Gesprächsthema unterhalten, aber niemals über sich selbst sprechen würde. Er respektierte es und hielt sich an die Regeln. Aber er machte sich trotzdem seine Gedanken. Eines Abends sprach er darüber mit Skip, als er gerade die Decke der Bar zum zweiten Mal strich. »Skip?« »Mmm?« Skip war inzwischen der Meinung, daß er völlig wiederhergestellt sei, und schliff gerade die Theke ab. »Ich möchte gerne etwas über den Kapitän wissen.« »Was denn?« »Na ja, warum ist er ganz allein hier? Hat er keine Familie oder sonst jemanden, der sich um ihn kümmert?« Skips Gesicht schien plötzlich seltsam verschlossen, und er unterbrach seine Arbeit keine Minute. »Anscheinend nicht.« Matthew hatte das plötzliche Verlangen, den Topf mit der Farbe auf 113
Skips Kopf fallenzulassen. »Mal im Ernst, Skip, du weißt doch etwas. Warum bist du so verschlossen?« »Tut mir leid.« Er hörte auf, die Oberfläche abzuschmirgeln und grinste Matthew entschuldigend an. »Was kann ich dir erzählen … Er kommt schon sei vielen Jahren jeden Sommer hierher. Länger, als ich denken kann. Er hat nie jemanden mitgebracht, aber einige der älteren Dorfbewohner sagen, daß er vor langer Zeit mit seiner Frau herkam. Da sie nicht mehr mitkommt, nehme ich an, daß sie gestorben ist. Er hat nie darüber gesprochen.« »Hat er keine Kinder?« Eine kurze Pause entstand, dann sagte Skip schroff: »Ich habe dir doch gesagt, er spricht nie darüber.« Er warf einen kurzen Blick auf Matthews wütendes Gesicht und gab nach. »Ich glaube – so erzählen jedenfalls die Dorfbewohner –, daß er eine Tochter hatte. Aber sie ist fortgegangen.« Er begann, wieder die Theke zu schmirgeln. »Und dann ist da noch Conrad.« »Wer ist Conrad?« »Das ist eine gute Frage. Wir wissen nicht, ob er ein Neffe oder nur einer der Manager aus dem Unternehmen des Kapitäns ist. Manchmal kommt er her, streitet mit dem alten Mann, und alle im Hotel werden sehr nervös.« »Warum?« »Weil der alte Mann krank ist. Ein Streit könnte ihn töten. Und Conrad provoziert ihn.« »Weshalb tut er so etwas?« Skip schüttelte den Kopf. »Woher soll ich das wissen? Alles was ich weiß ist, daß er hierherkommt, es dann einen furchtbaren Krach gibt, er wieder wegfährt und der Kapitän danach tagelang krank ist. Wir alle fürchten sein Kommen.« »Kann man ihn nicht davon abbringen?« Skips zog die Augenbrauen in die Höhe. »Befehle geben? Sich in die privaten Angelegenheiten des Kapitäns einmischen? Du machst wohl Witze?« »Nein, ich meine, der Doktor könnte …« 114
»Er hat es versucht. Glaub mir. Das letzte Mal hat es den alten Mann fast umgebracht. Thorpe sagte ihm, daß er es Conrad verbieten würde, den Kapitän noch einmal zu besuchen. Der alte Mann lachte nur und sagte: ›Versuchen Sie, ihn davon abzuhalten!‹« Matthew fluchte leise, und ein Tropfen weißer Farbe fiel auf Skips saubere Theke. Skip sah den Farbklecks und fluchte ebenfalls. »Ich weiß nicht, was mit euch allen los ist«, murrte Matthew. »Der alte Kapitän ist verflucht einsam, und keiner kümmert sich darum. Das einzige, was getan wird, ist, irgendeinem Idioten zu erlauben, herzukommen und den alten Mann so lange anzubrüllen, bis er krank wird. Und du …« Er unterbrach sich, weil er nicht wußte, ob er es wagen konnte weiterzusprechen. »Was ist mit mir?« »Du bist hier und mischst dich auch nicht ein. Es ist so verdammt dumm.« »Ja«, stimmte Skip zu. »Ich meine … es ist so eine verfluchte Verschwendung.« Matthew klang hitzig. »Ja. Das ist es.« Skips Stimme wirkte auf einmal angespannt. Matthew blickte ihn überrascht an, kletterte dann die Leiter hinunter und legte Farbeimer und Pinsel aus der Hand. »Es tut mir leid, Skip. Ich hätte nichts sagen sollen, das weiß ich. Es ist nur … Ich bin allein, das ist mein Pech, und ich kann nichts daran ändern. Aber du bist es nicht und du kannst es!« Skip zwinkerte. »Kann ich?« »Na ja, du könntest ihr nachreisen.« Er seufzte. »So einfach ist das nicht.« »Wirklich nicht?.« Skip legte seinen Schmirgelklotz weg und sah Matthew an. Seine Augen verdunkelten sich. »Petra hat ein Problem, das ich für sie nicht lösen kann. Sie hat …« Er zögerte kurz und fuhr dann fort: »Sie weiß nicht, wem gegenüber sie sich loyal verhalten soll.« Wieder zögerte er, so als ob er versuchen wollte, etwas Unerklärliches zu erklären. »Sie glaubt sich im Recht. Ich glaube, daß sie sich irrt.« 115
Matthew nickte. »Und?« Seine Augen weiteten sich. »Und? Sie muß ihre Probleme selbst lösen.« »Warum?« Skip wußte nicht, worauf Matthew hinauswollte. »Was meinst du damit?« »Ich meine, warum könnt ihr nicht zusammen eine Lösung finden?« Ein bestürztes Schweigen folgte. »Ich … Petra ist sehr selbständig. Ich kann mich da nicht einmischen.« Matthew hätte ihn am liebsten geschüttelt. »Wahrscheinlich brennt sie darauf, daß du dich endlich einmischst. Ist es nicht so, daß Frauen den Machotyp mögen? Diesen Mann-der-Tat-Typ?« Skip lachte. »… Herz im Sturm erobern, und so weiter?« Skips Gelächter wurde lauter. »Ich wußte gar nicht, daß du so romantisch veranlagt bist.« Matthew überhörte Skips Worte und lächelte schüchtern. »Ich habe keine Ahnung von Frauen.« Ich habe nur dieses Flittchen gekannt, dachte er düster. Bei der war nichts romantisch. »Aber trotzdem …«, er warf Skip einen kurzen Blick zu. »Es wäre feige, es nicht zu versuchen.« Immer noch lachend versuchte Skip, nach ihm zu schlagen. »So, ich bin also ein Feigling?« Matthew sprang zur Seite. »Nicht immer«, gab er grinsend zu. »Du aber auch nicht«, sagte Skip anerkennend, dem klar wurde, daß Matthew ihm zuliebe eben eine ganze Menge gewagt hatte. »Bei Notfällen bist du wohl ganz gut, oder?« »Nur deshalb, weil ich dann das Gefühl habe, gebraucht zu werden.« Skip starrte ihn gebannt an. Plötzlich wurde ihm klar, wie man sich fühlen mußte, wenn man allein auf der Welt war, und warum Matthew seine und Petras Unentschlossenheit überhaupt nicht verstand. »Soll ich uns Kaffee kochen?« fragte Matthew. Er sah Skips erschöpftes Gesicht und schämte sich ein bißchen. »Für heute haben wir genug getan.« 116
»Mehr als genug«, brummte Skip ernst und legte freundschaftlich seinen Arm um Matthews farbbekleckerte Schultern. »Komm, wir setzen uns in die Sonne.«
* Als Matthew sich von seinem üblichen Platz bei den Felsen ins Meer gleiten ließ, sah das Wasser winterlich dunkel aus und war trotz des Sonnenscheins kalt. Eigentlich wollte er gar nicht schwimmen gehen, weil er wußte, daß Flite nicht dasein würde, aber er mußte sich der Einsamkeit stellen. Er mußte das machen, was Flite ihn gelehrt hatte – sich am Augenblick zu freuen, die See um ihrer selbst willen zu lieben und sich nicht nach einem blauschwarzen Schatten zu sehnen, der nicht kommen würde. Aber es war sinnlos. Ohne den Delphin konnte er sich nicht freuen. Unwillkürlich suchten seine Augen in den grünen, dunklen Tiefen immer wieder einen langen, dünnen Schatten, der zwischen den Felsen und dem Tang unter der Oberfläche der ruhigen Bucht entlangglitt. Die Bucht war verlassen. Sogar die Seehunde schienen nicht mehr da zu sein. Ihre Köpfe tanzten nicht mehr in der Dünung auf und nieder, und sie befanden sich auch nicht mehr auf ihrer kleinen, felsigen Insel. Oh Flite, sagte er. Ich vermisse dich so. Es ist furchtbar, daß ich mich ohne dich so verlassen fühle, aber ich kann es nicht ändern. Bist du in Sicherheit? Er bekam keine Antwort. Es konnte auch gar keine Antwort geben. Das Meer lag verlassen und kalt da. Aber irgendwie schien er überzeugt davon, daß sein geliebter Delphin in Sicherheit war. Zuerst verstand er es nicht, aber das Gefühl in ihm wurde stärker – ein Strom von unerwarteter Wärme und Sicherheit. Getröstet drehte Matthew sich um und schwamm zum Ufer.
* 117
In der kurzen Zeit, die Skip brauchte, um wieder gesund zu werden, entdeckte Matthew, daß das Dorf Porthgwillick ein Eigenleben hatte. Als die letzten Touristen in ihren Autos, Wohnwagen und Bussen die Heimreise angetreten hatten, wuchs die kleine Gemeinschaft zusammen und kümmerte sich um die Arbeiten, die während der Saison vernachlässigt worden waren. Matthew war so mit seinen eigenen Sorgen und dem Zauber des Delphins beschäftigt gewesen, daß er der Welt um ihn herum nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Er schämte sich, daß er die Dorfbewohner kaum beachtet hatte. Das wollte er jetzt nachholen. Sie waren alle freundlich zu ihm und erkundigten sich nach Skip. Die beiden alten Fischer, die sich vor dem Gewerkschaftsgebäude der Seeleute sonnten, lächelten ihn an und gaben ihm einen Topf mit Gänseschmalzsalbe, die er auf Skips Prellungen schmieren sollte. »Wirkt Wunder«, sagte der eine und richtete seine Seemannsaugen auf Matthew. »Wir alle benutzen sie nach einer rauhen Nacht auf See.« »Mmm«, stimmte der andere zu. »Nimmt den Schmerz.« Sein Blick war erfüllt von alten Erinnerungen. »Sag ihm das, Junge.« »Das werde ich«, antwortete Matthew und unterdrückte insgeheim ein Grinsen, als er daran dachte, wie Skip wohl reagieren würde. In dem kleinen Dorfladen schenkte ihm Mrs. Merrifield eine Packung von Skips extrastarkem Lieblingspfefferminz und Weintrauben, die ›gerade aus Penzance gekommen‹ waren. Sie fragte ernst, ob Skip sich auch an die Anweisungen halten und früh zu Bett gehen oder ob er sich wie üblich herumtreiben würde. Wieder auf der Straße hielten ihn zwei junge Fischer an, die von der nächsten Bucht kamen und gaben ihm ein paar frische Makrelen. Sie baten ihn, Skip zu sagen, daß er sich keine Sorgen um die Bootsreparaturen machen sollte, sie würden so lange warten, bis er wieder gesund wäre. Als Matthew sie verwundert ansah, fügte einer der beiden lächelnd hinzu: »Skip ist ein guter Bootsbauer. Wie sein Vater. Im Winter hilft er immer aus. Wußtest du das nicht?« 118
Matthew schüttelte den Kopf und fügte dem Puzzle von Skip und seinen vielen Fähigkeiten noch ein weiteres Teilchen hinzu. »Er kann echt sauer werden, wenn wir nicht das machen, was er sagt«, meinte der andere grinsend. »Skip mag es, wenn er der Boß ist.« Dem konnte Matthew nur zustimmen und erwiderte glücklich das Grinsen der beiden. Dann machte er sich auf den Rückweg zu Skip. Aber als er in Richtung Clubhaus ging, wurde er von einem Jungen auf einem Motorrad überholt, der ihm über dem Lärm seiner Maschine zurief: »Sag Skip, daß wir den Life-Musik-Abend um ein paar Wochen verschoben haben.« Er schenkte Matthew ein kurzes, strahlendes Lächeln und fügte hinzu: »Er ist doch in Ordnung, oder?« »Er ist schon fast wieder gesund«, antwortete Matthew und jonglierte dabei angestrengt mit den Makrelen und den Weintrauben. Der Junge nickte ihm beifällig zu und raste in einer Wolke von Auspuffgasen davon. Der Lärm seiner Maschine war auf der ruhigen Dorfstraße ohrenbetäubend. Er hatte fast die Dünen unterhalb der Veranda erreicht, als drei kleine Mädchen auf ihn zugelaufen kamen. Eines von ihnen trug eine in ein Tuch gewickelte Schüssel. Die beiden anderen schlenkerten mit ihren Schulranzen. Alle drei waren dunkelhaarig, hatten blaue Augen, und ihre Haut war von der Sonne gebräunt. »Mama schickt Skip eine Torte«, sagte das Kind mit der Schüssel. »Und wir sollen ihm noch ausrichten, daß wir vor nächster Woche nicht kommen«, fügte das zweite Kind hinzu und lächelte dabei wie ein Engel. »Wohin kommen?« fragte Matthew verwirrt. »Zum Schwimmen«, sagten alle im Chor. »Skip gibt im Winter Schwimmunterricht«, erklärte ihm das dritte Kind freundlich. »Im Schwimmbad. Wir können unsere Abzeichen machen. Geht es ihm besser?« »Er ist fast wieder gesund«, wiederholte Matthew und versuchte, die Torte und die anderen Sachen zu balancieren. Er fragte sich, ob es Skip etwas ausmachen würde, wenn die kleinen, glotzenden Fischköpfe in der Torte stecken würden. 119
»Tschüs«, riefen die Mädchen im Chor. Bewundernd lächelten sie Matthew an. »Wir sind froh, daß du dich um ihn kümmerst.« Dann machten sie sich in einem Wirbel von Sand und mit halb unterdrücktem Gekicher davon. »Puh«, sagte Matthew und stieg die Stufen zu Skip empor, der auf einem Stuhl auf der Veranda saß und über Matthews Gesicht lachte. »Wenn ich gewußt hätte, daß du so berühmt bist, hätte ich einen Lastwagen genommen.« »Was gibt's denn zu essen?« fragte Skip immer noch lachend. »Eine Torte und extrastarkes Pfefferminz«, antwortete Matthew. »Ach ja, und zwei Makrelen und Weintrauben.« »Ist das alles?« »Nun, du könntest erst einmal hiermit anfangen.« »Was ist das?« »Gänseschmalz. Für die Prellungen. Heilung garantiert.« »Igitt!«
* Als Matthew ins Hotel kam, herrschte dort Chaos. Das Zimmermädchen Emma lief eilig mit einem Tablett voller Teegeschirr die Treppe hinauf, und der Barkeeper und Portier John versuchte, jemanden einen Whisky einzuschenken und gleichzeitig ans Telefon zu gehen. Milly, die Besitzerin des Hotels, rang verzweifelt die Hände und sagte: »Du meine Güte. Das bringt ihn bestimmt um. Ich hätte ihn niemals nach oben gehen lassen dürfen.« Und von oben konnte Matthew laute Stimmen und das Geräusch eines heftig auf den Boden hämmernden Stockes hören. »Was ist los?« fragte er. »Was ist passiert? Ist etwas mit dem Kapitän nicht in Ordnung?« »Es ist dieser Conrad«, erklärte Milly immer noch händeringend. »Er ist so fürchterlich hartnäckig. Ich habe ihm gesagt, daß es dem Kapitän heute nicht besonders gutgeht. Aber er wollte nach oben gehen. Und jetzt hör sie dir an!« 120
Matthew lauschte. Was er hörte, gefiel ihm nicht. »Ich dachte, der Arzt habe verboten, daß er noch einmal kommt.« »Das hat er. Er nimmt kein Blatt vor den Mund, unser Dr. Thorpe. Aber es hat nichts genutzt.« Sie sah Matthew verzweifelt an. »Dieser Conrad ließ sich einfach nicht abweisen. Und ich weiß nicht, was ich machen soll.« »Aber ich weiß es«, entgegnete Matthew. Er fühlte sich plötzlich sehr stark, tapfer und voller Zorn. »Geben Sie mir den Drink«, sagte er. Er stürmte die Treppe hinauf und blieb vor dem Zimmer des Kapitäns stehen. Er war über seine eigene Wut und die Schärfe in den lauten Stimmen hinter der Tür bestürzt. »Ich wäre dir dankbar, wenn du dich um deine eigenen Angelegenheiten kümmern würdest«, sagte der Kapitän mit schneidender, kalter Stimme. »Ich bin absolut in der Lage, meine Geschäfte selbst zu führen, und wenn ich einen Rat von dir benötige, werde ich dich darum bitten.« »Das genau ist das Problem«, antwortete eine andere Stimme, die lauter und nicht so kontrolliert klang wie die des Kapitäns. »Du fragst nie, und du bittest mich auch nie um Rat.« »Warum zur Hölle sollte ich? Es ist meine Firma, und ich bin noch nicht so senil, daß ich sie nicht mehr leiten kann.« »Ich fange an, das zu bezweifeln«, fuhr Conrad ihn an. »Seitdem das Angebot zur Fusion vorliegt, hast du nichts weiter getan, als es abzublocken.« »Weil ich es nicht will«, bellte der Kapitän. »So wie die Dinge bei uns im Augenblick stehen, ist es ideal. Wir sind zahlungsfähig und arbeiten mit Gewinn. Ich traue dieser anderen Firma nicht über den Weg.« »Nur weil du altmodisch und borniert bist«, stieß Conrad wütend hervor, »muß es nicht die gesamte Firma sein.« Das Schnarren in seiner Stimme schien sich von Minute zu Minute zu verstärken. »Es handelt sich um eine angesehene Firmengruppe, und sie bieten gute Bedingungen.« »Sie sind keine angesehene Firmengruppe«, konterte der Kapitän. »Ich habe Informationen über sie eingeholt. Sie sind hochgradig su121
spekt, und ihre Finanzen sind alles andere als geordnet. Ich werde es nicht zulassen, Conrad, und das ist mein letztes Wort.« »Also gut«, sagte Conrad, und das Schnarren klang jetzt eklig, »wenn du nicht willst, daß die Firma sich vergrößert …« »Ich möchte nichts dergleichen. Ich möchte die Firma davor bewahren, in ein zwielichtiges Geschäft verwickelt zu werden, das uns auf lange Sicht gesehen keinen Nutzen bringt und nur unseren guten Ruf als Firma mit felsenfester Stabilität und Rechtschaffenheit ruinieren wird. Das ist vielleicht etwas, was du nicht begreifen kannst.« Matthew hörte, wie Conrad entrüstet tief Luft holte, und er dachte sich, daß es besser wäre hineinzugehen, bevor er noch handgreiflich wurde. Er öffnete die Tür, ging ins Zimmer und auf den Kapitän zu. »Kapitän, ich habe Ihnen Ihren Drink gebracht. Und es ist Zeit, das Programm zu starten. Sind Sie bereit?« Der Kapitän sah Matthew überrascht an. Dann blitzten seine Augen plötzlich auf. »Bin ich, Matthew. Sind wir spät dran?« »Ziemlich«, sagte Matthew und gab dem Kapitän seinen Ebenholzstock. »Die Zentrale wartet bestimmt schon auf Ihren Anruf.« Er stand schützend neben ihm, hielt immer noch den Whisky-Soda in der Hand und wartete darauf, daß der alte Mann aufstand. Conrad sah beide mit offenem Mund an, aber bevor er noch etwas sagen konnte, war der Kapitän schon in seinem kleinen Büro verschwunden und hatte es Matthew überlassen, den unwillkommenen Besucher loszuwerden. »Sie haben noch einen weiten Weg vor sich.« Matthew ging zur Tür und öffnete sie. Die Geste war eindeutig. »Ich bin sicher, daß man Ihnen unten ein Taxi rufen wird.« Er hatte Conrad bis jetzt noch nicht näher betrachtet, weil er zu wütend gewesen war. Nun sah er einen großen, plumpen Mann mit schütteren braunen Haaren, einem dünnen, verdrießlichen Mund und ziemlich kleinen, unsteten Augen. »Hier entlang«, sagte Matthew. Wie hypnotisiert durch Matthews außerordentliche Höflichkeit ging Conrad in Richtung Treppe. Aber im letzten Augenblick rief er über die Schulter: »Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen.« 122
»Das kann ich mir denken«, sagte der alte Mann aus dem anderen Raum. »Auf Wiedersehen, Conrad.« Damit war er endgültig entlassen. Dem unglücklichen Conrad blieb nichts anderes übrig, als zu gehen. Er murmelte undeutlich etwas von einem ›halsstarrigen alten Mann‹ und bedachte Matthew im Vorbeigehen mit einem wütenden Blick. Aber er wußte, daß er geschlagen war, und versuchte nicht, weiter zu streiten. Erleichtert seufzte Matthew und ging eilig in den kleinen Ankleideraum. Der alte Kapitän saß auf seinem Stuhl, nippte an dem Whisky, den Matthew ihm gebracht hatte, und wirkte sehr müde. »Geht es Ihnen gut?« fragte Matthew, der über das bleiche, angespannte Gesicht des Kapitäns besorgt war. »Es geht mir gleich besser«, brummte der Kapitän. »Ich danke dir.« Sie sahen sich an und lachten. Dann begann Matthew, am Computer zu arbeiten. Schweigend gab er die Daten ein, denn es war offensichtlich, daß der Kapitän eine Weile in Ruhe gelassen werden wollte. Matthew vermied es, über Conrad zu sprechen. Schließlich war es der Kapitän, der das Thema anschnitt. »Ehrgeizig ist er, hast du das gemerkt? Das macht ihn aggressiv.« »Das gibt ihm nicht das Recht, Sie anzuschreien.« »Das stimmt.« Er grinste schelmisch. »Er denkt, daß er mir einen Gefallen tut.« Matthew schnaubte. »Denkt er das?« Dann sah er den alten Kapitän neugierig an. »Gehört er – zu Ihrer Familie?« Grimmig dachte er, daß dies vielleicht der Grund für die Grobheit sein könnte. »So ähnlich. Ein entfernter Verwandter.« Der Kapitän verriet nicht mehr. »Aber er ist auch einer meiner Geschäftsführer. Denkt, er weiß alles, dieser Dummkopf. Ich habe diese Firma schon geführt, als er noch in den Windeln lag.« Matthew lachte. »Könnte er Ihnen schaden?« »Nein.« Die Stimme des alten Mannes war ganz ruhig. »Ich ziehe alle Fäden – auch die finanziellen. Das einzige, was er tun kann, ist von Zeit zu Zeit zu explodieren. Das legt sich bald wieder.« 123
»Kennt die Zentrale diesen – äh – Fusionsvorschlag?« »Aber ja. Und sie kennen auch meine Meinung darüber.« Matthew nickte. »Sind sie auch Ihrer Meinung?« Das Grinsen des Kapitäns wurde breiter. »Ja. Sie waren diejenigen, die die Nachforschungen angestellt haben.« »Oh gut, dann ist ja alles in Ordnung.« Matthew sah das bleiche, angespannte Gesicht immer noch prüfend an. »Soll ich seinen Besuch eingeben?« »Warum nicht?« antwortete der Kapitän schulterzuckend. »Berufsrisiko. Ehrgeizige Untergebene, die nur ihren eigenen Vorteil sehen. Trage seinen Besuch ein.« Matthew gehorchte. Er hatte immer noch ein wachsames Auge auf die offensichtliche Blässe des Kapitäns. »Du bist ein Geschenk Gottes«, sagte der Kapitän plötzlich. »Weißt du das?« Matthew drehte sich um und lächelte. »Ich habe ihn nur hinausbegleitet.« Der Kapitän begann wieder zu lachen. »Du hättest sein Gesicht sehen sollen.« »Das habe ich!« Plötzlich kicherten beide wie ungezogene Schuljungen, und Matthew sah erleichtert, wie die Spannung aus dem Gesicht des alten Mannes wich. Er wirkte entspannt und fröhlich. Als Matthew die Börsenschlußkurse prüfte, klingelte das Telefon. »Ich würde gerne mit Matthew Ferguson sprechen, wenn möglich.« »Äh, ja, ich meine, am Apparat …« Verstört blickte Matthew den Kapitän an. »Jemand will mit mir sprechen.« Es klang absolut ungläubig. »Also dann, sprich mit ihm«, brummte der Kapitän. »Ich habe versucht, dich im Aqua-Club zu erreichen«, fuhr die angenehme Stimme fort. »Man sagte mir, daß du wahrscheinlich hier sein würdest.« »Oh.« Matthew schluckte. »Wer – wer spricht?« »Dein Anwalt John Harvey. Ich habe Neuigkeiten für dich.« »Ja?« 124
»Wir haben eine Verwandte von dir gefunden – in Amerika.« Matthew schwieg. Er schwieg so lange, daß John Harvey rief: »Matthew? Bist du noch dran?« »Ja, ich bin noch dran.« Nach einem kurzen Schweigen fragte er erstickt: »Was – was für eine Verwandte?« »Eine Verwandte deines Vaters.« »Meines Vaters?« Seine Stimme klang noch dünner. »Ich wußte nicht, daß er überhaupt welche hatte. Ich meine, ich weiß gar nichts über seine Familie.« »Das ist mir bekannt. Aber ich versichere dir, sie existiert.« »Wie heißt sie?« »Mrs. Madeleine Grant. Sie war mit dem Bruder deines Vaters verheiratet, sie ist also so eine Art Tante.« »War verheiratet?« »Ich glaube, er starb vor einigen Jahren. Sie ist jetzt mit einem Amerikaner verheiratet und lebt in San Diego.« »San Diego?« Seine Stimme klang immer noch sehr leise und geschockt. »Das ist aber sehr weit weg.« »Das stimmt. Aber sie möchte, daß du hinfährst und sie besuchst. Sie hat die Absicht, dir ein dauerhaftes Zuhause zu geben. Sie ist sogar bereit, für die Reisekosten aufzukommen.« Tausend Fragen schossen durch Matthews Kopf. »Ich – sind Sie sicher, daß das alles stimmt. Das ist doch kein Scherz, oder?« »Das ist kein Scherz.« John Harvey sprach fest und beruhigend. »Vielleicht kommst du besser nach London, suchst mich auf, und wir sprechen darüber.« »Ja.« Es klang merkwürdig widerstrebend. »Aber noch nicht.« Er blickte den Kapitän flehend an, aber der befand sich taktvollerweise außer Hörweite. »Ich kann hier noch nicht weg«, erklärte Matthew lahm. »Ich muß hier noch etwas zu Ende bringen.« Und dann ist da noch Skip, dachte er. Ich kann Skip noch nicht allein lassen. Er wird Trübsal blasen. Und zu hart arbeiten. »Ich – ich … Eigentlich wollte ich Weihnachten nach London kommen. Um Madge Farley und die Kinder zu besuchen. Könnte ich Sie dann aufsuchen?« 125
»Aber sicher.« John Harvey klang leicht überrascht. »Bist du sicher, daß du nicht sofort kommen willst?« »Nein, ich meine, ja, ich bin mir sicher. Hier gibt es Dinge, die ich zuerst erledigen muß. Vielleicht möchten Sie mit Kapitän St. George sprechen? Er wird es Ihnen erklären.« »Sehr gut.« Harvey war ganz gelassen. Schließlich war er ein Freund von Verney St. George. Es war der alte Mann selbst gewesen, der Harvey gebeten hatte, Matthew zu vertreten. »John?« brummte der Kapitän. »Gut, von dir zu hören. Worum geht es?« Matthew, der sich daran erinnerte, daß der alte Mann so höflich gewesen war und nicht gelauscht hatte, ging ins Schlafzimmer, um dem Kapitän seinen Spezialkaffee mit Schuß zu machen. Er dachte, daß sie ihn wahrscheinlich beide nötig haben würden. »Matthew?« rief die scharfe Stimme des alten Mannes nach ein paar Minuten. Matthew ging zu ihm und versuchte, zwei Tassen Kaffee zu balancieren. »Von mir aus kannst du jetzt nach London fahren. Ich komme schon zurecht.« »Nein.« Matthew schüttelte entschieden den Kopf. »Ich werde gehen, wenn Sie in Richtung Sonne fahren.« Sie grinsten sich an. Der alte Mann drehte sich wieder zum Telefon um. »John? Er sagt nein. Aber ich sorge dafür, daß er sich vor Weihnachten bei dir meldet.« Die Antwort klang wie ein Murmeln, und die dünne Hand legte den Hörer auf. Matthew sah, daß sie ganz leicht zitterte. »Hier bitte«, sagte er. »Ich habe einen ordentlichen Schuß hineingegeben. Ich dachte, wir könnten es gebrauchen.« Der Kapitän lachte, aber in seinen Augen standen Tränen.
* 126
Matthew erzählte Skip nichts über seine Verwandte in Amerika. Er sprach auch mit dem Kapitän nicht darüber. Er wollte nicht darüber reden – noch nicht einmal darüber nachdenken. Eine Verwandte? Jemand, den er noch nie getroffen hatte … die in all den Jahren nie mit ihm in Kontakt getreten war? Und warum wollte sie das jetzt? Aus Pflichtgefühl? Von den Rechtsanwälten dazu veranlaßt? Er hatte kein Geld, also mußte es wohl Pflichtgefühl sein. Und er wollte nicht die ›Pflicht‹ eines Menschen sein. Er wollte allein bleiben – allein und unabhängig, weder Bindungen noch Verpflichtungen eingehen. Er war es leid, hin- und hergestoßen zu werden und sich wegen seiner Mutter schuldig zu fühlen, die ihn nie wirklich gewollt hatte. Er war es leid, sich von dem tyrannischen Band der ›Familienverpflichtung‹ fesseln zu lassen, und er war es auch leid, von der Freundlichkeit anderer Menschen abhängig zu sein – egal wie gutgemeint sie war. Er wollte nicht, daß die Leute mit ihm und seinem Alleinsein Mitleid hatten. Doch eines Tages würde er jemanden finden, der ihn nur um seiner selbst willen liebte und nicht, weil er es mußte. Jemand wie Flite, der fröhlich mit ihm zusammen war und dafür nur einen Grund hatte: die Freude, die er in seiner Gesellschaft empfand. Er vermißte Flite sehr, und es gab nichts in dieser gleichgültigen, grauen Welt – mit Ausnahme des Meeres –, was so wirklich oder so warm erschien wie diese liebevolle Freundschaft, die er in der blaugrünen Freiheit des weiten Atlantiks kennengelernt hatte. Es war für ihn ein furchtbarer Schock, als Skip eines Morgens beim Frühstück sagte: »Man hat fünfzehn tote, gestrandete Delphine gefunden.« »Fünfzehn? Wo?« »In Frankreich – an der bretonischen Küste.« Matthew fühlte, wie ihm vor Angst ganz schlecht wurde. Die Bretagne war nicht weit weg von Cornwall … Und fünfzehn? Das war wahrscheinlich eine ganze Gruppe. »Woran sind sie gestorben?« Skip zuckte mit den Schultern. »Es ist noch zu früh, um etwas Näheres zu sagen.« »War es der Virus, der auch die Seehunde getötet hat?« 127
»Vielleicht.« Matthew war schon aufgesprungen. Er sah aus, als ob er sofort in die Bretagne aufbrechen wollte. »Warte«, sagte Skip und legte eine Hand auf seinen Arm. »Sei doch vernünftig.« »Aber ich muß es wissen.« Er klang ziemlich verstört. »Ich gebe mein Bestes«, sagte Skip zu ihm. »Wenn du nur zuhören würdest.« Matthew kapitulierte. »Meeresbiologen halten zusammen. Sie halten auf der ganzen Welt Kontakt. Kannst du mir folgen?« Er wartete Matthews Antwort nicht ab, sondern sprach weiter: »Ich habe mit unseren Leuten gesprochen. Sie haben ihre französischen Freunde gebeten, die Delphine zu fotografieren, bevor sie weggeschafft werden.« »Weggeschafft werden?« Matthews Stimme war rauh. »Na ja, du kannst wohl kaum fünfzehn tote Delphine auf einem Badestrand verwesen lassen, oder?« Er sah mitleidig in Matthews niedergeschlagenes Gesicht. »Sie werden natürlich auch Proben entnehmen und Tests machen. Und vielleicht finden sie heraus, was sie getötet hat – vielleicht auch nicht. Aber sie werden sich die größte Mühe geben, alle Narben und Merkmale zu notieren, die zur Identifizierung beitragen könnten.« Wieder ruhten die blauen Augen auf Matthew. »Das war alles, was ich tun konnte.« Matthew schluckte. »Wann? Wann werden sie es wissen? Kann ich die Fotos sehen?« Er sah sich verzweifelt um, als suche er nach einer Mitfahrgelegenheit nach Frankreich. »Laß mir etwas Zeit«, bat Skip. »Der Kapitän hat alles, was wir brauchen, oder? Sie können die Fotos per Fax schicken. Wir gehen gleich hin und sprechen mit ihm. Und ich wage zu behaupten, daß er eine Jacht für dich chartern würde, wenn du ihn darum bitten würdest.« Er blickte grimmig. »Erzähl keinen Unsinn«, sagte Matthew mechanisch, aber er fühlte sich schon etwas besser. Vielleicht handelte es sich gar nicht um Flite. An den französischen Küsten mußte es Hunderte von Delphinen ge128
ben. Vielleicht war ja alles in Ordnung … Na ja, in Ordnung für Flite, der sein Freund und Gefährte war. Aber für all die anderen war es nicht in Ordnung – für die fünfzehn toten Delphine, die an den Strand geschwemmt worden waren. »Komm«, drängte Skip. »Hör auf, Trübsal zu blasen. Wir gehen und sprechen mit dem Kapitän.«
* Den ganzen Tag warteten sie auf Neuigkeiten, und Matthew beschloß, in der Zwischenzeit die restliche Arbeit für den Kapitän zu erledigen. Es gelang ihm jedoch nicht, das Faxgerät aus den Augen zu lassen, das jeden Moment zum Leben erweckt werden konnte. Sogar Skip schien sich nur ungern zu verabschieden. Während einer Arbeitspause stellte der Kapitän Matthew wegen Amerika zur Rede. »Was willst du in Sachen San Diego unternehmen?« Matthew warf ihm einen gequälten Blick zu und seufzte. »Ich weiß nicht.« Kapitän St. George besaß gute Menschenkenntnis. Er konnte sehen, daß der Junge unter Streß stand, und seine barsche Stimme klang erstaunlich gütig. »Was stört dich daran?« »Eine Menge«, sagte Matthew fast widerwillig. »Ich glaube, es ist wegen meiner Vergangenheit«, sagte er schwach. »Ich meine … Ich bin darin noch nie gut gewesen.« »Worin?« »Familiengefühle und das alles.« Seine ungeschickte Ausdrucksweise überraschte ihn selbst, aber er war entschlossen, ehrlich zum Kapitän zu sein. »Die Wahrheit ist, daß mir der Gedanke an Familienbande nicht besonders gefällt.« Seine Stimme klang rauh. »Wissen Sie, meine Mutter konnte nicht viel mit mir anfangen – Ich war ein Hemmschuh für sie. Aber weil sie meine Mutter war, fühlte sie sich verpflichtet. Und ich – ich kam mit ihr überhaupt nicht gut aus. Die Wahrheit ist, daß es die meiste Zeit ein komplettes Desaster war. Ich lehnte sie ab. Aber 129
dann fühlte ich mich schuldig. Und sie sich auch.« Er sah den Kapitän hilflos an. »Klingt dumm, nicht wahr?« »Also?« brummte der Kapitän. »Also – diese Leute – diese angeheiratete Tante oder was immer in San Diego. Sie kennt mich nicht. Ich kenne sie nicht. Sie hat in all den Jahren nie versucht, Kontakt zu uns aufzunehmen. Warum macht sie es jetzt? Nur weil ein Anwalt sie dazu aufgefordert hat?« Er schüttelte heftig den Kopf. »Ich möchte nicht die Pflicht eines anderen sein.« Der Kapitän konnte das verstehen. Sehr gut verstehen. »Sie ist vielleicht nur neugierig.« Matthew lachte. Das war genau das, was der kluge alte Mann bezweckt hatte. Sofort nutzte er seinen Vorteil. »Nun gut – was möchtest du?« »Frei sein«, antwortete Matthew und dachte dabei an Flite. »Frei und ungebunden. Mir eine Arbeit suchen und mein eigenes Leben leben. Und keinem dankbar sein müssen.« Die blauen Augen sahen Matthew voller Zuneigung an. »Du weißt, daß das ein einsames Leben ist, so ganz ohne Bindungen?« Matthew lächelte plötzlich. »Ich sagte nicht ohne jede Bindung. Ich meinte keine verwandtschaftlichen Verpflichtungen. Ich denke, man sollte jemanden lieben, weil man es möchte und nicht weil man es muß.« Der Kapitän nickte. »Wie Madge und die Kinder?« »Ja.« Wie Flite. »Was ist mit Skip? Als er krank war, hast du dich um ihn gekümmert.« »Er war gut zu mir.« »Wieder Verpflichtungen?« »Nein«, sagte Matthew, der durch seine unvorsichtige Wortwahl in die Falle geraten war. »Natürlich nicht.« »Was ist mit mir?« Die müden Augen leuchteten plötzlich herausfordernd. Matthew begann zu stottern. »Aber Sie wissen … Ich kann nicht anfangen … Ich meine, Sie haben mir doch geholfen …« 130
»Du hast aber auch eine Menge für mich getan.« »Das war Arbeit. Sie haben mich bezahlt.« »Denk daran, du hast angeboten, auch ohne Bezahlung zu arbeiten.« »Das war, weil …« »Wieder Pflichtgefühl?« Der Kapitän zog seine Augenbrauen in die Höhe. Matthew verhaspelte sich. »Sie wissen, es war …« »Was ich meine«, sagte der alte Mann freundlich, »ist, daß es nicht immer so einfach ist, nicht wahr? Es ist nicht immer das gleiche Strickmuster.« Eine Pause entstand, in der Matthew über diese Worte nachdachte. Es stimmte. Sicher hatte es mit einem Pflichtgefühl begonnen. Zurückgezahlte Freundlichkeit – fällige Gegenleistung – und wiederhergestellte Selbstachtung. Aber so war es jetzt nicht mehr. Es war viel mehr geworden. Und der Kapitän wußte es. Wahrscheinlich wußte Skip es auch. Nur er selbst war ohne jedes Feingefühl gewesen, stolz und reizbar, wo doch all das, was er sich wünschte, schon vorhanden und mühelos zu haben war. Er schämte sich über seine Dummheit. »Ich bin ein Narr«, sagte er zerknirscht. Der alte Mann brummte. »Das sind wir alle, Matthew – wenn es um zwischenmenschliche Beziehungen geht. Ich meine, du solltest es mit San Diego versuchen. Man weiß nie. Diese Tante oder was immer, vielleicht ist sie auch einsam.« Auch einsam. Es war sinnlos, den Kapitän zum Narren zu halten. Er wußte genau, worum es ging. »Außerdem«, fügte er hinzu, »hast du eine Ausrede, um reisen zu können. Sieh dich ein bißchen in der Welt um. San Diego ist ein wundervoller Ort – wenn auch ein bißchen gefährlich.« »Gefährlich? Warum?« »Man kommt leicht an Drogen heran.« Zur Überraschung des Kapitäns antwortete Matthew: »Das ist nicht gut für meine Hände.« »Du hast schon einmal Drogen ausprobiert?« 131
»Meine Mutter hat neben Hasch noch viele andere Dinge genommen. Ein paarmal habe ich es ausprobiert. Aber die Finger werden ungeschickt davon. Das ist nichts für Leute, die Musik machen wollen.« Der Kapitän nickte. »Dann war es gut, daß du deine Gitarre hattest.« In diesem Augenblick erwachte das Faxgerät zum Leben. Die Fotos wurden übermittelt, und es wurde ihnen mitgeteilt, daß die Behörden darauf bestanden, die Tiere noch an diesem Abend zu begraben. Die Fotos waren einigermaßen deutlich, wenn auch etwas grau, aber sie waren nicht aufschlußreich. Die Merkmale und Narben waren verwischt, kaum zu unterscheiden. Besorgt studierte Matthew die Fotos und gab sie dann weiter an Skip, der zurückgekommen war, um zu sehen, wie sie vorankamen. »Ich bin mir nicht sicher«, murmelte Matthew und schüttelte den Kopf. »Ich kann keine Narbe, wie Flite sie hat, entdecken. Aber ich bin mir nicht sicher.« Er sah Skip flehend an. »Was ist mit dir?« Auch Skip studierte die Fotos sorgfältig. Aber nach einer Weile schüttelte er den Kopf. »Nein. Es ist nicht eindeutig.« Er seufzte. »Ich möchte gerne wissen, woran sie gestorben sind.« »Skip«, sagte der Kapitän plötzlich. »Was ist mit St. Just?« Skip sah ihn an. »Sie meinen …« »Dein Freund Mark. Er könnte es machen.« Matthew starrte verwirrt von einem zum anderen. »St. Just?« »Der Flugplatz. Skip kennt einen der Piloten.« Der Kapitän winkte Skip gebieterisch zu. »Rufen Sie ihn sofort an. Wir haben keine Zeit zu verlieren.« Er blickte zu Matthew hinüber, dessen Gesicht trotz des Hoffnungsschimmers noch blasser geworden war. »Mach dir keine Sorgen, Junge. Irgendwie bekommen wir dich da schon hin.«
* Matthew fühlte sich wie im Traum, aber da saßen sie nun in einem kleinen Flugzeug in den Lüften mit Ziel auf den Ärmelkanal und die bretonische Küste. 132
In Dover mußten sie aus zolltechnischen Gründen zwischenlanden, was jedoch nur kurze Zeit in Anspruch nahm. Ohne große Zeitverzögerung hoben sie mit ihrem kleinen Flugzeug wieder ab. Er sah hinunter auf das blauschwarze Meer und fragte sich, wo Flite wohl gerade war. Wenn er noch lebte. »Wir sind fast da«, sagte Skip und zeigte auf eine lange, dunkle Landzunge, die ins Meer hineinragte. Das kleine Flugzeug landete auf einem schmalen Landestreifen mit ein paar Hangars und einer Wellblechbaracke, die sich am Ende der Landebahn befand und in der der Zoll untergebracht war. Eine kleine Gruppe wartete auf sie, und als sie aus dem Flugzeug stiegen, löste sich jemand aus der Gruppe und kam auf sie zu. »Ich bin Pierre«, stellte der Mann sich vor. Er sprach hervorragend Englisch, wenn auch mit einem leichten Akzent. Er gab erst Skip und dann Matthew die Hand. »Dover hat eure Freigabe durchgegeben. Der französische Zollbeamte weiß Bescheid. Es wird nicht lange dauern.« Er drehte sich zu den anderen aus der Gruppe um und fügte hinzu: »Wir alle gehören zum Walschutzprojekt, ihr seid also in guten Händen.« Matthew sagte verlegen: »Es ist wirklich toll von euch, daß ihr alles in die Wege geleitet habt …« Nur um einen Delphin zu identifizieren, wollte er noch hinzufügen, aber die Worte blieben ihm im Hals stecken, und er konnte sie nicht aussprechen. Pierre hatte recht. Die Formalitäten dauerten nicht lange. Skips Freund, der Pilot Mark, wollte ebenfalls mitkommen. Sie hatten keine Vereinbarung bezüglich des Rückflugs getroffen, aber er schien sich mit Nachtflügen auszukennen, so daß Matthew sich keine Sorgen machte. Er war so versessen darauf, die toten Delphine zu sehen, daß nichts anderes mehr wichtig schien. Kurz darauf stieg die kleine Gruppe in einen wartenden Range Rover und fuhr die Straße zur Küste entlang. Nach ein paar Kilometern, bogen sie in eine schmale Straße ein und rumpelten schließlich durch die Schlaglöcher eines ausgefahrenen Weges, bis sie bei einigen grasbewachsenen Dünen anhielten. Pierre, der den Wagen fuhr, drehte sich um. »Wir müssen jetzt zu Fuß weiter. Aber wir sind gleich da.« 133
Matthew nickte. Bald würde er wissen, ob Flite tot war oder nicht. Doch wenn er sich nicht hier unter diesen leidgeprüften Wesen befand, könnte er immer noch tot an einem anderen Strand liegen … »Komm«, sagte Skip und berührte seinen Arm. »Wir haben keine Zeit zu verlieren.« Sie gingen über sandige Grasbüschel, überquerten eine gelbbraune Sanddüne und sahen dann hinunter auf einen flachen, verlassenen Strand. Verlassen – bis auf einen Jeep und einen Bulldozer, der vom anderen Ende der Bucht langsam näherkam, und bis auf eine Reihe blauschwarzer Gestalten, die bewegungslos nahe beim Wasser lagen. »Diabla, sie sind schon da!« rief Pierre und lief rufend und mit den Armen fuchtelnd zum Strand hinunter. Matthew und die anderen rannten hinter ihm her. Sie erreichten das andere Ende der Bucht, wo flache, nackte Felsen bis an das Meer heranreichten. Dort stritt Pierre heftig mit dem Fahrer des Jeeps und zeigte dabei auf die bewegungslose Reihe der Delphine am Strand. In seiner französischen Art und mit seinem wilden braunen Haar und dem dazu passenden Bart war er ein gutaussehender Mann. Schließlich gab der Fahrer des Jeeps schulternzuckend nach. »Alors, j'attends. Mais dix minutes seulement. D'accord?« »D'accord«, stimmte Pierre unwillig zu und drehte sich zu Skip um. Seine dunklen Augen sprühten immer noch vor Ärger. »Wir sollten uns besser beeilen.« Die Gruppe ging auf die trostlos anzusehende Reihe der toten Flaschennasen-Delphine zu. Sie beugten sich über die Tiere und suchten nach Narben, die eine Identifizierung möglich machten. Einige der Delphine lagen auf der Seite und konnten leicht untersucht werden, aber einige lagen mit dem Bauch nach unten und mußten umgedreht werden. Zwei Leute wurden dafür benötigt. Sie ergriffen die Rückenflosse und die anmutige Schwanzflosse. Dann drehten sie die Körper, bis der bleiche Unterbauch und die Kehle zu sehen waren. Zwei Mitglieder der Gruppe gingen mit kleinen Koffern umher und nahmen Proben. Sie sprachen nicht viel, sondern erledigten ihre Arbeit so schnell wie möglich. 134
Für Matthew waren es die schlimmsten zehn Minuten seines Lebens. Der Reihe nach legte er seine Finger auf die blassen Kehlen und fühlte nach der kreuzförmigen, verräterischen Narbe. Doch jedesmal konnte er erleichtert aufatmen, weil der lange, schlanke Unterkiefer das, was er suchte, nicht aufwies. Erleichtert? Aber sein Gefühl der Erleichterung beschämte ihn. Sie waren alle so wundervoll wie Flite – sie alle verdienten es zu leben – und perfekt geschaffen für dieses vollkommene Element, in dem sie lebten. Als er den letzten Delphin erreichte, standen Tränen in seinen Augen, und er konnte nur noch verschwommen sehen. Seine Hände zitterten unkontrolliert. Zusammen mit Skip drehte er den Delphin um und wieder – zum allerletzten Mal – tasteten und erforschten seine Finger die seidene Haut. Er hatte keine Narbe. Es war nicht Flite. Seine Suche war vorbei. Für den Moment jedenfalls. Blind vor Tränen wandte er sich ab. »Nein«, sagte er erstickt. »Flite ist nicht dabei …« Zu Pierre gewandt fragte er: »Woran sind sie gestorben?« Pierre zuckte wieder mit den Schultern und seine klugen, braunen Augen blickten mitleidig. »Wir haben Proben entnommen und ein Tier seziert. Bis jetzt sieht es so aus, als ob sie ertrunken wären.« »Ertrunken?« Der Franzose nickte Martha, der großen, mageren Frau, die beim Umdrehen der toten Delphine geholfen hatte, zu. »Netze«, sagte sie kurz angebunden. Sie sprach mit einem starken französischen Akzent. »Wir glaubten, daß Beutelnetze hauptsächlich im Pazifik benutzt werden. Aber …« Wie Pierre zuckte auch sie kurz mit den Schultern, »aber auch an diesen Küsten geht es um wichtige Fischereiinteressen. Mit ihren großen Schleppnetzen holen sie alles Leben vom Ozeangrund, so daß nichts überlebt. Nichts! Und wenn sie ihre verdammten Netze einholen, verfangen sich die Delphine und sogar kleine Wale in ihnen und können nicht an die Oberfläche, um zu 135
atmen. Es ist schlimm. Seht sie euch an. Sie wurden wahrscheinlich ins Wasser zurückgeworfen, als die Fischer ihre Netze leerten. Tot zurückgeworfen. Und das Meer hat sie ans Ufer geschwemmt.« Während sie sprach, gab der Fahrer des Jeeps seinem Kollegen im Bulldozer ein Zeichen und rief Pierre über die Schulter zu: »Alors, on va.« Verzweifelt drehte sich Matthew zu Skip um. »Müssen sie das machen?« »Was sollen sie sonst tun?« Matthew wußte es nicht. Aber die Delphine einfach wie Aas in einem Loch im Sand zu verscharren … Es mußte doch noch eine andere Möglichkeit geben … »Ich sollte …«, begann er, und sein Ton drückte deutlich die Hilflosigkeit aus, die er fühlte. Aber Martha unterbrach ihn scharf. »Blumen auf ihr Grab streuen? Requiems singen?« Sie schien sehr ärgerlich zu sein. »Wie soll ihnen das helfen? Sentimentale Gesten bringen nichts, außer daß sie vielleicht dein Gewissen beruhigen!« Ihre Augen waren voller Haß. »Wir müssen es aufhalten.« »Wie?« fragte Matthew. Die kleine Gruppe der Naturschützer rückte näher zusammen. Sie schienen Pierre als ihren Sprecher zu betrachten. »Darüber reden!« antwortete er. »Schreiben!« Seine Augen blitzen Matthew an. »Erzähle es allen. Mache Fotos. Informiere die Medien. Beschäme sie, so daß sie etwas dagegen tun.« »Kann man sie beschämen? Bei der Hochseefischerei geht es um zuviel Geld.« Martha wollte die Diskussion ausweiten, aber der Pilot Mark fiel ihr ins Wort: »Ich unterbreche euch ungern, aber ich muß die beiden noch nach Hause bringen.« Sofort änderte sich Pierres lebhafter, kämpferischer Gesichtsausdruck. »Natürlich«, sagte er. »Wir bringen euch zum Flugplatz zurück.« »Und biete dem Jungen einen Drink an«, fügte Martha mit einer unerwarteten Besorgnis in ihrer kalten, klaren Stimme hinzu. 136
Die anderen blickten Matthew freundlich an. Unglücklich erwiderte er ihre Blicke und schämte sich über seine Schwäche. Bis jetzt hatte er sich solche Sorgen um die Delphine und Flite gemacht, daß er die Menschen um ihn herum kaum beachtet hatte. Vor ihm standen vielbeschäftigte Leute, die sich viel Mühe gegeben hatten, ihm zu helfen – und er hatte ihre Existenz kaum wahrgenommen, ganz zu schweigen, daß er einen Gedanken daran verschwendet hätte, ihnen zu danken. Jetzt sah er sie zum ersten Mal aufmerksam an. Da war Pierre, der Leiter der Gruppe, schlank und mit buschigen Haaren. Er schien entspannt und unbeschwert zu sein, zeigte aber deutlich seinen Ärger, wenn die Notwendigkeit bestand. Und Martha – groß und hager, mit eckig geschnittenen braunen Haaren, sehr dunklen braunen Augen, die fast schwarz wurden, wenn sie wütend war. Neben Martha stand ein untersetzter Deutscher mit dem Namen Bogle – so hatte es Matthew jedenfalls verstanden. Er war sehr stark, was von Vorteil war, wenn es darum ging, die toten Delphine zu drehen, und hatte geschickte Hände. Matthew kannte sich mit Händen aus. Neben ihm stand das jüngste, am wenigsten Autorität ausstrahlende Mitglied der Gruppe, der blonde, schwedische Biologe namens Eric. Er war vielleicht derjenige, der die wenigste Verantwortung zu tragen hatte, aber er war auch altersmäßig Matthew am nächsten und anscheinend der Mitfühlendste, denn er legte seinen Arm freundschaftlich um Matthews Schultern und sagte: »Laß uns mal sehen, ob wir irgendwo einen Kognak finden, okay?« Mit sanfter Gewalt führte er ihn zum Jeep. Als sie auf dem kleinen Flughafen standen und einen Abschiedskognak tranken, sagte Martha plötzlich zu Skip: »Du kennst doch Petra Davison, nicht wahr?« »Ja. Warum?« fragte Skip zögernd. »Sie ist die beste Expertin, die wir für Wale haben. Sie würde sich hierfür bestimmt interessieren.« »Das nehme ich auch an«, sagte Skip zurückhaltend. »Informiert ihr Petra denn nicht?« fragte Matthew. Schließlich hatte Skip ihm erzählt, daß alle miteinander in Kontakt standen. 137
Pierre antwortete ihm. »Es ist alles im Computer – sobald wir die Ergebnisse haben. Wenn sie es will, kann sie es abrufen.« »Wir könnten es ihr sagen«, meinte Matthew entschlossen. »Weißt du, wo sie ist?« »Skip weiß es.« Skip machte eine aufsässige Miene. »Irgendwo in der Pazifikregion, glaube ich. Sie macht eine Studie über die Wale. Es ist nicht leicht, sie zu erreichen.« »Du könntest es, wenn du wolltest«, murmelte Matthew und starrte ihn wütend an. Aber es hatte keine Sinn, Skip zu drängen. Er war zu eigensinnig. Matthew seufzte, trank seinen Kognak in einem Zug aus und mußte husten. Petra hatte Flite auch geliebt. Sie würde glücklich darüber sein, daß er nicht Opfer dieses endlosen Krieges geworden war. »Wir sollten jetzt los«, sagte Mark. »Kommt, ihr beiden. Ich habe heute abend eine Verabredung.« Als sie aufbrechen wollten, richtete Martha plötzlich das Wort an Matthew. »Es ist ein Fehler, wenn man zu sehr an einem Tier hängt.« »Ich weiß«, stimmte Matthew hilflos zu. Aber was sollte ich machen? Er bot mir seine Freundschaft an … ich mag ihn. Und ich glaube, daß auch er mich mag. »Was soll ich tun?« fragte er laut und meinte etwas ganz anderes. »Nur darüber reden«, antwortete Martha. »Wie Pierre gesagt hat. Immer dranbleiben. Am Ende werden wir gewinnen.« »Ich werde es versuchen«, versprach Matthew. Traurig bestieg er das kleine Flugzeug. Er wußte, daß er sich eigentlich freuen sollte, denn Flite schien in Sicherheit zu sein. Aber er trauerte um die toten Delphine. Er warf noch einen letzten, schmerzerfüllten Blick auf die gerade Straße, die zum Strand führte – zum Strand, der jetzt verlassen war, bis auf ein paar bewegungslose, graue Körper und einen Bulldozer, der ein Loch aushob … Keine Blumen oder Lieder, hatte Martha gesagt. Wir müssen es aufhalten. Aufhalten. 138
Aber trotzdem, dachte Matthew, werde ich für sie heute abend spielen. Das ist das mindeste, was ich tun kann. Die Delphinseelen werden es hören. Das kleine Flugzeug rollte immer schneller über die Startbahn und hob dann ab.
* Der Kapitän verlangte einen detaillierten Bericht über ihre Bretagnereise. Als Matthew geendet hatte und zum Abschluß Marthas Worte wiedergab, nickte der alte Mann zustimmend und sagte: »Da hat sie recht. Nun, jetzt hast du eine Sorge weniger. Jetzt kannst du dich vielleicht um deine Zukunft kümmern.« Verwirrt fragte Matthew: »Was meinen Sie damit?« »Harvey hat angerufen und mich gefragt, wann du nach London kommst.« »Ich dachte – einen Tag vor Heiligabend.« »Das ist heute in zwei Tagen.« »Wirklich?« Matthews Miene spiegelte schon fast Panik wider. »Aber Skip gibt morgen einen Musikabend. Er wollte, daß ich …« Der Kapitän sah ihn fragend an. »Du möchtest nicht nach London, oder?« »Nein. Eigentlich nicht.« »Du mußt, Matthew. Es ist wichtig.« »Ich weiß.« Er blickte in die wachen blauen Augen des Kapitäns und war sich über die bevorstehende Trennung schmerzlich bewußt. »Was werden Sie tun?« Der alte Mann zuckte mit den Schultern. »Ich werde in den Süden fahren. Es ist sowieso höchste Zeit, daß ich das tue.« »Allein?« Die blauen Augen trübten sich ein bißchen. »Warum nicht?« »Zu Weihnachten?« Eine fast unmerkliche Pause entstand. Dann sagte Kapitän St. George gleichmütig: »Es macht mir nicht viel aus.« 139
Das sollte es aber, dachte Matthew. Und ich werde etwas unternehmen. »Kommen Sie auf Ihrem Weg auch nach London?« »Vielleicht.« »Könnte ich … Würden Sie Madge und die Kinder am ersten Weihnachtsfeiertag besuchen – wenn Sie eingeladen werden?« »Vielleicht.« Matthew lachte. »Skip würde vielleicht auch kommen, wenn man ihn ein bißchen drängt.« Er wartete darauf, daß der Kapitän wieder ›vielleicht‹ sagen würde. Aber der alte Mann ergriff diesmal nicht das Wort. Er sah Matthew nur nachdenklich an. »Das wäre fast ein … ein …« »Familientreffen?« schlug der Kapitän in aller Unschuld vor. Matthew errötete. Doch dann sagte er plötzlich streitlustig: »Eine selbst ausgesuchte Familie.« Jetzt mußte der Kapitän lachen.
* Skip war damit beschäftigt, aus dem Musikabend im Club eine Abschiedsparty für Matthew zu machen, und hatte ihm strikte Anweisungen gegeben, früh genug zu erscheinen und seine Gitarre ›ordentlich zu stimmen‹. Aber zuerst hatte Matthew noch etwas anderes vor. Er nahm seine Gitarre und wanderte zu den Felsen, wo die Seehunde ihn hören konnten – falls sie noch da waren. Und wo Flite ihn vor noch gar nicht so langer Zeit hören konnte und freudig zu ihm geschwommen war … Einen Augenblick lang stand er da und sah aufs Meer hinaus. Dann machte er es sich bequem und spielte für die fünfzehn toten Delphine in ihrem Grab. Keine Blumen, keine Lieder, hatte Martha gesagt. Aber es war gut so. Er konnte diese wundervollen Wesen nicht in Vergessenheit geraten lassen, ohne ihnen einen letzten Gruß zu spielen. Es war ein ruhiger Abend. Das Meer war winterlich dunkel und glatt wie Seide. Die blasse Dezembersonne ging gerade unter, und weißgoldene Streifen spiegelten sich auf dem pechschwarzen Wasser. Dort 140
draußen sah es einsam aus – einsam, weit und leer. Flite war nirgendwo zu sehen. Matthew fröstelte ein wenig. Es war friedlich in diesen widerhallenden Weiten. Sie würden jetzt ruhig in ihrem Grab liegen, diese leblosen Delphine, und keine Gefahr drohte ihnen mehr … Er spielte Granados und de Falla – alle Lieder, die er kannte … Etwas später bemerkte er, daß das dunkle Meer sich belebte. Lauschende Köpfe durchbrachen die Wasseroberfläche und verharrten reglos in der Dünung, um Matthews Musik zu hören. »Hallo«, sagte er lächelnd. »Ihr seid zurückgekommen, nicht wahr? Guckt nicht so erstaunt. Der Klang ist wirklich gut.« Zum Abschluß spielte er ein Stück von Villa-Lobos. Das letzte Stück in seinem Repertoire. Er wiederholte er ein paarmal einige Strophen, damit es länger wurde. Die Seehunde schwammen nicht fort. Sie standen aufrecht im Wasser, ihre großen, feuchten Augen auf ihn gerichtet. »So, das war's, Jungs«, sagte Matthew und fühlte sich durch die schweigende Gesellschaft der Seehunde seltsam aufgeheitert. »Ich wünsche euch einen schönen Winter … und grüßt Flite von mir, wenn ihr ihn seht.« Die Seehunde antworteten nicht. Sie warteten, bis er aufgestanden war und sich abgewandt hatte. Dann tauchten sie einer nach dem anderen in den dämmrigen Ozean und schwammen davon.
* Skips Musikabende waren an der ganzen Küste berühmt. Die Leute kamen von überall her, um daran teilzunehmen. Die einheimische Folkgruppe, die ziemlich schlecht war, aber ihr fehlendes Talent durch Lautstärke ausglich, spielte jedes Mal als erste. Sie hatte immer großen Erfolg beim Publikum. Dann gab es noch Gastauftritte. Als die Folkgruppe an diesem Abend ihr Repertoire an ›Brülliedern‹ zum Besten gab, spielte auch Matthew mit, um sich, wie Skip es nannte, ›ein bißchen einzuspielen‹. Aber dann betrat eine kleine Jazzband 141
die Bühne des Clubs, und Matthew wurde zu seiner Überraschung gebeten, auch bei ihnen mitzuspielen. Das war etwas anderes. Die Band bestand aus erfahrenen und geschickten Improvisateuren, die dem Klavier, dem Kontrabaß und der Klarinette schöne Melodien entlockten. Matthew amüsierte sich großartig. Nachdem sie sich vergnügt ihren Weg durch einige alte Nummern und ein oder zwei neuere Lieder gebahnt hatten, machte der Klarinettist eine Pause und rief laut nach Bier. Dann sagte er lächelnd zu Matthew: »Du bist gut, Junge.« »Sie auch«, gab Matthew zurück und bewegte seine Finger, die von der Anspannung ein bißchen schmerzten. »Gut?« sagte Skip, der mit einer Runde Bier auf sie zukam. »Ihr solltet ihn mal hören, wenn er Klassik spielt.« »Das würde ich gerne hören«, antwortete der Klarinettist und trank einen großen Schluck Bier. »Nein«, protestierte Matthew verlegen. »Nicht – nicht jetzt. Die Leute wollen heute abend nichts Ernstes hören.« Len, der Pianist, sah hoch und tat so, als ob Matthews Worte ihn gewaltig empörten. »Du meinst, man kann unsere Musik nicht ernst nehmen?« Matthew lachte. »So habe ich das nicht gemeint. Ich hatte eine Heidenangst, daß ich mit euch nicht Schritt halten könnte.« »Du hast sehr gut gespielt«, verkündete Len. »Nicht wahr, George?« George, der Baßspieler, nahm einen großen Schluck Bier, wischte mit einem roten Seidentaschentuch seinen Bogen ab und polierte dann sorgfältig die Saiten des Kontrabasses. »Ja, gut«, brummte er. »Nicht jeder kann aus sich herausgehen und improvisieren.« Dabei polierte er immer noch sein Instrument und fügte mit einem noch tieferen Brummen hinzu: »Nun spiel schon, Mann!« Matthew blickte zweifelnd auf das fröhliche, Bier trinkende Publikum. Doch plötzlich schwiegen alle und sahen Matthew erwartungsvoll an. »Komm schon, zeig's uns!« rief eine Stimme von irgendwoher. »Die guten Sachen«, fügte eine andere hinzu. »Die Klassiker«, rief eine dritte. 142
»Spiel, spiel!« brüllten sie. »Du solltest besser loslegen, Mann«, murmelte George. »Oder willst du gelyncht werden?« Und Matthew legte los. Es war immerhin sein Abschied, und auf irgendeine Art mochte er diese rauhen, warmherzigen Menschen. Und er mochte Skip und den alten Kapitän St. George, der ruhig im Hintergrund saß und das Ganze mit seinen blauen forschenden Augen beobachtete. Also gut, dachte Matthew, ich mag sie. Trotz meiner ablehnenden Worte, was Bindungen betrifft. Warum nicht? Wie der Kapitän schon sagte: So einfach ist es nicht. Und da ich sie, wenn ich es laut ausspräche, in Verlegenheit bringen würde, werde ich für sie spielen. Wie ich es bei den Seehunden getan habe. Und bei Flite. Vielleicht werden sie es verstehen. ›Die Jungfrau und die Nachtigall‹, dachte er. Das werden sie verstehen. Die ganze tiefe, dunkle Traurigkeit, die Wellen des Verlangens hinter diesen reichen, pulsierenden Akkorden … und Mondlicht, Mondlicht, das auf silberne Olivenhaine scheint und das Verlangen und den Drang nach Liebe noch verstärkt und noch mehr Kummer bereitet … Und dann der Vogel, der unermüdliche, tapfere kleine Vogel, der dort draußen im Dunkeln singt und singt. Er nahm sich vor, nur dieses eine Stück zu spielen. Vielleicht wären sie danach gelangweilt, würden alle nach Getränken rufen und vergessen, eine Zugabe zu fordern. Aber als er aufhörte zu spielen, folgte ein kurzes, andächtiges Schweigen, und dann wollten alle mehr hören und riefen so lange nach einer Zugabe, bis er fast alle Lieder, die er beherrschte, gespielt hatte. Schließlich streckte er abwehrend die Hände aus und sagte lächelnd: »Tut mir leid. Ich habe alle Lieder gespielt, die ich kenne.« Aber dann fiel ihm ein, daß er morgen abreisen würde. So nahm er die Gitarre noch einmal zur Hand und spielte ›Sailing, I'm sailing …‹ für sie zum Mitsingen. Gleich darauf griff die Jazzband das Lied auf und ebenso die Folkgruppe, und dann stimmte jeder, der singen oder ein Instrument spielen konnte, mit ein. Von ›Sailing‹ gingen sie zu ›Rio Grande‹ über und wurden noch lauter. Der Lärm war gewaltig. 143
»Then away, boys, away …« brüllten sie. »Way down Rio, So fare you well, my pretty young gel, For I'm bound for the Rio Grande.« Das ist gar nicht so weit hergeholt, dachte Matthew. Er erinnerte sich, daß er das Lied gespielt hatte, als Petra abreiste, wie traurig sie und Skip gewesen waren und wie böse er den beiden war, daß sie ihre Chance nicht nutzten. Er sah sich schuldbewußt nach Skip um und fragte sich, ob dieses alte Lied vom Abschiednehmen ihn wohl aus der Fassung bringen würde. Aber Skip sang genauso laut wie die anderen. Als der Gesang abklang, kam er auf Matthew zu. In seinen Händen hielt er eine brandneue Jeans. »Die ist für dich«, sagte er. »Wieso für mich?« »Weil du deine Jeans ruiniert hast, als du meine Decke gestrichen hast.« Matthew wollte protestieren, aber er sah das gefährliche Glitzern in Skips Augen und kapitulierte. »Und hier ist noch etwas für dich«, fügte ein paar von Skips Jungs hinzu und winkten mit einem bunten T-Shirt, auf dem die Worte ›Porthgwillick-Aqua-Club‹ standen. Als er ihre lachenden Gesichter sah, wußte Matthew, daß Protestieren keinen Sinn hatte. »Danke«, sagte er. »Jetzt sieht man wenigstens, daß ich hier war.« Jemand aus dem Publikum – ein Freund von Skip – fragte ihn ernst. »Wirst du wiederkommen?« »Natürlich«, sagte Matthew und warf Skip einen kurzen Blick zu. »Natürlich werde ich wiederkommen.« »Dann ist es gut«, riefen sie und begannen, ›He'll he Coming down the mountain when he comes …‹ zu singen. Matthew war gerührt. Er beschloß, ein bißchen Abstand zu gewinnen, und ging nach draußen. Skip folgte ihm, und Matthew nutzte die Gelegenheit, ihm die gleiche Frage wie dem Kapitän zu stellen. 144
»Kannst du am ersten Weihnachtsfeiertag nach London kommen, Skip?« »Nein, das geht nicht. Tut mir leid.« »Der Kapitän sagte, daß er vielleicht kommen würde.« »Ich kann nicht, Matthew. Ich richte eine Party für die Dorfkinder aus.« »Am ersten Weihnachtsfeiertag? Das kann nicht sein. Dann sind sie alle zu Hause bei ihren Familien.« Bei ihren Familien. »Na ja, eigentlich am zweiten Feiertag. Aber ich muß alles vorbereiten.« »Mußt du nicht. Ich helfe dir, bevor ich fahre. Bitte, Skip. Es wäre wie …« Warum sollte er es nicht laut sagen? »Es wäre wie ein Familienfest für mich.« Skip zögerte. Dann erinnerte er sich an Matthews Vergangenheit, und plötzlich wußte er, daß er nicht nein sagen durfte. »In Ordnung. Aber ich kann nicht lange bleiben.« »Das macht nichts«, antwortete Matthew froh.
* In London rief Matthew den Anwalt John Harvey an und verabredete sich mit ihm für einen Vormittag nach den Weihnachtsfeiertagen. Dann machte er sich auf den Weg zu den Farleys. Die Stadt hatte ihnen eine neue Wohnung zugeteilt, nicht weit weg von Pimlico, wo sie früher zu Hause gewesen waren. Er ging sogar an der Straße vorbei, wo er früher gewohnt hatte. Ohne einen Blick darauf zu werfen, beschleunigte er seine Schritte und dachte an Madges Kinder. Er fragte sich, ob sie sich wohl an ihn erinnerten und wie Jampys Begrüßung ausfallen würde. Er wollte gerade an der Wohnungstür klingeln, als sie aufgerissen wurde, und Madge völlig außer sich auf ihn zustürzte und verzweifelt seinen Arm umklammerte. »Oh Gott, Matthew, du bist es. Hast du ihn gesehen?« 145
»Wen?« fragte Matthew verwirrt. »Jampy. Er ist weg. Schon den ganzen Tag.« »Jampy? Weg?« Er sah Madge entsetzt an. »Warum bist du nicht früher gekommen?« warf sie ihm weinend vor. »Dich wollte er sehen. Er hat immer und immer wieder gefragt. ›Wann kommt Matthew?‹ … Und nun ist er losgelaufen, um dich zu suchen, und ich weiß nicht, was ich machen soll.« »Mich suchen? Wo?« Matthew war immer noch durcheinander. »Wie, verdammt noch mal, soll ich das wissen? Einfach losgelaufen, um dich zu suchen – das haben die anderen Kinder gesagt.« Matthew ergriff Madges Arm und führte sie durch die Eingangstür zurück in die Wohnung. »Setzen Sie sich um Gottes willen hin, Madge. Und nun der Reihe nach. Jampy ist weg – seit wann?« »Seit heute morgen. Ich habe gewaschen. Donna und Danny waren in der Schule. Er spielte draußen. Als ich ihn rufen wollte, war er verschwunden. Eines der anderen Kinder erzählte mir, daß Jampy gesagt hätte, er würde Matt jetzt suchen gehen. Er habe keine Lust mehr, noch länger zu warten.« Matthew dachte kurz nach. »Haben Sie es bei der alten Wohnung versucht?« »Ja. Jim ist dorthin gegangen. Und er war auch bei der Pension, obwohl Jampy dorthin wohl nicht gehen würde, denn er hat es dort gehaßt.« »Was ist mit der Schule? Wollte er vielleicht Donna besuchen?« »Nein. Sie haben ihn nicht gesehen. Keiner hat ihn gesehen.« Ihre Lippen zitterten. »Oh Gott, Matt, hoffentlich passiert ihm nichts. Er ist doch erst drei – und ganz alleine draußen.« Matthew dachte immer noch angestrengt nach. »Erinnern Sie sich, daß wir mit dem Bus nach Cornwall gefahren sind? Weiß er, wo der Busbahnhof ist?« Sie sah ihn zweifelnd an. »Vielleicht. Wenn ich ihn zum Einkaufen mitnehme, gehen wir manchmal daran vorbei.« Matthew nickte. Er selbst war gerade vom Busbahnhof gekommen. Die Reise mit dem Bus war viel billiger als die mit dem Zug. Könnte 146
er vielleicht an dem kleinen Jampy vorbeigelaufen sein, der vergeblich versuchte, ihn in dem Gewimmel zu finden? Das ergibt Sinn, dachte er. Jampy ist nicht dumm. Er hat sich vielleicht gedacht, daß ich mit dem Bus komme. Oder vielleicht hat er auch versucht, selbst in einen Bus einzusteigen. Ich frage mich, ob er den Namen ›Cornwall‹ entziffern kann. Wahrscheinlich nicht. Aber vielleicht hat er geraten. Oder gefragt … »Ich gehe zurück und suche ihn«, sagte er kurzentschlossen. »Es ist das Beste, was wir machen können. Auf die Idee, mit dem Zug zu fahren, wird er ja wohl nicht kommen, oder?« Madge geriet noch mehr außer sich. »Oh Gott, ich hoffe nicht.« »Wo ist Jim?« »Unterwegs, um Jampy zu suchen.« »Was ist mit den anderen Kindern?« »Suchen mit all ihren Freunden die Gegend ab.« Aufgeregt holte sie tief Luft. »Wir werden ihn doch finden, oder?« Hilflos begann sie zu weinen. Matthew legte einen Arm um ihre Schultern und umarmte sie. »Bestimmt. Jampy paßt schon auf sich auf. Es wird ihm nichts passieren.« Er wollte zur Tür hinaus, aber Madge klammerte sich an ihn. »Was soll ich machen?« »Sie bleiben hier. Vielleicht kommt er von allein zurück. Haben Sie die Polizei benachrichtigt?« »Jim hat das getan.« Sie schluckte. »Sie suchen ihn auch – mit einem Streifenwagen.« »Nun, vielleicht habe ich mehr Glück«, sagte Matthew und rannte los. Ja, er rannte, dachte er dankbar. Ich kann jetzt wirklich wieder laufen. Dank Skip und dem Schwimmtraining – und Flite. Ich bin geheilt! Er rannte. Auf dem Busbahnhof in Victoria herrschte das übliche Chaos von Reisenden mit schweren Koffern, langen Schlangen vor den Fahrkartenschaltern und schreienden Kindern. Matthew bahnte sich seinen 147
Weg durch die Menge, sah sich die geduldig wartenden Schlangen an jedem Bahnsteig genauestens an, blickte in jede Ecke der Cafeteria und ließ auch den zugigen Vorplatz nicht aus, auf dem die Busse ankamen. Keine Spur von Jampy. Er hielt inne, um nachzudenken und versuchte, sich in die Lage eines kleinen Jungen hineinzuversetzen, der nur wußte, daß Matthew in Cornwall lebte. Und daß Busse nach Cornwall fuhren. Busse. Wie konnte man sonst noch dorthin kommen? Züge? Autos? Lastwagen? Lastwagen!. Das war es. Matthew rannte wieder los und erreichte atemlos Madges Wohnung. »Kaufen Sie immer noch auf dem Markt ein?« »Was?« Matthew hatte in der Gegend Zeitungen ausgetragen. Er kannte all die kleinen Geschäfte und die Stände auf dem Straßenmarkt in der Nähe seiner alten Wohnung. Aber Madge war immer noch ganz krank vor Sorge und verstand nicht, worauf er hinauswollte. »Ihr Gemüse!« Er hätte sie am liebsten geschüttelt. »Wo kaufen Sie es?« »Gemüse?« Sie starrte ihn mit offenem Mund an. Jampy war verschwunden, vielleicht sogar überfahren oder entführt oder ermordet, und Matthew sprach von Gemüse? »Ja. Gemüse. Gehen Sie auf den Markt?« Sie nickte. »Warum?« Aber Matthew hielt sich nicht mit einer Antwort auf. Er lief wieder auf die Straße. Aus seiner Schulzeit kannte er den Markt und die meisten Händler, weil er Botengänge für sie erledigt und sich manchmal einen Hot dog am Stand an der Ecke gekauft hatte, wenn seine Mutter vergessen hatte, Abendbrot zu machen. Als er zum Markt kam, begrüßten ihn einige der Händler wie einen alten Freund. »Matt, mein Junge, wo bist du gewesen?« »Schön dich zu sehen, Matt. Sind deine Beine wieder in Ordnung?« Er wagte es kaum, stehenzubleiben und auf die Freundlichkeiten 148
zu antworten, aber er wußte, daß sie ihm helfen konnten. Die Markthändler hatten auf alles ein Auge. Das mußten sie auch. Sie kannten alle Stammkunden. Wenn Jampy hier irgendwo wäre, hätten sie ihn wahrscheinlich gesehen. »Madges Sohn? Der kleine Frechdachs? Nein. Den habe ich heute noch nicht gesehen.« »Jampy? Den, den wir ›den Hüpfer‹ nennen? Nein. Heute nicht.« Aber irgendeiner hatte ihn beim Obststand gesehen, wo er mit Old George gesprochen hatte. Old George, der allerdings noch keine vierzig war, glaubte, daß er Jampy gesehen hätte. Klein und redselig? Der Mund stand nie lange still? Das war er. Man muß diese Kinder im Auge behalten. Sobald man ihnen den Rücken zudreht, greifen sie sich eine Apfelsine und rennen davon. »Jampy nicht«, sagte Matthew überzeugt. »Er stiehlt nicht.« »Nun, vielleicht nicht«, gab George widerwillig nach. »Er wollte auch etwas anderes.« »Was?« Matthew mußte ihm wirklich alles aus der Nase ziehen. »Er wollte auf einem Lastwagen mitfahren. Ich sagte ihm, daß er nach Hause gehen solle.« »Hat er das gemacht?« George zuckte gleichgültig mit seinen breiten Schultern. »Kann ich nicht sagen. Er rannte irgendwo hin.« So war es auf dem ganzen Markt. Einige hatten ihn gesehen. Einige wieder nicht. Ein oder zwei Händler erinnerten sich, daß das Kind sich nach Lastwagen erkundigt hatte. Und der Mann an der Pommesfrites-Bude sagte, daß ein Dreikäsehoch immer wieder nach Cornflakes gefragt hätte. Matthew starrte ihn an. »Nicht Cornflakes«, sagte er. »Cornwall. Danach hat er gefragt. Cornwall.« Er blickte verzweifelt auf die belebte Straße. Dann meldete sich die Frau vom Antiquitätenstand zu Wort: »Sie kommen erst wieder zurück, wenn wir einpacken.« »Wer?« 149
»Die Lastwagen. Wir haben heute lange geöffnet. Wegen Weihnachten. Vor sieben werden sie nicht zurück sein.« Sie lächelte Matthew mit ihren braunen Augen an und schob eine Strähne ihres dünnen, gefärbten Haares zurück. »Er wird nicht weit kommen. Nur einer, der nicht richtig im Kopf ist, würde so ein kleines Kind mitnehmen.« Nur einer, der nicht richtig im Kopf ist. Matthew fröstelte. Er war bei jedem Stand gewesen und fragte sich gerade, was er als nächstes tun sollte, als er an der Ecke, an der die Lastwagen be- und entladen wurden, einen Haufen Gerümpel entdeckte. Kaputte Kisten, Kartons, klapprige Gestelle, alte Kleiderbügel und ein großer Haufen Reste von den Obst- und Gemüseständen, vermischt mit Altpapier und zerdrückten Obstkörben, lagen auf dem Boden herum. Matthew ging etwas näher heran. Jemand, der so entschlossen war wie Jampy, würde mit Sicherheit dort warten, wo die Lastwagen drehten und aufluden. Vielleicht würde er sich sogar in einen Lastwagen schmuggeln, wenn ihn keiner mitnehmen wollte … Im ersten Schuppen mit dem kaputten Dach war niemand … Und dann hörte er es – das heftige Schluchzen eines kleinen Jungen, das aus dem zweiten Schuppen zu hören war. »Werde gehen!« wütete er. »Werde-verdammt-noch-mal-gehen!« Das Schluchzen wurde lauter. »Jampy!« rief Matthew. »Bist du das?« Er lief in den zweiten Schuppen und schob einen Stapel schmutziger Säcke beiseite. Und dahinter entdeckte er Jampy, schmutzig, müde und mit zerzaustem Haar. Er hatte eine schmutzige Faust in sein Auge gedrückt, und auf seinem Gesicht hatten sich die Tränen mit dem Schmutz des Marktes vermischt. Als Jampy Matthew erkannte, wurde er noch wütender. »Wo bist du gewesen?« schluchzte er. »Du bist nie gekommen. Ich hab dich gesucht. Gesucht und gesucht.« Matthew war durch Jampys Attacke zu überrascht, um ihm böse zu sein. Er lachte, hob Jampy hoch und setzte ihn auf seine Schultern. »Wir haben dich auch gesucht«, sagte er immer noch lachend. »Komm jetzt. Deine Mama macht sich schon die größten Sorgen.« 150
Die Händler freuten sich, daß er Jampy gefunden hatte. Jemand drückte ein paar übriggebliebene Stechpalmenzweige in Matthews freie Hand, ein anderer gab ihm ein Bündel Mistelzweige zusammen mit einem flüchtigen Kuß und hängte knallrotes Lametta um Jampys Hals. Und Sheila, die Frau vom Antiquitätenstand, lief mit einem silberfarbenen, mit Gas gefüllten Ballon hinter ihnen her. Auf der einen Seite stand die Aufschrift ›Frohe Weihnachten‹ und auf der anderen ›Der Weihnachtsmann liebt dich‹. Es war wie ein Triumphzug, und obwohl Matthew wußte, daß Jampy eine Menge Aufregung und Kummer verursacht hatte, brachte er es nicht übers Herz, ihn auszuschimpfen. »Wieder zu Haus, wieder zu Haus!« sang Matthew fröhlich und erinnerte sich dankbar daran, wie er darauf gekommen war, wo Jampy sein könnte. »Halt dich gut fest«, rief er dem Dreijährigen zu. Wie ein Wagenlenker saß Jampy auf seinen Schultern, als sie nach Hause gingen.
* Als Madge sie die Straße herunterkommen sah, wußte sie nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Genaugenommen tat sie beides und rannte los, um sie zu umarmen, auszuschimpfen und mit Tränen der Erleichterung zu übergießen. Donna und Danny kamen ebenfalls herausgerannt, und auch Kirsty kam hinter ihnen her gekrabbelt. Jim, der gerade von seiner ergebnislosen Suche zurückgekommen war, öffnete die Portweinflasche, die er zu Weihnachten bekommen hatte. »Laßt uns feiern«, schlug er vor. Damit waren alle einverstanden.
* Es wurde ein schönes Weihnachtsfest. Skip kam, und auch der alte Kapitän war da – obwohl er es, wie er Matthew erzählte, wegen eines neuen Streits mit Conrad, der wollte, daß er sofort nach Südfrankreich abreiste, fast nicht geschafft hätte. Wie auch immer, er war da und lä151
chelte alle in seiner schelmischen Art an. Aber für Matthew hatte dieses Ereignis unweigerlich einen traurigen Beigeschmack, denn er wußte, daß es lange dauern würde, bevor er all seine Freunde wiedersehen würde. Vielleicht sogar sehr lange, wenn diese Tante von ihm darauf bestehen würde, daß er bei ihr in Amerika blieb. Aber er wollte den anderen die festliche Stimmung nicht verderben, schon deswegen, weil er es gewesen war, der auf dieses Familientreffen bestanden hatte. Familie? Sie waren viel eher seine Familie als diese unbekannte Frau in San Diego. Also war er entschlossen, sich in weihnachtliche Stimmung versetzen zu lassen und den Tag so fröhlich wie möglich zu verleben. Obwohl das Geld wie immer knapp war, hatte Madge für alle ein aufwendiges Weihnachtsessen zubereitet, und unter dem Baum lag für jeden ein Geschenk. Madge hatte für Matthew einen Pullover gestrickt. Und weil Skip so nett zu Matthew gewesen war und sie sowieso gerne strickte, bekam Skip auch einen. Die Kinder hatten für Matthew knallrote Socken gekauft, weil sie so ›hübsch und leuchtend‹ aussahen. Und als gerade keiner hinsah, schenkte Jim ihm noch ein bißchen von seinem Portwein ein. Skip hatte für die beiden Jungen Spielzeugschiffe mitgebracht, die sie auf dem Teich im Park segeln lassen konnten. Donna schenkte er eine Muschelkette, mit der sie sich wie eine Prinzessin fühlte – und Kirsty bekam einen Gummifisch für die Badewanne. Das Geschenk, das der Kapitän für die Kinder mitgebracht hatte, entzückte alle. Es war ein Leuchtglobus mit einer kleinen Tastatur, auf der die Namen von Städten und Ländern verzeichnet waren. Wenn man eine Taste mit einem Namen drückte, erschien der Ort als roter, blitzender Punkt, und die Meere und Ozeane wurden durch blaue Pfeile gekennzeichnet. Besonders Jampy war fasziniert. Matthew war dem Kapitän für seinen Taktgefühl dankbar. Madge und Jim mochten es nicht, wenn ihnen jemand etwas schenkte, aber dieses Geschenk spiegelte die Welt des alten Mannes mit seinen Schiffen und Reisen wider, und es war so lehrreich, daß keiner etwas dagegen einwenden oder sich über Verschwendung beklagen konnte. 152
Auch Matthew hatte seine eigenen Gaben sorgfältig ausgewählt. Madge erhielt eine kleine Brosche mit einer Möwe darauf, als Erinnerung an Porthgwillick. Jim bekam eine Pfeife, weil Pfeiferauchen bei dem Chaos, das in der Familie gewöhnlich herrschte, eine beruhigende Wirkung ausübte. Und den Kindern schenkte er eine Lego-Festung, die aussah wie die Burgen, die sie im Sand gebaut hatten. Sie hatte ein richtiges Fallgitter, eine bewegliche Zugbrücke, eine Unmenge Ritter, Soldaten und Pferde mit im Winde wehenden Standarten und sogar eine Erbsen schießende Kanone zur Verteidigung. Matthew beobachtete die ganze Aufregung und hatte ein seltsames Gefühl der Zufriedenheit. Geduldig ließ er es sich gefallen, von der Kanone unter Beschuß genommen zu werden. So mußte es in einer Familie sein, dachte er. Alle waren entspannt und fröhlich – keiner hatte an dem anderen etwas auszusetzen (und keiner war betrunken oder brach einen Streit vom Zaun) –, und ein Gefühl der Behaglichkeit lag über allem. Es wäre schön, für immer bei Madge und den Kinder bleiben zu können, dachte er. Aber die Überraschungen waren noch nicht vorbei. Es klingelte, und vor der Tür stand sein alter Lehrer, Tudor Davies, der ihm einen neuen Satz Gitarrensaiten und Noten von zwei neuen Granados-Stücken schenkte. Er aß mit ihnen zusammen Abendbrot und wollte sich dann auf den Weg nach Wales machen, und dort den Rest seiner Ferien verbringen. Er lächelte Matthew an und sagte: »Junge, du siehst wie neugeboren aus.« »Wirklich?« »Hundert Prozent fit und fest entschlossen, dich auf den Weg zu machen.« Matthew lachte, aber er war gar nicht so erpicht darauf, sich auf den Weg zu machen. Das war das Problem. Madge, die von ihrer neuen Wohnung wirklich begeistert war, führte alle eifrig herum und warf dem Kapitän für seine (vermutete) Einmischung zu ihren Gunsten immer wieder dankbare Seitenblicke zu. »Sieh mal, Matthew, da ist eine Bettcouch. Du kannst jederzeit hier 153
schlafen. Und nebenan wird jeden Augenblick ein Zimmer frei. Der Stadtrat sagte, daß du es bekommen könntest, wenn du es willst.« Matthew lächelte und nickte. Über Amerika erzählte er noch nichts. Er wollte das Weihnachtfest nicht verderben. Skip bemerkte das natürlich, verriet aber nichts. Matthew fiel auf, daß zwischen ihm und dem Kapitän irgendwelche unerklärlichen Spannungen herrschten. Denn als Jampys Ausreißversuch lachend kommentiert wurde und der Kapitän anmerkte, daß Madge nicht nachtragend sei, sah Skip ihn plötzlich scharf an und wollte anscheinend eine Bemerkung machen. Tudor Davies, der für Spannungen ein Gespür hatte, unterbrach das Gespräch mit unschuldiger Miene und bat Matthew, etwas vorzuspielen. Matthew sah seinen alten Lehrer an und lächelte. »Ich werde die zwei neuen Stücke spielen, die Sie mir letztes Mal mitgebracht haben – nur um zu zeigen, daß ich geübt habe! Aber dann sollten es besser Weihnachtslieder sein.« Tudor nickte zufrieden. Sogar die Kinder waren still, als Matthew spielte. Sie waren daran gewöhnt gewesen, ihn in der alten Wohnung auf der Gitarre spielen zu hören, und und sie mochten auch die ›ernste Musik‹. Bald darauf sangen sie alle zusammen Weihnachtslieder. Tudor Davies führte sie mit seinem warmen, walisischen Tenor, und Skip und sogar der Kapitän sangen mit. »Ich muß jetzt los«, sagte Tudor schließlich, als Jampy gerade noch ein Weihnachtslied anstimmen wollte – natürlich völlig falsch gesungen. »Begleitest du mich noch nach unten, Matthew?« Gehorsam folgte ihm Matthew die Treppen hinunter. Aber an der Haustür blieb Tudor stehen und sagte ernst: »Dann gehst du also nach Amerika, Junge?« »Sieht so aus.« »Möchtest du?« Matthew schüttelte den Kopf. »Nein. Aber ich nehme an, ich sollte es versuchen.« »Das ist die richtige Einstellung. Du weißt nicht, wie etwas ist, bevor du es nicht versucht hast. Ich wollte dir nur noch folgendes sagen: 154
Wenn du in Schwierigkeiten geraten solltest, kannst du jederzeit zu mir kommen. Du weißt, wo du mich findest.« Matthew starrte ihn sprachlos an. »Ich habe nicht viel Geld. Lehrer häufen keine Vermögen an. Aber wenn du Hilfe brauchst – wenn du dort nicht wegkommst oder so was – sag mir Bescheid, okay?« Dieses Mal gelang es Matthew zu nicken. Dann brach ein Wort aus ihm heraus: »Warum?« Tudor gab vor, gewaltig beleidigt zu sein. »Warum? Der Junge fragt mich warum? Wo so ein Talent auf dem Spiel steht? Ich bin Lehrer, erinnerst du dich nicht? Ich mag es nicht, wenn Talent verschwendet wird.« Er setzte ein schelmisches Lächeln auf. »Außerdem wäre es eine gute Investition, nicht wahr?« »Meinen Sie?« Es war eine ernsthafte Frage, und Tudor erkannte es. Freundschaftlich ergriff er Matthews Arm. »Das glaube ich wirklich, Junge. Darum geht es doch, oder?« Er drückte seinen Arm noch ein letztes Mal. »Also spiele weiter. Mehr verlange ich nicht.« »Das werde ich«, versprach Matthew, und er wußte, daß er dieses Versprechen nicht brechen durfte. Tudor war zufrieden. Sein Grinsen wurde breiter. »Alles Gute«, murmelte er und ging eilig davon. Dann war Skip an der Reihe. Er kniff die Augen zusammen, lächelte in seiner unverkennbaren Art und sagte: »Denk daran, der Club ist immer geöffnet, und das Meer ist immer da.« Matthew seufzte. »Ich weiß.« »Und vielleicht kommt Flite im Frühling wieder.« Eine plötzliche, kühne Hoffnung keimte in Matthew auf. »Meinst du?« Skip lächelte mitfühlend. »Es ist möglich. Sie kehren oft an ihre alten Plätze zurück. Besonders dann, wenn sie an jemandem hängen.« Fast schüchtern hielt Skip ihm einen Zettel hin. »Falls du nach Baja California gehst, um die Wale zu beobachten, könntest du vielleicht Petra besuchen. Es ist gar nicht weit weg von San Diego.« 155
Matthew nahm den Zettel aus Skips braungebrannter Hand. »Ist das ihre Adresse?« Wieder zögerte Skip. »Eigentlich nicht. Aber sie sagte, daß man sie dort erreichen könnte. Nachrichten würden von dort aus an sie weitergegeben.« »Ich verstehe. Soll ich ihr etwas von dir ausrichten?« Einen Augenblick lang schienen sich Skips blaue Augen zu verdunkeln. Aber er sagte nur ganz lässig: »Oh, sag ihr nur, daß ich immer noch der gleiche bin. Es hat sich nichts geändert.« »Nichts hat sich geändert«, wiederholte Matthew und dachte bei sich: Ich wünschte bei Gott, daß sich etwas geändert hätte! Dann erwachte der Schelm in ihm, und er fragte unschuldig: »Wenn ich dort richtig in der Klemme steckte, würdest du mir dann zu Hilfe kommen?« Skip lachte. »Ich glaube nicht. Zu teuer.« Dann wurde er ernst, und das braungebrannte Gesicht sah fast streng aus, als er darüber nachdachte. »Aber ja – wenn du mich brauchst, glaube ich schon, daß ich …« Matthew grinste immer noch schelmisch. »Oh, gut. Ich werde versuchen, so richtig schön in die Klemme zu geraten.« »Wag das bloß nicht«, brummte Skip. Dann legte er unerwartet einen Arm um Matthews Schultern und drückte ihn fest an sich. »Ich hoffe, daß sich für dich alles zum Guten wendet. Laß mich wissen, wie es dir ergeht.« »Das werde ich«, antwortete Matthew und machte damit noch ein Versprechen, das er nicht brechen durfte. Ohne sich noch einmal umzublicken, lief Skip die Treppen hinunter. Nun war der alte Kapitän an der Reihe. In der gleichen geheimnisvollen und ruhigen Art, in der sein dynamisches Leben geordnet war, hatte ihn ein Wagen bis vor Madges Tür gebracht. Jetzt war der Wagen genauso geheimnisvoll und leise, wie er weggefahren war, zurückgekommen und wartete auf den Kapitän. Er ging langsam die Treppe hinunter. Matthew begleitete ihn. Unten angekommen, stützte sich der alte Mann auf seinen Stock und blickte Matthew an. »Jetzt hör mir mal zu, Matthew. Du weißt, wie ich gestellt bin, und 156
du kennst fast alle Einzelheiten meines Geschäftes. Ich möchte dich nicht unter diesen oder jenen Angeboten begraben. Du mußt dich auf deine eigenen Beine stellen.« Als er sich an den hinkenden, blassen Jungen erinnerte, der sich vor noch gar nicht so langer Zeit mit ihm an der Kaimauer getroffen hatte, mußte er plötzlich grinsen. »Erinnere dich immer daran, daß ich für dich da bin. Die Zentrale kann mich jederzeit erreichen. Wenn es mit Amerika nicht klappt, habe ich keine Zweifel, daß wir dir hier einen Job verschaffen können. Ich weiß, daß du unabhängig sein möchtest. Deshalb biete ich dir im Augenblick nichts an. Aber wenn es soweit ist, dann sei nicht zu stolz und gib mir Bescheid.« Natürlich, das war es. Sei nicht zu stolz. Dieser fatale Stolz, ruinöser Stolz, war der Grund endlosen Leidens und endloser Einsamkeit … Er konnte das dem Jungen natürlich nicht sagen. Aber vielleicht konnte er ihn davon abhalten, denselben Fehler zu begehen. »Werden Sie … Werde ich Sie wiedersehen?« Die Frage stand bedeutsam im Raum. Es war Matthew plötzlich sehr wichtig zu wissen, daß er nicht für immer Abschied von diesem grimmigen, einsamen alten Mann nahm. »Ich glaube schon«, murmelte der Kapitän, »wenn du nicht zu lange auf dich warten läßt.« »Werden Sie nächstes Jahr wieder in Porthgwillick sein?« »Wahrscheinlich.« »Bitte«, begann Matthew, und dann sagte er mutig, was er dachte: »Bitte kommen Sie …« »Ich werde mein Bestes tun«, brummte der Kapitän. Aber in seiner Stimme lag eine leise Andeutung von Zweifel, und das machte Matthew angst. »Ich sollte dir das hier jetzt besser geben«, fügte der alte Mann hinzu, der den Abschied nicht mehr länger hinausschieben wollte. »Das ist kein Flugticket, aber es garantiert dir eine Passage auf einem meiner Schiffe, wohin auch immer.« Er hielt ihm eine kleine Karte hin, auf der oben ›St. George Shipping Lines‹ und dann in großen Buchstaben ›Verney St. George, Vorstandsvorsitzender‹ stand. Darunter hatte der Kapitän mit seiner filigranen, etwas krakeligen Handschrift ge157
schrieben: ›Freie Passage für Matthew Ferguson zu jedem Ziel‹ und hatte es mit einem nicht zu entziffernden Schnörkel unterschrieben. Matthew war überwältigt. »Denk daran, es kann auch ein Tanker sein«, sagte er und zwinkerte Matthew zu. »Oder ein Containerschiff. Sieh zu, daß du nicht tiefgekühlt wirst.« Matthew versuchte zu lachen. Aber er konnte nur schlucken. »Ich – ich kann nicht …« suchte er vergeblich nach Worten. Aber der alte Mann unterbrach ihn. »Nicht. Wir brauchen keine förmlichen Dankesworte, du und ich. Geh und breite deine Flügel aus, mein Junge. Lerne zu fliegen. Und komme zurück, wenn du ein echter Senkrechtstarter geworden bist.« »Das werde ich«, sagte Matthew, und er wußte, daß dies das wichtigste Versprechen von allen war. Der alte Mann nickte, klopfte ihm mit seinem Stock auf die Schulter und stieg in den Wagen. Matthew stand auf dem Bürgersteig und sah ihn wegfahren. Er hatte das Gefühl, daß ein Teil seines eigenen Lebens in diesem Wagen davonfuhr. Zum Abschied hob er seine Hand, und der Kapitän winkte ihm zu. Dann fuhr der schwarze Mercedes um die Ecke und verschwand aus seinem Blickfeld.
* Erst nachdem Matthew beim Anwalt gewesen war, würde er Madge von Amerika erzählen. Der Besuch, so stellte er fest, war noch routinemäßiger als er erwartet hatte. Seine Zukunft wurde vor ihm ausgebreitet, ordentlich und sauber, ohne daß er vorher gefragt worden war. Sein Flugticket war bereits gekauft. Für ›Ausgaben während der Reise«‹ war ihm Geld überwiesen worden. Am anderen Ende der Welt würde er abgeholt werden. Und in der Zwischenzeit konnte er einen Brief von seiner angeheirateten Tante Mrs. Madeleine (Della) Grant lesen. Der Anwalt John Harvey war so ruhig und steif wie immer, aber seine intelligenten braunen Augen blickten mitleidig, als er Matthew 158
den Brief überreichte. Sogar ihm erschienen die Vorkehrungen ziemlich kalt und gefühllos. Schweigend öffnete Matthew den Brief. Bis jetzt hatte er zu den Anweisungen nichts weiter als: »Ja, ich verstehe« gesagt. Lieber Matthew (der Brief war in einer deutlichen, ziemlich kindlichen Handschrift geschrieben), ich hoffe, daß die Vorkehrungen ausreichend sind und daß du keine Schwierigkeiten bei der Reise haben wirst. Wir freuen uns, dich hier begrüßen zu können. San Diego ist eine wunderbare Stadt, und ich hoffe, daß du sie mögen wirst. Mit freundlichen Grüßen, Della Grant. Das war alles. Kein Wort über familiäre Gefühle oder ein freundliches Willkommen. Der Brief war höflich und ziemlich kühl gehalten. Aber, dachte Matthew und zuckte in Gedanken mit den Schultern, was habe ich erwartet? Sie kennen mich nicht. Ich wurde ihnen von den Anwälten aufgehalst. Warum sollten sie mich herzlich willkommen heißen? Aber das machte die Aussicht auf die weite Reise zu ihnen nicht verlockender. Ein Gefühl von Furcht und Mißtrauen überkam ihn. Er wünschte sich von ganzem Herzen, daß er nicht zu ihnen reisen müßte. Daß er bei Madge, Jim und den Kindern bleiben könnte. Dort wußte er wenigstens, daß er immer willkommen und auch eine Hilfe sein würde – besonders für den ungestümen kleinen Schrecken namens Jampy. Ja. Jampy. Was würde er wohl für eine Szene machen, wenn Matthew ihm erzählte, daß er wieder weggehen würde? Ein Schauer überlief ihn, und entschlossen verdrängte er den Gedanken an Jampy. »… noch etwas?« fragte John Harvey. Matthew blickte verständnislos drein. »Wie bitte?« »Möchtest du noch etwas wissen?« Matthew dachte nach. »Ja. Was passiert, wenn wir nicht miteinander klarkommen? Wenn es Schwierigkeiten gibt?« Der Anwalt nickte. »Ich dachte mir, daß du das wissen willst. Mit sechzehn kannst du natürlich allein entscheiden, was du tun möchtest.« »Kann ich das? Gibt es da keine Gesetze?« 159
»Nur wenn sie den Antrag stellen, dein gesetzlicher Vormund zu werden, oder wenn sie dich adoptieren. Bis jetzt haben sie nichts dergleichen beantragt.« »Könnten sie?« »Ja. Aber ich glaube, daß sie erst einmal abwarten wollen, wie sich die Dinge entwickeln.« Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht. »Schließlich tappen sie ja genau wie du im Dunklen.« »Ja, natürlich.« Das sah Matthew ein. Aber plötzlich dachte er an etwas anderes. »Das Flugticket – ich nehme an, es ist nur für den Hinflug?« »Ja.« Harvey wußte, was Matthew auf dem Herzen lag. »Erinnerst du dich, daß ich etwas Geld, das dir gehört, treuhänderisch verwalte? Vielleicht würdest du es annehmen, wenn du wüßtest, daß du damit wieder nach Hause kommen könntest.« Matthew blickte beschämt drein. »Vielleicht würde ich das«, gab er zu. »Dann ist das ja geklärt«, sagte John Harvey munter. »Du brauchst mir nur ein SOS zu senden, und ich werde dafür sorgen, daß du das Geld bekommst. Aber darf ich dir vielleicht vorschlagen, daß du deiner Tante in Amerika zuerst eine faire Chance gibst?« »Ja«, stimmte Matthew zu. »Das habe ich vor.«
* Als er es Madge und den Kindern erzählte, machte Jampy die erwartete Szene – und was für eine. Er wütete, brüllte und sah Matthew entrüstet mit Tränen in den Augen an, in denen sich ganz deutlich das Wort ›Verräter‹ widerspiegelte. Er warf sich auf den Boden, trat um sich und wollte sich nicht trösten lassen. »Du hast es versprochen«, schluchzte er. »Du kommst zurück, hast du gesagt.« Er funkelte Matthew wütend an. »Du kannst nicht wieder weggehen.« Geduldig versuchte Matthew, ihm von seiner Tante, von einer eigenen Familie und von seinem neuen Zuhause in Amerika zu erzählen. 160
Aber das machte es nur noch schlimmer. Jampy stampfte mit den Füßen und brüllte: »Hier ist dein Zuhause!« Hilflos sah Matthew Madge an. Er traute sich nicht zu sagen, was er dachte – nämlich, daß er der gleichen Meinung war wie Jampy. Hier war sein Zuhause. Diese kleine düstere Sozialwohnung, die zum Bersten voll war mit Kindern, Spielsachen und Wäsche. Madge, die sich bemühte, Ordnung zu halten, und zwei Jobs auf einmal machte und Jim, der in der Ecke geduldig seine Pfeife rauchte, wenn er gerade nicht das Baby versorgte oder beim Putzen half … Es war kaum genug Platz, um sich umzudrehen, es gab keine Privatsphäre, ganz zu schweigen davon, daß er irgendwo mit seiner Gitarre üben konnte. Nur eine harte Bettcouch, auf der er schlafen konnte … aber trotzdem waren alle herzlich und freundlich – es war genau das Zuhause, das er sich wünschte. »Es ist doch nicht so schlimm, Jampy, mein Schatz«, sagte Madge. Sie nahm den kleinen Jungen hoch und drückte ihn fest an sich, so daß er mit seinen wild um sich schlagenden Armen wie ein sich windender Tintenfisch aussah. »Er wird zurückkommen.« Sie sah in Matthews gequältes Gesicht und wußte genau, was ihn bedrückte. »Er weiß auch, daß dies hier sein Zuhause ist.« »Auch-Zuhause?« wiederholte Jampy und bedachte Matthew mit einem wütenden Blick. »Auch-Zuhause«, stimmte Matthew zu. Und bevor er sich vor allen anderen lächerlich machte und so laut wie Jampy losheulte, wandte er sich hastig ab und stopfte seine wenigen Sachen in seine Reisetasche. Schweigend beobachtete Jim Farley ihn. Dann nahm er seine Pfeife aus dem Mund und fügte Madges Worten nur einen Satz hinzu: »Vergiß das nicht.«
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Teil 3 Wer an sich eine Freude bindet …
Der Flug nach San Diego war lang und verlief ohne Zwi-
schenfälle. Er mußte in New York umsteigen, und einen Augenblick wurde er von Panik überwältigt, da er nicht wußte, wohin er gehen mußte. Aber dann wurde er mit den anderen Passagieren in die richtige Richtung bugsiert und befand sich schon bald wieder in der Luft. Das einzige, was er von New York sah, war die berühmte Skyline, die im hellen, winterlichen Sonnenschein deutlich auszumachen war. Der erste Anblick von San Diego überraschte ihn sogar noch mehr. Alles schien aus blauem Meer, weißen Gebäuden und goldenem Sonnenschein zu bestehen. Die Silhouette der Stadt spiegelte sich glitzernd wie eine Fata Morgana in dem Wasser der Bucht wider. Er betrat das Flughafengebäude, war aber zu benommen, um sich nach jemandem umzusehen, der ihn abholen wollte. Als er den Zoll und die Ausweiskontrolle passierte, war sein Geist immer noch wie gelähmt von den neuen Eindrücken. Nervös umklammerte er seinen Paß. Schließlich hörte er, wie jemand hinter ihm mit fester Stimme und englischem Akzent fragte: »Matthew? Matthew Ferguson?« Er drehte sich schnell um und sah eine große, elegante Frau, die einen weißen Hosenanzug trug und deren goldener Schmuck in der Sonne glitzerte. Sie hatte ein eckiges Gesicht, wirkte sehr vertrauenswürdig, und ihre grauen Augen hatten mit seinen eine gewisse Ähnlichkeit – und sie war genauso unsicher. Ihr Haar war aschblond, und die Spitzen ihrer Locken, die das Gesicht umrahmten, waren silbern gefärbt, wie es im Augenblick gerade Mode war. Della Grant betrachtete den schüchternen Jungen mit den tiefen graugrünen Augen seines Vaters und mit demselben goldbronzenen Haar, das genau wie damals bei seinem Vater unbändig von der Stirn abstand. Er sieht entmutigt aus, dachte sie. Doch die Form seines Mundes zeigte Entschlossenheit. In seinem Gesicht bildeten sich 163
gerade die festen Linien eines jungen Erwachsenen, und man sah schon, daß er einmal gut aussehen würde. Er ähnelte seinem Vater – dem jungen Mann von einst –, so sehr, daß sie überrascht den Atem anhielt. »Du mußt Matthew sein«, sagte sie und reichte ihm die Hand. »Du kannst gar nicht jemand anderes sein.« »Warum?« fragte er, nahm ihre Hand und fand, daß seine Tante herzlicher und freundlicher war, als er angenommen hatte. »Du hast soviel Ähnlichkeit mit deinem Vater«, antwortete sie. Als sie Matthews plötzliche Verwirrung bemerkte, entschloß sie sich, das Kommando zu übernehmen und keine Zeit zu verlieren. »Komm mit. Ist das dein ganzes Gepäck?« Sie schob ihn nach draußen ins glitzernde Sonnenlicht zu einem hellgrünen Roadster. Sie fuhr zügig. Zwischen den weißen Gebäuden konnte er dann und wann den blauen Pazifik sehen. »Morgen kannst du dich umsehen«, sagte sie und deutete auf das Meer, die hellen Jachten in der Bucht und die hohen Masten und Kräne im geschäftigen Hafen. »Ich nehme an, daß du jetzt eine Dusche und etwas englischen Tee gut gebrauchen könntest.« Er fing ihren Seitenblick auf und grinste. »Das erinnert mich richtig an England.« Sie antwortete ohne zu zögern: »Ich bin ja auch Engländerin. Ich komme wie du aus London. Dann habe ich den Bruder deines Vaters geheiratet – deinen Onkel Ned, um genau zu sein – und wir zogen nach Edinburgh.« Wieder warf sie ihm einen Seitenblick zu. Dann fügte sie wehmütig hinzu: »Aber seitdem … Ich wohne hier schon so lange, daß ich mich manchmal schon fast wie eine Amerikanerin fühle.« »Vermißt du England? Oder Schottland, meine ich?« Er wußte nicht, was ihn bewogen hatte, das zu fragen – außer, daß er England trotz all der sonnenbeschienenen Pracht jetzt schon vermißte. »Ja. Manchmal.« Ihre Lippen waren zusammengepreßt, es schien, als ob er ein Thema angesprochen hatte, das tabu war. Aber dann zeigte sie auf ein näherkommendes Autobahnkreuz, von dem breite Straßen abgingen, und sagte knapp: »Dort hinten wohnen wir.« 164
Sie erreichten eine hübsche Wohnanlage. In der Mitte der Anlage befand sich ein grasbewachsener Platz, der von Palmen umsäumt war. Der Fahrstuhl brachte sie in den dritten Stock. Dort öffnete Della die Wohnungstür, und sie betraten eine große, sonnendurchflutete Wohnung. Das Wohnzimmer war groß, hatte an einer Seite eine große Fensterfront, und zwischen zwei anderen großen, weißen Blocks konnte man den allgegenwärtigen Pazifik sehen. Ein elegant eingerichtetes Schlafzimmer mit zwei Betten und ein kleineres Schlafzimmer, von dem man ebenfalls den Ozean sehen konnte, gingen vom Wohnzimmer ab. Das kleinere Zimmer war einfach eingerichtet, hatte ein Bett, ein eigenes kleines Badezimmer, eine eingebaute Garderobe und einen kleinen, weißen Schreibtisch. Eine helle, indianische Decke lag auf dem Bett, und an einer Wand hing ein Bild von einer Jacht, die hart am Wind segelte. »Das ist dein Zimmer«, sagte Della. »Ich hoffe, du hast genügend Platz für deine Sachen.« Sie warf einen kurzen Blick auf seine kleine Reisetasche und lächelte. »Sieht nicht so aus, als ob du viel mitgebracht hast.« Matthew sagte nicht: Das ist alles, was ich besitze. Sie wußte es bestimmt. »Komm zu mir, wenn du fertig bist«, sagte sie über ihre Schulter. »Ich lasse dich allein, damit du auspacken kannst. Des kommt erst spät zurück, so daß wir Zeit zum Plaudern haben.« Was meint sie mit ›plaudern‹? fragte sich Matthew grimmig. Unangenehme Fragen über meine Mutter … Und ich frage mich, ob sie über meinen Vater sprechen wird. Bis jetzt hat das noch niemand getan. Auf einmal überfiel ihn ein plötzliches, leidenschaftliches Verlangen, mehr über diese unbekannte, schemenhafte Gestalt zu erfahren. Er hatte ihn nie richtig kennengelernt – niemals richtig verstanden, was mit ihm geschehen war. Das einzige, woran er sich erinnerte, war eine verschwommene Gestalt, die von seiner Mutter angeschrieen wurde. Aber sie hatte ohnehin alle angeschrieen. Und die meisten hatten zurückgebrüllt. Obwohl er sich sonderbarerweise nicht an die Stimme seines Vaters erinnern konnte. 165
Seufzend gab er sich einen Ruck, zog seine von der Reise verschwitzten Sachen aus und ging unter die Dusche. Um sein Selbstvertrauen zu stärken, zog er danach das andere Paar Jeans und das neue T-Shirt mit dem Aufdruck ›Porthgwillick-Aqua-Club‹ an. Er rieb sein Haar mit einem Handtuch trocken und begab sich auf die Suche nach Della. Sie war in der Küche und machte Eier und Bratkartoffeln. »Setz dich hin«, wies sie ihn an und zeigte mit dem Daumen auf die Barhocker am Tresen. »Ich hoffe, du hast Hunger.« Zuerst dachte Matthew, daß er nicht hungrig war. Aber dann schmeckte das Essen doch, und ehe er sich versah, war der Teller leer. »Das hat toll geschmeckt«, sagte er dankbar. Della blickte ihn nachdenklich an. »Ich erkläre dir besser, wie das alles bei uns abläuft«, sagte sie schließlich. »Des und ich arbeiten beide ganztags. Ich komme gegen fünf nach Hause. Des hat keine festen Zeiten. Er ist im Versicherungswesen tätig und fährt, wenn er gerufen wird, zu jedem gottverdammten Platz unter der Sonne.« »Was für einen Job hast du?« »Oh, ich arbeite in einer Boutique in der Innenstadt. Die Arbeit ist in Ordnung – nicht zu schwer, es sei denn, es ist Schlußverkauf –, und ich habe gerne mit Menschen zu tun.« Matthew nickte. »Also kannst du tagsüber machen, was du willst.« Ihr Lächeln war immer noch ein bißchen verhalten. »In San Diego gibt es viel zu sehen. Du solltest den Zoo besuchen, er ist berühmt. Und Sea World. Dort gibt es Killerwale und andere Tiere.« »Auch Delphine?« »Aber sicher. Delphine. Magst du Delphine?« Matthew schluckte. »Ich kannte mal einen … in Cornwall.« »War es ein freilebender Delphin?« »Ja.« Sie sah ihn überrascht an. »Na ja, ich glaube, sie sind ziemlich zahm. Sie machen Kunststücke und so weiter. Und sie kommen, wenn sie gerufen werden.« Flite kam, wenn er gerufen wurde, dachte Matthew. Und auch, wenn 166
er nicht gerufen wurde. Aber ich kann ihr das nicht erzählen. Sie würde es nicht verstehen. »Normalerweise essen wir ziemlich spät. Manchmal gehen wir auch am Strand essen. Des mag Fisch. Du auch?« »Ob ich Fisch mag?« Die Gedanken wirbelten in Matthews Kopf. »Oh, oh ja.« »Ich habe gesehen, daß du deine Gitarre mitgebracht hast. Der Anwalt sagte mir, daß du gut spielst und daß ich dafür sorgen sollte, daß du es nicht aufgibst. Stimmt das?« Matthew nickte. Es war nett von John Harvey, daß er das für ihn getan hatte. Den Weg geebnet. Vielleicht konnte er hier tagsüber üben, wenn alle aus dem Haus waren. »Am Abend mag Des nicht allzuviel Lärm«, sagte Della. »Es sei denn, er sieht ein Baseballspiel mit seiner Lieblingsmannschaft im Fernsehen – dann würde er nicht einmal ein Erdbeben bemerken.« Sie lachten beide, aber Matthew hatte Dellas Warnung verstanden. »Was die Schule angeht …«, sagte sie plötzlich. »Möchtest du aufs College gehen?« Matthew antwortete entschieden: »Nein. Ich würde gerne einen Computerkurs an der Abendschule belegen. Tagsüber möchte ich arbeiten.« »Mit sechzehn?« »Gibt es keine Arbeit?« »Sicher. Aber keine qualifizierte. Man verdient nicht sehr viel dabei. Macht dir das nichts aus?« Er zuckte mit den Schultern. »Solange ich unabhängig bin.« »Du magst es nicht, wenn du jemandem zu Dank verpflichtet bist, nicht wahr?« »Das stimmt«, antwortete er schüchtern. »Aber das bedeutet nicht …« »Du bist nicht undankbar, ich weiß.« Für kurze Zeit schwieg sie und sagte dann plötzlich: »Du mußt nicht dankbar sein, Matt. Ich möchte mich um dich kümmern. Ich habe deinen Vater sehr gern gehabt.« 167
»Könntest du mir von ihm erzählen? Ich weiß so wenig über ihn.« Als er sprach, schreckte sie hoch, denn sie war tief in Gedanken gewesen. »Was?« Sie strich einige Haarlocken aus der Stirn, als ob sie unerträgliche Erinnerungen wegwischen wollte. »Als ich ihn kennenlernte, war er jung und sah ziemlich gut aus. Ich heiratete seinen älteren Bruder, Ned. Michael traf ich erst bei der Hochzeit.« »Michael? Hieß er so?« »Wußtest du nicht einmal das?« Er schüttelte den Kopf. »Meine Mutter hat nie über ihn gesprochen.« Er sah, wie sie die Lippen zusammenpreßte, als er seine Mutter erwähnte, und dachte verzweifelt: Was kann ich tun, damit sie mir alles erzählt? Jede Erwähnung meiner Mutter bringt alle um mich herum zum Schweigen. »Was für einen Job hatte er?« fragte er schließlich. »Job? Oh, er war Bauingenieur. Straßen, Brücken und so weiter.« Sie lächelte plötzlich, und die Erinnerung ließ sie viel jünger und sanfter erscheinen. »Und Sterne.« »Sterne?« »Er interessierte sich für Astronomie. Einmal hat er mich mitgenommen, und ich habe durch das riesige Teleskop geblickt, das im Greenwich Observatorium steht … Allerdings glaube ich, daß es jetzt woanders hingebracht worden ist.« »Astronomie?« »Quasare und Lichtjahre. Du weißt schon – Wissenschaft, Mathematik.« Sie sah ihn an, und ihre Augen flackerten. »Du hast es auch im Blut, oder? Computer und solche Sachen?« Aber Matthew dachte gerade an etwas anderes und reagierte nicht auf ihre Frage. »War er gut?« »Als Ingenieur oder als Astronom?« »Beides.« Sie lachte. »Ja. Er war auf beiden Gebieten verdammt gut, würde ich sagen. Seine Brücken haben Auszeichnungen gewonnen, glaube ich.« Einen Augenblick hing sie ihren Gedanken nach. »Er war immer schon sehr intelligent, pflegte Ned zu sagen. Wir konnten nicht verstehen, warum er …« 168
»Warum er meine Mutter geheiratet hat?« Matthew schwieg einen Moment. »Er hat sie doch geheiratet, oder?« Erstaunt sah sie ihn an. »Ob er sie geheiratet hat? Aber ja. Was dachtest du denn?« Matthew zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Sie hat nie über ihn gesprochen. Ich habe mir nur Gedanken gemacht.« »Es konnte nicht gutgehen, Matt. Wirklich nicht. Sie waren so verschieden.« Della blickte ihn wieder forschend an und fragte sich, wieviel sie erzählen sollte. »Du mußt doch bemerkt haben …?« »Daß meine Mutter ein Flittchen war?« Seine Stimme klang tonlos. »Aber ja. Sie hatte immer Freunde. Immer neue. Sie blieben nie lange.« Sie nickte schweigend. Dann sagte sie mit plötzlicher Freundlichkeit: »Machte es dir nichts aus?« Wieder zuckte er mit den Schultern. »Eigentlich nicht. Ich habe nie etwas anderes gekannt.« Der müde, weltkluge Ton in der jungen Stimme ließ Della Grant frösteln. Was für ein trost- und liebloses Leben hatte der Junge bis heute geführt. Und konnte sie es überhaupt wiedergutmachen? Jetzt, wo es schon zu spät war, ihm seine Kindheit wiederzugeben? Konnte sie ihm hier wenigstens etwas Stabilität und Zuneigung geben? Zuneigung? Oder würde er sich weigern, sie anzunehmen – wie sein Vater damals? »Also«, sagte sie und versuchte dabei, praktisch und freundlich zu klingen, »es ist nicht gut, der Vergangenheit nachzuhängen. Du bist hier, um dich zur Abwechslung einmal ein bißchen zu amüsieren. Ich schlage vor, daß du ein paar Wochen damit verbringst, dich hier zurechtzufinden, und dir dann einen Job suchst. Du brauchst dich nicht zu beeilen.« Sie wagte ein zweites, freundlicheres Lächeln. »Wir haben keine Geldsorgen, Des und ich. Und wir möchten, daß du hier glücklich bist. In Ordnung?« Matthew stimmte zu, aber innerlich seufzte er, weil er wieder nicht die Wahrheit über seinen Vater erfahren hatte. Verlegen legte Della ihre Hand auf Matthews Schulter. »Du brauchst 169
dich ja nicht sofort zu entscheiden. Wir sollten uns erst einmal besser kennenlernen, nicht wahr?« Er sah hoch und erwiderte zaghaft ihr Lächeln. »Ist gut.«
* Des kam nach Hause. Er war ein großer Mann und schlug Matthew auf die Schultern: »Hallo, Junge.« Dann rief er laut nach einem kalten Bier und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Matthew war zu schüchtern, um viel zu sagen. Er wartete darauf, daß Des den Anfang machen würde. Aber der große Mann schien seine Anwesenheit unbekümmert hinzunehmen und verfolgte seine übliche Abendroutine, ohne Fragen zu stellen. Matthew war inzwischen sehr müde. Er rechnete aus, daß es nach englischer Zeit jetzt wahrscheinlich vier Uhr morgens wäre. Aber hier in San Diego war es immer noch hell, und die Sonne zauberte eine goldene Abendstimmung über die Stadt und ihre blaue Bucht. »Della«, sagte Des und winkte träge mit seiner Bierdose, »wir sollten heute abend am Strand essen gehen und eine kleine Feier veranstalten.« Della zögerte und sah Matthew an. Sie wußte, wie erschöpft er inzwischen sein mußte. »Ich weiß nicht, Des. Matt ist wahrscheinlich ziemlich müde.« »Natürlich ist er müde«, stimmte Des zu und lachte laut. »Die beste Art, mit der Zeitverschiebung fertigzuwerden, ist, sie zu ignorieren.« Schwerfällig stand er auf und schlug Matthew noch einmal herzlich auf den Rücken. »Okay, Matt?« »Okay«, antwortete Matthew nicht besonders begeistert. »Du mußt dir die Stadt ansehen«, fügte Des hinzu und griff nach seinen Autoschlüsseln und seiner Brieftasche. »Du sollst sehen, wo du gelandet bist, Junge. Du mußt den Fisch probieren, okay?« »Okay«, stimmte Matthew zum zweiten Mal zu.
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Matthew war von Anfang an klar gewesen, daß er seine eigenen Freundschaften schließen mußte. Das war aber nicht so leicht. Della und Des waren den ganzen Tag unterwegs. Am Abend blieben sie entweder zu Hause und hatten Freunde zu Besuch, oder sie gingen in eines der vielen San Diegoer Restaurants am Strand und trafen sich mit anderen Freunden zum Essen. Meistens handelte es sich dabei um Leute in ihrem Alter, die zwar nett zu Matthew waren, ihn aber eher wie ein besonders zahmes Ausstellungsstück im San Diego Zoo behandelten. Einige von ihnen hatten Kinder in seinem Alter, die sich ihnen ab und zu einmal anschlossen, die aber meistens mit ihren eigenen Freunden loszogen. Ein- oder zweimal hatten sie Matthew eingeladen mitzukommen, aber er verspürte keine große Lust, in ihre Freizeitbeschäftigungen miteinbezogen zu werden – Drachenfliegen, Windsurfen, die endlosen Spiele am Strand und Grillfeten, die Diskotheken und verräucherten Bars, die neuesten Trends wie Breakdance, Crack und so weiter … Er wußte, daß diese unbekümmerten jungen Leute ihn linkisch und steif fanden. Dann aber brachte er seine Gitarre mit, und von da an hatte er seine eigene kleine Schar von begeisterten Anhängern. Des versuchte angestrengt, den wohlwollenden Onkel zu spielen. Er bestand darauf, ihn an den Wochenenden in den Zoo und nach Sea World mitzunehmen. So als ob ich ein kleiner Junge wäre, der in den Schulferien überall mit hingenommen wird, dachte Matthew trocken. Der San Diego Zoo war jedoch so großzügig angelegt, daß er ihnen fast verzieh, daß sie wilde Tiere in Gefangenschaft hielten. Aber Sea World war eine andere Sache. Er hatte versucht, den Vorführungen der Killerwale und Delphine zu entgehen, aber Des bestand fröhlich darauf, daß es etwas ganz Aufsehenerregendes wäre und daß er es genießen würde. Matthew haßte jede Minute der Show. Am liebsten wäre er nach unten gegangen und hätte die Schleusentore geöffnet und die Tiere alle freigelassen. Er wollte, daß die Menge fortging und aufhörte, so dumm zu schreien. Er wollte diese gehetzten Wesen in seine Arme schließen und sagen: »Es ist alles in Ordnung. Ihr braucht keine Tricks mehr vorzuführen, um eure Wächter zufriedenzustellen. Ihr werdet nicht mehr schikaniert, drangsaliert und erniedrigt. Ihr seid 171
frei und könnt gehen, wo immer ihr hinwollt. Der große, weite Ozean dort draußen ist kühl und ruhig – und er wartet auf euch.« Aber er konnte es nicht. Natürlich konnte er es nicht. Da waren sie nun, diese dressierten, eleganten Wesen, sprangen und tauchten geordnet nebeneinander, spielten ihre eingeübten Spiele, zeigten ihre wunderbare Akrobatik und kamen mit ihrem einnehmenden Lächeln an die Oberfläche, um den Applaus entgegenzunehmen. Als er sie beobachtete, wollte Matthew am liebsten vor Scham sterben. Wie können wir nur so etwas tun, dachte er. Wie ertragen die Tiere das nur? Oder haben sie vergessen, was es heißt, frei zu sein? Dort draußen in freier Wildbahn sein eigener Herr zu sein? Wenn ich nur ihre Flossen berühren und es ihnen sagen könnte … Aber was sollte ich ihnen sagen? Daß die Menschheit nicht so schlimm ist, wie sie denken? Oder daß es besser ist, in Sicherheit und gut gefüttert in einem Wasserbecken zu schwimmen und von Tausenden von Augen angestarrt zu werden als in freier Wildbahn zu leben? Und wahrscheinlich, dachte er, würden diese Tiere, wenn man sie jetzt freilassen würde, nicht überleben. Sie wüßten nicht, wie sie sich selbst versorgen sollten. Oder doch? »Sie genießen es, mußt du wissen«, sagte Della, die Matthews Gesicht gesehen hatte und seine Gedanken erahnte. »Wirklich?« antwortete Matthew bissig. »Woher willst du das wissen?« Die Frage stand zwischen ihnen im Raum. Des nahm den Faden wieder auf: »In ihren Herzen sind sie alle wie Clowns. Sie lieben es, wenn sie Kunststücke vorführen können. Sieh sie dir an!« Er grinste und stieß Matthew mit dem Ellbogen an. »Sie wissen, was gut für sie ist.« Matthew seufzte und konnte gerade noch an sich halten, bevor er wieder ›wirklich?‹ sagte. Dann bemerkte er, daß ihn ein Mädchen ansah, das ganz in seiner Nähe am Geländer stand. Sie saß nicht auf ihrem Sitz wie der Rest des Publikums, sondern sah aus, als ob sie gleich gehen wollte. Sie war schlank und braungebrannt, hatte eine wirre schwarze Mähne und sah sehr zornig aus. »Sie geben ein Bild des Jammers ab«, sagte sie zu Matthew. Matthew 172
wußte nicht, ob sie die Tiere oder das Publikum meinte, das immer wieder in Ohs und Ahs ausbrach. Dann zeigte sie mit dem Daumen auf den Ausgang. »Kommst du mit?« Sie ging los, ohne seine Antwort abzuwarten. »Entschuldigt mich bitte einen Augenblick«, sagte er höflich zu Des und Della. Er folgte dem Mädchen und ließ den Lärm und die dressierten Tiere hinter sich. Sie wartete schon auf ihn. Zwei junge, langhaarige Männer standen bei ihr. Sie waren älter als Matthew, trugen Shorts und Hawaiihemden und stellten stolz ihre braungebrannten Körper zur Schau, so wie sie alle Bewohner von San Diego zu haben schienen. »Ich bin Tracey, und das sind Bud und Spike.« »Hallo«, begrüßten sie ihn locker. »Matt«, stellte er sich vor, weil er das Gefühl hatte, daß der Name in dieser Gesellschaft passender wäre. »Tierschutz«, fügte Tracey ohne weitere Erklärung hinzu. Dann entließ sie ihre beiden Freunde mit einem Nicken. »Bis heute abend. Bei mir. Um acht.« Sie nickten, grinsten Matthew an und gingen in verschiedene Richtungen davon. Tracey beobachtete die beiden und drehte sich dann zu Matthew um. »Dir hat die Show nicht besonders gefallen, oder?« Matthew schüttelte den Kopf. »Nein. Es kommt mir alles so … entwürdigend vor. Delphine sind so edle Wesen.« »Bist du Engländer?« fragte sie plötzlich. Er nickte. »Du kennst dich mit Delphinen aus?« »Manchmal kommen sie sogar in unsere kalten, englischen Gewässer.« Erstaunt musterte sie ihn. »Du hast welche gesehen?« Er zögerte und fragte sich, wieviel er diesem Mädchen, das er kaum kannte, anvertrauen sollte. »Ich kannte einmal einen freilebenden Delphin.« Sie wartete, aber als er nicht mehr sagte, nickte sie, als ob dies ihre 173
Einschätzung von Matthew bestätigen würde. »Hast du die Grauen herunterschwimmen sehen?« »Die Grauen?« »Grauwale. Freilebende«, fügte sie hinzu, und ihre Stimme klang plötzlich bitter. »Die, die an der Küste entlangschwimmen.« »Oh.« Er wußte immer noch nicht worauf sie hinauswollte. »Nein.« »Komm mit.« Er zögerte und fragte sich, ob er Della und Des Bescheid sagen sollte. Dann dachte er: Zur Hölle. Sie haben gesehen, wie ich nach draußen ging. Sie werden sich schon keine Sorgen machen. Tracey hatte sich nicht darum gekümmert, ob er ihr folgte oder nicht. Sie war schon auf ihren Fly geklettert und gab ihm zu verstehen, daß er sich hinter sie setzen sollte. Sie fuhren die Küstenstraße entlang bis Point Loma. Dort standen schon einige Leute und genossen den Blick auf San Diego. Aber einige von ihnen sahen nicht auf die zur Linken gelegene Stadt, sondern blickten aufs Meer hinaus, wo sich im ruhigen Pazifik ein langsamer Zug von dunklen, grauen Buckeln beständig die Küste hinunter bewegte. Von Zeit zu Zeit kamen sie an die Oberfläche um zu atmen. Dann krümmten sie sich, wurden zu einem riesigen, glitzernden Wall, tauchten tief ins Wasser und erzeugten mit der sich hebenden Schwanzflosse einen großen Gischtregen. Matthew war fasziniert. »Wohin schwimmen sie?« fragte er. »Zur Scammon's Lagoon«, antwortete Tracey. »Sie bringen dort ihre Jungen zur Welt. Sie kommen aus dem Beringmeer – die ganze Strecke herunter. Jedes Jahr.« »Wundervoll«, flüsterte Matthew. »Das ist es. Keiner weiß, warum sie das eigentlich tun. Oder wie sie wissen, wohin sie schwimmen müssen.« Matthew starrte aufs Meer hinaus, auf den langen, langsamen Zug der dunklen Buckel. »Meistens schwimmen sie in Gruppen. Ich nehme an, daß sie sich unterhalten – die Alten sagen den Jungen, daß sie da unten in Sicherheit sind.« 174
»Ist es dort denn sicher?« fragte Matthew mit ängstlichem Gesicht. »Oh ja. Jetzt ja. Sie sind geschützt. Sogar die Walbeobachtung ist eingeschränkt worden – für den Fall, daß es sie erschreckt. Die Kühe können gefährlich werden, wenn ihre Nachkommenschaft bedroht ist.« »Da kann ich ihnen keinen Vorwurf machen.« Sie sah ihn nachdenklich an. »Du solltest dorthin fahren.« »Wohin?« »Zur Scammon's Lagoon. Sieh es dir selbst an.« »Ich würde nur zu gerne«, seufzte er, »aber …« »Du bist mit deinen Leuten da. Weiß ich. Ich habe sie gesehen.« Sie schnitt eine Grimasse. »Kannst du dich nicht freimachen?« Er zögerte. »So einfach ist das nicht. Die Dinge sind ein bißchen … ahm … komplizierter.« Sie nickte. »Das ist nicht nur bei dir so.« »Wirst du dorthin fahren?« fragte er plötzlich und wußte eigentlich gar nicht, warum er diese Frage stellte. »Vielleicht. Aber zuerst muß ich noch einige andere Dinge erledigen.« »Welche?« Jetzt zögerte sie. »Bist du im Tierschutz engagiert?« »Noch nicht. Aber ich interessiere mich dafür.« Sie nickte. Dann hob sie ihre Hand und zeigte die Küste hinunter. »Siehst du das da hinten? Sperrgebiet. US Navy. Weißt du, was sie tun? Sie trainieren Delphine darauf, Sprengladungen an U-Booten anzubringen. Außerdem sollen sie gegen Froschmänner eingesetzt werden.« Matthew war entsetzt. »Sie kaufen sie von den Japanern. Delphine können tief tauchen, mußt du wissen. Tiefer als die Navy gedacht hat. Sie beginnen gerade mit dem Training. Du kannst dir vorstellen, was für ein Leben die Delphine führen.« »Ja.« Matthew machte ein zorniges Gesicht. »Das ist ungeheuerlich.« Dann sah er Tracey an und fragte: »Was können wir dagegen unternehmen?« 175
»Protestieren«, antwortete sie sofort. »Mit Transparenten. Die Medien informieren. Je mehr Aufsehen wir erregen, desto besser. Und vielleicht …« Aber an der Stelle unterbrach sie sich. In Matthews Gedanken rief eine weit entfernte Stimme vom bretonischen Strand, auf dem die fünfzehn toten Delphine gelegen hatten, die gleichen Worte: »Darüber reden! Schreiben! … Beschäme sie, so daß sie etwas dagegen tun.« Und dann Skips Stimme, die trocken und traurig zugleich klang: »Kann man sie beschämen?« »Wenn du interessiert bist«, forderte Tracey ihn auf, »bei mir findet Freitag ein Treffen statt. Wir planen einen Protestmarsch. Kommst du?« »Ja«, antwortete Matthew ohne zu zögern. Zufrieden nickte sie ihm zu und drehte dann den Kopf, um einen letzten Blick auf den geduldigen Zug der Grauwale zu werfen, die langsam die sonnenbeschienene Küste von Kalifornien herunterschwammen.
* Della und Des schienen nicht besonders verärgert darüber zu sein, daß er Sea World verlassen hatte. Sie akzeptierten seine Begründung, daß ihm schlecht geworden war, und nahmen an, daß die Hitze ihm zu schaffen machte. Aber als er Tracey und das Treffen erwähnte, war Des absolut nicht begeistert. »Bei diesen Typen mußt du aufpassen, Junge. Das sind alles Unruhestifter.« »Aber ich …« »Rowdies und Tagediebe. Sie denken, daß sie die Welt durch Gewalt ändern können.« Er nahm noch einen Schluck eisgekühltes Bier – er hatte eigentlich fast immer eine Bierdose in der Hand – und machte eine verächtliche Handbewegung. »Halte dich von ihnen fern.« Matthew warf Della einen flehenden Blick zu. Aber sie wühlte gerade in ihrer Handtasche und suchte nach Zigaretten. »Ihre Ideale sind vielleicht in Ordnung«, sagte sie und steckte sich 176
eine Zigarette an, »aber sie sind selbst schuld an ihrem schlechten Ruf. Du weißt schon … Zäune zerschneiden, Käfige öffnen und sogar die eine oder andere Bombe werfen. Damit handelst du dir weiß Gott was für Schwierigkeiten ein. Des hat recht. Halte dich lieber von ihnen fern.«
* Nachdem er so ziemlich alle Sehenswürdigkeiten von San Diego besichtigt hatte, beschloß Matthew, nicht länger untätig herumzusitzen und schrieb sich für einen Computerkurs ein, der einmal wöchentlich stattfand. Dann ging er in die Innenstadt und suchte sich einen Job. Mosky war ein kleiner, drahtiger Jude, der ein Restaurant und nebenbei einen Buchladen führte – oder vielleicht war es auch anders herum. Er sah Matthew von oben bis unten an und sagte plötzlich: »Sprich.« »Was?« »Sprich.« Matthew sah ihn verwirrt an. »Was soll ich denn sagen?« Mosky grinste. »Du hast es schon gesagt, Junge. Ich wollte nur deinen englischen Akzent hören.« Matthew fühlte sich plötzlich ermutigt. »Warum?« »Ich gehe davon aus, daß du lesen kannst?« »Natürlich.« »Das ist überhaupt nicht natürlich. Die meisten Kinder können es heutzutage nicht und werden es auch nicht lernen.« Er zeigte mit seiner braungebrannten Hand auf die mit Büchern gefüllten Regale, die Matthew hinter den Tischen im Restaurant wage sehen konnte. »Du mußt flexibel sein. Sie wollen einen Hamburger – du besorgst ihn. Sie wollen Marcel Proust – du suchst ihn. Kannst du mir folgen?« »Ja.« »Aber du bringst keine Bücher an die Tische. Sonst kommt Fett und Ketchup auf den Schutzumschlag. Du bringst die Leute zu den Büchern. Verstanden?« 177
Matthew nickte. »Kennst du dich in San Diego aus?« »Nein, ich wohne erst seit kurzem hier.« »Das habe ich mir gedacht. Du mußt lernen, Junge. Und du mußt schnell lernen.« Er sah auf die Straße, auf der viele Menschen entlangschlenderten, und wandte sich dann wieder an Matthew. »Die Leute kommen hier herein und fragen nach dem Weg. Die meisten sind Touristen, und viele haben sich verlaufen. Du mußt ihnen dann den richtigen Weg erklären können.« Matthew zögerte. Er wollte nicht zu selbstbewußt auftreten. »Ich … ich werde mein Bestes tun. Leihen Sie mir einen Stadtführer, und ich lerne ihn auswendig.« Mosky lachte. »Gute Idee, Junge. Aber was viel wichtiger ist: Geh selbst nach draußen, und sieh dich um. Nimm den Bus, die Straßenbahn, laufe herum. Kommst du aus London?« »Ja.« »Ich war schon einmal in London.« Er zögerte und hing seinen Gedanken nach. Aber dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf Matthew, schenkte ihm ein schelmisches Lächeln und fragte: »Wann kannst du anfangen?« »Heute«, antwortete Matthew sofort. Er mochte Mosky. Er wußte, daß das der richtige Job für ihn war. Mosky schlug ihm auf die Schulter. »Prima, Junge. Ich dachte immer, daß Engländer arbeitsscheu seien.« »Ich nicht. Außerdem bin ich pleite.« Sie sahen sich in die Augen und verstanden sich. »Komm und lerne die anderen kennen.« Mosky führte ihn zum Bartresen, hinter der sich Kochplatten und Mikrowellenherde befanden. »Das hier ist Joe, der Koch, Allie, die Kellnerin, und Merc, er wäscht ab. Aber jeder macht das, was gerade getan werden muß, in Ordnung? Leute, das ist Matt.« Alle drei sahen hoch, nickten ihm fröhlich zu und arbeiteten weiter. Es herrschte gerade morgendlicher Hochbetrieb, und es war klar, daß keiner von ihnen Zeit hatte, die Arbeit zu unterbrechen. Joe war groß 178
und dünn. Er war damit beschäftigt, mit einem langen, flachen Löffel Hamburger auf der brutzelnden Kochplatte umzudrehen. Allie war braungebrannt und mollig. Sie hatte langes, braunes Haar, das von einer hellgrünen Schleife gehalten wurde. Merc, der fast hinter einem riesigen Berg schmutzigen Geschirrs verschwunden war, wirkte stämmig und schwitzte. Seine kräftigen Arme hatte er ins Seifenwasser getaucht, und sein Gesicht war vor lauter Dampf kaum erkennbar. »Kann ich helfen?« fragte Matthew. Merc starrte ihn an. »Mein Gott. Jemand bietet Hilfe an.« Seine mit Seifenschaum bedeckte Hand warf Matthew eine Schürze zu. »Hier bitte.« »Das ist richtig. Knie dich rein«, sagte Mosky anerkennend und ging lächelnd davon. Matthew hatte angefangen zu arbeiten. Am Ende der ersten Woche wollte er Della einen Teil seines Lohns geben und löste damit einen handfesten Krach aus. »Was glaubst du, was ich mache? Kinder ausbeuten?« »Ich bin kein Kind, Della.« Sie sah ihn an, und ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. »Nein«, räumte sie sanft ein, »das bist du nicht.« Ein kurzes Schweigen stand im Raum. Matthew fühlte sich unter ihrem Blick unbehaglich. Aber er hielt ihr immer noch die Dollarnoten hin. »Bitte«, sagte er. »Ich kann dein Geld nicht annehmen, Matt.« »Doch«, beharrte er. »Das mußt du. Es ist für meinen Unterhalt. Ich würde mich dann besser fühlen.« »In Ordnung«, kapitulierte sie schließlich. »Du hast gewonnen. Aber du zahlst nur ganz wenig. Ich möchte dich nicht übervorteilen.« Einen Augenblick sahen sie sich an, dann begannen sie zu lachen. Sie beschloß, Des nichts von dem Geld zu erzählen. Des hatte da eine komische Einstellung, er mußte der Boß sein – der Hauptverdiener. Er mochte es noch nicht einmal, daß sie arbeitete. Er könnte es falsch verstehen, und sie wollte keinen Ärger.
* 179
Tracey wohnte in einem Apartmenthaus in der Innenstadt, das zwischen einer Bank, neonbeleuchteten Bars und Restaurants lag. Das Betongebäude wirkte kalt und es war deutlich sichtbar, daß diejenigen, die hier wohnten, nicht mit Reichtümern gesegnet waren. Das Treffen fand im spärlich eingerichteten Wohnzimmer und in der Küche statt, in der harte, gelbe Barhocker standen und deren Arbeitsplatten voller Flecken waren. Die Leute hatten es sich auf Stühlen, Sofas, Sitzsäcken und auf dem Fußboden gemütlich gemacht. Rauch hing in der Luft, und überall standen leere Gläser und Kaffeetassen herum. Die Leute kamen Matthew erstaunlich jung, entspannt und lässig vor. Sie sahen nicht im entferntesten wie ein Haufen glühender Aktivisten aus. Als er hereinkam, sahen sie kaum hoch, sondern tranken weiter Bier und rauchten etwas, von dem Matthew nicht glaubte, daß es Tabak war … Es sah so aus, als ob das Treffen schon seit einiger Zeit im Gange war – und noch ewig weitergehen würde. »Das ist Matt«, stellte Tracey ihn vor. »Er ist Engländer und steht auf Delphine.« Matthew zuckte leicht zusammen und fragte sich, was ›auf Delphine stehen‹ wohl bedeuten sollte. Die beiden blonden Jungen, die sie ihm schon vorher als Bud und Spike vorgestellt hatte, sahen kurz hoch, sagten »Hallo« und fuhren dann mit ihrer ziemlich einsilbigen Unterhaltung fort. Spike bot Matthew eine selbstgedrehte Zigarette an und fragte lässig: »Willst du?« »Nein, danke«, antwortete Matthew und schüttelte den Kopf. Er fühlte sich in dieser gemütlich zusammensitzenden kleinen Gruppe deplaziert und kam sich viel zu spießig vor. Aber er war vor diesem unschuldig aussehenden Joint sehr auf der Hut. Tracey sah die versammelte Gruppe mit zusammengekniffenen Augen an und wandte sich plötzlich giftig an Spike. »Damit kannst du gleich aufhören.« »Womit?« fragte er unschuldig. »Du hast schon verstanden. Wenn du zu einer Demo gehst und das Zeug dabei hast, dann wirst du ruck zuck verhaftet.« Spike zuckte gelassenen die Schultern. »Hier ist keine Demo.« 180
»Du läßt das sein, Spike, hast du verstanden? Das gilt für euch alle. Laßt es! Dieses Mal wird es richtig ernst. Keiner darf mit Crack oder irgend etwas anderem erwischt werden. Es braucht nur einer verhaftet zu werden, und wir alle haben einen schlechten Ruf. Dieses Mal müssen wir absolut sauber sein, verstanden?« Als Antwort kam nur ein Gemurmel, das Tracey nicht zufriedenstellte. Sie beugte sich vor, riß Spike die Zigarette aus der Hand und drückte sie aus. »Ich meine es ernst«, zischte sie und funkelte die anderen wütend an. »Wir wissen nicht, ob wir nicht wie letztes Mal überwacht werden. Protestmärsche in der Nähe eines Marinestützpunktes sind ein heißes Eisen. Wenn sie hier eine Razzia machen, was glaubt ihr dann, was passiert?« Jetzt hatte sie die ungeteilte Aufmerksamkeit aller. »Hört zu.« Tracey schüttelte ihre Mähne und ging zum geschäftlichen Teil über. »Hört genau zu. Am Freitag geht es los. Freitag in einer Woche, okay? Am Zwölften. Wir haben genug Zeit, die Plakate zu besorgen.« Einige nickten. »Und die Flugblätter zu verteilen.« Noch mehr nickten. »Wir treffen uns hier und marschieren zuerst in Richtung Innenstadt.« »Nur marschieren?« fragte einer mit enttäuschter Stimme. Bud und Spike sahen sich an und blickten dann auf Tracey. Aber sie schien sie zu ignorieren. »Marschierern«, befahl sie. »Mit Transparenten. ›Rettet die Delphine‹ und all das Zeug. Haben wir genug?« »Ich könnte noch ein paar mehr machen«, bot ein schlankes Mädchen mit braunem, gerade herunterhängenden Haar und einer Nickelbrille an. Tracey nickte ihr anerkennend zu und wandte sich dann an Matthew. »Kommst du mit?« Er war sich nicht ganz sicher. Er wollte unbedingt wissen, was sie außer dem Protestmarsch noch planten und was der merkwürdige Blick, den sich Spike und Bud zugeworfen hatten, bedeutete. »Ich arbeite bis vier«, sagte er. Tracey nickte und schien sich darum keine Sorgen zu machen. »Dann 181
triffst du uns am Strand. Um die Zeit werden wir ungefähr dort sein, bereit für den Marsch auf Point Loma und Fort Rosencranz.« Drohend funkelte sie ihre Zuhörer an. »Vorausgesetzt, ihr habt euch bis dahin am Riemen gerissen. Die Polizei kennt unsere Route. Es wird keinen Ärger geben – es sei denn, wir verursachen ihn.« Matthew wußte nicht so recht, wie er das verstehen sollte. Also sagte er nur: »Ich werde versuchen dazusein«, und erwähnte seine Schwierigkeiten mit Des und Della nicht. »Okay«, antwortete sie. »Wir sollten die Versammlung jetzt besser auflösen. Ich muß noch mit Spike und Bud sprechen – wegen der Flugblätter.« Matthew entdeckte einen Kopierer in einer Ecke des Raumes und einen Haufen Papier auf dem Boden. »Hier«, sagte sie, nahm ein Blatt und drückte es Matthew in die Hand. »Bis nächsten Freitag.« In ihrem Gesicht las Matthew, daß sie, Spike und Bud noch etwas anderes planten, aber sie hatte deutlich zu verstehen gegeben, daß sie ihn nicht dabeihaben wollten – egal, was es war. Vielleicht traute sie ihm noch nicht. Er konnte es ihr nicht verdenken. Auf jeden Fall sagte ihm sein Gefühl, daß er froh darüber sein sollte, nicht zu wissen, was sie vorhatten. Er ging protestlos hinaus.
* Als er wieder in seinem neuen Zuhause angekommen war, schlich er unauffällig in sein Zimmer, ohne etwas zu sagen. Zu seiner Erleichterung schien Des nicht zu Hause zu sein, und Della klapperte in der Küche mit Geschirr. Etwas schuldbewußt holte er seine Gitarre hervor, – er hatte das Spielen in der letzten Zeit vernachlässigt –, und begann mit dem neuen Stück von Rodrigo. Schnell geriet er in den Bann des Stückes, und ein plötzliches Gefühl von Heimweh überfiel ihn. Er sehnte sich danach, wieder zu Hause im alten, grauen London z u sein, in der Nähe seines Freundes Tudor Davies, in der Nähe von Madge und den Kindern. Jampy würde sein Spiel mit endlosen Fragen und durch unauf182
hörliches Springen und Hüpfen unterbrechen … Er gehörte nicht in diese helle, wohlhabende Stadt mit ihren strahlend schönen Stränden und Jachthäfen und den sorglosen, von der Sonne gebräunten Menschen. Irgendwie erfüllte ihn diese strahlende Schönheit mit großer Furcht. Sie war zu sauber, zu schön … Und obwohl er sich ganz in der Nähe der Delphine und Killerwale von Sea World und der großen Grauwale des Pazifiks befand, schien sein Freund Flite so weit weg zu sein wie noch nie … Flite hatte nichts zu tun mit diesen Varietevorführungen oder den Walbegaffern, die sich in der Bucht herumdrückten – und auch nicht mit den dem Untergang geweihten Delphinen, die vor dem Marinestützpunkt tauchten … Jemand klopfte an seine Tür. Della steckte ihren Kopf ins Zimmer. »Kann ich reinkommen?« »Natürlich«, antwortete Matthew schuldbewußt. »Habe ich zu laut gespielt?« Sie lächelte, setzte sich auf eine Ecke seines Bettes, schlug ihre schlanken Beine übereinander und lehnte sich zurück, um ihn anzusehen. »Nein. Ich höre dir gerne zu. Dein Anwalt hatte recht. Du spielst wirklich gut.« Matthew war erleichtert. »Es ist nur, Des, er …« Sie beendete den Satz nicht, sondern faßte in ihre Jackentasche und holte einen vergilbten Umschlag heraus. »Ich glaube, daß dich das interessieren wird.« Matthew nahm den Umschlag aus ihrer Hand. Zwei vergilbte Fotos befanden sich darin. Eines zeigte einen lächelnden jungen Mann mit gelocktem, bronzefarbenen Haar. Er lehnte gegen einen Pfosten und kniff die Augen in der Sonne zusammen. Das zweite Foto zeigte den gleichen jungen Kerl Arm in Arm mit einem etwas älteren und ernster aussehenden Mann an der einen und einer jungen Frau an der anderen Seite. Matthew betrachtete das Foto genauer und erkannte in der Frau seine Tante Della in jungen Jahren. Er sah sie fragend an. »Ist das … mein Vater?« Sie seufzte. »Ja. Das ist Michael. Er steht an einem seiner Brückenpfeiler … Und das ist Ned, mein verstorbener Mann. Das bin ich – als ich noch jünger war …« 183
Matthew starrte den Fremden auf dem Foto an. Er erkannte ihn nicht wieder – er freute sich noch nicht einmal darüber, daß er endlich wußte, wie sein Vater ausgesehen hatte. Er war von sich selbst enttäuscht, weil es ihm nicht mehr bedeutete. Vor ihm lag das Foto eines Mannes, den er nicht kannte, der gelebt, gearbeitet und gelacht hatte, bevor an Matthew überhaupt zu denken war … Oder war er da schon auf der Welt? Er wußte es nicht. Er schämte sich, als er merkte, daß es ihn nicht besonders interessierte. Der Mann auf dem Bild war für ihn ein Fremder. »Möchtest du die Fotos haben?« fragte Della zögernd. Matthew schreckte hoch. »Oh. Ja, ich …« Aber er hatte bemerkt, daß sie sich anscheinend nur schwer von ihnen trennen konnte. »Hast du davon noch Abzüge?« »Nein.« »Dann …« Lächelnd gab er ihr die Fotos zurück. »Vielleicht könnten wir welche machen?« Sie schien erleichtert zu sein und blickte nachdenklich auf die Bilder in ihrer Hand. »Ich nehme an, das könnten wir.« »Er sah … nett aus.« Es klang furchtbar unpassend. »Ja«, sagte sie. »Das war er. Und du bist ihm sehr ähnlich.« »Wirklich?« Matthew beugte sich vor und sah die Fotos noch einmal an. Mir sehr ähnlich? Aber mir fehlt dieser zufriedene Gesichtsaussehen, dachte er. Vielleicht werde ich ihn eines Tages auch haben … »Eigentlich weiß ich gar nicht, wie ich aussehe.« Della lächelte ihn mit unerwarteter Wärme an. »Für mich siehst du richtig gut aus.« Ihre Worte überraschten Matthew. Plötzlich wollte er doch mehr über seinen Vater und dessen Autounfall erfahren. Die Frage war nur, wie er Della noch mehr Informationen entlocken konnte, wo sie doch allem Anschein nach nicht darüber sprechen wollte. »Ich nehme an, daß er … beruflich viel unterwegs war?« Dellas Lächeln erstarrte abrupt, und ihm wurde klar, daß er wieder das Falsche gesagt hatte. Aber bevor sie eine Antwort geben konnte, hörten sie, wie eine Tür zugeschlagen wurde. Des war nach Hause gekommen. 184
Er lehnte sich lässig gegen den Türrahmen von Matthews Zimmer und sah sie an. Sein Blick war nicht unbedingt argwöhnisch, aber er hatte etwas Lauerndes an sich, und Matthew fühlte sich unbehaglich. »Ach, hier seid ihr.« »Ich habe Matt nur ein paar alte Fotos gezeigt.« Des schnaubte verächtlich. »Du gibst dich doch nicht schon wieder mit diesem alten Zeugs ab? Warum läßt du die Vergangenheit nicht da, wo sie hingehört, Del? Tot und begraben.« Della reagierte schockiert. »Des … Es handelt sich um Matts Vater.« Des zuckte mit den Schultern. »Na gut, er ist Matts Vater. Auch gut. Aber wir leben heute.« »Heute!« wiederholte Des und funkelte Della zornig an. »Und ich habe Hunger. Also seht zu, daß ihr fertig werdet, wir essen heute auswärts.« Della steckte die Fotos in ihre Tasche und verließ hastig den Raum. Matthew stand auf und legte seine Gitarre vorsichtig aufs Bett. Er blickte Des nicht an. Ihm war klar, daß es etwas in der Vergangenheit gab, worüber Des verärgert war – ja, gegen das er sogar eine Abneigung hatte – und daß Matthew ein Teil davon war. Als er darüber nachdachte, sah die Zukunft hier nicht sehr rosig aus, und er beschloß, Des so oft wie möglich aus dem Weg zu gehen. »Geh du mit Della allein«, sagte er. »Ich möchte lieber hierbleiben.« »Wie du willst«, sagte Des schulterzuckend, schlenderte davon und ließ die Tür weit offen stehen. Als sie die Wohnung verlassen hatten, ging Matthew zu Mosky und bot der Nachtschicht seine Hilfe an. Er brauchte Gesellschaft.
* Wegen seiner Arbeit bei Mosky und der Abendschule hatte Matthew damit begonnen, sehr früh am Morgen schwimmen zu gehen. Er liebte es, wenn der Strand leer und ruhig war. Er fühlte sich dann seinem windgepeitschten Cornwallschen Strand, der kleinen Bucht hinter den Felsen, in der die Seehunde seiner Musik zugehört hatten und 185
der sanften Gegenwart von Flite, die seine Tage mit Freude erfüllt hatte, ein bißchen näher. Hier war die See blauer, die Strände waren weißer und niemals ganz leer, obwohl sie sich Kilometer über Kilometer erstreckten. Aber in dem kühlen, morgendlichen Ozean fühlte er sich nicht ganz von der Welt abgeschnitten, in der er einst lebte. Auch hier gab es Seehunde – er sah oft ihre runden Köpfe, wie sie in der Bucht auf- und niederhüpften. Und es gab Pelikane. Ihre Flügel glänzten in der Sonne, und sie stolzierten gern am Strand entlang. Weiter draußen, nicht weit hinter der Landspitze, schwammen die großen Grauwale gen Süden, gemächlich und ohne Angst … Und irgendwo dort draußen in einem fernen Ozean, schwamm auch Flite, sprang und tauchte – und freute sich … Matthew sandte Botschaften hinaus in die tiefe pazifische Dünung, die durch die widerhallenden Weiten des Wassers einen einsamen Delphin erreichen sollten, der sich allein auf der anderen Halbkugel der Erde befand, wo es jetzt Nacht war. Der Himmel über dem Pazifik war bei Sonnenaufgang meist klar und wundervoll, aber an diesem Morgen schien der Sonnenaufgang so überwältigend, daß ihm der Atem stockte. Helle Wolken färbten den Horizont mit einem karminroten Schleier, und über seinem Kopf schienen kleine Pinselstriche rötliche und scharlachrote Tupfer gemalt zu haben, die wie Feuer aussahen. Und als er sich im schillernd silbernen Wasser auf den Rücken drehte, um nach oben zu blicken, sah er, wie die weißgoldene Silhouette der Stadt einen rötlichen Ton annahm, als das Licht im Osten heller wurde. Er beobachtete fast ungläubig, wie das lodernde Feuer am Himmel größer wurde und flammende Lichtstreifen auf das Meer um ihn herum legte. Er schien im Sonnenaufgang zu treiben, und der Ozean brannte von Ufer zu Ufer. Wie im Traum ging er zur Arbeit. Sein Kopf war voller flamingofarbenem Himmel und granatrotem Wasser. Er versuchte, sich darauf zu konzentrieren, Bratkartoffeln, Spiegeleier und in Ahornsirup getränkte Waffeln zu servieren. Als der Hochbetrieb vorbei war, schlenderte er in den Buchladen, um herauszufinden, ob Mosky irgendwo in seinen 186
Regalen ein Exemplar von Blakes Buch hatte. Er hatte es gerade gefunden, als Moskys Stimme hinter ihm erklang. »Sag mir nicht, daß ich einen Kunden habe.« Matthew drehte sich lächelnd um. »Wäre das so ein Schock?« »Poesie! Ich falle gleich tot um.« »Dann lege ich es besser zurück«, sagte Matthew und tat so, als ob er sich wirklich Sorgen machen würde. Moskys Lachen ließ die wenigen Gäste, die noch im Restaurant saßen, aufschrecken. Sie sahen hoch und lächelten. »Magst du Blake?« »Ich weiß nicht. Ich habe etwas gesucht …« Matthew zögerte. Aber irgendwie wußte er, daß er Mosky Dinge erzählen konnte, über die er sonst mit keinem sprechen konnte. »Etwas über … Sonnenaufgang.« »Aus dem Notizbuch«, entgegnete Mosky sofort. »Ich zeige es dir.« Er nahm das Buch aus Matthews Händen und blätterte die Seiten um, bis er den Absatz gefunden hatte. »Ist es das, was du gesucht hast? 'Freude wie sie fliegt?« Matthew sah sich die Worte an und dachte voller Heimweh an die schroffe Stimme des alten Kapitäns und an Flites unstillbare Lebensfreude, während er in der Sonne sprang und tauchte. »Das ist es«, murmelte er und beugte seinen Kopf schnell über das Buch, um seine Tränen zu verbergen. Mosky seufzte. »Ich nehme an, er hat recht. Aber was die Freude angeht – sie fliegt wirklich.« Er funkelte Matthew an. »Arbeitest du nun heute oder nicht?« Matthew lachte. »Kann ich zuerst das Buch kaufen?« »Aber klar. Mitarbeiter bekommen Rabatt. Aber wenn du es hier liest, bist du gefeuert.« Immer noch freundschaftlich miteinander lachend gingen sie zwischen den Tischen hindurch, als ein blonder Junge, der den Mund voller Waffeln hatte, hochblickte und sagte: »Hallo, Matthew, du Genie. Wo ist deine Gitarre?« Mosky blieb stehen und sah erst den Jungen und dann Matthew erstaunt an. »Du spielst Gitarre?« 187
»Ob er spielt?« sagte der Junge gedehnt. »Mann, er ist klasse. Er ist der Guru vom Strand. Er zieht die Leute an wie Motten das Licht.« Mosky blickte Matthew finster an. »Warum hast du mir das nicht gesagt? Bring sie heute abend mit, hast du verstanden?« »Ja, aber …« protestierte Matthew. »Aber was?« »Ich … ich spiele hauptsächlich klassische Stücke, keine Popmusik.« »Wer sagt, daß ich Popmusik will«, knurrte Mosky. »Bring sie einfach mit – oder du bist gefeuert, okay?« »Okay«, lenkte Matthew ein. »Mache ich.«
* Von diesem Zeitpunkt an verlief Matthews Leben in festen Bahnen. Am frühen Morgen, wenn er im Ozean schwamm, war er er selbst, voller Träume und dem schmerzlichen Verlangen, Flite zu finden. Während des Tages, bei Mosky, bestand er hauptsächlich aus zwei Händen und zwei Beinen, bekam gelegentlich Moskys trockenen Humor zu spüren und konnte manchmal für ein paar kurze Augenblicke ein freundliches Gespräch mit seinen überarbeiteten Kollegen führen. An einem Abend in der Woche war er nur Kopf und ganz konzentriert, und zwar bei seinem Computerkurs. Er traf sich manchmal mit einigen seiner Mitschüler, aber sie waren fast alle älter als er und seiner Meinung nach ein bißchen langsam. Eine Ausnahme bildete ein dünner Mann mit Brille und einer gebeugten Haltung, weil er den ganzen Tag über seinem Computer hockte. »Nenn mich Bernstein. Die meisten tun das.« Matthew hatte nie seinen richtigen Namen herausgefunden. Aber er hatte eine ganze Menge nützliche Informationen von ihm erhalten und festgestellt, daß der Mann, was Computer anging, erheblich besser war als er und daß er viel von ihm lernen konnte. Und dann waren da die Abende, an denen er seine Gitarre mit zu Mosky nahm. Dann bestand er nur aus Fingern – Fingern, einem Kopf voller Klänge und Lieder und einem Herz, das im Wege stand und seine Musik in etwas Schmerzvolles verwandelte. Nach dem ersten 188
Abend scherte er sich nicht mehr nach den Wünschen des Publikums. Er saß nur in seiner Ecke, hatte den Fuß auf einen Stuhl gestellt und spielte. Er spielte alles, was er kannte und liebte, die ruhigen, gemessenen Stücke von Bach, die feurigen, spanischen Stücke und die geruhsameren Stücke von Vivaldi. Manchmal war der Schmerz und das Verlangen von Granados und Villa-Lobos so stark, daß er sich ausgelaugt und müde fühlte und kaum noch spielen konnte. Dann schickte Mosky Allie mit einer Tasse Kaffee zu ihm. Manchmal kam Mosky auch selbst zu ihm, sah ihn an und schickte ihn nach Hause. Dann lief Matthew durch die neonbeleuchteten Straßen, vorbei an den blinkenden Reklameschildern und den in der Innenstadt von San Diego umherschlendernden Menschenmassen. Sein Kopf war noch so voller Musik, daß er die Welt nur verschwommen wahrnahm, und das Gefühl von Verzückung und Leidenschaft hatte ihn immer noch nicht ganz losgelassen. Für Della und Des blieb kaum noch Zeit, und obwohl er sich deswegen ein bißchen schuldig fühlte, war er doch erleichtert. Die Feindschaft, die er bei Des bemerkt hatte, schien, als er ihn näher kennenlernte, noch stärker zu werden. Della schien reizbarer als sonst zu sein, und ihre Reaktionen waren immer schwerer vorherzusagen – einmal war sie fast zu herzlich und sprach voller Sentimentalität von seinem Vater. Im nächsten Moment zog sie sich in sich zurück, und er kam nicht an sie heran. Er lernte keinen von beiden richtig kennen. Sie bauten Schutzwälle um sich herum auf, die Matthew nicht durchdringen konnte. Er war traurig darüber, denn er hatte ja gehofft, daß dieser neue Anfang mit seiner Tante ihm vielleicht das Familienleben ermöglichen würde, das er sich immer gewünscht und immer vermißt hatte … Doch dann riß er sich zusammen und sagte sich, daß es nichts gab, das einem auf einem silbernen Tablett serviert wurde. Man mußte es sich verdienen – und bevor er aufgab und nach Hause zurückkehrte, würde er auf jeden Fall noch einmal versuchen, mit den beiden zurechtzukommen. Ja, das war es. Nach Hause zurückkehren. Denn eigentlich war ihm klar, daß dieses rastlose Leben nichts für ihn war und niemals etwas für ihn sein würde. Er brauchte die stillen, leeren 189
Strände des winterlichen Cornwall, die vertrauten Londoner Straßen und Leute wie Madge und Jim, die trotz der Armut, in der sie lebten, freundlich und offen waren … Aber dennoch wollte Matthew noch eine Weile in San Diego bleiben und es weiter versuchen, denn der alte Kapitän hatte es so befohlen. Dann konnte er mit einem guten Gewissen nach Hause fahren. Er hatte Tracey und die Demonstration für die Delphine völlig vergessen, wurde aber wieder daran erinnert, als ihm jemand auf der Straße ein Flugblatt in die Hand drückte. Einen Moment fühlte er sich schuldig – nicht so sehr, weil er Tracey und ihre Freunde vergessen hatte, sondern weil er nicht mehr an das Elend der Delphine gedacht hatte, die darauf trainiert wurden, mit tödlichen Waffen in den tiefen Gewässern vor dem Marinestützpunkt zu arbeiten … Er würde sich dem Protestmarsch anschließen – ganz egal, wie wenig es bringen würde. Um Flites willen mußte er es tun. Wieder dachte er an das Forschungsteam auf dem bretonischen Strand und an Marthas bittere Worte: »Wir müssen es aufhalten.« Pierre, der Anführer, hatte gesagt: »Mache Fotos. Informiere die Medien. Beschäme sie.« Skips bittere Antwort hatte gelautet: »Bei der Hochseefischerei geht es um zuviel Geld.« Und in diesem Delphinexperiment der Marine steckte bestimmt viel Geld, dachte Matthew. Er bezweifelte stark, daß ›sie‹ sich beschämen lassen würden. Aber er mußte es versuchen – zusammen mit Tracey und ihren Freunden, auch wenn er das Gefühl hatte, daß sie nicht ganz bei der Sache und schlecht organisiert waren. Um Flites und seiner unschuldigen Gefährten willen in den weiten Meeren der Welt mußte er mitmarschieren. Er erfüllte seine Pflicht im Restaurant und gab dann Mosky seine Gitarre zur Aufbewahrung. »Heute abend komme ich vielleicht später«, erklärte er. »Ich muß zuerst noch etwas erledigen.« Moskys Augenbrauen gingen fragend in die Höhe, aber er sah davon ab, ›du bist gefeuert‹ zu sagen. Er verstaute die Gitarre hinter dem Ladentisch im Buchladen, wo es ruhig war und keine Gefahr bestand, daß jemand Kaffee über sie schüttete. Matthew schenkte ihm 190
ein dankbares Lächeln und zog los, um sich dem Protestzug anzuschließen. Am Strand hatte sich zu seiner Überraschung eine ziemlich große Menschenmenge versammelt. Transparente wurden hochgehalten, und die Leute hatten sich in einer richtigen Marschordnung aufgestellt. Sie waren schon durch die Stadt marschiert und machten jetzt eine Verschnaufpause, um sich dann für den bedeutsameren Teil des Marsches zu versammeln, der die Küste entlang bis zum Marinestützpunkt führen sollte. Er entdeckte Tracey, die Bud und Spike die allerletzten Weisungen gab, und das Mädchen mit den braunen Haaren, das noch einige Transparente herbei brachte. »Also, paß auf, Matt«, fuhr Tracey ihn an, »wenn es irgendwelche Schwierigkeiten gibt, haust du sofort ab. Wenn dich die Typen vom FBI erwischen, schicken sie dich postwendend nach England zurück.« »Vom FBI?« fragte Matthew erstaunt. »Das ist ein Marinestützpunkt. Sperrgebiet«, sagte Tracey wortkarg. »Wenn man dich erwischt, kennst du mich nicht. Du weißt überhaupt nichts. Du bist nur ein dummer Student, der bei einer Demo mitmacht. Verstanden?« Matthew nickte. »Was ist mit den anderen?« Tracey lachte. »Das sind sowieso nur dumme Studenten. Komm, wir müssen los.« Jemand gab Matthew ein Transparent, und auf ein Signal von Tracey gingen alle langsam und friedlich los und sangen dabei ›Save the Dolphins‹. Auf der einen Seite neben Matthew marschierte das braunhaarige Mädchen, Stephi, und auf der anderen ein hagerer Junge mit langen Beinen, der ihm erzählte, daß er unter dem Namen Beaks bekannt sei und mehr auf Wale als auf Delphine stehe, aber daß dies ein OK-Zielobjekt sei. Matthew fragte sich, was wohl ein OK-Zielobjekt war. Der Protestmarsch verlief fröhlich. Einige der Studenten sangen alte Unilieder und änderten ›Where have all the flowers gone?‹ in ›Where have all the dolphins gone?‹, was ziemlich gut ankam. Viele Passanten lächelten nachsichtig über die Studentendemonstration. Einige von ihnen nahmen ein Flugblatt und lasen es, aber die meisten ließen die Pro191
testler an sich vorüberziehen und kümmerten sich nicht weiter darum. Matthew hätte sie gerne geschüttelt, denn sie sahen so unbekümmert, selbstzufrieden, herausgeputzt und sonnengebräunt aus. Sie waren so vertieft in ihre abendlichen, trägen Freuden – während dort draußen, irgendwo in den tiefen Gewässern des Ozeans, Delphine in den Tod getrieben wurden … Er hätte sie am liebsten alle miteinander zu dem bretonischen Strand mitgenommen, an dem diese hilflosen, wunderschönen Wesen gelegen hatten, tot … Diese Leute, die in kleinen Booten hinausfuhren, um die Wale vorbeiziehen zu sehen – und sich nicht daran zu erinnern schienen, daß unzählige andere Wale und Delphine jeden Tag abgeschlachtet wurden … »Kein Grund, niedergeschlagen zu sein«, rief ihm das braunhaarige Mädchen zu und hielt ihr Transparent in die Höhe. »Singe. Dann sehen sie wenigstens hin.« Also sang Matthew mit den anderen ›Save the Dolphins‹ und marschierte weiter die Straße entlang bis zum Point Loma. Dort machten sie eine kurze Pause, bevor sie sich wieder versammelten. Jemand aus einer Umweltschützergruppe hielt eine flammende Rede, der aber keiner so richtig zuhörte. Die meisten Leute holten Sandwiches und Cola hervor und machten ein Picknick. Dann wandten die Protestler sich nach Süden und marschierten zum Marinestützpunkt. Da sie sehr langsam gingen, dauerte der Marsch recht lange. Als sie ihr Ziel erreichten, war es schon fast dunkel. Matthew befand sich ziemlich am Ende des Zuges und konnte deshalb nicht sehen, was vorne geschah. Einige der Demonstranten hatten Taschenlampen mitgebracht, um die vorbeifahrenden Autos auf sich aufmerksam zu machen, andere hatten schon aufgegeben und waren nach Hause gegangen. Gerade hatten sie wieder Where have all the dolphins gone? They've been slaughtered, every one Oh when will they ever learn, When will they ever learn? 192
gesungen, als vorne ein Tumult ausbrach. Die Leute, die vorne standen, drängten nach hinten, und die Hinteren drängten nach vorne. Das Chaos war perfekt. Schreie und ein paar unterdrückte Flüche waren zu vernehmen. Dann hörte er Polizeisirenen und Alarmglocken. »Was ist los?« fragte Matthew atemlos, der von allen Seiten geschoben und gestoßen wurde. »Ärger«, sagte Stephi und nahm ihr Transparent herunter. »Wir hauen besser ab.« »Aber …« protestierte Matthew. »Hat Tracey befohlen«, fuhr Stephi ihn an, ergriff Matthews Hand und zerrte ihn aus der kämpfenden Menschenmenge. »Mensch, komm doch.« Aber Matthew blieb stehen und sah die Straße hinunter, dorthin, wo die Lichter blitzten und die Leute schrieen. »Was hatten sie vor?« fragte er. Stephi zuckte mit den Schultern. »Eine Bittschrift überreichen, hat Tracey gesagt. Aber ich nehme an, daß sie versucht haben, irgendwo einzudringen – das ist eher Traceys Stil. Klingt, als ob es nicht geklappt hätte. Komm, Matt. Sie hat diesmal kein Glück gehabt.« »Aber …«, versuchte er es noch einmal herauszuzögern, »braucht sie denn keine Hilfe?« »Nicht von dir, nein. Tracey kann auf sich selber aufpassen. Laß uns verschwinden. Ich bringe dich in Sicherheit.« Resigniert drehte sich Matthew um und stellte fest, daß auch die anderen Demonstranten davon rannten. Für einen so wichtigen Protest war es ein schmähliches Ende. In diesem Augenblick kam ein Polizeiwagen mit quietschenden Reifen neben der sich auflösenden Gruppe zum Stehen. Zwei Männer sprangen heraus und rannten auf die sich ihnen am nächsten befindenden Demonstranten zu. Die Leute sahen sie kommen und rannten noch schneller, aber zwei von ihnen waren zu langsam und wurden kämpfend und tretend zum Einsatzwagen gezerrt. Sie wurden unsanft in den Wagen verfrachtet, und die Türen wurden zugeknallt. »He«, rief Matthew. »Sie haben nichts getan …« 193
»Halt den Mund«, zischte Stephi. »Sie werden dich auch noch schnappen.« »Aber …« Matthew war empört. »Sie sind doch nur marschiert …« Er schüttelte Stephis Hand ab, die ihn zurückhalten wollte, und versuchte, sich wieder nach vorne zu drängen. Wenn er schon bei der Demo mitmachte, dann wollte er auch protestieren. »Hören Sie zu«, begann er, »das sind doch nur Jugendliche …« Aber seine Stimme ging in einer Ansage unter, die plötzlich aus einem Megaphon auf dem Dach des Einsatzwagens erklang. »Zerstreut euch! Zerstreut euch ganz ruhig. Jeder, der rennt, wird verhaftet.« Ein lautes Knistern war zu hören, und dann sagte die Stimme weiter: »Los, geht alle nach Hause.« Der Einsatzwagen fuhr die Straße herunter, die beiden Festgenommenen saßen immer noch zusammengekauert im Inneren. Die anderen hielten sich verängstigt an die Anweisungen der Polizei. Ein oder zwei rannten trotzdem und verschwanden im Dunkeln. Der Einsatzwagen blieb ihnen auf den Fersen. »Was wird mit ihnen geschehen?« Matthew starrte den sich entfernenden Rücklichtern hinterher. Stephi zuckte mit den Schultern. »Sie nehmen sie mit und befragen sie.« »Und dann?« »Lassen sie sie wieder laufen.« »Kein Problem«, fügte Beaks fröhlich hinzu. »Sie können sie wegen einer Demo nicht festhalten.« Unentschlossen und besorgt stand Matthew auf der dunklen Straße. Dann drehte er sich um und wollte sich zur Spitze des Protestmarsches durchschlagen, wo er Tracey vermutete. »Matt, nein.« Stephi ergriff unsanft seinen Arm. Matthew schüttelte sie ab. »Ich muß … ich muß sehen, was mit Tracey geschehen ist …« »Nein«, fuhr Stephi ihn an und zerrte wieder an ihm. »Verdammt noch mal, du kannst ihr nicht helfen.« »Laß mich los!« keuchte Matthew. 194
»Mensch, nun komm doch endlich.« Auch Beaks versuchte, ihn wegzuziehen. »Für Heldentaten ist es jetzt zu spät.« Während er sprach, kamen von vorne einige Demonstranten angerannt, die von einem Polizeiwagen verfolgt wurden. Vor dem Wagen rannten ein paar schwitzende Polizisten. Mehrere der Flüchtenden rannten ineinander und beschimpften sich gegenseitig. Zwei von ihnen verloren das Gleichgewicht und stürzten nicht weit von Matthew entfernt zu Boden. Bevor die Polizisten sie erwischen konnten, sprang Matthew nach vorne, half den Gestürzten auf die Beine und schickte sie mit einem kräftigen Schubs wieder auf den Weg. Inzwischen hatten die Polizisten Matthew bemerkt und waren ihm schon bedrohlich nahegekommen. In diesem Augenblick stürzte eine weitere Gruppe von Demonstranten aus der Dunkelheit hervor, und Matthew wurde von ihnen umgerissen. Ihm stockte der Atem. Als er versuchte, wieder auf die Füße zu kommen, streckte Stephi ihm ihre Hand entgegen und zog ihn zur Seite in die Dunkelheit. »Hier entlang …«, flüsterte sie, und Beaks, der neben Matthew stand, fügte hinzu: »Nicht weit von hier ist ein schmaler Weg.« Sie stolperten durch das unebene Gelände und befanden sich schließlich auf dem Weg. Hinter ihnen waren noch Rufe zu hören. Matthew schämte sich, daß Tracey sich allein den Polizisten stellen mußte. »Sie kriegt das schon hin«, tröstete ihn Beaks. »Tracey ist Schwierigkeiten gewohnt. Kein Problem.« Aber Matthew glaubte nicht so recht daran. »In Ocean Bay stehen Fahrzeuge bereit«, drängte Stephi und ging vor. »Wir sollten lieber sehen, daß wir da schnell hinkommen.« Wieder stolperten sie dunkle Pfade entlang und erreichten schließlich die breiten, gut beleuchteten Straßen von Ocean Bay. Ohne zu zögern liefen seine beiden Begleiter direkt auf den Parkplatz zu, auf dem sie ihre Mopeds abgestellt hatten. Matthew ging plötzlich auf, daß Stephi ihn von Anfang an begleitet und sich um ihn gekümmert hatte. Obwohl er insgeheim über Traceys Besorgnis gerührt war, so war er doch verärgert darüber, daß sie ihn für so unerfahren und schutzbedürftig hielt. 195
Die braunhaarige Stephi bestieg ihr Moped. Sie legte ihre Hand freundschaftlich auf seinen Arm und sagte tröstend: »Wenn du wie ein Ritter losstürzt, hat Tracey nur noch mehr Schwierigkeiten, Matt. Sie muß dann sowohl an sich als auch an dich denken.« »Ja, das stimmt«, antwortete Matthew niedergeschlagen. »Enttäuschte Helden«, fügte Beaks trocken hinzu. »Wir alle. Du bist nicht der einzige.« Er lächelte Matthew kurz und ermutigend an und stieg auf sein Moped. »Bis dann, Leute«, rief er, salutierte spöttisch und fuhr davon. Stephi zog Matthew mit auf ihr Moped und brauste hinter Beaks her. Als Matthew endlich bei Moskys Restaurant ankam, war er müde, schmutzig und durcheinander. Mosky sah ihn prüfend an und sagte nur: »Setz dich hin. Ich hole Kaffee.« Nachdem er ihn einige Minuten aufmerksam beobachtet hatte, fragte er ihn: »Kannst du spielen?« Matthew schüttete den Kaffee hinunter. »Gleich.« Mosky schlug ihm auf den Rücken. »Du bist in Ordnung, Junge!« Matthew hatte eigentlich gedacht, daß er an diesem Abend sehr schlecht spielen würde, denn seine Hände zitterten immer noch – ob es nun aus Wut oder Enttäuschung war, wußte er nicht. Aber wie immer ließ ihn die Musik die Probleme des Alltags vergessen und brachte ihn an einen Ort, wo alles vollkommen war, einen Ort, an dem Schönheit nicht durch achtlose Hände zerstört wurde. Der Gedanke an den Delphin, der aus den unerforschten Tiefen des Ozeans hochsprang und tanzte, wurde wieder in ihm geweckt. Er ging müde, aber zufrieden nach Hause und schlüpfte ins Bett, ohne mit Della und Des gesprochen zu haben. Aber als er gerade dabei war einzuschlafen, hörte er, wie seine Tür leise geöffnet wurde, Della hereinkam und ihn betrachtete. Sie trug einen langen, schimmernden Morgenmantel, und ihr aschblondes Haar lag um ihr Gesicht wie ein Heiligenschein. »Matt«, flüsterte sie. »Ist alles in Ordnung?« »Aber klar«, antwortete er und wunderte sich über ihre sanfte Erscheinung und den Ausdruck in ihren Augen. 196
Er wußte natürlich nicht, wie sie ihn sah – jung, müde, schutzlos und seinem Vater so ähnlich … aber irgend etwas an ihrem Verhalten störte ihn, und deshalb richtete er sich schnell auf und fragte: »Stimmt etwas nicht?« »Nein«, seufzte sie. »Es ist alles in Ordnung, Matt.« Sie setzte sich auf die Bettkante, streckte eine Hand aus und strich das Haar aus seinen Augen. Dabei machte sie einen geistesabwesenden Eindruck. »Du bist heute abend so spät nach Hause gekommen. Ich habe mir Sorgen gemacht.« »Ich habe bei Mosky ziemlich lange gespielt«, erklärte er ihr. Sie nickte und sagte nichts mehr. Er hatte das Gefühl, als ob sie über etwas nachdachte, was nur schwer in Worte zu fassen war. Schließlich sagte sie mit einer seltsam flehenden Stimme: »Bist du … bist du hier glücklich, Matt?« Matthew schluckte und versuchte, sich trotz seiner Müdigkeit zu konzentrieren. Was sollte er sagen? Er wußte genau, daß Des ihn ablehnte, und diese inständig bittende Frage von Della bestürzte ihn, obwohl er nicht wußte warum. »Äh … sicher«, antwortete er hilflos. »Es ist natürlich anders. Es dauert einige Zeit, bis ich mich eingewöhnt habe.« Verzweifelt versuchte er zu lächeln. Aber plötzlich hatte er das Gefühl, daß ein Lächeln fehl am Platze wäre. »Ist schon gut«, beruhigte ihn Della sanft, denn sie spürte seine Verwirrung. »Ich weiß, daß du müde bist.« Sie beugte sich vor und küßte ihn mit einer seltsamen, sehnsuchtsvollen Traurigkeit auf die Stirn. »Gute Nacht«, sagte sie und seufzte. Dann verließ sie leise das Zimmer. Matthew brauchte lange, bis er einschlief. In seinen Träumen floh er die ganze Zeit vor seinen Verfolgern über endlose, dunkle Pfade und suchte verzweifelt nach dem Schatten eines Delphins im endlosen Meer.
* 197
Einige Tage nach diesen Vorfällen kam ein Fremder in Moskys Restaurant. Er stand ganz ruhig da und sah sich um, bis er Matthew entdeckte, der in der Ecke saß und auf seiner Gitarre spielte. Dann setzte er sich an einen Tisch und hörte zu. Es gab viele Gäste, die Matthew jetzt zuhörten – es hatte sich herumgesprochen, daß es einen Jungen aus England gab, der wie der alte Segovia selbst spielte. (Na ja, nicht ganz so, aber fast.) Also aßen sie respektvoll schweigend ihre Hamburger und tranken ihren Kaffee – oder sie unterhielten sich mit gedämpftem Gemurmel, während Matthews Musik mit überraschender Klarheit auf den Zuhörer einströmte. Wenn der Fremde über Matthews Talent überrascht war, so zeigte er es nicht. Er saß nur da, trank in Ruhe eine Tasse Kaffee und wartete darauf, daß Matthews Finger müde werden würden. Als Matthew sein letztes Stück vorgetragen hatte und heftiger Applaus losbrach, stand der Mann auf und ging hinüber zu Mosky, der gerade an der Kasse beschäftigt war. Insgeheim war Mosky durch Matthews traurige Granadosstücke so verzaubert, daß er kaum das Wechselgeld herausgeben konnte. Verblüfft sah Mosky hoch, als der Fremde ihn ansprach. Dann nickte er und blickte zu Matthew hinüber, der gerade seine Gitarre einpackte. Der große, ruhige Fremde schlenderte zu Matthew hinüber und bot ihm einen Kaffee an. Matthew war genauso verblüfft wie Mosky und zögerte. »Vielen Dank, aber ich …« »Das geht in Ordnung, ich habe die Sache mit deinem Boß geregelt.« »Oh. Dann ist es okay.« Er folgte dem Fremden zu einem leeren Tisch, der abseits in einer Ecke des Restaurants nahe bei den Bücherregalen stand, und setzte sich. Mosky kam mit zwei Tassen Kaffee an den Tisch, zögerte und sah Matthew besorgt an. »Halten Sie ihn nicht zu lange auf. Er ist durch das Spielen müde geworden.« 198
Matthew starrte ihn überrascht an. Moskys kluge Augen schienen ihm eine Art Warnung übermitteln zu wollen, aber er konnte nicht herausfinden, welche. »Das werde ich nicht«, antwortete der Fremde höflich. »Es wird nicht lange dauern.« Matthew fiel auf, daß seine Stimme tief und auf seltsame Weise anziehend war. Sein leichter Akzent wies darauf hin, daß er kein echter Amerikaner war. »Ich möchte mich vorstellen«, begann der Fremde und lächelte freundlich. »Mein Name ist Morris, Commander Morris. Ich bin – sagen wir einmal – inoffiziell hier.« »Ich verstehe«, antwortete Matthew, der überhaupt nichts verstand. Er betrachtete den Fremden aufmerksam und sah einen ruhigen Mann mittleren Alters, mit braunem Haar, das an den Schläfen grau wurde. Er hatte ein entschlossenes, ehrliches Gesicht und einen etwas streng wirkenden Mund. Doch jetzt lächelte er schwach, und in seinen grauen, äußerst intelligenten Augen, die mit Sicherheit kalt wie Stahl blicken konnten, spiegelte sich das gleiche schwache Lächeln wieder. »Ich möchte mit dir reden«, fuhr Morris fort, »über Delphine.« Matthews Herz schien stillzustehen. »Du hast doch, soweit ich informiert bin, an diesem mißlungenen Protestmarsch teilgenommen?« Matthew zögerte. Er fragte sich, wer dieser Mann war und ob Tracey und ihre Freunde in Schwierigkeiten steckten – und ob alles, was er jetzt sagen würde, die Dinge noch verschlimmern würde. Es hatte in der lokalen Presse ein paar Schlagzeilen über den Marsch und das versuchte Eindringen in den Marinestützpunkt gegeben. Sogar der örtliche Fernsehsender hatte kurz darüber berichtet, und es hatte eine lebhafte Diskussion über die Delphinfrage gegeben, worüber Matthew sich insgeheim sehr gefreut hatte. Alles, was darüber an die Öffentlichkeit gelang, konnte hilfreich sein. Das war genau das, was Pierre gesagt hatte … »Erzähle es allen … Informiere die Medien. Sprich!« »Ja«, antwortete er und hob kämpferisch den Kopf. »Aber du warst an dem versuchten Eindringen nicht beteiligt?« 199
»Nein.« Matthew dachte immer noch angestrengt nach. »Ich wußte nicht einmal, daß so etwas stattfinden sollte. Ich glaube, daß keiner das gewußt hat.« »Bis auf die Täter!« Matthew schüttelte den Kopf. »Es waren hauptsächlich junge Leute aus dem College auf dieser Demo.« Er sah den Fremden an und versuchte ein flüchtiges Grinsen. »Sie hatten nichts Böses vor.« Das ruhige Gesicht vor ihm blieb unbewegt. »In einen Militärstützpunkt einzudringen, ist eine ernste Sache, mußt du wissen.« »Das gleiche gilt für die Delphine, die dazu ausgebildet werden, an Kampfhandlungen teilzunehmen«, gab Matthew zurück. »Aha.« Morris nickte ihm zu. »Engagierst du dich sehr für deine Ansichten?« »Ja.« Matthew holte tief Luft. »Sie müssen wissen …« (Sprich darüber! Beschäme sie! hörte er Pierre im Geiste sagen.) »Ich lernte einmal einen freilebenden Delphin kennen – an der Küste von Cornwall …« Matthew brach ab und fragte sich, wie er Morris erklären sollte, was Flite ihm bedeutete. Alles, was er sagte, würde abgedroschen klingen. Aber dann erinnerte er sich an Pierre und zwang sich weiterzusprechen. »Er war das sanfteste und liebenswerteste Wesen, das ich jemals kennengelernt habe.« Er warf Morris einen kämpferischen Blick zu und fuhr fort: »Er war nicht aggressiv. Er tötete nicht aus Spaß. Er fraß Fische, wenn er Hunger hatte, aber die meiste Zeit hat er nur gespielt …« Er holte tief Luft. »Und er war frei – wie die Grauwale, die die Küste hinunterschwimmen. Frei, kraftvoll und großartig. Er kam aus freiem Willen durch das Wasser zu mir hergeschwommen und … und begrüßte mich wie einen Bruder …« An dieser Stelle zitterte seine Stimme und er fügte noch einen Satz hinzu: »Er hieß mich ganz unschuldig willkommen.« Die beiden sahen einander in die Augen. »Niemand darf diese Unschuld ausnutzen und sie in eine Waffe umwandeln!« sagte Matthew anklagend. Ein Schweigen entstand, das schließlich von Morris gebrochen wurde. »Du bist ein redegewandter Fürsprecher.« 200
Matthew sah ihn an. »Um Ihnen die Wahrheit zu sagen: Ich wußte gar nicht, daß ich das alles so sagen konnte.« Und dann fügte er noch schnell hinzu: »Aber das ist meine ehrliche Meinung.« Morris lächelte. »Das sehe ich.« Er schien kurz darüber nachzudenken. Dann fragte er: »Sag mir, wo warst du während der Demo?« »Hinten.« »Also konntest du nicht sehen, was vorne passierte?« »Nein.« Wieder entstand eine kurze Pause. »Aber wenn die Veranstalter dich gefragt hätten, glaubst du, du hättest dann mitgemacht?« Matthew dachte darüber nach. »Ich wußte nicht, was sie vorhatten. Aber wenn ich tatsächlich geglaubt hätte, daß ich die Delphine ins Meer hätte freilassen können, dann hätte ich mitgemacht.« Morris nickte wieder. »Aber das war nicht möglich.« »Nein. Das glaube ich auch.« »Weißt du, Matthew«, sagte Morris sanft, »es gibt noch andere Argumente. Die Marine würde anführen, daß sie damit Amerika gegen einen möglichen Angriff eines Atom-U-Boots schützen könnten und daß jedes Mittel, das sie zur Sicherung der Verteidigung anwendet, recht ist.« Matthew blieb hartnäckig: »Das ist ihre Meinung. Ich glaube nicht, daß die Menschheit das Recht hat, anderen Lebewesen die Erledigung ihrer Drecksarbeit zu übertragen. Das ist widerwärtig.« Wieder sah er Morris eindringlich an. »Wer sind wir, daß wir den Delphinen befehlen, was sie zu tun haben? Wir sind nicht Gott.« »Nein«, sagte Morris seufzend. »Wir sind nicht Gott. Das war schon immer unser Fehler – der Glaube, daß wir es seien.« Die Atmosphäre zwischen ihnen war schon viel freundlicher geworden. Aber Morris mußte noch eine Frage stellen. »Du bist doch kein Kommunist?« Matthew war erstaunt. »Ein Kommunist? Ich dachte, das hätte sich mit der Perestroika in nichts aufgelöst?« Morris blieb gelassen. »Nicht ganz, Matthew.« Matthew war immer noch leicht erstaunt. »Tut mir leid, aber ich interessiere mich nicht besonders für Politik.« 201
»Leute, die in Militärstützpunkte eindringen, haben manchmal andere Motive als selbstlose Besorgnis wegen der Delphine.« »Oh. Ich verstehe.« Matthew fing an zu lachen. »Kommunisten? Das können Sie nicht ernst meinen!« Aber er sah an Morris' Gesichtsausdruck, daß es ihm bitterernst war. »Ich hatte keine Hintergedanken. Und ich glaube auch nicht, daß die anderen welche hatten.« »Glaubst du, daß das Mädchen – Tracey Holland – aufrichtig war?« Matthew zögerte. Er erkannte die Falle, die Morris ihm gestellt hatte. Würde er Tracey jetzt verteidigen, gäbe er zu, daß er sie kannte und daß sie die Rädelsführerin war. Würde er leugnen, sie überhaupt zu kennen, stand er als Lügner da. Morris beobachtete ihn. Ihm waren Matthews Gedanken nicht entgangen. »Wenn ich du wäre, würde ich ehrlich sein«, sagte er sanft. »Wir wissen schon eine ganze Menge über Tracey Holland.« Matthew seufzte. »Das dachte ich mir. Steckt sie in ernsten Schwierigkeiten?« Morris sah ihn aufmerksam an. Es schien, als ob er die möglichen Antworten in seinen Gedanken abwägen würde. »Das hängt davon ab«, antwortete er unbestimmt. »Wovon?« »Davon, was wir von ihren Beweggründen halten. Du hast meine Frage aber noch nicht beantwortet.« »Ich habe sie nur zweimal getroffen«, sagte Matthew langsam. »Nein, dreimal, wenn ich die Demo mitzähle, wo sie alles organisiert hat. Aber ich würde sagen, daß ihre Beweggründe ehrlich sind – ob sie nun richtig oder falsch sein mögen. Sie macht sich genau wie ich Sorgen um das Schicksal der Delphine.« Morris senkte den Kopf und nickte. »Und sie nahm mich mit und zeigte mir, wie die Grauwale die Küste hinunterschwimmen. In dem Augenblick fühlte ich genau, daß sie diese freilebenden Wesen auf ihre ganz persönliche Art liebte.« Wieder nickte Morris. »Hat sie jemals mit dir über gewaltsame Aktionen gesprochen?« »Nein. Sie hat sehr darauf geachtet, mich da rauszuhalten. Ich hatte 202
das Gefühl …« Er schwieg, weil er nicht wußte, wie er fortfahren sollte. »Ja?« »Ich hatte ein- oder zweimal das Gefühl, daß sie außer dem vorgesehenen Protestmarsch noch etwas anderes planten – sie und einige andere. Aber sie haben nie darüber gesprochen.« Wieder schwieg er und fügte dann aus einem Impuls heraus hinzu: »Aber ich glaube ganz ehrlich, daß Tracey niemals an ernste militärische Verwicklungen gedacht hat. Sie ist wahrscheinlich ein genauso guter amerikanischer Staatsbürger wie Sie.« »Ich bin eigentlich Engländer«, murmelte Morris und das schwache Lächeln tauchte wieder in seinen stahlgrauen Augen auf. »Aber ich wiederhole: Du bist ein guter Fürsprecher.« Matthew schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Die Leute, die für den Tierschutz eintreten, haben auch Dinge getan, die nicht richtig waren. Das Freilassen von Nerzen und infizierten Ratten zum Beispiel – und sie haben sogar Bomben gelegt. In England sind sie auch in Schwierigkeiten geraten, nicht wahr? Aber wenigstens machen sie die Leute darauf aufmerksam, was vor sich geht.« Er hörte Pierres tiefe Stimme wieder in seinen Gedanken! Sprich darüber. Erzähle es allen. »Einmal habe ich einen Meeresbiologen getroffen …«, sagte er laut »Wo war das?« »In der Bretagne. Wir haben einige tote Delphine auf einem Strand untersucht. Er sagte, daß die beste Art zu helfen die wäre, es allen zu erzählen.« Herausfordernd blickte er Morris an. »Ich glaube, das war es, was Tracey versuchen wollte. Staub aufwirbeln, um die Leute aufzurütteln. Sie ist einfach ein Mädchen, das sich leidenschaftlich für etwas engagiert – und weder eine Terroristin noch eine übriggebliebene russische Spionin.« Morris lachte. »Da kannst du recht haben.« Er hatte herausgefunden, was er wissen wollte, und unbewußt hatte Matthew seine Unschuld in der ganzen Sache bewiesen. Aber trotzdem wollte er ihn noch warnen. »Du könntest Schwierigkeiten mit den Einwanderungsbehörden bekommen, wenn du in ›subversive Aktivitäten‹ verstrickt bist. Was halten deine Eltern denn davon?« 203
»Ich habe keine Eltern«, erwiderte Matthew mit dünner Stimme. Er glaubte, Mitleid in Morris' Augen zu entdecken. Schnell sagte er: »Ich bin nur für kurze Zeit hier.« Morris sah ihn ruhig an. »Möchtest du darüber sprechen?« Einen Augenblick zögerte Matthew, doch dann antwortete er: »Ja. Aber nur, wenn Sie keinen Kommentar abgeben.« »Wieso?« »Ich mag es nicht, daß die Leute immer Mitleid mit mir haben«, fuhr er Morris an. »Tut mir leid. Ich weiß, daß ich überempfindlich bin«, entschuldigte er sich gleich darauf. »Ich werde keinen Kommentar abgeben, wenn du es nicht willst«, versprach Morris feierlich. »Also los.« Und so erzählte Matthew es ihm. Alles. Er zeigte ihm sogar die Karte des Kapitäns. Und Morris hielt sein Versprechen und machte ein gelassenes Gesicht – was er insgeheim dachte, sprach er nicht aus. Schließlich schloß Matthew verlegen: »Della Grant … Sie ist sehr nett zu mir … Obwohl ich nicht genau weiß, warum.« »Und Desmond Grant?« Das war der springende Punkt, und Morris hatte das treffsicher herausgefunden. »Ich glaube, daß er mich nicht mag.« »Und du weißt nicht ganz genau, warum?« Matthew grinste. »Richtig.« »Bist du denn der Meinung, daß das eine Dauerlösung wäre?« Dieses Mal zögerte Matthew überhaupt nicht. »Nein, das glaube ich nicht.« Morris äußerte sich nicht dazu. »Was willst du tun?« Matthew zuckte mit den Schultern. »Ich habe dem alten Kapitän versprochen, es zu probieren – also tue ich es. Dann … wer weiß? Ich nehme an, daß ich wieder nach Hause fahre und mir irgendeinen Job suche.« »Wirst du das Angebot von Kapitän St. George annehmen?« Er sah die kleine Karte des Kapitäns interessiert an. »Ich weiß nicht. Vielleicht. Hängt davon ab, wo ich lande.« 204
»Du weißt, daß es ein verdammt gutes Angebot ist, oder? Er ist ein wirklich bemerkenswerter Mann.« Matthews Gesicht erhellte sich plötzlich. »Kennen Sie ihn?« Morris wunderte sich über das unerwartete Strahlen auf Matthews melancholischem jungen Gesicht. Der Junge wirkte wie verwandelt, dachte er. »Ich habe ihn kennengelernt«, sagte er vorsichtig. »Man kennt ihn fast überall auf der Welt.« Er gab Matthew die wertvolle, kleine Karte zurück. »Paß gut darauf auf. Sie kann dir noch von großem Nutzen sein.« Matthew nickte und schob energisch jeden sehnsuchtsvollen Gedanken an den ruhigen Cornwallschen Strand zur Seite und bezwang auch den Wunsch, die funkelnden Augen des alten Kapitäns vor sich zu haben. Falls Morris den trostlosen Ausdruck des Verlustes auf Matthews Gesicht bemerkt hatte, so gab er jedenfalls keinen Kommentar dazu ab. Er stand ruhig auf und reichte Matthew seine eigene Karte. »Du bist sehr offen zu mir gewesen, Matthew. Ich rechne dir das hoch an. Ich muß dir sagen, daß du – und auch Tracey Holland – vielleicht eine Zeitlang beobachtet werdet, aber du brauchst dir darüber keine Sorgen zu machen. Die Angelegenheit wird bald im Sande verlaufen.« Er klang für einen kurzen Moment amüsiert, aber dann wurde er wieder ernst. »Wenn du in der Zwischenzeit Hilfe oder Rat brauchst, kannst du mich jederzeit hier erreichen.« Matthew nahm seine Karte und sah sie sich näher an. Auf der Karte stand nur ›Commander J.S. Morris, RN‹ und die Adresse des amerikanischen Marinestützpunktes in Fort Rosencranz. »Sie sagten doch, Sie wären Engländer«, wunderte er sich. »Eigentlich schon, aber das ist etwas schwierig zu erklären.« Matthew nickte und steckte die Karte in seine Tasche. »Ich weiß gar nicht, warum Sie sich die ganze Mühe machen«, brummte er. Morris streckte ihm seine Hand entgegen. Überrascht nahm Matthew sie. Morris' Händedruck war fest. »Sieh zu, daß du dich in der Zwischenzeit aus Schwierigkeiten heraushältst«, murmelte er. »Viel Glück.« Dann ging er an den besetzten 205
Tischen des Restaurants vorbei und verschwand in der Menschenmenge. Mosky kam auf Matthew zu und fragte besorgt: »Alles in Ordnung, Matt?« Matthew sah ihn grinsend an. »Alles in Ordnung«, bestätigte er. »Das war knapp.«
* Aber als er an diesem Abend nach Hause kam, war überhaupt nichts in Ordnung. Des wartete auf ihn, und sein Gesicht ließ ein Donnerwetter erwarten. »Was hast du mit dieser Tierschützerdemo zu tun?« Matthew erstarrte. »Was ist damit?« »Zwei Typen haben dich gesucht. Wegen der Demo. Das ist los.« »Zwei?« Matthew riß die Augen auf. Er fragte sich, wer sie wohl waren. Morris konnte es jedenfalls nicht sein. »Ja. Zwei.« Des funkelte ihn wütend an. Seine Augen wirkten in dem anklagenden Gesicht fast schwarz. »Ich nehme an, sie waren vom FBI. Und ich mag es nicht, wenn irgendwelche verdammten Polizisten in meiner Wohnung herumschnüffeln!« »Es tut mir leid …« »Leid«, knurrte Des wütend. Und dann kam das erwartete Donnerwetter. Schweigend hörte Matthew ihm zu. Wahrscheinlich hatte er es verdient, aber er war so lange auf sich selbst gestellt gewesen, daß er ungern darauf hingewiesen wurde, daß er das zu tun hatte, was man ihm befahl. »Ein hochnäsiger und rotzfrecher Junge aus England … Hängst hier herum und denkst, daß du machen kannst, was dir gefällt … Nimmst keine Rücksicht auf die anderen …« Des tobte weiter. »Ich will keinen gottverdammten Gangster in meiner Wohnung haben.« »Ich bin kein Gangster, Des. Ich bin nur mitmarschiert. Ich war am Einbruch nicht beteiligt.« 206
»Das ist auch gut so«, fuhr Des ihn an, »denn sonst würden sie dich wie unerwünschtes Gepäck gleich wieder nach Hause verfrachten – und damit haben sie verdammt noch mal recht!« Matthew konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß Des' Vokabular ziemlich begrenzt war. »Ist es das, was du willst?« Rot im Gesicht und immer noch ärgerlich unterbrach Des seine Schimpfkanonade. Er hatte jetzt jede Vorsicht über Bord geworfen. »Darauf kannst du wetten, Junge. Della hat dich hergeholt. Es war ihre Entscheidung, nicht meine. Ich habe es nie gewollt. Ich mag es nicht, daß sie immer noch in der gottverdammten Vergangenheit lebt.« Matthew wurde bleich. »Was meinst du damit?« »Du bist ihr Ersatzliebhaber, mein Junge. Wußtest du das nicht?« Die kleinen Augen blickten verachtungsvoll auf ihn herab. »Sie wollte deinen Vater, aber sie konnte ihn nicht bekommen. Jetzt will sie dich.« »Aber das ist doch verrückt.« Matthews Gesicht war inzwischen so bleich geworden, daß sogar Des ins Stocken geriet. »Sicher ist das verrückt. Die Leute machen viele verrückte Dinge, wenn das schlechte Gewissen sie verfolgt.« »Schlechtes Gewissen? Warum?« Und als Des zögerte, wiederholte Matthew die Frage. Auch er war zornig geworden. »Warum, Des? Ist es jetzt nicht an der Zeit, daß ihr mir endlich erzählt, was geschehen ist?« Des sah ihn wachsam an und fand, daß es wirklich Zeit war, Matthew über einige Dinge aufzuklären. »Okay, ich werde es dir erzählen.« Er wedelte mit einer leeren Bierdose herum und sprach mit schonungsloser Offenheit. »Della heiratete deinen Onkel Ned, den älteren Bruder deines Vaters. Aber als sie deinen Vater sah, verliebte sie sich sofort in ihn. Er hatte mit deiner Mutter eine schwere Zeit durchzustehen …« Wieder sah er Matthew wachsam an und sprach dann herausfordernd weiter: »Also hat Della ihn eingeladen, bei seinem Bruder in Edinburgh zu wohnen. Ich nehme an, daß sie sich ihm ziemlich aufgedrängt hat – Della ist so, wenn sie von etwas besessen ist. Und irgendwie hat sie ihn ins Bett gekriegt. Ned kam nach Hause und hat sie dort in flagranti erwischt. Es gab eine riesige Szene. Michael fuhr vol207
ler Schuldgefühle los und knallte mit seinem gottverdammten Wagen direkt in einen LKW.« Matthew seufzte traurig. All die heroischen Vorstellungen, die er sich von seinem Vater gemacht hatte, lösten sich in nichts auf. Helden waren auch nur Menschen. Sie waren nicht unfehlbar. Auch sie hatten ihre Schwächen … »Della hat nie aufgehört, sich Vorwürfe zu machen. Und sie gab auch nie den Versuch auf, es an Ned wiedergutzumachen.« Verstimmt starrte er an Matthew vorbei. »Aber sie hörte nie auf, deinen Vater zu lieben«, fügte er bitter hinzu. »Das ist wie in einem gottverdammten Film!« »Aber sicher …« Matthew wußte nicht, wie er es in Worte fassen sollte. »Oh, sicher ist sie mit mir glücklich. Das nehme ich jedenfalls an.« Wieder zuckte er mit den Schultern und sagte dann grob: »Auf jeden Fall war sie es – bis du kamst. Das hat alles wieder aufgewühlt, was schon lange vergessen war. Und das mag ich nicht.« »Nein«, stimmte Matthew ihm kühl zu. »Ich auch nicht.« Des blickte ihn verblüfft an. »Wirklich?« Jetzt gewann Matthews eigene Bitterkeit die Oberhand. »Was glaubst du denn, wie ich mich fühle? Ich bin ich, Matthew. Ich bin nicht mein Vater. Diese ganze alte Geschichte – ich möchte kein Teil davon sein.« »Es tut mir leid«, sagte er schließlich und sah Des aufrichtig an. »Wir kommen wohl nicht klar miteinander, oder?« »Nein, Junge«, antwortete Des zustimmend und bereute schon, daß er so zornig geworden war, aber er erkannte, daß es zu spät war, um etwas von dem, was er gesagt hatte, zurückzunehmen. »Ja, wir kommen nicht klar miteinander. Auch mir tut es leid.«
* Della kam sehr spät nach Hause. Und sofort begannen die beiden, sich zu streiten. Zu der Zeit hatte Matthew schon beschlossen, was zu tun war. Nur hatte er nicht damit gerechnet, daß er ihren Streit mitanhören müsse, und so fühlte er sich noch schlechter als vorher. 208
»Wie konntest du!« schrie Della. »Wie konntest du mir das antun? Und wie konntest du ihm das antun! Er ist doch noch ein Kind.« Auch Des wurde jetzt laut: »Er wollte die Wahrheit hören, und ich habe sie ihm verdammt noch mal erzählt.« »Ich hätte nicht gedacht, daß du so grausam sein kannst.« »Es wurde langsam Zeit, daß hier mal wieder jemand gesunden Menschenverstand zeigt.« »Was wird er jetzt von mir denken? Wie kann ich ihm gegenübertreten? Du verdammter Narr, du hast alles ruiniert …« Natürlich, das war es. Sie konnte Matthew nicht gegenübertreten, und Matthew konnte ihr nicht gegenübertreten. Es war wirklich alles gründlich zerstört. An Streit war er gewöhnt – an die endlosen Streitereien seiner Mutter –, und er haßte ihn. Besonders den letzten, der zu dieser furchtbaren Tragödie geführt hatte. Und dieser Streit war auch mit einer Tragödie verbunden. Ihm war klar, daß es noch mehr Streitereien geben würde, wenn er bleiben würde. Es würde ihn zugrunde richten. Und nicht nur ihn, sondern auch Della und Des. Er wußte, was er zu tun hatte. Er wartete, bis der Streit abgeklungen war und in der Wohnung nächtliche Stille herrschte. Dann stand er auf, packte seine wenigen Habseligkeiten in die Reisetasche, nahm seine Gitarre und schlich durch das Wohnzimmer zur Eingangstür. Aber etwas schien ihn zurückzuhalten. Bei Dellas Schreibtisch blieb er stehen, nahm ein Blatt Papier und den Kugelschreiber, der danebenlag, und hinterließ ihr eine Nachricht. »Vielen Dank für alles. Schade, daß es nicht geklappt hat. Matthew.« Dann dachte er: Das ist ein bißchen wenig. Sie wird sich Sorgen machen. Vielleicht sogar die Polizei verständigen. Ich schreibe lieber etwas Vernünftiges. Einen Augenblick zögerte er unsicher, dann fügte er ein PS hinzu: »Ich besuche einen Freund auf Baja. Bevor ich nach Hause fahre, melde ich mich bei euch.« Besser, sie gleich darüber zu informieren, daß er wieder nach Hause fahren wollte. Die Entscheidung war gefallen. So war es einfacher … 209
Zufrieden legte er den Zettel auf den Wohnzimmertisch. Dann verließ er leise die Wohnung, nahm den Fahrstuhl und betrat die Straße. Es war immer noch dunkel, und er wußte nicht, wohin er gehen sollte. Aber er kannte den Weg zum Strand. Das Meer war kühl und erfrischend. Er würde ein bißchen schwimmen und auf das Tageslicht warten. Dann könnte er mit seiner Arbeit bei Mosky beginnen und sein weiteres Vorgehen planen. Er erreichte den Strand, der bis auf ein paar Liebespaare leer war. Matthew stellte seine Reisetasche neben die Gitarre. Einen Augenblick hatte er Angst, die wertvolle Gitarre unbeaufsichtigt zurückzulassen. Wenn sie nun gestohlen wurde? Er würde sich nie eine neue leisten können. Aber es war niemand in der Nähe. Alles war ruhig und still. Seufzend ging er in die ruhige See und überließ seinen müden Körper dem auf- und niedergehenden Wasser … Als er Moskys Restaurant betrat, ging Matthew plötzlich auf, daß er nicht bleiben konnte. Des und Della wußten, wo er arbeitete, und würden ihn hier suchen. Also bemühte er sich nach Kräften, seinem scharfsinnigen Boß die Situation zu erklären und den Vorwurf und die Besorgnis in seinen Augen zu übersehen. Aber es war schwer, diese Augen zu ignorieren. »Bist du in Schwierigkeiten, Junge?« fragte Mosky. »Der Typ, der dich hier aufgesucht hat – macht er dir Schwierigkeiten?« Matthew schüttelte den Kopf. »Nein. Er nicht … Es sind nicht diese Art Schwierigkeiten, Mosky.« Er schwieg einen Augenblick und fügte dann hinzu: »Er kam wegen der Delphine.« Moskys kluge, braune Augen weiteten sich. »Du hast an der Demo teilgenommen?« »Ja.« Er fügte hinzu: »Ich habe etwas übrig für Delphine.« »Warum?« »Ich habe einmal einen kennengelernt … es ist schon lange her.« Das plötzliche Aufleuchten, das auf Matthews Gesicht erschien, als er seinen Erinnerungen nachhing, überraschte Mosky. »Ein Freund von dir?« »Kann man so sagen.« Das Leuchten war immer noch da. »Das 210
Zitat von Blake, das Sie für mich gefunden haben, erinnern Sie sich?« »Freude wie sie fliegt.« Mosky konnte sich noch gut erinnern. »Das war er. Mein Delphin … Ich habe ihn Flite genannt.« Mosky nickte. »Sie beschämen uns – diese Wesen.« Er schwieg einen Augenblick und fragte dann energisch: »Wenn es nicht die Delphine sind, was ist dir dann für eine Laus über die Leber gelaufen?« Matthew grinste ihn schmerzlich an. »Es ist … eine Familienangelegenheit.« Er nahm an, daß es sich um Familie handelte, obwohl der Gedanke ihn besonders nach Des' bitterer Aussage: »Du bist ein Ersatzliebhaber – wußtest du das nicht?« zum Frösteln brachte. »Sie wissen, wohin du gehen willst?« »Ich habe eine Nachricht hinterlassen.« Mosky nickte zufrieden. Er hatte selbst Familie und wußte welche Sorgen, sich Eltern um ihre Kinder machten. »Wo willst du hin?« »Nach Baja California. Der Wale wegen.« »Scammon's Lagoon?« »Ja.« »Gut, aber paß auf dich auf, Junge. Das ist ein wildes Land und in der Wüste ist es sehr heiß.« Matthew war verblüfft. »Wüste?« Er stellte fest, daß er eigentlich nicht sehr viel über Baja California wußte – nur daß es ein magischer Ort mit Lagunen und warmen Gewässern war, in denen die Wale Zuflucht fanden, während sie ihre Jungen zur Welt brachten. »Hast du Geld?« fragte Mosky nüchtern. »Mosky!« Matthew war entsetzt. »Sie haben mir viel gezahlt. Und ich habe ein bißchen gespart.« »Ha! Das wird nicht lange reichen.« Er griff in die Kasse, nahm einhundert Dollar heraus und hielt sie Matthew mit gebieterischer Geste hin. »Nimm.« Matthew starrte ihn an. »Ich brauche es nicht, wirklich.« »Du wirst es brauchen.« Mosky klang schon fast zornig. »Arbeite es ab, wenn du zurückkommst.« »Und wenn ich nicht zurückkomme?« 211
»Das wirst du, Junge«, sagte Mosky und grinste plötzlich. »Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.« Er drückte die Banknoten in Matthews Hand. »Und in der Zwischenzeit – paß gut auf dich auf. Und behalte deine Gitarre. Damit kannst du dir immer eine Mahlzeit verdienen.« »Sogar in Mexiko?« »Überall«, stellte Mosky klipp und klar fest. »So wie du spielst. Überall.« »Ich hoffe, daß Sie recht haben«, erwiderte er und dankte insgeheim Tudor Davies und dem Kapitän, die ihm dieses unschätzbare Geschenk gemacht hatten. »Mosky, ich … vielen Dank für alles.« Er wußte nicht, wie er seine Dank in Worte fassen sollte. »Ach, Quatsch«, sagte Mosky, »du hast mir viele neue Kunden gebracht.« Er wartete, bis Matthew lachte und fügte dann hinzu: »Ich wünsche dir eine schöne Zeit.« Matthew ergriff seine Hand. Er hatte plötzlich einen Kloß im Hals und konnte nicht sprechen. Schnell verließ er das Restaurant. Er sah so jung und verletzlich aus, als er mit der Gitarre über der Schulter dastand – jung und einsam. Mosky seufzte und schüttelte den Kopf, als er ihm nachblickte. Aber dann rief einer der Gäste in dem vollen Restaurant nach ihm, und er riß sich vom Fenster los. Als Matthew sich unter die Menschen gemischt hatte, die zur Arbeit eilten, fühlte er sich noch zielloser und isolierter als zuvor. Er blieb stehen, versuchte, sich über seine Gedanken klar zu werden und ging dann in ein Reisebüro, um sich ein Touristenvisum für Mexiko zu besorgen. In dem Reiseführer, den er von Mosky bekommen hatte, stand, daß er eins benötigen würde. Aber zuerst hatte er noch etwas anderes vor. Er mußte herausfinden, was mit Tracey geschehen war. Er ging zu ihrem Wohnhaus und stieg die Treppe zu ihrer Wohnung hinauf. Dann klingelte er an Traceys Tür und wartete nervös, daß jemand öffnete. Was, wenn Tracey im Gefängnis oder sonstwo wäre und die FBI-Leute in der Wohnung auf ihn warteten? Aber es war Tracey, die die Tür öffnete. Als sie Matthew sah, wurde sie wütend. 212
»Hau ab, du Trottel. Du solltest mich doch nicht kennen.« »Tut mir leid«, antwortete Matthew unnachgiebig. »Ich wollte wissen, wie es dir geht.« »Das siehst du doch. Mir geht es gut. Nun verschwinde, bevor sie dich hier finden.« Matthew kniff eigensinnig die Lippen zusammen. »Nicht bevor du mir erzählt hast, was mit dir passiert ist.« Tracey fluchte. »Verdammt, hast du es immer noch nicht kapiert? Komm rein.« Sie zog ihn in die Wohnung und knallte die Tür hinter sich zu. »Also«, sagte sie verstimmt, »zu deiner Information – sie haben mich verhaftet, ich muß eine Geldstrafe zahlen und darf mir ein Jahr lang nichts zuschulden kommen lassen.« Plötzlich grinste sie und fügte hinzu: »Letzteres fällt mir besonders schwer.« Matthew lachte und war erleichtert, daß alles so glimpflich verlaufen war. Dann ging Tracey in die Offensive: »Warum bist du nicht bei der Arbeit?« Matthew seufzte. »Ich habe heute gekündigt.« »Du hast was?« Sie sah ihn ungläubig an. »Du bist verrückt. Der Job war doch ein echter Glücksgriff.« »Ich weiß«, antwortete Matthew traurig. »Warum nur?« »Mir blieb nichts anderes übrig.« Matthew sah sie an und wußte nicht, wie er es ihr erklären sollte. »Ich werde auch nicht länger in San Diego bleiben.« »Was ist passiert, Matt?« »Mit den Leuten, bei denen ich gewohnt habe, kam ich einfach nicht klar.« Tracey nickte und stellte keine weiteren peinlichen Fragen. »Wohin willst du?« »Nach Baja.« Er sah sie immer noch an. »Die Wale beobachten?« Er zögerte. »Auch. Und ich kenne da unten jemanden, den ich vielleicht besuche.« 213
»Vielleicht?« »Na ja, sie sagte, sie würde dort sein – so ungefähr um diese Zeit.« »Sie?«, fragte Tracey mißtrauisch. »Petra Davison. Sie ist Meeresbiologin und beobachtet Wale.« »Aha.« Tracey war besänftigt. »Wie willst du dahin kommen?« Matthew zuckte mit den Schultern. »Mit der Bahn bis zur Grenze. Dann werde ich weitersehen. Wahrscheinlich per Anhalter.« »Vielleicht komme ich mit«, bot Tracey an. Matthew strahlte. »Das wäre toll.« »Ich nehme an, wenn wir uns hinter der Grenze treffen, können sie nichts sagen.« »Sie? Gibt es sie wirklich?« Diesmal zuckte Tracey mit den Schultern. »Woher soll ich das wissen? Dieser Typ namens Morris sagte …« »Oh. Er hat dich auch aufgesucht?« Sie blickte ihn überrascht an. »Bist du verhört worden?« »Ja.« »Wo?« »In Moskys Restaurant.« »Mein Gott!« sagte sie angewidert. »Und ich dachte, ich hätte dich da herausgehalten.« »Das hast du«, antwortete Matthew. »Er war wirklich sehr nett zu mir.« »Nett!« Ihre Augen funkelten wütend. »Das sind die schlimmsten. Die Leisetreter. Ihnen kann man überhaupt nicht trauen.« Matthew lachte von neuem. »Ich glaube nicht, daß er uns auf Baja belästigt. Kommst du nun mit oder nicht?« Tracey überlegte. »Es ist bestimmt ganz gut, einige Zeit von hier zu verschwinden. Ich treffe dich auf der anderen Seite der Grenze – mit dem Fly. Es wird uns schon hinbringen, aber es wird eine rauhe Fahrt.« »Das macht mir nichts aus.« Seine Stimme klang ruhig und fröhlich. Tracey blickte ihn wieder finster an. »Wissen deine Leute, wohin du willst?« »Das sind nicht meine Leute«, antwortete er automatisch. »Aber trotzdem, ja, ich habe eine Nachricht hinterlassen.« 214
Sie nickte zufrieden. »Ich verstehe überhaupt nicht, warum du dir um sie Gedanken machst. Du kannst anscheinend kommen und gehen, wann du willst.« »Ich bin älter«, sagte Tracey entschieden. »Ich bin schon lange von zu Hause weg.« Sie kniff ihre Lippen fest zusammen, schwieg und machte damit klar, daß weitere Fragen nicht erwünscht waren. Matthew übersah ihren finsteren Blick. »In Ordnung. Wann treffen wir uns?« »Morgen. Hast du ein Touristenvisum?« Er schwenkte das Dokument. »Alles in Ordnung. Ich werde heute nach San Ysidro fahren.« »Hast du Geld?« »Genug.« Er sprach fast so kurz angebunden wie Tracey. »Du mußt irgendwo schlafen. Und denk daran, daß du regelmäßig essen mußt.« »Das kriege ich schon hin«, versicherte Matthew und wollte sich auf den Weg machen. »Bis morgen.« »In Tijuana gibt es eine Jugendherberge.« Sie sah ihn streng an. »Ich werde dich morgen früh dort abholen.« »In Ordnung. Hör endlich auf, mich zu bemuttern.« »Und kauf dir eine Flasche Wasser.« »Okay, okay.« »Hast du einen Schlafsack?« Sie merkte, daß er zögerte und sprach weiter, ohne ihm Gelegenheit zu einer Antwort zu geben. »Nimm besser einen von mir mit. Ich habe mehrere.« Sie zerrte einen Schlafsack aus dem Schrank und gab ihn Matthew. Als sie sein aufsässiges Gesicht bemerkte, ging sie auf ihn zu und legte eine Hand auf seinen Arm. »Du mußt auf dich aufpassen, verstanden? Im Augenblick kannst du keine Schwierigkeiten mehr gebrauchen.« »Das gilt auch für dich«, brummte Matthew und grinste. »Bis dann.« Er klemmte sich den Schlafsack unter den Arm, verließ die Wohnung und ging die Straße hinunter. Er blickte sich nicht um, um zu sehen, ob ihn jemand beobachtete. Oder ihm folgte. Tracey sah aus dem Fenster. Genau wie Mosky seufzte sie, als sie 215
Matthew die Straße heruntergehen sah. Er wirkte klein und schutzlos. Sie würde alles in ihrer Macht stehende tun, um ihn aus allen Schwierigkeiten herauszuhalten.
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Teil 4
Zerstört das umherfliegende Leben
Matthew wollte nicht länger in San Diego bleiben. Er dach-
te, es sei besser, sich sofort loszusagen und auf den Weg zu machen. Also ging er in die Innenstadt zum Santa Fé Bahnhof und nahm die Bahn nach San Ysidro. Die bunte Mischung der Fahrgäste faszinierte ihn. Es waren heimkehrende Mexikaner, Tagesausflügler auf dem Weg zur Grenze, arme Studenten und ein paar Rucksacktouristen. Matthew lauschte dem englischen und spanischen Stimmengewirr und wünschte, daß er während seiner Schulzeit ein bißchen mehr Spanisch gelernt hätte. Seine Spanischkenntnisse bezogen sich hauptsächlich auf musikalische Begriffe. Das half ihm natürlich im Alltag nicht viel weiter. Andante melancólico, amigos. Con mota fantasía … Nein, er glaubte nicht, daß ihm das viel nützen würde. In San Ysidro stieg er zusammen mit einer Gruppe schwatzender Mexikanern aus und folgte ihnen durch den Zoll, der seinen Paß und sein Visum kontrollierte. So weit, so gut. Matthew ging über eine Fußgängerbrücke und erreichte den Stadtrand von Tijuana. Er fragte einen vorbeigehenden Touristen nach dem Weg zur Jugendherberge und erfuhr, daß er weiter südlich den Fluß noch einmal überqueren mußte, da sich die Jugendherberge am anderen Ende der Stadt befand. Matthew dankte dem schlanken, sonnengebräunten Amerikaner, der ihn anlächelte und ihm noch einen schönen Tag wünschte. Aber irgendwie war Matthew von der Idee, sich auf den Weg zur Jugendherberge zu machen, nicht besonders begeistert. Er beschloß deshalb, sich Tijuana anzusehen und danach zum Strand zu gehen. In unmittelbarer Nähe des Meeres fühlte er sich immer besser. Aber trotz der mutigen Worte, die er Tracey gegenüber geäußert hatte, war er sich seiner dürftigen Ersparnisse sehr wohl bewußt. Deshalb meinte er, daß er genauso gut am Strand schlafen könnte, was auch viel angenehmer war, 218
als in einem überfüllten Schlafsaal in der Jugendherberge zu nächtigen. Er schlenderte weiter. Bei jedem Schritt und jeder von einem Auto oder Lastwagen aufgewirbelten Staubwolke wurde ihm heißer, und er hatte Durst. Er stellte fest, daß die Innenstadt von Tijuana genauso aussah wie alle Innenstädte – Einkaufszentren, Menschenmengen, Souvenirläden und Bars – alles wirkte neu und wohlhabend. Dahinter standen die verwahrlosten, schäbigen Barackensiedlungen. Er setzte sich nicht auf einen burro, der mit schwarzen und weißen Streifen wie ein Zebra angemalt war und neben dem ein aufdringlicher Fotograf stand. Er wich auch einem Straßenhändler aus, der ihm einen Sombrero in schreienden Farben verkaufen wollte. Aber dann überwältigte ihn der aromatische Geruch von Essen, und er blieb an einem einladend aussehenden Stand stehen, an dem heiße tacos verkauft wurden. Es kam ihm vor, als ob er schon sehr lange gegangen war und dabei alles bewundert hatte: die Mexikaner mit ihrer hellen Kleidung, die Stände mit bemalten Töpfen und buntgestreiften Decken, Hauseingänge, die zu kühlen Höfen führten, Balkone, die mit Blumen bepflanzt waren, und ab und zu ein Kind mit brauner Hautfarbe … Schließlich kam er zu der neuen, am Meer gelegenen Stierkampfarena, und das Meer lag strahlend und ruhig vor ihm. Er ging am Strand entlang und suchte nach einem ruhigen Platz. Schließlich blieb er an einer Stelle stehen, an der nur ein paar junge Leute eine Strandparty feierten. Hinter ihnen befanden sich einige Fischerboote und eine heruntergekommene Fischerhütte. Wenn er über die Dünen ins Landesinnere blickte, konnte er einen Campingplatz und eine Sandpiste sehen, die von der kurvenreichen Mautstraße abzweigte und die Küste entlang nach Süden führte. Er stellte seine Reisetasche und den Gitarrenkoffer ab und legte sich in den Sand, um sich ein wenig auszuruhen. Wenn er zu lange lief, taten ihm immer noch die Beine weh. Aber dann fiel ihm plötzlich ein, daß er ein Problem hatte. Er fragte sich, wie er es lösen könnte. Es war das gleiche wie in San Diego. Er wollte unbedingt schwimmen, um sich ein wenig abzukühlen. Aber was sollte er in der Zeit mit seiner Gi219
tarre machen? Sein Geld und seinen Ausweis trug er in einem wasserfesten Beutel bei sich, der an seiner Badehose befestigt war. Als er in San Diego angekommen war, hatte man einen langen Vortrag über Taschendiebe am Strand gehalten, und er hatte deshalb wohlweislich diese Vorsichtsmaßnahme getroffen. Aber was sollte er mit seiner wertvollen Gitarre machen? Er konnte sie nicht einfach am Strand zurücklassen. In San Diego hatte er es einmal getan. Aber hier? Er sah sich noch unschlüssig um, als einer der jungen Leute zu ihm herübergeschlendert kam. »Hast du es noch weit?« Matthew zuckte mit den Schultern. »Ich will zur Scammon's Lagoon – wenn ich es bis dorthin schaffe.« »Wale beobachten?« »Ja.« Der große, blonde Junge nickte. »Wenn du trampst, dauert das ganz schön lange.« »Ja, das glaube ich auch«, stimmte Matthew ihm zu. »Kannst du darauf spielen?« fragte der Junge und zeigte auf die Gitarre. »Sicher.« Der Junge sah ihn nachdenklich an. »Hast du Hunger?« Matthew seufzte. »Ein Bad könnte ich noch besser gebrauchen.« Der blasse, blonde Junge nickte wieder. »Wir passen auf deine Sachen auf. Dann kannst du für uns spielen und dir so dein Abendessen verdienen.« Er lachte und hielt ihm seine Hand entgegen. »Abgemacht?« »Abgemacht«, sagte Matthew lächelnd und umschloß die dünnen, braunen Finger mit seiner Hand. Froh zog er seine verstaubten Jeans und sein T-Shirt aus und stürzte sich in das kühle Wasser des Pazifik. Im Meer fühlte er sich besser. Es war blauer und wärmer als der dunkle Atlantik, den er kannte, aber es war immer noch die gleiche, rastlose, nicht enden wollende Kraft, die ihn festhielt, in ihre Arme schloß und ihn in einer Gischtwolke wieder ans Ufer zurückbrachte. Er fühlte sich hier seinem Zuhause näher – eigentlich fast schon wie 220
zu Hause –, und er fühlte sich auch dem weit entfernten, springenden Schatten eines Delphins näher, der angeschwommen kam und ihn lächelnd und liebevoll begrüßte … Bis jetzt hatte er sich noch nicht seine Enttäuschung darüber eingestanden, wie sich die Dinge mit Della und Des entwickelt hatten. Er war enttäuscht, ja – und arg mitgenommen. Die Dinge entwickelten sich nur selten so wie man erwartet. Aber er hatte trotzdem gehofft – er hatte sogar beinahe daran geglaubt –, daß es funktionieren würde, daß er willkommen wäre und endlich Teil einer richtigen Familie sein könnte … Er war kindisch gewesen. Wie konnte er darauf hoffen, daß zwei Fremde einem ungeschickten, sechzehn Jahre alten Junge ein Zuhause geben würden. Warum sollten sie? Und dann die Sache mit Della … Ihr Hang zur Vergangenheit. Nicht daß er Des' Gerede über den ›Ersatzliebhaber‹ viel Glauben geschenkt hätte. Aber getroffen hatte es ihn schon. Er wußte, daß er richtig gehandelt hatte, als er fortging, solange er noch konnte und bevor die Dinge noch schlimmer wurden … Er mußte an Petra denken. Petra, die engagierte Meeresbiologin, die sich trotz allem noch die Zeit genommen hatte, zu einem schüchternen Teenager nett zu sein … Petra, die in Wirklichkeit nur Augen für Skip gehabt hatte … Jetzt mal ehrlich, sagte sich Matthew, während eine weitere Welle über seinem Kopf zusammenschlug und ihn dem Ufer noch ein Stück näher brachte. Ich weiß gar nicht, warum ich sie überhaupt besuchen will. Sie will nicht mich. Aber vielleicht kann sie mir sagen, was ich als nächstes tun soll. Sie hat eine Menge gesunden Menschenverstand. Eine große Welle gab ihm einen Stoß in den Rücken, der ihn ins flache Wasser beförderte. Es war, als ob sie sagen wollte: Hör auf, dich selbst zu bemitleiden. Schwimme zum Strand zurück und beginne zu leben! Gehorsam verließ Matthew das Wasser und ging zu der kleinen Strandparty zurück. Seine Gitarre und seine staubigen Sachen waren immer noch da. Obwohl die Sonne gerade unterging, war die Luft noch warm, und er machte sich nicht die Mühe, sich anzuziehen. Er 221
nahm nur seine Gitarre aus dem Koffer, setzte sich auf einen Stein und begann zu spielen. Die jungen Leute waren dabei, Hamburger und Fisch über dem Feuer zu grillen. Als er zu spielen begann, sahen sie ihn erstaunt an und vergaßen ihre Unterhaltung. Sie vergaßen sogar fast, weiter zu grillen und konnten gerade noch rechtzeitig einige Steaks retten, bevor sie ganz schwarz wurden. »Wahnsinn!« flüsterte einer der Zuhörer und seufzte. »Warum zieht jemand wie du einfach so herum«, fragte ein anderer, »wenn du so spielen kannst?« »Mir gefällt es«, antwortete Matthew. Er legte seine Gitarre sorgfältig in den Koffer und wischte sie liebevoll mit dem einzigen sauberen Taschentuch ab, welches er besaß. »Nimm dir einen Hamburger«, ermunterte ihn der Junge, der ihn zuerst angesprochen hatte. »Nach all dem mußt du am Verhungern sein.« Und er legte Fisch, Steak und halbverbrannte Hamburger auf einen Blechteller. Matthew aß dankbar, und bald redeten alle auf ihn ein, löcherten ihn mit Fragen über Scammon's Lagoon und die Wale, wollten wissen, wo er so gut Gitarre spielen gelernt hatte, was er machte, während er herumzog, wie England war und ob es stimmte, daß es dort immer regnete. Und warum interessierte er sich überhaupt für Wale? Als er über Delphine sprach und ihnen von Flite erzählte, zeigten sie erstaunlich viel Interesse. Sie informierten ihn, daß es hier sehr viele Delphine gab. Und sogar noch mehr im Golf von Kalifornien, auf der anderen Seite der Halbinsel. Die Delphine waren ganz zutraulich und kamen nahe an die Küste heran, um mit den Schwimmern zu spielen. Er sollte dorthin gehen und es mit eigenen Augen sehen. Schließlich begannen sie, sich zum Schlafen zurückzuziehen. Einige begaben sich zu den Wohnwagen hinter den Dünen, die anderen zu den am Rande der Straße geparkten Autos. Harley, der freundliche Junge, der ihn eingeladen hatte, fragte Matthew, ob er in seinem Zelt übernachten wollte, das neben dem Wohnwagen stand. Aber Matthew 222
lehnte mit der Erklärung ab, daß er viel lieber am Strand schliefe und die Sterne beobachtete. Sie bedrängten ihn nicht, und respektierten seinen Wunsch, allein zu sein. Sie riefen »gute Nacht« und verschwanden in der Dunkelheit. »Nimm dich vor Skorpionen in acht!« rief ihm noch einer zu. »Und vor Krabben!« rief eine andere Stimme, schon weiter entfernt. Dann war Matthew allein – ganz allein an einem weiten, sternenbeleuchteten Strand, und das Geräusch der Brandung war seine einzige Gesellschaft. Er legte sich in den kühlen Sand und sah in den Himmel, in die Tiefe des Weltraums, die tiefer und größer war als die irgendeines Ozeans und dessen unergründliche Weite mit unzähligen Lichtpunkten übersät war. Mein Vater liebte die Sterne, dachte er. Er war froh, daß Della ihm das erzählt hatte. Der Rest, den er über die schemenhafte Gestalt erfahren hatte, betrübte ihn – die Gestalt, von der er insgeheim geträumt hatte und zu der er die ganzen Jahre aufgeblickt hatte … Aber über die Sterne war er froh. Irgendwie machte das seinen Vater greifbarer, wirklicher – obwohl er annahm, daß die Astronomie eine sehr abstrakte, schwierige und fremdartige Wissenschaft war, voller Vermutungen und Rätsel. Trotzdem brachte sie ihm seinen Vater näher. Auch er hatte einen mathematisch geschulten Verstand, der über begrenzte Gedanken hinausgehen wollte. Dort oben in den glitzernden Galaxien gab es große Geheimnisse zu erforschen. Er würde gern eines Tages dorthin fliegen – eines Tages, hoch in diese fernen Weiten, die weiter waren als der weiteste Ozean … Geduldig und sanft schlugen die Wellen des Pazifiks an den Strand, und diese ewig währende Musik sang Matthew in den Schlaf.
* Als Della Matthews Nachricht gelesen hatte, war sie außer sich, und ein noch lauterer Krach mit Des war die Folge. »Jetzt sieh dir an, was du angerichtet hast!« schrie sie. »Du hast den 223
Jungen aus dem Haus getrieben. Das war es doch was du wolltest, oder?« »Natürlich nicht«, fuhr Des sie an. »Ich wollte ihn nur mal über gewisse Dinge aufklären, das war alles.« »Aber was soll jetzt aus ihm werden?« jammerte Della. »Wo will er hin? Er ist viel zu jung, um sich allein durchzuschlagen.« »Er schafft das schon.« Des fühlte sich in die Enge getrieben, sein Gesicht war rot, und auch er war jetzt ärgerlich. »Der Junge ist kein Dummkopf. Und da seine Mutter ein Flittchen war, hat er die meiste Zeit seines Lebens auf sich selbst aufgepaßt.« »Aber doch nicht in einem fremden Land – und ohne jemanden, an den er sich wenden kann.« »Um Himmels willen, Dell, Kinder in seinem Alter laufen öfter weg.« »Er hat kein Geld.« »Hat er nichts von dem, was er in diesem verdammten Restaurant verdient hat, gespart?« »Nicht viel. Das meiste hat er mir gegeben.« »Was?« Dieser Satz löste einen erneuten Wutausbruch aus, und beide warfen sich Beleidigungen an den Kopf. Schließlich sagte Della nüchtern: »Wir müssen dem Anwalt in London mitteilen, daß er weggelaufen ist.« »Warum?« »Wir sind für ihn verantwortlich, Des. Wir haben versprochen, uns um ihn zu kümmern, hast du das vergessen?« »Du hast das versprochen«, antwortete Des schmollend. »Meine Idee war das nicht.« Della seufzte. »Ich weiß, daß du seine Anwesenheit hier nicht gewollt hast, aber er ist ein guter Junge. Er hat dir doch nichts getan.« »Ich mag es nicht, wenn die Vergangenheit wiederaufersteht«, brummte Des. »Dieses Schuld- und Nostalgiesyndrom ist vorbei. Vorbei, verstanden? Und ich will nicht, daß du jeden verdammten Tag im Jahr daran erinnert wirst.« 224
Della sah ihn an. »Die Vergangenheit ist niemals vorbei, Des. Matthew ist am Leben, oder nicht?« Ihr Gesicht wurde noch eine Spur blasser. »Zumindest hoffe ich bei Gott, daß er es ist.« »Aber natürlich ist er das«, beruhigte Des sie. »Und du wirst sehen, er wird bald wieder hier auftauchen.« »Wenn er wiederkommt, dann bestimmt nicht wegen dir«, fuhr sie ihn an. Und dann sagte sie mit plötzlicher Unsicherheit: »Müßte ich … sollten wir nicht die Polizei benachrichtigen?« »Nein«, bellte Des. »Ich habe genug von diesen FBI-Typen, die hier ihre Nase in alles stecken. Er hat uns geschrieben, wo er hinwollte. Er hat versprochen, sich wieder bei uns zu melden. Was willst du mehr?« »Ich möchte, daß er wieder gesund hierher zurückkommt«, rief Della und brach in Tränen aus. Des klopfte ihr verlegen auf den Rücken, während sie sich an seiner Schulter ausweinte. »Laß es, Dell. Er kommt zurück, und dann denken wir noch einmal darüber nach. Laß ihn doch ruhig einmal über die Stränge schlagen. Das ist schon in Ordnung. Du wirst sehen, alles wird gut.« »Ich hoffe bei Gott, daß du recht hast«, schniefte Della.
* Matthew wurde noch vor Sonnenaufgang vom Geräusch der Brandung und den Schreien der Seemöwen geweckt. Ein paar braune Pelikane stolzierten am Strand entlang. Andere drehten zusammen mit schreienden Möwen Kreise und tauchten nach Fischen. Er ging zum Wasser hinunter und sah auf die See hinaus. Weit draußen konnte er einige vor Anker liegende Fischerboote sehen. Die Fischer holten gerade ihre Netze ein. Ein Schwarm Möwen war dabei, weggeworfene Brocken des Fanges zu ergattern. Und noch weiter draußen hinter den Booten sah er eine lange Reihe von Rückenflossen, die sich beständig nach Süden bewegte. Die Grauwale schwammen immer noch geduldig zu ihren ausgewählten Buchten. Scammon's Lagoon, dachte Matthew. Ich frage mich, ob Petra auch dort ist. Bald werde ich es herausfinden. 225
Er starrte immer noch auf die Wale, als eine kleinere, lebendigere Reihe von dunklen Rückenflossen nahe bei den Fischerbooten auftauchte. »Delphine!« rief Matthew, und sein Atem stockte. Er beobachtete, wie sie mit ihren glänzenden, in der Sonne schimmernden Körpern in die Luft sprangen und wieder ins Wasser tauchten. Plötzlich überfiel ihn das Verlangen, ins Meer zu gehen, zu diesen tanzenden Wesen hinauszuschwimmen und sie zu fragen, ob sie Flite auf ihrer Reise begegnet waren. Aber das sind ja gar keine Flaschennasen-Delphine, sagte er sich. Und sie leben hier im südlichen Pazifik. Woher sollen sie Flite kennen, der sich Tausende von Meilen entfernt im dunklen Atlantik befand? Dennoch zog es ihn zu diesen schimmernden Wesen draußen in der Bucht, und er ließ seine Gitarre und alles andere am Strand zurück und stürzte sich in den Pazifik. Matthew wagte nicht, zu weit hinauszuschwimmen, denn er kannte die Gezeiten und Strömungen an dieser Küste nicht. Skip hatte ihm beigebracht, in fremden Gewässern vorsichtig zu sein. Aber er ließ die großen Wellen des Pazifik über sich rollen und überließ sich ganz dem Meer. Vielleicht würden die Delphine ihn bemerken und näher heranschwimmen, um diesen ungeschickten Eindringling genauer in Augenschein zu nehmen. Plötzlich hörte er neben sich ein Platschen und ein zischendes Geräusch. Ein schlanker Körper kam an die Oberfläche, um Luft zu holen. Matthew drehte sich, um besser sehen zu können. Ein weiterer geschmeidiger Körper kurvte durch eine Welle und sprang neben dem ersten Delphin in die Luft. Er zerschnitt das Wasser wie eine glitzernde Rasierklinge und tauchte dann mühelos unter Matthews Beinen hindurch. Bald war Matthew von springenden und tauchenden Körpern umgeben. Sie krümmten ihre schimmernden Rücken, sanken dann unter den Kamm der nächsten Welle, jagten die Schatten der anderen, rasten wie dunkle Pfeile durch die grüngoldenen Tiefen, drehten sich in Wirbeln von regenbogenfarbener Gischt und lachten Matthew an, als sie an ihm vorbeischossen. 226
»Oh«, rief er ihnen zu und hatte den Mund voller Gischt, »ihr seid wundervoll!. Was für eine wunderbare Art, den Morgen zu begrüßen. Ich wünschte, daß ich so springen könnte!« Komm, riefen sie ihm zu, komm und spiele. Es ist Tag. Das Sonnenlicht scheint auf das Meer. Die Welt ist ganz blau, golden, ist gerade geboren, hat gerade begonnen. Freue dich an der Kraft des Meeres, wie ich es tue. Freue dich! Matthew freute sich. Aber er versuchte nicht, die neben ihm spielenden Delphine anzufassen. Ein- oder zweimal berührte ihn ein schlanker Körper während einer wagemutigen Drehung, aber er schwenkte sehr schnell wieder ab, und Matthew wußte, daß er sich zurückhalten mußte. Sie kannten ihn nicht so wie Flite ihn gekannt hatte, und obwohl ihr Lächeln ihn fast genauso willkommen hieß, war die seltsame, unausgesprochene Verbindung, die er mit seinem Freund gehabt hatte, bei diesen Wesen aus dem Pazifik nicht vorhanden. Vielleicht, dachte er, würde sie sich entwickeln, wenn ich jeden Tag mit ihnen schwimmen könnte. Sie trauen mir noch nicht. Wer könnte ihnen das übel nehmen? Aber irgendwie war ihm klar, daß das, was er mit Flite erlebt hatte, selten und wertvoll, vielleicht sogar einzigartig war. Ihr seid wunderschön, sagte er zu den Delphinen und schwamm im Kreis um sie herum, um sie bewundern zu können. Ich freue mich, euch alle kennengelernt zu haben, aber wo ist Flite? Wißt ihr es? Ihr seid alle freundlich und heißt mich willkommen, was mehr ist als ich verdiene. Aber Flite war wie ein lang verlorengeglaubter Bruder zu mir, und ich liebe ihn. Inzwischen war die Sonne über die braunen Hügel gestiegen, und als Matthew ans Ufer watete, waren helle, goldene Streifen auf dem Wasser und dem nassen Sand zu sehen. In seinem Kopf schwirrten immer noch helle Bilder, lächelnde Gesichter, leuchtende Körper und hochspritzende Kaskaden von schillerndem Wasser herum, so daß er noch verzaubert war – erfüllt von einer Mischung aus Freude und einer merkwürdigen Traurigkeit, die er nicht verstehen konnte. Als er das Ufer erreichte, drehte er sich noch einmal um, um auf den von Sonnenstrahlen vergoldeten Pazifik zurückzublicken, wo er vor ein paar Augenblicken noch so glücklich gewesen war. 227
»Wundervoll«, murmelte er, und strich mit einer salzigen Hand über seine Augen. Er war sich nicht bewußt, daß er laut gesprochen hatte, bis eine Stimme hinter ihm antwortete: »Sí. Muy bellos, los delfines – y muy alegres!« Erstaunt drehte Matthew sich um. Ein mexikanischer Fischer stand neben ihm. In einer Hand hielt er einen Eimer mit Fisch und in der anderen ein blaugraues Bündel Netze, das über seine Schultern geschlungen war. Er blickte den jungen gringo lächelnd an, der von los delfines so verzaubert war. »Pescado?« fragte er und schwenkte seinen Eimer. »Möchtest du einen Fisch?« Matthew schüttelte den Kopf und fluchte insgeheim, weil er so wenig vorgesorgt hatte. Er besaß keine Streichhölzer, hatte nichts, womit er ein Feuer anzünden konnte – er hatte überhaupt keine Vorräte mit, nicht einmal eine Dose Instantkaffee. »Keine Streichhölzer«, sagte er und zuckte traurig mit seinen Schultern. »No fósforo«, fügte er hinzu und versuchte, sich an sein Schulspanisch zu erinnern. Oder hätte es cerillo heißen müssen? Der Fischer lächelte immer noch. »Ich koche«, sagte er und zeigte zu der heruntergekommenen Fischerhütte. »Du kommst, sí?« »Sí«, antwortete Matthew und fragte sich, warum er soviel Glück hatte. Der Fischer machte sich auf den Weg zu der Hütte, holte einen monströsen Schlüssel hervor und öffnete die Holztür. Matthew stellte fest, daß das Innere der Hütte überhaupt nicht heruntergekommen war. In einer Ecke lagen einige Schlafmatten, in einer anderen stand ein primitiver Ofen und eine Blechspüle, und zum Sitzen gab es einige Kisten. Nach kurzer Zeit stand eine Blechtasse mit Kaffee auf dem Ofen, und draußen vor der Hütte wurden die Fische über einem offenen Feuer gegrillt. »Ich heiße Felipe«, verkündete der Fischer und gab Matthew eine Blechtasse mit heißem Kaffee. 228
»Gracias«, sagte Matthew höflich. »Ich heiße Matthew.« »Ah. Mateo.« Er streckte seine schwielige Hand aus, und Matthew schüttelte sie lächelnd. Forschend blickte Felipe Matthews Gitarre an. »Spielt du Popmusik?« »Nein. Klassische Musik. Villa-Lobos?« Er fragte sich, ob ein mexikanischer Fischer jemals von dem Komponisten gehört hatte, aber das braungebrannte Gesicht leuchtete auf. »Sí, clásico. Er ist ein großer Musiker. Spielst du für mich?« »Ja«, antwortete Matthew. Er spielte nur ein Stück, aber das war genug, um den Mexikaner zu verzaubern und ihn zu seinem Freund zu machen. »Nimm!«, sagte Felipe und hielt ihm einen knusprig gebratenen Fisch hin. »Oder nimm dir gleich zwei.« »Einer reicht«, lehnte Matthew dankend ab und legte seine Gitarre sorgfältig in den Koffer. Sie saßen auf den Fischkisten an der geöffneten Tür, aßen zusammen und beobachteten, wie die Morgensonne die mit der Flut hereinkommenden Wellenkämme vergoldete. »Muy alegres«, wiederholte Felipe und blickte auf das Wasser. Matthew war sich nicht sicher, ob er die Wellen meinte, die sich am Ufer brachen, oder die springenden Delphine, die die sonnenbeschienene Bucht verließen. Alegres, dachte er. Froh. Vielleicht meint er beides. »Sie sind sehr nahe herangekommen. Du kannst dich geehrt fühlen.« Überrascht sah Matthew ihn an. »Sie kommen nicht zu jedem«, fuhr er fort. »Aber wenn sie es wollen, sind sie sehr – amigables.« »Ich weiß«, antwortete Matthew. Der Fischer sah ihn mit seinen lebhaften, schwarzen Augen an. »Du weißt?« »Ich kannte mal einen – vor langer Zeit.« »Hier? Im Pacífico?« 229
»Nein.« Er beobachtete immer noch das blaue Wasser der Bucht und die Fischerboote mit den Möwen, aber seine Augen sahen ein anderes Ufer, ein dunkleres Meer und einen blauschwarzen entlang schießenden Schatten. »Im Atlantik – in England, weit weg.« »Wirst du dahin zurückkehren?« fragte Felipe. Matthew nickte. »Und er wird kommen, dein delfín.« Es war keine Frage. Es war eine Feststellung, und Matthew sah ihn verblüfft an. »Das glaube ich nicht. Es ist zu lange her.« »Er wird kommen«, stellte Felipe fest und sah immer noch ruhig auf das Meer hinaus. »Sie erinnern sich – los delfines. Wenn er dich liebt, wird er kommen.« Matthew nahm einen Schluck heißen Kaffee. »Ich hoffe, daß Sie recht haben«, murmelte er. Dann bemerkte er, wie hoch die Sonne schon am Morgenhimmel stand, und sagte: »Ich muß jetzt gehen. Eine Freundin wartet auf mich.« »Wo?« »In der Jugendherberge – am anderen Ende der Stadt.« »Du mußt den Bus nehmen«, sagte Felipe ernst. »Einen Central Camionera, unten an der Avenida Ninos Héroes. Mit dem kommst du dahin.« Matthew dankte ihm. Aber als er für den Fisch und den Kaffee bezahlen wollte, schüttelte Felipe den Kopf. »Wir sind Freunde, Mateo, oder nicht? Amigos. Wie los delfines, sí?« »Sí«, stimmte ihm Matthew lächelnd zu, nahm seine Gitarre und ließ Felipe allein, der immer noch auf seiner Fischkiste saß und ruhig auf das Meer hinaussah.
* Als er die Jugendherberge erreichte, entdeckte er sofort Traceys Fly. Sie saß in der Cafeteria, trank Kaffee und sah richtig sauer aus. »Wo bist du gewesen?« fragte sie herrisch, als sie ihn sah. »Was zur Hölle hast du gemacht?« 230
»Ich habe am Strand geschlafen«, antwortete Matthew locker. »Tut mir leid.« »Du bist verrückt«, fauchte sie ihn an. »Weißt du das? Dir hätte da draußen wer weiß was passieren können.« »Ist es aber nicht.« Er lächelte sie an und versuchte abzuschätzen, wie ärgerlich sie wirklich war. Nicht besonders, dachte er und lächelte noch ein bißchen mehr. »Hast du seit gestern etwas gegessen?« »Aber klar.« »Wann?« »Ahm – ein paar Leute, die am Strand eine Party feierten, haben mich zum Abendessen eingeladen.« Sein Grinsen wurde noch breiter. »Und heute morgen habe ich bei einem mexikanischen Fischer gegessen. Ich bin klargekommen.« »Und – nichts verschwunden?« »Verschwunden?« »Gestohlen, du Trottel.« »Natürlich nicht. Sie haben sogar auf meine Gitarre aufgepaßt.« »Mein Gott!« explodierte Tracey. »Dieser Junge ist ein ausgemachter Schwachkopf.« Sie sah ihn ernst an. »Wenn du reist, darfst du deine Sachen nicht allein herumliegen lassen.« Matthew seufzte. »Sie waren in Ordnung. Sie waren alle sehr freundlich.« Er lächelte, denn er wußte, daß sie nur sein Bestes wollte. »Aber ich nehme an, daß du recht hast.« »Darauf kannst du wetten.« Traceys entspannte sich. »Trink einen Kaffee. Ich bezahle.« »Nein«, antwortete Matthew fest. »Während dieser Reise teilen wir uns die Ausgaben.« »Aber …« »Ich bezahle, Tracey – oder ich reise allein weiter.« Sie sah ihn an und war überrascht von dieser plötzlichen Unabhängigkeitserklärung. »Okay, okay. Hol dir deinen Kaffee. Wir haben einen weiten Weg vor uns, und es wird heiß werden. Hast du die Wasserflasche?« 231
»Ja. Und ich habe in der Stadt etwas Instantkaffee, zwei Becher und einen Kessel gekauft – ach ja, und Streichhölzer.« Er grinste über Traceys Verblüffung. »Am Strand gibt es genug Treibholz.« »Wir fahren nicht am Strand entlang«, fuhr sie ihn an. »Wir fahren auf einer Straße.« »Und nachts?« Matthews Stimme hatte einen bittenden Unterton. »Das wird viel billiger … Und wenn wir zusammen sind, wird es auch sicher sein …« Er beobachtete, wie Zweifel ihr rebellisches Gesicht überzogen. »Wir sind hierhergekommen, um in der Nähe der See und der Wale zu sein, oder nicht?« Sie zögerte, aber gab dann widerwillig ihre Zustimmung. »Okay. Um die Wahrheit zu sagen: Ich habe sogar ein Zelt mitgebracht – für den Notfall. Aber wenn es dort Skorpione oder Schlangen gibt – dann ohne mich.« »Am Strand gibt es keine.« Matthews Stimme klang zwar zuversichtlich, aber er hatte nicht die geringste Ahnung, ob er recht hatte. Er mußte eben nur besonders wachsam sein, das war alles. »Hol dir endlich deinen Kaffee«, brummte Tracey. »Wir können hier nicht den ganzen Tag herumsitzen.«
* Der Fly ratterte über die Küstenstraße, die Tracey widerwillig entlangfuhr, nachdem Matthew darauf bestanden hatte. Jedes Schlagloch schien seine Wirbelsäule durchzurütteln, und er klammerte sich krampfhaft an Tracey. Er mußte auf dem zusammengerollten Zelt sitzen. Obwohl die Zeltstangen unter zwei Schlafsäcken lagen, befanden sie sich immer noch zu nahe an seinen vier Buchstaben, so daß es für ihn nicht sonderlich bequem war. Wenn er den Kopf nach rechts drehte, konnte er den unwiderstehlichen blauen Pazifik sehen. Wenn er den Kopf nach links drehte, wurde das Land hügelig und öde. Hinter der wüstenähnlichen Hochebene erhoben sich die Berge. Die wenigen Bäume – meistens Palmen – waren um die heilen, weiß gestrichenen Restaurants und Hotels gruppiert, die an allen Stränden Seite an Sei232
te standen. Sonst gab es nur unzählige Kakteen, die manchmal riesengroß und stachelig waren und bleiche, gelbe Blüten trugen. Ab und zu führte die Straße an zerklüfteten Felsen entlang, und Matthew konnte die Brandung und den schimmernden Sand sehen. Einmal bemerkte er einige Seelöwen, die sich auf den Felsen sonnten. »Halt an!« rief er Tracey zu. »Ich möchte sie mir ansehen.« Gehorsam, wenn auch murrend, hielt sie den Fly an. »Ich kann doch nicht für jedes verdammte Tier auf Baja anhalten!« »Nur dieses eine Mal«, bat Matthew, kletterte vom Fly herunter und sah über die Klippen. »Ich habe noch nie wilde Seelöwen so nahe gesehen.« Er blickte auf die schimmernden, graubraunen Körper. Der größte von ihnen hob träge den Kopf und starrte Matthew wachsam an. Tracey, praktisch wie immer, wühlte in ihren prall gefüllten Taschen, holte eine Coladose hervor und öffnete sie. »Nimm«, sagte sie. »Du hast gesagt, daß wir teilen wollen. Aber laß dir nicht den ganzen Tag Zeit. Wir müssen weiter.« »Warum?« fragte Matthew, der immer noch die Seelöwen anstarrte. Dankbar nahm er einen Schluck Cola. »Weil«, antwortete Tracey verstimmt, »wir irgendwo hin wollen, wo wir etwas essen können – bevor wir vor Erschöpfung sterben.« Matthew lachte. Aber ohne weiteren Protest stieg er wieder in den Fly. Als sie El Mirador erreichten, hielten sie an, um den Blick auf die blaugoldene Bahía de Todos Santos und den weiten Ozean zu genießen. Auch andere Reisende hatten angehalten, um diesen aufsehenerregenden Ort zu bewundern. Einer von ihnen drehte sich zu ihm um. »Dieser Ausblick wiegt all die Schlaglöcher wieder auf.« Matthew stimmte zu und blickte auf das Meer hinaus. Am liebsten wäre er geblieben, aber Tracey war unerbittlich. Sie wollte unbedingt Ensenada erreichen, bevor es dunkel wurde. Trotz des Hafens, der eleganten Jachten und Charterboote blieben sie nicht in Ensenada. Tracey schien es sogar noch eiliger zu haben als sonst. Sie ließ das verlockende Glitzern der weißen Boote und des blauen Wassers hinter sich und nahm die Straße nach La Buyadora, 233
wo sie schließlich anhielten. Die Sonne war fast untergegangen, und es stellte sich die Frage, wo sie übernachten sollten. Am Ende gingen sie einen Kompromiß ein. Tracey bestand darauf, das Zelt auf einem richtigen Zeltplatz aufzustellen, von dem aus man das Meer überblicken konnte. Matthew wollte lieber, am Strand schlafen. »Da gibt es keine Duschen. Und keine Toiletten«, wendete Tracey ein. »Das stimmt«, sagte Matthew. »Aber ich mag die Sterne.« Sie sah ihn überrascht an, protestierte aber nicht, sondern schlug vor, sich ans Lagerfeuer zu setzen und den neuen Kessel auszuprobieren. Sie tranken Kaffee, schwiegen und beobachteten den aufsehenerregenden pazifischen Sonnenuntergang. »Und wenn es nun regnet?« fragte Tracey plötzlich. Matthew lachte. »Gibt es hier so etwas überhaupt?« Alles um sie herum sah trocken und braun aus, und sogar das Gras auf den Dünen war zu einem steifen, zerbrechlichen Etwas verdörrt. Die gnadenlose Mittagssonne hatte bis auf die genügsamen Kakteen, die überall wuchsen, wenig Grün übriggelassen. »Es gibt hier Winterstürme«, beharrte Tracey. »Es regnet bestimmt. Da bin ich sicher.« »Dann werde ich naß.« Sie schnaubte. »Dann kommst du ins Zelt. Dafür ist es da.« »In Ordnung, in Ordnung«, beschwichtigte Matthew sie. Er fragte sich mit einigem Unbehagen, was während dieser Reise von ihm erwartet würde. Während eines heftigen Regens gemeinsam in einem Zelt zu liegen war eine Sache, aber miteinander zu schlafen war etwas ganz anderes … Und außerdem war Sex in einem Schlafsack für den Anfang nun wirklich nicht romantisch. Tracey hatte ihn wie einen ziemlich lästigen, streunenden Hund behandelt, den sie im Schlepptau hatte, und er war sowieso zwei oder drei Jahre zu jung für sie. Es war nicht sehr wahrscheinlich, daß sie nach einem sechzehnjährigen Jungen, der nur aus Armen und Beinen bestand und ein Grünschnabel war, ein erotisches Verlangen hatte. Nein. Tracey hatte seine Gedanken erraten. »Keine Bange, Matt. Ich stehe nicht auf schnelle Nummern, wenn du das meinst.« 234
»Du bist kein Mädchen für eine Nacht?« Er hoffte, daß er sich lässig und erwachsen anhörte, aber er bezweifelte es. Man konnte Tracey nicht täuschen. »So wie sich AIDS schon in San Diego ausgebreitet hat? Du machst wohl Witze.« Matthew versuchte, nicht rot zu werden, aber es gelang ihm nicht. »Ich – ähm – halte da auch nichts von.« Sie grinste. »Um so besser.« Mit einem Zweig rührte sie energisch ihren Kaffee um. »Hast du zu Hause eine Freundin?« Er schüttelte den Kopf. »Nein.« »Warum nicht?« Die Frage verblüffte ihn. Er dachte einen Moment nach und antwortete dann langsam: »Ich weiß nicht … Ich glaube, daß ich dazu keine Lust habe – und auch nie gehabt habe.« »Wieso das?« Er starrte an Tracey vorbei auf das dunkler werdende Meer und sah einen anderen Ort zu einer anderen Zeit – die trostlosen Wände ihrer Mietwohnung, die unzähligen Männerbekanntschaften seiner Mutter, die immer schon da waren, wenn er von der Schule nach Hause kam, fast immer nur halb angezogen und dazu noch betrunken. »Meine Mutter hatte viele Liebhaber.« Seine Stimme war tonlos. »Das schreckt ab, nehme ich an«, kommentierte Tracey. »Ja, und am Ende hat es sie umgebracht. Oder vielleicht habe ich es getan. Ich weiß es nicht.« Jetzt starrte sie ihn an, aber eher mitleidig als überrascht. »Was ist passiert? Solltest du es mir nicht besser erzählen?« Er erzählte es ihr – kurz und sachlich, ohne Selbstmitleid. »Ich dachte, sie wären ausgegangen. Aber sie waren im Schlafzimmer. Das Feuer haben sie nicht bemerkt – bis es zu spät war.« »Oh mein Gott.« »Ich hätte es mir denken müssen«, fügte er bitter hinzu. »So lief es eigentlich immer ab. Es fiel mir einfach nicht ein, im Schlafzimmer nachzusehen.« Tracey widersprach ihm nicht. 235
»Also bist du hierhergekommen. Und das ging auch schief?« »Ja.« »War sie nicht gut zu dir?« Matthew zuckte zusammen. »Zu gut«, sagte er. Traceys Augenbrauen gingen in die Höhe. »Aha?« »Sie hat mich mit meinem Vater verwechselt. Ihr Ersatzliebhaber hat Des mich genannt.« Tracey fluchte leise. »Dann sind wir schon zu zweit.« Matthew blinzelte. »Was?« »Auf der Flucht vor unglückseligen Beziehungen.« Sie lachte, aber ihre Augen blickten hart. »Du auch?« Er hatte sich schon gefragt, wo Traceys Familie war – warum sie allein in San Diego wohnte – und was für ein Leben sie außerhalb der Protestmärsche für den Tierschutz führte. Und ob sie einen festen Freund hatte. »Wer?« fragte er und war plötzlich genauso direkt wie sie. »Meine Mutter hat etwas mit einem absolut widerlichen Kerl angefangen«, sagte Tracey ausdruckslos. »Ein widerlicher Kerl, der kleine Mädchen mochte.« »Oh Gott.« »Ich konnte es ihr natürlich nicht erzählen. Das hätte sie umgebracht. Wenn sie mir überhaupt geglaubt hätte.« »Also bist du weggelaufen.« »Genau.« »Und in San Diego gelandet. Wovon lebst du?« »Von einem Stipendium. Und ich arbeite nachts – wie du. Ich komme zurecht.« Matthew seufzte. »Hast du noch Kontakt?« »Nein. Ich habe alle Brücken hinter mir abgebrochen. Ich bin jetzt erwachsen, Matt. Sie denkt, daß ich ein undankbares Kind bin. Ich denke, daß er ein Scheißkerl ist. Wir reden nicht miteinander. Worüber sollten wir auch sprechen?« Matthew verstand die Logik, die hinter den Worten stand. »Hast du keinen Freund?« 236
Ihr Gesicht verschloß sich. »Ich hatte einen.« »Was ist passiert?« »Er hat mich verlassen.« »Warum?« »Er mochte Boote lieber als mich.« »Boote?« Plötzlich fiel ihm ein, wie Tracey mit unerklärlicher Hast den Hafen in Ensenada und die dort liegenden Jachten und Charterboote verlassen hatte. Es gab dort auch einen Marinestützpunkt, und Matthew hatte sich schon gefragt, ob Tracey noch Angst hatte, von den anonymen Männern aus San Diego verfolgt zu werden, die vielleicht dachten, daß sie einen neuen Einbruch plante. »Was für Boote?« Matthew gab nicht auf. Sie zuckte mit den Schultern. »Jede Art von Booten. Er wollte nur segeln – um die Welt, sagte er. Als er dann diesen Typen traf, der ihm anbot, ihn in seinem Boot mitzunehmen, konnte er nicht widerstehen. Warum sollte er auch?« »Wie lange war er … wart ihr zusammen?« »Fast zwei Jahre.« Jetzt war es Matthew, der leise fluchte. »Dieser Scheißkerl.« »Ich weiß nicht. Ich nehme an, daß er für sich andere Prioritäten gesetzt hat.« Matthew murmelte: »Ich habe mich schon gewundert, warum wir Ensenada in solcher Eile verlassen haben.« »Dort legen viele hochseetüchtige Boote an. Das ist einer von den Orten, wo er auftauchen könnte.« »Ich dachte, daß der Militärstützpunkt der Grund gewesen wäre.« Sie starrte ihn an und fing dann plötzlich an zu lachen. »Wie kamst du denn darauf? Das ist doch die mexikanische Marine.« »Und werden dort keine Delphine trainiert?« »Soweit ich weiß nicht.« Aber der ihm so gut bekannte Ausdruck der Entrüstung erschien wieder auf ihrem Gesicht. »Den Delphinen stoßen hier weit schlimmere Dinge zu als das.« Matthew war schockiert. »Hier? Aber ich dachte, daß sie die Delphine lieben … die Fischer, meine ich.« 237
»Ja. Die einheimischen Fischer. Die Delphine führen sie zu den Thunfischen … Und auch die Jachtbesitzer lieben sie. Sie folgen den Delphinen durch das seichte Wasser und benutzen sie sozusagen als Lotsen. Es scheint den Delphinen Spaß zu machen, ihnen den Weg zu zeigen.« Matthew war nicht überrascht. »Das kann ich mir vorstellen. Aber wo ist die Bedrohung?« »Die großen Fischfanggesellschaften. Die Schleppnetzfischerei – die schwimmenden Fischfabriken. Sie verwenden große Treibnetze, und einige von ihnen benutzen Beutelnetze. Hast du schon davon gehört?« »Ja. Petra hat es mir erzählt.« »Wer? Ach ja, deine Meeresbiologin. Ja, sie wird darüber sicherlich Bescheid wissen.« »Sie ertrinken«, sagte er und erinnerte sich an Petras feste, leidenschaftliche Stimme, die so entrüstet und ärgerlich geklungen hatte. »Wenn sie zum Atemholen nicht aus den Netzen können, weinen sie. Man kann sie weinen hören … und dann ertrinken sie.« Tracey blickte ihn traurig an. »Ja. Sie ertrinken. Und wenn sie sich aus den Treibnetzen befreien wollen, reißen sie sich die Flossen ab.« Matthew starrte aufs Meer hinaus. »Was können wir dagegen unternehmen?« fragte er plötzlich verzweifelt. Wieder zuckte Tracey mit den Schultern. »Das Übliche. Protestieren. Marschieren. Schreien.« Sie grinste ihn kurz an. »Es gibt eine Fischfangquote – genau wie es eine Walfangquote gibt. Und eine Quote, die festlegt, wie viele Delphine getötet werden dürfen, existiert auch. Aber sie halten sich natürlich nicht daran, und wer soll das auch kontrollieren? Du kannst nicht auf jedes Fischerboot gehen und jeden Fang zählen.« »Ich möchte gerne …« »Wie ein Ritter in einer schimmernden Rüstung hinaussegeln und ihre elenden Netze in Fetzen reißen. Ich weiß. Das möchte ich auch tun. Aber gegen die großen Gesellschaften kommst du nicht an. Du kannst nur protestieren.« Sie schwiegen eine Zeitlang. 238
»Wie heißt er?« fragte Matthew plötzlich. »Wer?« »Dein Freund.« »Mein Exfreund«, antwortete sie fest. »Mitch.« »Mitch?« »Na ja, Mitchell Anstey, um genau zu sein. Kommt aus einer reichen und erstklassigen Familie. Zu fein für mich. Aber jeder nennt ihn Mitch. Warum?« »Ich wollte es nur wissen. Wenn er auftauchen sollte, könnte er uns zu den Netzen bringen, und dann werde ich versuchen, sie zur Umkehr zu bewegen.« »Das wäre etwas!« schnaubte sie, stand auf und wischte den Sand von ihrer Jeans. »Ich bin todmüde, Matt. Ich überlasse dich deinen Sternen.« Sie schlenderte vom Feuer weg den Pfad entlang, der durch die Dünen zum dahinterliegenden Zeltplatz führte. Dann verschwand sie aus seiner Sicht. Matthew blieb alleine sitzen und beobachtete, wie das Sternenlicht auf dem Meer glitzerte. Dort draußen war es dunkel – dunkel und ruhig. Er hoffte, daß die Delphine in Sicherheit waren und ruhig in den dunklen Tiefen ihres großen Ozeans schwammen. Dann kroch er in den Schlafsack und schlief ein.
* Einige Tage vergingen immer nach demselben Muster. Da Tracey die Unzulänglichkeiten des Flys kannte, setzte sie das tägliche Kilometerlimit nicht sehr hoch an, und jeden Abend hatten sie Zeit zu schwimmen. Die Entfernungen kamen Matthew trotzdem riesig vor. Sie hielten in Maneadero, einem weiteren Grenzkontrollpunkt an, wo ihre Touristenvisa gestempelt wurden. Dann brummten sie weiter durch die um Uruapan gelegenen Hügel. Tracey kaufte an einem Straßenstand Erdbeeren. Dann bestand sie darauf, eine Seeigelfabrik zu besichtigen, um eine kleine Verschnaufpause zu haben. Zu Matthews Be239
dauern führte der Highway I nicht an der Küste entlang, und er konnte auch während der Fahrt über die lange, staubige, ganz gut ausgebaute Strecke keinen Blick auf den blauen Ozean werfen. Aber schließlich ermüdeten die braunen Hügel, die unzähligen Kakteen und die terrassenförmig angelegten Weinberge von Santo Tomas sogar Tracey, und sie fuhr zurück zum Meer, nach Puerto San Isidro – wo sie Hummer burritos kauften und dann einen Zeltplatz in der Nähe des Strandes fanden. Matthew liebte die Hummer burritos, aber das Meer war noch besser. In San Antonio del Mar lernte Matthew, wie man nach Muscheln gräbt und seine Beute über einem Lagerfeuer zubereitet. Der freundliche Amerikaner, der ihm das zeigte, brachte ihm auch bei, wie man eine Leine auswarf und Fische fing. In San Quintin regnete es – ein plötzlich vom Meer kommender Wintersturm raste über das Land. Tracey weigerte sich zu zelten. Sie machte sich auf den Weg, um in einer preiswerten Pension zwei Zimmer und ein ausgiebiges mexikanisches Abendessen zu organisieren, das, wie sogar Matthew zugeben mußte, die drei kostbaren Dollar wert war, die er bezahlen mußte. Aber er vermißte das Meer und die Möglichkeit, nachts die Sterne zu beobachten. Deshalb ließ Tracey sich am nächsten Morgen, als das Wetter wieder besser war, erweichen, und sie fuhren zum Strand von Santa Maria, wo sie schwimmen konnten. Die Brandung war nach dem Sturm, der in der Nacht getobt hatte, noch etwas hoch, aber die See war so blau wie immer. Ganz weit draußen konnte Matthew ab und zu noch den Buckel eines blau-schwarzen Wales sehen, der ohne Unterbrechung nach Süden in Richtung Scammon's Lagoon schwamm. Aber egal wie oft Matthew tauchte, durch die Wellen schwamm und mit den Augen angestrengt den leuchtenden Ozean absuchte, er konnte nirgendwo Delphine entdecken. Dieses Mal kamen sie nicht. Aber in der Bucht befanden sich Seehunde. Sie aalten sich auf einem langen Felsvorsprung in der Sonne, und ein oder zwei schwammen auf ihn zu, um einen Blick auf den Fremden zu werfen, der in ihr Territorium eingedrungen war. Matthew mußte wieder an die Seehunde auf 240
den schimmernden schwarzen Felsen in Cornwall denken, die seiner Musik gelauscht hatten. Er verließ das Meer, griff nach seiner Gitarre und begann zu spielen. Er befürchtete, daß der Lärm der Brandung vielleicht zu laut für den dünnen Klang seiner Gitarre war, aber bald kamen die runden schwarzen Köpfe der Seehunde näher, und die wunderschönen, dunklen Augen starrten ihn erstaunt und fragend an. Auch Tracey war verblüfft. Sie hatte ihn noch nie zuvor spielen gehört. Als er sein Konzert beendet hatte fragte sie: »Gibst du oft Solovorstellungen für Seehunde?« Matthew lachte. »Ja – zu Hause.« Zu Hause. Plötzlich überfiel ihn erneut die Sehnsucht nach der kalten, felsigen Küste von Cornwall, nach Skips trockenem Humor, nach Madge und den Kindern, nach Jampy, der auf- und niederhüpfend »Ich auch!« schrie … und nach dem Kapitän, der ihn mit seinen klugen alten Augen anblickte … »He!« sagte Tracey. »Komm wieder auf die Erde zurück. Wir müssen weiter.« »Tut mir leid.« »Heute fahren wir nicht weit«, verkündete Tracey, als sie den Fly bestiegen. »Letzter Tag am Meer. Morgen fahren wir ins Landesinnere – und das wird hart.« »Hart?« »Wind. Staub. Durst. Wüstenland. Keine Möglichkeit, irgendwo Pause zu machen.« »Dauert die Fahrt lange?« »Zu lange. Deshalb lassen wir uns heute Zeit. Wir fahren nur bis El Rosario.« »Ist mir recht«, stimmte Matthew zu, der am liebsten den ganzen Tag am Meer verbracht hätte. Der Fly sprang keuchend an, und sie fuhren in einer Wolke aus Sand und Staub auf die Straße zurück. Am Abend fuhr Tracey in die Stadt, um zu tanken und Vorräte für die lange Fahrt am nächsten Tag einzukaufen. Matthew blieb allein zurück. Er wollte das Zelt aufstellen und wie immer im Meer schwimmen. 241
»Nutze es noch einmal richtig aus«, sagte Tracey und zeigte auf das Meer. »Vor Guerrero Negro wirst du es nicht wiedersehen.« Matthew schwamm und tauchte, bis er müde war. Dann beobachtete er, wie die braunen Pelikane nach Fischen tauchten, pirschte sich an die Winkerkrabben am Strand heran und fragte sich, ob sie eßbar waren. Er sammelte Treibholz und machte ein Feuer. Während er darauf wartete, daß das Wasser im Kessel kochte, beobachtete er die auf den Felsen sitzenden Eidechsen. Er sah auch eine dünne, braune Klapperschlange, die ruhig hinter einen Stein glitt. Bis jetzt, überlegte er sich, hatten sie noch nicht viele von den gefährlichen Tieren gesehen, vor denen sie gewarnt worden waren. Keine Skorpione oder Taranteln, keine schwarzen Witwen und keine kurz vor dem Biß stehenden Klapperschlangen – nur dieses lange, dünne, braune Ding, das sich ohne zu zischeln sehr schnell in Richtung Dünen davon geschlängelt hatte. Er beugte sich vor, um noch etwas mehr Treibholz auf das Feuer zu legen und machte sich etwas schuldbewußt Gedanken darüber, was er wegen der Postkarten, die er nach Hause schreiben wollte, machen sollte. In San Diego hatte er Jampy jede Woche eine Karte geschrieben. Aber hier auf Baja steckte er in der Klemme. Wenn er von hier eine Karte schicken würde, müßte er erklären, was er hier machte. Und wenn er das tat, müßte er zugeben, daß er weggelaufen war … All diese Erklärungen waren für eine einfache Postkarte zu kompliziert – und eine Karte aus Mexiko ohne jede Erklärung würde sie nur beunruhigen … Er könnte natürlich auch schreiben, daß er auf Urlaub war. Aber sie würden sich vielleicht Sorgen machen und Fragen stellen. Madge würde merken, daß etwas faul war … Und sie würde den Anwalt so lange nerven, bis sie herausgefunden hatte, was los war. Nein, es war besser zu warten, bis er auf dem Weg nach Hause wieder in San Diego war … Dem Weg nach Hause? Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie er das Flugticket bezahlen sollte. Aber vielleicht konnte er die kostbare Karte des Kapitäns benutzen und eine Überfahrt auf einem Schiff ergattern … ein Containerschiff oder irgend etwas in der Art. Aber wohin würde das Schiff von San Diego aus fahren? Vielleicht nach Japan? Der Weg nach Hause war lang. 242
An diesem Punkt angelangt, bemerkte er drei Dinge. Der Kessel kochte über, es wurde langsam dunkel, und ein Skorpion war gerade dabei, die Essenspakete zu untersuchen, die auf dem Sand lagen. Der Schwanz des Tieres war drohend nach oben gerichtet und bereit zum Zustechen. Er fragte sich, wie schnell der Skorpion sich bewegen konnte, wenn er sich einmal zum Angriff entschlossen hatte. Matthew sprang auf und griff nach einem Stock. Aber er hatte Schwierigkeiten, das Tier zu töten, und als es endlich zuckend auf dem Sand lag, war er schweißgebadet. Dann sah er zum immer dunkler werdenden Himmel hoch und begann, sich um Tracey Sorgen zu machen. Sie hätte schon lange zurücksein müssen. Sie bestand immer darauf, das Lager vor dem Dunkelwerden aufzuschlagen und es danach nicht mehr zu verlassen, damit sie sich nicht verirrten. Wo blieb sie? War sie in El Rosario in Schwierigkeiten geraten? Bestimmt nicht. Die kleine Stadt sah harmlos aus, und die Mexikaner schienen freundlich zu sein. Vielleicht hatte sie mit dem Fly eine Panne gehabt … Vielleicht sollte er nach ihr suchen? Er nahm den Kessel vom Feuer, legte noch ein paar Scheite nach, nahm Traceys Taschenlampe und machte sich auf den Weg. Jetzt, wo es fast dunkel war, bemerkte er die Tiere der Nacht, die überall um ihn herum im Kaktusgestrüpp herumkrochen. Zwischen den losen Steinen hörte er ein seltsames Rascheln und Scharren. Ein kleines, pelziges Etwas – wahrscheinlich ein Hase – hüpfte mit einem Satz aus dem Lichtkegel seiner Taschenlampe. Das krächzende, monotone Schreien einer Eule war von einem großen, in der Nähe stehenden cardón-Kaktus zu hören, und in der Ferne heulte ein Kojote. Er hatte diese Laute schon früher vernommen, allerdings lag er da sicher in seinem Schlafsack am Strand. Noch nie hatten sie so drohend und unheimlich geklungen wie heute nacht. Und es gab immer noch keine Spur von Tracey – und auch der Fly war weder zu sehen noch zu hören. Es war eine klare Nacht. Er sah, wie der Mond hinter den Hügeln emporstieg und helles Licht und deutliche Schatten auf die Landschaft warf. Die großen Kakteen sahen fast wie menschliche Silhouetten aus. 243
Sogar Matthews eigener Schatten war groß und furchteinflößend. Aber nichtsdestotrotz richtete er den Kegel der Taschenlampe weiter nach vorne. Er war sich darüber im klaren, daß überall unbekannte Gefahren lauerten. Er ging weiter und leuchtete mit der Taschenlampe mal nach rechts, dann wieder nach links, aber trotz des hellen Lichts trat er beinahe auf eine Schlange, die sich den Weg entlang schlängelte. Er war ungefähr eine halbe Meile gegangen, als die Straße plötzlich eine Biegung machte, und das Licht der Taschenlampe etwas Helles erfaßte, das im Mondlicht metallisch glänzte. Es war der Fly – er lag auf der Seite im Staub, und hinter ihm entdeckte Matthew Tracey, die bewegungslos dalag. Er rannte los und erreichte den Fly völlig außer Atem. Entsetzt beugte Matthew sich über sie und schüttelte sie vorsichtig. »Tracey? Tracey! Kannst du mich hören?« Statt zu antworten drehte sie sich stöhnend auf den Rücken. »Tracey! Bist du verletzt?« Er versuchte festzustellen, ob irgend etwas gebrochen war. Ihre Arme und Beine schienen unverletzt zu sein. Vielleicht war sie nur benommen, dachte er, blickte auf ihren reglosen Körper und fragte sich, was er tun sollte. »Tortillas«, stöhnte Tracey. »Was? « »Irgendwo …« Sie seufzte leise und drehte ihren Kopf hin und her. »Such sie, bitte.« Matthew legte einen Arm unter ihre Schultern und hob ihren Kopf etwas an. »Vergiß sie. Bist du in Ordnung?« Immer noch benommen bewegte sie vorsichtig ihre Glieder und streckte sich. »Ich muß mit meinem Kopf irgendwo gegengeschlagen sein …« Müde lehnte sie sich gegen Matthew und versuchte dann aufzustehen. »Laß dir Zeit«, sagte Matthew. »Bleib noch eine Minute liegen, bis du wieder richtig durchatmen kannst.« Er fühlte, wie sie sich entspannte. Sie schien froh zu sein, daß ihr jemand sagte, was sie tun sollte. 244
Matthew machte sich wegen ihrer Ergebenheit Sorgen. Es war nicht Traceys Art, von irgend jemandem Befehle entgegenzunehmen – am wenigsten von ihm. »Was ist passiert?« fragte er und hoffte, daß er sie damit noch ein bißchen länger ruhighalten konnte. »Etwas rannte über die Straße.« »Was war es, konntest du es erkennen?« »Nein. Ziemlich groß – so wie ein Hund.« »Bestimmt ein Kojote.« »Ich habe den Lenker herumgerissen, der Fly streifte einen Felsen und kippte um.« »Und dann bist du mit dem Kopf auf einen Stein geschlagen.« »Das nehme ich an.« Matthew leuchtete ihr mit der Taschenlampe ins Gesicht. »Blut ist nicht zu sehen, aber du hast eine ordentliche Beule.« Sanft streckte er die Hand aus und berührte ganz vorsichtig ihre Stirn. Trotzdem zuckte sie zusammen. »Au. Sonst geht es dir gut, oder?« Dann sah sie Matthews ängstliches Gesicht und begann zu lachen. »Tracey hat es erwischt … Komm Matt, das ist keine große Sache.« Mühsam kam sie auf die Beine und stand schließlich etwas schwankend im hellen Mondlicht. Matthew kümmerte sich um den Fly. »Er scheint in Ordnung zu sein. Kannst du ihn fahren?« Tracey machte ein paar unsichere Schritte, blieb dann wieder stehen und schüttelte den Kopf. »Ich fühle mich ganz benebelt. Ich setze mich lieber auf den Rücksitz.« Matthew war beunruhigt. Er hatte den Fly noch nie gefahren – er wußte gar nicht, wie man das machte. »Ich soll fahren?« protestierte er. Aber dann sah er ein, daß es keine andere Möglichkeit gab. Tracey war zum Gehen zu schwach, und es war sehr schwierig, den Fly mit Tracey auf dem Rücksitz diese unebene Straße entlangzuschieben. »In Ordnung«, stimmte er zu, aber er hatte kein gutes Gefühl dabei. »Zeig mir, was ich machen muß.« 245
»Gas, Gangschaltung, Bremse«, sagte Tracey kurz und kletterte ohne weitere Umstände auf den Rücksitz. Doch dann stieg sie wieder aus und begann, die staubige Umgebung abzusuchen. »Was um alles in der Welt tust du da?« Matthew saß schon rittlings auf dem Fly und wollte gerade den Motor starten. »Die Tortillas …« »Vergiß die verdammten Tortillas. Komm jetzt.« Aber Tracey ließ sich nicht beirren. Sie suchte den Boden so lange ab, bis sie das Paket mit den Tortillas gefunden hatte. »Zu schade zum Wegwerfen«, murmelte sie und schüttelte einige Ameisen ab, die kurz davor waren, ein Festmahl zu feiern. Triumphierend kletterte sie wieder auf den Rücksitz. Der Fly sprang mit seinem üblichen Husten an. Er schien nicht in Mitleidenschaft gezogen worden zu sein. Vorsichtig fuhr Matthew die Straße entlang zum Strand zurück. Das kleine Feuer brannte immer noch. Matthew kochte einen starken Kaffee. Er bestand auch darauf, daß sie ihre lädierten Jeans und die Jacke auszog, damit er sehen konnte, ob sie verletzt war. Die Knie waren aufgeschrammt, an einer Hüfte hatte sie einen immer dunkler werdenden Bluterguß, und ihre Handinnenflächen waren blutig, aber sie schien sich nicht ernstlich verletzt zu haben. »Auf jeden Fall bist du nicht in einen Kaktus gefallen«, neckte er sie grinsend. »Das wäre viel schlimmer gewesen.« Er wusch die Wunden mit heißem Wasser aus. Dann beugte er sich vor und sah ihre Hände noch einmal prüfend an. »Oder doch? Sind da irgendwo Stacheln?« »Mach kein Theater«, fuhr Tracey ihn an und entriß ihm ihre Hände. »Sie sind in Ordnung.« Matthew war nicht ganz überzeugt davon. Es war besser, bei Tageslicht nochmals einen Blick darauf zu werfen. Im Augenblick stand Tracey immer noch unter einem leichten Schock und mußte erst einmal schlafen, um darüber hinwegzukommen. Sie aßen die zerdrückten Tortillas, tranken Kaffee und beobachteten schweigend das Mondlicht über dem Meer. Dann sagte Matthew 246
schüchtern: »Du solltest jetzt lieber schlafen gehen … Das war ein anstrengender Tag.« Tracey nickte und versuchte, mit schmerzverzerrtem Gesicht aufzustehen. Plötzlich beugte Matthew sich vor, umarmte sie kurz und murmelte: »Ich bin froh, daß dir nichts Schlimmes passiert ist.« Tracey sah ihn erstaunt an. Aber sie sagte kein Wort. Er beobachtete, wie sie unsicher zu ihrem Zelt ging. Dann griff er nach seiner Gitarre und spielte sie in den Schlaf.
* Am nächsten Morgen stand Tracey nicht wie sonst sehr früh auf. Matthew ließ sie schlafen und ging zum Strand, um wie jeden Morgen zu schwimmen. Als er ins Wasser watete, dachte er daran, wegen der Stachelrochen nur vorsichtige Schritte zu machen. Aber bis auf eine sich hastig zurückziehende Krabbe und einen kleinen silbernen Schwarm winziger Fischen, die um seine Füße herumschwammen und an seinen Zehen kitzelten, war kein Meerestier in Sicht. Bald ließ er sich glücklich im seichten Gewässer treiben und beobachtete die Pelikane, wie sie tauchten und mit einem Schnabel voller Fische wieder auftauchten. An diesem Morgen war von den Delphinen nichts zu entdecken. Er sah nur eine ruhige, helle See und ein paar im Kreise fliegende Möwen. Er drehte sich im klaren Wasser um und begann, langsam zu kraulen. Er fühlte sich gut im Wasser – frei und stark in dem Element, das er liebte. Aber er vermißte Flite immer noch – sogar hier in diesem wundervollen Meer. Er verließ das Wasser in der Nähe einer kleinen felsigen Bucht. Dort warf gerade ein Fischer einige Netze und gelbe Seile in sein Boot. Matthew blieb stehen und sah zu. Diese Netze würden einen Delphin nicht halten können, da war er sich sicher. Aber vielleicht wußte der Fischer, wo mit Beutelnetzen gefischt wurde – oder wo die tödlichen Treibnetze zu finden waren. »Möchtest du Haie fischen?« fragte der Mexikaner in ganz gutem Englisch. 247
»Nein.« Matthew zögerte und fragte sich, wie weit der Fischer wohl hinausfahren würde. War dieses solide aussehende Boot wirklich hochseetüchtig? »Die Thunfischfänger – die großen Schiffe, die Beutelnetze benutzen – wie weit sind die draußen?« »Aha.« Das fröhliche Lächeln des Fischers wurde grimmig, und er blickte finster. »Die Seeräuber, die Piraten mit ihren Zugbändern, Rädern und Kurbeln …« Er brach in eine Reihe von spanischen Flüchen aus, die Matthew auch ohne Übersetzung verstand. »Sie nehmen alles«, fuhr der Fischer fort, nachdem sein Repertoire an Flüchen erschöpft war. Er zeigte mit seiner braungebrannten Hand auf die See. »Alles. Sie fegen das Meer leer. Sie zerstören die Bestände.« »Und die Delphine.« Matthews Gesichtsausdruck war fast so grimmig wie der des Fischers. Der Mexikaner unterbrach seine Tirade für einen Moment und nickte nachdrücklich. »Sí – sogar los delfines. Sie sterben alle – die großen Fische, die kleinen Fische, die Hummer, die Krabben, los delfines, sie sterben alle. Manche Netze kratzen sogar am Meeresboden entlang und lassen nichts am Leben. Für das Meer ist das tödlich …« Matthew fragte hartnäckig: »Wie weit draußen? Wissen Sie, wo sie sind?« Die braunen, ärgerlich blickenden Augen sahen ihn aufmerksam an. »Ich weiß, wo sie sind. Gottes Fluch soll über sie kommen – aber was kann ich tun? Sie sind zu groß für mich.« »Ich möchte das selbst sehen.« Matthews Stimme klang grimmig und fordernd zugleich. »Dann kann ich … Dann kann ich den Leuten davon erzählen.« Er blickte den Fischer flehend an und hoffte, daß er ihn verstand. Schließlich regten sie sich über die gleiche Sache auf – obwohl der Mexikaner mehr um seinen Fischfang besorgt war als um die Delphine. »Den Leuten davon erzählen«, wiederholte er verzweifelt. »Wir müssen ihnen davon erzählen – das ist alles, was wir machen können.« Jetzt flackerten die braunen Augen des Fischers Verstehen auf, und 248
ein Schulterzucken signalisierte sein Einverständnis. »Ich werde nach Haien fischen. Es könnte sein, daß mein Boot weiter hinausfährt als üblich. Es kann den Pacifico bewältigen … Wenn du mitkommen möchtest?« »Wieviel?« fragte Matthew und zählte im Geiste verzweifelt seine Dollar. »Für los delfines? … Du mußt wissen, daß wir sie als unser Glück bezeichnen. Sie führen uns zu den Thunfischen. Wir mögen es nicht, wenn sie getötet werden.« Er dachte kurz nach. »Kannst du Netze einholen?« Zweifelnd blickte er Matthews dünne Gestalt an. »Ja«, antwortete Matthew. Der Fischer sah auf den blauen Pazifik hinaus. »Die Delphine sind irgendwo dort draußen. Das bedeutet, daß auch die Thunfische dort sind. Sehr weit draußen ist es nicht.« Matthew fragte sich gerade, was er mit Tracey machen sollte, als ihre Stimme hinter ihm erklang. »Was ist nicht sehr weit draußen?« »Die Thunfische …«, antwortete Matthew bedeutsam und wußte, daß Tracey verstehen würde. »Und die Delphine …« Er blickte von Tracey zu dem Fischer und wußte nicht, was er noch sagen sollte. »Ich heiße Pepito«, stellte sich der Fischer vor, der sich plötzlich an seine guten Manieren erinnert hatte, und hielt ihnen seine schwielige Hand hin. »Und das ist mein Bruder Guillermo. He, Guillermo, wach auf. Du befindest dich in Gegenwart einer Dame.« Eine große Hand kam aus dem Inneren des Bootes hervor, und zwei Augen, die so braun waren wie die von Pepito, richteten sich interessiert erst auf Tracey und dann auf Matthew. »Buenos días«, sagte er und gähnte ausgiebig. »Ihr müßt entschuldigen«, sagte Pepito. »Wir waren die ganze Nacht draußen und haben die Netze ausgelegt. Wir sind nur zurückgekommen, um noch eins zu holen.« Er gab seinem Bruder einen Schubs und fügte hinzu: »He, Guillermo, da du sowieso den ganzen Tag schläfst, nehme ich einen anderen Mann mit an Bord. Er wird die Netze einholen, während du weiterschnarchst.« 249
Tracey setzte ein umwerfendes Lächeln auf und sagte: »Ich kann auch Netze einholen.« Pepito funkelte sie an. »Eine Frau? Niemals.« »Ich bin so stark wie Matthew.« Sie starrte erbost zurück. Pepito blickte gen Himmel und rief dann seinem Bruder zu: »Zwei Mann, Guillermo. Du kannst bis morgen weiterschlafen.« »Mañana«, gähnte Guillermo, kletterte aus dem Boot und schüttelte erst Tracey und dann Matthew feierlich die Hand. »Wollt ihr die Haie sehen?« »Nein«, antwortete Matthew zurückhaltend. »Delphine.« Guillermos Gesichtsausdruck veränderte sich. »Aha. Los delfines … La fortuna del pescador …« »Die Thunfischfänger …« Matthews Stimme klang besorgt. »Werden wir sie finden?« »Wir können es versuchen«, brummte Pepito. »Aber sicher können wir es versuchen«, stimmte ihm Guillermo zu, kletterte ins Boot zurück und begann, Meter für Meter das gelbe Seil aufzurollen.
* Matthew war der Meinung, daß ein Tag auf See genau das wäre, was Tracey nach ihrem Unfall in der letzten Nacht brauchte. Sie war noch sehr blaß, hatte tiefe Schatten unter den Augen, und die Beule unter ihrem Haaransatz war über Nacht schwarz geworden. Aber sie hatte nichts von ihrer Energie verloren. Bevor sie abfuhren, hatte sie darauf bestanden, das Zelt zusammenzupacken. Sie hatte auch Pepito überredet, ihre Sachen und den Fly in einer der leeren Fischerhütten am Ende der Bucht einzuschließen. Gut gelaunt verstaute Pepito ihre Besitztümer und verschloß die Hüttentür mit einem großen, schon fast antik aussehenden Schlüssel. Tracey schien erschöpft zu sein, aber sie sprach nicht darüber, sondern stieg wortlos ins Boot. Als sie an Bord war, schüttelte sie ihre Müdigkeit ab und unterhielt sich mit Guillermo, der die Netze auf dem Deck der Isabella auslegte, die gleichmäßig durch die Bucht tuckerte. 250
Zuerst fuhren sie zu ihrem Fanggebiet, um das zusätzliche Netz auszuwerfen. Matthew stellte fest, daß die grünen Bündel nicht planlos in einem Haufen, sondern in geordneten Reihen ausgelegt wurden. Zur Markierung ließen die Fischer einen Korkschwimmer mit einer kleinen roten Fahne zurück. Während Pepito die Isabella aufs offene Meer hinaussteuerte, sagte er: »Auf dem Rückweg holen wir die Netze wieder ein.« Er sah Matthew an und fügte hinzu: »Unsere Netze sind genau richtig. Sie sind nicht zu fein. Die Treibnetzpiraten benutzen grausame Netze.« »Grausame?« »Grausame.« Sein Gesichtsausdruck war grimmig. »So fein, so dünn, daß sie unsichtbar sind. Sie hängen in der See wie ein … ein mortaja. In den Netzen verfängt sich alles – und alles stirbt. Ballenas, delfines, alles … Sie verfangen sich in ihnen, sie schwimmen hinein, weil sie sie nicht sehen … und sie ertrinken.« Matthew nickte. »Ich weiß.« Pepito seufzte und strich sich durch sein wirres Haar. »Die Netze sind sehr hart. Manchmal verfangen sich sogar unsere Boote darin. Mit einem Messer kann man sie nicht durchschneiden, deshalb tragen wir immer das hier bei uns.« Er nahm eine wuchtig aussehende Schere in die Hand und hielt sie Matthew hin. »Ich bin der Anführer unseres sindicato«, erklärte er, »und wir müssen uns schützen.« Matthew konnte das verstehen. »Benutzen sie hier in der Gegend Treibnetze?« fragte er. »Oder Beutelnetze?« Pepito zuckte mit den Schultern. »Beides. Manchmal nehmen sie das eine, dann wieder das andere. Aber die Treibnetze sind die schlimmsten.« Wieder zuckte er mit den Schultern. »In den meisten Ländern sind sie – wie sagt man – illegal, aber natürlich werden sie immer noch benutzt. Und unser eigenes Geschäft ist genauso bedroht wie das Leben der delfines.« Wieder nickte Matthew. Pepito winkte ihn näher zu sich heran, denn es war schwer, gegen den Lärm des Motors und den Wind anzureden. »Ich kann dicht an die großen Schleppnetzfischer – die Fabrikschiffe – heranfahren, aber 251
nicht zu dicht. Sie gehen mit kleinen Booten, die sie beim Fang stören, nicht gerade freundlich um.« Matthew war sich im klaren darüber, daß Pepito mit seinem Boot seinen Lebensunterhalt verdiente und daß er deshalb nicht in Schwierigkeiten geraten wollte. »Neulich ist eins von unseren Booten überfahren worden«, brummte Pepito und schüttelte heftig den Kopf. »Und ein Boot von Greenpeace ist während einer Protestaktion fast zum Kentern gebracht worden. Das sind Teufel. Sie kümmern sich nur um ihre Profite. Alles andere interessiert sie nicht.« »Wir brauchen nicht zu dicht heran. Ich möchte es mir nur ansehen«, beruhigte Matthew ihn. Die Isabella pflügte durch das Wasser, direkt in die unruhigen Wellen des Pazifiks hinein. Und Tracey wurde ständig blasser und schweigsamer. Einmal fragte Matthew sie, ob es ihr gutginge, aber da er nur eine barsche Antwort erhielt, sagte er nichts mehr. Er nahm an, daß sie nach dem Schlag gegen den Kopf rasende Kopfschmerzen hatte und nun zudem noch seekrank war. Aber sie zeigte deutlich, daß sie kein Mitleid wollte. Das Meer erstrahlte immer noch in pazifikblau, und der Himmel war klar. Aber der Wind hatte aufgefrischt, und der Wellengang war ziemlich stark. Die Wellen türmten sich bedrohlich auf. Es schien, als würden sie die Isabella gleich unter Tonnen von wogendem Wasser begraben. »Meine Isabella ist zäh«, schrie Pepito gegen den Wind an, der Matthews Gedanken richtig erraten hatte. Matthew grinste. »Das kann man wohl sagen. Sie reitet auf den Wellen wie ein Delphin.« Pepito lächelte schelmisch. Er richtete sich auf und deutete auf das Meer. »Sie sind dort – los delfines. Das bedeutet, daß auch die Thunfische dort sind. Guillermo!« Er winkte seinem Bruder zu und zeigte auf den Horizont. Guillermo verstand, was er sagen wollte und nickte. »Ich passe auf!« schrie er. »Ich passe auf!« 252
Über dem Bug der Isabella schlug eine besonders hohe Welle zusammen, und sie wurden ordentlich naß. Als sie das Wasser abgeschüttelt hatten, schrie Guillermo plötzlich: »Ahí! Da!« und zeigte nach Süden. Pepito reagierte sofort und drehte den Bug der Isabella nach Norden. Er wußte, wie gefährlich die Netze sein konnten. Matthew sah über die Reling und entdeckte eine lange Reihe von Korkschwimmern, die so weit das Auge reichte auf dem Wasser verteilt waren. Zwischen ihnen lag drohend ein tückisches dünnes Drahtseil. »Beutelnetze«, brummte Pepito und hielt sein Boot weit genug entfernt. Er zeigte nach vorne, und Matthew entdeckte einige Delphine, die aus dem Wasser sprangen und wieder eintauchten. Sie schienen aufgeregt zu sein, aber sie waren weit genug von den tödlichen Netzen entfernt. »Die waren vernünftig«, schrie Pepito. »Aber ihre Freunde waren es nicht.« Vorsichtig steuerte er die Isabella an den riesigen Netzen entlang, und seine Augen suchten das Meer nach dem Schiff ab, das diese gewaltige Fischfalle ausgeworfen hatte. Aufmerksam beobachtete Matthew die Delphine. Sie sprangen und tauchten in der Nähe der Netze, gaben mit ihrer Schnauze den Korkschwimmern einen Stoß und drehten dann wieder ab, nur um ihre Attacke noch heftiger zu wiederholen. Ihre Freunde sitzen in der Falle, dachte er. Ich weiß, daß sie ihnen zu Hilfe kommen wollen. Er lehnte sich weiter über die Reling, um besser sehen zu können. Tracey umfaßte hart seinen Arm. »Du hast doch keine Dummheiten vor, oder?« Matthew sah sie kurz an. »Sie weinen«, sagte er. »Ich kann sie hören.« Plötzlich, bemerkte er, daß die Korkschwimmer sich bewegten und die Zugschnüre zusammengezogen wurden. Er konnte das Schiff noch nicht sehen – die Netze mußten riesig groß sein – aber es konnte nicht mehr weit weg sein. »Sie holen die Netze ein«, schrie Pepito und steuerte die Isabella noch weiter weg, denn er kannte den gefährlichen Zug dieser unsichtbaren Kabel. 253
Die Delphine wurden noch erregter und stießen hilflos mit ihren Köpfen gegen die Netze. Einer von ihnen kam ganz in der Nähe der Isabella aus dem Wasser und sah Matthew mit einem verzweifelten, flehenden Blick an. ›Hilf uns!‹ schien er zu sagen. ›Unsere Freunde sterben dort draußen. Hilf ihnen zu entkommen!‹ Matthew konnte es nicht ertragen. Ihre Stimmen schien überall zu sein, sie riefen und flehten, und sie hallten wie ein lang andauernder Schmerzensschrei in seinem Kopf wider. Er drehte sich um und suchte verzweifelt nach irgendeinem Werkzeug oder einer Waffe, die er gegen die tödlichen Netze einsetzen konnte. Sein Blick fiel auf die Schere, die Pepito ihm gezeigt hatte. Er beugte sich vor, ergriff sie, und dann sprang er ohne nachzudenken über Bord in die aufgewühlte See. Die beiden Mexikaner schrieen. Tracey versuchte vergeblich, ihn festzuhalten – und dann konnten sie nur noch voller Entsetzen zusehen, wie Matthew – verfolgt von den Delphinen – gegen das Meer und die Netze ankämpfte. Für Matthew folgte ein endlos scheinendes, hektisches Durcheinander. Wellen schlugen über seinem Kopf zusammen. Blinde Wut verzehrte ihn. Er griff nach den Netzen und riß und schnitt wutentbrannt an den festen Nylonfasern. Undeutlich bemerkte er neben sich die schwarzen Körper der Delphine, die ebenfalls gegen die Korkschwimmer und das sich schließende Netz stießen. Matthews Zorn hatte seinen Armen besondere Kraft verliehen, denn plötzlich gab ein Teil des Netzes nach, und ein großer Schwall von Fischen und Delphinen ergoß sich in das Wasser um ihn herum. Er wurde unter einer Flutwelle von sich windenden Körpern, wirbelnden Schwanzflossen, dunklen Rückenflossen, spitz zulaufenden Schnäbeln und Blaslöchern begraben, die dankbar die frische Luft einsaugten … Matthew zappelte mit berstenden Lungen im aufgewühlten Wasser und konnte vor lauter Fischen und Delphinen nicht an die Oberfläche kommen. Als er sich angestrengt zum Licht hochkämpfte, bemerkte er, wie ihn etwas von hinten anstieß. Zwei blauschwarze Schatten schwammen neben ihm her und schoben ihn nach oben. Sein Kopf durchbrach die Wasseroberfläche, und er konnte wieder Luft holen. Das Geräusch 254
der Wellen und die Stimmen der Delphine schienen jetzt überall zu sein … Matthew holte zweimal tief Luft, dann ging er wieder in der Menge der fliehenden Körper unter. Und wieder schwammen die beiden dunkelblauen Schatten neben ihm her und schoben ihn zum Licht empor. Er dachte, daß er es nicht schaffen würde, denn der Schmerz in seinen Lungen war nicht auszuhalten … Die Stimmen der Delphine schienen lauter, klarer und zahlreicher zu werden, und er konnte ihnen nicht entrinnen. Er hörte die Stimmen aller auf der Welt lebenden Meeresgeschöpfe: die großen Wale, die springenden Delphine, die Schwertfische, die Thunfische und die kleinen Fische. Sie alle sprachen in den Weiten des Meeres miteinander und tauschten einen endlosen Strom von Botschaften aus … Ich sterbe, dachte Matthew. Bald werde ich ein Teil des Ozeans sein … Dann werde ich ihre Sprache verstehen. Aber er ertrank nicht. Wieder wurde er, jetzt halb bewußtlos, von zwei kraftvollen, dunklen Körpern nach oben geschoben. Und dieses Mal tauchte eine Hand aus dem Nichts auf und ergriff sein Haar. Er wurde hochgehievt und landete mit dem Gesicht nach unten auf den nassen Planken der auf- und niedertanzenden Isabella. Die gleiche Hand preßte sich auf seinen Rücken und die schmerzenden Rippen und drückte solange das Wasser aus seinen Lungen, bis er hustend und würgend auf den Planken lag. Er merkte, wie seine Lebensgeister wieder erwachten. Ins Leben zurückzukommen schmerzte. Er war sich nicht sicher, ob er es überhaupt wollte. Dort draußen irgendwo waren die Wesen, die er liebte, die Stimmen, die er kannte und die er am Rande des Ertrinkens fast verstanden hatte … aber eben nur fast. Dann hörte er Tracey, die mit wütender Stimme in sein Ohr schrie: »Du gottverdammter Idiot!« Und Pepito brummte gleichfalls ärgerlich: »Loco Engländer!« »Es tut mir leid«, sagte Matthew und würgte. Er versuchte, sich aufzurichten. »Sie haben geweint …« Sie sahen ihn ungläubig an. Doch dann fing Pepito an zu lachen. »Mir tut es nicht leid. Du hast ein verdammt großes Loch in ihre Netze geschnitten!« 255
Guillermo sah Matthew immer noch beinahe ehrfürchtig an. »Los delfines. Sie haben dich zurückgebracht. Du bist – afortunado.« »Wir werden nicht afortunado sein, wenn sie uns hier erwischen«, drängte Pepito. »Wir sollten jetzt so schnell wie möglich zu unseren eigenen Netzen zurückfahren.« Matthew war zu müde zum Antworten, aber er grinste. Als sie ihr Fanggebiet erreicht hatten, machten sich die Brüder gelassen an die Arbeit. Matthew bestand darauf, beim Einholen der Netze zu helfen, da er es versprochen hatte und es ihn aufwärmen würde. Ohne ein Wort zu sagen stellte sich Tracey neben ihn und half. Einige kleinere Fische warfen sie wieder über Bord. Sofort machten sich die Möwen darüber her und kämpften um die weggeworfenen Reste. Bald stapelten sich die Fische und auch Haie auf den nassen Planken der Isabella. Matthew stellte fest, daß die Haie nicht sehr lang waren – nicht länger als neunzig Zentimeter bis ein Meter zwanzig –, aber sie hatten kraftvolle Kiefer, und ihre Zähne sahen ziemlich gefährlich aus. Er war über die schlaffen, leblosen Körper nicht sehr begeistert – auch sie waren in den Netzen erstickt, denn er erinnerte sich, daß Haie schwimmen mußten, um Sauerstoff aufnehmen zu können. Pepito schien seine Gedanken erraten zu haben, denn während er noch einen langen, schwarzen Körper aus den Netzen holte, sagte er: »Wir nehmen uns nur, was wir brauchen. Wir sind nicht wie die Piraten, die das ganze Meer leerfegen …« Er sah auf den silberfarbenen Fang vor seinen Füßen herunter und fügte hinzu: »Das bedeutet Nahrung für das ganze Dorf.« Matthew nickte, beugte sich vor und half Guillermo, das letzte Netz einzuholen. »Und jetzt fahren wir nach Hause«, sagte Pepito grinsend. »Und wenn jemand fragt, dann waren wir den ganzen Tag hier. Der Haifischfang dauert eben seine Zeit.« Fröhlich blinzelte er Matthew zu und ging nach vorne in das kleine Ruderhaus, um den Motor anzulassen. Matthew drehte sich besorgt zu Tracey um. »Sie werden doch hoffentlich keine Unannehmlichkeiten bekommen, oder?« 256
»Das glaube ich nicht«, brummte Tracey. »Aber du bekommst welche … warte nur ab, bis wir wieder festen Boden unter den Füßen haben.«
* Am Abend sollte es ein Fest geben. Guillermo war losgezogen, um den Lastwagen zu holen. Als er zum Strand zurückkam, wurde er von mehreren Freunden begleitet, die ihm helfen wollten, den Fang aufzuladen. »Wir haben ein Kühlhaus in unserem Dorf«, erklärte Guillermo, während er den letzten Hai auf den zerbeulten alten Lastwagen lud. »Die Frauen werden die Fische ausnehmen. Jetzt muß ich los.« Er grinste Matthew an, der beim Verstauen des Fangs in die Fischkisten geholfen hatte. »Aber ich komme zurück. Zum Abendbrot gibt es Fisch. Und Hummer. Kommt ihr?« Matthew sah sich nach Tracey um, die damit beschäftigt war, ihre Ausrüstung aus der leeren Fischerhütte zu holen, und anscheinend ganz darin vertieft war, die Schnüre des Zeltes zu entwirren. So antwortete er für sie mit. »Sí. Wir kommen sehr gerne.« Pepito, der den Boden seines Bootes mit Seewasser abspülte, sah hoch und fügte hinzu: »Deine guitarra – spielst du für uns? Wir haben doch etwas zu feiern – oder?« Aber als sie unter sich waren, stellte Tracey klar, daß es ihrer Meinung nach keinen Grund zum Feiern gab. Sie beschimpfte Matthew und erklärte ihm, daß er unverantwortlich und rücksichtslos gewesen sei und bei der Aktion Kopf und Kragen riskiert hätte. Matthew war verblüfft. »Aber du bist sogar in einen Marinestützpunkt eingedrungen. Das war viel gefährlicher.« »Nein, das war es nicht. Die Chance, dabei zu ertrinken, war ja wohl gleich null.« »Sie hätten dich erschießen können.« Tracey schnaubte. »Das glaubst du ja wohl selbst nicht.« »Oder du hättest im Gefängnis landen können.« 257
»Wenigstens wäre es kein mexikanisches Gefängnis gewesen.« Sie funkelte ihn wütend an. »Ist dir eigentlich der Gedanke gekommen … Wenn sie dich erwischt hätten, hätte es vielleicht einen politischen Zwischenfall gegeben.« Matthew lachte. »Oh, nun mach mal halblang. Ein kleiner Riß in einem kilometerlangen Netz?« »Du hast es nicht verstanden – diese Fischkriege werden leicht sehr rauh. Hast du überhaupt das Schiff gesehen?« »Nein. Du?« Sie schüttelte den Kopf. »Zu weit weg – und zu unruhige See. Aber Pepito hat es gesehen.« »Welche Nationalität?« »Konnte er nicht erkennen. Er sagt, daß es sich oft um Japaner handelt – und manchmal auch um Amerikaner.« »Amerikaner?« »Ja. Die großen Fabrikschiffe. Die ganze Ausrüstung ist automatisiert. Riesige Fischmengen werden sofort an Ort und Stelle verarbeitet – da bleibt zum Beobachten nicht mehr viel übrig. Die kleinen Fischer wie Pepito können ganz einfach nicht mit ihnen konkurrieren.« »Kein Wunder, daß er sich wegen des Netzes gefreut hat.« »Er hat sich nicht gefreut«, fuhr Tracey ihn an. »Er war verrückt vor Angst. Wie wir alle.« Matthew antwortete betreten: »Das tut mir leid. Ich dachte nicht, daß es euch etwas ausmachen würde.« Tracey starrte ihn noch wütender an. »Du hast eben nicht nachgedacht.« Matthew nickte. »Das stimmt. Sie haben dort draußen geweint. Konntest du sie nicht hören?« »Nein«, brummte sie. Aber der größte Teil ihres Ärgers war verflogen. Wie konnte ich bei diesen Stimmen, die ich hörte, noch innehalten und nachdenken? dachte Matthew. Sie riefen mich. Ich mußte etwas tun. Ich mußte einfach. Aber laut sagte er nur: »Also gut. Es ist vorbei. Es ist ja nichts passiert.« 258
»Mach das ja nicht wieder.« Er zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich werde ich dazu keine Gelegenheit mehr haben.« »Ich kann dich verstehen, Matt. Aber wir müssen andere Wege finden.« »Ich weiß. Es war nur – ich konnte nicht einfach so dasitzen und nichts tun.« Tracey sah ihn an. »Passiv zu sein ist wohl nicht dein Fall, oder?« »Nein«, seufzte er. Aber dann fiel ihm ein, daß Petra die meiste Zeit ihres Lebens genau damit verbracht hatte – als passive Beobachterin auf Walfängern … auf Fangschiffen … an verlassenen Küsten … an der Scammon's Lagoon? Aber sie war eine Expertin auf ihrem Gebiet, und die Leute würden auf sie hören … Und Pierre hatte gesagt: »Alles, was wir machen können, ist, darüber zu berichten …« Aber ich bin zu jung, dachte Matthew. Zu jung und zu unwichtig. Keiner würde auf mich hören. Was kann ich tun? Tracey sah den Zweifel und die Mutlosigkeit in seinem Gesicht und dachte, daß sie vielleicht zu hart mit ihm ins Gericht gegangen war. Aber bevor sie noch etwas sagen konnte, klang Pepitos Stimme hinter ihr auf. »Es geht los. Kommt ihr?« »Sí …«, antwortete Matthew und erinnerte sich an seine guten Manieren. »Gracias.« Und er ergriff seine Gitarre und ging mit dem stämmigen Fischer über den Sand zurück. Tracey folgte ihnen schweigend. Und dann begann das Fest. Während der Fisch kochte, holte jemand eine Gitarre hervor, und angeführt von Guillermos kräftigem Tenor sangen die Mexikaner ihre eigenen Lieder. Mutig bemühte Matthew sich mitzuhalten. Er kannte ihre Lieder zwar nicht, aber er hatte ein gutes Gehör, und er konnte meistens erraten, was als nächstes kommen würde. Zwischen den Liedern kreisten die Bierdosen. Dann bat jemand Matthew, für sie zu spielen. Er überlegte, ob englische Popsongs zu ihren Liedern passen würden, aber am Ende blieb er doch bei seinen alten Favoriten. Er spielte Granados, de Falla und sogar Bach, und er bemerkte gar nicht, daß sich ein andächtiges Schwei259
gen über seine Zuhörer gelegt hatte. Sie lauschten mit ernster und fast ehrfürchtiger Aufmerksamkeit. Als er aufhörte, um seine Finger zu lockern, ließen sie wieder die Bierdosen kreisen und baten ihn weiterzuspielen. Dann aßen sie Hummer, Fisch und Muscheln und auch einige pikante Tortillas, die Guillermo aus dem Dorf mitgebracht hatte. Und dann fingen alle wieder an zu singen. Matthew spielte, sang und lachte. Als der Tequila gebracht wurde, beugte sich Matthew zu Tracey herüber und murmelte: »Nicht nach dem Schlag gegen den Kopf«, und sie entgegnete: »Nicht nachdem du halb ertrunken bist.« Aber beide nahmen einen kleinen Schluck aus einer Blechtasse und versprachen einander, daß es dabei bleiben würde. Im Licht der Kerosinlampe betrachtete Matthew Pepitos lächelndes Gesicht, und von dort aus blickte er weiter in die anderen braungebrannten, salzverkrusteten Gesichter, die glücklich um ihn herum sangen. Plötzlich hatte er das Gefühl, als würde sein Herz vor Liebe fast zusammengepreßt. Er kannte diese Leute kaum, aber irgendwie liebte er sie – mit ihren von Arbeit gestählten Körpern, ihrer Freude an einfachen Dingen, und wegen ihrer Freundlichkeit und Großzügigkeit einem englischen Jungen gegenüber, der sie beinahe in furchtbare Schwierigkeiten gebracht hätte. Matthew wußte nicht, wie er seine Gedanken in Worte fassen sollte – also spielte er voller Begeisterung auf seiner Gitarre, das einzige Geschenk, das er ihnen machen konnte. Schließlich murmelte Tracey etwas von »morgen haben wir eine lange Fahrt vor uns«, und sie wurden von einigen immer noch fröhlich singenden Begleitern, die ihre Arme freundschaftlich um Matthews und Traceys Schultern gelegt hatten, zurück zum Zelt begleitet. »Mateo«, sang Guillermo leise in sein Ohr. »El afortunado …« Der Glückliche? Das bin ich wahrscheinlich, dachte Matthew, denn ich bin nicht ertrunken. »Amigo de los delfines«, fügte Guillermo hinzu, der inzwischen sehr sentimental geworden war und immer noch ehrfürchtig an Matthews Rettung dachte. »Das hoffe ich«, antwortete Matthew laut. Oh, wie sehr ich das hoffe. 260
Auf der anderen Seite neben ihm brummte Pepito »Viva la libertad!« und schwenkte seine Bierdose. Als er Matthews überraschten Gesichtsausdruck sah, blinzelte er ihm zu und schlug ihm so kräftig auf den Rücken, daß Matthew fast das Gleichgewicht verloren hätte. Die Fischer brachten sie sicher zum Zelt zurück, riefen mehrere, freundliche buenas noches und verschwanden singend in der Nacht. Tracey sah Matthew an, und aus irgendeinem Grund sah sie in dem bleichen Licht des Mondes sehr jung und verletzlich aus. »Matt?« fragte sie zögernd, beugte sich nach vorne und packte ihn fest an den Schultern. »Keine gottverdammten Heldentaten mehr, hast du mich verstanden?« Matthew lachte. »Dazu werde ich wohl kaum noch die Gelegenheit haben«, sagte er, beugte sich zu seiner eigenen Überraschung vor und küßte ihr bleiches Gesicht. Tracey zwinkerte verblüfft, faßte sich aber schnell wieder. »Aus uns spricht der Tequila«, sagte sie und ging schnell zu ihrem Zelt. Matthew legte sich in seinen Schlafsack und sah sich die Sterne an. Sie waren in dieser Nacht sehr hell, und irgendwie erinnerten sie ihn an zu Hause – an die Cornwallschen Klippen, den bleichen, ausgewaschenen Sand und die dunklen Felsen, bei denen er sich mit Flite getroffen hatte … Und an Skip, dessen schlanker, braungebrannter Körper so durchtrainiert und salzverkrustet war wie der von den drahtigen Fischern und dessen Augen sich an so einfachen Dingen erfreuen konnten … Nur wenn er Petra anblickte, dann glimmten in ihnen alle möglichen verborgenen Feuer … Petra … Hielt sie sich wirklich in Guerrero Negro oder unter der Adresse, die Skip ihm gegeben hatte, auf, um die Wale zu beobachten? Würde sie sich über seinen Besuch freuen? Würde sie sich überhaupt Zeit für einen Jungen nehmen, den sie kaum kannte? Ich muß wieder nach Hause zurück, dachte er. Ich muß zurückgehen. Das weiß ich jetzt. Und ich muß Madge und die Kinder besuchen. Jampy wird mir alle möglichen Fragen stellen – oder vielleicht hat er mich auch schon ganz vergessen. Ich muß nach Hause. 261
* In London drehte sich Madge im Bett um und sagte zu Jim: »Ich mache mir wegen des Jungen Sorgen.« »Welcher Junge?« murmelte ihr Mann im Halbschlaf. »Matt natürlich. Wer sonst?« Jim gähnte. »Was ist mit ihm?« »Er hat nicht geschrieben. Jampy ist deswegen ernsthaft böse. Jede Woche kam eine Postkarte – pünktlich. Matt ist wirklich nett.« »Jungs vergessen manchmal etwas.« »Nicht Matt. Er hat es Jampy versprochen.« »Vielleicht hat er zuviel zu tun.« Madge schnaubte. »Zuviel zu tun, um eine Postkarte zu schreiben? Ich glaube, daß da irgendwas nicht stimmt. Ich habe da so ein Gefühl.« Jim stöhnte, denn er kannte Madges ›Gefühle‹. »Dieser Anwalt weiß vielleicht etwas.« Madge war seiner Meinung und ergriff aufgeregt seinen Arm. »Du hast völlig recht. Ich rufe ihn gleich morgen früh an.« Aber so einfach war es nicht. Als Jim zur Arbeit und die älteren Kinder zur Schule gegangen waren, ließ sie Jampy und das Baby bei ihrer Nachbarin und machte sich auf den Weg zur Telefonzelle an der Ecke. Plötzlich fiel ihr ein, daß sie die Nummer des Anwalts nicht kannte und sie im Telefonbuch nachschlagen mußte. Die ersten drei Telefonzellen waren dem Vandalismus zum Opfer gefallen, und in der vierten gab es kein Telefonbuch. Als sie endlich ein brauchbares Telefonbuch gefunden hatte, mußte sie feststellen, daß es unmöglich war, einen Anwalt namens John Harvey zu finden, es sei denn, sie kannte den Namen seiner Firma und die Adresse – was nicht der Fall war. Aber sie kannte Skips Nummer in Cornwall, und nachdem sie ihr Geld gezählt hatte, rief sie dort an. Inzwischen war der Vormittag allerdings schon fast vorbei, und Skip war bereits zum Krankenhaus gefahren, um seine Schwimmtherapieklasse zu unterrichten. Frustriert und noch beunruhigter als vorher sammelte Madge ihr 262
Geld ein und beschloß, es abends auf dem Weg zur Arbeit noch einmal zu versuchen. Aber am Abend kam Jim später als sonst nach Hause, Jampy machte einen Aufstand, weil er nicht ins Bett wollte und weil Matthews Postkarte ausblieb, das Baby beschloß, daß es ein guter Zeitpunkt wäre, ebenfalls zu schreien, und Madge wäre fast zu spät zur Arbeit gekommen. Sie mußte den ganzen Weg laufen, und deshalb beschloß sie, Skip auf dem Weg nach Hause anzurufen. Als sie die Büros geputzt hatte, war es schon fast zehn Uhr abends. Sie befürchtete, daß Skip vielleicht irgendwohin ausgegangen wäre, aber schließlich meldete er sich doch mit seiner warmen Stimme, und im Hintergrund konnte sie fröhlich klingende Geräusche aus der Bar des Clubs hören. Atemlos teilte ihm Madge ihre Besorgnis wegen Matthew mit, und nachdem sie geendet hatte, sagte er sofort: »Ich sehe zu, was ich herausfinden kann. Kann ich Sie zurückrufen?« »Nein«, antwortete Madge. »Ich muß Sie wieder anrufen. Ist morgen abend zu früh?« »Ich werde mein Bestes tun«, sagte Skip. »Machen Sie sich keine Sorgen, Madge. Ich bin sicher, daß alles in Ordnung ist.« Dann wurde sie durch Pieptöne daran erinnert, Geld nachzuwerfen. Aber bevor sie das tun konnte, wurden sie unterbrochen. Seufzend ging sie nach Hause und verbrachte eine weitere schlaflose Nacht. In der Zwischenzeit hatte Skip keine Zeit verloren und sich sofort darangemacht, John Harvey von Harvey und Harvey, irgendwo in London, aufzuspüren. Er wählte einfach die Nummer, die der alte Kapitän ihm gegeben hatte und hinterließ eine Nachricht, in der er um Harveys Telefonnummer bat, denn – so begründete er seinen Wunsch – es machte sich jemand wegen Matthew Sorgen. Die Reaktion erfolgte sehr bald in Form eines Telefonanrufs vom Kapitän selbst, der sich irgendwo in Südfrankreich aufhielt. »Was ist los, Skip?« fragte er kurz angebunden, und aus seiner Stimme war herauszuhören, daß er sich wegen des Jungen genauso viele Sorgen machte wie Madge und Skip. Nachdem Skip es ihm erklärt hatte, sagte er sofort: »Überlassen Sie 263
das mir. Ich setze mich sofort mit Harvey in Verbindung. Ich melde mich«, und er legte auf. Skip amüsierte sich über die diktatorische Art des reichen alten Mannes. Aber er wußte, daß der Kapitän die Sache in die Hand nehmen würde. Nachdem der alte Mann John Harvey knappe Anweisungen gegeben hatte, verlor auch der Anwalt keine Zeit und rief am späten Nachmittag in San Diego an, ungefähr zu der Zeit, in der Della gerade ihr Frühstück einnahm. Er war erstaunt, als sie antwortete: »Matt? Nein – er … er ist im Augenblick nicht da.« »Nicht da?« fragte Harvey verständnislos, und seine Augenbrauen gingen in die Höhe. »Wo ist er denn?« »Ich …« Sie zögerte und schien merkwürdig in die Enge getrieben zu sein. »Das weiß ich nicht genau, irgendwo auf Baja California, nehme ich an.« Harvey war empört. »Das nehmen Sie an? Haben Sie keine Adresse?« »Nein.« Einen Augenblick herrschte ein verblüfftes Schweigen, und dann sagte er langsam und ungläubig: »Lassen Sie mich das zusammenfassen. Sie baten Matthew, zu Ihnen zu kommen und bei Ihnen zu wohnen – mit der Aussicht darauf, daß er für immer bei Ihnen in San Diego bleiben könnte –, das stimmt doch, oder?« »Nun … ja.« Ihre Stimme klang verängstigt. »Sie haben für sein Wohlergehen und seine Sicherheit die Verantwortung übernommen?« »Ja.« »Und dann sagen Sie mir, Sie wüßten nicht, wo er ist?« »Ich … es gab hier eine kleine Meinungsverschiedenheit – mit meinem Mann. Matt ist einfach weggelaufen«, stotterte Della. »Ich verstehe«, sagte Harvey und klang außerordentlich grimmig. »Und Sie haben keine Ahnung, wohin er gegangen sein könnte?« »Er … in seiner Nachricht teilte er uns mit, daß er einen Freund auf Baja California besuchen wollte. Ich wußte nicht, daß er dort unten ei264
nen Freund hat, aber ich nehme an, daß er irgendeine Adresse hat, an die er sich wenden kann.« Wieder holte sie nervös Luft und fügte dann hinzu: »Er hat geschrieben, daß er sich wieder mit uns in Verbindung setzen wird, bevor … bevor er nach Hause zurückkehrt.« »Oh«, sagte Harvey mit sarkastischem Unterton. »Also wollte er wieder nach Hause. Habe ich das richtig verstanden?« »Es tut mir leid«, jammerte Della. »Es war ein Mißverständnis. Sie wissen, wie leicht man Jungen kränken kann.« »Sie hätten mich informieren müssen.« »Ja, das hätte ich tun sollen. Aber Des – mein Mann – meinte, daß Jungen manchmal für kurze Zeit weglaufen und dann zurückkommen und daß wir lieber abwarten sollten.« Harveys Mißbilligung schien durch den Hörer fühlbar zu sein. »Ich muß die Behörden informieren«, sagte er streng. Della zitterte, denn sie wußte nicht, welche Behörde er meinte. Aber Harvey sprach ohne das geringste Mitleid weiter. »Er hat die britische Staatsbürgerschaft – und er ist minderjährig. Jemand muß die Verantwortung übernehmen. Wenn Sie in der Zwischenzeit etwas von ihm hören, informieren Sie mich sofort. Sofort, haben Sie das verstanden?« Das hatte Della. Sie wußte auch, daß sie und Des in ernsthaften Schwierigkeiten steckten. Und sie hatte Angst. Ihre Angst wurde noch größer, als später am Tag ein ruhiger, freundlicher Mann in die Boutique schlenderte, ein sanftes, aber sehr gefährliches Lächeln aufsetzte und ihr seine Karte zeigte, auf der nur ›Commander R. J. Morris, RN‹ und eine private Telefonnummer stand. »Mrs. Della Grant?« fragte er mit ausgesuchter Höflichkeit. »Bitte entschuldigen Sie die Störung. Ich hätte nur gerne gewußt, ob Sie in letzter Zeit von Ihrem Neffen gehört haben.« »Mein … mein Neffe?« sagte Della mit piepsiger Stimme. »Ach, Sie meinen Matt? Nein, ahm, nein, haben wir nicht.« »Immer noch auf dem Weg nach Süden, oder nicht?« säuselte Morris, der mit seinen klugen, wachsamen Augen ihr wachsendes Unbehagen beobachtete. 265
Della schluckte schwer. »Nach Baja, ja.« »Ich nehme an, daß er immer noch mit seiner Freundin unterwegs ist?« Della zuckte zusammen. »Welche Freundin?« »Oh.« Leichte Belustigung trat in Morris' starren Blick. »Sie wußten nichts davon?« Schweigend schüttelte Della den Kopf. »Nach unseren Informationen«, sagte Morris, »hat Matthew eines Abends allein die mexikanische Grenze überquert und sich am nächsten Tag mit seiner jungen Freundin Tracey Holland getroffen.« »Tracey Holland? Ist das nicht das Mädchen, das …« »Ja. Das Mädchen, das für den Tierschutz demonstriert und das vor kurzem unter der Beschuldigung verhaftet wurde, in eine militärische Einrichtung eingedrungen zu sein.« Della wurde bleich. »Sind sie – ist Matthew in irgendwelchen Schwierigkeiten?« »Nicht daß ich wüßte. Sie haben nicht versucht, am Marinestützpunkt in Ensenada anzuhalten, falls es das ist, was Sie meinen.« »Gott sei dank«, sagte Della und seufzte erleichtert. »So weit wir informiert sind, machen die beiden ganz einfach Urlaub, besichtigen die üblichen Sehenswürdigkeiten, campen am Strand und fahren immer weiter nach Süden.« »Um die Wale zu beobachten«, sagte Della plötzlich. »Ich erinnere mich, daß er mir erzählte, daß er sich dafür interessierte. Kann man das da unten nicht irgendwo?« »Guerrero Negro. Scammon's Lagoon. Wollen die beiden dorthin?« »Ich … ich glaube, ja.« »Er hat Sie nicht in seine Pläne eingeweiht?« »Er hat mir überhaupt nichts erzählt«, fuhr Della ihn ärgerlich an. »Er ist einfach weggelaufen.« »Ich verstehe«, murmelte Morris und sprach in dem gleichen Tonfall, den Harvey schon vorher benutzt hatte. Er sah sie gelassen an. »Er befindet sich in Mexiko, außerhalb unserer Landesgrenzen. Aber wenn er dort unten in Schwierigkeiten kommt, so sollten Sie wissen, daß es sehr ernste Folgen für ihn haben könnte.« 266
Della nickte. »Das Mädchen – sie ist die Unruhestifterin. Nicht Matt.« Morris lächelte. »Es ist gut, wenn die Familie zusammenhält.« Als sie diesen Satz hörte, fühlte Della sich plötzlich unbeschreiblich schuldig. Wenn die Familie zusammenhält? Wie loyal war sie gegenüber ihrem Neffen Matt gewesen – und ihrem Mann Des gegenüber – oder sogar ihrem seit langem toten Liebhaber Michael gegenüber? »Aber«, fuhr Morris fort, »nach Meinung Ihres Neffen glaubt sie an ihre Überzeugungen und ist keine bloße Unruhestifterin. Auf jeden Fall wird sie nach ihrer letzten Konfrontation mit dem Gesetz sehr vorsichtig sein. Sie wird mit Sicherheit weitere Schwierigkeiten umgehen wollen.« »Ich bete zu Gott, daß Sie recht haben«, sagte Della. »Oh, da bin ich ganz sicher.« Morris warf Della noch einen durchdringenden Blick zu und sagte dann sanft: »Informieren Sie mich bitte, wenn Sie etwas von ihm hören. Ich möchte gerne wissen, wie es ihm ergangen ist. Das möchte ich sehr gerne wissen.« Als er gegangen war, sank Della auf den einzigen im Salon stehenden Stuhl, so stark zitterte sie. Sie fühlte sich einer Ohnmacht nahe. Nachdem sie einen Augenblick verzweifelt nachgedacht hatte, entschied sie, daß sie Des sofort erzählen mußte, was geschehen war. Also nahm sie sich den Rest des Tages frei, entschuldigte sich überall und hastete hinaus in das strahlende Morgenlicht von San Diego.
* Viel weiter im Süden, auf der Straße nach Guerrero Negro, war das Morgenlicht noch strahlender. Es war windig und glühend heiß, der Wüstenstaub wurde von der Straße hochgewirbelt, und die Sonne knallte von einem blauen Himmel herunter. Es war noch Winter und deshalb nicht besonders heiß, aber dennoch fühlte Matthew sich durch den unbarmherzigen Wind wie ausgedörrt, und er fragte sich, wie es 267
wohl im Hochsommer sein würde, wenn es richtig heiß war. Kaum auszuhalten, dachte er, denn diese holperige Reise war schon schlimm genug. Sogar die Kakteen, die sich in steifen, phantastisch anmutenden Gruppen gegen die flachen, braunen Hügel abhoben, schienen wie ausgetrocknet. Tracey nutzte jede Möglichkeit, um anzuhalten und Pause zu machen. Sie kaufte kalte Getränke, füllte ihre Wasserflaschen auf und drängte dann wieder entschlossen zur Weiterfahrt. Sie kannte die Gefahren dieser trostlosen, schwierigen Strecke. Der Wind wurde immer stärker, und als sie in Catavina ihre zweite Rast machten, schien er die Stärke eines Hurricans erreicht zu haben. »Beeil dich«, fuhr Tracey Matthew an und schubste ihn zum Fly. »Wenn wir jetzt weiterfahren, erreichen wir das Meer, bevor es dunkel wird.« Sie kämpften sich mühsam gegen den schneidenden, Sand vor sich hertreibenden Wind die Straße entlang, bis sie am späten Nachmittag die Hauptstraße verließen und ein kleines Fischerdorf mit Namen Santa Rosalillita erreichten. Von da aus holperten sie einen Pfad zum Strand entlang, und Matthew ließ sich dankbar vom Fly fallen und überließ seinen schmerzenden Körper der kühlen, pazifischen Brandung. Als er aus dem Wasser kam, stand Tracey merkwürdig ruhig da und starrte auf die Fischerboote, die sich im kleinen Hafen befanden, und die schimmernden weißen Rümpfe einiger hochseetüchtiger Jachten, die zwischen ihnen vor Anker lagen. »Was ist los?« fragte er, als er ihr Gesicht sah. »Irgend etwas nicht in Ordnung?« »Nein.« Ihre Stimme klang angespannt. »Nein, ich glaube nicht …« Plötzlich drehte sie sich um und begann, das Zelt auszupacken. »Es ist nur – ich dachte …« Sie sprach nicht weiter, aber Matthew beendete den Satz für sie. »Du hast eins der Boote wiedererkannt!« Sie schüttelte den Zeltboden aus, um eventuelle Skorpione und Spinnen zu verscheuchen, und murmelte: »Ich glaube, ich habe mich geirrt.« 268
»Du bist müde«, stellte Matthew fest. »Laß uns ins Dorf gehen und sehen, ob wir dort etwas zu essen bekommen.« »Geh du«, sagte Tracey und hielt ihren Kopf immer noch gesenkt. »Bring Tortillas oder etwas anderes mit. Ich werde … Ich muß hier noch ein paar Dinge erledigen.« Matthew sagte nichts dazu. Aber als er mit zwei Fischen und ein paar pikant gewürzten Tortillas in den Händen aus dem Dorf zurückkam, bemerkte er, daß Tracey nicht beim Zelt auf ihn wartete. Sie saß allein auf einem Felsen und starrte aufs Meer hinaus. Er ging nicht zu ihr, sondern begann, ein Feuer zu entzünden und die beiden Fische darüber zu rösten. Er dachte, daß Tracey kommen würde, wenn sie das Feuer sehen würde. Gerade als er sich besorgt fragte, ob die Fische nicht schon zu lange über dem Feuer waren, kam sie zurück und setzte sich schweigend neben ihn. Nachdem sie gegessen hatten, sagte Tracey plötzlich: »Spiel etwas, Matt. Die Erinnerungen legen sich wie ein Schatten auf meine Gedanken.« Matthew griff nach seiner Gitarre und fragte sich, welches Stück die Schatten am besten verscheuchen würde. Ein alter Popsong? Ein schwungvolles Jazzstück? Ein mexikanisches Volkslied? (Inzwischen konnte er diese Lieder schon gut spielen.) Oder sollte er einfach das spielen, was ihm am meisten lag – was seine Finger am liebsten spielten? Während die Sonne im Westen feurig unterging, spielte er ein Stück nach dem anderen. Tracey starrte ins Feuer, und ihr Gesichtsausdruck war ernst. Sie schien mit ihren Gedanken ganz woanders zu sein … Weder Tracey noch Matthew bemerkten den großen, blonden Fremden, der hinter ihnen stand und fasziniert zuhörte. Als Matthew aufhörte zu spielen, sagte er lässig: »He, eines ist sicher. Du bist ein erstklassiger Gitarrenspieler.« Tracey erstarrte. Matthew sah trotz der stärker werdenden Dämmerung, wie sie vor Schreck erblaßte. »Hi, Tracey«, sagte der Fremde sanft und setzte sich neben sie in den Sand. »Was machst du denn hier?« Tracey antwortete nicht, und so antwortete Matthew für sie: »Wir wollen die Wale beobachten.« 269
»In Guerrero Negro? Da will ich auch hin. Vielleicht können wir zusammen weiterfahren.« »Nein, können wir nicht«, sagte Tracey. Sie drehte sich um und funkelte ihn an. »Matt und ich sind mit dem Fly unterwegs. Für einen Dritten haben wir keinen Platz mehr. Und eins will ich dir noch sagen, Mitchell Anstey, wenn du glaubst, einfach so wieder in mein Leben spazieren zu können, hast du dich gewaltig getäuscht.« Der junge Mann lachte und war nicht im geringsten beleidigt. »Nicht spazieren. Segeln. Ich nehme euch mit.« »Nein danke«, antwortete Tracey und stand auf. »Wir haben schon andere Pläne.« Matthew fügte etwas höflicher hinzu: »Willst du auch die Wale beobachten?« »Nein.« Mitch schüttelte den Kopf. »Ich brauche ein Ersatzteil für meinen Motor. Man sagte mir, daß sich in Guerrero Negro ein Lager befindet und daß ich dort finden kann, was ich suche.« Er blickte Tracey über das flackernde Feuer hinweg an, und Matthew spürte, daß er nicht ganz so zuversichtlich war wie er vorgab. »Tracey … können wir uns nicht mal irgendwo treffen?« »Nein«, sagte sie tonlos. Unterdrückte Wut war aus ihrer Stimme herauszuhören. »Sei mir bitte nicht böse«, bat er und lächelte sie an. »Geh weg, Mitch«, brummte sie. »Spiel dein Spiel mit einem anderen dummen Mädchen.« Sie drehte sich um und wollte in ihr Zelt gehen. Schnell sprang Mitch auf und legte eine gebräunte Hand auf ihren Arm, um sie zurückzuhalten. Tracey reagierte wie eine Giftschlange. »Nimm deine Hände weg«, zischte sie. »Verschwinde, Mitch. Du bist hier überflüssig. Verschwinde.« Sie ging in ihr Zelt und zog den Reißverschluß hoch. Das brachte Mitch nun doch aus der Fassung. Er wischte sich mit der Hand über das Gesicht und sagte entschuldigend zu Matthew: »Tut mir leid. Ich weiß auch nicht …« Ohne ein weiteres Wort zu sagen ging er den Strand hinunter. Matthew wußte nicht, wie er sich verhalten sollte. Es war wohl bes270
ser, Tracey in Ruhe zu lassen, damit sie allein darüber hinwegkommen konnte. Er setzte sich an das langsam verglimmende Lagerfeuer und spielte unter dem ruhigen Nachthimmel noch ein paar sanfte, verträumte Stücke. Sie wird sich am nächsten Morgen bestimmt besser fühlen, dachte er. Aber auch am nächsten Morgen war Tracey immer noch blaß und sprach kaum ein Wort. Sie trieb ihn zur Eile an, und bald fuhren sie in einem Wahnsinnstempo die Straße entlang. Tracey hielt nicht in Santa Rosarito, sondern fuhr den Highway I hinunter. In der nächsten Stadt stimmte sie aber einer kurzen Pause zu, und sie tranken in einer Bar etwas Kaltes. Dann ging es weiter nach Guerrero Negro. Dort angekommen machten sie wieder eine kurze Pause, in der sie ihre schmerzenden Glieder streckten und nach dem Weg zu den Walen fragten. Obwohl beide müde waren, wollte Tracey auch hier nicht lange bleiben. So machten sie sich auf den Weg zur Lagune und nahmen die Touristenroute zur südlichsten Spitze, von wo aus sie die Wale beobachten konnten. Der Fahrt war lang, und als sie endlich am Strand ankamen, wo schon viele Leute, die auch die Wale beobachten wollten, campten, war Matthew fast gelähmt vor Müdigkeit. Er war von dem, was er sah, bezaubert. Die ganze Lagune war übersät mit Walköpfen, sich hebenden Schwanzflossen, langen, schlanken Rücken und kleinen, mit schwimmenden Kälbern. Auf dem Wasser entdeckte er Boote, in denen Leute saßen und fasziniert die Wale beobachteten. Einige lehnten sich über die Reling und berührten sogar die Flanke eines vorbeischwimmenden Wals. Die ruhigen, sich langsam bewegenden Wesen schienen weder vor den Außenbordmotoren noch vor den Menschen in den Booten Angst zu haben. Da im Naturschutzgebiet Scammon's Lagoon die Wale geschützt waren, wußten sie, daß es für sie hier sicher war und daß ihnen von den Menschen keine Gefahr drohte. Aber Matthew fragte sich, ob es gut war, daß die Wale so unschuldig auf die Friedfertigkeit der Menschen vertrauten. Was würde geschehen, wenn sich die Walkühe mit ihren Kälbern wieder auf die lange Wanderung nach Norden machten? Würden sie nicht 271
glauben, daß alle Menschen ihnen wohlgesonnen waren und auch zu den Booten schwimmen, deren Besatzungen nicht so harmlos waren, sondern die Grauwale jagten? Würden sie sich nicht ahnungslos in den Netzen verfangen – in diesen feinen, tödlichen Netzen, die er schon gesehen hatte? Ein kalter Schauer überlief ihn, als er an die Gefahren dachte, die in den Gewässern außerhalb der Scammon's Lagoon lauerten. Aber dann ließ er sich wieder von den großen, friedlichen Tiere bezaubern. »Oh«, sagte er begeistert, als eine Kuh und ihr Kalb ganz nahe an ihm vorbeischwammen. »Sollen wir nicht auch mit dem Boot rausfahren?« »Du ja«, antwortete Tracey, die gerade dabei war, ihr Zelt aufzustellen. »Ich will hier fertigwerden.« Matthew blickte in ihr verschlossenes, immer noch blasses Gesicht und entschied, Tracey in Ruhe zu lassen. Er ging zu den Booten hinunter und opferte etwas von seinem kostbaren Geld, damit er mitfahren konnte. Die folgende Stunde gehörte zu den schönsten seines Lebens. Er beobachtete, wie die Wale sich ausruhten, schwammen und ihren Jungen beim Auftauchen halfen, damit sie den ersten lebensnotwendigen Atemzug machen konnten. Sie strahlten eine heitere Gelassenheit aus. Jede Bewegung der Wale war perfekt koordiniert und geschmeidig – jede Drehung ihrer massigen Körper, jede Bewegung ihrer großen Schwanzflossen, jedes Dahingleiten und Eintauchen ihrer glänzenden Flanken im ruhigen Wasser der Lagune. Manchmal kamen sie dicht an die Boote heran und schienen die Passagiere neugierig zu beäugen. Aber sie schwammen nie zu nah heran oder gefährdeten die Boote. Die menschlichen Beobachter schienen sie überhaupt nicht zu stören. Auch das Eindringen der Menschen in ihre Privatsphäre nahmen sie geduldig hin. Matthew war sich nicht sicher, ob er diese ›Invasion‹ gut heißen sollen oder nicht. Er war sich nicht einmal sicher, ob es gut gewesen war, daß er sich in eines dieser Boote gesetzt hatte und genauso gaffte wie die anderen. Angesichts der majestätischen, wundervollen, reinen 272
Kraft der Wale fühlte sich Matthew ganz klein – und irgendwie auch schuldbewußt, daß er so aufdringlich war. Diese Lagune hatten sich die Walkühe ausgesucht, um ihre Jungen zur Welt zu bringen – diesen sicheren, ungestörten Ort, der vor der starken Brandung des Pazifiks geschützt war. In diesem sonnenbeschienenen Zufluchtsort konnten die Kühe ihre Jungen gebären, und die Kälber konnte ungestört aufwachsen. Störten sie die vielen Boote mit den gaffenden Menschen, die Blitzlichter, die Motoren und die vielen Entzückungssschreie wirklich nicht? War es nicht irgendwie unter der Würde dieser wunderschönen Wesen, diese sinnlose Invasion ertragen zu müssen? Aber als Matthew das geschmeidige, ruhige Dahinziehen dieser blauschwarzen Schatten im Wasser beobachtete, ging ihm plötzlich auf, daß die Würde der Wale hier nicht angetastet wurde. Sie waren so groß, so mächtig, daß es ihnen gar nichts ausmachte. Die kümmerlichen Rufe und Geräusche der Menschen berührten sie nicht im geringsten. Sie nahmen sie gar nicht wahr. Sie lebten in ihrer Welt – tiefe, widerhallende Weiten und unergründliche Dimensionen, in denen sie ruhig und bedächtig und ohne sich ablenken zu lassen dem uralten Kreislauf von Geburt, Wanderung, Leben und Tod folgten. Für sie waren diese lauten Touristen nicht lästiger als schreiende Seevögel, die sich wegen eines Fischschwarms stritten – vielleicht sogar noch unwichtiger. Demütig streckte Matthew seine Hand aus und berührte eine große, sich wie Gummi anfühlende Flanke, die sich ganz in der Nähe befand. Ich möchte euch nicht stören. Ich finde, daß ihr wunderschön und großartig seid. Bitte vergebt uns, daß wir so neugierig sind. Matthew war so verzaubert, daß er gar nicht merkte, daß das Boot gedreht hatte. Erst als sie wieder am Strand anlegten, erwachte er aus seiner Erstarrung. Als er ihren Lagerplatz erreichte, sah er, daß Mitch wieder da war. Sein Kopf mit dem blonden, sonnengebleichten Haar war zu Tracey heruntergeneigt, und er schien sie inständig um etwas zu bitten. Aber Tracey blieb unbeeindruckt. Sie hörte ihm zwar zu, aber ihr Gesichtsausdruck war finster. Nichts deutete darauf hin, daß Mitchs Überre273
dungskünste Erfolg haben würden. Aber wenigstens hörte sie ihm zu – gestern hatte sie nicht einmal das getan. Matthew beschloß, die beiden allein zu lassen – jedenfalls für eine Weile. Leise ging er zum Zelt und holte sich seine Gitarre. Er wollte sich zum überfüllten Strand davonstehlen. Er war schon fast außer Sichtund Hörweite, als Mitch ihn entdeckte und giftig zu Tracey sagte: »Ich wußte nicht, daß du dich jetzt mit kleinen Jungen abgibst.« Matthew blieb stehen. Er hängte sich seine Gitarre über die Schulter, drehte sich um und sah Mitch mit seinen graugrünen Augen kalt ein. »Wir sind hergekommen, um die Wale zu beobachten, Mitch. Tracey und ich sind nur Freunde, mehr nicht.« Mitch setzte zu einer Antwort an, aber Matthew kam ihm zuvor. »Die Walkühe machen es richtig. Sie geben sich nur einmal mit einem Bullen ab. Danach gehen sie ihren eigenen Weg.« Er grinste Tracey an, die Matthew genau wie Mitch sprachlos anstarrte. Matthew drehte sich um und ließ die beiden stehen. Vielleicht kommen sie wieder zusammen, dachte er. Vielleicht aber auch nicht. Aber dieser Mitch ist ganz schön unverfroren. Vielleicht denkt er jetzt zweimal nach, bevor er etwas sagt … Es sieht so aus, als ob ich diesen Abend irgendwo anders verbringen müßte. Er ging am Strand entlang und gesellte sich zu einer Gruppe, die ein Barbecue machten. Sie waren freundlich, und boten ihm reichlich von dem leicht angebrannten Fisch und den etwas angekohlten Burgern an. Matthew packte seine Gitarre aus und begann zu spielen. Als er aufhörte, sahen sie ihn bewundernd an und stapelten noch mehr Essen auf seinen Teller. »Gitarrenspieler gibt es hier wie Sand am Meer, aber keiner spielt so gut wie du.« Matthew lächelte höflich und biß ein Stück vom Fisch ab. Er war hungrig. Einen Moment fragte er sich, ob Tracey auch schon etwas gegessen hatte oder ob sie so in die Auseinandersetzung mit Mitch vertieft war, daß sie nicht an so etwas Unwichtiges wie Essen denken konnte. Die Leute, die um das Feuer herumsaßen, begannen zu singen, und Matthew spielte fröhlich mit. Bier wurde herumgereicht, und sie san274
gen so lange, bis das Feuer heruntergebrannt war und die Sterne funkelnd am Himmel standen. Die Lagune lag jetzt im Dunkeln. Nur ab und zu sprang ein Fisch aus dem Wasser, oder ein Wal schwamm vorbei, der eine glitzernde Bugwelle vor sich herschob. Matthew seufzte, sah auf das dunkle Wasser und wußte, daß es Zeit war, zum Lagerplatz zurückzukehren. Aber zu welchem Lagerplatz? Sein Schlafsack war im Zelt. Tracey sorgte immer dafür, daß er, bis Matthew ihn brauchte, sicher im geschlossenen Zelt aufbewahrt wurde – wegen der Skorpione und Taranteln, wie sie sagte … Aber wenn sie und Mitch jetzt im Zelt waren, konnte er ja nicht einfach hereinplatzen und seinen Schlafsack fordern … Na ja, dann würde er sich eben an den Strand legen und das Beste hoffen … Aber zuerst wollte er herausfinden, woran er war. Er verließ die singenden Amerikaner und ging zu Traceys Zelt. Das Feuer vor dem Zelt war schon fast erloschen, und daneben entdeckte er seinen Schlafsack, der sorgsam zusammengerollt und mit einem Stein beschwert war. Von Tracey keine Spur. Erleichtert seufzte Matthew und begann, seinen Schlafsack auszurollen. Da hörte er ein Geräusch aus dem Zelt. Es klang nicht so, als ob zwei Menschen sich unterhalten würden und erst recht nicht so, als ob sich zwei Menschen lieben würden. Matthew kannte dieses Geräusch aus seiner Kindheit. Jemand weinte – aber Tracey weinte doch nie. Er wußte nicht, was er tun sollte. Sollte er es einfach ignorieren? Tracey war stolz. Sie würde nicht wollen, daß er sie so sähe. Aber das Weinen klang so verzweifelt. Irgendwie konnte er nicht nur so dasitzen und nichts tun. Er kämpfte mit sich und entschloß sich dann, das Feuer wieder anzufachen und mit dem zerbeulten Kessel Kaffee zu kochen. Als der Kaffee fertig war, ging er zum Zelt, zog den Reißverschluß ein wenig herunter und steckte seinen Kopf hinein. »Tracey? Komm her. Ich habe Kaffee gemacht.« Tracey schwieg einen Augenblick und sagte dann mit heiserer Stimme aus der Dunkelheit: »Geh weg.« »Nein.« Matthew bemühte sich, fest und gebieterisch zu klingen. 275
»Nicht bevor du den Kaffee getrunken hast. Komm bitte. Ich wette, daß du auch noch nichts gegessen hast.« Aus dem Zelt ertönte ein Brummen und Geraschel, und gleich darauf kroch Tracey mit zerzaustem Haar rückwärts heraus. Sie setzte sich ans Feuer. Ihr Haar verdeckte ihr Gesicht. »Hier«, sagte Matthew und reichte ihr einen Becher mit heißem Kaffee. »Ich habe dir ein paar Tortillas mitgebracht. Leider sind sie etwas angebrannt.« Ohne zu protestieren, nahm Tracey Matthew den Becher und die Tortillas aus der Hand. Matthew wartete, bis sie anfing zu essen, und ging dann in die Offensive. »Tracey – ist es nicht langsam an der Zeit, daß du dich entscheidest?« »Was?« Im Schein des Feuers sah sie sehr jung aus – jung, verweint und furchtbar unsicher. Sie war nicht mehr die tatkräftige, kompromißlose Tracey, die er kannte. Sie kam ihm eher wie ein verwirrtes Kind vor, das nicht mehr weiterwußte. Schrecklich verloren und innerlich zerrissen – und Jahre jünger als er. Auf einmal war er unbeschreiblich wütend auf sie, und das machte die Sache viel einfacher. Hier sitze ich, dachte er, und würde alles für eine Familie geben. Und dann ist da Tracey, der alles auf einem silbernen Tablett serviert wird und die sich weigert, es anzunehmen. »Ich verstehe dich nicht«, sagte er und stocherte wütend mit einem Stock im Feuer herum. »Was ist so schlimm daran, es noch ein zweites Mal zu versuchen?« Seine Direktheit überraschte Tracey. »Was?« fragte sie verblüfft. »Du und Mitch.« Er war jetzt zu wütend, um noch Rücksicht auf sie zu nehmen. »Ich kapiere nicht, was mit euch beiden los ist. Es ist doch klar, daß ihr wieder zusammenkommen wollt – also was hält euch davon ab?« »Er hat mich sitzengelassen.« »Aber er ist zurück, oder?« »Und ich soll ihn dann wieder mit offenen Armen empfangen?« 276
»Warum nicht?« Matthew setzte jetzt alles auf eine Karte. »Wenn du ihn magst.« »Die Wale«, sagte Matthew scheinbar dann zusammenhanglos. »Seitdem wir hier sind, hast du sie noch nicht ein einziges Mal beobachtet. Sie kennen solche kleinlichen Streitereien nicht.« »Kleinliche Streitereien?« Er zeigte mit der Hand auf die dunkle Lagune und die grauen Schatten, die im ruhigen Wasser schliefen. »Du warst die erste, die es mir erzählt hat, erinnerst du dich? Sie suchen sich ihre Partner ohne das geringste Problem aus. Sie schwimmen Tausende von Meilen, um hier ihre Jungen auf die Welt zu bringen – und dann wieder Tausende von Meilen zurück zu den Gewässern, wo sie im Sommer leben. Sie durchqueren die Weiten der Meere, erleben Gefahren und Tod, haben mit Treibnetzen und Walfängern zu kämpfen. Sie verschwenden keine Zeit damit, sich zu streiten, ob sie nun zusammenbleiben wollen oder nicht. Das Leben ist zu kurz und viel zu wertvoll.« Tracey starrte ihn an, als ob er ein Fremder wäre. »Ich habe dich noch nie so reden gehört.« »Das stimmt«, antwortete Matthew tonlos. »Und das wirst du wahrscheinlich auch nicht mehr. Ich habe mich hinreißen lassen. Tut mir leid.« »Schon gut«, sagte Tracey mit sanfter Stimme. »Was du gesagt hast, stimmt.« Matthew beschloß, seinen Vorteil zu nutzen. »Kommt er noch einmal wieder?« Sie nickte und stocherte wie Matthew vorher im Feuer herum. »Morgen. Er wartet noch auf sein Ersatzteil. Dann muß er zurück nach San Diego.« »Und er will, daß du ihn begleitest?« Tracey seufzte. »Das nehme ich an.« »Warum denn auch nicht?« Sie sah überrascht aus. »Warum nicht? Und was ist mit dir?« »Ich komme schon klar.« »Ganz alleine?« fragte sie ungläubig. 277
»Petra wohnt ja nur ein paar Meilen von hier entfernt.« »Wie willst du dorthin kommen?« Er grinste sie an. »Ich laufe. Oder nehme den Bus. Oder ich fahre per Anhalter.« »Eigentlich könntest du ja den Fly haben.« »Nein. Ich habe keine Führerschein und bin nicht versichert. Und außerdem würde ich ihn wahrscheinlich nur zu Schrott fahren. Kannst du ihn nicht mit aufs Boot nehmen?« »Ja. Aber der Gedanke gefällt mir nicht.« »Was gefällt dir nicht?« »Dich hier alleinzulassen.« »Ich habe es dir doch schon gesagt, ich komme klar. Du hast mich bis hierher begleitet – so hatten wir es ja auch abgesprochen. Jetzt solltest du auch einmal an dich denken.« »Ich weiß nicht …« Sie hatte immer noch Bedenken. »Vergiß es«, sagte Matthew, der wußte, daß er gewonnen hatte. »Und morgen früh sehen wir uns die Wale an. Deshalb sind wir hergekommen.« »In Ordnung«, stimmte Tracey zu und strich die Haare aus ihrem Gesicht. »Du bist schon eine Type, Matt, weißt du das?« »Du bist aber auch nicht ohne«, gab Matthew zurück und sah zu, wie sie aufstand und in ihr Zelt kroch. Am Strand war es jetzt ruhig. Das Wasser der Lagune war ruhig und dunkel. Nichts bewegte sich an der Oberfläche, und am Himmel glitzerten die Sterne. Eine leichte Brise kräuselte das Wasser, und das Schweigen wurde durch das Rufen eines Vogels durchbrochen. Sonst war alles still.
* Am nächsten Morgen fuhren Tracey und Matthew mit dem ersten Boot aufs Meer hinaus. Von Ehrfurcht erfüllt blickte Tracy auf die großen, dunklen Wale und ihren Nachwuchs, der direkt neben ihnen schwamm, und staunte 278
darüber, wie mühelos die Mütter ihre riesigen Körper drehten, um einen Schutzwall zwischen den neugeborenen Kälbern und einer potentiellen Gefahr zu errichten. Genau wie Matthew streckte sie ihre Hand aus und streichelte eine geschmeidige, glitzernde Flanke. Als sie zum Strand zurückkehrten, wartete Mitch schon auf sie. Er bemühte sich angestrengt, Tracey in der Menge der zurückkehrenden Leute zu entdecken, und wirkte nervös und unsicher. Aber Tracey ging nicht sofort zu ihm. Sie drehte sich zu Matthew um. »Du hattest recht.« Er nickte. »Sie zeigen uns, wie unbedeutend wir eigentlich sind, oder?« »Das kannst du laut sagen.« Sie sah ihn besorgt an. »Bist du sicher, daß du klarkommst?« »Sicher.« »Meldest du dich bei mir, wenn du zurück bist?« »Sicher«, wiederholte er. Aber sie war immer noch nicht überzeugt. Sie faßte in ihre Hosentasche und zog etwas Geld heraus. »Da, nimm. Ich brauche es nicht mehr.« »Ich komme schon klar«, protestierte er. »Ich habe genug Geld, um mich bis zu Petra durchschlagen zu können.« »Das mag ja sein«, gab sie zurück. »Aber irgendwie mußt du dann ja wieder nach Hause kommen, oder?« Das leuchtete Matthew ein, aber er sträubte sich immer noch. »Ich möchte es«, fügte sie hinzu und blickte ihn finster an. »Nimm es.« Sie drückte ihm das Geld in die Hand. »Du kannst es mir ja wieder zurückzahlen.« Matthew kapitulierte, und sie nickte ihm zufrieden zu. Dann legte sie plötzlich ihre Arme um ihn und küßte ihn. »Paß auf dich auf, Matthew. Ich hoffe, daß du findest, was du suchst.« Mitch beobachtete die beiden erstaunt. Schließlich sagte er: »Heißt das, daß du mit mir kommst?« »Ja«, sagte Tracey kurz angebunden. »Der Fly ist schon beladen. Setz dich rein.« 279
Mitch ging zum Fly und beäugte ihn zweifelnd. »Können wir beide damit fahren?« »Er wird uns zum Boot bringen. Was willst du mehr?« »In Ordnung«, antwortete Mitch und schaffte es irgendwie, seine langen Beine im Fly zu verstauen. Tracey lächelte Matthew an, stieg ein und winkte ihm zum Abschied zu. Dann startete sie den Motor, und die beiden fuhren in einer Wolke von Sand und Wüstenstaub davon. Matthew stand am Strand und blickte ihnen hinterher. Er wartete, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Dann nahm er seine Gitarre, hängte sich seinen Schlafsack um und ging zur Hauptstraße, wo er sein Glück als Anhalter versuchen wollte. Jetzt war er wirklich ganz auf sich allein gestellt.
* Ein Auto voller Amerikaner nahm ihn mit. Sie fuhren zurück nach Guerrero Negro. Matthew wollte noch ein paar Sachen kaufen und fragen, wie er zu Petra kommen konnte. Die jungen Amerikaner hatten entweder die ganze Nacht Tequila getrunken oder schon früh am Morgen damit angefangen, denn sie waren ganz schön betrunken und ausgelassen. Immer wieder machte die Flasche die Runde, und sie rauchten dubiose selbstgedrehte Zigaretten. In Guerrero Negro angekommen verließen alle den staubbedeckten Ford und drängten sich in die nächste Bar. Matt folgte ihnen, denn er hoffte, dort jemanden zu finden, der ihm den Weg nach Bahía Tortuga beschreiben konnte. Er ignorierte die lärmenden Amerikaner, die ihm »He, Junge, komm her, die Party fängt jetzt erst richtig an« zuriefen, und ging zur Theke, um mit dem mexikanischen Barkeeper zu sprechen. Er hatte gerade den Zettel mit Petras Adresse hervorgeholt, als hinter ihm eine Schlägerei ausbrach. Stühle wurden umgeworfen, spanische und amerikanische Flüche ertönten, und auch das Geräusch von Schlägen war zu vernehmen. Matthew drehte sich verblüfft um. Der Mexikaner rief je280
mandem in der Küche mit schneidender Stimme etwas zu und kam dann hinter der Theke hervor. Er band seine Schürze ab, rollte die Ärmel hoch und wollte die Unruhestifter offensichtlich hinauswerfen. Matthew sah, daß er stämmig und muskulös war und breite Schultern hatte. »Meine Gitarre!« rief Matthew, der Ärger auf sich zukommen sah. Der kräftige Mexikaner grinste, nahm Matthew die Gitarre aus der Hand und verstaute sie schnell hinter der Bar. Inzwischen hatte sich die Schlägerei ausgeweitet. Begonnen hatte sie, weil ein allzu ausgelassener Amerikaner versucht hatte, mit einer dunkelhaarigen Mexikanerin anzubändeln, die einen Tisch weiter saß. Nur leider war sie mit ihrem Freund da. Wüste Beleidigungen wurden ausgetauscht. Der Amerikaner war viel zu betrunken, um sich zu versöhnen, und seine Freunde unterstützten ihn lautstark. Das taten allerdings auch die amigos des Mexikaners. »Gringos«, stieß der Mexikaner hervor. »Wer braucht sie schon?« Anscheinend gar keiner, denn die restlichen Barbesucher gingen daran, sie gewaltsam hinauszuwerfen. Tische fielen um. Geschirr flog durch die Luft, fiel auf den Boden und zerbrach. Zwei der Kämpfenden fielen gegen Matthew, und er verlor das Gleichgewicht. Im Fallen sah er in der Hand eines Mexikaners plötzlich ein Messer aufblitzen. »Paß auf!« schrie er. »Er hat ein Messer!« Er hatte für diese großmäuligen Touristen und ihr rüpelhaftes Benehmen nichts übrig. Es war auch klar, daß sie sich ihre Schwierigkeiten selbst zuzuschreiben hatten, aber warnen wollte er sie trotzdem. Aber er hätte sich gar keine Sorgen zu machen brauchen, denn der Mann, der hinter der Theke gestanden hatte, schlug nur einmal hart zu, und das Messer fiel zu Boden. Dann überschlugen sich die Geschehnisse. Der Mexikaner ergriff einen der kämpfenden Amerikaner am Kragen und warf ihn nach draußen auf die Straße. Der Mexikaner, der das Messer gezogen hatte, wurde gegen Matthew geschleudert, der gerade aufstehen wollte, und riß ihn wieder um. Matthew schlug mit den Kopf gegen die Theke. Im gleichen Augenblick merkte er, wie eine Hand an seiner Geldtasche 281
riß, die er unter dem offenen Hemd um den Hals trug. Der Lederriemen riß. Matthew versuchte verzweifelt, die Geldtasche festzuhalten, aber es war zu spät. Mein Geld! dachte er. Was soll ich jetzt tun? Draußen waren Rufe und Sirenengeheul zu hören. Eine Trillerpfeife ertönte. Die Polizei war gekommen, um die randalierenden Amerikaner zu verhaften, die so betrunken waren, daß sie ihr direkt in die Arme liefen. Matthew richtete sich benommen auf und stellte fest, daß der Mexikaner neben ihm stand. »Meine Geldtasche«, keuchte er und hielt noch krampfhaft den Lederriemen fest. »Mein ganzes Geld ist weg.« Der große Mexikaner sah ihn an. »Alles?« »Ja, alles.« Der Gedanke entsetzte ihn. »Ich hole es dir zurück«, sagte der Mexikaner. »Ich kenne den Dieb.« Er schwieg einen Augenblick und sah nach draußen auf die Straße. Dann wandte er sich wieder Matthew zu: »Kannst du auf der da spielen?« »Auf meiner Gitarre? Ja.« »Dann spiele. Jetzt.« »Was?« fragte Matthew verblüfft. »Jetzt. Bald wird die Polizei hiersein. Du spielst. Du bist einer von uns. Du bist nicht so wie die anderen gringos.« »Ich gehöre sowieso nicht zu ihnen. Ich bin Engländer, nicht Amerikaner.« »Inglés? Gut. Du spielst, und ich besorge dir dein Geld wieder – Sí?« »Sí«, sagte Matthew aus vollem Herzen. Matthew kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Nachdem die Amerikaner verschwunden waren, gingen die Mexikaner an die Arbeit. Sie stellten Stühle und Tische wieder auf, fegten das zerbrochene Geschirr zusammen und setzten sich dann hin, als ob nie etwas geschehen war. Matthew holte seine Gitarre. Er blickte in den Gitarrenkoffer, in dem sich eine kleine Tasche befand, und prüfte, ob sein Paß und sein Visum noch darin waren. Er seufzte erleichtert. Wenigstens das hatte er noch retten können. Dann holte er sich einen Stuhl und einen kleinen Hocker, setzte sich und begann zu spielen. 282
Die Mexikaner blickten hoch, lächelten gleichgültig, unterhielten sich und aßen weiter. Matthew spielte mit gesenktem Kopf. Er blickte auch nicht auf, als die Polizei hereinkam. Die Polizisten lachten mit den Gästen über diese verrückten gringos, die zuviel Tequila getrunken hatten, stellten gut gelaunt ein paar Fragen und gingen immer noch lachend nach draußen. Matthew spielte weiter. Am Anfang war er noch ziemlich verängstigt und geschockt, denn der Verlust seines Geldes war eine ernste Sache, und sein Kopf schmerzte immer noch. Aber die Musik beruhigte ihn – genauso, wie sie die anderen Leute in der Bar zu beruhigen schien –, und als sein Freund, der Mexikaner, zurückkam, war Matthew so vertieft in seine Musik, daß er seine eigenen Schwierigkeiten vergessen hatte. »Hier!« sagte der Mexikaner und warf Matthews Geldtasche auf einen Tisch. »Es fehlt nichts. Domingo hatte noch keine Zeit, es auszugeben.« Matthew hörte auf zu spielen und hätte ihn vor Erleichterung am liebsten umarmt. »Wie kann ich Ihnen danken?« Der große Mexikaner lachte. »Man nennt mich Hammer Gonzales.« Er reichte Matthew seine kräftige Hand. Sein Händedruck war so fest wie ein Schraubstock. »So nennen Sie die Leute?« »Ja. Ich war früher einmal Boxer.« Er grinste breit. »Und wie heißt du?« »Matthew.« »Mateo. Mateo Guitarra.« Er nickte. »Es war gut, daß du weitergespielt hast. Das machte die Sache – normal, wenn du verstehst, was ich meine.« Matthew verstand. »Was geschieht jetzt mit den Amerikanern?« »Den gringos?« antwortete der Mexikaner schulterzuckend. »Vielleicht eine Nacht im calabozo. Vielleicht eine Geldstrafe. Vielleicht auch gar nichts. Sie sind noch jung – und Tequila ist sehr stark … Und wir brauchen die Touristen. Auch wenn meine Freunde anderer Meinung sind.« Sein fröhliches Lächeln verschwand, und er legte eine gro283
ße, braungebrannte Hand auf Matthews Geldtasche. »Du mußt verstehen … Domingo ist sehr arm. Er ist auch ein schlechter Mensch, aber er ist es hauptsächlich deswegen geworden, weil er so arm ist. Und er dachte, daß du zu den betrunkenen gringos gehörst – nach seiner Meinung sind alle gringos reich.« Matthew nickte. »Aber das hier ist doch keine arme Stadt, oder?« »Nein. Viele Leute arbeiten in den Salinen. Aber es gibt immer noch Fischer, und sie leben von dem, was sie fangen. Und manchmal fangen sie gar nichts.« »Passiert so etwas neuerdings häufiger? Ich meine, jetzt wo die großen Fischereiflotten …« »Sí«, sagte der Mexikaner und nickte heftig. »Von Jahr zu Jahr fangen sie weniger.« Gonzales sah Matthew überrascht an. »Du kennst dich damit aus?« »Ich habe die Fangnetze gesehen. Die Treibnetze, die Beutelnetze – und die Delphine«, antwortete Matthew grimmig. »Ah. Los delfines. Das Glück der Fischer, so nennen wir sie. Wenn sie nicht mehr da sind, ist das Glück auch verschwunden.« »Ich weiß«, sagte Matthew mit trauriger Stimme. »Wo willst du heute nacht schlafen?« fragte Gonzales plötzlich. »Oh, ich … ich schlafe eigentlich immer am Strand.« »Aber hier gibt es keinen Strand. Nur die Salinen und den Hafen. Heute nacht schläfst du hier.« Es war mehr ein Befehl als ein Vorschlag, und Matthew war plötzlich klar, daß Hammer Gonzales der Besitzer der Bar war und nicht nur ein Angestellter. Und was noch wichtiger war: Er schien Matthew wirklich zu mögen. »Wohin wolltest du?« Matthew hatte schon fast vergessen, was er eigentlich in der Bar gewollt hatte. Er holte den Zettel aus der Tasche und hielt ihn Gonzales hin. »Bahía Tortuga …?« Gonzales runzelte die Stirn. »Das ist keine gute Gegend. Wüste, sehr kahl und sehr gefährlich.« Aber Matthew ließ sich nicht abschrecken. »Irgendwie muß ich dorthin.« 284
»Vielleicht kann dich ein Lastwagen, der Fische transportiert, mitnehmen«, sagte Gonzales, aber aus seiner Stimme konnte man Zweifel heraushören. »Ich versuche, das morgen für dich herauszufinden. Jetzt ißt du erst einmal, und dann legst du dich hin. Sí?« Matthew packte seine Gitarre ein und bemerkte dann, daß immer noch zerbrochenes Geschirr auf dem Boden lag. »Aber zuerst werde ich fegen.« Er griff nach dem Besen, der in der Ecke stand. »He, Hammer, der Junge kann wirklich spielen«, rief einer der Mexikaner, als Matthew mit seinem Besen an ihm vorbeifegte. »Stimmt«, sagte ein anderer, der gerade ein Stück Tortilla auf die Gabel gespießt hatte. »Ganz prima.« »Und jetzt geben wir ihm etwas zu essen«, verkündete Gonzales fröhlich. »Magst du Hummer?« »Ja«, antwortete Matthew.
* Wie er es versprochen hatte, erkundigte sich Gonzales am nächsten Morgen nach einem Transporter und fand tatsächlich einen, der gerade seine Waren entlud und am Nachmittag zur Bahía Tortuga zurückfahren wollte. Er setzte Matthew noch eine phantastische Mahlzeit vor. Zwei von Gonzales' amigos begleiteten ihn dann zum Transporter. Gonzales selbst mußte in der Bar bleiben, denn der Betrieb ging weiter. Zum Abschied umarmte er Matthew und gab ihm noch eine Tüte mit Tortillas und ein paar Apfelsinen mit, damit er nicht verhungerte. Mit dem mexikanischen Abschiedsgruß »vaya con dios« schickte er Matthew dann auf die Reise. Matthew kletterte auf den Transporter und versuchte, es sich während der langen, staubigen Reise zwischen den Fischkisten so gemütlich wie möglich zu machen. Die Landschaft, die sie durchquerten, war wirklich außergewöhnlich – verlassen und rauh. Zwischen den Felsen und arroyos wuchsen seltsam geformte Kakteen. Ein- oder zweimal hielt der Transporter, um ein paar leere Kisten an der Straße abzuladen. Die Fahrt durch 285
dieses vertrocknete, öde Land schien ewig zu dauern. Aber schließlich hielt der Transporter dann doch an, der Fahrer stieg aus und sagte zu Matthew. »Von hier aus fahren wir zum Markt. Nach Tortuga mußt du da lang gehen.« »Wie weit ist es noch?« fragte Matthew. Er kletterte vom Transporter herunter und blickte sich um. Die öde Landschaft verhieß nichts Gutes. »Ungefähr noch sechs Kilometer. Es ist nicht mehr weit. Tut mir leid, daß wir dich nicht den ganzen Weg mitnehmen können, aber wir müssen die Kisten abliefern.« »Ich verstehe«, antwortete Matthew. »Es war sehr nett von Ihnen, mich bis hierher mitzunehmen.« Er wühlte in seiner Geldtasche, aber der freundliche Mexikaner schüttelte den Kopf. »Es war mir ein Vergnügen – für einen Freund von Hammer!« Bevor Matthew protestieren konnte, war er schon wieder eingestiegen und hatte den Motor angelassen. Die Männer winkten und fuhren dann in einer Staubwolke davon. Jetzt war Matthew ganz allein in der Wüste. Seine einzigen Gefährten waren Eidechsen – so hoffte er wenigstens. Aber bestimmt gab es hier auch Klapperschlangen, und er war sicher, daß sich hinter jedem Stein Taranteln, Skorpione oder – noch schlimmer – Schwarze Witwen verbargen. Deshalb blieb er auf dem Weg und traute sich nicht, irgendwelche Abkürzungen durch das Gelände zu nehmen. Die Klapperschlange lag zusammengerollt mitten auf dem Weg und war perfekt getarnt. Als Matthew in ihre Reichweite kam, richtete sie sich auf und zischte Matthew herausfordernd an. Schnell sprang er zur Seite und machte einen Umweg durch das Buschwerk und das dürftige Gras. Aber er kam vom Regen in die Traufe, denn plötzlich fühlte er einen schmerzhaften Stich in seinem rechten Bein. Als er an sich heruntersah, entdeckte er einen großen, gelben Skorpion, der an seiner Wade hing. Wütend riß er ihn weg und zertrat ihn. Aber es war bereits zu spät. Ein Skorpionstich, dachte er. Wie schlimm kann so etwas sein? Einige sind tödlich. Andere nicht. Ich kann nur hoffen, daß ich Glück habe – und schnell Petras Haus erreiche. 286
Er ging weiter, aber sein Bein begann, bedrohlich anzuschwellen. Der Schmerz wurde immer stärker und wanderte sein Bein hinauf. Es war auch noch sein verletztes Bein. Es war nicht ganz gerade zusammengewachsen, und er humpelte beim Gehen immer noch leicht. Wenn er rannte, sah er immer noch ein bißchen linkisch aus, was ihn aber nicht besonders störte. Aber jetzt war es anders. Sein Bein schien gefühllos geworden zu sein, und er schleppte sich die Straße entlang. Er mußte sich förmlich zwingen weiterzugehen. Als er die kleine Stadt erreicht hatte, torkelte er nur noch und sah alles doppelt. Er führte Selbstgespräche, denn es gab ja sonst keinen, der ihn zum Weitergehen angetrieben hätte. Dann schwankte er auf die erste Person zu, die er nur verschwommen sehen konnte, und hielt ihr den Zettel hin, auf dem ›Casa Davison, Bahía Tortuga‹ stand. Die Antwort darauf war ein Schwall für ihn unverständlicher spanischer Worte. Als er nicht reagierte, sondern einfach nur weiter dastand ergriff der Mexikaner seinen Arm und führte ihn die Straße hinunter. Matthew protestierte nicht. Als sie das Ende der Straße erreicht hatten, nahm der Mexikaner seine Hand von Matthews Arm und sagte: »Ahí – La Casa Davison.« Dann verschwand er und Matthew taumelte auf das Haus zu. Er sah eine blaßrosa Wand, einen verstaubten Hof und eine geöffnete Tür. »Petra?« krächzte er. »Petra? Bist du da?« Aber bevor noch jemand antworten konnte, fiel er ohnmächtig zu Boden.
* Als Harvey ihm berichtete, daß Matthew verschwunden war, reagierte der Kapitän sehr verärgert. Aber wie es für ihn typisch war, vergeudete er keine Zeit mit Schuldzuweisungen. Statt dessen handelte er schnell und entschlossen. Zuerst rief er Skip in Cornwall an. »Wissen Sie vielleicht, wer diese Freundin auf Baja California sein könnte?« Am anderen Ende der Leitung entstand ein kurzes Schweigen. Dann antwortete Skip zögernd: »Ja. Ich glaube, es ist Petra – Petra Davison, die Meeresbiologin. Ich habe ihm ihre Adresse gegeben.« 287
»Davison?« bellte der Kapitän. »Haben Sie Davison gesagt?« Wieder zögerte Skip und sagte dann endlich: »Dieser Name ist sehr häufig.« »Ja. Natürlich.« Die Schärfe verschwand aus der Stimme des Kapitäns. »Und sie lebt auf Baja California?« »Ihre Arbeit führt sie durch die ganze Welt. Aber sie hat da ihren Stützpunkt.« »Ich verstehe. Woher kennt Matthew sie?« »Ich habe sie ihm vorgestellt. Sie war … sehr nett zu ihm, als er im letzten Sommer hier war.« »Was machte sie denn hier?« Die Schärfe war in die Stimme des Kapitäns zurückgekehrt. »Eine Studie über Seehundkolonien. Und sie interessierte sich für Matthews Delphin.« »Ich verstehe«, sagte der Kapitän wieder. Dann schwieg er, und man konnte förmlich merken, daß er fieberhaft nachdachte. »Skip«, fragte er schließlich, »haben Sie sehr viel zu tun?« »Eigentlich schon«, antwortete Skip, der nicht wußte, worauf der Kapitän hinauswollte. »Allerdings nichts, was nicht warten könnte«, fügte er hinzu, falls seine Hilfe benötigt werden würde. »Könnten Sie dorthin fahren?« »Wohin?« »Nach Baja California. Zu Petra, wo immer sie wohnt.« Skips Herz begann, schneller zu schlagen. Zu Petra?. Nichts auf der Welt konnte ihn davon abhalten. Aber trotzdem entgegnete er vorsichtig: »Ich glaube ja.« »Ich übernehme selbstverständlich die Kosten«, fügte der Kapitän hinzu. »Aber zuerst muß ich noch ein paar Dinge erledigen.« »Wie lange wird das dauern?« »Ein paar Tage.« »Heathrow, in drei Tagen?« »In Ordnung.« Skip versuchte, seine Aufregung zu verbergen und so ruhig wie der Kapitän zu sprechen. 288
»Ich werde Harvey beauftragen, alles in die Wege zu leiten. Er meldet sich bei Ihnen.« »Gut.« »Und Skip …« »Ja?« »Bringen Sie ihn wieder sicher nach Hause.« »Ich werde mein Bestes geben.« »Ich weiß nicht warum«, brummte der Kapitän, »aber irgendwie mag ich den Jungen.« »Ja«, sagte Skip. »Ich auch.«
* Als Matthew wieder zu sich kam, lag er in einer Hängematte auf einer Veranda, und eine Frau blickte ihn an. Aber es war nicht Petra. »Wer …«, flüsterte er. Seine Kehle war wie ausgedörrt, und er konnte kaum sprechen. Die Frau lächelte. Sie hatte ein rundes Gesicht, lange schwarze Haare und sah eigentlich ganz hübsch aus – besonders, wenn sie lächelte. »Ich heiße Mariana. Die Fliegenden Ärzte werden gleich hier sein.« »Fliegende was …?« »Die Fliegenden Ärzte. Sie werden dich wieder gesund machen.« Ihr Englisch war gut zu verstehen, aber sie hatte einen starken Akzent und formulierte alles einfach und direkt. »War es eine Schlange?« fragte sie mit sanfter Stimme. »Nein«, murmelte er. »Ein Skorpion.« Sie schwieg einen Augenblick, streckte dann ihre Hand aus und strich ihm das Haar aus der Stirn. »Mach dir keine Sorgen. Die Ärzte wissen, was zu tun ist. Versuch, wieder einzuschlafen.«
* Als er das nächste Mal erwachte, hörte er ganz in der Nähe Stimmen. Ein großer bärtiger Mann lehnte an einem Pfeiler und beobachtete 289
ihn. Er erinnerte Matthew an irgend jemanden, aber er wußte nicht an wen. Ein zweiter, jüngerer Mann stand neben Matthews Hängematte und hielt eine Spritze in der Hand. »Jetzt piekt es ein bißchen«, sagte er. »Bald geht es dir wieder besser.« Matthew antwortete nicht und hoffte, daß der Arzt recht hatte. Im Augenblick fühlte er sich ganz und gar nicht gut. Er versuchte, den Mann dankbar anzulächeln, aber sein Gesicht war steif und geschwollen. »Tut mir leid …«, murmelte er. »Was tut dir leid?« fragte der junge Arzt. »Ich nehme doch wohl nicht an, daß du dich absichtlich von einem Skorpion hast stechen lassen.« »Nein«, antwortete Matthew und schloß die Augen. Der junge Arzt drehte sich zu dem bärtigen Mann um. »Das wird ihm helfen. Die Schwellung wird morgen oder übermorgen abgeklungen sein.« »Wird er wieder ganz gesund?« »Ja. Die Widerstandskraft der Jugend wird ihm dabei helfen.« »Ich wünschte, ich könnte das auch von mir sagen«, antwortete der bärtige Mann, und der junge Arzt lachte. Die Stimmen wurden leiser, und Matthew fiel in bleiernen Schlaf.
* Es war Marianas Gesicht, das Matthew ab und an undeutlich vor sich sah, aber er hatte überhaupt kein Zeitgefühl. Gehorsam trank er kalte Getränke und sank dann wieder in einen Dämmerzustand, während flinke Hände ihn mit kalten Schwämmen abrieben und in weiche Handtücher einwickelten … Sein Bein schmerzte nicht mehr. Aber ihm war heiß, und er hatte furchtbaren Durst. »Trink etwas«, hörte er Mariana mit sanfter Stimme sagen, »und schön langsam … Jetzt kannst du wieder schlafen.« Sein ganzer Körper glühte, und er sank wieder in eine tiefe Finsternis. 290
* Am nächsten Morgen – und er wußte, daß es morgens war, weil die Sonne gerade aufging – wachte er mit klarem Kopf auf und hatte tausend Fragen. Er versuchte, sich in der Hängematte aufzurichten, und entdeckte dabei den bärtigen Mann, den er schon am Tag zuvor gesehen hatte. Er saß in einem Korbsessel und blickte Matthew prüfend an. Er wirkte müde. »Ah«, sagte er. »Du bist wach.« »Eben aufgewacht«, antwortete Matthew und fügte schüchtern hinzu: »Es tut mir leid, daß ich Ihnen soviel Ärger bereitet habe.« »Das macht nichts. De nada. Aber vielleicht kannst du mir verraten, was du von Petra willst?« »Wohnt sie nicht hier?« »Nein. Ich wohne hier.« »Und wer sind Sie?« »Martin Davison – Petras Vater.« »Ach so«, flüsterte Matthew. »Aber … kommt sie denn nie hierher?« »Nicht mehr sehr oft«, seufzte Martin Davison. Aber als er Matthews Enttäuschung sah, fügte er schnell hinzu: »Aber du hast Glück. Sie müßte bald kommen.« Die klugen, grauen Augen fixierten Matthew. »Woher kennst du Petra?« »Ach, das ist eine lange Geschichte …« »Wir haben den ganzen Tag Zeit«, entgegnete Petras Vater, streckte seine langen Beine aus und schenkte Matthew seine ganze Aufmerksamkeit. Matthew wußte nicht, wo er anfangen sollte. Petras Vater versuchte, ihm zu helfen, und sprach erst einmal die praktische Seite an. »Sollten wir nicht zuerst deine Familie benachrichtigen?« »Ich habe keine Familie«, sagte Matthew leise. Martin Davison blickte erstaunt drein. »Keine Eltern?« »Nein.« »Wie das?« 291
»Sie … sie starben bei einem Brand.« Und ich habe sie nicht gerettet, dachte er. Der Gedanke daran schmerzte ihn immer noch. Martin sagte nichts dazu. Aber der plötzliche Schmerz in Matthews Augen entging ihm nicht. »Hast du denn gar keine Verwandten?« Zögernd antwortete Matthew: »Doch. Eine Tante – in San Diego. Deshalb bin ich nach Amerika gekommen.« »Und?« »Es hat nicht funktioniert.« »Solltest du ihr nicht wenigstens mitteilen, daß es dir gut geht?« »Nein«, antwortete Matthew so entschieden, daß Martin das Thema nicht weiter verfolgte. »In Ordnung. Und wie hast du Petra kennengelernt?« »Nach dem Unglück …« »Was für ein Unglück?« »Der Brand – ich habe es Ihnen doch erzählt …« »Nein, hast du nicht«, sagte Martin geduldig. »Aber das kannst du ja jetzt tun. Und zwar von Anfang an.« Matthew gehorchte. Er sprach auch über seine wunderbare Freundschaft mit Flite, dem Delphin, und über Petras Sorge, daß er Flite zu sehr zugetan sein könnte. »Auch wir haben Delphine hier«, sagte Martin. »Sehr viele. Morgen oder übermorgen kannst du schwimmen gehen.« Matthew nickte. »Wie hieß dieser Ort in Cornwall?« fragte Martin plötzlich. »Es ist ein kleiner Ort an der Küste. Dort gibt es einen langen Sandstrand und eine wundervolle Brandung. Der Name des Ortes ist Porthgwillick.« Ein verblüfftes Schweigen folgte, und dann wiederholte Martin mit entsetzter Stimme: »Porthgwillick?« »Ja. Kennen Sie den Ort?« Überrascht sah Matthew Martin Davison an. Es kam ihm so vor, als ob der nette, bärtige Mann unter seiner mexikanischen Bräune plötzlich ganz blaß geworden wäre. Martin beantwortete Matthews Frage nicht. Ihn interessierte etwas anderes. »Wie hieß der alte Kapitän, mit dem du dich angefreundet hast?« 292
»St. George. Verney St. George. « Dieses Mal dauerte das Schweigen so lange, daß Matthew fast Angst bekam. Doch dann murmelte Martin: »Das darf doch nicht wahr sein.« Plötzlich brach es aus ihm heraus. Wutentbrannt schrie er Matthew an: »Du erscheinst hier aus heiterem Himmel, fragst nach Petra und bist mit … mit diesem Teufel befreundet.« »Was haben Sie denn?« fragte Matthew, den der unerwartete Wutausbruch erschreckte. »Der alte Kapitän ist kein Teufel. Er war sehr nett zu mir.« Martin kniff die Lippen zusammen. »Dann muß er sich aber sehr geändert haben.« Er kochte immer noch vor Wut, aber als er Matthews Bestürzung sah, beruhigte er sich ein wenig und strich sich gedankenverloren mit einer Hand über das Gesicht. »Es tut mir leid, Matthew. Das ist eine alte Geschichte. Du kannst nichts dafür.« »Vielleicht nicht«, entgegnete Matthew, »aber Sie sollten sie mir besser erzählen. Das war auch etwas, was ich Petra fragen wollte – was wir wegen des alten Kapitäns unternehmen sollen.« »Warum Petra?« fragte er schnell. »Kennt sie ihn?« »Nein, das glaube ich nicht.« »Haben sie sich nicht … nicht einmal zufällig getroffen in so einem kleinen Ort?« Es klang ungläubig, und immer noch war diese unerklärliche Wut aus seiner Stimme herauszuhören. »Nein«, antwortete Matthew langsam. »An dem Abend, an dem ich Gitarre spielte, kam er in den Club. Aber Petra und Skip befanden sich ganz hinten im Raum. Und dann gingen sie nach draußen und am Strand spazieren.« Martin starrte ihn an. »Standen sie sich nahe? Petra und dieser Skip?« »Das könnte man so sagen.« »Also haben sie sich nicht getroffen?« fragte er wieder. »Wer?« »Petra und dein Kapitän.« »Nein.« Matthew begann, sich unwohl zu fühlen. Er kletterte aus der Hängematte und merkte, daß er noch ziemlich unsicher auf den Bei293
nen stand. Er setzte sich neben Martins Korbsessel auf den Boden. »Irgendwie muß ich Sie aus der Fassung gebracht haben. Erzählen Sie mir doch bitte, was geschehen ist.« Es entstand eine lange Pause. Doch dann hatte Martin einen Entschluß gefaßt. »Gut.« Er sah Matthew mit einem schmerzlichen Lächeln an und fügte dann leise hinzu: »Petra hat dir diese Adresse sicher nicht leichtfertig gegeben.« »Was ist passiert?« Martin holte tief Luft. »In jungen Jahren war ich ein unbekannter, mittelloser Maler. Na ja, um bei der Wahrheit zu bleiben, bin ich das bis heute geblieben. Aber jetzt mache ich noch ein paar andere Dinge.« Wieder holte er tief Luft, und Matthew erkannte, daß es ihm sehr schwerfiel, darüber zu sprechen. »Ich ging nach Porthgwillick, um für die Touristen Bilder von der See zu malen. Im Sommer habe ich immer ganz gut verdient, obwohl ich nie ein sicheres Einkommen hatte. Aber ich liebte das Meer, und es störte mich nicht, arm zu sein. Dann traf ich dieses Mädchen. Sie war sehr jung, sehr schön und sehr eigensinnig. Ich brauche ja wohl nicht extra zu erwähnen, daß wir uns verliebten.« Er blickte Matthew ernst an. »Klytie war für mich ein Rätsel. Sie wohnte mit ihrem Vater im Hotel, aber sie hat mich ihm nie vorgestellt. Wir trafen uns und gingen dann lange am Strand spazieren. Danach stahl sie sich wieder wortlos fort. Es war fast so, als ob sie Angst hatte, mit mir entdeckt zu werden.« Er seufzte. »Was auch der Fall war.« »Was war der Fall?« »Sie hatte Angst. Ich bekam heraus, daß ihr Vater ein Großindustrieller war – sehr reich und sehr besitzergreifend. Er hielt alle ihre Freunde für potentielle Mitgiftjäger.« »Deshalb hat sie Sie geheimgehalten?« »Ja, solange es eben ging. Sie erzählte mir, daß er einen männlichen Erben für sein Imperium wollte, und sie war eine Frau, was für ihn eine herbe Enttäuschung bedeutete.« »Hätte sie nicht mit ins Geschäft einsteigen können?« »Aber ja. Er hat sie deswegen stark unter Druck gesetzt. Aber diese Geschäfte waren nichts für sie. Sie wollte aussteigen.« 294
Matthew blickte ihn mitfühlend an. »Mit Ihnen?« »Ja. Ich war so romantisch, daß ich zu ihm gehen und um ihre Hand anhalten wollte. Sie verbot es mir. Schließlich fand er es dann doch heraus, und ich bekam seine Rache zu spüren. Er brüllte mich an – befahl mir, mich von ihr fernzuhalten –, schloß Klytie in ihrem Hotelzimmer ein und buchte einen Flug nach Paris.« Matthew pfiff leise. Jetzt erkannte er die diktatorische Handschrift des alten Kapitäns. Er konnte sich gut vorstellen, wie er seine Befehle gebrüllt und die Einwände der anderen einfach vom Tisch gefegt hatte. »Was haben Sie gemacht?« »Wir sind durchgebrannt«, antwortete Martin, und ein kleines Lächeln spielte um seine Mundwinkel. »Die romantische Art. Sie kletterte aus dem Fenster, und wir verschwanden. Wir heirateten und gingen nach Amerika. Dort hielt ich an einer unbedeutenden Universität Vorlesungen. Man konnte davon leben, obwohl es nicht der Lebensstil war, den sie gewohnt war. Aber sie hat sich nie beschwert.« »Und … und Kapitän St. George?« »Er hat ihr nie vergeben. Sie hat ihm ein paar Mal geschrieben. Keine Antwort. Auch auf die Nachricht von Petras Geburt hat er sich nicht gemeldet.« Jetzt war die Wut wieder deutlich aus seiner Stimme herauszuhören. »Und als Klytie krank wurde – unheilbar krank –, schrieb ich ihm und bat ihn, sich jetzt wenigstens bei ihr zu melden, damit sie in Ruhe sterben konnte. Aber er hat nicht geantwortet.« »Das kann ich nicht glauben«, sagte Matthew leise. »Sind Sie sicher, daß er den Brief erhalten hat? Das klingt überhaupt nicht nach dem Kapitän – jedenfalls nicht nach dem, den ich kennengelernt habe.« Martin zuckte mit den Schultern. »Woher soll ich das wissen? Er hat ihr nie vergeben. Und ich werde ihm auch nie vergeben.« Matthew fluchte innerlich über diese stolzen, wutgeladenen Erwachsenen, die sich gegenseitig ihr Glück verdarben und sich wie halsstarrige kleine Kinder benahmen. Wie Jampy, wenn er einen Wutanfall hatte … All diese kleinlichen Streitereien … »Das paßt nicht zu ihm. Er ist jetzt alt, einsam und traurig … Wahrscheinlich bedauert er die Geschehnisse genauso wie Sie.« 295
»Vielleicht.« Martins Stimme klang immer noch grimmig. »Aber jetzt ist es zu spät.« »Nicht für Petra«, antwortete Matthew. »Sie ist seine Enkelin.« Martin runzelte die Stirn. »Ich kann mir gar nicht erklären, weshalb sie in Porthgwillick war. Das war sicher kein Zufall.« »Es gibt dort eine Seehundkolonie«, erinnerte Matthew ihn. »Ich glaube, sie hatte den Auftrag, sie zu beobachten. Und vielleicht wollte sie mit eigenen Augen sehen, wo alles begann.« »Aber du hast doch gesagt, daß sie sich nicht getroffen haben.« »Das stimmt.« Matthew blickte Martin fest an. »Vielleicht wußte sie, daß es Ihnen nicht gefallen würde.« »Wahrscheinlich.« »Familienstreitigkeiten sind dumm«, murmelte Matthew und war sich erst dann bewußt, daß er die Worte laut ausgesprochen hatte. Er stand auf und starrte auf das Meer, das sich wie ein breites Band vor ihm erstreckte. »Wer ist eigentlich Mariana?« fragte er auf einmal. »Sie war wirklich nett zu mir.« »Sie ist meine zweite Frau. Auch ich bin ihr sehr dankbar.« Martin schien froh zu sein, daß die zunächst bedrückte Stimmung besser wurde. »Als Klytie gestorben war, kam ich hierher. Petra war auf dem College, und ich fühlte mich so verdammt einsam … Jetzt male ich ein bißchen und baue auch Boote. Ich bin der ›presidente‹ der Vereinigung der hiesigen Küstenfischer, was bedeutet, daß ich dann und wann für sie gegen die Piraten mit den großen Fangschiffen protestiere …« Er schwieg und sah Matthew fast entschuldigend an. »Und Mariana führt die einzige Tortillería, die es hier gibt. Sie ist berühmt für ihre Hummer burritos.« »Die würde ich gerne einmal probieren.« »Das sollst du auch«, antwortete Martin, stand rasch auf und stellte sich neben Matthew. »Jetzt haben wir lange genug geredet. Mariana?« Aus der Küche kam eine fröhliche Antwort. Martin legte seinen Arm um Matthews Schultern und führte ihn ins Haus. 296
* Petra legte ihren Notizblock nieder und bedeutete dem Mexikaner, zum Ufer zurückzufahren. Sie hatte die Zählung der Guerrero Negro Wale fast beendet – aber diesmal war sie seltsam bedrückt. Die großen, friedlichen Wesen, die so ruhig und geduldig neben ihren heranwachsenden Kälbern schwammen, beschämten sie. Sie bedeuteten für sie sowohl Vorwurf als auch Herausforderung. Sie hatte die Fahrt schon mehrmals unternommen, um mit ihrer Forschungsarbeit über die Walpopulation voranzukommen, und war in Guerrero Negro und Magdalena Bay gewesen. Jedesmal hatten die sanften, majestätischen Wale sie mit Bewunderung und Erstaunen erfüllt. Aber in diesem Jahr hatte sie das Gefühl, sie noch besser als sonst zu verstehen. Ihre klugen, aufmerksamen Augen schienen sie uninteressiert anzusehen. Ich muß mein Leben in Ordnung bringen, dachte sie. Ich muß ein paar Entscheidungen treffen. Es wird Zeit, daß ich mich entschließe. Sie steckte ihre Notizen und den Fotoapparat in ihre Tasche und machte sich auf den Weg zum Jeep des Walforschungsteams. Bevor sie nach Magdalena Bay fuhr, hatte sie noch genügend Zeit, ihren Vater zu besuchen. Aber solch ein Besuch weckte alte Erinnerungen … Sie dachte an die kleine Bucht in Cornwall und an den einsamen alten Mann, mit dem sie nicht sprechen konnte – und an einen anderen Mann, der zwar noch nicht so alt, aber genauso einsam war und der sie mit seinen blauen Augen traurig anblickte und ihr keine Vorwürfe machte, als sie fortging. Sie fluchte über ihre eigene Schwäche, legte den Gang ein und fuhr durch die Schlaglöcher der Wüstenstraße nach Bahía Tortuga. Sie parkte neben dem Haus und kletterte aus dem Jeep. Als sie den kleinen Hof betrat, entdeckte sie zu ihrem Erstaunen einen dünnen, braungebrannten Jungen, der auf den Stufen der Veranda saß und sie erleichtert angrinste. »Matthew?« »Ich wußte, daß du kommen würdest«, sagte er, lief die Stufen hinunter und umarmte sie freudig. 297
»Was machst du denn hier?« Sie ließ ihre Tasche fallen und erwiderte seine Umarmung. »Ist doch klar, ich warte auf dich.« Sie sah ihn an und lächelte. »Ist mein Vater da?« »Ja.« Matthew wurde ernst. »Ich muß dir etwas gestehen … Ich habe alles erzählt … vom Kapitän und – Skip.« Zu Matthews Überraschung war sie nicht böse, sondern eher erleichtert. »Es wurde auch Zeit«, murmelte sie. »Ich hätte es schon viel früher tun müssen …« Sie strich sich mit ihrer staubbedeckten Hand über das Gesicht und setzte sich auf die Treppe. »Setz dich. Erzähl mir, was passiert ist. Ich will alles genau wissen, bevor ich ihm unter die Augen trete.« Matthew gehorchte und erzählte ihr, so gut er konnte, was vorgefallen war. Aber bevor er den Bericht über seine Abenteuer, die er seit San Diego erlebt hatte, beenden konnte, kam Mariana aus dem Haus gerannt und umarmte Petra freudestrahlend. Dann lief sie wieder ins Haus, um Martin zu holen. »Was meinst du, wird er wütend sein?« fragte Matthew. Petra zuckte die Schultern. »Vielleicht. Aber ich bin inzwischen erwachsen, Matthew. Er kann mir nicht mehr befehlen, was ich zu tun oder zu lassen habe.« Matthew nickte, aber er befürchtete, daß es Ärger geben könnte. »Soll ich euch allein lassen?« »Nein!« sagte sie sofort. »Bleib hier. Ich brauche dich vielleicht.« Kurz nachdem Mariana im Haus verschwunden war, kam Martin heraus. Er umarmte sie liebevoll und hielt sie dann etwas von sich entfernt, um sie anzusehen. »Du hast mir nicht die Wahrheit gesagt.« Sie seufzte und schüttelte den Kopf. Ihr blondes, von der Sonne beschienenes Haar leuchtete. »Es war keine Absicht, Papa. Es ist einfach passiert.« »Passiert? Du bist doch nicht zufällig in Porthgwillick gelandet, oder?« »Nein. Natürlich nicht. Obwohl … vor einigen Jahren hatte ich tatsächlich den Auftrag, dorthin zu fahren.« 298
»Vor einigen Jahren?« Martins Stimme klang drohend. »Ja. Wir zählen jedes Jahr die Population einer Seehundkolonie an der Küste … Und als ich den Namen sah, wollte ich natürlich hin und mir alles anschauen.« Bittend sah sie ihren Vater an, und plötzlich bemerkte Matthew, wie ähnlich sich die beiden doch waren. Vater und Tochter hatten beide diesen entschlossenen Zug um den Mund und dieselben großen Augen … »Du hast so viel darüber gesprochen – über den Ort, wo du Mama das erste Mal getroffen hast. Es ist doch verständlich, daß ich neugierig war.« Petra schwieg einen Augenblick und fügte dann hinzu: »Ich wußte nicht, daß der alte Mann immer noch jedes Jahr dorthin kommt. Skip hat es mir gesagt.« »Ach ja, Skip. Was bedeutet er dir?« »Sehr viel«, antwortete Petra und warf Matthew einen Seitenblick zu. »Ich bin seitdem jedes Jahr nach Porthgwillick gefahren, und das nicht nur wegen der Seehunde.« »Ich merke schon, ich bin nicht auf dem laufenden«, brummte Martin. Und dann fragte er scharf: »Du hast den alten Mann nie getroffen, oder?« Petra sah ihn verblüfft an. »Nein. Nein, nie.« »Warum nicht?« Zögernd antwortete sie: »Weil ich nicht wußte, was ich ihm sagen sollte. Und weil ich wußte, daß du etwas dagegen haben würdest.« Sie seufzte wieder. »Aber jetzt …« »Ja? Was jetzt?« fragte er immer noch mit scharfer Stimme. »Er ist alt, Papa. Alt, krank – und einsam.« Sie drehte sich zu Matthew um. »Das stimmt doch, oder? Du hast mir erzählt, daß er einsam ist.« »Ja«, sagte Matthew langsam. »Ein einsamer, trauriger alter Mann.« Er warf Martin einen Blick zu. »Das habe ich auch schon deinem Vater gesagt.« Martin fluchte leise. »Wegen diesem … diesem Monster braucht man nicht sentimental zu werden.« »Warum nicht?« fragte Petra herausfordernd. »Es ist alles schon so 299
lange her, Papa. Die Vergangenheit ist vorbei und begraben. Kannst du das nicht verstehen?« »Nein!« fuhr Martin sie an. »Ich werde nie vergessen, was er deiner Mutter angetan hat.« Petra legte ihre Hand auf seinen Arm. »Sie hatte ihm schon vor Jahren vergeben. Ich weiß es, weil wir beide über ihn gesprochen haben. Sie war nie böse auf ihn.« Martin schwieg, als er über Petras Worte nachdachte. Hatte er wirklich zu lange an diesem alten Familienzwist, dieser endlosen Mischung aus Bitterkeit, Schmerz und unsinnigem Stolz festgehalten? »Nun gut«, sagte er verlegen. »Ich kann dir nicht vorschreiben, was du zu tun hast. Aber was mich angeht – ich will davon nichts wissen. Verstanden?« Und er ging zurück ins Haus und knallte die Tür hinter sich zu. Traurig blickte Petra ihm nach. Dann kam Mariana zurück und sagte lächelnd: »Er wird sich schon wieder beruhigen. Ich habe Hummersouffle gemacht.« »Dabei würde sich jeder beruhigen«, stimmte Matthew grinsend zu. Und Petra lachte.
* Am nächsten Morgen ging Matthew zum Strand hinunter, um zu schwimmen. Da in der Nacht ein Sturm getobt hatte, war die Dünung noch ziemlich hoch, und die Wellen brachen sich wasserfallartig an den Felsen. Ich sollte nicht zu weit hinausschwimmen, dachte er. Vielleicht gibt es sogar Haie. Aber ich muß herausfinden, ob die Delphine da sind. Einen Moment stand er nur da und blickte über das aufgewühlte Wasser der Bucht. Und dann sah er die Delphine. Sie sprangen und tauchten ganz in der Nähe der Fischerboote, die sich nicht weit draußen um einen Fischschwarm versammelt hatten, der durch den Sturm in Richtung Küste getrieben worden war. Über den Booten kreiste ein 300
Schwarm Seevögel, und das Meer schien nur aus glitzernden Fischen und silberfarbenen Delphinen zu bestehen. Ich wünschte, sie würden herkommen, dachte Matthew. Er lief ins Wasser und wurde prompt von einer riesigen Welle erfaßt. Aber sie sind zu sehr damit beschäftigt, Fische zu jagen und haben keine Zeit für mich … Er hatte die Brandung überwunden und schwamm langsam weiter hinaus. Plötzlich schossen zwei blauschwarze Schatten durch das Wasser auf ihn zu. Die Delphine wollten sich diesen unbekannten Eindringling näher ansehen. Sie umkreisten Matthew neugierig, und als sie entschieden hatten, daß er harmlos sei, sprangen sie hoch in die Luft und lachten ihn an. »Habt ihr zufällig Flite irgendwo getroffen?« fragte Matthew verzaubert. Aber die Delphine antworteten nicht. Freude, Freude! riefen sie mit stummer Verzückung und sprangen in einem Bogen aus dem Wasser. Dann drehten sie und glitten aufs Meer hinaus. Matthew seufzte und schwamm auf die Küste zu. Aber etwas von ihrer unbezähmbaren Freude hatte auf ihn abgefärbt, und er fühlte sich viel besser. Als er aus dem Wasser kam, wartete Petra auf ihn. »Hast du sie gesehen«, fragte er atemlos. Petra lächelte ihn an. »Ja. Du hast wirklich Glück gehabt.« »Kannst du mir sagen, was für Delphine das waren?« »Spinnerdelphine, glaube ich, obwohl es an dieser Küste auch viele Flaschennasen gibt.« »Wie Flite?« Er starrte sehnsüchtig auf den sonnenbeschienenen Pazifik. Petra sah ihn mitfühlend an. »Vermißt du ihn immer noch?« Seufzend nickte Matthew. »Dumm von mir, oder? Wahrscheinlich werde ich ihn nie wiedersehen.« Nachdenklich sah sie ihn an. »Manchmal kommen sie zu ihren alten Fischgründen zurück.« Matthew starrte immer noch auf das Meer hinaus. »Ich habe in der Nähe von Tijuana einen Fischer getroffen. Er hat dasselbe auch gesagt.« 301
»Was?« »Daß ich Flite wiedersehen werde, wenn ich zurückkehre.« »Wirst du zurückgehen?« Er begegnete ihrem herausfordernden Blick. Doch er konnte ihre Frage nicht beantworten. »Ich weiß es nicht … Deshalb bin ich eigentlich hergekommen. Ich wollte dich fragen, was ich tun soll.« »Warum gerade mich?« fragte sie erstaunt. »Na ja, ich wollte die Wale sehen, und Skip hat mir deine Adresse gegeben. Du warst immer so beherrscht und wußtest immer, was zu tun war …« »Oh, Matthews«, rief sie und fing an zu lachen. »Wenn du wüßtest!« Er sah sie verblüfft an, wagte aber nicht zu fragen, was sie damit meinte. Statt dessen sagte er: »Dann wollte ich noch wissen, was wir wegen des Kapitäns unternehmen sollen.« »Wo liegt das Problem?« »Er ist sehr gut zu mir gewesen. Ich habe ihm eine Menge zu verdanken. Ich glaube, er möchte, daß ich für ihn arbeite – er hat es zwar nicht offen gesagt, aber es angedeutet. Ich kann jetzt mit seinem Computersystem umgehen und würde ihm wahrscheinlich bald sehr von Nutzen sein. Ich weiß, daß es für mich eine echte Chance wäre. Aber …« »Aber?« »Ich möchte nicht.« Petra sah ihn traurig an. »Alles scheint sich irgendwann einmal zu wiederholen. Was möchtest du denn machen?« Er lief rot an und sagte noch viel schüchterner als vorher: »Ich möchte Meeresbiologe werden – so wie du.« Sie blickte ihm direkt in die Augen. »Warum?« Er wußte nicht, wie er ihr erklären sollte, daß es nicht einfach nur so eine Laune von ihm war, eine Träumerei eines Schuljungen, sondern etwas, das ihm sehr am Herzen lag und über das er seit seinem Weggang aus Cornwall nachgedacht hatte. Er blickte sie nur hilflos an und sagte: »Weil es die einzige Möglichkeit ist.« »Die einzige Möglichkeit wofür?« 302
»Sie zu retten. Die Delphine – und die Wale. Alle. Es bringt nichts, wenn man nur demonstriert und sonst nichts tut. Ich habe es versucht … Man muß …« Er verhaspelte sich. Ihr offener, forschender Blick machte ihn unsicher. »Man braucht Erfahrung?« fragte sie sanft. »Autorität?« »Ja. Dann hören die Leute zu.« Sie lachte. »Das glaubst auch nur du!« Aber als sie sah, wie ernst ihm alles war, fühlte sie sich verpflichtet, ihn zu warnen. »Es wird sehr lange dauern.« »Das ist mir egal.« »Gut. Dann laß uns einmal Nägel mit Köpfen machen. Erst Abitur, dann Universität, dann Forschungsarbeiten nach Beendigung des Studiums und so weiter. Wovon willst du leben?« »Ich habe keine Ahnung. Ich bekomme bestimmt irgendeine staatliche Unterstützung, oder?« Er zögerte. »Der Kapitän wird mir bestimmt auch helfen – da bin ich sicher. Aber ich werde in den Ferien bei ihm arbeiten müssen, um ihm das Geld zurückzuzahlen.« »Du hältst nicht viel von Wohltätigkeit, nicht wahr?« »Nicht viel. Ich habe in der letzten Zeit zuviel davon erlebt.« Petra nickte. Dann sagte sie langsam: »Aber was den Kapitän angeht – ist dir eigentlich klar, daß ich das gleiche Problem habe?« »Wieso?« Matthew wußte nicht, worauf sie hinaus wollte. »Wenn ich ihm erzähle, daß ich seine Enkelin bin, dann sieht es so aus, als ob ich nur an sein Erbe wollte.« Dann fügte sie leise hinzu: »Und Skip haßt Geld.« Matthew traute sich nicht, etwas dazu zu sagen. Eigentlich ging ihn das Ganze ja nichts an. Aber er mochte Skip. Er wollte, daß er glücklich war. Und das gleiche wünschte er sich auch für den Kapitän. »Du mußt es ihm sagen«, sagte er plötzlich. »Wem?« »Dem Kapitän.« »Muß ich das?« »Du weißt, daß du es mußt. Du kannst ihn nicht sterben lassen, ohne daß er es weiß.« 303
Sie schüttelte den Kopf, und die Sonne glitzerte in ihren Haaren. »Ich weiß nicht … Es ist alles so kompliziert.« »Nein, ist es nicht«, fuhr Matthew sie an. »Es ist ganz einfach. Du bist seine Familie. Er braucht dich jetzt.« Plötzlich entdeckte Petra im Augenwinkel eine Gestalt, die den Strand entlang auf sie zuging. Verblüfft sah sie genauer hin. Konnte es wahr sein? Dieser braungebrannte junge Mann, der auf sie zukam … »Ich glaube es nicht«, murmelte sie. »Das kann doch nicht wahr sein.« Aber Matthew hatte ihn auch schon gesehen. Er sprang auf und lief auf den Mann zu. »Skip! Was in alles in der Welt tust du hier?« »Das gleiche könnte ich dich fragen«, brummte Skip und erwiderte Matthews stürmische Umarmung. Über seinen Kopf hinweg blickte er zu Petra. Auch sie war aufgestanden und ging langsam auf ihn zu. Sie strahlte über das ganze Gesicht, und Skip wußte, daß sie sich über sein Erscheinen mindestens genauso freute wie Matthew. Plötzlich lief auch sie los, und alle drei umarmten sich und lachten. Alles ist in Ordnung, dachte Skip. Matthew ist hier, und Petra freut sich, mich zu sehen. »Ich habe gerade an dich gedacht«, flüsterte Petra und legte ihr Gesicht an seine Schulter. »Ich hatte gehofft, daß ich euch hier finden würde.« Matthew wußte, daß es an der Zeit war, sich davonzustehlen. Er löste sich aus der Umarmung und wollte fortgehen. »He!« rief Skip. »Wage es ja nicht, wieder irgendwohin zu verschwinden! Der Kapitän bringt mich um!« Matthew blieb stehen. »Der Kapitän?« »Sicher.« Skip hatte den Arm um Petra gelegt. »Er hat mich geschickt, dich zu suchen. Wer sonst?« Wieder der Kapitän, dachte Petra. Überall hat er seine Finger im Spiel. Ich muß mich entscheiden. Aber jetzt ist Skip hier. Alles wird wieder in Ordnung kommen. Matthew sah die Unruhe in ihren Augen und wußte, was sie dachte. Er wollte den beiden Gelegenheit geben, sich auszusprechen, und 304
deshalb sagte er beruhigend: »Keine Angst. Ich gehe nur ins Haus zurück.« Skip und Petra schauten sich tief in die Augen, und Skip sagte sanft: »Ich habe dir so viel zu sagen.« »Ich auch«, antwortete Petra leise.
* »Ich weiß nicht, wie das passieren konnte«, brummte Martin Davison, als alle auf der Veranda saßen und ein spätes Frühstück einnahmen. »Aber irgendwie habe ich mich geirrt.« »Wieso, Papa«, fragte Petra und reichte Matthew einen Teller mit chilaquiles, die so gut aussahen, daß einem das Wasser im Munde zusammenlief. »Sie fragt mich wieso!« stöhnte er und schlug in gespielter Verzweiflung die Hände über dem Kopf zusammen. »Ich bin hierhergekommen, um meine Ruhe zu haben. Ich habe mich im gottverlassensten Ort, den ich an der ganzen Küste von Baja finden konnte, niedergelassen – und was passiert? Von allen Seiten überfallen mich plötzlich die Leute. Das ist hier ja wie auf einem Flughafen.« »Tut mir leid«, sagten Matthew und Skip im Chor. Beide hatten einen vollen Mund und beide lachten. »Leider gehöre ich auch zu den ungebetenen Gästen«, hörten sie plötzlich eine Stimme sagen. »Und ich hatte auch nicht einen so weiten Weg wie die anderen. Aber in einem muß ich Ihnen recht geben: Sie wohnen wirklich abgelegen.« Matthew sprang auf. Er kannte die Stimme – sanft und humorvoll, aber mit einem stahlharten und drohenden Unterton. »Commander Morris«, rief er und sah seine Freunde bestürzt an. Er wandte sich wieder Morris zu und sagte ungläubig: »So wichtig kann ich doch gar nicht sein.« »Natürlich nicht. Ich habe Urlaub. Ich bin also ganz inoffiziell hier.« »Sie wollen mir doch nicht weismachen, daß Sie hier nur zufällig vorbeigekommen sind?« gab Matthew zurück. »Wohl kaum«, antwortete Morris. »Laß es mich so formulieren: Ich hatte etwas freie Zeit.« 305
»Ich freue mich, daß es so etwas heutzutage überhaupt noch gibt«, brummte Martin, der nicht wußte, was seinen neuen Gast an diesen Ort geführt hatte. Morris kletterte die Stufen zur Veranda herauf, streckte die Hand aus und ließ seinen nicht unbeträchtlichen Charme spielen. »Es tut mir leid, daß ich hier so hereinplatze. Ich habe mir Sorgen um meinen Freund Matthew gemacht.« »Warum?« Martin war seinem Charme schon erlegen, bemühte sich aber, es nicht zu zeigen. Morris grinste und hob in gespielter Verzweiflung die Hände. »Sie müssen es einmal aus meiner Sicht betrachten. Nach der Demonstration – sicher hat Matthew Ihnen davon erzählt – habe ich seine Tante Della aufgesucht, und sie hatte keine Ahnung, wo er war. Sie wußte nicht einmal, daß er mit seiner Freundin Tracey unterwegs war. Sie konnte mir nur sagen, daß er ›eine Freundin in Baja California‹ besuchen wollte. Dann fand ich heraus, daß diese Tracey Matthew in Guerrero Negro alleingelassen hat und zusammen mit einem Mann namens Mitchell Anstey auf einer Jacht zurückgesegelt ist – Mitchell Anstey ist für uns übrigens auch kein unbeschriebenes Blatt.« Matthew blickte ihn scharf an. »Aber sie hat mich nicht alleingelassen«, protestierte er empört. »Er ist ihr Freund. Ich habe ihr gesagt, daß sie mit ihm gehen sollte.« Die klugen grauen Augen, die auf Matthew gerichtet waren, blickten etwas sanfter, aber Morris entgegnete nichts auf Matthews Worte. Statt dessen sagte er ruhig: »Das nächste, was ich dann hörte, war, daß er irgendwo in einer Bar in eine Schlägerei verwickelt war und danach von einem Fischtransporter nach Bahía Tortuga mitgenommen wurde. Und als allerletztes erfuhr ich, daß die Fliegenden Ärzte hier einen sehr kranken englischen Jungen behandelt haben, der von einem Skorpion gestochen wurde.« Seine Worte wurden mit verblüfftem Schweigen quittiert. »Sie müssen doch zugeben, daß all das bei mir eine gewisse Beunruhigung ausgelöst hat, und deshalb beschloß ich, hierherzukommen und mich mit eigenen Augen davon zu überzeugen, daß er nicht mehr in Schwierigkeiten steckt.« 306
»Das ist sehr nett von Ihnen«, sagte Matthew. Aber es war nicht das erste Mal, daß er sich wünschte, daß man ihn in Ruhe ließ und er sein Leben so leben konnte, wie er wollte – mit oder ohne Fehler. »Aber ich …« »Oh ja, ich sehe, daß es dir gut geht«, gab Morris lächelnd zu. Seine Augen blickten schelmisch. »Laß mich raten. Das ist sicher deine Freundin, die Meeresbiologin? Und wenn ich mich nicht irre, ist das da Skip, der Schwimmtherapeut aus Cornwall?« »Sie irren sich nicht«, antwortete Skip. »Aber Sie …?« fragte Morris und wandte sich höflich an Martin und Mariana. »Davison. Petras Vater«, sagte Martin. »Und das ist meine Frau Mariana, die, da bin ich sicher, schon ganz versessen darauf ist, Ihnen Kaffee und frische Tortillas anzubieten.« Es wurde noch ein schönes Beisammensein. Mariana war so richtig in ihrem Element. Sie teilte Essen aus und goß immer wieder Kaffee nach, denn das viele Erzählen machte durstig. Schließlich sagte Skip: »Ich muß nach England telefonieren. Kann ich das von hier aus?« Martin zuckte mit den Schultern. »Sie könnten Glück haben. Im Dorf gibt es eine caseta de teléfono, aber ich befürchte, daß Auslandsgespräche ein echtes Problem sein könnten. Die Wartezeiten sind furchtbar.« Wieder zuckte er mit den Schultern. »Mir macht das allerdings überhaupt nichts aus.« Morris sah Martin Davison nachdenklich an und fragte sich, warum er so wenig hilfsbereit war. »Vielleicht haben die Leute in den Salinen eine vernünftige Vermittlung«, schlug er vor. »Ich bin sicher, daß sie nichts dagegen haben. Mir haben sie sehr geholfen.« »Wobei?« fragte Martin. Er klang immer noch kurz angebunden. »Sie haben mir einen Wagen mit Vierradantrieb geliehen«, antwortete Morris. Er grinste Skip an und fragte: »Wie sind Sie hierhergekommen?« »Mit einem Jeep-Taxi«, sagte Skip und wurde ein bißchen rot, als er an die Extravaganz dachte. Er hatte nicht vorgehabt, das Geld des Ka307
pitäns aus dem Fenster zu werfen, aber irgendwie hatte er das Gefühl gehabt, daß die Zeit drängte. »Ich könnte Sie nach Guerrero Negro fahren«, bot Morris an. »Nein.« Diesmal war es Petra, die antwortete. »Ich habe auch einen Jeep. Aber zuerst versuchen wir es bei der caseta im Dorf.« Sie stand zusammen mit Skip auf. Als sie zum Jeep gingen, rief Petra Matthew über die Schulter zu: »Willst du mitkommen?« Er zögerte, aber als er sah, wie liebevoll die beiden sich ansahen, schüttelte er den Kopf. »Nein. Fahrt alleine. Ich warte hier.« »Daß du mir aber nicht mehr wegläufst«, brummte Skip mit tiefer Stimme, aus der man heraushören konnte, wie glücklich er war. »Als ob ich so etwas jemals getan hätte«, protestierte Matthew und tat, als ob er zutiefst verletzt wäre. Alle lachten. Als Skip und Petra weggefahren waren, wandte sich Matthew wieder den anderen zu und sagte fast schon böse: »Ich verstehe gar nicht, warum sich alle so viele Sorgen um mich machen.« »Das verstehe ich auch nicht«, antwortete Morris. »Aber so ist es nun einmal.« Er blickte Martin an. Dann fragte Morris höflich: »Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich noch ein bißchen bliebe? Ich glaube, ich könnte von Nutzen sein. Schließlich ist das Nachrichtenwesen mein Gebiet.« Martin zuckte mit den Schultern und antwortete mit dem alten mexikanischen Sprichwort: »Mein Haus ist auch Ihr Haus.« Allerdings klang es nicht so enthusiastisch wie bei den gastfreundlichen Mexikanern. Matthew verwirrten diese versteckten Spannungen. Um abzulenken, fragte er: »Kann mir irgend jemand etwas über die Fliegenden Ärzte erzählen? Alle Leute sprechen über sie, und ich weiß, daß sie mir das Leben gerettet haben – aber wer oder was sind sie?« Es war Martin, der antwortete. »Sie sind eine Gruppe mobiler Ärzte …« »Und auch Krankenschwestern und Zahnärzte sind dabei«, unterbrach Mariana ihn. »Sie haben mich einmal von meinen Zahnschmerzen befreit.« 308
Martin lächelte sie liebevoll an. »Das kannst du laut sagen.« Er wandte sich wieder Matthew zu. »Sie sind in ganz Baja im Einsatz. Wenn es an einem abgelegenen Ort zu einem Notfall kommt, fliegen sie dort hin. Sie haben auch Krankenstationen in mehreren abgelegenen Gemeinden gegründet. Sie sind eine wirkliche Hilfe und sehr engagiert. Wir brauchen sie hier draußen dringend.« »Und wo kommt das Geld dafür her?« »Spenden. Es handelt sich hier durchweg um Freiwillige, die immer wieder ein paar Tage für die Leute von Baja opfern. Die meisten Einsätze haben sie in San Quintin und El Rosario, aber sie fliegen überall hin, wo es eine Landemöglichkeit gibt. Du hattest Glück, daß wir hier eine haben.« »Das weiß ich«, sagte Matthew leise. Mariana stand auf, um abzuräumen, und Matthew bot seine Hilfe an. Aber Mariana lehnte lachend ab. »Du bist immer noch – wie sagt man auf englisch? – convaleciente«, erinnerte sie ihn mit leichtem Vorwurf und ging mit einem Stapel Geschirr ins Haus. Matthew seufzte. »Ich darf hier überhaupt nichts tun.« »Was ist los?« fragte Martin. Er streckte seine langen Beine gemütlich unter dem Tisch aus und griff nach einer Flasche Tequila. Er schenkte sich und Morris einen ordentlichen Schluck ein. »Kannst du nicht einfach nur so in der Sonne sitzen und träumen, wie es die Mexikaner auch tun?« Morris lachte und nahm sein Glas. Aber Matthew sagte beinahe verzweifelt: »Ich schulde Ihnen allen soviel – und ich hasse es, untätig herumzusitzen.« Er blickte Martin flehend an: »Es muß doch irgend etwas geben, was ich tun kann.« Martin hatte bemerkt, daß Matthew die Untätigkeit bedrückte, und so antwortete er ganz locker: »Du könntest mein Studio ausfegen. Nach allem, was ich gehört habe, scheinst du mit einem Besen ganz gut umgehen zu können.« Mariana war wieder aus dem Haus gekommen, um noch mehr Geschirr zu holen. Als sie Martins Worte vernahm, war sie empört. »Mir hast du noch nie erlaubt, in deinem Studio sauberzumachen!« 309
Martin streckte die Hand aus und zog sanft an ihrem glänzenden, schwarzen Haar. »Du bist viel zu eifrig, mein Liebling. Du würdest alles wegfegen, auch mich! Und was Matthew angeht – ich werde ihm strengste Anweisungen geben, was er in Ruhe zu lassen hat. Und er wird sich daran halten, ganz im Gegensatz zu dir!« Lachend stand er auf und legte zärtlich einen Finger auf Marianas Schmollmund. Dann ging er ins Haus. Matthew folgte ihm, und auch Morris schloß sich ihnen an, obwohl ihn keiner dazu aufgefordert hatte. Das Studio befand sich in einem großen Nebengebäude, das im rechten Winkel zum Haus lag. Das Gebäude war weiß gestrichen, und durch die großen Fenster konnte man den blauen Pazifik sehen. Der ganze Raum schien in goldenes Licht getaucht zu sein. Überall standen, lagen und hingen Leinwände: an den Wänden, in Stapeln auf dem Boden, an Nägeln, gegen Farbdosen gelehnt und zum Trocknen in der Ecke. Pinsel stecken in Terpentindosen oder lagen irgendwo auf Tischen und Stühlen herum. In einer Ecke des Zimmers stand eine stabile Werkbank, auf der ein Haufen Hobelspäne lagen. Wenn Martin etwas rahmen wollte, stellte er die Rahmen selbst her. Aber am meisten fesselte Matthew die Farbenexplosion, die auf den Leinwänden zu sehen war. Rot und Orange, gelbe Spiralen, tiefes Blau und leuchtendes Grün sprang ihn förmlich von allen Seiten an. Weiße, von Sonnenlicht beschienene Häuser, wolkenlose Himmel, von denen die Sonne erbarmungslos niederbrannte, riesige, menschenähnlich aussehende Kakteen und blaues Meer. Meistens handelte es sich um mexikanische Motive – Märkte, ein Mann mit einem beladenen burro, ein kleiner Junge, der an einem steinigen Hang Ziegen hütete, ein noch jüngeres Mädchen, das ein Baby in einer bemalten Zinkwanne badete, ein alter, gebeugter Mann ohne Zähne, der lächelnd an einem Cafetisch saß, Fischer, die ihre Netze einholten oder Hummer in die Körbe warfen, die auf dem Kai standen, und Frauen in bunten Röcken, die um den frisch gefangenen Fisch feilschten. Und dann der Pazifik – er war überall, einmal sturmgepeitscht und dann wieder ganz ruhig, und auf dem Wasser schwammen die kleinen Boote der mexikanischen Fischer. 310
»Oh«, flüsterte Matthew verzaubert. »Die Bilder sind wundervoll.« »Das stimmt«, sagte auch Morris, der hinter ihm stand. Martin lachte, und man sah ihm an, daß er sich über das Lob freute. »Aber was machen die Bilder denn hier im Studio?« fragte Matthew entrüstet. »Sie sollten der Welt gezeigt werden. Könnten Sie nicht eine Ausstellung machen?« »Wo?« fragte Martin kurz angebunden. Aber dann – so als ob ihm seine Schroffheit leid tun würde – fügte er hinzu: »Ich habe schon viele Bilder verkauft. Auf dem Markt und auch in San Ignacio, wo die Touristen sind.« »Reicht Ihnen das?« Matthew funkelte Martin kämpferisch an. »Möchten Sie nicht Anerkennung in der Öffentlichkeit finden?« Martin zuckte mit den Schultern. »Eigentlich nicht. In den Staaten habe ich diese sogenannte Anerkennung schon genossen – schwachsinniges, leeres Gefasel wie ›Oh, meine Liebe, sehen Sie, wie bewegend! Wie wundervoll! Wie ursprünglich! Und so getroffen!‹« Er deutete lässig auf seine vielen Bilder. »Ich male das, was ich will und wann ich will. Und ich verdiene genug damit, um davon leben zu können. Was sollte ich sonst noch wollen?« Matthew fiel angesichts dieser einfachen Philosophie keine Antwort ein. »Wie deine Gitarre«, sagte Morris plötzlich. »Was?« fragte Matthew, der nicht wußte, worauf Morris hinauswollte. »Als ich dich in dem Cafe in der Innenstadt spielen hörte, da hatte ich genau das gleiche Gefühl.« »Was für ein Gefühl?« Auch Martin konnte sich auf Morris' Worte keinen Reim machen. »Daß hier eine Menge Talent brachliegt«, erklärte Morris. »Und dabei würde es die Herzen der Menschen rühren.« Martin sah erst Morris und dann Matthew aufmerksam an. »Kann er so gut spielen?« »Ja«, sagte Morris fest. »Er spielt mit Leidenschaft.« 311
»Das muß ich hören«, sagte Martin und ging zur Tür. »Aber ich wollte hier doch saubermachen«, protestierte Matthew. Irgendwie war es ihm wichtig, die Reihenfolge einzuhalten. Es erinnerte ihn an Mosky und sein schroffes, aber herzliches Verhalten. Bediene die Kunden, fege den Boden und dann spiele … »Also gut«, brummte Martin. »Wie du willst. Das da fasse bitte nicht an. Das kannst du auf einen Stapel legen. Auf keinen Fall die Staffeleien berühren – darauf steht die Todesstrafe.« Er zwinkerte Matthew zu. »Und wenn du hier fertig bist«, sagte er mit gespielter Arroganz, »dann kannst du kommen und die Herzen der Menschen rühren.« »Ist gut«, antwortete Matthew freudig.
* Er entdeckte die beiden kleinen Bilder, als er einen Stapel von alten Leinwänden gegen die Wand lehnte. Sie fielen ihm deswegen auf, weil im Gegensatz zu den anderen Bildern die Farben nicht so schreiend waren. Und auch die Motive waren anders. Er sah sie sich näher an. Grüner Rasen auf graubraunen Klippen, bleicher Sand, schwarze Felsen und dahinter das dunkle, dunkle Meer … Die Felsen am Ende des Strandes … Ja, dachte er, als er das Bild ins Licht hielt, das war ganz sicher Porthgwillick. Er entdeckte die abfallenden Klippen und im Hintergrund zwischen Seegras und Stechginster verborgen sogar das Dach von Skips Clubhaus. Über der alten Hafenmauer standen die Häuser der Fischer und daneben die alte Rettungsstation. Am anderen Ende des Dorfes waren die Mauern des alten Hotels zu erkennen. Dazwischen entdeckte Matthew die Bank, auf der er mit dem Kapitän in der Sonne gesessen und auf das Meer hinausgeblickt hatte. Aber auf dem Bild saß keine in einen dunklen Mantel gehüllte Gestalt auf der Bank. Obwohl … weit entfernt war jemand zu sehen, der am Strand stand. Der Maler hatte die Gestalt liebevoll und feinfühlig gemalt – die Gestalt eines Mädchens, das am Strand tanzte. Blondes Haar glitzerte im 312
Sonnenlicht, sie hatte die Arme anmutig ausgestreckt und sprang voller Freude in die Luft. »Oh, du hast die Bilder gefunden«, hörte er Martin plötzlich hinter ihm sagen. »Ich hatte vergessen, wo ich sie hingelegt hatte.« Erschreckt sah Matthew hoch und bemerkte, daß die harten Linien in Martins Gesicht sanfter geworden waren und daß er außergewöhnlich liebevoll auf die Bilder blickte. Die Erinnerungen schienen seine düstere Stimmung zu vertreiben, und in seinen Augen schimmerte etwas, was eigentlich nur Tränen sein konnten. »So habe ich sie zum ersten Mal gesehen«, murmelte Martin verträumt. »Sie tanzte ganz allein am Strand … Entfliehen, nannte sie das.« »Wovor?« »Vor ihrem Vater und den Fesseln des Reichtums … Meine Klytie war eigentlich immer eine Rebellin.« Er sprach immer noch mit sanfter Stimme. Matthew seufzte und blickte die Bilder verzaubert an. »Ich wünschte, ich könnte es mir leisten, eins zu kaufen.« Martin erwachte aus seinen Träumen. »Eins zu kaufen? Aber du wirst doch wieder dorthin zurückkehren, oder?« Matthew antwortete: »Es ist nicht für mich. Ich wollte es dem Kapitän schenken.« Auf seine Worte folgte ein langes, angespanntes Schweigen. Dann sagte Martin mit veränderter Stimme: »Nein. Kommt gar nicht in Frage.« »Warum nicht?« Matthew war klar, daß er sich hier in etwas einmischte, was ihn eigentlich überhaupt nichts anging. Aber da war noch Petra, an die er denken mußte, und wegen ihr mußte er es versuchen. »Du weißt warum«, brummte Martin und drehte den kleinen Bildern, die ihn vorher so bezaubert hatten, brüsk den Rücken zu. »Das wäre … eine Art …« »Friedensangebot? Nein.« Und mit diesen Worten wollte Martin das Studio verlassen. »Eine Art Ende, wollte ich sagen.« 313
Martin blieb regungslos stehen. »Ende?« »Wäre es nicht endlich an der Zeit?« Matthew blickte auf die fröhliche Gestalt, die am Strand tanzte. »Sie sieht so glücklich aus«, murmelte er gedankenverloren. »Das war sie auch«, entgegnete Martin steif. Er drehte sich nicht um, aber Matthew erkannte an der Haltung seiner Schultern, daß sein Ärger nachließ. »Komm mit«, sagte Martin schließlich mit der alten rauhen Herzlichkeit. »Du bist jetzt dran, die Herzen der Menschen zu rühren.« Und ohne sich noch einmal umzudrehen, verließ er das Studio. Gehorsam folgte Matthew ihm und holte seine Gitarre. Ihm war aufgefallen, daß auf einem der kleinen Bilder das Mädchen von Betrachter wegtanzte und Freude das einzige Gefühl war, was aus ihrem Gesicht und ihren Bewegungen herauszulesen war. Im zweiten Bild aber rannte sie auf den Maler zu, und ihr Gesicht strahlte vor Liebe … Welches der beiden Bilder wohl am ehesten das eigensinnige Herz des Kapitäns rühren würde? Aber dann hatte Matthew keine Zeit mehr, sich um den Kapitän oder irgend jemand anderen Sorgen zu machen, denn seine Gedanken kreisten nur noch um die Musik. Als Skip und Petra wiederkamen, spielte er immer noch – ein melancholisches, fesselndes Stück von Granados. Zuerst blickte er nicht hoch, weil seine Finger noch mit einem Akkord beschäftigt waren, aber als er es dann tat, konnte er in Skips Gesicht lesen, daß etwas nicht in Ordnung war. »Was ist los?« fragte er schnell. »Seid ihr nicht durchgekommen?« »Doch, wir sind gut durchgekommen«, antwortete Skip zögernd. »Es ist der Kapitän. Er hatte einen Herzinfarkt.« »Ist er …?« »Nein. Er klammert sich ans Leben, sagten sie. Und er fragt nach dir.« Skip sah ihn an, und in seinen blauen Augen stand Mitgefühl. »Sie sind der Meinung, daß wir sofort nach Hause kommen sollten.« »Natürlich.« Matthew legte seine Gitarre hin und stand auf, als wolle er sofort aufbrechen. Er blickte Petra an, und sie sagte genau das, was er gehofft hatte. 314
»Ich werde die beiden begleiten.« Sie sah ihren Vater an und fügte hinzu: »Es tut mir leid, Papa. Aber ich habe mich entschieden.« Martin zuckte mit den Schultern. »Du mußt das tun, was du für richtig hältst.« Er wandte sich ab und ging ins Haus. Matthew konnte Petras Enttäuschung darüber spüren, daß ihr Vater nicht einmal im Angesicht des Todes einlenkte. Jetzt mischte sich Morris ein und entspannte die Lage. »Wenn Sie wollen, werde ich für Sie gleich Plätze auf der nächsten Maschine buchen.« Matthew sah ihn an, und ein kleines Lächeln erschien auf seinem Gesicht. »Sind Sie so wild darauf, mich loszuwerden?« Morris tat so, als ob er zutiefst beleidigt wäre. »Matthew!« Dann sagte er locker, aber mit einem ernsten Unterton: »Du magst es vielleicht nicht glauben, aber dein Wohlergehen stand bei mir immer an erster Stelle.« Zerknirscht antwortete Matthew: »Natürlich glaube ich Ihnen!« »Gut.« Morris lächelte ihn an, wurde aber gleich wieder ernst. »Jetzt müssen wir überlegen, was noch zu tun ist.«
* Schließlich zwängten sie sich alle in Morris' geborgten Landrover. Als sie gerade abfahren wollten, kam Martin aus dem Haus. Er versprach, Petras geliehenen Jeep zurückzubringen. Und Matthew drückte er ein kleines Paket in die Hand. »Hier«, sagte er barsch. »Nimm es – wenn es noch nicht zu spät ist.« Mathew braucht das Paket gar nicht zu öffnen – er wußte auch so, daß es eines der Bilder von Porthgwillick enthielt. Er lächelte Martin an und murmelte nur: »Vielen Dank.« Dann umarmte ihn Mariana und rief allen »vaya con dios« zu, und dann fuhren sie los.
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Teil 5
Sonnenuntergang?
In San Diego mußten sie noch ein paar Stunden auf ihren Flug
nach London warten, und Matthew bestand darauf, ein paar kurze Besuche zu machen. Da Skip sich eingedenk des Auftrages, den der Kapitän ihm erteilt hatte, weigerte, Matthew aus den Augen zu lassen und Petra auch nicht allein sein wollte, bestiegen alle drei ein Taxi und verschwendeten noch etwas von dem Geld, das der Kapitän Skip gegeben hatte. Skip verstand, daß Matthew sich mit Della Grant aussprechen wollte, aber die beiden anderen Besuche waren für ihn ein Rätsel. »Warum, Matt?« fragte er, als das Taxi sich durch den Verkehr kämpfte. »Ich schulde ihnen noch Geld.« »Doch nicht viel, oder? Sie erwarten vielleicht gar nicht, daß du es zurückzahlst.« Er sah Matthews widerspenstigen Gesichtsausdruck und seufzte. »Wir könnten es ihnen doch auch schicken.« »Nein«, brummte Matthew. »Meine Mutter schuldete allen möglichen Leuten Geld. Ich wußte nie, mit wem ich sprechen konnte …« »Also hast du mit gar keinem gesprochen«, half ihm Petra weiter, die so langsam hinter Matthews Beweggründe kam. »So ungefähr.« Wieder setzte Skip zu einem Protest an, aber inzwischen hatten sie Traceys großes, schäbig aussehendes Wohnhaus erreicht. Sie stiegen aus und kletterten die Treppe bis zu Traceys Wohnungstür empor. Matthew klingelte. Ein paar Augenblicke später hörten sie Schritte, und Tracey öffnete mit zerzausten Haaren die Tür. »Ja?« Dann erkannte sie Matthew, und ein breites Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. »Matt! Du bist zurück. Komm doch rein!« »Nein«, sagte Matthew lächelnd. »Keine Zeit. Tut mir leid. Ich bringe dir deinen Schlafsack und dein Geld zurück.« 317
Ungläubig sah sie ihn an. »Du bringst was?« Dann kam sie auf ihn zu und umarmte ihn. »Du bist verrückt, weißt du das?« Er lachte und erwiderte ihre Umarmung. »Wie geht es Mitch?« »Gut«, sagte Mitch, der inzwischen hinter Tracey aufgetaucht war. »Danke der Nachfrage. Uns geht es gut.« »Das höre ich gerne.« Matthew stellte fest, daß Mitch und Tracey genauso glücklich aussahen wie Skip und Petra. Apropos Skip und Petra. Schnell stellte er die beiden vor und erklärte, warum sie so in Eile waren. »Ich danke dir für alles, Tracey. Es war eine wundervolle Reise.« »Ich würde mich freuen, wenn du mir ab und zu schreiben würdest«, erwiderte Tracey. »Das werde ich«, versprach Matthew, drehte sich um und lief schnell die Treppen hinunter. Matthew wußte, daß Della tagsüber nicht zu Hause war, und so gingen er, Skip und Petra zu der Boutique in der Innenstadt, wo sie arbeitete. Als Della Matthew sah, ließ sie das elegante, schwarze Seidenkleid fallen, das sie in der Hand hielt, und brach in Tränen aus. Sie umarmte ihn und konnte gar nicht aufhören zu weinen – sehr zum Erstaunen ihrer Kunden. »Gott sei Dank, dir geht es gut«, rief sie. »Was Ihnen aber nicht zu verdanken ist«, brummte Skip ziemlich laut. Er klang sehr verärgert, und es war untypisch für ihn, daß er es so deutlich zeigte. Della zuckte leicht zusammen, fing sich dann aber wieder und blickte Skip fest in die Augen. »Und Sie sind …?« »Skip. Kapitän St. George hat mich geschickt, um Matthew nach Hause zu bringen.« Mehr gab es eigentlich nicht zu sagen, aber Matthew hatte ein paar höfliche Worte einstudiert und durchbrach das verlegene Schweigen. »Ich muß wieder nach Hause zurück, Tante Della«, sagte er und benutzte mit Absicht das verhaßte Wort ›Tante‹. »Der Kapitän ist sehr krank.« Er schwieg einen Augenblick und sagte dann etwas freundlicher: »Aber ich möchte mich für alles bedanken, was du für mich ge318
tan hast.« (Diesen Satz sagte er nur widerwillig, denn sie hatte es geschafft, das bißchen, was er noch von seiner Familie hatte, auch noch zu zerstören – die Illusion eines Jungen über seinen längst verstorbenen Vater.) »Vielleicht komme ich irgendwann wieder nach San Diego, und dann besuche ich dich.« Er sah in ihren Augen, daß sie wußte, daß er nie kommen würde. »Es tut mir leid«, sagte er, ging auf sie zu und umarmte sie, denn er konnte den niedergeschlagenen Ausdruck in ihrem Gesicht nicht mehr ertragen. Skip kam ihm zu Hilfe. »Wir dürfen unser Flugzeug nicht verpassen. Wir haben nicht mehr viel Zeit.« Und dann machten sie sich auf den Weg zu Mosky, und vor diesem Treffen fürchtete sich Matthew überhaupt nicht. Er kratzte seine letzten Dollar zusammen und mußte sogar seine Uhr verkaufen (von Skip wollte er kein Geld leihen), damit er bei Mosky seine Schulden bezahlen konnte. Er bestand darauf, allein in das Cafe zu gehen, und Petra und Skip warteten an der Tür. Mosky war wie immer enorm beschäftigt. Er ging gerade von Tisch zu Tisch und räumte das schmutzige Geschirr ab, das er auf ein überladenes Tablett stellte. Matthew ging zu ihm, nahm ihm wortlos das Tablett ab und trug es in die Küche. Im ersten Moment erkannte ihn Mosky nicht, aber als der Groschen bei ihm fiel, strahlte er über das ganze Gesicht. »Matt!« rief er laut. »Komm her, du Faulpelz. Du hast noch ein paar Tassen vergessen.« »Ich komme!« Lachend rannte Matthew in Moskys ausgestreckte Arme. Dann gab Matthew Mosky die hundert Dollar zurück. »Du bist verrückt«, protestierte Mosky empört. »Ich will dein Geld nicht.« »Bitte«, beharrte Matthew. »Ich kann es nicht abarbeiten, wie ich es versprochen habe.« »Keiner will, daß du es abarbeitest«, sagte Mosky, und seine Stimme wurde vor Entrüstung richtig laut. Aber dann hielt er plötzlich inne, weil er etwas in Matthews Gesicht entdeckt hatte, das ihn umstimmte. 319
»Ist gut, ist gut«, sagte er und legte das Geld in die Kasse. »Dann sind wir jetzt quitt. Keine Verpflichtungen mehr. Willkommen zurück!« Und wieder umarmte er Matthew. Matthew wußte, daß Mosky ihn auch ohne Worte verstanden hatte. Er stellte Skip und Petra vor. Mosky bestand darauf, ihnen eine Tasse Kaffee zu spendieren. Er zeigte deutlich, wie froh er war, daß sie sich um Matthew kümmerten, und faßte seine Gedanken so zusammen: »Er ist es wert. Mit seinen Händen kann er Wunder vollbringen.« Er blickte Matthew eindringlich an. »Bleib dabei, verstanden?« »Ja«, antwortete Matthew ernst. Zum Abschied legte Mosky seinen Arm um Matthews Schulter und drückte ihn fest an sich. »Bis dann, mein Junge. Hör nicht auf zu fliegen.« Dann ließ er ihn stehen und kümmerte sich um die Gäste. Er wollte seine Rührung nicht zeigen. »Hör nicht auf zu fliegen«, murmelte Skip und versuchte, die Stimmung mit einem breiten Grinsen aufzulockern. »Da muß ich ihm wirklich recht geben.«
* Als sie in Heathrow landeten, empfing sie ein grauer Märztag. Ein scharfer Wind blies ihnen kalten Nieselregen ins Gesicht. Nach der Wärme und der Farbenpracht, die sie in Mexiko erlebt und gesehen hatten, erschien ihnen England trist und unfreundlich. Aber das änderte sich schnell, denn ihnen wurde ein großes Willkommen zuteil. Madge und ihre ganze Familie waren zum Flughafen gekommen, um sie zu abzuholen. Jampy sprang auf und nieder und schrie: »Da ist er! Da ist Matt. Wo bist du so lange gewesen?« Sogar Jim war mitgekommen und stand in der ganzen Aufregung wie ein Fels in der Brandung. Er erzählte Skip, daß der Kapitän darauf bestanden hatte, daß sie Matthew abholten und sogar den Verdienstausfall für den Tag bezahlt hatte. »Wie geht es dem Kapitän?« fragte Matthew ängstlich, während er 320
mit einer Hand Jampys aufgeregte Freudensprünge zu kontrollieren versuchte. »Immer noch unverändert«, antwortete Madge. »Er liegt in einer Privatklinik. Du sollst ihn morgen besuchen.« »Heute nicht mehr?« »Nein. Heute ist es zu spät. Er schläft schon.« »Aber wenn er …« Matthew brachte es nicht fertig, den Satz zu vollenden. »Morgen«, sagte Madge mit fester Stimme. »Heute nacht schläfst du bei uns. Befehl vom Kapitän. Stimmt's, Jim?« Jim nickte bedächtig. »Er schüchtert alle ein. Es ist das Beste, wenn man tut, was er befiehlt.« Die Andeutung eines Lächeln erschien auf seinem Gesicht. »Komm mit«, drängelte Jampy und zerrte an Matthews Hand. »Komm endlich mit. Ich habe einen neuen Tankwagen, und ich habe eine Brücke aus Lego gebaut.« »Gleich, Jampy. Sieh mal her, ich habe dir etwas mitgebracht.« Matthew griff in seinen Rucksack und holte einen kleinen Sombrero hervor, der mit einer hellen, roten Borte besetzt war. »Für dich«, sagte er und setzte ihn Jampy auf. Sie verließen den Flughafen. Skip und Petra wollten die Nacht in einem nahegelegenen Hotel verbringen. Sie hatten beschlossen, daß Matthew beim Kapitän den Weg für Petra ebnen sollte. Er sollte ihm das Bild von Petras Vater zeigen und die ganze Geschichte erzählen – natürlich nur, wenn der Kapitän sie auch hören wollte. Vielleicht würde er sich ja rundweg weigern zuzuhören. Und wenn er bereit war, Petra kennenzulernen, würde sie ihn zusammen mit Skip besuchen.
* Als Matthew am nächsten Morgen zur Privatklinik kam, herrschte dort ein gewaltiger Aufruhr. Der graue Rolls Royce des Kapitäns stand vor der Eingangstür. Mackie, der Chauffeur, stand in der Eingangshalle und blickte verlegen drein, während ein erzürnter Arzt ihm laut321
stark klarmachte, daß das ja wohl ›unmöglich‹ sei. Krankenschwestern rannten aufgescheucht umher. Sie sahen entnervt aus, und die Mißbilligung war ihnen deutlich anzusehen. Und aus dem Zimmer, in dem der alte Mann lag, hörte er die laute, wütende Stimme des Kapitäns und eine zweite, verhaltenere Stimme, die mit ihm stritt. Matthew wurde blaß. Er kannte diese Stimme. Es war dieser schreckliche Conrad, der anscheinend wieder versuchte, den Kapitän zu etwas zu bewegen, was er nicht wollte. Und mit Sicherheit durfte der Kapitän sich jetzt nicht aufregen. Matthew zögerte, denn er wußte nicht, wie er sich verhalten sollte. In diesem Augenblick entdeckte ihn die Stationsschwester, kam auf ihn zu und fragte kurz angebunden: »Bist du Matthew? Wenn ja, dann sorge um Himmels willen dafür, daß er Vernunft annimmt – und sieh zu, daß dieser Neffe verschwindet, bevor er noch mehr Unheil anrichtet.« »Können Sie nicht dafür sorgen?« entgegnete Matthew, aber er sah ihren verzweifelten Gesichtsausdruck und ließ sich schnell ins Krankenzimmer schieben. Der Kapitän saß mit einem Bademantel bekleidet auf einem Stuhl. Er wirkte gebrechlich, schien aber nach wie vor noch äußerst streitlustig zu sein. Neben ihm stand Conrad. Er hatte sich drohend über den alten Mann gebeugt, und sein Gesicht war rot angelaufen. »Das ist Wahnsinn«, schimpfte er. »Du kannst nicht solch schwachsinnige Spritztour unternehmen. Du kannst ja nicht einmal ohne Hilfe stehen. Du kannst nicht reisen, bevor du nicht alle Vorkehrungen getroffen hast.« »Ich habe alle Vorkehrungen getroffen«, bellte der Kapitän. »Wir haben einen absolut zuverlässigen Treuhänderausschuß. Die Firma ist in keiner Weise gefährdet.« »Aber du hast keinen Nachfolger ernannt.« »Du meinst, ich habe dich nicht zu meinem Nachfolger ernannt.« Die Augen des Kapitäns versprühten Feuer. »Nur wenn die Macht in mehrere Hände gelegt wird, ist sie zu halten, Conrad. Du bist wie alle anderen auch Mitglied des Ausschusses.« »Aber …« 322
»Entschuldigung«, sagte Matthew und versuchte, genauso kurz angebunden und überzeugend wie die Stationsschwester zu sprechen, die immer noch hinter ihm stand. »Ich glaube, Sie ermüden den Kapitän.« »Er darf nur wenige Besucher empfangen«, fügte die Schwester hinzu. »Nur wenige. Und auch nur ganz kurz.« »Wartet Ihr Wagen unten?« fragte Matthew honigsüß, ergriff Conrad beim Arm und führte ihn schnell aus dem Zimmer. »Sie wollen doch nicht, daß er noch einen Herzinfarkt bekommt, oder?« »Natürlich nicht«, stotterte Conrad, aber es klang nicht sehr überzeugend. »Kommen Sie doch später wieder«, schlug Matthew vor. »Wenn er sich ausgeruht hat.« Standhaft und unerbittlich blieb er so lange stehen, bis Conrad den Rückzug antrat. Als er das kleine Zimmer wieder betrat, sah der Kapitän ihn böse an und brummte: »Du hast uns alle ganz schön zum Narren gehalten.« »Tut mir leid«, sagte Matthew und stellte sich neben ihn. »Das wollte ich nicht.« Mutig nahm er die Hand des Kapitäns in seine und fügte ehrlich hinzu: »Ich wäre nie darauf gekommen, daß es irgend jemanden interessiert, wo ich mich aufhalte.« Der Kapitän schnaubte. »Du hattest noch nie viel Selbstwertgefühl, du dummer Junge.« Matthew lachte. »Ist ja auch egal. Man hat mir gesagt, daß es Ihnen verdammt schlecht geht.« »Geht es mir auch, wenn ich hier noch länger bleiben muß. Und wenn dieser Intrigant Conrad hier noch einmal reinkommt!« Eine junge, ängstlich aussehende Krankenschwester trat ins Zimmer, und sofort bellte der Kapitän sie an: »Ich habe Ihnen doch befohlen, meine Sachen zu holen.« Sie warf Matthew einen verzweifelten Blick zu, murmelte »einen Moment« und rannte wieder hinaus. »Was haben Sie vor?« fragte Matthew. Er hielt immer noch die Hand des alten Mannes fest. »Ich will hier raus«, schimpfte der Kapitän. 323
»Wohin wollen Sie denn?« »Porthgwillick, wohin sonst?« Das überraschte Matthew. »Aber … Skip möchte Sie besuchen.« »Er soll mich in Cornwall besuchen.« Matthew dachte fieberhaft nach. Das hätte er sich denken können. Natürlich wollte der Kapitän nach Porthgwillick … Aber wie konnte er es anstellen, daß er Petra traf? »Wenn ich schon sterben muß«, knurrte der alte Mann, »dann sterbe ich da, wo ich will.« Matthew nickte langsam. Dann wagte er es. »Ich habe etwas für Sie mitgebracht.« Er packte das kleine Bild von Porthgwillick aus und hielt es dem Kapitän hin. Das Schweigen, was darauf folgte, war lang und spannungsgeladen. Matthew überlegte schon fieberhaft, ob diese Enthüllung den alten Mann vielleicht sogar umbringen würde. »Woher hast du das?« Seine Stimme klang erstaunlich sanft. »Das ist eine lange Geschichte …« »Also war es doch der Davison«, murmelte der Kapitän mehr zu sich als zu Matthew. »Das habe ich geahnt.« Dann betrachtete er sich das Bild mit verschleierten Augen. »Das ist sie«, sagte Matthew. »Ihre Tochter Klytie. Sie tanzt alleine am Strand … Soll ich Ihnen erzählen, was geschehen ist?« »Nein«, sagte der Kapitän. Matthews Hoffnungen sanken. Es war alles umsonst gewesen. Er wollte nicht zuhören. »Komm mit mir«, sagte der Kapitän. Es war eine Bitte und kein Befehl. »Was?« »Laß uns gemeinsam mit meinem Wagen nach Cornwall fahren. Auf dem Weg kannst du mir alles erzählen.« Er blickte Matthew drängend an. »Ich habe nicht mehr viel Zeit«, fügte er hinzu, und Matthew wußte, daß er die Wahrheit sagte. Matthew gab nach. »Ist gut. Aber zuerst muß ich Skip anrufen.« Der alte Mann nickte. »Hol mir Mackie. Ich möchte mich anziehen.« 324
Matthew versuchte es ein letztes Mal. »Sind Sie sicher, daß Sie die Fahrt durchstehen können?« »Nein«, brummte der Kapitän. »Ich bin mir überhaupt nicht sicher. Aber ich fahre.« Wieder sah er Matthew an, und diesmal war eine Spur seines früheren, schalkhaften Lächelns auf seinem Gesicht zu erkennen.
* Der alte Mann hatte während der langen Autofahrt nach Cornwall noch zwei leichte Herzanfälle und mußte sein Anginaspray benutzen. Aber er bestand darauf, die Reise fortzusetzen und auch darauf, daß Matthew weitererzählte. Nach und nach berichtete Matthew ihm alles – wie er herausgefunden hatte, warum Della ihm ein Zuhause angeboten hatte, seine Flucht nach Baja California zusammen mit Tracey und wie er Martin Davison getroffen hatte. Er erzählte von dem Studio voller wunderschöner Gemälde und daß Martin sie nicht ausstellen oder verkaufen wollte. Dann gab er alles wieder, was Martin über die Vergangenheit gesagt hatte, und er ließ auch nicht aus, wie liebevoll er von Klytie gesprochen hatte, als er beschrieb, wie sie auf dem Strand getanzt hatte. Er versuchte, die Geschichte so neutral wie möglich zu erzählen – er wußte, daß es seine Aufgabe war, alles genau und vorurteilsfrei zu berichten. Und so vermied er es, mit vorwurfsvoller Stimme zu sprechen, als er von den vielen Briefen und vom letzten, verzweifelten Versuch der Versöhnung erzählte, den Martin unternommen hatte, als Klytie im Sterben lag. Aber eine Frage mußte er doch stellen. Er liebte den Kapitän, und er konnte nicht glauben, daß der alte Mann so unverzeihlich hart gewesen war. »Warum haben Sie keinen der Briefe beantwortet?« Der Kapitän seufzte und schüttelte den Kopf. »Ich habe die Briefe nie erhalten. Meine eigene Schuld.« »Warum?« »Ich habe es so angeordnet, als ich noch richtig wütend war. Ich habe 325
meiner Sekretärin befohlen, nichts von ihr weiterzuleiten. Ich wollte keinen Kontakt mehr, egal auf welche Weise. Und sie hat mir gehorcht.« Wieder seufzte er und strich sich mit einer zitternden Hand über die Augen, so als ob er die Selbstvorwürfe abwehren wollte. »Und diesen Befehl habe ich nie widerrufen – ich habe einfach vergessen, daß ich ihn gegeben hatte. Bei dem endlosen Tohuwabohu, das beim großen Geldverdienen herrscht … Es ist mir einfach entfallen.« Jetzt zitterte auch seine Stimme, und Matthew blickte ihn besorgt an. »Wie dumm kann man noch sein?« fragte der alte Mann leise. Und stolz, dachte Matthew. Zu stolz zu schreiben und zu fragen: Wo bist du? Wenn er an die ganzen verlorenen Jahre des Schweigens dachte, blutete ihm das Herz. »Möchten Sie, daß Petra Sie besucht?« fragte er plötzlich. »Ja«, antwortete der Kapitän. »Natürlich.« Matthew blickte ihn prüfend an und versuchte herauszufinden, wie erschöpft der alte Mann war. Eine Sache mußte noch besprochen werden, und sie war wichtig. »Bevor Sie sie treffen«, begann Matthew, und diesmal klang seine Stimme wieder schüchtern und verlegen, »hat Petra mich gebeten, Ihnen etwas zu sagen.« »Ja?« »Sie möchte Ihr Geld nicht.« »Was?« »Sie hat Erfolg im Beruf. Sie ist unabhängig. Sie möchte nur Sie – ihren Großvater – und nicht das St. George Empire.« Während er sprach, beobachtete er das Gesicht des Kapitäns, denn er fürchtete, daß der Schock zuviel für ihn sein könnte. Aber zu seiner Überraschung fing der Kapitän an zu lachen. »Noch so eine«, sagte er, und in seinen müden Augen erschien wieder der schelmische Ausdruck. »Sie kommt nach ihrer Mutter.« Schweigend fuhren sie weiter durch das Bodmin Moor. Matthew hielt es für besser, es dabei zu belassen, denn es war deutlich zu merken, daß der Kapitän ruhen mußte. Er wirkte noch gebrechlicher als sonst. 326
»Was ist mit dir?« fragte der Kapitän plötzlich. »Mit mir?« Matthew wußte nicht, worauf der alte Mann hinauswollte. »Willst du es?« »Was?« »Ist dieser Junge begriffsstutzig! Mein Geld, Matthew. Das St. George Empire. Willst du es haben?« Matthew war nicht überrascht. Er hatte geahnt, daß der alte Mann ihm diese Frage irgendwann einmal stellen würde. Und es tat ihm leid, daß er den Kapitän wieder enttäuschen mußte. Er wandte sich dem Kapitän zu und blickte seinen alten Freund traurig, aber aufrichtig an. »Nein«, antwortete er sanft. Der Kapitän schien nicht überrascht zu sein. Er brummte: »Das habe ich mir gedacht!«, und wieder war der Schalk in seinen Augen zu erkennen. »Was willst du dann?« Matthew holte tief Luft und versuchte, seine Pläne so verständlich wie möglich darzulegen. »Ich möchte Meeresbiologe werden – wie Petra. Dazu muß ich als erstes mein Abitur machen. Und danach studieren.« »Und wovon willst du leben – und wo?« »Vielleicht bekomme ich ein Stipendium, und Madge hat mir angeboten, daß ich bei ihr wohnen kann.« Ernst blickte er den Kapitän an und fügte dann mutig hinzu: »Ich dachte … wenn Sie mich vielleicht ein bißchen unterstützen würden, könnte ich es in den Ferien wieder abarbeiten.« »Gemacht!« sagte der Kapitän, und der Schalk in seiner Stimme war nicht zu überhören. Matthew fragte sich, worüber der alte Mann sich so amüsierte und warum er nicht enttäuscht gewesen war, als Matthew sein Empire abgelehnt hatte. Es kam ihm fast so vor, als ob der Kapitän sogar zufrieden über den Verlauf der Dinge war. »Mackie!« befahl der Kapitän. »Halten Sie einen Augenblick an. Darauf müssen wir anstoßen!« Mackie, der Chauffeur, drehte sich um und fragte besorgt: »Sind Sie sicher, Sir?« 327
»Aber sicher bin ich sicher«, grinste der Kapitän und sah fröhlich zu, wie sich im Auto ein kleines Fach öffnete, in dem sich eine Bar befand. Flaschen und Gläser waren sorgfältig nebeneinander aufgereiht. »Champagner«, befahl der Kapitän. »Haben wir welchen? Mit einem Schuß Brandy. Das ist gut bei Herzbeschwerden.« Sein Grinsen wurde breiter. Und als er das volle Glas in der Hand hielt, blinzelte er Matthew zu und sagte: »Das Zeug ist zwar warm und durchgeschüttelt, aber es erfüllt seinen Zweck. Was hast du mir noch über die Delphine erzählt? Heute, heute?« Matthew nickte stumm und hob sein Glas. Er bewunderte die Energie des Kapitäns. Sie sahen sich beide an und verstanden genau, was der andere dachte. Dann sprachen sie im Chor: »Heute, heute!«
* Als Petra ihn am nächsten Morgen besuchte, saß der alte Mann kerzengerade auf seinem Stuhl am Fenster. Sein marinefarbener Blazer war ausgebürstet, und die Messingknöpfe leuchteten. Die blauen Augen blickten munter und wachsam. Er sah sie lange schweigend an und nahm den Anblick ihres blonden Haares und ihrer goldbraunen Augen in sich auf. Auch die stolze Haltung ihres Kopfes entging ihm nicht. Schließlich sagte er: »Du ähnelst deiner Mutter sehr.« »Das hat man mir schon oft gesagt.« Petra lächelte ihn etwas schüchtern an, denn sie wußte nicht, ob das nun ein Lob oder ein Vorwurf sein sollte. »Und tanzt du auch am Strand?« Zu seiner Überraschung wurde sie tiefrot und murmelte: »Manchmal.« Er musterte sie weiter und fragte dann schroff: »Ich habe gehört, daß du Meeresbiologin bist. Worauf bist du spezialisiert?« »Meeressäugetiere. Hauptsächlich Wale.« Sein Blick wurde plötzlich durchdringend. »Und was sagen sie dir?« 328
Sie sah ihm direkt in die Augen. »Daß das Familienleben wichtig ist.« Diese Antwort überraschte ihn, und er schwieg wieder einen Augenblick. Aber dann stieß er plötzlich hervor: »Was willst du von mir?« Petra ging zu ihm und nahm liebevoll seine Hand in ihre. »Nur dich, Großvater. Hat Matthew dir das denn nicht gesagt?« Der alte Mann nickte. Er zog seine Hand nicht zurück. »Familienleben?« wiederholte er fast ungläubig, so als ob er dieses Wort nicht kannte. »Etwas, was Matthew nie gehabt hat«, erinnerte sie ihn. »Auch er will mein Geld nicht«, brummte er und klang fast ein wenig betrübt. Petra lachte. »Der Junge ist wirklich unabhängig.« »Was soll aus ihm werden?« Aus der Stimme des Kapitäns war echte Sorge herauszuhören. »Er kommt schon klar. Er ist ein Überlebenskünstler.« »Das muß er auch sein«, antwortete der Kapitän grimmig, »in dieser mörderischen Welt.« »Er weiß genau, was er will«, sagte Petra und lächelte ihren Großvater an. »Und in den Ferien möchte er in deiner Firma arbeiten.« Wie der Sohn, den du nie hattest, fügte sie in Gedanken hinzu. »Und du kannst sicher sein, daß wir uns um ihn kümmern werden.« »Wir?« »Skip und ich.« Wieder lief sie rot an. Der Kapitän warf ihr einen scharfen Blick zu. »Es ist also etwas Ernstes mit euch beiden?« Ihr Lächeln war so strahlend, daß er sofort Bescheid wußte. »Er wartet draußen«, sagte sie. »Wir möchten … wie soll ich sagen … deinen Segen.« Der Kapitän schnaubte. »Davon verstehe ich nichts.« Aber dann hielt er inne und dachte: Das stimmt nicht. Der Junge ist ein Segen. Und auch dieses Mädchen mit dem goldfarbenen Haar, das meiner Klytie so ähnelt … Ich werde auf meine alten Tage noch sentimental. »Und was soll ich dann mit meinem Geld machen?« fuhr er sie an. »Es verschenken?« 329
»Das ist gar keine schlechte Idee.« Er tat so, als ob er nachdenken würde, aber in Wirklichkeit war seine Entscheidung schon gefallen. »Wie wäre es mit einem Forschungszentrum für Meeresbiologie?« fragte er auf einmal so ganz nebenbei. »Was, du willst wirklich …« »Du kannst dir aussuchen wo. Vielleicht kann Matthew eines Tages auch dort arbeiten. Und seine bedrohten Delphine retten.« Überwältigt von seiner Großzügigkeit begann sie, sich bei ihm zu bedanken, aber er unterbrach sie und sagte nur kurz: »Melde dich bei John Harvey. Ich habe ihm Anweisungen gegeben. Außerdem kann ich mit meinem Geld ja auch einmal etwas Sinnvolles machen.« Er lächelte schelmisch. »Und es fällt nicht in Conrads Hände.« Er begann zu lachen, und Petra fiel mit ein. Als Skip, der geduldig, wenn auch etwas beklommen, draußen gewartet hatte, ihr Lachen hörte, steckte er den Kopf durch die Tür. »Darf ich auch mitlachen?« Er war erleichtert, als er sah, daß der alte Mann weder wütend noch erschöpft war. Er schien sich sogar zu amüsieren. »Skip, mein Junge«, befahl er. »Ich möchte, daß du heute einen Musikabend veranstaltest.« Überrascht fragte Skip: »Was, heute?« »Heute. Und bitte den Jungen zu spielen, wenn er Lust hat.« Skip nickte. »Er wird schon Lust haben.« Voller Zuneigung blickte er den Kapitän an. »Besonders, wenn Sie auch kommen.« Der alte Mann lächelte. Als er sah, daß Skip noch zögerte, fuhr er ihn an: »Das ist ein Befehl, verstanden?« »Aye, aye, Kapitän«, sagte Skip und salutierte.
* Skip machte sich daran, den Musikabend zu organisieren. Er rief schnell die Gruppen aus der Gegend zusammen und stellte dann im Clubhaus Mikrophone, Scheinwerfer und Verstärker auf. Sogar die Jazzgruppe, mit der Matthew schon einmal gespielt hatte, kam und bestand darauf, daß Matthew sich mit seiner Gitarre zu ihnen auf die Bühne ge330
sellte. Es herrschte eine tolle Stimmung. Wenn die Bands Pause machten, spielte Matthew alleine und hatte die ungeteilte Aufmerksamkeit des Publikums. Nur der Kapitän kam nicht. »Wenn wir laut genug spielen, kann er uns vielleicht bis zum Hotel hören«, schlug jemand vor. Skip warf ihm einen bösen Blick zu. »Er würde euch sogar noch im Himmel hören!« fuhr er ihn an. Als ihm aufging, was er da gesagt hatte, schwieg er betreten. Matthew rettete die Situation. »Laßt uns singen«, schlug er vor. »Die alten Songs zum Mitsingen. Die mochte er.« Er schlug ein paar Akkorde, und bald ertönten viele Stimmen, die begeistert mitsangen. Und dann begann er, wieder ›Rio Grande‹ zu spielen. »Then away, boys, away …« Matthew wußte, daß sie dem alten Mann ein letztes Lebewohl sangen. Er konnte vor lauter Tränen kaum die Saiten seiner Gitarre erkennen. Während alle noch fröhlich sangen, klingelte das Telefon in Skips Büro, und Skip stand auf, um das Gespräch entgegenzunehmen. Als er zurückkam und Petra ansah, wußte Matthew Bescheid. Einen Augenblick lang versagten seine Finger, aber dann spielte er weiter. Singe und spiele so laut du kannst, dachte er. Oh, du geliebter alter Mann, wir werden so laut singen, wie wir nur können.
* Viel später, nachdem der Gesang und allgemeine der Tumult aufgehört hatten, ging Matthew allein zum Strand, kletterte auf die Felsen und blickte auf das dunkle Meer hinaus. Flite? rief er. Bist du da draußen, irgendwo in diesem tiefdunklen Ozean? Auch der Kapitän hat die See gemocht – obwohl er dich nicht kannte. Wirst auch du ihm ein letztes Lebewohl singen? Er erwartete keine Antwort. Aber plötzlich bemerkte er direkt vor ihm im Wasser einen Strudel, und ein dunkler Kopf, an den er sich so gut erinnerte, erschien an der Oberfläche und blickte zu ihm hoch. 331
»Flite?« flüsterte er ungläubig. »Flite? Bist du das?« Der Kopf kam näher, und eine lange, dünne Schwanzflosse schlug fröhlich auf das Wasser. Außer sich vor Freude zog Matthew sich schnell aus und sprang ins Wasser. »Flite!« rief er und schwamm durch die tiefe Dünung des Atlantiks. »Du bist zurückgekommen! Du bist gekommen, als ich dich brauchte! Oh Flite, du bist wieder da!« Und er streckte die Arme aus und umarmte die weiche, gekrümmte Flanke des Delphins, der auf ihn zu schwamm, um ihn zu begrüßen. Zurückgekommen? sagte Flite und umschwamm Matthew langsam. Natürlich bin ich zurückgekommen. Es ist Frühling, oder nicht? Das Meer wird wärmer. Es ist Zeit, sich zu freuen. Heute! Aber irgend etwas an Flites Bewegungen störte Matthew, er schwamm näher heran und sah ihn sich genauer an. Der Delphin wirkte schwerfällig und glitt nicht so mühelos durch das Wasser, wie Matthew es von ihm gewohnt war. Als er näherkam, drehte sich der Delphin um, und Matthew sah zu seinem Entsetzen, daß er furchtbare Verletzungen erlitten hatte. Eine seiner Brustflossen war fast abgerissen und hing schlaff im Wasser, was seinen langen, schlanken Körper aus der Balance brachte. Über dem bleichen Bauch entdeckte Matthew eine klaffende Wunde. An seiner Rückenflosse und um seinen Hals hatte sich eine Netzschnur verfangen, die in die Haut schnitt. Der verletzte Delphin konnte zwar noch schwimmen, aber seine Bewegungen waren schwerfällig, und er litt offensichtlich unter Schmerzen. »Oh!« rief Matthew und umarmte den schlanken Körper. »Was haben sie dir angetan?« Denn es war offensichtlich, daß Flite sich in einem Netz oder in einer anderen, furchtbaren, von Menschenhand geschaffenen Falle verfangen hatte. Aber trotz seiner Verletzungen hatte Flite Lust, mit Matthew zu spielen. Ich kann immer noch tauchen, schien er zu sagen. Und wenn ich es versuche, kann ich sogar fliegen. Es gibt immer noch Freude im Meer. Sieh, wie ich springe. Er erhob sich genauso fröhlich wie früher aus dem Wasser, aber statt 332
mit einem eleganten Bogen einzutauchen, klatschte er mit einem lauten Platschen auf die Wasseroberfläche. Matthew beobachtete ihn und hatte das Gefühl, sein Herz müßte brechen. Dann hatte er eine Idee, und er schwamm eilig ans Ufer, wo seinen Sachen lagen. In seiner Tasche hatte er ein Taschenmesser. Wenigstens konnte er dieses gemeine Stück Netz abschneiden, das sich um Flites verletzliche Kehle gewickelt hatte. Er holte das Messer und schwamm zurück. Er wartete, bis Flite wieder seine Kreise um ihn zog. Der Delphin schien zu verstehen, daß er ihm helfen wollte und wehrte sich nicht, als Matthew die Netzschnur zerschnitt, die sich in die silberfarbene Haut eingegraben hatte. Endlich hatte er auch den letzten Faden durchtrennt, und das feine, grüne Netz fiel herunter und trieb auf der nächsten Welle davon. Dankbar machte Flite eine Pirouette, aber sie war etwas schief. Dann drehte er sich wieder auf den Rücken und ruhte sich neben Matthew im Wasser aus. Es schien, als ob er sagen wollte: Ich würde mich ja freuen, wenn ich könnte. Aber es fällt mir jetzt schwer … Flite so zu sehen, tat Matthew in der Seele weh. Was konnte er nur tun? Petra würde wahrscheinlich sagen, daß man nichts machen konnte und es der Natur überlassen mußte, ob Flites Verletzungen heilen oder er sterben würde. Man konnte bei einem freilebenden Delphin ja nicht einfach die Flosse schienen … Man mußte ihn sich selbst überlassen. Flite schien Matthews Traurigkeit zu spüren und schwamm wieder ganz nahe an ihn heran. Ruhig ließ er sich in der dunklen Meeresdünung treiben und gab Matthew ab und zu einen sanften Schubs mit der Nase. »Wenn ich nur wüßte, wie ich dir noch helfen könnte«, stöhnte Matthew. Am liebsten hätte er geweint, so hilflos fühlte er sich. Er glaubte, die Schmerzen des Delphins am eigenen Körper zu spüren. Er überließ sich gemeinsam mit Flite dem Auf und Ab der Wellen und weinte. »Ich werde versuchen, euch alle zu retten«, sagte er leise in Flites Ohr. »Eines Tages. Irgendwie. Ich muß es tun. Falls es mir bei dir nicht gelingen sollte, werde ich wenigstens die anderen retten.« Und wieder umarmte er den Delphin liebevoll. 333
Aber Flite wollte nichts davon hören. Es lag nicht in seiner Natur, traurig zu sein. Langsam schwamm er einen Kreis und zog seinen Freund, der ihn immer noch umarmte, sanft aufs Meer hinaus. So gut es mit seiner gebrochenen Flosse möglich war, drehte er Kreise, tauchte und stieg wieder nach oben. Aber richtig fliegen konnte er nicht. Dann zog er einen letzten Kreis um Matthew und schwamm dann aufs Meer hinaus und auf den bleichen Horizont zu. Matthew beobachtete ihn, und sein Herz schmerzte vor Mitleid. Aber es war nicht nur Mitleid. Er hatte auch böse Vorahnungen. Denn dieses tapfere, fröhliche Wesen schwamm nach Westen – in Richtung Sonnenuntergang und nicht Sonnenaufgang. Aber als Matthew hinter ihm hersah, bemerkte er auf einmal, daß Flite nicht allein war. Er sah noch weitere dunkle Rückenflossen, die das Meer durchschnitten, weitere auf- und niederhüpfende Köpfe und Körper, die fröhlich in die Luft sprangen. Eine ganze Delphingruppe war gekommen, um Flite abzuholen. Sie schwammen auf ihn zu, umkreisten ihn zur Begrüßung und tanzten neben ihm durch die Gischt. Matthew beobachtete, wie Flite von ihnen beschützend in die Mitte genommen wurde. Die anderen Delphine schwammen sogar langsamer, damit er mit ihnen Schritt halten konnte … Sie werden ihm helfen, dachte er. Sie werden sich um ihn kümmern und ihn vor weiteren Verletzungen bewahren. Sie werden für ihn sorgen – wenn er überhaupt überleben wird. Oh, Flite, ich hoffe so sehr, daß du überleben wirst! Er stand noch lange da und starrte zum Horizont. Tränen brannten in seinen Augen. Auf Wiedersehen, Flite, sagte er und hob seine Hand zum letzten Abschiedsgruß.
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Anmerkung zur Delphinsterblichkeit
Seit 1959 sind mehr als sechs Millionen Delphine durch Thunfischnetze getötet worden. Schon beim Fang nur eines einzigen Thunfischschwarms können bis zu eintausend Delphine in die für sie tödlichen Netze geraten. Mit dem US Marine Protection Act von 1972, der allerdings nur schwer durchzusetzen ist, wurde versucht, Fangquoten festzulegen. Dadurch sollte die Zahl der gefangenen Delphine drastisch reduziert werden; 1976 waren es 78.000 Tiere und 1981 nur noch 20.500. Aber die Bestände wurden dadurch nicht gesichert. Pro Jahr sterben weltweit zwischen 80.000 und 120.000 Delphine durch Beutelnetze. Beobachter haben jedoch berichtet, daß die Zahl der getöteten Delphine von 57.000 im Jahre 1985 auf 130.000 im Jahre 1986 sprunghaft angestiegen ist. Die Bestände der Flecken- und Spinnerdelphine sind bereits drastisch zurückgegangen, und eine Überfischung der Herings- und Makrelenbestände haben zu einem starken Rückgang der Flaschennasendelphine geführt. Treibnetze, die weltweit jährlich 50.000 bis 60.000mal durch Fangschiffe ausgeworfen werden, haben die Anzahl der getöteten Delphine wahrscheinlich auf eine sechsstellige Zahl erhöht, denn auf zehn gefangene Thunfische kommt ein getötetes Meeressäugetier. 1989 verabschiedete die UNO eine Resolution, die die Ausweitung der Treibnetzfischerei untersagte. In Japan und in der Pazifikregion dienen Delphine sowohl als Nahrungsmittel (ihr Fleisch ist eine Delikatesse) als auch als Köder. Deshalb werden große Mengen von Delphinen gefangen. Die Nachfrage nach Nahrungsmitteln aus den Meeren steigt stetig, und wenn gesetzlich nicht wesentlich mehr als bisher unternommen wird, werden viele Delphinarten aussterben.