KLEINE
Gleb
JUGENDREIHE
Golubew
Der rätselhafte Fund
VERLAG KULTUR UND FORTSCHRITT BERLIN
1963
14. J a h r g a ...
16 downloads
517 Views
652KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
KLEINE
Gleb
JUGENDREIHE
Golubew
Der rätselhafte Fund
VERLAG KULTUR UND FORTSCHRITT BERLIN
1963
14. J a h r g a n g , 1. A u g u s t h e f t
Originaltitel:
Нo.П'длм
негра
Deutsch v o n Erna L i n d e Gekürzte Fassung Umschlag: Werner Ruhner
1. A u l l a g e V e r l a g K u l t u r u n d Fortschritt. B e r l i n W 8, T a u b e n s t r a ß e 10 A l l e R e c h t e v o r b e h a l t e n • L i z e n z - N r . : 3-285 69 63 S a u und Druck: VEB Landesdruckerei Sachsen, Dresden
Bekanntschaft
unter
Wasser
A l s ich im vorigen Sommer aus der A r m e e entlassen wurde, wußte ich für den ersten Augenblick nicht, was ich beginnen sollte, denn ich hatte keine bestimmten Vorstellungen von meinem Lebensweg. Nach Beendigung der Schulzeit war ich erst einmal in das Institut für Kinematographie eingetreten. Warum, das wußte ich selbst nicht. Eine Leuchte war ich dort nicht, und so wechselte ich in eine Fabrik über, wo ich als Elektrikerlehrling arbeitete. Ein Jahr später erhielt ich meine Einberufung zur A r m e e . Nach meiner Dienstzeit war ich auch nicht schlauer geworden. Was für einen Beruf sollte ich bloß ergreifen? Da ich mich nicht entscheiden konnte, fuhr ich erst einmal zu meinem Onkel nach Kertsch. Ich wollte mich dort erholen, ein wenig in der Gegend umherwandern und vor allen Dingen baden. „Du bist mir schon ein Nichtsnutz, Kolja", meinte der Onkel mißbilligend, als ich ohne Einladung bei ihm auftauchte. „Jeder Mensch hat ein Lebensziel, nur du nicht." G e w i ß hatte mein Onkel recht, aber wo sollte, ich's hernehmen? Natürlich glaubte er, daß er selbst richtig lebte. Er arbeitete auf der Wetterwarte in Kertsch, stellte Wettervorhersagen auf, die selten eintrafen, und nach der Arbeit wühlte er in seinem Gärtchen. Oder er schob die Brille auf die Stirn und studierte in dicken Wälzern irgendwelche verrückten Tabellen. Bald wurde es mir zu langweilig bei meinem Onkel, und eines schönen Morgens machte ich mich auf und davon. Mit einem Kutter fuhr ich nach Tusla. Und hier nahm mein großes Abenteuer seinen Anfang. Auf der Insel stehen nur ein paar kleine Häuser, in ihnen wohnen während der Fischfangsaison die Fischer. Was ich zum Essen brauchte, konnte ich jederzeit v o n ihnen erhalten. Ich übernachtete unter freiem Himmel auf dem tagsüber erwärmten Sand. Jeden Morgen brach ich mit meiner selbstgebastelten Harpune zur Fischjagd auf. 3
Eines Tages — ich war gerade getaucht — hörte ich unter Wasser ein lautes Klopfen. Nach kurzer Pause wurde es fortgesetzt: drei kurze Schläge hintereinander, dann eine Pause, dann vier lange Schläge. Das war doch das Morsealphabet! Punkt-Strich-Strich, Pause, Punkt-Punkt, Pause, StrichStrich . . . „Schwimme zu dir", hieß der ganze Satz. ..Punkt-Punkt, Strich-Strich-Strich-Strich, Punkt-StrichStrich, Punkt-Strich, Punkt-Strich-Punkt, Strich, Punkt", klopfte es plötzlich dicht über meinem Ohr: „Ich warte." Wer mochte sich hier unter Wasser unterhalten? Ich sah nichts, das Wasser in der Straße von Kertsch ist so trüb, daß man zeitweise nicht mal die Fingerspitzen an der ausgestreckten Hand erkennen kann. Ich tauchte nach oben und schaute mich um. Unweit von mir stiegen Luftbläschen auf. Ich glitt wieder in die Tiefe, fast bis zum Grund hinab, und entdeckte plötzlich vor mir einen großen Schatten. Neugierig' schwamm ich darauf zu und erkannte die Umrisse eines menschlichen Körpers. Aber erst ganz in der Nähe sah ich, daß es ein Mädchen war. Sie trug nicht nur eine Tauchmaske wie ich, sondern hatte ein Preßluftgerät auf dem Rücken. Sie brauchte also nicht zur Oberfläche zu schwimmen, um Luft zu holen. Die Unbekannte drehte sich mir zu und winkte. Doch als ich dicht heranschwamm, weil ich dachte, sie brauche Hilfe, fuhr sie zurück und hob abwehrend die Hand. Ich wurde aus ihrem Verhalten nicht schlau. Da jedoch die Luft in meinen Lungen zu Ende war, mußte ich auftauchen. Aber ich ließ mich gleich wieder nach unten sinken. Mit Leichtigkeit fand ich das Mädchen wieder. Ich brauchte mich nur nach den Luftbläschen zu orientieren, die wie eine Kette aus ihrem Atemgerät stiegen. Sie war nicht mehr allein. Neben ihr sah ich den zweiten Taucher, einen muskulösen, braungebrannten jungen Mann in einer blauen Badehose. Beide schauten zu mir, tauschten einen Blick miteinander und schwammen langsam dicht über den' Grund davon. Sie beachteten mich nicht weiter, sondern schienen irgend etwas auf dem Meeresgründe zu suchen. Das interessierte mich, und ich folgte ihnen. Hatten sie etwas verloren? Suchten sie einen angeschossenen Fisch? Aber ich sah keine Harpune in ihren Händen. Vielleicht suchten sie gar 4
einen Ertrunkenen, und es war meine Pflicht, ihnen dabei zu helfen. ' Ohne Sauerstoffgerät mußte ich ab und zu nach oben steigen, aber es war hier kaum drei Meter tief, und die beiden schwammen langsam und starrten dabei wie gebannt auf den schlammigen Grund, so daß ich sie jedesmal leicht einholen konnte. Mein Verhalten schien ihnen nicht zu passen. Sie warteten,' bis ich herangeschwommen war. Der Bursche sah wütend aus. aber was konnte er mir schon antun? Für alle Fälle schob ich herausfordernd meine Harpune vor. Da neigte er rasch den Kopf, als wolle er mich anrennen und . . . prustete mir eine ganze Wolke Luftbläschen mitten ins Gesicht. Diese Frechheit traf mich so unerwartet, daß ich fast erstickt wäre und wie eine Kugel nach oben schoß. Während ich Luft holte, gelang es ihnen, ziemlich weit wegzuschwimmen. Außer mir vor Wut, jagte ich hinter ihnen her. Wer weiß, womit diese Geschichte geendet hätte, wenn wir nicht plötzlich auf eine Sandbank geraten wären. Das Wasser ging uns hier bis zur Brust. „Bist du verrückt?" empfing mich der junge Bursche wutschnaubend und schob die Maske auf die Stirn. „Was hängst du dich uns an?" „Und ihr? Was sucht ihr hier eigentlich?" fragte ich meinerseits aufgebracht. „Wer seid ihr überhaupt? Zeigen Sie Ihre Papiere!" „Ich werde dir gleich unsere Papiere zeigen!" gab er zur Antwort und holte zum Schlag aus. Aber das Mädchen — sie hatte noch nicht die Maske abgenommen, sondern nur das Mundstück herausgezogen — packte seinen Arm. „Laß sein, Michail! Wir müssen ihm nur alles erklären." Sie wandte sich an mich und begann auf mich einzureden, als spräche sie mit einem kleinen dummen Jungen. „Weißt du. wir sind nämlich Archäologen, eine ganze Expedition. Wir suchen gesunkene altgriechische Städte, die vor zweitausend Jahren hier an der Küste gestanden haben . . . Und Sie stören uns bei der Arbeil." Dieser lehrmeisterhafte Ton paßte mir ganz und gar nicht. Ich wollte mich nicht so schnell geschlagen geben und wiederholte bockig: „Dennoch müssen Sie irgendwelche Papiere haben!" 5
„Bist du vielleicht ein Milizmann?'' fragte der Bursche spöttisch.Das Mädchen faßte ihn wieder beim Arm und wandte sich besänftigend an mich. „Wo sollen denn Taucher im Badeanzug ihre Papiere stecken haben? Wenn Sie mir nicht glauben, so kommen Sie doch abends zu uns ins Lager — da liegt es, hinter dem Hügel." „Wozu redest du mit ihm?" sagte der junge Bursche abfällig. Er zog sich die Maske übers Gesicht. „Komm, es ist ohnehin bald Mittag." Das Mädchen schüttelte mir die Hand, und beide verschwanden wieder im Wasser. Diesmal blieb ich zurück. Den ganzen Tag ging mir diese Begegnung nicht aus dem Kopf. Ich erinnerte mich dunkel, früher einmal in einer Zeitschrift von Unterwasserarchäologen gelesen zu haben. Nach alten Städten zu suchen, das fand ich plötzlich viel interessanter als hinter erschrockenen Fischen herzujagen. Vielleicht konnte ich zu ihrem Chef gehen und darum bitten, daß er mich in die Expedition aufnahm? Ich war kein schlechter Taucher . . . Am nächsten Morgen, als ich meinen Brotkanten mit Wurst heruntergeschlungen hatte, legte ich meine paar Habseligkeiten in den Rucksack und machte mich auf den Weg ins Lager. Schon von weitem sah ich zwei große orangefarbene Zelte dicht am Wasser. Etwas seitlich von ihnen, unter einem Segeltuchdach, stand ein großer Tisch aus rohen Brettern tief im Sand, daneben ein ebenfalls selbstgefertigter Sommerherd. Auf einer hohen Stange neben einem der Zelte zuckte schlaff ein verschossener Wimpel. Als ich näher kam, rollte mir plötzlich wie ein Knäuel Wolle ein rasend bellendes Hündchen vor die Füße. „Scharik, Platz!" klang eine träge Stimme aus einem der Zelte. Die Zelttür wurde zurückgeworfen und der wuschlige Kopf meines gestrigen Widersachers guckte heraus. Eine Weile starrte er mich ohne eine Spur von Erkennen an, dann verfinsterte sich sein Gesicht. „Was willst du denn hier?" fragte er drohend. „Die Papiere prüfen?" „Ich möchte den Expeditionsleiter sprechen", entgegnete ich ruhig, um Streit zu vermeiden. „Willst dich wohl beschweren, was?" „So wichtig bist du mir nicht, daß ich mir deinetwegen einen 6
so weiten Weg mache. Ich möchte rein dienstlich mit dem Leiter sprechen." „Ich werde dir gleich den Leiter zeigen." Er kroch aus dem Zelt heraus und schrie plötzlich: „Scharik, faß ihn!" Das Hündchen, das fünf Schritte von mir entfernt saß. kläffte unsicher, wedelte aber gleich darauf wie entschuldigend mit dem Stummelschwänzchen. Es war bei weitem gutmütiger als sein Herr. Ich machte kehrt, gab mich dabei aber lässig und selbstsicher, um zu zeigen, daß ich keineswegs den Rückzug antrat. Ungefähr zwanzig Meter entfernt, ließ ich mich dicht am Wasser nieder. Dieser Kerl sollte merken, daß ich bis in alle Ewigkeit auf seinen Chef zu warten gedachte. Und ich mußte wahrhaftig lange warten. Erst saß ich eine Weile, dann legte ich mich hin. Später zog ich das Hemd aus, ja ich badete sogar einmal, wenn auch dicht am Ufer, um meinen Feind im Auge zu behalten. Aber der Bursche ließ mich in Ruhe. Er machte Feuer im Herd, schälte Kartoffeln und kochte das Mittagessen, wobei er mitunter zu mir herübersah. Anscheinend hatte er heute „Stubendienst". Kein Wunder, daß er so schlechter Laune war! Ich saß in der prallen Sonne und ärgerte mich ebenfalls. Es wurde schon Abend, als endlich vom Meer her das ferne Brummen eines Motors ertönte. Es kam näher und näher, und da sah ich auch schon einen kleinen Kutter auf das Ufer zurasen. Scharik begrüßte ihn mit fröhlichem Gebell. Der Motor wurde abgestellt, und der Kulter stieß sanft an den Steg. Zwei Burschen in meinem Alter, braun wie die Neger, machten ihn geschickt mit einem Tau fest. Außer ihnen befanden sich noch zwei junge Mädchen und ein alter Mann mit einem grauen Spitzbärtchen an Bord. Einer der jungen Männer half dem Alten auf den Anlegesteg. Gleich danach sprangen lachend die Mädchen von Bord und schauten neugierig zu mir herüber. „Ah! Da ist doch unser hartnäckiger Verfolger!" rief die Große mit den blonden Haaren. Jetzt erst erkannte ich meine Unterwasserbekanntschaft. Ohne Maske gefiel sie mir weit besser. Ihre lebhafte schwarzbraune Freundin ergriff ihre Hand und flüsterte so laut, daß es alle ringsum hören konnten: „Wer ist das, Swetlana? Wo habt ihr euch kennengelernt?"
„Unter Wasser", antwortete die Blonde und sprang auf den Sand. Sie reichte mir die Hand. „Nun wollen wir uns richtig miteinander bekannt machen. Ich heiße Swetlana." „Nikolai", entgegnete ich mürrisch. „Nikolai Kosyrjow". Sie drückte meine Hand so'fest wie ein Mann. Ihre grünlich schimmernden Augen lachten die ganze Zeit, und ich wich ihnen aus. „Ich möchte den Leiter der Expedition sprechen", knurrte ich. „Das bin ich", rief der alte Mann und reckte angriffslustig sein Bärtchen vor. Neugierig schaute er mich an. „Ich bin ganz Ohr, junger Mann." Das war eine Überraschung für mich. Hatte ich mir doch fest eingebildet, der Leiter einer Unterwasserexpedition müsse ein Hüne, ein vor Gesundheit strotzender Mann sein. Ein Marinekapitän beispielsweise. Mit ihm hätte ich mich leicht verständigen können. So aber stand ich da und schwieg verlegen. Swetlana spöttelte: „Unter Wasser waren Sie aber nicht so schüchtern." Alle lachten. Da kam mir der Expeditionsleiter zu Hilfe. „Wenn ich recht vermute, wollen Sie sich unserer Expedition anschließen?" Er warf einen Blick auf den Rucksack zu meinen Füßen. „Ja", entgegnete ich erfreut. „Und was sind Sie? Archäologe?" „Nein. Ich war . . . in der Armee." „Ausgezeichnet!" rief der alte Mann erfreut. Für alles Militärische hatte der Professor viel übrig. Er war nur kurze Zeit in der Armee gewesen, und es lag schon lange zurück, im ersten Weltkrieg. Dennoch trug er bis zum heutigen Tage bei seinen Ausgrabungen Militärmütze, Stiefel und Reithosen, und er liebte es, wenn man ihm in militärischem Ton, knapp und klar, antwortete. Sogar in seiner Wissenschaft wandelte er auf „Kriegspfaden", er hatte einige äußerst interessante Arbeiten über die Bewaffnung und Taktik der alten Griechen verfaßt. Das alles erfuhr ich natürlich erst später. Im Augenblick freute ich mich nur, daß mein Dienst bei der Armee sich als eine gute Empfehlung erwies. „Und wo haben Sie gedient?" erkundigte sich der Professor weiter. 8
„Bei der Marine", entgegnete ich. Das stimmte nicht ganz. Ich war nur beim Küstenschutz gewesen. Aber was tat das schon, es war ja am Meer. „Großartig! Und Sie verstehen sich aufs Tauchen mit dem Preßluftgerät?" „Jawohl!" „Und wie gut er schwimmen kann!" mischte sich Swetlana verschmitzt lächelnd ein. „Entschuldigen Sie. Ihre Papiere haben Sie doch wohl bei sich?" fragte der Professor. Swetlana prustete vor Lachen. Er schaute sie verwundert an. „Was ist denn?" „Ach nur so, Wassili Pawlowitsch", antwortete sie und zwinkerte mir zu. „Sie wissen ja, daß ich bei jeder Kleinigkeit lache." Mit puterrotem Gesicht holte ich meine Papiere aus dem Rucksack und reichte sie dem Professor. Er sah sie aufmerksam durch. Währenddessen starrte ich auf meine Füße, um den spöttischen Blicken Swetlanas zu entgehen. „In Ordnung." Der Professor nickte beifällig und gab mir meine Ausweise zurück". „Ich werde Sie aufnehmen. Fahren Sie morgen nach Kertsch zur Ärztekommission." Ich wollte einwenden, daß ich kerngesund sei. aber er hob den Finger, schaute mich über seine Brillengläser streng an und sagte: „Ordnung muß sein. Sie sind Soldat, Kosyrjow!" Es war zwecklos, ihm zu widersprechen. Die Ärztekommission entdeckte an mir keinen Makel, und am Abend des folgenden Tages traf ich wieder im Lager ein. Alle begrüßten mich wie einen der Ihrigen, nur Michail Aristow machte einige giftige Bemerkungen, die ich jedoch überhörte. Die übrigen jungen Leute fand ich recht nett. Ein hochaufgeschossener, ungelenker Bursche hieß Pawlik Borsunow. Mit ihm freundete ich mich schnell an. Er erwies sich als prächtiger Kamerad, war zurückhaltend und gutmütig. Wenn er sprach, geriet er leicht in Eifer und fuchtelte wie wild mit seinen langen Armen umher. Bisweilen machten wir uns darüber lustig, aber er nahm es nicht übel. Der andere junge Mann hieß Boris Smirnow. er erregte sich häutig über Kleinigkeiten, obwohl er schwerfällig und wortkarg war. ja sogar ein wenig verschlafen wirkte. Swetlana, ihre Freundin NatVscha, Michail und Pawlik stan-
den im vierten Studienjahr. Boris aber, der jüngste, war Fernstudent. Tagsüber arbeitete er als Schlosser in einer Fabrik. Jetzt aber hatte er Urlaub. Am nächsten Tag ließen wir Boris als „Mann vom Dienst" zurück, setzten uns in den Kutter und fuhren die Küste entlang. Bald gab Professor Kratow das Kommando, vor Anker zu gehen, und wir machten uns zum Tauchen fertig. Ich wußte, daß mich Wassili Pawlowitsch heimlich beobachten würde, und zog mich daher in aller Ruhe um. Pawlik half mir. die zwei schweren Stahlllaschen auf dem Rücken festzumachen; der Luftvorrat darin reicht für zwei volle Stunden, im Wasser ist diese Last kaum zu spüren. Dann schnallte ich an den Gürtel eine Metallscheide, in der ein Dolch mit einem Korkgriff steckte; dieser Dolch versinkt nicht im Wasser, sondern steigt nach oben, wenn er einem versehentlich entgleitet. Wozu brauchen wir einen Dolch, dachte ich, es gibt doch keine Haie im Schwarzen Meer. Um das linke Handgelenk band ich noch eine wasserdichte Uhr und um das rechte einen extra kleinen Kompaß. Auf Gewichte verzichteten wir, weil das Wasser hier nicht tief war. Nachdem ich meine Füße in die Flossen gezwängt hatte, setzte ich mir die Maske auf. Jetzt war ich bereit. Unsere Aufgabe war einfach. Wir sollten in einiger Entfernung voneinander eine bestimmte Strecke dicht über dem Grund entlangschwimmen und auf Ziegelstücke, behauene Steine oder Scherben altertümlicher Tongefäße achten. Wir ließen uns nacheinander vom Fallreep aus ins Wasser gleiten. Ich tauchte hinter Swetlana und versank rasch in die Tiefe. Sofort packte mich das wohlbekannte aufregende Gefühl der Befreiung von der Erdenschwere. Ich schwebte wie ein Vogel, konnte Purzelbäume schlagen, mit dem Kopf nach unten hängen — die Anziehungskraft der Erde hatte keine Macht mehr über mich. Übrigens war ich fest davon überzeugt, ich würde gleich einen versunkenen alten Tempel oder zumindest die Ruinen eines Palastes entdecken. Aber ich fand nichts, nicht einmal ein Stück Ziegel, obwohl ich so eifrig den Schlamm aufwühlte, daß sich das Wasser rings um mich trübte. Ich schämte mich, mit leeren Händen zurückzukehren. Doch, als ich sah, daß die anderen auch nicht mehr Glück hatten, beruhigte ich mich. 10
An diesem Tage tauchten wir noch dreimal, aber ebenfalls ohne Erfolg. Auch die nächsten Tage fanden wir nichts. Ich hätte gern genauer erfahren, wonach wir eigentlich suchten, aber törichterweise genierte ich mich zu fragen. Insgeheim hoffte ich, aus den Unterhaltungen der anderen die mir mangelnden Kenntnisse zu erwerben. Außerdem wollte ich Bücher lesen, wenn ich nach Kertsch kam. Ich täuschte mich nicht. Abends, am Lagerfeuer, drehten sich alle Gespräche um unser ergebnisloses Suchen, und während ich zuhörte, wurde mir manches versländlich. Vor über zweitausend Jahren lebten auf der Krim Nomaden — Skythen und andere Stämme. Griechische Seeleute fanden den Weg zu der Halbinsel, trieben Handel und errichteten hier später einige ihrer Kolonien. So entstanden an den Küsten des Schwarzen Meeres, das die Griechen Pontos Euxeinos — gastfreundliches Meer — nannten, Olbia neben dem heutigen Nikolajew und Chersonesos. dessen Ruinen unweit von Sewastopol noch erhalten sind, sowie andere Städte. Besonders viele griechische Städte wurden zu beiden Seiten der Straße von Kertsch gegründet. Sie hieß damals auf griechisch Kimmerischer Bosporus. Vor dem drohenden Einfall der Sk> then schlössen sich diese Städtchen zum Bosporanischen Reich zusammen. Die Hauptstadt war Pantikapaton, das heutige Kertsch. Von hier aus führten die Schiffe Getreide. Fische, Pelzwerk und an Ketten gefesselte Sklaven nach Griechenland aus. Das Bosporanische Reich existierte fast tausend Jahre, bis es schließlich dem Ansturm der Nomadenstämme erlag. Die alten Städte wurden zerstört. Jetzt graben die Archäologen sie wieder aus und machen sich nach den Funden ein Bild von dem Leben unserer fernen Vorfahren. , Im Laufe der Jahrhunderte hat sich der Meeresspiegel gehoben, die Ruinen einiger alter Städte ruhen nun auf dem Meeresgrunde. Nach diesen Ruinen suchte Professor Kratow mit seiner Expedition. Ich erfuhr, daß sie hier nicht das erste Jahr arbeiteten. Sie waren bereits auf die Reste der griechischen Stadt Hermonassa gestoßen. Nach einigen Tagen, als ich mich schon ein wenig in der Geschichte dieser Städte auskannte, faßte ich den Mut, eine Frage an unseren Professor zu richten. 11
„Wassili Pawlowitsch. ist denn auf dem Meeresgrund wirklich viel erhalten geblieben? Inzwischen sind doch wer weiß wie viele Jahrhunderle vergangen. Vielleicht hat sich schon alles aufgelöst?" „Wo denkst du hin, mein Lieber!" antwortete er. „Ich möchte sogar behaupten, daß im Meer die Altertümer weit besser erhalten bleiben als auf dem Land. Die Menschen graben in der Erde, bauen Hauser. pflügen die Felder und radieren dabei die Spuren der vergangenen Zeitalter aus. Aber im Meer haben die Ruinen ihre Ruhe. Schnell decken Sand oder Schlamm sie zu, und sie bleiben uns Jahrtausende erhallen." „Ein griechisches Schiff müßten wir finden!" meinte Pawlik nachdenklich und stocherte mit einem knorrigen Stock im Feuer. Ein Schwärm Funken stob in den Nachthimmel. „Apropos. Schiff", fuhr der Professor fort. „Gestern erzählten mir Fischer, daß sie mit dem Netz an einer Stelle hin und wieder echte griechische Amphoren aufgefischt hätten. Bei der Magdalenenbank. wie sie behaupten. In diesen Tagen fährt ein Kutter dorthin zum Auskundschaften von Fischplätzen. Ich werde den Kapitän bitten, sie sollen das Netz ein paarmal über den Grund ziehen." Amphoren auf dem Meeresgrund .. . Vielleicht lag dort wirklich ein altes griechisches Schiff? „Wassili Pawlowitsch . . .", begann Swetlana bittend, und wir alle bestürmten ihn, keine Zeit zu verlieren. Die Fischer würden es ganz bestimmt nicht ablehnen. Kratow war anscheinend selbst der Ansicht, daß den Gerüchten über die Amphoren nachgegangen werden mußte. „Gut", sagte er. „Morgen werde ich in Kertsch vorsprechen. Aber jetzt müssen wir schlafen gehen."
Das Geheimnis der Magdalenenbank In aller Frühe brachen wir schnell das Lager ab und fuhren nach Kertsch. Wir hatten erstaunliches Glück. Schon am nächsten Morgen sollte ein Schirl auf Suche nach Fischplätzen an die kaukasische Küste fahren; es würde die Magdalenenbank passieren und könnte sich dort kurze Zeit aufhalten. Wir begrüßten diese Nachricht, die uns Kratow aus der Fischereiver12
waltung mitbrachte, mit lautem Hurra. Aber er dämpfte unseren Jubel und meinte: „Freut euch nicht zu früh, die Fahrt kann auch völlig negativ ausfallen. Wir dürfen unsere Hauptaufgabe nicht hintanstcllen. Deshalb werde ich nur zwei mitnehmen . . ." Hier hielt er inne und umfaßte unsere Gesichter mit einem nachdenklichen Blick. „Nun. sagen wir Borsunow und . . . Kosyrjow. Alle anderen bitte ich. bis zu unserer Rückkehr sämtliche Wirtschaftsangelegenheiten unserer Expedition zu erledigen. Michail Aristow wird mich vertreten.'' „Du hast Glück!'' brummte der neben mir stehende Michail. „Obgleich mir klar ist, warum dich der Alte mitnimmt. Er fürchtet, du könntest ohne ihn eine Dummheit anstellen." Auf diese Bosheit antwortete ich. daß er sich nur ärgere, weil er nicht mitfahren dürfe. Dafür erlaube ihm aber Professor Kratow. den Vorgesetzten zu spielen. Das 'Schiff war ein gewöhnlicher mittelgroßer Trawler und hieß „Almas". Als wir am nächsten Morgen an Bord gingen, empfing uns die gesamte Besatzung. Der Kapitän trug eine schwarze Schirmmütze mit einem Seeabzeichen, sonst sah er aber gar nicht nach einem Kapitän aus. Er war nicht mehr jung, dick, hatte ein Trikothemd und Segeltuchhosen an. Man konnte ihn eher für einen Buchhalter auf Urlaub halten als für einen Seebären. Ebensowenig seemännisch schauten die übrigen Mitglieder der Besatzung aus. Ich hatte mir eingebildet, sie müßten Uniform tragen. Aber hier zog sich jeder an, wie es ihm geliel — bis auf das Matrosenhemd, das bei jedem aus dem Halsausschnitt lugte. Langsam blieb die Küste in der Ferne zurück. Das Meer leuchtete im Sonnenglanz. Hinter dem Heck über den mit Schaum bedeckten trüben Wogen schössen Möwen dahin. „Dai, dai, dai . . . " , schrien sie mit ihren klagenden, schrillen Stimmen. Nach einer knappen Stunde näherten wir uns der Magdalenenbank. Die Fischer machten das Schleppnetz fertig, es sah wie ein riesiger Sack aus. Dann zogen sie Segeltuchanzüge an. hohe Stiefel und nahmen Gaffhaken in die Hand. Auf ein Kommando des Kapitäns flog das Netz mit einem Schwung über Bord. Das Schiff verringerte merklich die Geschwindigkeit. Nach einer halben Stunde wurde das Netz eingeholt, ein spannender 13
Augenblick selbst für alle erfahrene Fischer. Alles strömte an Deck. Nicht nur uns stockte das Herz in Erwartung eines ungewöhnlichen Fanges. In einem silbernen lebendigen Strom ergossen sich die Fische aufs Deck. Wir wollten näher herantreten, doch ein Anruf des Trawlmeisters hielt uns zurück. Was für Fische es gab! Die prächtigen großen Störe fielen uns zuerst in die Augen. Sie schnellten auf dem nassen Deck hoch und schnappten mit ihren runzligen Greisenmäulern gierig nach Luft. Wie schwere leblose Platten lagen die großen Schollen, als wollten sie die Menschen durch ihre Starre täuschen. Der Trawlmeister zerrte mit dem Gaffhaken einen platten Fisch heraus, der wie eine Scholle mit einem langen Schwanz aussah, und warf ihn über Bord. „Ekelhaftes Biest", erklärte er uns. „Gebe Gott, daß man ihm nicht unter Wasser begegnet. Haltet euch fern, erst muß ich sie hinauswerfen . . ." Er pikte ebenso rasch mit seinem spitzen Haken noch einige dieser Fische an und warf sie ins Meer. Ich konnte sie mir nicht einmal ordentlich ansehen. Als die gefährlichen Fische aussortiert waren, verteilten die Matrosen die übrigen auf verschiedene Körbe. Langsam leerte sich das Deck. Im Netz blieben nur noch Büschel abgerissener Wasserpflanzen mit darin versteckten kleinen Fischen. Wir zogen Segeltuchhandschuhe an und wühlten den Haufen um und um, fanden aber nichts Interessantes für uns. Das Meer hatte uns nicht einmal den Scherben einer Amphora beschert. ..Ärgern Sie sich nicht, das klappt nicht auf Anhieb", tröstete uns der Kapitän. „Wir werden das Netz noch einmal auswerfen." Und wieder glitt das Schleppnetz in die Tiefe. Wassili Pawlowitsch verfolgte das Manöver mit der gleichen Anteilnahme wie vorher, mich aber fesselte es diesmal nicht. Es kam auch wirklich nichts außer zappelnden Fischen und verschiedenartigen Muscheln zutage. Zuerst half ich noch beim Sortieren des Fangs, dann streckte ich mich am Bug aus. Die Arme unter den Kopf verschränkt, starrte ich in den dunkler werdenden Himmel und wünschte, ich könnte bald wieder bei der Insel Tusla tauchen. Erregtes Stimmengewirr brachte mich auf die Beine. Alle umstanden das Netz. Ich rannte hin und drängte mich zu 14
Wassili Pawlowitsch durch. Er drehte eine große, merkwürdig aussehende Muschel in den Händen und betrachtete sie aufmerksam. ..Drin Ton nach zu urteilen und der Art des Brennens stammt sie nicht aus Pantikapaion", murmelte er. „Aber woher dann?" Jetzt sah ich. daß der Professor keine Muschel hielt, sondern ein gewölbtes Stück Ton vom Bauch einer. Amphora. Die Scherbe hatte eine auffallende Ähnlichkeit mit einer Muschel, weil sie mit einer feinen, grünlichbraunen Wasserpflanze wie mit Moos bewachsen war. „Halten Sie bitte mal. aber vorsichtig.'' Er übergab mir das Bruchstück, fuhr mit der Hand hastig in seine Kartentasche, von der er sich meiner-Meinung nach nicht mal im Schlaf trennen konnte, und zog ein Skalpell heraus. Mit der scharfen Spitze des Messerchens kratzte der Professor vorsichtig die Wasserpflanzen ab. Als er die Scherbe gesäubert hatte, war klar und deutlich ein häßlicher Kopf mit zerzausten langen Haaren zu sehen. „Die Medusa Gorgo, sehr interessant!" meinte Wassili Pawlowitsch. Ja, es gab keinen Zweifel — das war der schreckliche Kopf der sagenhaften Medusa. Ich hatte zwar niemals vorher eine solche Abbildung gesehen, kannte aber die Sage von Perseus' Heldentat: Er schlug diesen Kopf ab, den kein Sterblicher anschauen durfte, ohne zu versteinern. Was ich auf den ersten Blick für wirre Haare hielt, waren zischende Giftschlangen. Welchen Sinn mochte diese Zeichnung wohl haben? Ich fragte Wassili Pawlowitsch danach. „Das ist schwer zu sagen", meinte er. „Vielleicht Ist es nur eine Art Fabrikstcmpel, das Zeichen des Meisters, der diese Amphora herstellte, oder es handelt sich um ein persönliches Zeichen des Besitzers . . ." Diese prosaische Erklärung enttäuschte mich. Aber was der Professor dann sagte, fesselte mich wieder. „Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, haben wir bisher noch keine Amphora mit einem derartigen Stempel gefunden. In den Städten des Bosporanischen Reiches gab es in der Regel überhaupt keine Stempel. Ich will sehen, ob darüber etwas in den Büchern steht. Dann werden wir wissen, woher dieses Schiff kam . . . " 15
„Welches Schiff?" Ich verstand ihn nicht. „Das griechische! Allem Anschein nach sind wir auf ein griechisches Schiff gestoßen." „Sie glauben also wirklich, daß hier ein Schiff gesunken ist?" fragte Pawlik. der bisher schweigend zugehört hatte, mit stokkender Stimme. „Natürlich", bestätigte Wassili Pawlowitsch. „Wir sind weit von der Küste entfernt, die Tiefe beträgt achtzehn Meter. Die Küste senkt sich nicht so beträchtlich, eine Stadt kann hier unten nicht liegen. Da hier außer dieser Scherbe bereits ganze Amphoren aufgefischt wurden, sind wir vermutlich auf ein gesunkenes Schiff gestoßen . . . Und dafür gebührt vor allem Ihnen der Dank, liebe Freunde!" IVat diesen Worten verbeugte er sich feierlich nach allen Seiten. Dem Kapitän schüttelte er lange die Hand. Ich konnte es nicht mehr aushalten und beschloß, den Stier bei den Hörnern zu packen. „Wassili Pawlowitsch, erlauben Sie, daß wir uns zum Tauchen bereitmachen?" Er schien nicht zu verstehen. „Tauchen?" „Wollen wir denn nicht das versunkene Schiff suchen?" „Gewiß, aber doch nicht heute. Wir müssen mit der ganzen Expedition hierherkommen." „Nur ein einziges Mal. zum Auskundschaften!" bettelte ich. Gewiß konnte es Wassili Pawlowitsch ebensowenig wie ich erwarten, nach dem Schiff zu suchen, aber er bezeugte wie stets Vorsieht und Vernunft. „Nein, getaucht wird nur gemeinsam", erklärte er. Die Stelle, wo die Scherbe mit dem Kopf der Medusa Gorgo gefunden wurde, ließ der Kapitän mit einer hellroten Boje kennzeichnen. Dann nahmen wir herzlich Abschied von den Fischern, und ein Boot brachte uns zur Küste. Nach einer Woche kehrte die „Almas" von ihrer Fahrt zurück. Bevor sie wieder auslief, mußten die fälligen Reparaturen an den Maschinen durchgeführt und der Anstrich erneuert werden. Wir sprachen mit den Seeleuten. Die Suche nach den Resten des griechischen Schiffes reizte sie sehr, und sie überredeten ihre Vorgesetzten, all die anfallenden Arbeiten auf offener See ausführen zu dürfen. So geschah es. daß wir mit der „Almas" ein zweites Mal zur Magdalenenbank fuhren. Aus Moskau war ein neuer Unterwassertelevisor eingetroffen. Bevor er zum Iii
Suchen von Fischschwärmen eingesetzt wurde, mußte er erst einmal ausprobiert werden. Deshalb gab man die Anlage dem Kapitän der „Almas" mit. Schon von weitem leuchtete uns die rote Boje entgegen. Neben ihr warfen wir Anker. Die Sonne sank bereits, aber keiner von uns wollte bis zum Morgen warten, und diesmal erhob Wassili Pawlowitsch keine Einwände. Wir ließen uns zu zweit hinab. Das erste Paar waren Michail und Swetlana, das zweite — Pawlik. und ich. Natascha und Boris blieben an Bord, um uns bei.Gefahr zu Hilfe zu eilen. Eine dünne Signalleine verband uns mit ihnen. Wir mußten ziemlich tief tauchen, deshalb hängte sich jeder von uns Bleigewichte an den Gürtel. Ich biß fest auf das Mundstück und ließ mich ins Wasser. Ungefähr in einer Tiefe von sechs Metern fühlte ich einen Schmerz in den Ohren. Ich drückte die Maske ans Gesicht und atmete kräftig durch die Nase aus. Gleichzeitig schluckte ich einige Male. Die Ohren waren „durchgeblasen", der Schmerz ließ sofort nach, und bald spürte ich ihn überhaupt nicht mehr. Diese Erscheinung tritt nur bei den ersten zehn Metern auf, da sich hier der Druck im Vergleich zur Atmosphäre verdoppelt. Beim Tiefersinken nimmt er langsamer zu, und der Organismus erträgt ihn leichter. Je tiefer ich tauchte, desto auffälliger veränderte sich das Licht um mich. Allmählich verlor es seine warme, orangefarbene Tönung. Eine bläulichgrüne Dämmerung umfing mich. Dann wurde es plötzlich heller: So ist es immer, wenn man sich dem Grund nähert, sicherlich wirft er einen Teil der Lichtstrahlen zurück. Ich klammerte mich an einen Busch Wasserpflanzen und schaute mich um. Von oben glitt ein Schatten auf mich zu. Das war Pawlik. Ich bat ihn durch Zeichen, nach rechts zu schwimmen, und wandte mich nach links. Nach dem trüben Wasser in der Straße von Kertsch war es hier geradezu ideal durchsichtig. Den felsigen Grund bedeckte kein widerwärtiger glitschiger Schlamm, sondern eine dünne Schicht heller Sand. Jedes Steinchen hob sich klar ab. Dennoch schwamm ich langsam, glitt durch die Wasserpflanzen und stocherte in jedem winzigen Sandhügel. Vielleicht verbarg sich darunter eine Amphora oder ein Überrest des Schiffes. 17
Die Signalleine ruckte dreimal scharf an. Sollten die fünfundvierzig Minuten bereits verflossen sein? Ich kennzeichnete die Stelle, wo ich zu suchen aufgehört hatte, mit einem Kreuz aus Steinen. Darauf zog ich dreimal kräftig an dem Seil: Ich hatte das Signal verstanden und kam nach oben. Der Aufstieg mußte langsam erfolgen, damit der Stickstoff, der vom Körper aufgenommen wird, bei nachlassendem Druck nicht in Form von Bläschen in das Blut tritt und wichtige Blutgefäße verstopft, was zu der gefährlichen Caissonkrankheit führt. Davor hatte man mich bereits nachdrücklich gewarnt, als ich das Tauchen lernte. Kratow würde bestimmt mit der Stoppuhr am Fallreep stehen und peinlich genau prüfen, ob wir uns an die Vorschrift hielten. Um ihn nicht zu erzürnen, nahm ich mir zum Aufstieg drei Minuten Zeit, genausoviel, wie gefordert wurde. Michail und Swetlana saßen bereits an der Reling und ließen die Beine über Bord baumeln. Er trank heißen Tee, sie aß die Schokolade, die uns nach jedem Tauchen zustand. An den Mienen der beiden sah ich sofort, daß auch sie nichts gefunden hatten. Drei Tage lang tauchten wir von früh bis spät, ohne auf die geringsten Anzeichen eines gesunkenen Schiffes zu stoßen. Der Techniker Kostja. der den Unterwassertelevisor in Gang bringen sollte, hatte sich seit Tagen in einer Ecke des Decks abgekapselt und quälte sich dort mit Leitungen, Röhren und Projektoren herum. Endlich erklärte er, alles sei bereit, die erste Sendung könne stattfinden. Der Empfänger wurde in der Messe aufgestellt und alle Bullaugen, bis auf ein einziges, verhängt. , Die Messe war gedrängt voll. Gegenüber dem Bildschirm saßen Wassili Pawlowitsch und der Kapitän. Es gelang mir, mich dicht neben ihnen hinzuhocken, so daß ich den Bildschirm gut sehen konnte. Plötzlich wurde er von einem bläulichen Schein erhellt. In einer Ecke wurde ein kleiner Fisch mit Glotzaugen sichtbar. Für uns Taucher war das Bild natürlich eine matte und graue Kopie der Unterwasserwelt, aber für die anderen Zuschauer schien es ein märchenhafter Anblick zu sein. Von allen Seiten klangen erregte und bewundernde Ausrufe: „Sieh, eine Meeräsche!" „Und dort eine Meduse!" „Ha, wie sie abhaut!" Meiner Meinung nach war es nicht die Qualle, die sich so 18
schnell bewegte, sondern die Fernsehkamera. Bald erreichte sie' den Grund und glitt langsam und in schräger Stellung dicht über dem Meeresboden dahin. Wir alle hielten den Atem an und ließen keinen Blick vom Bildschirm. Aber es gab nichts Auffälliges zu sehen. Die Kamera machte kehrt, auf den Bildschirm traten jäh abfallende Klippen. „Lassen Sie die Kamera hinab", bat Kratow stockend. Leicht schwankend glitt sie die steile Wand entlang in die Tiefe. Wir sahen immer weniger Wasserpflanzen an der Felswand, und immer seltener tauchten kleine Fische auf. Allmählich wurde das Bild dunkler, das Licht der Projektoren durchdrang nur mit Mühe die sich verdichtende Unterwasserdämmerung. Da! Auf einmal hellte sich der Bildschirm merklich auf. Kostja ließ die Kamera wieder schräg stellen, und die Projektoren beleuchteten ein kleines Stück Meeresgrund, so an die zehn Meter im Quadrat, nicht mehr. Rasch tasteten unsere Augen alles ab, was es auf diesem Fleckchen zu sehen gab: zwei Felsblöcke, die aus dem Sand ragten, eine einsame Seeanemone, die träge ihre Fühler bewegte, und einen kleinen Sandhügel. Der Sandhügel hatte eine merkwürdige längliche Form. Ich stutzte. Was mochte dort, unter dem Sand, verborgen sein? Ein herabgestürzter Felsbrocken? Eine Amphora? Es juckte mir in den Fingern, den Sand aufzuwühlen. Das Hügelchen hatte aber nicht nur meine Aufmerksamkeit erregt. Michail sprang auf und zerriß die andächtige Stille: „Wir müssen sofort nachprüfen, was dort liegt! Wassili Pawlowitsch, erlauben Sie mir zu tauchen!" „Warum gerade du?" brauste Swetlana auf. Kratow hob die Hand. „Pst, pst! Troflm Danilowitsch, wie tief ist es da?" wandte er sich an den Kapitän. Dieser wollte antworten, doch Kostja kam ihm zuvor und teilte mit, was seine Geräte anzeigten: „Neunundzwanzig Meter!" Kratow biß sich auf die Lippen. Wir sechs schauten flehend zu ihm hin. „Wassili Pawlowitsch, während unserer Ausbildung sind wir doch noch tiefer getaucht!" sprach Swetlana mit bittender Stimme. 19
Kratow schaute sie an, dann den Kapitän, runzelte die Stirn und begann in seiner unentbehrlichen Tasche zu kramen. Was mochte er suchen? Jemand knipste das Licht an. Der Professor holte die Drucktabelle heraus und vertiefte sich darin. Jeder von uns wußte auswendig, wieviel Minuten man mit dem Preßluftgerät in dieser oder jener Tiefe zubringen durfte. „Gut", sagte der Professor schließlich. „Nur müßt ihr euch streng an die Vorschriften halten. In dieser Tiefe darf man nicht länger als fünfzehn Minuten bleiben . . ." „Wieso fünfzehn? Fünfundzwanzig", warf ich ein. Ich wußte genau, was in der Tabelle stand. „Weil ich es so anordne!" unterbrach mich Kratow streng. „Ist alles klar? Aristow taucht, Bofsunow und Smirnow sichern ihn." Michail, Boris und Pawlik sprangen auf und stürzten zur Tür. Mißmutig blickte ich ihnen hinterdrein. Ich verstand nicht, worüber sich Pawlik und Boris so freuten. Wehn man ihnen erlaubt hätte zu tauchen, anstatt diesen albernen Aristow zu sichern, der sich immer so vordrängte! In der Messe wurde das Licht ausgeschaltet, und alle wandten sich wieder dem Bildschirm zu. Einige Minuten lang änderte sich nichts am Bild. Dann schwankten die Fühler der Seeanemone heftiger, über den Sand legte sich ein Schatten und Michail erschien, umschwärmt von einer Wolke Luftbläschen. Meiner Meinung nach blies er absichtlich mehr Luft aus, aber es gab wirklich einen hübschen Anblick. Aristow wühlte das Hügelchen auf^ und wir alle hielten den Atem an. Zu unserem Ärger kehrte er uns den Rücken zu. Selbst Wassili Pawlowitsch wurde unruhig. Ach, wenn ich doch an Michails Stelle wäre! Aber da drehte er sich der Kamera zu, und alle brachen in lautes Staunen aus. Aristow hielt in seinen Händen eine völlig unversehrt gebliebene Amphora. Das griechische Schiff war gefunden! Jetzt zweifelte niemand mehr daran. Wir ließen sofort den Televisor im Stich und eilten aufs Deck, um die wundervolle Amphora, die so viele Jahrhunderte in der Dämmerung der Meerestiefe geruht hatte, mit eigenen Augen zu sehen. Michail tauchte bald auf, vor sich, in den ausgestreckten Händen, seinen Fund. Die Amphora war groß, fast einen Meter hoch. Boris Smirnow stand auf dem Fallreep, bis zu den 20
Knien im Wasser, und nahm den kostbaren Fund entgegen. Vorsichtig reichte er ihn an Kratow weiter. „Zwei Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung", sagte Kratow, die Amphora hin und her drehend. „Aber die Werkstatt ist nicht im Bosporanischen Reich zu suchen, ebenso wie bei den anderen Scherben. Woher mag die Amphora stammen?" Wie unser Professor es verstand, die vor vielen hundert Jahren gestorbenen Meister an der Qualität und der Zusammensetzung des von ihnen gebrannten Tons zu erkennen, überraschte uns stets von neuem. Die Amphora wurde vorsichtig in eine dicke Schicht Watte gewickelt und Wassili Pawlowitsch trug sie eigenhändig in seine Kajüte. Uns zog es natürlich mit Macht ins Wasser. Aber wie immer dämpfte der Professor unseren Eifer. „Bei unseren Ausgrabungen kommt es auf strengste Ordnung an", sagte er. „Die Studenten müßten das wissen! Wir suchen keine Schätze, sondern erforschen das Leben, die Sitten und Bräuche längst vergangener Zeiten. Die geringste Ungenauigkeit bei den Ausgrabungen kann zu nicht wiedergutzumachenden Irrtümern führen." Abends rief uns Wassili Pawlowitsch in der Messe zusammen, um „großen Kriegsrat" abzuhalten. Dort saßen wir drei Stunden und arbeiteten bis ins kleinste einen Plan aus. Am nächsten Morgen, Punkt neun Uhr, traten wir sechs an der Reling an. Wassili Pawlowitsch prüfte jede einzelne Ausrüstung und nörgelte an diesem und jenem herum. Dann durfte das erste Paar — Michail und Natascha — den Taucheranzug anlegen, eine höchst unbequeme Kostümierung aus einem Gummihemd und ebensolchen Hosen. Darunter mußte warme wollene Wäsche getragen werden. Das Reglement schrieb eine solche Kleidung für Wassertemperaturen unter 16 Grad vor. Michail war zuerst fertig und stieg das Fallreep hinab. Natascha schaute auf seine ungeschickten Bewegungen und kicherte. „Hör auf, du siehst nicht besser aus", beschwichtigte sie Swetlana und fügte, sich herausfordernd an Kratow wendend, hinzu: „Keine zehn Pferde bringen mich in so einen Panzer!" „Wie du willst", entgegnete Wassili Pawlowitsch sanft. „Dann mußt du eben auf Deck bleiben." Unsere Freunde verschwanden im Wasser. Die stetig tiefer -
21
gleitende Signalleine in der Hand, lehnten Swetlana und ich über der Reling und versuchten, die Kameraden zu beobachten. Aber die Tiefe hatte sie bereits verschluckt. Wir konnten es kaum erwarten, sie abzulösen. Die Zeit verstrich oben viel langsamer als unter Wasser. Mich verdroß es jedesmal, daß ich so schnell wieder nach oben mußte. Jetzt konnte ich es gar nicht erwarten, Michail und Natascha heraufzurufen. Endlich waren Swetlana und ich an der Reihe. Unten leuchteten zwei verschwommene Lichtflecke, die Projektoren, die an der Televisoranlage aufgehängt waren. Wir schwammen direkt auf sie zu und trennten uns dort. Der Grund war sandig und eben, in so einer Tiefe wachsen nur wenige Wasserpflanzen. Ich achtete streng darauf, nicht die kleinste Erhebung zu übersehen. An die fünf Stück grub ich aus, fand aber nichts von Wert. Manche dieser Hügelchen verbargen merkwürdige kleine Höhlen, die sich irgendein Meeresbewohner gebaut hatte, und eins bewegte sich plötzlich, als ich die Hand danach ausstreckte: Es war eine große Krabbe, die seitlich in eine Felsspalte entschlüpfte. Ein dreimaliges kräftiges Reißen an der Signalleine rief mich nach oben. Ich wollte noch ein wenig unten bleiben, aber schon ruckte die Leine erneut an, straffer und fordernder. Ich durfte Wassili Pawlowitsch nicht erzürnen. Langsam stieg ich aus dem dämmrigen Mondlicht der Tiefe zum hellen Licht der Sonne empor. Und was sah ich, als ich das glitschige Fallreep hinaufkletterte? Alles scharte sich um Wassili Pawlowitsch, der ein kleines Figürchen in der Hand hielt. Und neben ihm, in der stolzen Pose des Siegers, stand Swetlana, die sogar vergessen hatte, wie lächerlich und unförmig sie im Taueheranzug ausschaute. Ich kroch schnell aus meinen Sachen und gesellte mich zu den Kameraden. Die kleine Statuette wanderte von Hand zu Hand. Sie stellte einen jungen rundgesichtigen Menschen dar, der mit zurückgeworfenem Kopf über das ganze Gesicht lachte. Seine Haltung wirkte so echt und lebendig, daß wir unwillkürlich lächeln mußten. „Zusammengewachsene, dichte Brauen, platte Nase. Das ist gewiß ein Satyr", meinte Wassili Pawlowitsch und strich mit zitternden Fingern über den wundervollen Fund. „So werden 22
diese Walddämonen, die ständigen Begleiter des Gottes Dionysos, immer dargestellt. Was für eine feine Arbeit das ist! Du hast uns wirklich was Hübsches heraufgeholt, Swetlana. Wenn ich nur wüßte, ob diese Statuette aus Griechenland kommt oder ob sie ein hiesiger Meister geformt hat?" „Meiner Meinung nach kann sie nur aus Griechenland sein", sagte Swetlana. „Hier, in den Kolonien, werden sie wohl kaum so schöne Sachen gemacht haben." Wassili Pawlowitsch lachte. „Du willst nur den Preis deines Fundes in die Höhe schrauben, meine Liebe", entgegnete er. „Aber für die Wissenschaft ist es von größerem Wert, wenn sich erweist, daß dieses Figürchen hier hergestellt wurde." Er dachte nach und fügte dann hinzu: „Ich glaube nicht, daß die Seeleute jener Zeit in der Regel Kunstgegenstände bei sich hatten. Vermutlich war der Besitzer dieser Statuette ein gebildeter Mensch und ein Freund der Kunst. Vielleicht haben wir Glück und finden sogar eine . . ." Er verstummte plötzlich mitten im Satz. „Was sollen wir finden?" fragten wir durcheinander. „Welche Funde erwarten Sie? Sagen Sie es bitte, Wassili Pawlowitsch!" Aber unser Professor lächelte nur verlegen. „Nein, nein, wir haben keine Zeit zum Träumen, meine Freunde. Wir wollen lieber weitermachen. Wer ist an der Reihe?" Boris und Pawlik meldeten sich. Wir halfen ihnen, die Taucheranzüge überzustreifen. Als sie im Wasser verschwunden waren, sagte Wassili Pawlowitsch unerwartet: „Wenn ich doch selbst dahinunter könnte, in die Tiefe. . . Ach, habt ihr's gut, ihr Jungen, ihr! Aber was wißt ihr schon davon!" Er winkte bitter ab und lief eilig in seine Kajüte. Wir schauten ihm stumm nach. Swetlanas Fund war nicht der letzte an diesem Tag. Wir tauchten noch dreimal und kehrten fast nie mit leeren Händen zurück. Am Abend lagen zwölf unversehrte Amphoren auf Deck. Eine hatte sogar einen Harzpfropfen im Hals, und wir stellten Vermutungen an, was in ihr enthalten sei. Sie war ziemlich schwer, und wenn man sie schüttelte, gluckerte es innen. Aber so sehr wir auch bettelten, Kratow ließ sich nicht erweichen, sie zu öffnen. „Im Labor, im Labor", wiederholte er. Auf einem großen Stück Segeltuch, das wir am Mast ausgebreitet hatten, lag ein beachtlicher Haufen Tonscherben. Natür23
lieh war es angenehmer, ganze Amphoren zu finden, aber wir ließen uns keine einzige Scherbe entgehen. Wassili Pawlowitsch schaute sich jede genau an, und die ihm am interessantesten dünkten, legte er extra. Pawlik hatte Glück; er fand einen kupfernen, mit Grünspan überzogenen und stark von Salzwasser zerfressenen Angelhaken. Am nächsten Tag holten wir achtundsechzig heile Amphoren herauf, am dritten — neunundvierzig. Außerdem fanden wir gebogene Kupferscheiben, die vielleicht zu einem Anker gehört hatten. Ehrlich gesagt, die Ausgrabungen auf dem Meeresgrund waren anstrengender, als wir anfangs glaubten. Den Grund schwimmend zu erkunden, ist etwas anderes, als fortwährend im Sand zu graben. Am vierten Tag wäre fast ein Unglück geschehen. „Der andere rettet ihn . . ." Dieser Tag begann schon mit einer unliebsamen Überraschung. Der Morgen war wundervoll — sonnig und still. Als ich auf Deck stieg, sah ich an Backbord Natascha, die ins Wasser schaute. Sie drehte sich zu mir um. ihr Gesicht war leichenblaß und die Augen weit aufgerissen, als habe sie eine Seeschlange erblickt. „Was hast du?" fragte ich erschrocken. „Sieh doch nur, wie ekelhaft!" sagte sie kläglich. „Ich tauche um nichts in der Welt!" Verwundert blickte ich über die Reling. Das Wasser sah heute ganz absonderlich aus, weißlich, als habe jemand Milch hineingegossen. Als ich näher hinschaute, entdeckte ich. daß es rings um das Schiff nur so von Medusen wimmelte. Noch nie im Leben hatte ich soviel auf einmal gesehen, sie verwandelten das Meer in eine einzige lebendige Suppe. Zugestanden, mir wurde auch leicht komisch zumute bei dem Gedanken, daß ich in dieses Gewimmel hineinsteigen müsse. Aber ich sagte so munter wie möglich: „Na, und wenn schon. Deshalb hast du Angst? Die beißen doch nicht